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| Dirts Het | April 1912
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N III gang der ffeien Bühne
E Inhalt:
4 Friedrich Naumann, Der Ruck nach links
N Emil Strauß, Der Nackte Mann. Roman
. Joſeph Kainz, Briefe an ſeine Eltern
0 Arthur Holitſcher, Reiſe durch Kanada II
Hans Reiſiger, Santa Caterina di Siena. Novelle
Bernard Shaw, Der verſtaatlichte Arzt
5 Franz Liſtt, Aphoriſtiſches
Rundſchau:
| 1 Moritz Heimann, Judentaufen
| 5 Lucia Dora Froſt, Die Frauen⸗Ausſtellung
Wil Scheller, Schloß Wetterſtein
AZJiaulius Bab, Alte Lieder und Verſe
Junius, Chronik: Aus Junius' Tagebuch
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Anmerkungen:
Nor dert Jacques, Von Gottes Gnaden / Oskar Die, e A. G.,
N R Einem Dichter Stefan Zweig, Schöne Gedichte / Paul Barchan, Vorfrühling.
1 Viertelſährlich drei Hefte 7 Mark. Einzelhefte 2 Mark so Pf.
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Viertes Heft Die neue Rundſchau Sa
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Friedrich Naumann, Der Nuck nach link
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Joſeph Kainz, Briefe an feine Eltern
Arthur Holitſcher, Reife durch Kanada IilIl.
Hans Reiſiger, Santa Caterina di Siena. Novelle
Bernard Shaw, Der verſtaatlichte NIrnlt .
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Moritz Heimann, Zudentaufen . . 2 ne ve...
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Julius Bab, Alte Lieder und Verre 2 0.
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Norbert Jacques, Von Gottes Gnaden 594
Belar Bie, Kunſt⸗Anarchii Ne RE NE
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Paul Barchan, Vorfrüh lin ne u HE N „ 599
Redaktion: Prof. Dr. Oskar Bie, Berlin. Alle Zuſendungen für die Redaktion
werden ohne Namensnennung nach Berlin W, Bülowſtraße 90 erbeten.
Für unverlangte Manuſkripte und Rezenſionsexemplare kann keine Garantie
übernommen werden. Alle Rechte für ſämtliche Beiträge vorbehalten.
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t ein Heft von 9— 10 Bogen Umfang ,
rlag, Berlin W., Bülowſtraße 90. „
Buchhandlungen, Poftanftalten oder diref! im
ganzjährig 28 Mork Einzelhefte Dart: e.
912 S. Fiſcher, Verle 0 Berlin. g 7
—
*
Der Ruck nach links
von Friedrich Naumann
mehr als jemals zuvor. Wenn es früher große Wahlkämpfe gab,
wie in den Jahren 1887 und 1907, fo wurde dabei von Bismarck
oder Bülow die Trompete geblaſen. Das Volk wurde mit feſten Formeln
zur Urne getrieben und hatte ſich im Grunde nur zu entſcheiden, ob es für
oder gegen die Regierung und ihre Militärpolitik ſei. Dieſes Mal aber ſaß
oben auf dem Oberplatze der Staatserhaltenden ein Mann, den zwar die
Kenner ſeiner vielgefurchten Seele nicht für inhaltlos halten, der aber für
die Volksphantaſie nichts bedeutet. Dieſer Mann hat während der Wahl
ſtill geſeſſen wie ein indiſches Götterbild beim Vorüberziehen der pilgernden
Myriaden. Gelegentlich verſuchten ſeine Unterprieſter etwas in ſeinem Namen
zu rufen, aber kein Menſch hörte auf ſie. Man hatte genug miteinander zu tun,
Mann gegen Mann, Partei gegen Partei. Es wurde gerungen ohne eigent—
lichen Gegenſtand, nicht um ein einzelnes Geſetz und nicht um neue Bataillone,
nicht um einen Miniſter und auch nicht um eine einzelne der ewigen Ideen.
Vielleicht hat Fürſt Bülow in Rom gedacht, daß man um ihn kämpfe,
aber auch er ſtand nicht mitten in der Schlacht. Ja, wenn er es gemacht
hätte wie ein richtiger engliſcher Miniſter; wenn er es nicht für zu klein ge—
halten hätte, vor die Wähler von zwanzig Provinzialhauptſtädten zu treten,
wenn er ſich ſelber irgendwo als Kandidat dargeboten hätte, dann wäre die
Wahl ſeine Wahl geweſen, dann kämpften er und Heydebrandt um die
praktiſche Führung der Nation! Das wäre ein Wahlkampf geweſen! Aber
der Mann, der im Juli 1909 den Reichstag nicht aufgelöſt hat, hat zwar
geſagt: bei Philippi ſehen wir uns wieder! Aber als der Tag von Philippi
kam, da war er — in Rom.
Und wenn Graf Poſadowsky, tapferer als ſein einſtiger Chef, ſelber ins
Gewühl geſchritten iſt, ſo ging er ohne Fahne und ohne Truppe, ein hoch—
egabter Einzelner, der ein Einzelner bleiben will, eine Art Tolſtoj auf dem
Exerzierplatz der Parteien. Außerhalb ſeines Wahlkreiſes iſt um ihn ebenſo
wenig gekämpft worden, wie um den Fürſten Bülow.
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D' Reichstagswahl iſt vorbei! Das war ein ſchweres dumpfes Ringen,
Es war die undramatifchefte und unperſönlichſte Reihstaas-
wahl, die man ſich denken kann, dabei aber die angeſtrengteſte, die wir
bisher in Deutſchland erlebt haben. Die "Rablbetelligung war etwa eben:
fo ſtark wie 1907 und erreichte im ganzen 84,5% der Wahlberechtigten.
Wenn man ſich vergegenwärtigt, wie viele 15 weite Wege machen,
wieviele von Reiſen heimkehren, vom Lager aufſtehen und ihre eigene
Unentſchloſſenheit überwinden müffen, damit ein folcher Volkstag mög⸗
lich wird, ſo ſtaunt man, was an Intereſſe und Agitation dieſes Mal vor⸗
handen war. Noch im Jahre 1903, als wir doch auch ſchon dachten, es
ſei tüchtig gewühlt worden, damals als der Zolltarif und die Kardorffiſche
Verſchlechterung der Geſchäftsordnung des Reichstags den Wahlſtoff ab⸗
gaben, betrug die Beteiligung nur 75,8. Jetzt wurde mit Technik und Er⸗
bitterung der letzte Mann auf irgendein Auto geſetzt und bis in die Dörfer
hinein erſtreckte ſich die Kunſt des Schleppens.
Technik und Geld haben nie vorher fo viel in deutſche Wahlpolltik Hinz
eingeredet als dieſes Mal. Die Sozialdemokratie hatte in fünf Jahren ihre
Parteiorganiſation mindeſtens verdoppelt, fo daß fie an Geſchloſſenheit und
Diſziplin alle anderen Parteien weit übertrifft. In den Induſtriegebieten
hat fie einen Kontrolldienſt über jedes Mitglied eingerichtet, der ein Ent⸗
weichen faſt unmöglich macht. Bund der Landwirte und katholiſche Prieſter
find von Haus zu Haus gelaufen und haben welcliche und geiſtliche Bänder
geflochten. Als neue Geldmächte traten Hanſabund und Zentralverband der
Induſtriellen auf, der erſtere weniger ſtark als vielfach angenommen wurde,
der zweite gewaltig die Rechte ſtützend. Die Menge der geredeten und ge—
druckten Worte ſtieg ins Ungemeſſene. Reichstagskandidat fein iſt im Zeitz.
alter des Automobils eine Gewaltkur, denn jetzt verſchwinden durch die
Schnelligkeit der Fahrzeuge die Zwiſchenräume zwiſchen den Verſamm—
lungen. Die Wahl iſt beinahe ſchon amerikaniſiert, nur ſind die Deutſchen
keine Amerikaner. Das ſoll heißen, daß bei uns im letzten Grunde die
Mache und der Lärm nicht entſcheiden, und daß Geld und Sieg keineswegs
gleichbedeutend ſind. Der deutſche Wähler iſt in uͤberwiegender Mehrzahl
ein ernſthafter Mann, der ſich nicht leicht aus ſeiner Ruhe bringen läßt.
Man darf ihn nicht nach Berliner Eindrücken beurteilen, und auch in
Berlin wird vielfach ſehr ernſthaft gewählt.
Nicht als ob der Wähler ein umfaſſendes und allgemeines Verſtändnis
aller politiſchen Fragen beſäße! Das kann er nicht haben und wer das bei
ihm ſucht, der verſteht den Sinn des gleichen Wahlrechts nicht. Der
Wähler iſt kein Staatsmann, kein Geſetzgeber, kein Parteiführer, kein Zei⸗
tungs ſchreiber und Gelehrter, er ift nichts als ein Schuhmacher oder Huf⸗
ſchmied oder Bauer oder Metallarbeiter oder Handlungsgehilfe. Das meiſt
was man ihm ſagt, hat für ihn gar keine Bedeutung. Aus der Menge des
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Wahlgetöſes hört er nur einige Klänge, alles andere ift Geräuſch. Mit dem
wenigen aber, was er begreift, ſucht er dann redlich zu handeln. Darin läßt
er ſich auch durch viel Zufpruch nicht allzuſehr irre machen. Er gibt feinen
Zettel ab, indem er ihn nochmals in den Fingern wiegt. Obwohl ich ſelber
zu denen gehöre, denen das Wahlglück nicht hold geweſen iſt, mag ich das
Wahlrecht nicht ſchelten. Es gibt ein Bild der Volksſtimmung. Wo dieſe
eng und klein iſt, muß auch das Abbild klein werden, aber das liegt eben im
Weſen der Demokratie, daß man zunächſt einmal hören will, was das Volk
ſagt. Unſer Volk hat noch keine lange politiſche Vergangenheit und denkt
vielfach noch ganz unpolitiſch nur an geringe Nebendinge, aber es iſt in
ſeiner Art dabei deutſch und gründlich und wird ſchon noch weiter an ſtaats—
politiſcher Einſicht zunehmen. Jetzt iſt es wenigſtens ſo weit, daß es faſt
keine völlig Unbeteiligten mehr gibt. Die Politiſierung des Volkes
nimmt zu. Mag in vielen Einzelfällen der Druck geiſtlicher und weltlicher
Herren oder gewerkſchaftlicher Verbände ſtärker ſein als der taſtende Wille
des ängſtlichen Wählers, ſo nähern wir uns doch dem Begriff der Nation,
denn Nation bedeutet, daß alle der Staat ſind. Das, was bei der Reichs—
gründung als ferner Zukunftsgedanke erſchien, wird nun allmählich Wirklich—
keit. Das Wahlrecht iſt Volkseigentum, iſt Allgemeingut. Einſt war es
eine Art Geſchenk von oben, eine Gabe mit Nebenzwecken, jetzt iſt es ein
Recht, das ſeine Selbſtverſtändlichkeit gewonnen hat und im ganzen mit
durchaus ernſthafter Abſicht gebraucht wird.
E würde ſich verlohnen, wenn ein junger Hiſtoriker dieſe Reichstagswahl
| in ihren verſchiedenen Einzelzügen ſtudieren und darſtellen wollte, um
auf dieſe Weiſe einen Beitrag zur Naturlehre der Partein und zur Seelen—
lehre der Maſſe zu liefern. Als wichtigſtes Material müßten ihm dabei die
verſchiedenen Flugblätter dienen, denn das geſprochene Wort kann nicht feſt—
gehalten werden, wird aber wohl meiſt dem Inhalte der Flugblätter ent—
ſprechen. Dieſe Flugblätter find vielfach phantaſtiſch in ihren geiſtigem
Aufbau, beſonders bei den Parteien der äußerſten Rechten und Linken.
Je weiter der Redner von der Mitte entfernt iſt, deſto lauter muß er
ſchreien. Es gibt Zentrumsflugblätter, die ſich wie Kolportageromane
leſen und ſozialdemokratiſche Ergüſſe, die wie Rhapſodien aus der Unter—
welt klingen. Krieg und Frieden werden nur ſo hin und her geworfen, als
ob die ganze europäiſche Geſchichte vom Wähler in Hinterbraubach abhinge,
und Gewerbe und Landwirtſchaft blühen oder vergehen, je nachdem die
Staatsbürger von Wieſenfelde ſich entſcheiden. Man ſtreitet um Knecht—
N oder Freiheit, um Kapital oder Arbeit, um Glaube oder Gottloſigkeit.
Da aber alle ſchreien, ſo hebt einer den andern auf. Der Wähler fühlt, daß
das zur Methode gehört. Wenn das nicht wäre, ſo würden ſich die mitt—
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leren Parteien überhaupt nicht halten können, denn es entſpricht ihrer Mit-
tellage, daß fie keine übermenſchlichen Gewittertöne finden, weil fie der Wirk—
lichkeit am nächſten ſind. Die Wirklichkeit nämlich iſt weder ganz ſchwarz
noch ganz rot, ſchreit nicht und will leiſe erkannt fein. Die Erziehung eines
Volkes zur Politik beſteht darin, daß es für Übertreibungen ſchwerhörig
wird. Daß da noch vieles fehlt, wiſſen wir alle und die Parteien der Ver—
nunft haben ſehr unter dem Mangel an politiſcher Hörfähigkeit zu leiden,
aber man wird im ganzen trotzdem ſagen dürfen, daß gar zu große Lügen
kurze Beine haben. Der Schwindel der Rechten, die ihre Finanzreform zu
einer ſtaatserhaltenden Tat verdrehen wollte, hat nicht gezogen. Erzberger hat
alle ſeine Künſte ſpielen laſſen und die ſind nicht klein, aber das formale
Können allein tut es nicht. Das Volk fühlte, daß zuviel Deklamation in dieſer
Staatserhaltung war. Es kam der Ruck nach links. An ſich find diejeni-
gen, die etwas fertig gebracht haben, immer im Vorteil gegenüber denen, die
proteſtiert haben. Die Parteien der Rechten waren in der taktiſch glücklichen
Lage, daß ſie auf Rechnungsüberſchüſſe hinweiſen konnten und daß trotz er⸗
höhter Steuern die allgemeine Lebendigkeit von Induſtrie und Markt nicht
geſunken war. Wir hatten zwar hohe Preiſe, aber keine Arbeitsloſigkeit, keinen
greifbaren Notſtand. Die dunklen Folgen der neuen Steuern konnten und
können noch nicht da ſein. Dazu kam, daß überhaupt Steuern keine großen
Agitationsſtoffe ſind, wie ſich ſchon oftmals in der Vergangenheit gezeigt
hat. Wenn alſo der Ruck nach links doch geſchah, und wenn er ſo wuchtig
und gewaltig vor ſich ging, ſo hat ſich dieſes Mal etwas Starkes in der Seele
des Volkes vollzogen. Mit einem Wort: Die konſervative Ro man—
tik iſt zu Ende! Man glaubt nicht mehr, daß die Konfervativen unent-
behrlich ſind, und ſelbſt an der Unentrinnbarkeit des Zentrums wird ge—
zweifelt. Alte Mächte werden blaß und fangen an ſich zu beugen.
Falſch würde es ſein, wenn man die Erbſchaftsſteuer für ſich allein als den
ſachlichen Inhalt dieſer merkwürdig zähen und undramatiſchen Wahl be—
zeichnen wollte. Auch dieſe Steuer für ſich allein war nicht ſtark genug, die
Maſſe der Wähler nach links zu treiben, zumal da die Abſtimmung um
2½ Jahr zurücklag und von der rechten Seite im Wahlkampf die grund—
ſätzliche Ablehnung faſt überall verſchleiert wurde. Das aber allerdings hat
dieſe Steuerablehnung geleiſtet, daß mit ihr eine Umdenkung einſetzte, die
ſich zur allgemeinen Kritik des konſervativen Weſens auswuchs. Der Kon—
ſervative wurde auch von ſeinen eigenen Anhängern ohne den alten Idealismus
angeſehen und dem Zentrumsmanne wurde es als Untat angerechnet, daß er
mit dem Konſervativen ging. Die Entzauberung der Ritter und Heiligen hat
begonnen. Die Geſchichts periode, welche 18 78 anfing, neigt ſich ihrem Ende zu.
Nur ein Teil der heute Lebenden weiß noch, wie es vor 1878 in Deutſch⸗
land war. Damals war es ſelbſtverſtändlich, daß die Gebildeten liberal
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waren und die Maſſe des Volkes folgte ihnen nach. Welche Großtaten und
Fehler dieſer ältere Liberalismus hinter ſich hatte, ſoll hier nicht dargeſtellt
werden, ſondern wir wollen die ältere Generation nur an den Wechſel der
Temperatur erinnern, der unter dem Druck der Bismarckiſchen Hand
und infolge der Attentate auf Kaiſer Wilhelm I. eintrat. Da entdeckten die
verſchiedenſten Menſchen mit einem Male, daß ſie im Grunde ſchon ſeit
längerer Zeit keine eigentlichen Liberalen mehr ſeien. Mit der Parole, daß
die Religion dem Volke erhalten werden müſſe, wurden ſie konſervativ
oder klerikal. Parteien, die bis dahin für die deutſche Geſchichte wenig be—
deutet hatten, traten mit Selbſtgefühl und neuem Inhalt in den Vorder—
grund. Wer hatte vorher von den Konfervativen viel gewußt? Wer hatte
das Zentrum für eine nationale Partei halten können?
Es entſtand neuer Magnetismus auf der rechten Seite. Dort waren die
Ideen der kommenden Periode, dort wuchs politiſche Jugend und dahin
wandten ſich die Mittelſchichten. Alles das ging anfangs etwas unklar vor
ſich, denn die neuen Mächte waren noch nicht ganz reif für ihre neue Rolle.
Doch wuchſen ſie in wenigen Jahren und ſchufen ſich ihr Programm und
gaben der Zeit ihr Gepräge. Alles, was wir ſeit 1878 erlebt haben, iſt eine
Folge des damaligen Umſchwunges: der Zerfall der liberalen Kräfte, die
Blutleere der bisher führenden Gruppen, die Überbietung des Liberalismus
durch die radikale Oppoſition der Sozialdemokratie.
Mit bloß materialiſtiſchen Erwägungen kann man ſolchen Wendezeiten
nicht gerecht werden. Selbſtverſtändlich ſpielten Zollneigungen und Anti—
ſozialismus eine große Rolle, aber ſie allein erklären den damaligen Vor—
gang nicht. Es lag vielmehr ſo, daß vielen alten Liberalen die Wirtſchafts—
haltung der Konfervativen erſt ganz nach und nach beigebracht wurde, nach—
dem die innere Entſcheidung in der Sorge um Religion und Staatsſicher—
heit getroffen war. Der Liberalismus, welcher bis vor kurzem die unbeſtrit—
tene Führung beſaß, erſchien dieſen Leuten ſehr plötzlich als flach, hohl, ge—
dankenleer, unſicher und ausgeſchöpft. Er zeigte ſein zweites Geſicht, das
was der Arzt die hippokratiſchen Züge nennt. Von da an hatte er matte
Augen und feine Rede griff nicht mehr. . .. So etwa geht es heute den
Konfervativen. Ihr Tag ſinkt abwärts.
Man ſoll aber nicht denken, daß ſie nun bald abgetan und fertig ſeien!
Bei weitem nicht! Eine Partei mit ſo viel materiellem und geiſtigem Hin—
tergrund wird überhaupt nie ganz fertig und außerdem ſteht ſie eben
erſt in der Abenddämmerung. Noch hat ſie den preußiſchen Landtag, noch
gehören ihr die Landräte und Oberpräſidenten, noch dient ihr der Bund der
Landwirte. Die Heeresbeſtände der Konfervativen find auch heute ganz be—
} trächtliche. Was ihnen ſozuſagen an politiſcher Infanterie fehlt, erſetzen fie
durch ſchwere Waffen. Nichts wäre für die Linke verhängnisvoller, als
461
wenn fie ſich in ſchönen Träumen wiegen wollte, als ſei die Völkerſchlacht
gegen Heydebrand ſchon halb gewonnen. Aber das Sie gesgefühl der
Herrenkaſte iſt gebrochen. Das iſt die Ernte vom 12. Januar 1912.
Von nun ſtützt ſich der Junker auf den Prieſter, denn er fühlt, daß er alt
wird. Früher ging er mit ihm ſpazieren, jetzt aber legt er ſeine Hand feſt
auf das ſchwarze Kleid: verſprechen Sie mir, daß Sie mich nicht verlaſſen,
wenn es einſam um mich wird! Jetzt kann er nicht mehr ohne Zentrum
leben. Mit dem Zentrum mag er noch Präſidien beſetzen und Gelegenheits⸗
mehrheiten ſchaffen, aber ſobald Spahn nicht will, iſt Heydebrand im Reichs⸗
tag eine ſchöne kleine Ruine.
Man muß jetzt die Kreuzzeitung leſen! Ihr Inhalt iſt als elegiſcher
Groll zu bezeichnen. An manchen Tagen klagt ſie über die Verworfenheit
der heutigen Welt, die dem auflöſenden Geiſte verfallen iſt, an anderen aber
rafft ſie alle Kraft zuſammen und droht mit allem, was es an echtpreußiſchen
Hausmitteln gibt. Ihre Beſchreibung der Linken iſt ungefähr ſo richtig wie
wenn ein radikaler Demokrat, der nie in Oſtelbien war, eine Geſchichte der
pommerſchen Rittergüter verfaſſen wollte. Beide Teile kennen ſich nicht
und erſetzen ihre Unkenntnis durch Auswahl der Ausdrücke. Wir ſchreiben
abſichtlich davon, daß das Nichtkennen beiderſeitig auftritt, weil es in der
Vergangenheit eine der Schwächen des Liberalismus war, die Konſervativen
nur als dicke Schnapsbrenner und befähigungsloſe Reſerveoffiziere hinzu—
ſtellen. Damit hat der Liberalismus ſich ſelber am meiſten geſchadet, denn
je geringwertiger die Junker ſein ſollen, deſto unbegreiflicher iſt es, daß wir
ſo lange und ſo oft von ihnen beſiegt worden ſind. Sollen wir wirklich
glauben, daß das ganze deutſche Bürgertum ſich über 30 Jahre lang von
einer Kaſte hat demütigen laſſen, die ſelber gar nichts wert iſt? Nein, im
Gegenteil! Je näher wir dem großen letzten Kampfe um die politiſche
Führung kommen, deſto notwendiger iſt es, daß wir den Feind in ſeiner
Wucht begreifen. Dieſe Leute ſind viel politiſcher als bisher die Mitglieder
der Linken, ſie verſtehen es, perſönliche Opfer für die Herrſchaft zu bringen,
und haben das Maß von Gemeinſchaftsgeiſt, das die Vorbedingung von
langfriſtigen Unternehmungen iſt. Man muß vom Gegner lernen,
wenn man ihn ablöſen will. Da wir im Aufſteigen ſind, ſo können
wir es uns leiſten, realiſtiſch zu werden und den Dingen nüchtern ins Auge
zu ſchauen. Anders liegt es aber auf der rechten Seite. Dort iſt es ge—
fährlich, das beginnende Sinken mit der ſteigenden Kraft der Linken zu be—
gründen. Man will nicht anerkennen, daß ſich in Induſtrie, Handel und
Arbeiterſchaft politiſcher Herrſchaftsſinn entwickelt, man darf nicht zugeben,
daß in zehn Jahren das ganze Bild verſchoben ſein kann. Deshalb wird be
Linke als Karikatur gezeichnet. Heute heißt es, daß wir Knechte des ſozial⸗
demokratiſchen Terrorismus geworden find, morgen leſen wir, daß wir
462
1
Marionetten des internationalen Judentums find, übermorgen, daß wir das
Vaterland verraten.
2 Tatſache iſt nun, daß ſich viel ſozialdemokratiſcher Radikalismus findet,
der nur agitieren will und nichts ſchaffen. Tatſache iſt, daß die überwiegende
Mehrzahl der Juden bei uns ſteht. Was ſollen fie auch dort drüben? Tat—
ſache iſt, daß es auf der Linken noch immer Beſtandteile gibt, die in der
langen Zeit der Herabdrückung den Gedanken, daß ſie für Volk und Ge—
5 ſchichte mitverantwortlich werden ſollen, ſich abgewöhnt haben. Aber ſteckt
denn nicht ſelbſt im phraſenhafteſten Radikalismus etwas von empor⸗
1 drängender Kraft zahlreicher tüchtiger Einzelperſonen, denen nur bisher die
1 Klarheit der politiſchen Tagesaufgaben fehlt? Iſt nicht auch der Jude auf
vielen Gebieten ein Organiſator geweſen, den ſelbſt agrariſche Erwerbszweige
nicht verachten, ſobald es ſich um reelle Leiſtungen handelt? Merkt man
denn gar nicht, daß es ein Zeichen von Schwäche und Niedergang iſt, ſo
zu tun, als jeien die ſieben Millionen Wähler der Linken Heloten von Toren
und Fremden Gewiß, die Linke hat überradikale, und in ihr findet ſich
auch ſonſt vieles Ungeklärte und Wogende, aber daran ſtirbt ſie nicht! Es
ein leichtes Stück Arbeit, die verſchiedenen Elemente dieſer Linken nur
einigermaßen zuſc ammenzubringen und ganz wird es vielleicht nicht gelingen.
Das wiſſen wir ſelber, aber wir ſehen auch, wie die Gewänder der
Knechtszeit abfallen, wie in der Sozialdemokratie der Sinn für den
Staat zunimmt, wie ſich unſere iſraelitiſchen Mitbürger einfach als Bürger
unter Bürger ſtellen und mit uns den deutſchen Staat bauen wollen, wie
die Induſtriellen und Kaufleute wieder nach langer Pauſe Sinn für poli—
tiſche Macht bekommen, wie aus verlorenen und zerworfenen Bruchſtücken
eine Einheit wird. Dieſen Vorgang kann man nicht aufhalten, indem man
vor Sozialdemokraten und Juden drei Kreuze macht. So gut wie vor
fünfzig Jahren ſich die verſchiedenſten Geiſter in der Reichsgründungsepoche
zuſammenbiegen mußten, damit unter dem Segen König Wilhelms Bis—
marck und Lasker zuſammen an den grundlegenden Geſetzen jener ſchöpferiſch
hohen Periode arbeiten konnten, wie damals alte Fortſchrittler ihren Weg
zum neuen Reiche fanden, obwohl es längſt nicht alle ihre Wünſche erfüllte,
ſo rüſten ſich heute tauſend Seelen für einen neuen Frühling und jede von
ihnen weiß oder ahnt, daß ſie ſelber mit wachſen muß, wenn ſie zur neuen
allgemeinen Blüte beitragen ſoll. Manchem wird es noch ſchwer, ſich aus
ſeinen alten Doktrinen und Kleinintereſſen herauszufinden, aber einer nach
dem anderen ſtellt ſich eines Tages mit ans Werk: es lebe die Linke! Drüben
ird es Abend, hier wird es Morgen. Noch wallen die Nebel, aber die
chlimmſte Zeit iſt vorbei.
Den Hauptgewinn bei der Wahl hat die Sozialdemokratie gemacht. Da
ſie von allen Parteien am weiteſten links ſteht und es keine Möglichkeit gibt,
+
*
463
daß fie nach links hin Kräfte verliert, fo kann fie allein bei einem allgemeinen
Ruck nach links nur zunehmen, nicht abnehmen. Anders liegt die Sache
bei den liberalen Parteien, da bei ihnen von rechts her neue Wähler an—
getrieben werden, während gleichzeitig andere nach links hin weiter wandern.
Unter diefen Umſtänden ift der große Gewinn von 324 000 neuen Wählern,
den die fortſchrittliche Volkspartei gemacht hat, mindeſtens ſo bedeutſam zur
Kennzeichnung der Lage wie die Million neuer Wähler, die ſich bei der
Sozialdemokratie eingefunden haben. Das Ergebnis der Wahlziffern im
Ganzen iſt völlig klar. Aller neue Volkszuwachs gehört nach links, und
außerdem haben alle vorhandenen Beſtände der Schwarzblauen große
Lücken bekommen, ſowohl Konfervative wie Zentrum. Das Übergewicht
der Linken an Wählerſtimmen iſt ein ſo großes geworden, daß von
einer Erholung der Schwarzblauen auf Grund des allgemeinen Wahl⸗
rechtes auf Jahrzehnte hinaus keine Rede mehr ſein kann. Das Schluß⸗
urteil heißt für rechts: gewogen, gewogen und zu leicht befunden!
Wenn wir ein gerechtes Wahlverfahren hätten, ſo würde es im Reichs⸗
tag rechts etwa 150 Abgeordnete geben und links faſt 250. Dann wäre
die Linke unbeſtritten in der Führung und könnte ruhig einige ihrer unſiche⸗
rern Teilnehmer nach rechts hin abgeben. Zwiſchen die Wähler und den
Reichstag ſchiebt ſich aber die Wahlkreiseinteilung, durch welche Zentrum
und Konſervative hochgehalten werden. Das Rittergut lebt vom Schutz—
zoll, die Rittergutsmacht aber von der Wahlkreisgeometrie und vom Drei—
klaſſenwahlrecht. So künſtlich iſt im Laufe der Zeit das Weſen dieſer
gnädigen Herren geworden, daß fie rechnen müſſen: 4, 6 = 7, 61! So⸗
bald ſie rechnen wie andere Sterbliche, ſind ſie verloren. Und auch das
Zentrum macht düſtere Vergleiche. Es hat zwar noch mehr Wähler als
jede einzelne der beiden liberalen Parteien, aber gar zu hoch über ihnen ſteht
die zweite Partei des Reichstags nicht mehr. Aus eigner Kraft verdient das
Zentrum nur 67 Abgeordnete. Was darüber hinaus iſt, iſt Geometrie.
ir übergehen den Verlauf der Stichwahlen, da es bis heute noch
kaum möglich iſt, die Befolgung der verſchiedenen Parolen zu kon—
trollieren und da es für die Mehrzahl der Leſer faſt undenkbar iſt, daß ſie
fi) durch den Wirrwar dieſes ſteifen und ungeſchickten Ausgleichungsver⸗
fahrens hindurchfindet. Wenn wir ſpäter einmal das Proportionalwahlrecht
beſitzen werden, wird man ſchwer begreifen, daß wir uns ſo lange mit dieſer
faſt böswilligen Methode behelfen mußten, bei der die Lage aller mittleren
Parteien grauenvoll iſt, da ſie von rechts und links gelockt und bedroht eine
überirdiſche Difziplin haben müßten, wenn fie nicht da und dort in Un-
klarheiten geraten ſollen. Was unter dieſen Umſtänden menſchenmöglich
iſt, hat die fortſchrittliche Volkspartei geleiſtet, indem fie unter großer Ges
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fahr ihres Mandatserfolges eine einheitliche Stichwahlparole ausgegeben
hat, die in erſter Linie dem Nationalliberalen zu Gute kam und in zweiter
Linie dem Sozialdemokraten: keine Stimme einem Mitglied der Rechten!
Die Idee der Zuſammengehörigkeit der Linken hat ſich hier in ſchöner Weiſe
ausgeſprochen. Nicht ebenſo durchſichtig war das Verfahren der National—
liberalen. Wer gerecht urteilen will, muß unumwunden zugeben, daß es
für dieſe Partei noch viel ſchwerer iſt als für den Fortſchritt, ſich nach links
zu wenden. Aber Schwierigkeiten werden nicht durch Unentſchloſſenheit
erledigt und es wäre, wie ſich ſchon bisher gezeigt hat, für die National—
liberalen leichter geweſen, ſofort bei den Stichwahlen eine ſo ſcharfe Rich—
tung nach links zu nehmen, daß alle diejenigen, welche das durchaus nicht
mitmachen wollen, gleich damals aus dem Wagen flogen. In entſcheidenden
Zeitpunkten verträgt eine Partei einen entſchiedenen Willen, während ſie in
ruhigeren Zeiten vor lauter Bedenken nicht zu ſich ſelber kommt. Wie gut
iſt es in der Fortſchrittspartei mit ihrer Linksparole gegangen! Von Zer—
würfnis keine Spur. Ganz ſo einfach lagen die Dinge bei den National—
liberalen nicht, aber — Baſſermann hat ein Tempo verloren.
Soviel iſt nämlich ſchon heute klar, daß der Gedanke des Zwei—
parteienſyſtems in Deutſchland nicht wieder totgeſchlagen werden
kann. Das iſt der Hauptertrag dieſer Monate. Wenn wir früher von
der Parteiaufſtellung von Baſſermann bis Bebel geredet haben, ſo war das
Phantaſie, Utopie, Unſinn! Heute aber iſt es mit einem Male das Problem
des Tages. Mitten durch den Reichstag geht ein Strich. Einige Ab—
geordnete in der Mitte wollen ihn noch nicht ſehen und Bethmann will ihn
wegwiſchen, aber er iſt eben doch da. Es gibt zwei Hälften, die von Fall
zu Fall darum ringen müſſen, welche von ihnen die jeweilig ſtärkere iſt.
Die Präſidentenwahl hat es gezeigt, wie verzwickt die Technik dieſes Hauſes
iſt. Wenn die Linke alſo durch eine veraltete und öde Wahlkreisgeometrie
bisher noch nicht in den Beſitz einer parlamentariſchen Mehrheit gekommen
iſt, ſo iſt ſie doch ſtark genug, um auch auf der Rechten keine richtige Mehr—
heit zuſtande kommen zu laſſen. Die Parteiziffern ſind folgende:
1 ya: NEE rn DE
Pr
Rechts Links
Zentrum 93 Abgeordnete Sozialdemokraten 110 Abgeordnete
Konſervative u. Fortſchrittler 42 %
Antifemiten 73 2 Nationalliberale 44 1
Polen 18 A Sonſtige 2 5
Proteſtler 15 5 7198
199
Wunderlicher konnte es kaum zugehen! Für die Geſchäfts führung des
Reichstags iſt die Gleichheit von rechts und links höchſt peinlich. Auch
wenn man eine Anzahl von Nationalliberalen nach rechts rechnet, wozu ſie
hinreichende Veranlaſſung geben, ſo gleicht ſich das dadurch aus, daß in
467
den meiften Fragen, in denen dieſe Rechtswendung ſtattfindet, bei Polen
oder Proteſtlern eine Linksneigung ſich zeigt. Alles iſt beſtändig von einigen
Perſonen abhängig, von ihrer Geſundheit und Tagesneigung. Mag aber
auch ein ſolcher Schwebezuſtand für die geſchäftliche Mechanik faſt un⸗
erträglich ſcheinen, ſo enthält er ſachlich für die werdende Linke etwas höchſt
Belehrendes. Die Schule der Taktik! Jetzt lernen auch Fernerſtehende,
daß Politik nicht nur in Programmen beſteht, ſondern ein eignes Handwerk
iſt, das gekonnt werden muß. Galt es in radikalen Kreiſen früher als Tadel,
ein Taktiker zu ſein, ſo öffnet man ſelbſt dort jetzt die Augen für die faſt
mathematiſchen Probleme der immer neuen Mehrheitsbildung. Wer die
Mehrheit will, muß ſich ihr fügen. Oder wie Eduard en ſagt: die
Demokratie iſt die Hochſchule der Kompromiſſe.
Hätten wir ſchon jetzt eine volle Mehrheit der Linken, ſo würde ſich
beſtändig zeigen, daß ſie noch nicht regieren kann. Sie kann es nämlich
wirklich nicht und zwar in erſter Linie durch Schuld der ſozialdemo⸗
kratiſchen Prinzipienreiterei. Die große Viermillionenpartei iſt in 1
einer Weiſe belaſtet mit unpolitiſchen Bekenntniſſen, daß es für ſie ſe elbſt
unglaublich ſchwer iſt, ſich in Reih und Glied einer Mehrheit zu ſtellen, die
für Heer, Flotte, Juſtiz, Verwaltung und Finanzen zu ſorgen hat. eil
es bis vor kurzem kein Sozialdemokrat für möglich hielt, daß von feiner
politiſchen Reife ſchon bald der deutſche Reichszuſtand abhängig fein könnte,
ſo behandelte man ſelber in reviſioniſtiſchen Kreiſen alle Staatsbewilligungs⸗
fragen als ferne Theorien. Nur ganz von weitem wurde angedeutet, daß
man „ſpäter einmal“ einem anderen Regimente die Koften für eine andere
Art von Soldaten gewähren könnte. Erſt müſſe aber alles reformiert und
nach demokratiſchem Muſter verwandelt werden. Man könne das Heer
bewilligen, wenn es nur vom Beſitz bezahlt werde, wenn die einjährige
Dienſtzeit durchgeführt ſei, wenn es keine Einjährigfreiwilligen mehr gibt,
wenn die Volksvertretung über Krieg und Frieden beſtimmt. Man könne,
fo hieß es, einen Staatshaushalt genehmigen, wenn er keine neuen Be⸗
laſtungen enthalte, wenn er Militär vermindere, wenn er indirekte Steuern
beſeitige uſw. Diejenigen, welche derartige Wennſätze formulierten, kamen
ſich und anderen damit ſchon ſehr tapfer vor, denn der ganz orthodoxe
Marxiſt glaubt überhaupt nicht daran, daß er jemals den Haushalt eines
militäriſchen Staates parlamentariſch tragen hilft. Jetzt mit einem Male
hat das alles ein anderes Geſicht bekommen. Die rein theoretiſche Frag—
ſtellung iſt überholt durch die praktiſche Möglichkeit, daß eine Linke in die
parlamentariſche Führung eintreten könnte, wenn fie in ſich regierungsfäßi
wäre. Noch liegt die Notwendigkeit nicht direkt vor, aber ſie iſt ſozuſag
in Sicht. Aller bloße Buchſtabenreviſionismus zergeht vor der größere
Nähe der Wirklichkeit. Heute handelt es ſich nicht um marxiſtiſche Philo—
466 .
logie oder um ſozialiſtiſchen Kantianismus oder um ſonſt ein Welt
anſchauungsgebilde. Das hat Zeit! Auch das wird ſich finden! Jetzt
handelt es ſich darum, ob in der Sozialdemokratie das politiſche Talent
groß genug iſt, den Forderungen der Zeit bald zu genügen und ob die
Maſſe folgt.
Wenn heute Laſſalle da wäre und wenn er die 110 Abgeordneten
in der Hand hätte! Es wäre der größte Sieg der Arbeiterklaſſe, wenn fie
gezwungen würde, ſchon in dieſem Menſchenalter Staatspolitik zu treiben,
ehe noch die Glut des erſten Heldenzeitalters ganz ins Verlöſchen gerät.
Wenn Bebel noch jünger wäre und dabei die Erfahrungen ſeines Alters
hätte! Auguſt Bebel könnte fein Volk bis über den Jordan in den Gegen—
wartsſtaat führen, denn ihm vertrauen fie auf Grund eines halben Jahr—
hunderts. Er aber wird heute ſicherlich keinen Dresdner Parteitag mehr
machen, aber auch zur entſchloſſenen Ergreifung der deutſchen Linken fehlt
ihm die Hand und die Sicherheit. Und wer ſoll es tun, wenn er es nicht
tut? Mon freut ſich in der Sozialdemokratie über den gewaltigen Heerbann
21 sc Anhänger und bejubelt die langen Reihen erwählter Vertreter, aber
was man nun eigentlich mit dieſer Truppe anfangen ſoll, iſt unformulierbar.
uf dem linken Flügel der Partei redet man noch immer von Todfeindſchaft
gegen die ganze bürgerliche Geſellſchaft und braucht revolutionäre Redens—
arten, als ſei man noch eine Sekte von deſperaten Spießbürgern niederer
ö Gattung; rechts ſchwimmt man in Projekten und läßt ſie Sn wieder
fallen, will einen Übergang finden ohne daß die Genoſſen es merken, will
Zeit gewinnen für ſanfte Pädagogik der Maſſe. Zwiſchen beiden Flügeln
7 ſitzt um Bebel herum der Kern der Partei. Der will zunächſt nichts anderes
als die Partei erhalten, Spaltungen und Störungen vermeiden und ſich nicht
vom gewohnten Geiſt der Maſſe trennen. Dieſe Mitte iſt der weſentlichſte
Teil. Nicht die Worte einzelner Reviſioniſten machen die Regierungs—
fähigkeit der Sozialdemokratie, denn dieſe Worte ſind unverbindlich und
gleichſam nur Verſuche in der Luft. Wo aber alte Gewerkſchaftler mit
Parteiveteranen langſam und ohne Erregung miteinander reden, da wächſt
aus Taktik die Erkenntnis, daß nächſtens der Termin da iſt, wo man etwas
ö tun muß, was als Abſchluß der agitatoriſchen Epoche und als Übergang in
die politiſch-parlamentariſche Zeit auch vom einfachen Manne ver—
ſtanden wird.
Natürlich ſoll man jetzt nichts am Programm ändern. Das wäre geradezu
Gift! Alle Programme müſſen während ſchwieriger Wendungen hoch—
alten werden. Was man braucht, iſt eine kleine, aber volksverſtändliche
nbolifche Handlung, ein Vorgang, der zu klein iſt, um als Verleugnung
gelten und doch deutlich genug, um neue Bewegungen ahnen zu laſſen.
ſolcher Vorgang würde der Weg ins Kaiſerſchloß geweſen ſein. An
467
ſich ift es ja beinahe lächerlich, wieviel aus der Viſite gemacht wird, denn
fie ſteht weder in der Verfaſſung noch wird in ihr etwas Wichtiges ver—
handelt. Der Verlauf dieſes Schloßbeſuches würde ſehr einfach und
eindruckslos ſein können, und doch ſcheuen die Sozialdemokraten den Gang
und Bebel bringt es nicht fertig, ihn ſeinen Genoſſen zu empfehlen. Ebenſo
iſt es wahrſcheinlich, daß der Schloßherr noch Gefühle zu überwinden hat.
Der Sozialdemokrat will keine höfiſche Zeremonie mitmachen. Wie viel
macht er denn aber ſonſt mit, was ſchwerer iſt, als das! Fürchtet er ſich vor
den Imperatoraugen? Oder vor dem Zauber des Prunkes? Oder vor der
Maſſe derer, die draußen ſtehen? Gefühl iſt alles! Mit dem Verſtande
läßt ſich die Weigerung des Hofganges nicht begründen, denn warum ſoll
ein Sozialdemokrat zwar mit den Dienern der Majeſtät verhandeln, nur
nicht mit ihm ſelber? Aber — das Pentagramma macht ihm Pein! Er
will als ungeheuer radikal gelten, als gewaltiger Haſſer der verrotteten
Höflingsgeſellſchaft. Er braucht noch den Prophetenmantel der alten Ne
volutionäre oder er glaubt ihn zu brauchen. Um eines Nee wird
Wirklichkeit geopfert. je Ss
Nochmals fage ich: wenn Bebel noch innerlich jung genug wäre! Er
könnte ohne Demütigung und ohne Scheu nach Potsdam fahren: Auguſt
Bebel geht zu Wilhelm II. Ihn kennt alles Volk ſo gut, daß er über den
Mißdeutungen ſteht. Aber das iſt leider mehr ein Gedanke für einen dra—
matiſchen Dichter als für einen Geſchichtſchreiber. Der Geſchichtſchreiber
wird zu buchen haben, wie Thron und Maſſe ſich aneinander vorbeiſchieben,
tun, als könnten ſie ſich nicht grüßen, beide wiſſend, daß einmal eine Stunde
ſie zuſammenführt. Bis dieſe Stunde kommt, verſuchen beide jeden anderen
Umweg. Da aber der Kaiſer die Sozialdemokratie nicht wegblaſen kann
und da ebenſo die Sozialdemokraten den Kaiſer nicht auf chineſiſche Weiſe
zum Oberprieſter ernennen können, ſo bleibt das Hauptproblem: Demo—
kratie und Kaiſertum. Ohne eine gewiſſe Annäherung von beiden kann
die deutſche Linke nicht entſtehen, denn ohne dieſe Vorausſetzung kann kein
Miniſter mit der Linken reden wie heute mit der Rechten. Ohne Miniſter
aber kein Anfang zum Parlamentarismus. Ehe nämlich Miniſter der
Mehrheit entſtehen können wie in England, müſſen Miniſter mit Mehr⸗
heiten arbeiten können. Das war der Übergang in England und anders
kann es auch für Deutſchland nicht gedacht werden.
*
. jemand, der mit ganzer Seele auf die Zeit der deutſchen Linken
hofft, ſie gern bald verwirklicht ſehen möchte, iſt ſelbſtverſtändlich.
Trotzdem warnen wir nachdrücklich vor Übereilungen. Es könnte
ſich ſchwer rächen, wenn dieſe Früchte langen Wartens zu zeitig gepflückt
würden. Bebel unterläßt den hiſtoriſchen Hofgang, den er machen könnte
468
N e 0 .
wie kein Zweiter, vielleicht nicht nur, weil er müde ift und weil er lieber als
Revolutionär in die Grube fahren mag, ſondern weil er nicht weiß, ob ſeine
Erben für die Fortſetzung der ſozialiſtiſchen Männertaktik vor Königsthronen
feſt genug ſein werden. Er fürchtet die Nationalliberaliſierung der einen
und damit die blindwütige Radikaliſierung der anderen. Dieſer Zerfall
der Partei in zwei Hälften iſt bisher immer glücklich vermieden worden.
Schon der verſtorbene Auer hatte nichts Wichtigeres zu tun, als die Partei—
einheit zu behüten. Daß dieſe Partei von vier Millionen Wählern eine Ein—
heit iſt, das iſt ſchon an ſich eine organiſatoriſche Kunſtleiſtung erſten Grades.
Und auch wir von unſerem liberalen Standpunkte aus können einen Partei—
zerfall der Sozialdemokratie in zwei Teile unter keinen Umſtänden wünſchen,
denn nichts ſchiebt unſere Hoffnungen weiter hinaus als ein neues Auf—
flackern einer unverſöhnlichen und unfruchtbaren Revolutionsſpielerei auf
der äußerſten Linken. Der Unrat, der durch eine Gruppe linker Übermenfchen
hervorgebracht werden kann, iſt gar nicht abzuſehen. Sie nützen niemandem,
verſtören aber die Arbeit der übrigen. Ganz zu vermeiden iſt nun vielleicht
die zeitweiſe Entſtehung ſozialdemokratiſcher Proteſtler nicht, aber hier
gehört für die Parteiführung viel Inſtinkt und Volkskunde dazu, um nicht
mehr zu verſchütten als aufzubauen. Wenn alſo wirklich nur durch Ver—
längerung der Wartezeit die zukünftige Linke vor ſtürmiſchen Seiten—
angriffen geſichert werden kann, nun dann muß eben weiter gewartet werden,
bis die Zeit ihr Werk getan hat und bis die Spuren des Sozialiſtengeſetzes
noch mehr verwiſcht und verblichen ſind als heute.
Wir haben auf liberalem Boden vor einigen Jahren die Erfahrung
gemacht, daß es gut iſt, die Dinge erſt völlig reif werden zu laſſen, ehe
man ſie formuliert. Es war das bei der Einigung der drei links—
liberalen Parteien. Daß dieſe Einigung tadellos vollzogen wurde und
ihre Feuertaufe prächtig beſtanden hat, wird von Freund und Feind zu—
gegeben. Unſer Wachstum um 324000 neue Wähler bezeugt es. Die
fortſchrittliche Volkspartei iſt einig und hält gut zuſammen. Das wäre
nicht zuſtande gekommen, wenn zu ſchnell gearbeitet worden wäre.
Es iſt teilweiſe das perſönliche Verdienſt Dr. Wiemers, daß der richtige
Zeitpunkt abgewartet wurde. Erſt als man im Lande überall ſchon ſich von
ſelber die Hände reichte, find wir an den letzten offiziellen Akt herangegangen.
Von da aus haben wir Sinn für das, was ſich in der Sozialdemokratie
begiebt. Die Umſchiebungen ſind viel größer als die, welche wir unſeren
Anhängern zumuten mußten. Sie werden nicht in wenigen Wochen
begriffen. Deshalb ſind wir nicht gleich peſſimiſtiſch oder ſchickſals—
düſter, wenn die neue Situation ihre erziehenden Wirkungen nicht ſofort
äußert. Große Maſſen gehen immer langſam voran und in aller Demo—
kratie iſt von Natur etwas Schwerfälliges. Ehe eine Viermillionenpartei
469
den Gebrauch ihrer parlamentariſchen Glieder lernt, muß fie vielerlei Ver—
ſuche machen. Dieſe Verſuche erſcheinen zunächſt zwecklos, aber in ihnen
arbeitet ſich der neue Wille heraus, der Wille zur Macht. Macht aber iſt
immer das Gegenteil von Deklamation, denn fie beſteht in Benutzung vor⸗
handener Kräfte und Verhältniſſe.
Kit es alſo nötig, daß auf der linken Seite der Linken Abſpaltungen ver⸗
N mieden werden, fo gilt dasſelbe von der rechten Seite. Hier ift eben⸗
falls ſehr große Vorſicht am Platze, aber im umgekehrten Sinne. Die
nationalliberale Partei ſteht vor ſchweren inneren Auseinanderſetzungen.
Sie kann leicht an der gegenwärtigen Situation zerbrechen, und was haben
wir dann, wenn ſie zerbrochen iſt? Dann verlängert ſich auch auf dieſen
Seite die Wartezeit. Daß zwar alle, welche ſich heute nationalliberal
nennen, in die deutſche Linke einbezogen werden können, glauben wir nicht,
aber allzu groß dürfen die Verluſte nicht werden, wenn nicht dauernder BR
Schaden entſtehen foll. Alle Nationalliberalen, die irgendwie liberal find,
müſſen mit beiden Händen feſtgehalten werden. Das ift ein gemeinſames
Intereſſe aller Mitglieder des künftigen innerpolitiſchen Dreibundes. Auch
von den Sozialdemokraten iſt um der Zukunft willen zu fordern, daß ſie
nicht mit Schelten und Wettern den guten Willen auf der rechten Seite
verſcheuchen. Manche Sozialdemokraten haben wenig eigenes Gefühl dafür,
wie ſchädlich ihre Redensarten ſind. Weil ſie untereinander eine tüchtige
Portion von Grobheit vertragen, ſo muten ſie auch ihren Mitſtreitern
Unglaubliches zu. Das iſt ein Erziehungsmangel, den ſich der Wiſſende
leicht erklärt, der aber praktiſch zu den unangenehmſten Dingen führen kann.
Schon wir Fortſchrittler haben es in allen bisherigen Verhandlungen oft
peinlich empfunden, daß die große Kulturpartei die Kultur oft nur als
Endziel hat und nicht als Methode in der gegenwärtigen Geſellſchafts—
ordnung, noch gefährlicher aber ſind derartige Mängel bei denen, die an der
äußerſten Grenze nach rechts hin ſitzen. Die ſachlichen Gegenſätze innerhalb der
Linken ſollen ruhig weiterhin in aller Offenheit anerkannt und ausgeſprochen
werden. Verſchleierung hat gar keinen Zweck, aber — Maß halten!
Vom nationalliberalen Standpunkt aus hat es etwas Anziehendes, rechter
Flügel der Linken zu ſein, aber niemand verkennt, daß das eine neue
Orientierung aller Parteiziele iſt. Die Tradition der Partei iſt eine andere.
Sie war einſt große Mittelpartei und hat als ſolche bis 1878 Unvergäng⸗
liches geleiſtet. Unter allen Parteien des deutſchen Parlaments hat ſie die
glorreichſte Geſchichte, denn fie begleitete den Reichsgründer von König⸗
grätz bis zur Fertigſtellung der grundlegenden Reichsgeſetze. Wenn im
Linksliberalismus die größere Zähigkeit des liberalen Gedankens iſt, ſo findet
ſich bei den Nationalliberalen die größere Wucht vaterländiſchen
470 5
Empfindens. Ohne dieſen Zuſatz kann die neue Linke nicht gedacht
werden, denn ſie muß nicht nur innere Reformmehrheit ſein, ſondern gleich—
zeitig Bannerträgerin einer großen und geſchickten auswärtigen Politik.
Keine Mehrheit kann das neue Deutſchland führen, die nicht ihre Augen
überall hat, wo Deutſche ſind. Da nun nach links hin der Sinn für aus—
wärtige Politik bisher allzu ſchwach iſt, ſo ſind es keineswegs nur antiſoziale
Unternehmerintereſſen, die als Widerſtände innerhalb der nationalliberalen
Partei wirken. Es iſt der Staatsgedanke im ganzen, der viele bedenklich
macht, die Mehrheit von Baſſermann bis Bebel auch nur ernſthaft zu
denken. ir,
Und doch, was bleibt den Nationalliberalen ſonſt übrig? Wenn ſie
nach rechts Anſchluß ſuchen, ſo verſinken ſie. Sie müſſen natürlich mit uns
Fa-rlſchrittlern zuſammen ſo lange bei Heer, Flotte und Kolonien die rechte
Seite vermehren, bis einmal die Sozialdemokratie reif genug iſt für Vater—
landspolitik, aber das alles geſchieht doch nur ſozuſagen als Notbehelf.
An eine dauernde Angliederung der Nationalliberalen an Konſervative
u nd Zentrum glaubt bei ihnen felber im Grunde faft kein Menſch mehr. Die
neue Aufſtellung hat ideell die Gemüter bereits auf beiden Seiten ſo erfaßt, daß
an das alte Kartell der Ordnungs parteien nicht mehr zu denken iſt. Heydebrand
und Baſſermann können nicht auf demſelben Poſtamente ſtehen. In dieſer
Lage kann die Partei ſich verloren geben oder ſie muß ein neues Lebensziel
aufſtellen: die nationale Führung der künftigen Linken. Die Jung—
liberalen haben dieſes Ziel längſt begriffen und ſie ſind es, die allmählich in
die vorderen Reihen einrücken.
Alte Parteien ſind gewöhnlich ſtark in allerlei Taktik und ſchwach im
politiſchen Glauben. Die deutſche Linke aber iſt politiſche Glaubensſache,
denn ſie ſoll ja erſt kommen. Wer es nicht glaubt, dem kann es nicht ande—
monſtriert werden, dem kann man höchſtens zeigen, daß alles andere noch
unmöglicher iſt. Ihn fragen wir: glauben ſie, verehrter Freund, an eine Ge—
meinſchaft zwiſchen Nationalliberalen und Zentrum? Antwortet er ja, ſo
mag er ſich auf die Bank ſetzen, wo das geglaubt wird! Antwortet er nein,
jo haben wir ihn, denn ein drittes gibt es nicht, weil Konſervative und
Nationalliberale für ſich allein nie wieder eine Mehrheit ausmachen. Na—
türlich entſteht durch einen ſolchen negativen Beweis noch keine poſitive
Freudigkeit. Der einzelne windet ſich und drückt ſich, bis die Verhältniſſe
ihn ſchieben. Dann erſt ſieht er ein, daß es ſo kommen mußte.
| Auch bei uns Fortſchrittlern gibt es zahlreiche gute Köpfe, die noch
| heute von der Linken nichts wiſſen wollen, weil fie nicht an ihre praktiſche
urchführbarkeit glauben und weil fie die Widerwärtigkeiten einer gehäſſigen
zialdemokratiſchen Agitation noch zu ſehr vor Augen haben. Der Glaube
an die neue Linke iſt in keiner Partei bis jetzt ein Parteibekenntnis, er iſt
0
7 2
3 471
nichts als eine Privatmeinung, allerdings aber diejenige Privatmeinung, die
von den Tatſachen am meiſten gefordert und gefördert wird. Was ihr in
den Parteien der Linken gegenüberſteht, ſind nicht andere Programme und
Pläne ſondern andere Stimmungen und Gewohnheiten. Dazu kommt, daß
im Alltagsbetrieb des Parlamentes beſtändig neue kleine und größere Rei⸗
bungen auftauchen, Kommiſſionsverſtimmungen, Entgleiſungen, Perfonal-
eitelkeiten und ähnliches. Wer mitten im Getriebe ſteht, verliert leicht den
Blick für die Entwicklung im Ganzen. Es ſoll uns gar nicht wundern,
wenn im nächſten Jahr zeitweilig auf der Linken ganz katzenjämmerliche
Stimmungen vorhanden ſein werden und wenn die Rechte jubelt: ihr könnt
ja nichts, ſeid zerriſſen, zerklüftet, eine Wählermehrheit ohne Einheit! Das
wird kommen, aber das ſind Zwiſchenzuſtände. Auch Rom iſt nicht an
einem Tage gebaut worden. In ſolchen Influenzazeiten der Linken gilt
dann: Arbeiten und nicht verzweifeln!
15 75 was macht dabei die Regierung? Sie ſchiebt ſich weiter, fo gut *
es eben gehen mag. Sie ſucht ſich für ihre einzelnen Vorlagen wech⸗
ſelnde Mehrheiten und „ſteht über den Parteien“. Die Geſchäfte werden
dabei ganz gut erledigt werden, Heer und Flotte wird geſichert ſein, neue
Handelsverträge werden vorbereitet und in der auswärtigen Politik kommt
hoffentlich die Verſtändigung mit England. Gefährlich wird die Sache bei
der Erſchließung neuer Einnahmen. Da ſteht rechts gegen links, denn die
Rechte hat ſich feſtgebiſſen auf weitere Ablehnung der Erbſchaftsſteuer. Hier
iſt der Punkt, über den niemand eine Vorausſage wagen kann. Die Re⸗
gierung wird das ſein, was man ein Geſchäftsminiſterium nennt, wird aber
dabei aus Gewohnheit und Verwandtſchaft mehr mit dem rechten Ohre
hören als mit dem linken. Von rechts jedoch erntet ſie keinen Dank, denn
das, was Heydebrand will, kann ſie nicht tun: eine antiſozialdemokratiſche
Verfaſſungsänderung. Das geht nicht mehr ohne Staatsſtreich und für
dieſen fehlen die Kräfte. Gegen ſieben Millionen Wähler kann man keine
Staatsſtreiche machen. Durch die Wahl iſt das Wahlrecht geſichert.
Deutſchland kann nicht mehr hinter das zurückgeworfen werden, was
es vor fünfzig Jahren durch Bismarck erlangt hat. Und mit jedem neuen
Jahre tritt neue Jugend in die Reihe der Staatsgeſtaltenden, Leute, die
hinter dem Sozialiſtengeſetz aufgewachſen ſind und in der Luft der Welt—
politik. Dieſe Jugend ſoll fertig machen, was wir jetzt beginnen.
472
Der Nackte Mann
Roman von Emil Strauß
(Fortſetzung)
Achtes Kapitel
er Markgraf war wie gewöhnlich früh aufgeſtanden. Schon ſeit
D Tagen fühlte er ſich ſo friſch und beweglich, daß er morgens ſofort
zu Pferde ſtieg und ſich dem nur noch ſelten möglichen Genuß eines
immerhin mäßigen Rittes hingab. Da ihn ſein Weg heute in die Nähe
des markgräflichen Steinhofes führte, ſo bog er ein, um den Pächter nach
dem Ausfalle der Kartoffeln zu fragen. Ein erſter Verſuch mit dieſer
neuen Pflanze war im vorigen Jahre wohl infolge der großen Näſſe nicht
ſonderlich geglückt; nun war der Fürſt begierig, zu hören, wie es in dieſem
ſonnigen gewitterreichen Jahre ſtände. Der Pächter zeigte ihm einen
dunkelgrün bebuſchten Streifen Landes, der zwiſchen zwei Stoppelfeldern
über eine Erdwelle lief, und ſagte, er habe dieſen ungleichen, bald lehmigen,
bold ſandigen, hier trockenen, dort feuchten Boden bepflanzt, um zu er—
proben, welchen die Kartoffel bevorzuge; denn im vorigen Jahre habe ein
ſandiger Abhang, wo bei der Ausſaat verſchiedene Knollen verloren gegangen
ſeien, die einzigen guten Früchte ergeben.
J Der Fürſt ritt zu dem Acker hin und ſah über das im niedrigen Sonnen—
1 ſcheine feidig ſchimmernde Grün und ſprach nachdenklich:
„Im Sande —?“ Er ſah die ſandigen Rheinniederungen mit dieſem
kniehohen Gebüſch überzogen, zu Fruchtgärten umgeſchaffen. Ergriffen
ſchwieg er eine Weile. Dann ſprach er in Ungeduld:
„Grabe nach! Zeige mir die Knollen!“
„Zeitig ſind ſie jetzt noch nicht,“ erwiderte der Mann, indem er zur
Hacke griff; „erſt muß das Kraut abſtehen. Aber eſſen kann man ſie
ſchon.“ Er wühlte die Erde um und die Knollen rollten hervor, roſig, faſt
wie lebendiges Fleiſch; er nahm die anſehnlichſten, wiſchte die anhängende
Erde ab und reichte ſie dem Herrn hin.
Dieſer drückte ſie, roch daran, wog ſie in der Hand und hieß den Reit—
knecht das ganze ausgegrabene Häuflein mitnehmen.
Seinen Gedanken ſich überlaſſend ritt er weiter und lenkte zum Schloß
Gottesaue hinüber, den Bau wieder einmal zu beſichtigen. Dieſer machte
ihm Schmerzen. Der Eingriff in die Mißwirtſchaft ſeines Vettern, des
Markgrafen Eduard Fortunatus von Baden-Baden, die Beſetzung der
verpfändeten Markgrafſchaft zwang zur Unterhaltung eines koſtſpieligen
Heeres, die Ordnung des ausgeſogenen Landes erforderte Opfer, die es
noch lange nicht wieder einbringen konnte, und ſo mußte er mit den Ein—
Ekünften aus der unteren Markgrafſchaft Baden-Durlach für die Ver—
.
31 473
nen RE
waltung beider Markgrafſchaften aufkommen. Das ging faſt über die
Kräfte. Und darin glich er den Beſten ſeines wohlwollenden hilfsbereiten
Geſchlechtes, daß er ſein Volk nicht preſſen und ausquetſchen konnte, daß
er mehr darauf ſann, wie der Fleiß der Untertanen zu beleben und förder⸗
lich zu lenken, als wie der Ertrag in die Kaſſe des Landesherrn zu leiten
ſei. Er träumte von einer behäbigen, zufriedenen Bevölkerung, der die
Abgaben leicht würden, und ſo griff er in dieſer Schwierigkeit nicht nach
den Taſchen der Bürger, er verzichtete zunächſt auf die ſtolzeſte Herren⸗
luſt, auf das Bauen. Schon ragten die Mauern des Schloſſes Gottesaue
mächtig in die Höhe und ließen ein prächtiges, wohlabgewogenes Werk
ahnen, da mußte der italieniſche Architekt und die meiſten Arbeiter ent
laſſen, die Mauern, damit kein Verfall eintrete, mit einem Notdach ab⸗
gedeckt werden, und nur ein Werkführer war mit wenigen Arbeitern be
ſchäftigt, das untere Geſchoß in leidlichen Stand zu ſetzen, fo zwar, daß
für eine künftige reichere Ausgeſtaltung nichts verdorben ſei. Der Marke,
graf erſparte es ſich nicht, von Zeit zu Zeit nachzuſehen, fo vorwurfsvoll,
ſo unerträglich ihm der Anblick des niedrigen, geſtreckten Mauerklotzes mit
ſeinen Vorſprüngen, ſeiner Zufahrt zu dem ſäulengeſchmückten Tor, ſeinen
verſchlagenen Fenſtern und leeren Niſchen auch war.
Er umritt es und durchſchritt es, er wandelte allein durch die Gänge,
Säle und Zimmer, durch deren bretterverſchlagene Fenſter nur wenig Licht
eindrang, er ſtand, prüfte und träumte es fertig, er gedachte der Zukunft,
da er, um andere Bürden erleichtert, hier weiterſchaffen könnte, bis es
mächtig in die Höhe ragte, aufwärts und abwärts ins Land glänzend. Er
drang in alle Winkel und blieb endlich vor einer ſchweren, roh angebrachten
Tür ſtehen. Er fühlte plötzlich ſein Herz hämmern und wollte umkehren.
Er bezwang es und trat trotzig auf die Tür zu. Als er aber den hölzernen
Pflock ergriff, mit dem ſie geſchloſſen war, da rann ihm der Schauer über
den Rücken, er fühlte ſein Haar ſich ſtellen, er ſah durch die geſchloſſene
Tür wieder jenen Mönch in der ſchwarz-weißen Kutte ſich aus dem Hinter⸗
grunde des Raumes erheben, die Arme und Knochenfinger weit ausbreiten,
aus fürchterlichem Totenkopf ihn anſtarren und mit vorſtoßenden Händen
nach ihm langen — — und wie damals eilte er, von Entſetzen geritten,
ins Freie, in die warme Sonne.
Erſchöpft ließ er ſich in der Nähe der Arbeiter nieder, das Grauen ver⸗
rinnen zu laſſen und ſeinen Schweiß zu trocknen. *
Unweit ein Feuerlein bemerkend, über dem ein welſcher Maurer die Po-
lenta kochte, trat der Fürſt näher, befahl ſeinem Reitknecht, mehr Holz anzu⸗
legen und in dem Kranze der glühenden Aſche einige der mitgebrachten
Kartoffeln zu röſten. Er ſetzte ſich ans Feuer, unterhielt ſich mit dem
Italiener und teilte ihm, als die Kartoffeln gar waren, wie auch dem .
474 ki
*
knecht und andern in der Nähe Befindlichen von dem ſeltenen Leckerbiſſen
mit. Beruhigt und befriedigt ſtieg er dann zu Pferd.
Der kleine Erfolg mit der Kartoffel hatte ſeinen Geiſt wieder gänzlich
freigemacht. Er war guter Dinge und voll Hoffnung. Er empfand die
ihn umgebenden Widerſtände leichter und war zugleich geneigt, ſie ſich leicht
zu machen. Im Suchen nach Mitteln zum Weiterbau fiel ihm der immer
dringendere Wunſch des Herzogs von Württemberg ein, die Amter Beſig—
heim und Altenſteig, alten Zähringer Beſitz, zur Gebietsabrundung zu er—
werben. Der gute Freund und Nachbar! Er nutzte natürlich den Moment,
wo der Markgraf in allen Richtungen Schwierigkeiten hatte und die Gunſt
und Hilfe eines evangeliſchen Fürſten keinesfalls verſcherzen durfte! Was
war zu machen? Was blieb ihm übrig? Er mußte — mußte! Und was
3 galten ihm ſchließlich Beſigheim und Altenfteig, wenn die Markgraffchaft
Baden⸗Baden dagegen ins Spiel kam! Die durfte nicht verloren gehen.
Mar fie erſt ſicher, fo konnte in kommender beſſerer Zeit der Verluſt jener
Amter durch Erwerb anderen Gebietes aufgewogen werden. Jetzt war Geld
| und gute Nachbarſchaft hoch vonnöten.
In dieſen Gedanken war er durch das Bienleinstor in Durlach eingeritten;
er ließ ſich aber durch das Leben der Stadt und die Grüße der Bürger
nicht ſtören, und erſt, als er, im Schloß angekommen, die rieſige Rampe
hinaufritt, die ihm das beſchwerliche Treppenſteigen ſparte und bis in das
Obergeſchoß zu fahren geſtattete, da riß die Kette feiner Erwägungen und
Berechnungen ab. Übermütig befiel ihn der Gedanke, ſtatt oben gleich abzu⸗
ſteigen, den Gang entlang bis vor das Schlafgemach zu reiten, in dem ſich
N ſeine Gemahlin, die Langfchläferin, gewiß noch auf dem breiten Lager dehnte.
Es müßte entſetzlich den Flur hindonnern und ſchmettern und klirren, die
Frau würde aus ihrem Halbſchlaf von Schrecken durchzuckt und von Grauen
überrieſelt auffahren — Er würde ſich vom Pferde ſputen und hineineilen,
um noch ihren entſetzten Blick, ihren bewußtloſen Schrei, ihren empor—
gereckten Leib aufzufangen und die raſende Flucht ihres Herzſchlages in ſeine
ruhige Bruſt herüberzittern zu laſſen. — Ruhig —? Er bebte ſchon. Ihr
Anblick, nur der Gedanke an ſie überkam ihn jeweils wie eine Schwäche:
er vergaß, was eben noch ſeinen Geiſt verlockt, ſeinen Ehrgeiz erhitzt, ſeinen
Willen über ſeine Kräfte hinaus geſpannt hatte, und was ihn nun erfüllte,
war fo einfach, erreichbar und darum tröſtlich, der Wille, dieſer Frau zu
gefallen und ſich ihrer zu freuen.
So war es geweſen, als er ſie vor achtzehn Jahren in Heidelberg zum
erſten Male ſah, die eben angetraute Gemahlin feines Freundes, des Pfalz—
grafen Ludwig. Sofort hatte er ſich der Vermählungspläne, mit denen er
gerade umging, gänzlich entſchlagen, obſchon ja der Pfalzgraf bei guter Ge—
ſundheit, die Pfalzgräfin Anna eine treue Frau und er ſelbſt von ſtrengen
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Grundſätzen war. Aber was follte ihm ein anderes Weib, folange ihm
dieſes im Blute läge! Er war ſo von ihr beſeſſen, daß er ihren Anblick
nicht länger ertrug, ſondern abreiſte und den benachbarten Fürſtenſitz mied.
Und tief ward er betroffen, als nach einjähriger Ehe der Pfalzgraf Ludwig
aus dem Leben ſchied: hatte er, der Markgraf, nicht manchmal eine ſchwache
Stunde gehabt, wo er den Gedanken, ſein beneideter Freund könnte früh—
zeitig ſterben, nicht von ſich zu weiſen imſtande war! Aber über dieſen
Vorwurf hinweg jubelte ſein Herz, als er zur Beiſetzung nach Heidelberg
ritt. Nun, ſelbſt in der erſten Trauerzeit, war es ihm nicht mehr möglich,
ſich zu beſcheiden: er blieb einige Wochen am Neckar, um ſich der ver—
witweten und weil kinderlos, nun auch hier heimatloſen Frau zu nähern,
und als er dann nach Hauſe zurückkehrte, nahm er die Sicherheit mit, in
ſchicklicher Zeit um ihre Hand werben zu dürfen. Und mächtig war er
erregt und erhoben von der Fügung Gottes, die ſeinen ausſichtslos glühenden
Wunſch mit fo raſcher Erfüllung begnadet hatte. Nach einem Jahre hob
er Anna von Oſtfriesland oben am Portal — dem er jetzt auf der Rampe
zuritt — als ſeine Gemahlin aus dem Sattel und war ſo wenig Herr
ſeiner Regungen, daß er die noch in der Luft Schwebende ungeſtüm an ſeine
Bruſt riß und ihre wie Roſenblätter aus dem weißen Geſichte glühenden
Lippen küßte. Und ſo war die in kinderloſer Ehe jung und friſch gebliebene
Frau immer noch ſeine Ruhe und Unruhe.
Oben auf der Rampe ſtand ſchon ein Diener, um zu melden, daß die
Markgräfin im Luſthauſe des neuen Schloßgartens den Gemahl zum
Frühſtück erwarte. a
Nun ritt der Fürſt ohne weiteres die Rampe wieder hinab und hinüber
zum Parke. Es freute ihn, ſich der geliebten Frau wieder einmal in freier
Kraft und Friſche zeigen zu können.
Die Markgräfin hatte ſich in der nach vorn offenen Vorhalle des Luſt⸗
häusleins niedergelaſſen und wartend in die Morgenſtille des Parkes hinaus⸗
geträumt. Aber die Wärme der noch niedrigen Sonne fing ſich in dem
kleinen Raume, die Frau empfand ihn bald als einen Käfig und blickte
ſehnſuchtsvoll zwiſchen den weißen Säulen hinaus und nach dem viereckigen
Raſenplatz hinüber, auf dem noch Baumſchatten ſchwankten und deſſen
betautes Grün rote, blaue und goldene Funken in der bewegten Luft auf—
leuchten ließ. Da befahl ſie, einen roten Teppich mitten auf den Raſen zu
legen und ein achteckiges Zelt darüber aufzuſtellen. Es unterhielt ſie, von
ihrem Platze aus die Leute drüben arbeiten zu ſehen und ihnen ab und zu
einen Befehl zuzurufen, bis das weiße, gelb und rot gefütterte Leinwanddach
ganz nach Wunſche daſtand und die Seitenwände zuſammengerafft und in
in ſchweren Knoten um die Stangen aufgewunden waren, ſo daß die
friſche Luft frei unter dem Zelte durchſtreichen konnte. Mitten hinein
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wurde ein Seſſel geftellt, und dann mußten fi) Damen und Diener
entfernen.
Die Fürſtin betrachtete eine Weile das einladende, nun ſchon fo verlaffen
erſcheinende, träumeerweckende Plätzchen und mußte an Rittergeſchichten
denken, an Iwein und Amadis und den raſenden Roland, an die Liebesnot
irrender Ritter und Damen. Langſam erhob ſie ſich, ſtieg die Stufen hinab
und ging in der wohlig friſchen Luft hinüber zu dem Raſenbezirk, ſie raffte
mit der ringfunkelnden weißen Hand das perlgraue Seidengewand auf, daß
nur noch eine geringe Schleppe rauſchte und die Taublitze von den Gräſern
wiſchend, eine grünere Spur durch den Raſen zog. Sie ſchmiegte ſich be—
quem in die Kiſſen des Seſſels und dachte an irgendeine verratene, im
wilden Walde ausgeſetzte Frauentugend, die von einem vorbeiirrenden Ritter
befreit und gerächt und im kochenden Jungbrunnen neuer Liebe wiedergeboren
wird, — ſie träumte und wartete.
Aober kein Ritter brach blank durch das Dickicht, es blieb ftill, ſelten klang
eine Vogelſtimme; von fernen Ackern, wo gepflügt werden mochte, drang
das Gekreiſch der Krähen her. Die Markgräfin wurde des Wartens müde
und, als ſie hinten im Parke Kinderſtimmen hörte, da rief ſie:
„Kuckuck! — Kuckuck! — Kuckuck!“ aber auf die näherkommenden
Antwortrufe der Kinder ſchwieg ſie; den Kopf ſenkend, ſchaute ſie in den
Schoß und regte ſich nicht.
a Sechs oder acht Mädchen und Knaben verſchiedenen Alters tauchten,
; laut ftreitend, aus dem gegenüberliegenden Parkdickicht, blieben aber, als fie
die Fürſtin ſcheinbar ſchlafend im Zelte ſitzen ſahen, verſtummend ſtehen.
Dann flüſterten und kicherten ſie, ſchlichen näher und hielten in andächtiger
Entfernung vor dem Zelte. Sie ſtießen einander mit den Ellbogen, ſchüttel—
ten die Köpfe, zuckten mit den Achſeln, nickten und ſtaunten dann wieder
die ruhende ſchöne Frau an, die Mädchen voll Bewunderung, die Buben
voll Sehnſucht und Verwirrung.
Da gab der junge Reiſchach dem Freiſtett, dem die Fürſtin gern
mit der Hand in die dunklen Locken fuhr, einen kräftigen Stoß in den
Rücken. Der zierliche Knabe taumelte vorwärts und ſuchte ſich erſt mit
überraſchten Gebärden zu hemmen; gleich aber überließ er ſich dann der
Kraft des Stoßes, lenkte geſchmeidig ſeinen Körper und brach ſchließ—
lich gerade vor den Füßen der Markgräfin mit beherrſchter Bewe—
gung in die Knie. Dennoch etwas bang erhob er ſeine Augen zu der
Fürſtin, begegnete aber nur einem ruhig prüfenden Blick und zufriedenen
Nicken.
„Das war ſchön, Freiſtettchen!“ ſagte ſie, „das war gut gemacht.“
Er ward rot, blickte zu Boden und ergriff in plötzlicher Bewegung den
Saum ihres Gewandes.
3 D
R
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„Nicht!“ ſprach fie raſch und reichte ihm ihre Hand, die er doch kaum
mit ſeinem Kuſſe zu ſtreifen wagte.
Unterdeſſen waren nun auch die andern Kinder hergeſtürmt, aufs Knie
geſunken und haſchten nach der Hand der Markgräfin. Meiſchach, in der
Meinung, Freiſtett könnte nun zufrieden ſein, wollte ihn beiſeite ſchieben.
Da kochte in dieſem der Zorn über den vorigen Stoß des Geſpielen wieder
auf, er umfaßte den andern mit den Armen, warf ſich mit ihm zurück und
ein Ringen begann. Die andern wollten wehren; aber die Fürſtin befahl,
ſie gewähren zu laſſen, und ſchaute eine Weile zu, wie die jungen ſchlanken
Körper ſich auf dem roten Teppich hin- und herwälzten und einander zu
übermannen ſuchten. Dann gebot ſie Frieden. i
Als die beiden Gegner mit hochatmender Bruſt daſtanden, rief Neid, f
das gelbe Haar aus dem Geſicht ſtreichend!
„Ja — ich hätt ihn aber ſchon noch untergekriegt!“
„Das will ich erſt einmal ſehen!“ fuhr Freiſtett von neuem auf.
„Aber ich will es nicht ſehen!“ ſagte die Fürſtin lächelnd. Da ſenkten
beide beſchämt die Köpfe und traten auseinander. *
„Tante —“ fragte Jakobea, „dürfen wir Euch nun zum Guten⸗Mor en
die Hand küſſen?“
„Ich möchte nicht ſchuld daran ſein, daß das Laſter des Neides bei euch
aufkäme, auch glaube ich, ihr könnt bei dieſer Feierlichkeit immer noch lernen
und euch vervollkommnen; ich werd es alſo über mich ergehen laſſen müſſen.
Nur bitte ich mir aus, daß es jetzt mit Würde und ohne Brudermord ab- -
eht!“ *
Mit ſpieleriſchem Vergnügen nahm ſie eine ſtolze Haltung an, lächelte 7
hochmütig und huldvoll und beobachtete zugleich prüfend die Bewegungen
der Kinder, die ſich nacheinander mit Verbeugung, Kniefall und Handkuß
ihr näherten.
Darüber kam, ſeinen Herrn zu ſuchen, Hauptmann Gößlin des Weges
daher, blieb aber in der Entfernung tief grüßend ſtehen.
„Wir ſpielen Schule, Hauptmann. Ihr kommt doch nicht als Spiel-
verderber?“
„So wenig, daß ich wünſchte, mitſpielen zu dürfen, Fürſtliche Gnaden!
ich habe nie eine ſo verlockende Heckenſchule erlebt.“
„Er ſcheint galant geſtimmt,“ fuhr die Fürſtin fort. „Was meint ihr?
wollen wir ihn mitmachen laſſen?“
„Jawohl!“ rief Jakobea, „komm, Leu!“ und ſie lief hin und zog ihn am
Arme herbei.
Eine plötzliche Schwere bekämpfend, trat er langſam näher, erwies der
Markgräfin feine Reverenz, bog das Knie, neigte ſich tief über ihre Hand
und drückte gegen ſeine Abſicht unwillkürlich einen heftigen Kuß auf de
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weißen beringten Finger. Eine aus ferner Vergangenheit wieder aufſtürmende
Wallung des Blutes durchglühte und durchbrauſte ihn. Wie jung und
alt war auch er einſt von dem Reize wenn auch nicht fehlerlos ſchönen,
doch echt weiblichen liebesgemäßen Leibes und Weſens der Frau berückt,
gequält, verfolgt worden; dann hatte er gelernt, in ihrer Luft ruhig zu atmen,
und nur ſelten im Laufe der Jahre ſchuf die Laune der Fürſtin eine Lage,
die ihn verwirrte. So hielt er auch jetzt noch einen Augenblick den ſchwin—
delnden Kopf tief gebeugt, ehe er ſich zu erheben und in die ſchönen Augen
zu blicken vermochte.
„Was nun?“ rief die Markgräfin, indem ſie lächend von ihm weg—
„Blinde Kuh!“ verlangte Prinzeſſin Anna, Jakobeas ältere Schweſter.
„Das würde euch wieder gefallen!“ erwiderte die Fürſtin. „Nein, nein!“
„Der Fuchs geht rum!“ wollte ein Knabe.
„Daß ich wieder die Prügel kriege! — ihr ſeid eine ſchlechte Bande, —
eine reſpektloſe!“
„Frau Mutter, leih mir d Scher!“
Das wurde genehmigt. Statt an Bäume ſtellten ſich die Spielenden
an die Stangen des Zeltes, das Laufen und Haſchen begann und die Kin—
der hatten ein beſonderes Vergnügen, wenn die Markgräfin im Spieleifer
ſtatt „Frau Mutter, leih mir d Scher!“ nach ihrer heimatlichen Weiſe rief:
„Verwechſelt, verwechſelt das Bäumchen!“ Leuprant aber konnte es der
Fiuürſtin nicht recht machen. Um nicht von ihr berührt zu werden, noch fie
berühren zu müſſen, ließ er fi) nie von ihr fangen und holte er fie niemals
ein, ſie mochte noch ſo langſam gehen. Drum ſchalt ſie, er mache Ernſt,
ſtatt zu ſpielen, bald auch, er nehme das Spiel nicht ernſt. Und das würde
ihr wohl raſch ihre große Luſt an dem Necken und Triumphieren, Entgleiten
und Zuſammenprallen, Gewühl und Gekreiſch verleidet haben, wenn nicht
überraſchenderweiſe Hufgeklapp erſchollen und der Markgraf einhergetrabt
wäre.
Er ſchwang grüßend den Hut nach dem Zelte, wo plötzlich alle ftill-
ſtanden und nach ihm umſchauten. Die Gemahlin lachte ihm verwundert
entgegen und freute ſich darüber, wie hoch und friſch er auf ſeinem Schim—
mel ſaß, und wie das Tier auf dem dunklen Hintergrund der Buchenhecke
leicht und zierlich Kopf und Beine warf, den Schweif ſchnellte und mit
den Hufen den Sand des verwundeten Weges nach allen Seiten ſpritzte.
Der Markgraf ſtieg mit abſichtlicher Gemächlichkeit ab, umſchritt prüfend
langſam das Tier und klopfte ihm den Hals und erſt, als er das Blut
wieder richtig in den Beinen fließen und die Steifheit aus ihnen gewichen
fühlte, übergab er es dem herbeigeeilten Reitknecht, zog die Handſchuhe
4 aus und ging nun mit raſchen Schritten auf die Gemahlin zu, neigte ſich
1
*
*
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und küßte die Hand, die fie ihm entgegenhob. Sie hatte ſich geſetzt und
empfing ihn im Halbkreis der andern, jede Bewegung prüfend, mit leuchten⸗
den Blicken.
„Endlich!“ ſagte ſie, und ihr vom Spiele leicht gerötetes Geſicht und
ihre ſtark bewegte Bruſt ſchienen ihm dasſelbe zu ſagen.
„So und jetzt könnt ihr alle abkommen!“ ſprach ſie freundlich nickend
zu den Kindern.
Nachdem dieſe den Fürſten begrüßt und ſich entfernt hatten, nachdem
Gößlin auf ſpäter beſchieden war, wurde ein Tiſch gebracht und aufgetragen;
dann wichen die Diener auf Rufweite zurück.
Die Markgräfin ergriff mit beiden Händen die Rechte ihres Gemahles,
drückte fie zärtlich, zog ihn zu ſich heran und ſagte ſchmeichelnd:
„Du ſahſt ſo gut aus! Du kamſt ſo ſchön daher!“
Er lachte, er lachte ſie gutmütig ein wenig aus.
„Nein —,“ erwiderte ſie unbekümmert, „es iſt ſo ſchön für eine alte
Frau, wenn ſie auf ihren Mann noch eitel ſein darf.“
„Eine alte Frau, die mit den Kindern tollt, deren Mund wie brennende
Liebe glüht, mit der Bruſt einer Zwanzigjährigen und mit Armen und
Händen, — für die der Vergleich fehlt.“ Er hatte ihre Hand gefaßt und
über ihren Arm heruntergeſtrichen und behielt eine Weile ihre Hand in
ſeinen beiden.
Während er dann kräftig aß und trank, unterhielt ihn ſeine Gemahlin,
die wenig genoß, mit allem, was ihr durch den Sinn ging, und ihr Sinn
hatte feine Freude an allem, was das unbekümmerte Leben bewegt und er⸗
regt, an Eſſen, Kleidern, Liebe, Dienerſchaft, am Klatſch der Stadt wie
am Klatſch der Hofgeſellſchaft. Da ſie freundlich und heiter mit dem Ge—
ringſten verkehrte, und ihre Neugier nicht als ſolche, ſondern als teilnehmende
Luſt an allem, als Hunger der Phantaſie erſchien, ſo erfuhr ſie alles, was
fie wiſſen wollte. Um Regierung und Staatsgeſchäfte aber bekümmerte fie
ſich nur, wenn ſie etwa abenteuerlich wurden. Für den Markgrafen war
ihre Unterhaltung ein Ausruhen in der Harmloſigkeit des Daſeins, und
um ſo heftiger war hinterher ſein Bedürfnis, zu handeln, zu planen, den
Sinn der Zukunft zu erforſchen und ihrem Willen entgegen- oder zuvor⸗
zukommen. So gingen am Ende der Mahlzeit ſeine Gedanken ſchon nach
dem Hauptmann Gößlin, als die Markgräfin der gleichen Richtung folgend,
von jenem anfing und ſprach:
„Eigentlich — war der Hauptmann ein wenig unartig!“ und ſie erzählte.
„Ich weiß nicht, woran es lag; aber ich empfand faſt etwas Verletzendes.“
„Er iſt der letzte, der ſich erwas vergäbe!“ entgegnete Ernſt Friedrich.
„Aber er hat nicht die Gabe des Spielens.“
„Ich will nichts über ihn fagen —“
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„Kannſt — du etwas über ihn ſagen?“
„Nein, eben nicht! Das iſts! Ich mag die Leute nicht, über die nicht
ein wenig geklatſcht wird!“
Der Markgraf lachte auf und rief:
„Ich werd ihm ſagen, daß er dir eine recht unglückliche Liebe erzählen
muß, wenn ers nicht ganz bei dir verſchütten will!“
„Er wird ja doch nicht die Wahrheit ſagen! er wird etwas erfinden.“
1 Der Markgraf zuckte lächelnd die Achſel und ſprach:
„Bei Männern würde ihn das empfehlen. Bei unſern Frauen haben es
unſere Freunde nicht leicht, — und für uns,“ er klopfte ſich auf die Bruſt,
„für uns iſt das nicht ganz unſchmeichelhaft!“
Er küßte der Gemahlin herzlich zunickend die Hand und erhob ſich, da
gerade Gößlin erſchienen war. Er begab ſich mit dem Hauptmann in die
Vorhalle des Gartenſaales, ſetzte ſich in die Ecke, wo ihn die Sonne, die
er liebte und nötig hatte, warm umfing, und war alsbald in die Geſchäfte
ſo vertieft, daß er nicht in acht nahm, wie ſeine Gemahlin, die ſich hatte
ein Buch bringen laſſen, nach kurzem aufſtand, von den Stimmen der
Männer geſtört, das Zelt verließ, den Raſen langſam überquerte und ver—
ſchwand.
„Nun —?“ fragte der Fürſt. „Du ſiehſt fo unzufrieden aus, faſt ein
wenig verekelt.“
5 „Ja — ich wäre lieber mit dieſer Sache möglichſt verſchont geblieben!
* Aber den Herren, die den Brei gekocht haben, iſt er nun zu heiß, — und
da ſoll ich blaſen.“
„Blaſen —?“ wiederholte Ernſt Friedrich und runzelte die Stirn.
„Ew. Fürſtl. Gnaden —“
„Bitte!“ unterbrach der Fürſt.
„Du haſt auf elf Uhr Sitzung wegen der Pforzheimer Angelegenheit an—
beraumt. Die Berichte des Statthalters und die der Bürgerſchaft beſagen
in verſchiedener Auffaſſung dasſelbe, daß nämlich der Statthalter in der
Präſentation der Geiſtlichen von der Bürgerſchaft unterbrochen, daß ihm
die Annahme der Geiſtlichen von der Bürgerſchaft abgeſchlagen und daß
er von einem Pöbelhaufen mit Hohn ins Schloß zurückbegleitet worden iſt.“
„Der Statthalter hätte die Haupthähne herausgreifen und mit aufs
Schloß nehmen ſollen!“
„Ja, können vor Lachen!“ brummte Gößlin.
Der Markgraf ſah ihn groß an.
Der Hauptmann fuhr fort:
„Darüber war zu beraten. Nun iſt heute in der Frühe neuer Bericht
eingelaufen. Demnach geriet die Bürgerſchaft nachmittags auf mündliche
ö und ſchriftliche Rachedrohung des Statthalters in neue Aufregung, tat ſich
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auf dem Markte zur Beratung zuſammen und verband ſich einſchließlich
des Adels mit einem leiblichen Eide, in allen weltlichen Dingen dem an⸗
geſtammten Herrn allen ſchuldigen Gehorſam zu leiſten, in geiſtlichen Dingen
dem durch Taufe und Konfirmation bekannten Gotte treu zu bleiben auf
Tod und Leben, — gegen die Rache des Statthalters alle für einen au
ſtehen.“
Der Markgraf gab keinerlei Zeichen, er ſaß unbewegt da und blickte mit
gerunzelten Brauen vor ſich hin.
Gößlin war nicht ſicher, wie das zu deuten ſei, ob als überlegende Ruhe,
ob als Stille vor dem Sturm. Er war von den Räten vorgeſchickt wor⸗
den, weil ihnen vor des Fürſten Vorwürfen bangte. Sie fühlten zudem,
mit der drei Wochen dauernden Entziehung der Seelſorge den lutheriſchen \
Fürſten einen allzu empörenden Grund zur Parteinahme gegeben zu haben
und wollten darum am liebſten den ganzen Handel für jetzt fallen affen,
fürchteten aber, mit dahin zielenden Vorſchlägen nicht gegen den Zorn
Ernſt Friedrichs aufzukommen; darum ſollte der Hauptmann vorgehen.
Wenn ſich erſt gegen dieſen die Aufregung entladen hätte, wollten ſie >
ein klein⸗ und demütiges Eingeſtändnis ihres Irrtums, ja, Unrechtes g
die lutheriſche Stadt den Fürſten überraſchen und rechneten damit, er er
in der Beſchämung und verletzten Eitelkeit froh ſein werde, die Sache raſch
und ſtill aus der Welt zu ſchaffen. Das ſagten ſie dem Hauptmann, als
ſie ihn um einen vorbereitenden Bericht an den Herrn baten, natürlich nicht;
er brachte ſie aber doch ſo weit zum Reden, daß er ſie durchſchauen konnte.
Danach willfahrte er ihnen; denn er hoffte, den Freund durch eine mög⸗ 8
lichſt ruhige und nüchterne Darſtellung ſoweit beeinfluſſen zu können, daß
er der Ratloſigkeit der Räte nicht erſt recht mit ſeiner bekannten Hartnäckig⸗
keit antworte.
Als nun der Markgraf ſchwieg, da warf der Hauptmann, um die
Stimmung zu prüfen, noch hin:
„Der Advokat Ebertz will verſuchen, beim Reichskammergericht in .
eine Klage gegen die markgräfliche Regierung anzubringen.“
„Klage —?“ wiederholte der Fürſt. „Dummes Zeug! Ich werd ihn
aufheben laſſen, den Kerl!“
„Auch nach Emmendingen an den Markgrafen Georg Friedrich hat die
Bürgerſchaft einen Bericht abgeſchickt — und hat um Beiſtand gebeten.“
„An — meinen — Bruder —?“
„An deinen Bruder als ihren Erbherrn!“
Der Fürſt nickte ſinnend:
„Zartfühlende Leute!“ q
Der Freund platzte in Gelächter aus und ſprach, da der Markgraf ihn
verwundert anſchaute, immer noch lachend: ia
482
„Das Zartgefühl haſt du ihnen ausgetrieben mit der geiſtlichen
Houngerkur!“ |
Nun lachte der Markgraf auch und gab zu:
„Es iſt ja richtig.“ Er regte ſich aber nicht auf. Gleich bei den erſten
Worten Gößlins hatte er die Vorſicht des Rates als Feigheit empfunden
und das hatte ihn kühl gemacht. Dazu kam, daß er ſich dem in dieſer
Sache andersgeſinnten Freunde gegenüber nichts vergeben wollte. Er hatte
alſo ganz ſachlich den Gründen des Mißlingens nachgedacht und überraſchte
nun den Hauptmann, indem er anfing:
„Ich habe Fehler begangen. Ich hätte mir klarmachen müſſen, daß
durch Entziehung der Seelſorge entweder eine trotzige Verſteifung auf das
Lutherrum oder eine Verwilderung wahrſcheinlich ſei, höchſt unwahrſchein—
lich dagegen ein Nachgeben. Eine geiſtliche Hungerkur — wie du ſagſt —
iſt nicht genug; die meiſten würden ſich daran gewöhnen. Könnte ich ſie
dagegen am Magen kränken, könnte ich ihnen das tägliche Brot und den
täglichen Wein entziehen —“
„— Und den Käs dazu, wie jener Pfaff ſagte,“ warf Gößlin ein.
De: Markgraf lachte:
„ und den Käs dazu! allerdings! dann wäre den Pforzheimern ihr
Witz bald vergangen! dann wäre ihnen der kalviniſche Segen lang recht,
wenn es nur wieder Käs und Brot und Wein gäbe!“
Gößlin ſah den Fürſten mit bitterem Lächeln an und nickte mehrmals
ſchwach mit dem Kopf, als wollt er ſagen: auch eine Anſicht!
„Du biſt natürlich nicht meiner Meinung — ?!“ ſagte Ernſt Friedrich
ungeduldig.
„Gewiß nicht!“
„So ſprich dich doch aus!“
„Du ſagteſt, du habeſt einen Fehler begangen; ich meine, du habeſt ein
Unrecht begangen, und damit iſt eigentlich genug geſagt. Alles andere er—
gibt ſich hieraus.“ Er ſchwieg. Wie ſchon ſeit Jahren wollte er ſich auch
jetzt begnügen, den Gegenſatz, in den ihre religiöſe Entwickelung ſie gebracht
hatte, nur anzudeuten. Den Markgrafen umſtimmen zu können, bildete er
ſich längſt nicht mehr ein. Aber die Verſchiedenheit des Glaubens brauchte
ja keinen Riß in die lebenslange Freundſchaft zu bringen. So hielt er ſich
in dieſen Konfeſſionskämpfen zurück und ruhig, und wenn er, wie jetzt in
der Sache feiner Vaterſtadt, mit verwickelt wurde, fo bemühte er ſich, zu
beſänftigen.
„Ja, ja,“ erwiderte der Fürſt, „die alte Geſchichte! Du ſprichſt mir das
Recht ab, zu reformieren —“
— Auf diefe Art zu reformieren!“ warf Gößlin ein. „Chriſtus hat
die Krämer und Wucherer aus dem Tempel gejagt; aber den ſiebenarmigen
* 483
Leuchter hat er nicht in die Küche gehängt und die Bundeslade nicht zur
Futterkiſte gemacht: er hat die Geräte der Andacht und Verehrung ge-
laſſen, wo ſie waren; aber die Andacht, die ſie erregten, hat er auf ſeine
Worte abgelenkt und mit feiner Lehre erfüllt und erneuert. Er hat nie un⸗
recht getan und ſich auf ſeine Sendung und Gotteskindſchaft berufen. Er
hat nicht gezeigt, wozu man einen armen Menſchen mit Gewalt zwingen
kann; er hat geſagt: geht in euch! kehrt um! liebt einander! folgt meinem
Beiſpiel! und hat gezeigt, wie man der Gewalt widerſteht. Du kannſt
mich zwingen, zu ſterben oder zu Kalvin in die Kirche zu gehen; aber du
kannſt mich nicht zwingen, dem Kalvin zu glauben, kannſt mich nicht zwingen,
reinen Herzens zu ſein! Wenn du meinſt, auf dem Weg und nach den
Worten Kalvins ſicherer zu Gott zu kommen als mit Luther, ſo iſt das dein
Recht; wenn du aber uns von dem Vorzug dieſes Weges überzeugen willſt,
ſo geh ihn vor unſern Augen! zeige dich beſſer, als wir ſein können! über⸗
winde uns durch das Gute, das du tuſt!“
„Wenn ich Bürger oder Apoſtel wäre,“ ſprach der Markgraf, „dann
könnteſt du ſo reden. Ich bin aber Fürſt und habe Land und Leute zu
regieren, d. h. zu Recht und Pflicht und Ordnung zu leiten und zu zwingen,
hab einfach das zu tun, was ich als Gottes Auftrag erkannt habe. Als
Kinder wurden wir zur Wahrhaftigkeit, zur Ordnung, zur Frömmigkeit,
zur Arbeit — gezwungen, drum lieben wir jetzt Arbeit und Ordnung; andern⸗
falls wären die meiſten zu Taugenichtſen geworden. So muß das Volk zur
Arbeit und allem Guten fortwährend gezwungen werden, durch den Hunger,
durch die Gemeinde und Zünfte, Polizei und Regierung! Die meiſten gehen
lieber ins Wirtshaus als zur Arbeit oder Kirche. Ich nötige jeden, das
Eigentum und das Leben des Nächſten zu achten, — warum denn nicht auch,
Gott zu achten?! Ohne den Zwang würde er ſich um Gott ſo wenig wie
um dein Eigentumsrecht kümmern. Die Eltern werden jetzt zum reinen
Glauben gezwungen und hören ihn mit Widerſtreben an; ihre Kinder wer—
den in ihm aufwachſen und für die klare, friſche Luft dankbar ſein!“
Gößlin ſchwieg eine Weile. Aus ſelbſtbewußtem Bürgertum ſtammend,
ſtolz auf deſſen Kraft und Glanz, konnte er ſolche Meinung nicht gelten
laſſen; gar wo ſie ſeine Vaterſtadt bedrohte, war ſie ihm verrucht.
„Die Anſprüche ſind verſchieden —“ ſagte er endlich zögernd. „Ich
denke, das Beſte, worüber du gebieten könnteſt, iſt der Mann, der ſeiner
ſicher iſt; deſſen Heimliches nur Stolz und Scham iſt. Zwinge einen Mann,
ſeinen Glauben zu widerrufen oder zu verbergen, — und er hat Schande
zu verheimlichen, — iſt kein Mann mehr.“
Ernſt Friedrich ſchüttelte nur mit beſſerwiſſendem Lächeln den Kopf und
ſprach dann:
„Ich komme darauf zurück: ich habe einen Fehler gemacht. Ich were
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* *
=
verſuchen, ihn zu verbeſſern. Gewalt brauchen kann ich zur Zeit nicht;
Pforzheim iſt eine wehrhafte Stadt und hat den Adel — ich werd es den
edlen Herren ankreiden! — und die Landſchaft hinter ſich, während ich
meine Truppen in Baden laſſen muß. Ich werde — alſo — die drei luthe—
rriſchen Pfarrer wieder mit der Amtsführung beauftragen. Der Superin-
# tendent bleibt abgeſetzt; denn er hat den Frieden geſtört!“
17 „Na, —“ machte Gößlin lächelnd.
„Bitte —?“
„Den Frieden geſtört hat niemand als dein Herr Obervogt.“
Der Markgraf runzelte die Stirn und überlegte einen Augenblick, lächelte
und ſprach:
„Du bringſt mich auf einen Gedanken: ich werd auch den Obervogt ab—
berufen! — Den Unfug des Religionseides werd ich auf ſich beruhen laſſen.
Die Stadt wird zwar ſagen: der Markgraf huft, er gibt klein bei, er merkt, daß
es ſo nicht geht! — — mag ſie! Hauptſache iſt für jetzt, daß ſie ſich beruhigt.“
„Die Beruhigung wird nicht ſo einfach ſein, wie die Beunruhigung war!“
„Du weißt mehr —? Raus damit!“
„Nein, ich weiß nichts weiter. Ich war, ſeit dieſer Handel ſchwebt, nicht
zu Hauſe, und werde, ſolang er währt, nicht hingehen. Ich will verſuchen,
nicht zwiſchen die zwei Mühlſteine zu geraten. Ich bin mein ganzes Leben
her mit dir verbunden, dir verpflichtet, dein Diener und kann natürlich nicht
maeinem bisherigen Leben und Tun abſagen und mir meine Treue ausreißen,
= weil du eine Regierungshandlung gegen meine Vaterſtadt vollziehſt, die ich
längſt kommen ſah. Ich würde aber unter meinen Verwandten und Nach—
baren und Geſpielen, in unſern Häuſern und auf unſerm Markte wohl nicht
umhin können, mich als einen der Ihrigen zu fühlen. Zwiſchen dieſe beiden
Mahlſteine möcht ich nicht kommen, ich hoffe, am Rande liegen zu bleiben.
Alles geht vorüber. — Ich habe alſo nur ſelten einen Pforzheimer ge—
ſprochen, ſie meiden mich wohl auch als deinen Gefolgsmann. Ich weiß
weiter nichts; ich wollte dich nur warnen, ſie zu unterſchätzen. Bisher haſt
du ſie unterſchätzt.“
Ernſt Friedrich ſah den Sprecher an. Was dieſer zuletzt ſagte, hörte er
kaum. Wie etwas ganz Neues war ihm die jahrzehnte lange Ergebenheit
dieſes Mannes bewußt geworden und hatte ihn mit heißer Freude und
Innigkeit durchſtrömt; dann hatte ihm der Gedanke, daß dieſer Mann ihm
doch nicht ganz gehöre, faſt den Herzſchlag gelähmt und eine ungeahnte
Unſicherheit war erſchreckend über ihn gekommen; aber der Anblick des
ernſten, offen redenden Menſchen hatte ihn ebenſo raſch wieder beruhigt, und
nur ein wenig Eiferſucht war noch in den Wunſch gemiſcht, den Freund
ganz und gar feiner Vaterſtadt wegzunehmen. Er ſtreckte die Hand weit
geöffnet hin und ſprach:
* 4
A
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„Leu, du bift ein echter Kerl! Wir wollen zuſammenhalten!“ und als
Gößlin beſchämt einſchlug, drückte und ſchüttelte ihm der Fürſt heftig die
Hand und rief: „Es gilt.“
Der Hauptmann dachte: ja, aber, wir wollen zuſammenhalten heißt
eigentlich: Leu, du mußt zu mir halten!
Der Markgraf lehnte ſich wieder in den Seſſel zurück und ſchaute be⸗
finnlich vor ſich hin.
Um ihn nicht zu ſtören, blickte Gößlin in den Garten hinaus, auf die
große Raſenfläche, auf den dunkelroten Teppich mit den vielen ſandigen
Fußſpuren, auf den Platz, wo vorhin die Markgräfin geſeſſen. Und wie
man eine Gefühlsentſcheidung des vertrauteſten Nächſten zwar als ſolche
erkennt und bewertet, aber nur ſelten — eben wenn man ſie teilt — eigent⸗
lich verſteht und billigt, ſo wunderte er ſich wieder über die unverwelkliche
Liebe des Freundes zu dieſer Frau, über ſein untrübbares Glück an ihr.
Unwillkürlich ſah er nach dem Fürſten hinüber. Der ſchien eingeſchlafen
zu ſein: der Kopf war gegen die hohe Stuhllehne zurückgeſunken, die Augen
waren geſchloſſen, der Atem ging tief und regelmäßig, aber ungewöhnlich
blutlos und gelblich lag das ſtarke Geſicht auf dem weißen Tellerkragen, und
die Röte des Haars und Bartes ſtach mehr ab als ſonſt, faſt fuchsrot.
Leuprant nickte beim Anblick des Erſchöpften mehrmals bedenklich mit dem
Kopf und dachte: hat er ſich wieder zu viel zugemutet! immer wieder!
ſtundenlang reiten, wenn man nicht feſt iſt!
Aber als könnte ſein Blick den Schlafenden ſtören, ſah er beiſeit in den
Garten. Und wieder tauchte das Bild der Frau vor ihm auf, der männer
betörende Reiz ihrer Geſtalt und ihres Weſens, ihre ſtraffe Fülle, 1
weiße, bläulich durchſchimmerte Haut, der unbegreifliche ſchmerzlich-tieriſche
Ausdruck, wenn ſich der Mund öffnete, die ſtarken Zähne ſchimmerten und
aus den grauen Augen dieſes Leuchten von Sehnſucht und Hingabe heraus⸗
ſchlug, dieſer zehrende Glanz. Und eine heitere ſpielende Frau! eine — treue
Frau, — zweifellos! Aber — wie ſicher ſeines Gefühles mußte ein Mann
ſein, wie ſtark, um einer N ai Frau zu vertrauen, in ihr Ruhe zu fmbege
Kühn — oder blind —
Wieder fah er er zu dem Fürften hinüber, der ſchlief und 1.
Atem in kurzen, hörbaren Stößen durch die Naſe ſtieß.
Der Hauptmann drehte ſich wieder ab und dachte: er iſt nicht blind, er
ſieht ſo viel wie ich. Er widerſtrebt nicht, er hat ſeine Luſt und Freude
daran, er grübelt nicht, er hat ſeinen Glauben — an ſich wenigſtens — er
wagt — verſucht — zwingt!
Der Freund durchſah und verglich das ganze Leben des Markgrafen und
verſank in der Erinnerung vergangener Jahre, von denen er nur wenige fan
von feinem Fürſten im Kriegs dienſte zugebracht hatte — — .
486 m; 4
Schritte durch den Park her ſtörten ihn aus dem Träumen: ein Lakai
kam mit diskrete Geräuſch um den Raſen herum. Nach einem Blick auf
den noch immer ſchlafenden Herrn winkte der Hauptmann dem Diener ab.
Specht tat erſtaunt und zögerte zu gehorchen, und erſt als der Hauptmann
den Finger auf den Mund legte und drohend die Stirn runzelte, ſchlich er
auf den Zehen wieder weg.
Gößlin rührte ſich nicht auf ſeinem Sitze, er träumte weiter und kam
aus des Markgrafen Leben in ſein eigenes, das durch jenen entſcheidend be—
einflußt war. Die Altersgleichheit hatte den Sohn des Bürgermeiſters
Gößlin als Geſpielen des Prinzen aufs Schloß gebracht, wo Markgraf Karl
noch häufig Hof hielt, und den Sohn des Fürſten hinunter in das reiche
aus des alten Stadtgeſchlechtes. Mit ritterlichen Neigungen angeſteckt,
war Leuprant Kriegsmann geworden, hatte ſich in allerlei Händeln der Zeit
. ee ; die kriegeriſchen Träume und Hoffnungen waren allmählich
zerronnen und ſchal geworden, nun trug er das Schwert in der Scheide,
überließ den Drill den Liebhabern und half ſeinem Freund in den Geſchäften.
So ſchon geraume Zeit, — ſo künftig bis zu einem klangloſen Tode, den
nicht einmal Schwerter umklirren werden. Um den Tod wenigſtens ſollte
man ſich ſchlagen, — wenn es ſonſt nie um was Rechtes ging!
Der Schlafende bewegte ſich, Leuprant ward aufmerkſam und beobachtete,
wie jener tief atmete und ſeufzte, den Kopf rückte, die Augen öffnete und
wieder ſchloß und ſich endlich aufrichtete.
„Ich habe — geſchlafen —?“ fing er an. „Mir iſt, — als wäre ich
ohnmächtig geweſen!“
Der Freund ſprang beſtürzt auf.
„Bleib! Ich ſage ja nicht, daß ich es war. Es iſt mir nur ſo, als wäre
ich ohnmächtig geweſen, — ſchwer in den Gliedern und ſchwer — und zäh
— und trocken im Hirn. Ich bin zu viel geritten — habe viel gegeſſen —
und habe dann noch mein Gift über die Pforzheimer und die Herren
Rite hinuntergefreſſen. — — Ja, — an die Sitzung müſſen wir auch
denken!“
GSoögßlin verſuchte zu lächeln:
„Zu k ſpät! Specht war längſt da, um uns zu holen; ich hab ihn ge—
ſchickt.
„Du haſt ihn geſchickt —?“
„Der Schlaf war dir nötiger als die Sitzung.“
„Ja — wie lang hab ich denn geſchlafen?“
„Lange. Eine Stunde, — vielleicht anderthalbe.“
„So lange?!“ ſprach der Markgraf mit zufriedener Miene. „Ich habe
ſchwer geträumt, ich weiß nicht mehr, was alles .... aber plötzlich trat
oben aus der Saaldecke der weiße Fuß der Meerminne des Vetters Staufen—
5 —
13 487
berg heraus, da wußt ich: das ift der Tod! und ich ſtürzte vorwärts, um
die Woge des Lebens, die vor mir zurückebbte, einzuholen und noch einmal
zu ſchöpfen; aber ſooft ich nahe kam, ſchnellte ſie wieder zurück. Ich eilte
und ſtreckte und quälte mich ihr nach, daß mir der Schmerz heiß das Hirn
preßte, es war umſonſt. — Weiter weiß ichs nicht mehr. — Es ſoll ja
glückhaft ſein, vom Tode zu träumen. — —
„Und was die Sitzung betrifft, ſo verzichten wir. Ich weiß ja ſchon, was
zu tun iſt. Dabei alſo bleibt es: die Pfarrer werden bis auf weiteres wieder
zugelaffen. Unſer lieber und getreuer Johann von Münſter wird aus be—
ſonderer Gnade und Rückſicht auf die erregte Stadt, bei der er mißkannt
iſt, ſeines Amtes beurlaubt und verläßt die Stadt in zwei Wochen.
Pforzheim wird ſich nach Entfernung der Urſachen der Auen be⸗
ruhigen.“
Ernſt Friedrich erhob ſich haſtig wie nach einem raſch erledigten Gefhäfte,
blickte in den Garten und fah gerade noch den von einem Wolkenſchatten
verſcheuchten Sonnenglanz über die aufſchauernden Wipfel hinweggleitend
in den fernen blauen Himmel fliehen, er ſprach den Anfang eines franzö⸗
ſiſchen Liedchens, der ihm gerade in den Sinn kam:
„Il s'en va, linfidlle — —“
und ſah zum Himmel auf. Es war aber nur eine der einſam durch die
unendliche Bläue reiſenden weißen Wolken vor die Sonne getreten und
hing nun wie ein Ungetüm mit unheimlich ſprühenden Gluträndern ftoß-
bereit über dem Park. Der Fürſt ſtarrte eine vergeſſene Weile empor,
ſchüttelte dann den Kopf und ſagte:
„Sonderbar! Man wacht anders auf, als man eingeſchlafen iſt!“
„Wunderbar!“ verſetzte Gößlin.
Der Markgraf zuckte die Achſeln, nahm des Freundes Arm und trat in
den Garten. Und wie ſie langſamen Schrittes zwiſchen Raſen und Gebüſch
dahinwandelten, wurde plötzlich das gedämpfte Licht wie ein durchſichtiger
Schleier über ihnen weggezogen, ſtark leuchteten ihre farbigen Geſtalten aus
dem Grün auf, und ſcharfgezeichnete Schatten flohen vor ihnen auf dem
gelben Sandwege dahin. 5
Neuntes Kapitel
er Beſchluß des Markgrafen lief am andern Tage als Verfügung in
der aufgeregt wartenden Stadt ein. Alle freuten ſich der augenblick—
lichen Beruhigung; aber nur wenige waren harmlos genug, dem Frieden
zu trauen, und ſie wurden dafür ausgelacht. Die Pforzheimer hatten harte
Köpfe und rechneten ſchon darum auch mit harten Köpfen auf der andern
Seite, ganz abgeſehen davon, daß die Zulaſſung der lutheriſchen Pfarrer
nur „bis auf weiteres“ erfolgt war. Zur Abberufung des Obervogtes
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zuckten ſie die Schultern und meinten, der hätte ruhig dableiben können; es
ſei immer gut, wenn einer da wäre, den Narren zu machen. Und ſie waren
einig darin, daß man von jetzt an doppelt wachſam ſein müſſe. Der Latein—
ſchulmeiſter Tobias Cartelius, ein großer Menſch mit fahlen Wangen und
tief in den Höhlen liegenden gereizten Augen, der es der Stadt nachtrug,
daß ſie ihm gerade ihre unbändigſten Rangen Jahr für Jahr auf ſeine
Lateinſchulbänke lieferte, der rief mit ſchadenfrohen Blicken und ſtrafend
gerecktem Zeigefinger:
„Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes“, und in der Schule
vergaß er nicht, den Buben einzubläuen, daß „et“ hier mit „gar“ zu über—
ſetzen ſei: „— ich trau ihnen nicht, gar wenn ſie was ſchenken!“ Selbſt
ein ſteifer Lutheraner, war er bereit, für ſein Bekenntnis zu leiden, wenn
e Mitbürger einmal exemplariſch beſtraft würden!
Indeſſen ging jeder wieder ſeiner Arbeit nach und überließ es dem Bürger—
meiſter und Ausſchuß, Vorſicht zu üben. Die Pfarrer erfreuten ſich in
ihren Kirchen eines noch nie erlebten Zulaufes und verſäumten nicht, nebſt
anderen ungeduldig wartenden Pärlein auch den Apotheker und Rat Joachim
Michael Grieninger und die Jungfrau Pela Breitſchwert aufzubieten.
Michel lächelte überraſcht, in dieſer tauſendmal gehörten Formel nun auch
einmal genannt zu werden, und lugte nach ſeiner Braut hinüber; die aber
ſaß unbewegt, als ginge ſie das gar nichts an, neben ihrem ſchlummernden
Vater. Die Vermählung ſollte in vierzehn Tagen erfolgen, zufällig gerade
an demſelben Tage, an dem der Obervogt die Stadt zu verlaſſen hatte.
Peeles Brautſchatz war ſchon ſeit Jahren vorbereitet, Grieningers Haus
war im beſten Stande und bedurfte nur der feſtgemäßen Reinigung, Auf—
friſchung und Ausſchmückung, und ſo konnten dem Paare dieſe beiden letzten
Wochen in froher haſtloſer Vorbereitung dahingehen, — warme September—
wochen, die einen Tag wie den andern mit dunklen Waldhügeln, gelben
Stoppelfeldern und grünen Wieſen funkelnd aus dem weißen Morgennebel
an die Sonne hoben.
Zwei Tage aber vor der Hochzeit begann die Stadt unruhig zu werden,
die Leute blieben wieder häufiger auf den Straßen ſtehen und liefen dann
hurtiger weiter, in den Schenken rückten ſie von Tiſch zu Tiſch, und immer
fand noch einer Platz auf der Bank, wo ſie doch ſonſt nicht bequem und
breit genug ſitzen konnten:
„Weiß keiner, was in den Kiſten war —?“
„Was für Kiſten?“
„ die fie vom Schloß abgeführt haben?“
„Was wird drin geweſen ſein! Alter Kram, den ſie hier nimmer brauchen!“
„A ſchwätz! Es waren keine alten Käskiſten, es waren ſchwere eiſen—
beſchlagene Kiſten! Weltskiſten, ſag ich dir! Da war doch was drin!“
nz
232 489
„Ja, du hörſt immer die Flöh huſten.“
„Und du — du merkſt nichts, bis dir die Katz den Buckel nunterläuft!
Dann brennts aber auch gleich in allen Gaſſen!“
„Jetzt — ich muß auch fagen, fo ganz ohne iſt es nicht. Mit dem Haupt⸗
mann wars einmal nicht ſauber! Wenn der Markgraf einen Span mit uns
hat, ſchickt er keinen, um die Bürger zu inſtruieren!“
„Was braucht der uns zu inſtruieren!“
„Inſtruieren! Es hat ſich was mit inſtruieren! Es war immer alles
ausgezeichnet. Aber in allen Weinſtuben iſt er geſeſſen und hat die Naſe
in den Schoppen gehängt —“
„Ja — und den Kunz hinter dem Ofen geſpielt! Ich hab immer ge—
dacht, dem Kerl trau der Henker!“ a
„Und plötzlich ift er fort wie weggeblaſen! Keiner weiß, wohin.“ * |
„Ich hab geftern mit meinem Vetter aus Durlach in Ellmendingen einen >
Weinkauf gehabt — er hat dort einen Acker gekauft — und hab gehört: in
Heidelsheim werden Soldaten gemuſtert, ein paar Fähnlein —“
„Was geht denn uns Heidelsheim an!“
„Schwätz nicht fo ſaudumm! Wenn der Rote was gegen uns vor hat,
ſo muſtert er nicht hier! Und wenns hehlingen gehen ſoll, dann muſtert er
halt in der Pfalz oder im Elſaß! Die Herren helfen einander.“
„Ganz ſauber iſts einmal nicht!“
Und das meinten auch die Hochzeitsgäſte, die am Vorabend der Ver—
mählung aus verſchiedenen Richtungen bei Grieninger und Breitſchwert
eintrafen. Einzelne waren ſogar umgekehrt und hatten bei ſolcher Gefahr
auf das Feſt verzichtet; die übrigen aber hofften, der Markgraf werde ja
nicht gerade die Hochzeit ſtören wollen und wenigſtens noch zwei Tage
warten. Sie gaben ſich alle Mühe um die Luſt des Abends, ſie zogen die
Gelegenheiten bei den Haaren herbei und boten all ihren Witz auf, um der
armen Braut auf immer neue Weiſe von den Schrecken nächtlicher Über:
fälle, Überrumpelungen und Eroberungen zu erzählen, und Pele wußte ſo
verſtändnislos neugierig zuzuhören, daß dieſes Thema zur Wonne der Gäſte
unerſchöpflich blieb.
Indeſſen hatte der Bürgermeiſter dafür geſorgt, daß die Wachen auf
Türmen, Toren und Mauern verdoppelt und zu ſchärfſter Wachſamkeit an—
gehalten wurden. Und die Männer taten ihre Pflicht.
Als nach Mitternacht der Gelbgießer Bernhard Heuſchlof, der dem
Wächter auf dem Auerbrückentor zugeteilt war, den Wehrgang oberhalb
des Turmes hin- und herging, um ſich den Schlaf zu vertreten, und un—
ruhig im klaren Mondſchein umherlugte, da fiel ihm am oberen Ende der
Lindenplatzinſel ein ungewohnter heller Fleck auf, zu groß für eine Katze
oder einen Hund; der kam näher, raſch den Lindenplatz herab, verſchwand
*.
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unter Bäumen, tauchte wieder auf — und war ein großer Mann, ſplitter—
nackt, im Mondlicht glänzend, als wär er naß, — ein mächtiges Haar—
gebüſch um den Kopf — nein, einen breiten Hut auf — mit gleichmäßig
ausholenden Wanderſchritten vordringend.
„Zum Teufel! Wer badet denn da in der Nacht!“ murmelte Heuſchlof
und ſtrengte ſeine Augen an. „Es kann doch keiner aus dem Tor! Es
müßte gerad einer aus dem Narrenhäusle ſein! Wer ſitzt denn jetzt?“
Der nackte Kerl verſchwand hinter dem Narrenhäuslein, mit dem der
Lindenplatz an den unbedeckten Mittelteil der Auerbrücke ſtieß; aber er ſchien
doch nicht hineinzugehören, er kam wieder dahinter hervor, leuchtete mitten
auf der Brücke und ſchritt durch die gedeckte Brückenhalle aufs Auertor zu,
und ſooft er innerhalb eines der großen Brückenfenſter vorbeikam, glänzte
Si auf im einfallenden Mondlichte.
Heuſchlof argwöhnte, der Torwächter habe wider Vorſchrift einen hinaus—
gelaſſen, und hielt ſich zurück, um ihnen hinter die Schliche zu kommen;
aber er entſann ſich nicht, wer aus der Stadt das ſein könnte, als nun aus
dem Dunkel des Brückendaches heraus der große ſtarke Mann mit dem
Schlapphut weiß wie ein Marmorbild im Mondglanz aufzuckte und ans
Tor trat. Auf Ruf oder Klopfen lauernd beugte ſich der Gelbgießer über
die Brüſtung vor, — da war der Nackte nicht mehr da. Heuſchlof ſprang
die Treppe hinab, dem untreuen Wächter, der ſo heimlich geöffnet hatte,
den Rückweg zu verlegen; aber kein Wächter war da, Tor war zu, Gatter
war zu, und der nackte Mann ſchritt ſchon die Tränkgaſſe hinauf, bald am Täle.
Heuſchlof war einen Augenblick todſchwach, er meinte, er müßte ſich
fallen laſſen, ſo leer ſchien ihm ſeine Herzgegend, und er ſtarrte dem nackten
Manne nach: der ſchritt weit aus, manchmal von einem Giebelſchatten faſt
ausgelöſcht, — und Heuſchlof, noch unſinnig vor Schrecken, rannte hinter
ihm drein.
Das war der Nackte Mann oder Verrat! Und Heuſchlof mußte es feſt—
ſtellen! Ihm graute, zum Schreien; aber er war ein tapferer Kerl, er zwang
ſich, er rannte auf zitternden Beinen dem unheimlichen Gänger nach. Bei
der Kannenbrücke kam er ihm auf etwa ein Dutzend Schritte nah und in
dieſem Abſtande lief er nun mitten auf der Gaſſe im gleichen Tritt genau
hinter dem Nackten drein. Er ſah nichts von der ſtillen Gaſſe, nicht hell
noch dunkel, keinen mondlichttriefenden Giebel, kein gleißendes Fenſter, mit
weitaufgeriſſenen Augen hing er an der weißen Geſtalt: den gleichmäßig
ausholenden Beinen, den ſchwingenden Armen, dem trüben Schlapphut,
unter dem manchmal eine Locke flatterte. So ging es die Tränkgaſſe hinauf,
der nackte Mann auf lautloſen Füßen, der Verfolger auf behutſamen
Sohlen, und über den weiten, hellen, leeren Markt auf den oberen Markt—
brunnen zu und am Brunnen vorbei den Schloßberg hinauf. Dort ſtand
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nun quer über die Straße das verfchloffene untere Schloßtor, da mußte es
ſich zeigen. Heuſchlof riß ſich mit todbereitem Willen eiliger jenem nach,
ſo daß er nur wenige Schritte hinter ihm ſchlich. Er war geſpannt, über
ihn herzufallen wie eine Katze und ihn in den Hals zu beißen, — da hob
jener in ununterbrochenem Schreiten den Fuß in die ſchwerbeſchlagene
Eichentür hinein und verſchwand. In heißem Laufe nachſchießend konnte
ſich Heuſchlof gerade noch, ehe ſein Geſicht in das ſtachelige Eiſenbeſchläg
des Tores hineinſchmetterte, mit beiden Händen zurückſtoßen. Er ſank zu
Boden. Er ſprang wieder auf, er reckte ſich zu einer der Schießſcharten in
der Mauer neben dem Tor und ſpähte: ja, — da ſchritt der nackte Mann
zum Schloß hinauf! Heuſchlof konnte nicht mehr. Er ließ die Mauer⸗
ſcharte los, niedergleitend ſank er zuſammen und blieb in Erſchöpfung an
die Mauer gelehnt ſitzen. 0
Das war der Nackte Mann! Das hieß Krieg! Und der war nun gewiß! 1 *
Der Gelbgießer dachte an den Jammer, der feiner Stadt bevorſtände,
und unfähig, ſich noch weiter zu beherrſchen, ließ er ſeinen Tränen Lauf, er
weinte und ſchluchzte wie ein Kind. Das tat ihm wohl. Als er ſich
ausgeweint hatte, ging er zum Brunnen hinab, trank und wuſch ſich das
Geſicht, und eilte dann den Markt hinunter, um wieder auf die Torwache
zurückzukehren.
Da traf es ſich, daß gerade Grieninger und einige Gäſte das Haus
Breitſchwert verließen, um über den Markt zur Apotheke heimzukehren.
„Heuſchlof —?“ rief Grieninger, „woher — wohin? fo früh am Tag?“
Der Gelbgießer wollte nicht reden, um den Hochzeiter nicht zu er
ſchrecken. Schließlich mußte er dem Stadtrat gegenüber doch nachgeben
und flüſterte:
„Ich hab den Nackten Mann geſehen —!“
„So ſo! Im Adler? Im Schwanen? Im wievielten Glas denn?“
rief lachend der Apotheker und ſchlug ihm auf die Schulter.
Heuſchlof entzog ſich, und während der Trupp lachend und ſich luſtig
machend über den Markt ſtolperte, eilte er, als ſchreite der Nackte Mann
immer noch voraus, die Tränkgaſſe wieder hinab, dem Auertor zu.
Er trat ſofort zum Torwächter, der ihn vermißt hatte, bat ihm den Ver⸗
dacht ab und erzählte ihm alles haarklein, wie es war. Und der Alte lachte
ihn nicht aus, er hatte zwar den Nackten Mann nie geſehen, aber ſchon
einige Male erlebt, daß man ihn ſah, und ihn ſo genau geſchildert bekommen,
daß er faſt meinen konnte, er hätte ihn ſelbſt geſehen. Er erkannte den Be⸗
richt des Gelbgießers als zutreffend an und ſagte, er ſollte froh ſein, dem
Nackten Manne nicht ins Antlitz geſehen zu haben; der trage ein uraltes
Geſicht und nur ein Auge und wen er mit dem anblitze, der finde keinen
Frieden mehr im Leben, der müſſe von Krieg zu Krieg durch die Länder
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ziehen und den Schwert- oder Flintenblitz ſuchen, der ihm endlich Ruhe
äbe.
; Und er erzählte ihm, bis der Frühnebel über dem Fluß zu wimmeln an-
fing und das Rauſchen des Waſſers lauter wurde.
1 Da zerriß plötzlich dem Alten das Wort im Munde. Beide wurden ſie
von der Fenſterbrüſtung, an der ſie lehnten, zurückgeſtoßen, der Boden unter
1 ihnen gab nach wie ein Nachen, in den man einſteigt, ſie faßten einer den
andern, der Torwächter ſprach:
’ „Helf uns Gott! ein Erdbeben!“ Und fie ſchauten bang wartend hinaus.
Das Waſſer rauſchte, das Rad der Nonnenmühle klatſchte zögernd, auf
dem dunklen Fluß geiſteten die Nebel, da und dort rang ſich einer in die
Höh, wand ſich, vom Mondlicht durchſilbert, wie gequält hin und her, ver—
deckte die dunklen Giebelhäuſer der Au drüben und verſchwand wieder.
Und plötzlich war es laut geworden in den Gaſſen, Schreie des Entſetzens
und der Angſt zerriſſen die Stille, Türen dröhnten, die Straßen füllten
ſi ch mit dem Brauſen erregter Stimmen. Aber die Furcht vor neuen Erd—
ſtößen litt ſie nicht in der Enge der Gaſſen, die Leute drängten nach den
Plätzen und rotteten ſich in deren Mitte zuſammen. Notdürftig bekleidet,
in Sorge um Angehörige und Freundſchaft wühlte ſich die Menge durch—
einander. Erregt lauſchend und nach den Häuſergiebeln ſtarrend erzählten
f ſie mit abgeriſſenen Worten ihren Schrecken, und je länger ein neuer Erdſtoß
ausblieb, um ſo ſicherer und banger wurde er erwartet, — bis die gefaßteren
„Naturen, da ja doch nichts erfolgte, die anderen durch ihr Beiſpiel beruhigten.
3 Alt⸗Peter Gößlin, wie immer forgfälfig angetan, mit Stab und Hand—
ſchuhen, lächelte gelaſſen und ſprach den Angſtlichen zu. Als er auf dem
Markt den Rat Martin Sigwart traf, der in Hemd und Hoſen bemüht
war, die zuſammengerafften übrigen Kleidungsſtücke im Gedränge noch
anzulegen, und nach jeder Bewegung aufſchaute, ob nicht der Himmel ein—
fiele, da fragte der alte Herr lächelnd:
„Was wollt denn Ihr hier, Sigwart? Nein aber —! Wie ich vorhin
nach dem Stoß aufgewacht war, wollt ich mich ſchon umdrehen und weiter—
ſchlafen, da fiel mir zum Glück noch rechtzeitig ein, daß das doch ganz und
gar kalviniſch wäre, und Euch wollt ich doch nicht ins Handwerk pfuſchen:
da bin ich halt auch aufgeſtanden! Aber nein, Sigwart!“ und kopfſchüttelnd
ſchob er ſich weiter.
Langſam lockerten ſich die Maſſen, einzelne wagten wieder, ihre Häuſer
aufzuſuchen, andere und immer mehr folgten ihrem Beiſpiele, bis endlich
jedermann, wenn auch behutſam, in Stall und Scheuer, Werkſtatt und
Gewölbe nach dem Rechten ſah.
| * Aber ſo früh er aufging, der Tag wurde nicht arbeitſelig. Als die Morgen—
ppe gegeſſen war und die Nachbarn anfingen, einander ins Fenſter und über
493
den Zaun zu gucken, um in Ruhe noch einmal die Meinung über das Erdbeben
abzugeben, da wurde manchem, ehe er den Mund auftun konnte, zugerufen:
„Haft ſchon gehört?“ Und er erfuhr, daß der Wächter auf dem Schloß—
turm den Nackten Mann habe den Berg emporſteigen ſehen; erſt habe er
feinen Augen nicht getraut; wie jener aber mit großen Schritten näher-
gekommen ſei, habe er nicht mehr gezweifelt, ſondern ſich abgekehrt, um
nicht von dem Auge getroffen zu werden, und ſo wiſſe er nicht, wo der
Nackte weiter hin ſei.
Das Gerücht wurde mit den gehörigen Zweifeln oder Bekräftigungen
dem nächſten Nachbar weitergegeben; aber nicht mehr bezweifelt, als es nach
einiger Zeit mit der Verſtärkung zurückkam, auch am Auertor ſei der Nackte
Mann erſchienen, vom Armbruſthaus auf dem Lindenplatz her, der Gelb—
gießer Heuſchlof ſei ihm bis zum Schloßtor nachgegangen und habe geſehen,
wie er durch die ſchwere Eichentür hindurchgeſchritten ſei wie durch Luft.
Am Nackten Mann war nicht zu zweifeln. Seit den älteſten Zeite #7 |
hatte er ſich der Stadt gezeigt, ſooft ihr Kriegsgefahr drohte. Es wäre
Undank geweſen, nicht an ihn zu glauben. Er gehörte zur Stadt ſo gut,
wie die Enz zu ihr gehörte, auch wenn man einmal trockenen Fußes hin⸗
durchkonnte! — ſo gut wie der gelehrte Johannes Reuchlin, wenn er auch
faſt ſein ganzes Leben außerhalb verbracht hatte, in Freiburg, Paris, Rom
und Gott weiß, wo! Und während der Apotheker geſchäftig in ſeinem
Hauſe hin- und herging, um überall nachzuſehen und zu ſorgen, daß in
ſeiner Abweſenheit nichts in der Apotheke fehle und verſäumt würde, —
während Pele, überwacht und gereizt, hinter den Dienſtboten her war und
ſtatt der ſchwatzenden und hinaushorchenden Schwägerin und Baſe auf
der Treppe und im Saale, in Küche und Keller die Arbeit antrieb, dann
ein Bad nahm und ſich mit dem wehmütigen Gedanken, daß ſie es hier zum
letzten Male tue, in ihrer Kammer ankleidete, — währenddem vergaß das
Volk wieder ſeine Arbeit, ſtand auf Straßen und Plätzen herum und er—
zählte ſich vom Rackten Mann, von Krieg und Plünderung. Eine Geſchichte,
eine Sage, ein Märchen erweckte das andere, alles, was die Stadt jemals
Schreckliches, Wunderbares, Rührendes und Luſtiges, Erhebendes und
Empörendes erlebt und im Gedächtnis gerettet hatte, das rann wie ein
heiliger Strom glühenderen Lebens erregend durch die Gaſſen, das hauchte
und wogte wie der Duft des neuen Weines ſüß und aufreizend durch die
Spätſommerluft: der Schrecken verlor ſeinen Schrecken, und wer Blut in
den Adern hatte, war bereit und ungeduldig, auch einmal ſeinen Mann zu
ſtehen und draufzuhauen.
Und ſo blickten die Leute gewärtig und lüſtern auf, als plötzlich ſchwere
Hufſchläge ſchmetterten und ein Reiter in leuchtend blauem Gewande mit
zwei Gewaffneten durch die Gaſſe herritt, und ſie fühlten ſich faſt etwas
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enttäuſcht, da es nur der Advokat Dr. Ebertz war. Er ſaß übernächtig auf
ſeinem Gaul und konnte ſeine Erregung kaum bemeiſtern.
In Amtsgeſchäften war er in Speier geweſen, mit der Klage, die er im
Namen der Stadt gegen den Markgrafen beim kaiſerlichen Reichskammer—
gericht eingereicht hatte, glatt abgewieſen, weil Pforzheim nicht Stand des
Reiches, ſondern Markgräflich ſei, und zugleich nicht wenig durch ein Ge—
rücht beunruhigt worden, der Markgraf habe Kriegsleute auf die Streife
geſchickt, ihn unterwegs aufzugreifen und nach Durlach zu liefern. Dieſe
Gefahr nahm ſich der erregbare Mann ſehr zu Herzen, auch in dem Sinne,
daß er ſich nach Überwindung des Schreckens als wichtigen und gefürchteten
Vertreter der heiligen Sache empfand und ſich in dieſem Hochgefühle zu
Kampf und Martyrium bereit machte. In ſeiner raſchen Phantaſie ſah er
ſich ſchon nach raſender Gegenwehr von der Übermacht der Häſcher ge-
hi ig und vor den Markgrafen geſchleppt, mit römiſchem Stoizismus,
mi
t echt chriſtlicher Heldenhoheit daſtehen und dem Tyrannen die Wahrheit
ſagen; — er ſah ſich aber auch mit Gottes Hilfe den Verfolgungen ent—
ronnen auf dem Pforzheimer Markte unter die Bürger treten, ſie mit Makka—
bäermut zum Todeskampf entflammen und als unüberwindlicher Glaubens—
ſtreiter die heilige Sache zum Siege führen. Ja, einen ehernen Bund
Gottes wollte er gründen und zum Zeichen, daß er für keinen andern
kämpfe als für ihn, deſſen Farbe und Fahne der blaue Himmel iſt, des
zum Zeichen ließ er ſich in Speier raſch ein Gewand von blauem Doppel—
taft machen, kaufte auch einige hundert Ellen desſelben Stoffes zu einer
Fahne und zu Feldbinden für die Verbündeten. Da ihn die Geſchäfte nicht
früher fortließen und am Tage zu reiten nicht geheuer war, er aber bei des
Apothekers Hochzeit nicht fehlen durfte, ſo mußte er dieſe Nacht zur Reiſe
benutzen. Zwei Kammerboten, denen er den blauen Doppeltaft auf die
Klepper ſchnallte, geleiteten ihn, er ſelbſt trug ſein neues blaues Gewand
und eine blaue Feder auf dem Hut. Todesmutig ritt er von Speier ab,
die markgräflichen Grenzen meidend, durch pfälziſches Gebiet in großem
Bogen auf Pforzheim zu und war erſtaunt, auf Nebenwegen von Bretten
her ungehindert durchzukommen. Er hatte vorgehabt, von den überſtandenen
Gefahren nicht zu reden und gelaſſen, als ſei er auf einem Morgenritt, durch
die Stadt zu traben, — als aber die Menſchen ſich wie zu ſeinem Empfang
auf der Straße drängten und aufgeregt fragten, da konnte er ſich doch nicht
zurückhalten und in ungeſchickter Haſt erzählte er von den Speierer Er—
fahrungen und den Gefahren der Reiſe. Die Leute erkannten zwar in der
Streife, die gegen den Advokaten ausgeſandt war, einen neuen Beweis für
des Markgrafen Zorn und feindliche Abſichten; aber da Ebertz ungeſchlagen
durchgewitſcht war, ſelbſt ohne Bedrohliches zu ſehen, ſo konnte er gegen den
Nackten Mann nicht aufkommen. In der Enttäuſchung ſuchte er nun jedem
495
neuen Frager gegenüber feine Erlebniſſe und Gefahren zu vergrößern und
wirkungsvoller darzuſtellen, erreichte aber nur, daß er ſchließlich mit dem
Gefühle, ſich als ungeſchickten Prahlhans bloßgeſtellt zu haben, beſchämt
und verdrückt zu Hauſe anlangte. Die Freude und Zufriedenheit ſeiner
derben tüchtigen Frau, gegen die er nun mit Worten ſparſamer war, ent⸗
ſchädigte und beruhigte ihn jedoch bald, ſo daß er nach dem Imbiß fähig
war, noch einige Stunden bis zur Hochzeit zu ſchlafen.
Unten am Markte ſchauten die Leute noch dem blauen Reiter und ſeinen
Begleitern in die Tränkgaſſe hinein nach, da wurde das Volk oben einen
andern Reiter gewahr, der kam aus dem Amthauſe des Obervogts: Johann
von Münſter ſelbſt, ſchwarz gekleidet, auf ſeinem Schecken. Er achtete nicht
auf Gruß und Angaffen, er blickte ſteif vor ſich hin, lenkte vorſichtig ſein
Tier zwiſchen den Menſchen hindurch und hielt erſt mitten auf dem Markte
an. Die Rechte auf den Schenkel geſtützt, mit der Linken die Zügel haltend,
teilnahmslos vor ſich hinſchauend ſaß er da und rührte ſich nicht. Die Leute 2
wurden aufmerkſam und neugierig, drängten nach ihm hin und zogen eine |
Menge Volkes herbei. |
Nun endlich ſah der Obervogt auf und kühl über die Maſſe hin und rief:
„Bürger — die Gnade unſeres Fürſten ruft mich von hier weg, ehe ich
die Aufgabe, die ich mir ernſtlich wie mein Seelenheil angelegen ſein ließ,
erfüllen konnte. Ich bete zu Gott, daß er beſſere Männer ſchicke, euch zu
überzeugen und zu leiten. Der Allmächtige hat heute im Dunkel der Nacht
ſchrecklich zu euch geſprochen, er hat euch ſpüren laſſen, wie ſchwank der
Grund iſt, auf dem ihr ruhen wollt. Er hat euch aufgeſchreckt aus euerm
Schlafe, damit ihr in der Not euch beſinnt, eure verſtockten Herzen bereitet
und reinigt und auf den Weg bringt, den er euch durch ſeine Gläubigen
zeigt! Es hat Gottes Gnade gefallen, mich dieſe Drohung ſeines Zornes
und ihre Schrecken nicht fühlen zu laſſen, ich habe beim Wanken der Erde
geſchlummert wie ein Kindlein in der Wiege. Als mir dann die Schreckens⸗
nachricht gemeldet wurde, da hab ich mit inbrünſtigem Gebete Gott an—
gefleht, die erhobene Fauſt ſeines Zornes diesmal noch zurückzuziehen und
Geduld zu üben, ob nicht die geängſteten Gemüter die Warnung erkennen
und den Weg zur Buße finden“ —.
Ehe er weiterſprechen konnte, rief eine Stimme aus der Menge:
„Au Jeſſes, Herr Obervogt, das iſt aber ſchwach!“ und ein behagliches
Lachen holperte durch die Menge.
Johann von Münſter runzelte nur leicht die Augenbrauen, wartete die
Stille ab und ſagte noch:
„Bürger — ich verlaſſe euch, lebt wohl!“
„Behüt euch Gott!“ gaben viele zurück und eine grobe Stimme rief:
„Eigentlich iſts ein ganz guter Kerle! Hoch ſoll er leben!“
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„Hoch foll er leben!“ ſchrien alle voll Vergnügen, „hoch foll er leben! hoch!“
Mützen flogen in die Höhe, Blumen und Apfelbutzen wurden nach ihm
geworfen und in einer Falte ſeines Wamſes fing ſich ein Röslein. Er nahm
es mit kindlicher Freude, roch daran und machte nach der Richtung, aus
der es kam, eine höfliche Verbeugung. Und wieder ſchrie das Volk Hoch.
Der Obervogt ritt nun ſachte durch die ſich teilende Menge hinüber, wo
er den Apotheker erblickt hatte, ſprach ſein Bedauern aus, daß er nicht der
& Hochzeit beiwohnen könne, und verabſchiedete ſich.
E Dann trug ihn fein Tier vor das Menzingiſche Haus und hielt unter
dem Fenſter, an dem die ſchöne junge Frau ſaß. Der Volkshaufe drängte
ſich lachend und witzelnd nach. Der Ritter achtete deſſen nicht, er hob ſein
Geſicht mit einem dringenden Schwärmerblick zu ihr empor, dann legte er
die Linke aufs Herz, zog mit der Rechten tief den Hut und neigte ſich in
die Ben feines Pferdes hinab. Er hob das Auge nicht mehr, er ſetzte
den Hut auf, bog, ruhig vor ſich blickend, in die Brötzinger Gaſſe ein und
fing mit lauter Stimme zu ſingen an:
| „Der Herr prüft die Gerechten und dagegen
„haßt er, die Frevel üben und Gewalt.
„Er läßt über die kommen einen Regen,
„die ihn ſchänden und läſtern mannigfalt,
„nämlich von heißem Feuer, Pech und Schwefel,
„mit Ungeſtüm er die Gottloſen zahlt,
„und ihn' eintränkt ihr Bosheit, Sünd und Frevel.
Y „Er iſt gerecht, Gerechtigkeit er liebet,
„ſein Angeſicht er freundlicher Geſtalt
„zu dieſem kehrt, der da Recht pflegt und übet.“
Und er ſang, bis er vor den Toren und Menſchen draußen auf der Dur—
lacher Straße war, wo ihn ſein Knecht erwartete.
Der Apotheker überquerte den Markt, um raſch nach ſeiner Braut zu
ſehen, da rief ihn Hans Aichelin an:
„Eilts, Apotheker?“
„Ja, Lutz, heut eilts.“
„Natürlich! Die Erde wackelt, der Nackte Mann geht ſpazieren, der Ober—
vogt zieht ab, der Ebertz kommt angeritten, der Markgraf will uns über—
fallen, die Stadt wuſelt wie ein verſtörter Ameiſenhaufen — da muß der
Apothekerle Hochzeit machen! es wär ſonſt nichts!“
„Ja —“ meinte Grieninger mit ungeduldigem Geſicht, „ich bin bis jetzt
lber noch nicht recht bei der Sache.“
„HGeſchieht dir recht! Hätteſt du einen ruhigen Tag gewählt, fo täten
wir dir auch einen guten Brautnachtpoſſen ſpielen! Heut werden wir nichts
eträchtliches für dicht tun können.“
497
„Euch trau der Teufel!“ fagte der Apotheker, ins Breitſchwertſche Haus
tretend, und nahm ſich feſt vor, abends ja nachzuſehen, ob die Bettſtatt
nicht auseinandergehakt oder mit einem Glockenſpiel verſehen ſei.
Im Hauſe erfuhr er, daß die Brautjungfern bei Pele und ihr behilflich
wären; er konnte ſie nur durch die Kammertür begrüßen. Dann ging er
heim, um ſich auch fertig zu machen.
Und es ward eine ſeltſame Hochzeit.
Stattliche Männer und ſchöngeputzte Frauen ſchritten im Hochzeitszuge,
mancher und manche hatte ſich, um den Schein der Angſtlichkeit zu vermei-
den, koſtbarer ausgeſchmückt, als in ruhiger Zeit geſchehen wäre; ſo prahlte
mit dem Reichtum zugleich der Mut. Und ſelten war ein Zug von einer
größeren Volksmenge beſtaunt worden; denn alles, was des Kriegslärmes
wegen auf den Beinen war, drängte ſich für eine Viertelſtunde zwiſchen dem
Markt und der nahegelegenen Stadtkirche, begaffte die Braut, prüfte die 100 4
Kleider, ſchätzte den Schmuck, und Mißgünſtige dachten: jetzt müß )
ſtürmen! Und die ſtattlich und gemächlich im Brautzuge ſchritten, un
hielten ſich vom Nackten Mann und vom Überfall und, wenn fie ſchwiegen, * 2
dachten ſie daran, und unter der Kirchentür drehten ſie ſich noch einmal um.
Grieningers Mutter und Pele waren die einzigen, deren Gedanken nicht
abſchweiften. Die alte Frau glaubte nicht an eine Gewalttat des Fürſten
und war zu ſehr von der Freude ergriffen, des Sohnes Hochzeit nun doch
noch zu erleben, und der Braut war von der Unruhe der Nacht und der in
Furcht und Trotz geſpannten Aufregung der Menge eine bange Schwere
des Wollens und der Erwartung übers Herz gekommen, ſie war nahe daran,
vor Hilfloſigkeit zu weinen. So geſchah es, daß der ruhevolle Traugottes—
dienſt inmitten der großen ſchrägdurchſonnten Kirche ſie tief erquickte, zumal
der Pfarrer es klug vermied, an das Leben dieſer Tage zu rühren, und mit
frohem ermutigendem Ernſte von der chriſtlichen Ehe ſprach und von der
Vollendung der Frau in ihr. Damit war er zu dem hinabgedrungen, was
in dem warmen Grund ihres Herzens träumte und keimte, und hatte ihr
die Freude und das Glück des Tages wiedererweckt. Sie dachte nicht einen
Augenblick daran, daß es ein luͤtheriſcher Geiſtlicher ſei, daß eine Orgel
klinge, daß ſie ſtatt vor einem gewöhnlichen Tiſche vor einem Altar ſtehe,
daß ſie ſtatt aus einem gewöhnlichen Glaſe einen roten Feſtwein — aus
ſilbernem Kelche Chriſti Blut trinke, und als ſie dann zur Seite Grieningers
den Weg zurückſchritt, war ihr Herz ſo hell wie der Himmel über ihr und
die ſonnbeſtrahlten Häuſer vor ihr. Sie merkte gar nicht, daß die Gäſte
beim Verlaſſen der Kirche an nichts anderes dachten, als zu fragen, wie es
in der Stadt ſtehe.
Es ſtand noch gleich, wenigſtens mit den Kriegsgerüchten. Die Leute
dagegen hatten ſich langſam beruhigt und verlaufen, manche nach Hauſe
498
und an die Arbeit, die meiften, da der Tag ja doch angebrochen war, in die
Weinſtuben.
So lag dem Hochzeitsſchmaus und der ihm gebührenden Hingabe nichts
im Wege. Er war kunſtgemäß ausgedacht und eingeteilt und mit ſeinen
Gegenſätzen und Folgen von Geſottenem und Gebratenem und Gebackenem,
von Süß und Sauer, Naß und Trocken, Zahm und Wild, von Eſſen und
Trinken, Spiel und Tanz wohl dazu geeignet, wie ein Rollwagen voll luſtiger
Geſellen den Gaſt unvermerkt von Mittag zu Mitternacht zu befördern. Das
Eſſen war gut und der Wein nicht minder, man ließ es ſich ſchmecken und ver-
gaß den Nackten Mann und das Erdbeben, man ſprach von Hochzeit und Kinds—
taufe und Tod, und die Weiterhergereiſten fanden endlich für ihre Familien- und
Geſchäftsneuigkeiten Ohr und Antwort. In den großen Eßpauſen wurde ge—
ſungen, geſcherzt und getanzt. Pele ſaß wie eine Königin in der Mitte und
1 trug ſtolz ihr Hochzeitskleid von leibfarbener Seide und die verſpätete Brautkrone.
5 Prlötzich fiel es einem Witzbold ein, mit dem Schrei:
„Was iſt denn da los?“ an das Fenſter zu rennen.
Wer es hörte, fuhr empor. Und der Herzſchlag der ganzen Geſellſchaft
war von Gefahr und Schreckensbildern aufgejagt, als der Narr ſich wieder
5 zurückwandte und ſagte, er habe ſich getäuſcht. Man lachte ihn aus, man
ſchalt ihn; aber die Laune war geſtört. Man ſchickte fort und ließ nach—
fragen, man ſprach wieder über Religions hader und den harten Kopf des
Markgrafen, dem man einen noch härteren zeigen müffe.
Und die am meiſten Ruhe und Heiterkeit nötig hatte, die in ihrer Stimmung
am verletzlichſten war, Pele hatte das Gefühl, als riffe ihr die Mißgunſt unver—
ſehens ein Gut aus dem Herzen, das ſie mit allem Zorn der Eiferſucht ver—
teidigen müßte, aber nicht verteidigen konnte. Sie war bleich vor Erbitterung,
zwang ſich zu einem ſtarren Lächeln und beobachtete die Menſchen, die da an
ihrem Hochzeitstiſche wie an einem Schenktiſche ſaßen, ſich nichts um die
Hochzeiterin kümmerten und mit ihren Gedanken, Wünſchen und Angſten ihr
ſogar feindlich waren. Nicht wie Grieninger, der jenen unzeitigen Witzbold
mit Behagen durchhechele, konnte ſie, was noch an Laune übrig war, genießen,
ja, auch das Widerwärtige mit Laune aufnehmen, ſie lauerte auf alles, was
1 ihr zuwider war, was ihrer Eitelkeit weh und ihrem Feſte Abbruch tat.
Sie beobachtete, wie der Bürgermeiſter Simmerer, der ſeltſamerweiſe an
einem Ende der Tafel Platz genommen und ſich ungewöhnlicher Mäßigkeit
befleißigt hatte, leiſe und mit wohlbeherrſchter Miene zum Ratsdiener ſprach,
wie er den Gäſten, die ſich mit Fragen um ihn drängten, belangloſe Ant—
worten gab und doch mit geſpanntem Aug und Ohr nach der Straße hinaus—
lauſchte. Arger, verletzter Stolz, Ubelnehmerei, Groll gegen die Bürger—
ſchaft, deren lutheriſcher Trotz ihr das Feſt ſtörte, durchrann ſie wie eine
Säure, kränkte ſie wie ein ſchwaches Gift.
499
Die alte Frau Grieninger ahnte, was in der Hochzeiterin vorging, ſie
ſetzte ſich zu ihr und verſuchte, ihre Gedanken abzulenken und aufzumuntern;
aber Pele, mit lächelnder Höflichkeit und Glätte, ließ ſich im Genuß ihrer
Bitterkeit nicht ſtören.
Alt⸗Peter Gößlin kam um den Tiſch herum, ſchlug im Vorbeigehen jenem
Witzbold mit dem Stock auf die Schulter und ſprach:
„Narren ſoll man mit Kolben laufen!’ crat zutunlich lächelnd zu der
Braut und bat, ſich neben ſie ſetzen zu dürfen. Er plauderte mit liebens⸗
würdigen und huldigenden Worten, er wollte ſie vergeſſen machen, was die
jungen Leute in der Aufregung des Tages an Scherzen, alten Bräuchen
und Ehren ihr darzubringen verſäumten. Und als es ihm gelang, ihre
Miene zu einem raſchen Lächeln aufzuhellen, ſprach er:
„Wenn du wüßteſt, Pele, wie ſchön du biſt, wenn du ſo lächelſt, du
würdeſt aus lauter Eitelkeit die ärgerlichſten Dinge durch ein Lächeln be⸗
ſiegen. Freilich gehört vielleicht ſo ein triſter alter Kracher wie ich dazu,
um ſolche Wunder zu verſtehen und zu genießen und als Glück zu ſchätz
und das tröſtet mich ein bißchen in meinem greiſenhaften Neid au
triumphierenden Giftmiſcher da drüben. — Pele, meinen 2 hab ich
glücklicherweiſe vergeſſen — Pele, ich bin durſtig. Wie wärs —“ — er hielt
ihre Hand zurück, die nach einem weiterhin ſtehenden Glaſe langte — „aus
deinem Tellerlein werd ich nie eſſen und nie in deinem Bettlein ſchlafen,
— wie wärs, wenn du mich zur Entſchädigung wenigſtens aus 91
Becherlein trinken ließeſt —? Trinks mir zu!“
Sie netzte ihre Lippen mit dem Wein und gab ihn dem lächelnden Alten
Er drehte langſam den Becher herum und trank an derſelben Stelle einen
langen Zug, nahm den Becher in die andere Hand und mit den Worten:
„Trink noch einmal!“ gab er ihn zurück. j
Als fie den faſt geleerten an die Lippen hob, rollte ihr ein Ring daraus
entgegen. Sie ſchrie leiſe auf, ſchob ihn auf einen und den andern Finger
und bewunderte den Türkis, ſie dankte freudig und ſtreckte die Hand zus
ihrer Schwiegermutter hinüber.
Während dieſe den Schmuck betrachtete, ließ Alt-Peter feinen Stock unter 3
den Tiſch fallen, bückte ſich danach, und wieder ſchrie Pele auf, diesmal
laut, indem ſie ihre Füße unter den Stuhl zurückzog. Doch es war ſchon
zu ſpät: der alte Herr brachte, wieder auftauchend, außer ſeinem Rohr auch
ihren Schuh mit, den er ihr mit raſchem Griffe vom Fuße geſtreift.
„Das gilt nicht!“ ſchrie Pele, „das geht die jungen Burſchen an!“
„Ich bin zwanzig Jahre Wittwer, das macht einen Junggeſellen aus!
Ich will mein Löſegeld!“ rief er und wie ſie vergnügt zu ſeinen Worten
lächelte, überraſchte er ihren lachenden Mund mit einem Kuſſe. Dann gab
er ihr den Schuh zurück.
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Aber eben durch dieſen Scherz ward ihre Laune wieder vernichtet: der
Schuh erinnerte ſie jählings daran, was die Gäſte, zumal die junge Welt
ihr ſchuldig wäre und über dem Lärm der Gaſſen vergaß; alsbald empfand
ſie die gütigen Bemühungen einzelner als demütigende Almoſen, und wieder
ſaß fie hochmütig lächelnd da und ließ jede Aufmerkſamkeit an ſich ablaufen.
Draußen lärmte das Volk.
Es wurde erzählt, daß im „Adler“ ein Reiſender ſei, der von der Frank—
furter Meſſe kommend auf dem Wege gehört habe, der Markgraf werde
Pforzheim in der Nacht überfallen.
Das war nichts Neues.
Es wurde gemeldet, verſchiedene Bürger, die den Religionseid nicht
mitgeſchworen hatten, ſeien an dieſem Nachmittage aus der Stadt ver—
ſchwunden.
Das war verdächtig und wurde aufgeregt befprochen, und der Bürger—
me eiſter Simmerer war plötzlich nicht mehr im Hochzeitsſaale zu ſehen.
8 Einige folgten geſchickt ſeinem Beiſpiel, andere drängten ſich an den
Fenſtern, um das Treiben der Menge zu beobachten, oder rannten auch auf
arkt hinunter, ſahen und hörten ſelbſt, wie es ſtand, und kamen mit
Wichtigkeit zurück i in den Saal.
0 So jetzt der Dr. Ebertz. Als er auf die entvölkerte Tafel zutrat, an der
—
n vi =
nur hier noch ein verſunkenes Pärlein, dort in Familiengeſprächen ein paar
über Land gekommene Baſen, da ein ſtiller Weintrinker und nur gegen die
153555 um Pele herum ein dichteres Häuflein ſaß, da fühlte er ſich durch die
ſteife Haltung der Braut, ihren raſchen verwunderten Blick befangen, er ging
auf ſie zu und berichtete, daß noch mehr Meßbeſucher von Frankfurt ein⸗
getroffen ſeien, daß ſie aber wegen der auf dem Wege her umgehenden Über⸗
fallsgerüchte nicht wagten, wie ſonſt in der Stadt zu nächtigen, ſondern ſich
gerade insgeſamt aufgemacht hätten, um noch Tiefenbronn zu erreichen.
Mit hochgezogenen Brauen, doch ohne ihn anzuſehen, hatte Pele geduldig
chend ihm das lächelnde Geſicht zugedreht und fragte nun mitleidig:
„Und die Pforzheimer —? brennen ſie auch gleich mit durch — nach
Tiefenbronn?“
| „Nein!“ erwiderte Dr. Ebertz ſcharf. „Die Pforzheimer erwarten den
Markgrafen und werden ihn für die Störung euerer Hochzeit bezahlen!“
„Störung —?“ fing fie ablehnend an, wurde aber von der Aufregung
übertönt, mit der nun die auswärtigen Gäſte ſich erhoben, um auch noch,
nge es möglich ſei, die gefährdete Stadt zu verlaſſen. Mit haſtigen
rten des Bedauerns verabſchiedeten ſie ſich von dem jungen Paar und
aten kaum die Geduld, Peles wohlgeſetzten Dank und Reiſewunſch an—
ören; fie vergaßen fogar die dreißig Maß Markgräfler, die der Rat
{ d4 Stadt den Auswärtigen geſpendet hatte.
501
Pele ſetzte ſich wieder, während die Andern den Abziehenden das Geleite
gaben, ſie ſchien es nicht zu merken, daß ſie allein am Tiſche ſaß, und die
Zurückkehrenden fanden ſie mit verſonnen lächelnder Miene den Muſikanten
lauſchen, die unter der Tür des Nebenzimmers ärgerlich ihre Pflicht taten.
Grieninger trat neben ſeine junge Frau, legte die Hand auf ihre Schulter
und fragte mit ſtillem Lächeln:
„Was meinſt du, Schatz, wenn wir uns auch — fo heimlich — davon⸗
machten? — Es wird heute doch nichts mehr — und morgen wohl auch
nichts — machen wir ein End!“
„Wir —?“ erwiderte ſie in verwundertem Tone und ſetzte mit einem
Blick über die wenigen übrigen Gäſte langſam hinzu: „Aber jetzt ſind wir
ſo ſchön unter uns! jetzt wird es doch erſt nett!“
Ehe Michel widerſprechen konnte, fühlte er ſich mahnend am Arme be-
rührt und er ſprach drum nachgiebig:
„Eigentlich — iſts ja richtig!“ ſetzte ſich und blickte nach der Mutter um, BE
die mit beruhigendem Nicken hinter ihm ſtand und auch wieder Platz nahr
Sie hatte draußen ſchon den Andern bedeutet, ſie ſollten ſich ohne weitere 9
Rückſicht möglichſt bald verabſchieden, damit man zu einem Ende käme.
Als aber Pele das erſte verftändigende Zuwinken, Flüſtern und Stuhl-
rücken bemerkte, da kam ſie zuvor; ſie wollte auf einen wenn auch notdürf—
tigen Abſchluß und auf ein ſichtbares Geleit in ihr neues Haus hinüber
nicht verzichten. Etwas verſchämt lächelnd ſprach ſie ihr Bedauern über die
Störung des Feſtes und die Notwendigkeit, es ſchon heute abzubrechen, und
ſie ſchien entzückt von der guten Miene, die man zum böſen Spiel machte,
von der Bereitſchaft, mit der im nächſten Augenblick alle ſchon daſtanden
und ſich zu einem kleinen Zuge ordneten.
Die Spielleute blieben vor der Haustüre ſtehen und ſpielten den Abſchied,
von Fackeln beleuchtet drang das Geleite auf den wogenden Markt hinaus.
Dünn und kläglich verklangen Fidel und Querpfeife im Lärm der un—
zähligen Füße und Stimmen, dünn und langſam wand ſich das Trüpp—
lein durch den herabkommenden Menſchenſtrom und ſtockte manches Mal:
dann beleuchteten die qualmenden Fackeln einen Kreis aufgeregter Geſichter,
die ärgerlich dieſes friedliche Hochzeitstreiben anſtaunten; man erfuhr, daß
die Tore und Mauern mit ſtarken Poſten beſetzt, auch Streifwachen in die
Umgegend ausgeſchickt ſeien, daß Bürgermeiſter und Ausſchuß geraten habe,
jeder ſolle Waffen, Zündkraut und Lot bereit halten und ſchlafen gehen,
damit er im Notfalle mit ausgeruhten Kräften zur Stelle ſei. Dann be—
wegte ſich das Züglein unter nachgerufenen Scherzworten und Gelächter
wieder voran und gelangte nach und nach bis vor die Apotheke, wo das
Gefolge ſich verabſchiedete und alsbald wie vom Wind weggeweht war. 3
(Fortſetzung folgt) *
502
Joſeph Kainz,
Briefe an ſeine Eltern
Herzliebſte Eltern! Leipzig am 21. 6. 76.
Geſtern um 7 Uhr hier angekommen (Wir fuhren über Döbeln) fuhr
ich per Droſchke ſamt meinem großen Koffer zu meiner Wohnung. Ich
wurde ſehr freundlich aufgenommen. Meine Wohnung liegt ſehr ſchön,
hat die Ausſicht auf den Thüringer Bahnhof und auf die Parkanlagen,
wie Ihr ja wißt. Ich habe ſeparierten Eingang zuerſt kommt man in das
Zimmer es iſt ſehr nett eingerichtet ich habe einen Chiffoneur 1 Schublade—
kaſten einen prachtvollen Sekretär ein ſehr ſchönes Sopha ſammt Sopha—
tiſch hübſche Vorhänge und 2 Fenſter, Ofen verſteht ſich von ſelbſt. Von
da aus kommt man ins Schlafzimmer ein kleines nettes Cabinet mit 1 Bett
l Waſchtiſch Ausſicht ebenfalls auf den Park. Auf's Eſſen kann ich mich
be i Forkel abonnieren, was es koſten wird weiß ich noch nicht, er macht erſt
den Durchſchnittspreis. Heute Vormittag war ich bei Dr. Förſter. Er
wohnt pompös wie man eben um 70 — 100000 Fl. Schulden wohnen
kann. Förſter, Pettera u. Dr. Buchholz (letzterer iſt Dramaturg) ſaßen
eben zu Rathe über das Repertoire. Pettera kannte mich noch u. Förſter
ſagte mir morgen ſei die erſte Probe u. gab mir auch die Adreſſe Neumann's.
Neumann empfing mich ſehr freundlich hatte aber alle Hände voll zu thun
mit dem Abonnement und dem Geldeinnehmen, denn die Theaterkanzleien
ſind proviſoriſch bei ihm aufgeſchlagen. Er läßt ſich „Direktor“ ſchimpfen.
Er ſtellte mich ſchnell dem neuen Baffiften vor, dann ließ er uns allein,
daß heißt er lief ab u. zu u. Roſenthal u. Förſters beide Söhne ſind in den
Kanzleien beſchäftigt. Ihr macht Euch keinen Begriff wie es bei dem Neu—
mann zugeht die ganze Kanzlei iſt gedrückt voll Partheien die alle abonniren
wollen u. da bezahlt denn jeder So—90— 100 u. 200 Mark das geht fo
den ganzen Tag fort. Alle Minuten kömmt ein Schauſpieler oder ein
Sänger u. ſtellt ſich vor. Dann kommt wieder ein Billeteur in einer
Muſteruniform u. läßt ſich von Neumann bekugſen. Der beſſert an der
Uniform aus ſieht ſich wie Mehringer die hintere u. vordere Parthie an
ſtellt an dem Stil etwas aus in dem ſie gehalten iſt u. ſofort. Alles wird
nach dem Burgtheater eingerichtet u. alles was man bei der Direktion ſieht
iſt Wiener, die alle über Leipzig ſo ſchimpfen u. zwar in Gegenwart der
Abonnenten daß einem die Haare zu Berge ſtehen, denn jeder langweilt
ſich zum Sterben.
Während ich mit dem Baſſiſten ſpreche, der auch ein geborener Joſefs—
ſtädter iſt u. den tiefſten Dialekt ſpricht kommt der Theaterbüro diener herein
u. bringt eine Karte, Neumann entreißt ſich einigen Coloraturſängerinnen
103
u. Altiſtinnen, die um ihn gerade verſammelt find und ihm das ſchreckliche
Wort „Vorſchuß“ in allen Tonarten vorſingen, und ließt die Carte: „Der
junge Mann ſoll hereinkommen“ ruft er — u. gleich darauf tritt ein kleiner
magerer unanſehnlicher, junger Mann von etwa 23 Jahren herein ſehr
dürftig gekleidet die langen Haare aus dem blaſſen Geſicht geſtrichen u. die
Oberlippe mit einem kleinen blonden Schnurbart bedeckt, der Hunger ſieht
dem armen Teufel aus dem ſchönen, blauen Auge, das aber auch das
ſchönſte an ſeiner ganzen Erſcheinung iſt und mit einer linkiſchen Verbeugung
ſagt er: „Herr Direktor, ich habe die Ehre mich ihnen in Leipzig vorzuftellen
uſw.“ Neumann ſpricht ſehr barſch mit ihm, endlich bittet der junge Menſch
zagend um einen Vorſchuß der ihm ebenſo bewilligt wird „so Mark!“
Dann entfernt er ſich untertänig. Wie er draußen iſt fragt uns Neumann:
„Haben Sie ſich den jungen Mann angeſehen? Ich ſage Ihnen meine
Herren der Menſch ſetzt in 3 Jahren die Welt in Staunen. Das iſt unſer
1. Tenoriſt!“ (Wie er heißt habe ich vergeſſen). So werden die Talente
von den Theaterdirektoren behandelt! Heute Nachmittag kommen die drei
Liebhaberinnen Weſſely, Tullinger u. Hartmann an. Ich u. der junge
Förſter holen ſie ab. Ich habe im ganzen eben noch 72 Mark rund.
Auskommen muß u. werde ich.
Mein liebes Mütterchen ſoll mir ſchreiben u. Vater ſoll recht bald komm
Und lebt 1o0000mal wol feid in Gedanken 1000 fach umarmt u. geküßt
von Eurem ewig dankbaren Euch über alles liebenden Sohne Joſeph.
Herzallerliebſte Eltern! Leipzig am 24. 6. 76.
Geſtern war die ate Probe von Kabale und Liebe. — Tagsvorher um
7 Uhr Abends mußten wir alle wie Ihr wißt beim Dr. Förſter uns ver—
ſammeln. Zuerſt wurden wir Alle einander vorgeſtellt. Nur Spitzeder,
Frau Senger, Herr Eichenwald und Herr Sauer, Fräulein Hartmann und
Herr Zocher fehlten, ſonſt waren aber Alle da. Nachdem wir uns nun dem
Namen nach Alle zur Genüge bekannt waren, hielt uns Dr. Förſter eine ſehr
hübſche Anſprache in welcher er uns pr. Künſtler und Künſtlerinnen titulirte
er forderte uns auf ihn nach beſten Kräften in feinem Vorhaben zu unter-
ſtützen, er ſagte ferner, daß wir uns keiner als zurückgeſetzt fühlen ſollten,
wenn eine Rolle ſtatt dieſem jenem Künſtler zugeteilt wird, wir möchten
nur immer das Intereſſe des Inſtituts im Auge behalten, denn es geſchähe
ja nicht ſelten daß einem Schauſpieler dieſe oder jene Rolle mehr liegt als
dem andern. In Folge deſſen ſollten ſich die Schauſpieler der erſten Be—
ſetzung von Kabale und Liebe um Gotteswillen nicht gekränkt fühlen, wenn
die zweite Beſetzung (Senger u. Bertens uſw. uſw.) den Vorrang bekäme
u. das Theater am 1. Juli eröffnete. Wir ſollten es ihm durchaus niche
verdenken wenn er das Theater mit der beſſeren Beſetzung eröffnete. Es
904
wären eben auch da nur wieder die Intereſſen des Inſtituts gewahrt u. fo
fort. Als Weſſely das hörte ſagte ſie ſpäter als alle das Haus des
Dr. Förſter verließen: „Meine Louiſe liegt in der Elſter!“ ich ſagte „mein
Ferdinand ſchwimmt in der Pleiße“ u. drauf rief Conried: „meinen Wurm
ſchmeiß' ich in die Parthe!“ — —
Ob wir richtig ahnten wird ſich zeigen.
Geſtern gieng die Probe vorzüglich! Beſonders aber der letzte Akt.
Pettera ſagte nach der Probe zu mir nachdem er mich noch im Ganzen auf
einige Pointirungen u. Nuancixungen aufmerkſam machte, mit freudeſtrahlen—
dem Geſicht: „Das wird eine vorzügliche Rolle von Ihnen!“ — Dr. Förſter
ſagte gar nichts. Er hat überhaupt ſehr ſtark den Direktor angezogen und
verkehrt außer mit ſeinem Dramaturgen Dr. Buchholz und ſeinem Regiſſeur
Pettera mit keinem Mitglied. Bis auf Weſſely u. Tullinger, denen er wirk—
lich ſehr warm unter die Arme greift.
Einen Freund hab' ich mir hier ſchon erworben u. d. iſt Dr. Buchholz,
feſſor, einer der erſten Referenten u. Dramaturg. Er hat eigentlich das
te zu ſagen u. der Wilbrandt Leipzigs. Er war gleich Anfangs für mich
ſehr eingenommen. Er iſt der liebenswürdigſte beſcheidenſte Menſch den
Ihr Euch nur denken könnt. — Er ſitzt bei den Proben im Parterre und
ſieht zu, und immer nach jedem Akt kommt er herauf und giebt bei den
Reegiſſeuren feine Meinung ab. Dann kommt er zu den einzelnen Schau—
ſpielern ſpricht mit ihnen über die ebengeſpielten Szenen macht uns auf
die Fehler aufmerkſam in der zarteſten liebenswürdigſten Weiſe (wenigſtens
bei mir). So oft er mich ſieht weiß er mir Complimente zu ſagen. —
Geſtern Abends gieng mit einem Collegen „Mauthner“ einem Wiener eben
aus dem Roſenthal herauf u. wie wir eben in die Stadt einbiegen wollen
kommt Dr. Buchholz uns entgegen. Wir ſahen ihn ſchon von weitem. Er
hat dichtes faſt gelbes wunderſchönes Haar bis auf die Schultern einen dto.
Bart u. ſieht beinahe dürftig aus aber jeder Student, beinahe jeder Leipziger
grüßt ihn ehrerbietig wenn er durch die Straßen geht. — Als er mich
erblickte kam er auf mich zugeſtürzt: „Herr Kainz kommen Sie! — Einen
Augenblick! Dann blieb er aber ſtehen. Machte mir Complimente über
den letzten Akt vom Ferdinand; machte mich wieder auf kleine Fehler in
der Bewegung aufmerkſam, dabei wurde er immer lebhafter, fing an mit
den Händen zu agieren dann fuhr er auf die nächſte Ecke auf einen Theater—
zettel los „Sehen Sie!“ rief er „dieſer Herr Trotz der heute den Don
Alonzo ſpielt (Man gab Preziofa) der iſt 1. Liebhaber unter Haaſe. Der
Menſch hat ſich das ſchon ſo angewöhnt ſo oft er vom Herz ſpricht auf die
Bruſt zu ſchlagen daß es nicht mehr aus ihm herauszubringen iſt. — Aber
bei Ihnen iſt ja das ganz etwas Anderes. Sie haben ſich ja ſeit der letzten
Probe ſchon ſo viel abgewöhnt. — Sie haben ja alles was ſie nur brauchen.
5 33 505
Sie ſprechen ja den Ferdinand ausgezeichnet. Ich habe es auch dem
Dr. Förſter geſagt. — Sehen Sie mit der B. ift es etwas ganz anderes
(Sie ſpielt die Lady). Die können wir mit dem beſten Willen nicht
brauchen! Das Mädel iſt fleißig, ſtrebſam, aber es 515 Ihr an einem
hellen Kopf an Talent, u. ſ. f. Nun wollen wir nur ſehen wie ſich Frau
Senger macht. Die ſpielt die Lady bei der zweiten Beſetzung. Ich glaube
nicht daß wir fie brauchen können, fie hat zu wenig Verſtändnis. — Na
wenns da auch nicht geht dann wollen wir die Jantſch engagieren. Auf die
ſetze ich ſehr viel Hoffnung, und ſo eiferte er in einem Athem fort. Dann rief
er auf einmal: „Sagen Sie Herr Kainz hätten Sie Luſt den Reinhold in
den „Badekuren“ zu ſpielen?“ Darauf ich: „Ich kenne die Rolle nicht
Herr Doctor“ — „Ah,“ rief er, „die Rolle iſt für Sie wie geſchaffen!
Sie haben den richtigen Schwung für dieſen prächtigen Studenten.
Förſter u. Pettera wollten die Rolle gleich Anfangs Ihnen zutheilen. Aber
ich kannte Sie damals noch nicht und nun erhielt ſie Senger. Aber ich u
werde es gleich dem Doctor ſagen daß er ihm die Rolle wieder, nimmt.
Er hat mir zu wenig Schwung dazu u. auch keine Erſcheinung. — Übrigen: 18 *
können Sie ja die Rolle alterniren. Zuerſt ſpielt ſie Senger u. Tags darauf
Sie! Denn darin ſchlagen Sie den Senger unbedingt. Sie haben ja
Erſcheinung u. den gewiſſen Schwung für dieſe Rolle. Morgen wird Ihnen
Doktor Förſter die Rolle ſchicken. Alſo adieu Herr Kainz! Leben Sie
wol! — — — „Sie glücklicher Menſch!“ rief Mauthner, der alles gehört 5
hatte. „Sie find ja zu beneiden! Jetzt ift Ihr Glück gemacht, da Sie den
Doctor Buchholz auf Ihrer Seite haben, der iſt ja ganz vernarrt in Si 20
Na ich bin begierig. Heute iſt die erſte Probe mit der zweiten Beſezung
Ich muß ſie mir anhören.
Alſo lebt Millionenmal wol. Schreibt mir recht bald! Habt keine N
Angſt um mich u. ſeid im Geiſte Millionenmal geküßt von Eurem Euch
zärtlich liebenden ewig dankbaren Joſeph.
Herzallerliebſte Eltern! Leipzig den 29. 6. 76.
Geſtern war ich im Theater. — Friedrich Haaſe trat zum letztenmale
auf als Thorane im Königsleutnant. Ich kann Euch ſagen, ich bin wirklich
froh daß ich nicht am 1ſten Abend gleich ſpiele. Was die Leipziger mit
dem Haaſe geſtern getrieben haben, das war großartig. Es wurden ihm
mindeſtens während des ganzen Abends 40 — 50 Kränze geworfen unzählige
Roſen, Rieſenbuquets und Sträußchen. Er hielt laut ſchluchzend ei
Abſchiedsrede und wurde zum Schluß unzählige Male gerufen. — H
ſpielt ſehr ſchbn Comödie. Aber es iſt kein Funke Gefühl und Wahr⸗
heit. Es iſt Alles Kunſt od. beſſer geſagt Virtuoſenthum. Ein ſehr
ſchönes Coſtüm, eine ſehr ſchöne Hand und einen ſehr ſchönen Fuß mit
. u
welchen er fortwährend coquettirt, wenn aber der Vorhang fällt bleibt kein
Eindruck zurück, man iſt fo wenig getäuſcht als man war, da der Vorhang
in die Höhe ging. — Aber das große Publikum ſieht ihn ſehr ungern
ſcheiden, und deshalb dürfte die erſte Vorſtellung nicht von ſo großartigen
Erfolg gekrönt ſein als man erwartet. Der junge Förſter ſagte mir geſtern,
Sind ſie froh, daß Sie in den erſten paar Vorſtellungen nicht zu thun
haben. Laſſen Sie Andere die Kaſtanien aus dem Feuer holen und ſpielen
Sie erſt, wenn die erſte Stürme und Reißer ausgetobt haben. — Ich trete
alſo am 6. in den Gönnerſchaften als Edmond auf. Am 1ö6ten ſpiele ich
mit der Bertens den Ferdinand. — Förſter ſoll zu Hauſe ſelbſt geſagt
haben „Kainz gefällt mir viel beſſer als Senger!“ — —
Ich muß ſchnell ſchließen, denn ich muß zur Probe. — —
An Baargeld habe ich noch bei 40 Mark. Ich kann mich noch nicht
abonniren weil die Proben alleum 12 Uhr anfangen. Hunger habe ich auch immer
u. dieſes Norddeutſche Freſſen giebt nicht aus. — Alſo lebt 1O00000000-
mal wol. Schreibt bald u. ſeid Millionenmal geküßt von Eurem Euch
zärtlich liebenden ewig dankbaren Sohne Joſeph.
Herzliebſte Eltern! Leipzig am 28. 8. 76.
Soeben erhalte ich einen Brief von Euch indem Ihr außer Euch ſeid
daß ich von Leipzig fort wolle. Habe ich denn das geſagt. An Selar habe
ich wie Ihr wißt ſogleich geſchrieben auf was Art das Engagement iſt das er
mir 15 55 0 Darauf nannte er in ſeinem geſtrigen Schreiben das Berliner
enztheater. Daß ich dieſen Antrag mit umgehender Extrapoſt zurück—
feuerte wie eine Kugel aus dem Rohre fliegt könnt Ihr Euch denken.
Inzwiſchen fielen aber hier Dinge vor die ja alles weſentlich verändern.
Spitzeder riet mir ja gleich von Allem Anfang nicht zu künden. Sollte
aber Förſter a la Neuffer einen neben mir engagiren, ſo ſollte ich ihm um
einen einjährigen Urlaub bitten (Natürlich unter Verzichtleiſtung auf jede
Gage) und ein Engagement in Frankfurt a./ M. mit 350 Mark Gage
monatlich als 1. jugendlicher Held u. Liebhaber annehmen. Ich war eben
im Begriff dies ins Werk zu ſetzen als N. als Don Carlos fo jämmer-
lich durchfiel wie ich noch nie jemand durchfallen geſehen. Es iſt wirklich
unglaublich wie ſich ein Menſch mit dieſen Mitteln dieſem ſchuſtermäßigen
Benehmen auf der Bühne unterſtehen kann in Leipzig für das Fach der
1. Jugendlichen Helden zu candidiren. So lange er noch nicht vors
Publikum getreten war behandelte man mich ſeitens der Direction u. Regie
mafu! Kaum daß mir Förſter und Pettera dankten wenn ich ſie grüßte.
n kam der Tag wo der Knabe Karl anfing dem Förſter und dem
1 ublikum fürchterlich zu werden. — Es wurde ihm rundweg abgeſchlagen
‚feine beiden übrigen Rollen zu ſpielen nämlich den Schiller in den Karls—
“
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ſchülern u. den Heinrich Heine: laut Contract beſtand er aber darauf und
deshalb ließ man ihn am Sonntag alſo geſtern den Carlos noch einmal im
alten Theater ſpielen und heute den Schiller im neuen. Er ſpielt gräßlich
wird nicht engagirt und reift heute Nachts noch ab. — Nun kehren fie reus
mütig zum Kainz wieder zurück. Pettera ſteckte geſtern ſchon um. Heute
tätſchelte er mir die Wangen und ſagte: „Armer Kainz Sie haben wol
recht lange Weile. Na laſſen Sie's gut ſein. Jetzt kommt an Sie die
Reihe! Förſter grüßte heute morgens mich zuerſt u. rief: „Liebſter, Beſter
Herr Kainz! Ich habe nachher mit Ihnen zu ſprechen! — (Sie kriegen
nämlich furchtbare Angſt weil ſie mich immer mit der Spitzeder heimlich
von ſehr wichtigen Dingen reden ſehen) — — Da ſagte mir denn Förſter
Lieber Herr Kainz wenn jetzt die Geiſtinger kommt müſſen Sie mir den
Mortimer ſpielen. Ich hätte Sie ja mehr beſchäftigt aber ich fürchte für
Ihre Geſundheit und Ihr Organ uſw. uſw. So eine gottvergeſſene
Comödiantenbrut! Ich hätte dem Doctor als er mir das vorſchwindelte mit
Vergnügen eine angedrückt. Aber man kann das doch nicht gut thun! Die
Spitzeder weiß von dem noch nichts: Ich will Sie erſt um Rath fragen.
Alſo macht Euch keine Skrupel es wird alles gut werden. — —
Wie geht es meinem Väterchen? Ich freue mich recht herzlich auf mein
Mütterchen. Bringe mir meine Kränze nicht mit! — aber dafür einige
Photografien! Nicht von mir! ſondern von andern! aber auch von mir,
und meine Leuchter vom Schreibtiſche. Dann mein Reisbrett und meine
ſämtlichen Vorlagen und Zeichenrequiſiten. Die Bertens hat noch immer
kein Engagement. Die Tullinger weint auch den ganzen Tag weil ſie ihr
alle Rollen weggenommen haben und fie der Weſſely gaben. Viele gefcheidte
Leute ſagen, daß Förſter ſehr abhängig ſei und von Wien aus wegen ſeiner
Schulden ſehr beeinflußt ſei u. ſ. f.
Na jetzt lebt wieder tauſendmal wol daß ich mich auf mein Mütterchen un⸗
endlich freue könnt Ihr Euch wol denken. Sie ſoll nun bald kommen! Alſo ſeid
ooo ooo mal geküßt von Eurem Euch zärtlich liebenden Sohne Joſeph.
Herzliebſte Eltern! Leipzig den 18/12. 76
Soeben komme ich von der Probe Maria Stuart. Grube ſpielt natürlich
den Mortimer. Der zweite jugendliche Liebhaber der nach dem Mortimer
mir gebührte iſt der Daviſon der Secretair der Königin, den ſpielt der
neuangagierte Converſationsliebhaber Stöckel. Alſo wäre es doch honnet
geweſen mich in dem Stücke gar nicht zu beſchäftigen, aber nein er muß
wegen des Prozeſſes Rache ausführen und giebt mir den Bellievre den
außerordentlichen Botſchafter Frankreichs, der im Anfange des zweiten
Aktes vorkommt und nach ein paar Worten abgeht. Alſo ich habe in der
kurzen Zeit am Leipziger Stadttheater es fo weit gebracht und fo viel ge—
508
8 e er N ö N
ers‘
lernt, daß ich ſchon den Bellievre fpielen kann. Früher d. h. gleich wie ich
herkam in der erſten Zeit hab' ich nur ſo kleine Rollen wie den Phaon und
den Carlos u. Bugslaff geſpielt. Jetzt werde ich nächſtens Anſagerollen
ſpielen. Ich fragte neulich den Buchholz wie es den kommt daß Grube
und nicht ich den Mortimer zu ſpielen kriegte. Da ſagte er mir mit einem
Faungeſicht: „Das haben Sie Ihrem Freunde Gottſchall zu danken.“ Ich
gab ihm zur Antwort. — Na wenn's ich's nichts anderem zu danken habe,
ſo bin ich ſehr froh u. kann die Direction nur bedauern! (durch die Seite
links ab). Im Uebrigen habe ich meinen Plan gefaßt. Ich packe die
kleinſte Rolle zuſammen je kleiner deſto befjer! um mit deſto mehr Grund
meine Kündigung verlangen zu können. Ich werde es dem Doctor Förſter
vorhalten, wie er mir nach Beendigung meines Probeſpiels im Burgtheater
ſagte Lieber Freund ſie dürfen nicht hier bleiben und 2. u. 3. Rollen ſpielen.
Sie müſſen hinaus um 1. ſpielen zu können. Das find 2 Jahre her, habe
ich ſeit der Zeit Rückſchritte gemacht? Der wird ſtaunen, was ich dem
. den er die Schande hat vorzuſtellen, alles erzählen u. declariren
7
werde. Fort muß ich und wenn ich täglich Scandale provociren muß.
Macht Euch um mich keine Sorgen liebe Eltern! Ich werde dem Geſindel
zeigen, daß der Schauſpieler vom Director nicht abzuhängen braucht und
wenn beſagter Director zomal Förſter heißt und ein noch roomal größerer
Beutelſchneider iſt. Ich weiß was der dumme Hund will. Ich ſoll hin—
kommen gekrochen in höchſtdero Wohnung (refp. Hundeſtall) ſoll der
gnädigen Frau das Fell ihrer Vorderpfoten ablecken und in allertiefſter
Devotion die Gnade eine große Rolle wieder einmal ſpielen zu dürfen er—
bitten, ſoll zu Weihnachten ſchenken der Hundefamilie neue Marken für
Ihre Halsbandeln, damit Sie die Schinder (will ſagen Creditoren) nicht
abfangen mit den Maxen wenn ſie über die Straßen gehen. Aber eher geht
der große Donauſtotz im Juli nach Leipzig ſpazieren und ſetzt die ganze
Stadt in Brand eh' ich dem bellenden dicken Raubthier in der Gellert—
ſtraße ein gutes Wort gebe. Die Kränk ſoll kriegen u. ſeine Familie die
Krätzen bis ſie ſo ſchäbig geworden wie ein alter Judenpelz der zum dritten—
male auf die Leipziger Meſſe wandert. Pfui Teufel! Die Wi ſchen haben
ungeheure Freude über den Brief gehabt den ihnen die Mutter geſchrie—
ben hat. Na es freut mich nur daß ſie trotz alledem u. alledem noch ſo
bei Humor iſt, denn die 2 Mädeln ſagten mir ſie hätten furchtbar gelacht
über den Brief ſo drollige u. komiſche Einfälle ſeien drinn. Dasſelbe
ſagte mir die Spitzeder immer von denen die ſie von der Mutter kriegt!
Ich ſtaune darüber! — Die W. zeigten mir geſtern ihr Amneriscotum!
Es iſt mit dem größten Luxus gearbeitet, nicht etwa ſelber, nein dazu
iſt das trillernde Comödiantenpack zu träge aus angeborener Faulheit.
1 Von der dreckigen Ganſteren haben ſie's machen laſſen, nach dem Wiener
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Schnitt diefe Lauſeſchenkelfreſſer. Und auf meine Frage was es koſtet, ſagt
ſie mir ganz trocken ins Geſicht mit einer Ruhe die emer beſſern Sache
würdig geweſen wäre „Etwas über 400 Mark“! Na nun frag' ich Euch
wo kriegen die die 400 Mark her? Wenn fie noch wenigſten anftändig
überſtrichen wären, ſo könnte man ſagen ſie haben's — — verdientl!
aber ſo! Dieſe Furchtgerippe ſchaut ja Niemand an. — Ueberhaupt unſer
Perſonal iſt was werth, So eine Bande iſt auf Gottes Erdboden noch nie
herum gekrochen, mit Ausnahme Pettera's. — Da habt Ihr das Ehepaar
S. — Haſte geſehen ſan von unſere Leit. Sie thut immer, als wenn
Sie der Direktion und allen übrigen Mitgliedern eine Gnade erwieſe wenn
Sie Comödie ſpielt. Die leidet an höherem Größenwahn. Ihr Mann mit
die Füße aus gebogenem Holz (Der Kerl ſieht immer aus als wenn er aus
dem Naturalienkabinet aus der erſten Abtheilung davon gelaufen wär nimmt
keine Rolle unter ſechs Bogen ſpielt Comödie wie eine Sau u. hat ſich
nur deshalb auf 6 Jahre in Leipzig mit unlösbaren Contract engagiren
laſſen, weil er glaubt Leipzig kann nur fo lange ſtehen als er drinn rum⸗
geht, und bedauert jeden der nicht S. heißt. Dann kommt der Grube der
ſpielt wieder blos aus purer Menſchenfreundlichkeit. Er thut wenigſtens ſo
und entſchuldigt ſich bei jedem ſeiner Collegen wenn er von der Direction
eine große ſchöne Rolle kriegt. — Reb Schmule Pinkeles Conried — be⸗
wundert ſich als großartiges Regietalent u. bildet ſich immer ein er iſt am
Leipziger Stadttheater Regiſſeur. — Es iſt das bei ihm ſo zur fixen Idee
geworden, daß er jedem erzählt er wüßte nicht wo ihm der Kopf ſteht, er
müßte im neuen Theater Coriolan, im alten Julius Cäſar inſceniren und
zu gleichen mit der Frau Jantſch Antigone ſtudieren? Wie heißt? kann
jach mer nicht verreißen auf klane Stüdeln. Böſe Menſchen ſagen ihm nach
er gienge am Brühl hauſiren und ſo wie ein anderer Jud ruft „nix zu F
handeln“ ſchreit er „brauchen Sie kanen vor dramatiſche Lexioner“ geb's
Ihnen billig die Stunde vor 2 Groſchen, bei Abnahme von 12 Stunden
20% Nachlaß“. — So ſagen die Leute: es iſt aber nicht wahr! Erſtens
habe ich Conried noch nie am Brühl geſehen ſondern immer nur Gellert⸗
ſtraße und Goethe Straße, u. dann giebt er keine Lection unter 4 Groſchen,
das weiß ich, manchmal nimmt er ſogar 5. Ich könnte Euch noch mehr
Geſchichten von meinen Collegen erzählen, wenn — etc etc ſiehe Carl Moor
2. Akt letzte Scene. — Neulich gehe ich ganz ahnungslos im Foyer ſpa⸗
zieren und denke an nichts, da faßt mich plötzlich jemand von hinten beim
Genick und ſchleppt mich in eine ganz dunkle Ecke des Theaters ſo daß ich
gar nicht genau erkennen konnte, wer es iſt, ich dachte anfangs es ſei bloßer
Scherz. Da ſagt der Kerl plötzlich ganz leiſe aber mit fürchterlichem Ernſt
„Haben Sie ſchon den letzten Akt von meinem Catilina gehört mit * t
Traumerzählung?“ „Keine Silbe“ ſtammle ich und wiſche mir den u 0
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ab „Ach den müſſen Sie hören“ Nun packt mich Rüffer (denn es war
niemand anderer) beim Rockknopf erſt mit einer Hand dann mit beiden.
Er kommt nach u. nach ins Feuer — ich immer mehr in die Ecke, — Er
ſchüttelt mich bei der Bruſt herum wie einen Strohſack, — ich ſtöhne Oh
u. Oh, er hält das für Bewunderung u. fängt nur deſto ärger an, endlich
find alle todte, Rüffer ſchleudert mir die Worte „Der Vorhang fällt“ ins
Geſicht und läßt mich Dank ſei allen Göttern los. Was ſagen Sie dazu?
— frägt mich der Menſch. Ich ſagte aber gar nichts ſondern bückte mich
blos um die 3 abgeriſſenen Knöpfe aufzuheben. Rüffer glaubt ich will ihm
ein Compliment machen u. ſagt bitte bitte lieber Kainz Sie beſchämen mich.
— Entſchuldigen, da geht Mauthner vorüber, der kennt den letzten Akt
noch nicht, Auf Wiederſehen. Wie der Geier aufs Aas ſtürzte er auf den
Unglücklichen los und nach wenige Augenblicke war er mit ihm verſchwunden.
— “Todtenblaß mit wankenden Schritten komme ich ins Amphitheater zurück
wo Otto Telchmann und noch einige Bekannte entſetzt aufſpringen: „Um
otteswillen Kainz was iſt Ihnen geſchehen? — darauf ich: Nichts meine
Herren, Rüffer hat mir blos den letzten Akt feines Catilina vorgelefen — —
s iſt ſchon vorüber — Doktor Piſa (ein Bekannter) gab mir einige Tropfen
zur beſſeren Verdauung. und warnte mich dann wenn Rüffer im Theater
Hi nie mehr allein im Foyer zu promenieren ſondern immer in Begleitung
einiger Collegen. — So ein junger trächtiger Dichter iſt was ſchreckliches!
So jetzt habe ich Hunger gekriegt lebt alſo Toooooomal wol. — daß
ich Plaid u. Haube gekriegt habe, habe ich ſchon 16mal geſchrieben brauche
es alſo nicht zu wiederholen. Alſo tauſend Küſſe von Eurem pumperl
geſunden Euch über alles liebenden dankbaren fidelen Joſeph.
Herzliebſte Eltern! Leipzig den 10/3. 77 um 5 Uhr Abends.
8 Obwohl ich die Feder ſoeben aus der Hand gelegt (Ich habe ſoeben
ein Briefchen an Euch abgeſendet) fo drängt mich doch der erſt angekommene
Brief des Vaters Euch eine kleine Erwiederung zu geben. — Wie vom
3 Donnerſchlag gerührt las ich darin daß ich diesmal auf den Geburtstag der
Mutter vergeſſen habe. Gott weiß es, ich habe keine Entſchuldigung dafür.
Sie wird ſich erinnern daß es gerade die Zeit geweſen wo ich mit Förſter
wegen meiner Eatlaſſung unterhandelte u. wo die Proceßgeſchichte nach vier
Monaten unnützen Harrens auf Entſchädigung von Vorne anfieng. Uebri—
gens kenne ich ja mein gutes Mütterchen. Ich möchte darauf wetten, daß
ſie weniger darüber gekränkt iſt, daß ich Ihr nicht gratulirte, als vielmehr
über den von Ihr erſonnenen Grund meines Schweigens. „Ich hätte Sie
im Arm der Geliebten vergeſſen“. Ach Du lieber Gott! Wie poetiſch.
Mein liebes Mütterchen iſt doch noch immer voll Poeſie. Und derlei
4 vefie erſchafft die liebe — Eiferſucht — Nein. Keine Angſt! Bier—
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trinken, Rauchen und mich verlieben, lerne ich nicht mehr. Derlei Dinge,
ſollen fie im Leben tiefere Wurzeln ſchlagen, müſſen zeitiger als erſt im 2 often
Jahre begonnen werden. Um dieſen drei Leidenſchaften zu fröhnen bin ich
ein zu nüchterner Menſch. — Das Frauenzimmer in das ich mich ver—
lieben könnte exiſtirt nicht auf dieſer Welt. —
Daß Ihr das nicht glaubt u. Niemand, verſteht ſich von ſelbſt aber ich
glaube und weiß es u. das genügt. — Nein mein liebes Mütterchen, daß
nur Ihr meine Eltern in meinem Herzen lebt und daß ich nur durch Euer
Leben lebe ſoll ſich einſt zeigen. Ihr ſeid doch die einzigen die ich kenne,
die einzigen die mich lieben müſſen, denn wir — wir drei ſind eins! —
Nicht wahr liebes Mütterchen Du biſt nicht mehr böſe, daß ich auf den
4. Februar vergaß die Hauptſache bleibt ja doch, daß ich Dich nicht ver⸗
geſſe. Alles Andere iſt ja an Ort und Zeitlichkeit gebunden. —
Daß ich öfters in den Armen der Weſſely, Tullinger Krößing, Weſtern,
ja ſogar der Jantſch liege — das zu läugnen habe ich nicht die Stirne denn Ei
das ſieht und weiß ganz Leipzig — u. alle Agenten. Aber bedenke doch nur 1
daß das meine verfluchte Schuldigkeit iſt! — Ich bin contractlich verpflichtet m
mich zu verlieben ſogar mich zu verheirathen, und wagte ich einmal vor dem
Thespisaltar nein zu ſagen ſo würde dies jedes Falls nach § 19 der Theater⸗ *
geſetze mit der Hälfte meiner monatlichen Bezüge beſtraft werden. —
Nehmt beide Millionen Küſſe von Eurem Euch über alles liebenden
Sohne Joſeph.
Herzliebſte Eltern! Leipzig den 12. 4. 77.
Geſtern Abend gaſtirte zum erſten male Albert Niemann vom Hoftheater
in Berlin als Tannhäuſer. Ich habe ſo etwas in meinem Leben noch nicht
geſehen. Stimme hat er gar keine mehr, d. h. er brüllt daß das Haus
einfällt u. zu klein wird, aber die Stimme iſt alt u. verbraucht klanglos u.
ausgeſchrieen. Gegen ſein Spiel aber müſſen ſich Sonnenthal Hartmann,
Förſter ja felbft Roſſi (ich ſage nicht zu viel) verſtecken. Dazu hat der Mann
ein Hünengeſtalt und einen ideal ſchönen Kopf kurz es iſt im Spiel das voll—
endetſte was ich bisher geſehen habe. Ich möchte dem Menſchen bloß ein halbes
Jahr lang zuſehen können, ich bin wahrhaftig froh daß ich wieder ein mal je⸗
mand ſehe von dem man wahrhaft etwas lernen kann, der ganz frei von Manie⸗
rirtheit u. ſo durch und durch vollendeter Künſtler iſt. Förſter ſagte mir heute
ich ſollte jetzt gar nichts thun, ſondern ein Monat lang viel eſſen u. trinken.
Höchſtens einmal ein gutes Buch leſen u. dann wollte er mit mir die 5 oder 6
Rollen ſtudieren die ein jugendlicher Liebhaber unumgänglich nöthig hat als da
find. „Max, Ferdinand, Don Ceſar (Braut von Meffina) Melchthal,f Don
Carlos etc, etc. u. mich fie dann je fo nach u. nach ſpielen laſſen. Na mit
einem Wort er will alles mögliche thun um mich recht bald vorwärts zu bringen. 1 ;
“2
F
Herzliebſte Eltern! Leipzig den 3. Auguſt 77
Was ich ſeit geſtern erlebt habe oder vielmehr ſeit vorgeſtern, daß ver—
mag keine menſchliche Zunge auszuſprechen. Hört mich ruhig an. Es iſt
nun nicht mehr zu ändern. Ich ſpielte am erſten Auguſt den Geigenmacher
von Cremona. In dieſer Rolle habe ich einmal auf der Bühne zu geigen.
Nach Förſters Arrangement ſtand ich ganz vorn am Proſcenium und geigte
gerade vor dem ganzen Publicum. Da ich aber der Griffe auf der Geige
nicht kundig bin, ſo machte ich ziemlich ungeſchickt worüber man im Publi—
cum zwar nicht lachte, dazu iſt die Situation zu ernſt aber man ſagte mir
daß ſich viele Leute nicht des Lächelns erwehren konnten. Unter dieſen war
auch die Kupfer, die mir den wohlmeinenden Rath gab das nächſte Mal ſo
wie Lewinsky im Hofburgtheater im Hintergrunde mit dem Rücken gegen
das Publicum gewendet, die Sache abzumachen. Ich beſchloß das bei der
nächſten Aufführung ebenſo auszuführen und meinen Entſchluß dem Doctor
kundzuthun. Am erſten Auguſt war aber mein guter Förſter vor der Vor—
ſtellung nirgends aufzufinden u. ich wandte mich daher mit der Bitte an
den Regiſſeur Johannes, die Scene u. das Geigenſpiel nach meinem Vor—
haben zu arrangiren. Wie ich wollte, ſo geſchah es u. Johannes hatte da—
gegen nichts einwenden. Ich ſpielte alſo meinen bucklichen Filligo mit
großem Erfolg wie das erſtemal. Kaum aber war der Vorhang gefallen
ſo ſtürzt Förſter wie ein Raſender auf mich zu, (noch auf der Bühne. Ich
triefte noch vom Schweiß u zitterte vor Aufregung vom Spielen) und
ſchreit mich in Gegenwart meiner Collegen u. ſämmtlicher Theaterarbeiter
an: „Wie können ſie ſich unterſtehen, die von mir aufgeſtellten Arrange—
ments umzuſtoßen? „Wenn ſie mir das noch ein einziges Mal machen
werde ich Sie in Strafe nehmen daß ſie Ihr lebtage daran den—
ken! — Ich wollte mich entſchuldigen mit den Worten daß ich es doch
vorher dem Regiſſeur gemeldet hätte — aber das half nichts er tobte u.
ſchrie wie ein Verrückter weiter — u. Gott weiß was geſchehen wäre, hätten
ihn nicht Neumann u. ſein Sohn unterm Arm genommen u. weggeführt.
Wenn ich das niederſchreibe überfällt mich noch eine Wuth u. das Blut
ſteigt mir zu Kopf zum Schlagtreffen. Natürlich blieb ich in meiner Auf—
regung auch nicht ſtille was ich geſagt habe weiß ich nicht mehr genau aber
es war fo etwas dabei wie, ſch fh — ihm auf feine lumpigen paar Mark
als junger talentvoller Menſch finde ich überall u. jederzeit Unterkommen.
Zu dem allen hatte ich am ſelben Abend im dritten Stück über
Nacht eine Rolle von Stöckel übernommen weil dieſer auf Ur—
laub ging. Ihr könnt Euch lebhaft vorſtellen, wie ich da geſpielt habe!
— Zur ſelben Stunde erfuhr ich von einigen dienſtfertigen Collegen, daß
die Geiſtinger den ganzen Vormittag bei Förſter war, u. daß ihr Mann
Kormann, dieſer Ignorant als 1. jugendlicher Liebhaber engagirt ſei —
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Alſo jetzt lag es ja klar auf der Hand, dieſer Scandal mit mir war
von Förſter provocirt u. die Sache war abgekartet, hätte ich zufälliger
Weiſe im erſten Stücke das nicht gemacht, ſo war mir ſchon, wie ich erſt
zu ſpät einſah das dritte Stück als Falle gelegt. Man wußte ſeit lange
daß u. wann Stöckel auf Urlaub geht u. ſchickte mir anſtatt wie er mir
verſprach 8 Tage vorher, am vorhergehenden Abend um /¼ Uhr die
nicht kleine Rolle für den andern Tag. Man wußte, es iſt unmöglich die
Parthie über Nacht zu memorieren da ich doch mit dem Franz, dem
Nathan, den Nibelungen beſchäftigt war, u. der Scandal wäre dann dar⸗
über los gegangen. Ich ſchrieb alſo Förſter einen ſehr höflichen Brief
worin ich ihm ſagte „ich könnte mir ſein geſtriges Benehmen gegen mich
durchaus nicht erklären! Es ſchiene mir ſo als ob ihm mein Entlaſſungs⸗
geſuch nicht unerwünſcht kommen würde. Allerdings könnte ich mir dann
nicht erklären warum er vor 4 Monaten trotz meiner Bitten von ſeinem
Kündigungsrechte keinen Gebrauch gemacht habe. „Vielleicht“ —
fuhr ich fort — „Waren Ew. Wohlgeboren damals um einen Er
ſatzmann verlegener als heute! — Auf dieſes Schreiben ſchickte er
mir geſtern meine ſofortige Entlaffung u ließ ſämtliche Rollen von
mir abholen! Dieſes war das letzte Werk des Theaterdieners Moosdorf
den die Mutter kennt, der mit mir entlaſſen wurde! — Ihr könnt Euch
denken wie mir in dem Augenblick wurde! Der Operettenſänger Küſtner
den die Mutter kennt u. der mit 10 000 Mark hier angagirt iſt war gerade
bei mir u. lachte dazu — er meint ein alleinſtehender junger Mann müßte
ſich nur freuen, wenn er von dieſer Judenbande hier wegkommt. Ich ver⸗
ſichere Euch ich thäte es auch! Aber in demſelben Augenblick wo die armen
Eltern die in Noth ſind u. Ihre Augen hoffnungsvoll auf den einzigen
Sohn richten von dem ſie glauben daß er ſich endlich eine feſte Stellung
errungen hat, in demſelben Augenblick wo die halbverzweifelte Mutter bei
mir Ihrem Sohn Schutz u. Ruhe zu finden hofft der nun faſt die einzige
Stütze geworden iſt, in dieſem Augenblick könnte einem ſo ein Schlag zum
Wahnſinn zur Verzweiflung treiben u. zum Gottesläugner machen. Ich
fühlte mich jetzt ſo glücklich da ich nun nach einem Jahrlangen Kampf alle
Schwierigkeiten beſtanden, alle Klippen u. Hinderniſſe beſeitigt hatte, da
das Publicum anfängt ſich für mich zu intereſſiren u. nach dieſer Plage
nach dieſem mühevollem Ringen das mir ſchlafloſe Nächte ja ſogar Thränen
gekoſtet hat, jetzt werde ich das Opfer einer ganz gemeinen Theatercabale,
o pfui! pfui! über dieſe erbärmlichen Menſchen! — Aber Gott beſchütze
mich u. bewahre, daß mir Förſter oder ſonſt einer ſeiner ehrenwerten 1
ſchaft in den Weg rennt. Ich weiß nicht was ich zu thun fähig wäre!
würde gewiß nichts Gutes fein! Meine Collegen die es erfuhren als d
find Grube ſ. Frau, Senger Fr. Bethmann, Spitzeder etc. meinen es wäre
514
ee
4
ERTL DE DELL EZ ZERERLENE
=
nur ein Schreckſchuß. aber man kennt mich nicht, wenn man glaubt ich fei
fo verſöhnlich, fo lange es dem Hund, der mein Todfeind ift nicht ſchlecht
geht; ſo lange werde ich ihm zu ſchaden ſuchen als ich nur kann u. ſo lange
er mich nicht für dieſe Beleidigungen um Verzeihung bittet, kann er mir
Millionen bieten u einen Platz im Himmelreich ich wieſe beides zurück u.
würde eher bei lebendigen Leibe verhungern.
Jetzt hört meinen feſten Entſchluß — Ich fahre morgen früh um 4.15
— nach Berlin die Spitzeder hat mich wolunterrichtet u. mir die beſten
Empfehlungen an ſämtliche Agenten mitgeben. Sie ſagt, ich könnte nur
gewinnen, Engagements bekäme ich in Hülle und Fülle! Ich ſollte an ein
1. Stadttheater oder 2 tes Hoftheater als 1. Jugendlicher Held u. Liebhaber
gehen u ſofort 200 Thaler Gage begehren nachlaſſen kann ich immer. Das-
ſelbe ſagt Senger. Bekomme ich vor 1. September kein Engagement, fo follte
ich mich doch wenigſten um Gaſtſpiele umſehen, die ich ſogleich bekommen würde,
dann bleibe ich keine Minute länger in Leipzig. Ich fahre alfo morgen früh um
4 ¼ Uhr weg komme um 7 Uhr morgens an mache meine Geſchäftsgänge u
kann um 8 Abends wieder von Berlin wegfahren um gegen / 12 Uhr Nachts
wieder in Leipzig zu fein. Nun ſage mein herzallerliebſtes einziges Mütterchen
ob ich Dich nach dem Allen noch in Leipzig erwarten kann? — Und wann?
Nach Berlin muß ich fahren liebe Eltern denn das Schreiben dauert zu
| lange, und ich kriege vielleicht nicht einmal recht Antwort — Fahre ich
ſelber hin ſo kann ich ſogleich etwas finden. Die Sauer hat um 4 Uhr
Nachmittags ſchon Ihren Contract gehabt. Alſo warum ſoll es mir nicht
glücken da ich doch jugendlicher Liebhaber bin an denen ſolche Noth iſt.
Senger ſagte mir heute, es müßte mit dem Teufel zugehen wenn Sie der
ſie für den jugendlichen Helden alles haben, was man nur wünſchen kann,
nicht ſogleich etwas finden ſollten. Sie haben Erſcheinung, Organ, großes
Feuer, Wärme, Leidenſchaft u. etwas was man bei keinem Liebhaber findet,
Gliederung u. Deutlichkeit der Rede — — — Alſo meine liebſten. Verzagt
mir nicht! Morgen um dieſe Zeit kann ich vielleicht über alles lachen u.
wieder ruhig in die Zukunft ſehen. Schon wenn Ihr dieſe Zeilen leſt kann
ich ein Engagement haben gegen das mein jetziges ein Sclavenmarkt war.
Verzweifelt mir nicht! Meine einzige Sorge iſt ja blos um Euch! Mein
erſter Gedanke als ich den Brief Förſter's bekam war an Euch. Unter-
ſchreibe ich einen neuen ſo Gott wil beſſeren Contract, werd ich wieder
um ſo freudiger nur an Euch denken. Euch mein Einziges mein Liebſtes
mein Alles! denn hätte ich Euch nicht, ſo lohnte es ſich gar nicht mehr auf
dieſer elenden Welt herumzukriechen! Alſo Muth! Verzweifelt nicht. Es
ird bald die Zeit kommen wo wir über alles Das lachen werden worüber
ir uns kränken u. freudiger werden wir das mit Mühſalen errungene ge—
—
nießen als Fürſten u. Grafen Ihre Millionen, mit denen ſie geboren werden.
8
Drum nochmals Muth! Muth! Muth! Ihr bekommt morgen von Berlin
eine Correſpondenzkarte wie es um mich ſteht! In der Hoffnung Euch mit
dem nächſten Schreiben wieder etwas Angenehmes Erfreuliches melden zu
können küſſe und umarme ich Euch im Gedanken Millionenmal als Euer
Euch über alles liebender ewig dankbarer Sohn Joſeph.
Herzliebſte Eltern! Leipzig den 5. Auguſt 77
Ich ſchreibe auf roſigem Papier und das iſt ein gutes Zeichen. Geſtern
war ich alſo in der Metropole der Intellijenz. Mein erſter Gang war zum
Agenten Entſch. Als er den jungen Mann auf ſich zukommen ſah, ſtand er
gar nicht auf. So wie ich meinen Namen nannte fuhr er auf bot mir einen
Stuhl an. Ich habe ſchon in Leipzig die Ehre gehabt Sie flüchtig zu ſehen.
Es iſt ſchön daß Sie ſich einmal in Berlin ſehen laſſen. Wollen ſich ge—
wiß die Stadt ein bischen beſehen u. ſo fort. „Nein Herr Entſch ſagte ich,
das weniger. Ich ſuche ein Engagement. „Was? der Günſtling des Doctor
Förſter ſucht ein Engagement. Ja was iſt denn geſchehen?“ Nun erzählte
ich ihm alles. Na meinte er, Sie können gleich hier bleiben. Director Roſen⸗ *
thal ſucht einen jugendlichen Helden u. Bonvivant. Wollen Sie nach Berlin?
ans Stadttheater? Ich war einverſtanden und die Sache war abgemacht.
Ich ließ ihm Bild und Repertoire da u. er verſprach mir mit Roſenthal * |
zu fprechen. Heute Morgen (Ich fuhr geftern um 8 Abends von Berlin
weg u. kam um ¼ 12 Nachts hier an) wie ich aufwache liegt ſchon der
Contract vom Entſch da ab erſten September auf ein Jahr u. 2 Monate
Ferien mit 360 Mark Gage monatlich aber kein Spielhonorar. — Von
Entſch fuhr ich direkt zu Röder. Er ſelbſt war verreiſt. Aber ſein Se—
kretär der Geheimrath Engel hat eppes die Gnade gehabt mich zu empfangen.
Er ſaß im Fauteuil u. empfing ſehr herablaſſend Er hat doch ä roths Bandel
im Knopfloch. So wie ich ſagte, mein Name iſt Kainz, wiederholte ſich
dasſelbe Spiel wie bei Entſch. Ich erzählte auch hier alles ausführlich.
Er ſagte mir. Sie können gleich hier bleiben. Director Claar vom
Reſidenztheater in Berlin kommt in einer halben Stunde und ſucht
einen jugendlichen Liebhaber. Sie können mit ihm perſönlich unterhandeln.
Auch dem Engel erzählte ich den ganzen Hergang meiner Entlaſſung. Er
ſagte, daß ihm Angelo Neumann um einen jugendlichen Liebhaber geſchrieben
hätte. „Aber,“ ſagte er weiter „Du lieber Gott woher ſoll ich nehmen
jugendliche Liebhaber und nicht ſtehlen? Ich kann ihm niemand ſchicken
las den L. der in Dresden, vor 14 Tagen durchgefallen iſt, ob er in
Leipzig gefallen wird, weiß ich nicht! Ich habe keinen Andern. — Nach
2 Stunden kam Claar, ein kleiner liebenswürdiger Mann noch jung. Er
ſah mich u. wollte mich ſofort engagieren. Aber er meinte ich müßte das |
Fach eines jugendlichen Liebhabers nicht allein, ich müßte auch das von 1
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*
Hell' ſche Fach ſpielen z. B. Ferréol André in der Fernande; Rocheſter in
der Waiſen aus Lowood uſw. Das paßte mir natürlich nicht u. ſo ſchlug
ich es ſofort aus. — Da ſagte Engel: Kommen Sie jetzt mit mir Herr
Kainz, ich fahre jetzt zum Generalintendanten von Hülſen u. werde Sie
ihm vorſtellen. Wenn er Sie ſieht engagirt er Sie ſofort. Davon bin ich
überzeugt. Wir gingen alſo hin, trafen im Vorzimmer des General—
intendanten den Doctor Heine den Director der Königlichen Schauſpiele,
der uns aber ſagte daß von Hülſen heute keine Beſuche mehr empfange.
Engel ſagte mir nun ich ſolle ihm Photografie und Repertoire zurücklaſſen
er werde mich ſowol dem Hoftheater in Berlin als auch dem in Meiningen
empfehlen. Ich ſollte ganz unbeſorgt nach Leipzig zurück fahren. Er werde
alles in Ordnung bringen. — Hierauf fuhr ich zu Drenker der mir auch
die ſchönſten Hoffnungen und Ausſichten machte ebenſo Selar und Fränkel.
Guten Muthes fuhr ich um 8 Uhr Abends nach Leipzig zurück.
Leipzig, den 6. Auguſt.
Heute Morgens finde ich einen Brief von Röder ſamt Contract worin
er mir ſagt daß ſich die Unterhandlungen mit Hülſen und Meiningen in
die Länge ziehen falls mir daran läge ſofort ein Engagement zu haben
6
bietet er mir das Stadttheater in Berlin unter denfelben Bedingungen an.
Ich habe mich nun heute bei Küſtner erkundigt. Er ſagt mir, es ſei ein
brillantes Verhältnis. Es wird bloß Schau- u. Luſtſpiel cultiviert, Operette,
Poſſe, gar nicht. Zudem bin ich in Berlin, wo man mich ſieht u. endlich
auch das Hoftheater aufmerkſam wird wenn ich meine gewiſſen Rollen dem
Intelligenzpublicum von der Spree ein paarmal hinlege. Mir gefällt's in
Berlin ſehr gut, was ich ſo in dem einen Tag ſah! Es iſt kein Wien, das
wiſſen die guten Berliner jetzt ſchon ſelber aber immerhin eine ſchöne Stadt.
Beiliegend der Contract den ich den Vater ſofort zu unter—
ſchreiben bitte, u. ihn mir (umgehend) zu ſenden! Aber umgehend!
Verzagt mir nur nicht Kinder. Ihr ſeht es ſteht bereits alles wieder gut.
So wie ich in Berlin bin, kommt mir die Mutter nach! — Hier fängt
man ſchon an meine Entlaſſung zu bereuen — Grube ſpielt den Mar—
cus. — Sie wären recht gerne bereit mich zu engagieren, wenn ich zuerſt
käme. Buchholz hat ſich neulich im Gaſthaus geäußert in Gegenwart des
Weiß der mir's wieder erzählt. „Man glaubt nicht wie ſich Kainz ſchon
hier im Publicum feſtgeſetzt hat. Es war ein grober Fehler ihn wegzulaſſen.
Er verliert dabei gar nichts, denn der Kainz iſt kein Talent mehr er iſt ein
Genie!“ — Der Vater kennt den trockenen kalten Buchholz. — In Berlin
ſoll es bedeutend billiger zu leben ſein, wie in Leipzig, und von Wien iſt es
auch nicht zu weit entfernt.
Kränkt u. ſorgt Euch um mich keine Minute u. ſeit millionenmal umarmt
und geküßt von Eurem Euch über alles liebenden Joſef.
N
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Reife durch Kanada II
von Arthur Holitſcher
Das Tor der Prärie
en dritten Morgen erwacht man am Nordufer des Lake Superior,
D des Meeres der Mitte.
Die Atmoſphäre trägt ſchon einen Hauch von Steppendunſt mit
ſich, die Zeit geht um eine Stunde zurück, aus der öſtlichen in die Zen⸗
tralzeit.
Port Arthur kommt in Sicht — der „Puls Canadas“ — und die
Merkwürdigkeit Port Arthurs, die rieſigen Elevatoren, Getreidemagazine,
ſind gut zu ſehen aus den Waggonfenſtern. Da ſtehen ſie am Fuß des ſon⸗
derbaren Tafelberges, dieſe rieſigen grauen Röhren, fünfzehn, achtzehn neben?
einander wie Tuben in der Patronentaſche eines Gottes. Oben läuft eine
graue Brücke über ſie weg, links und rechts faſſen ſie hohe, flache Kaſten ha
ein, die fie um einige Stockwerke überragen. Feſtungen find es, alles in
allem. 9
Auf dem Perron zeigt man ſich den größten Getreideelevator der Welt,
Eigentum der Canadian Northern, ſechzehn ſolcher Röhren nebeneinander.
Wenn ſie voll find, liegen da ſieben Millionen Buſhels Weizen, das unge?
mahlene Brot der Welt.
Das Verfahren, nach dem der Weizen behandelt wird dahier, iſt raſch
erzählt: unten laufen die Waggons aus allen Gegenden der Prärie zum
Mund des Elevators zuſammen. Dieſer Mund ſaugt gleichzeitig den In—
halt von neun bis zwölf Waggons auf. Der Weizen rinnt durch Schleuſen
von gewaltigem Umfang in einen Raum zuſammen, in dem ein Syſtem von
automatiſchen Schaufeln die Spreu vom Weizen ſondert. Staub, Spreu,
Unrat wird durch Röhren automatiſch von dem Weizen abgeleitet, der ge—
wogen von Baggermaſchinen in die Höhe gehoben und in die großen grauen
Türme hineingeſchüttet wird. Dort wartet der Weizen dann geduldig darauf,
bis die Welt wieder einmal nach Brot ſchreit.
Es ſind Gebilde wie Wolkenkratzer, dieſe Elevatoren. Sie erinnern mich
zugleich an die Generatoren im Krafthaus an den Niagarafällen. In ihnen
ſammelt ſich die lebendige Kraft der Erde, die erfüllte Hoffnung der ins
Land ſtrömenden Menſchenmillionen.
Die Früchte dieſer Kraft, das Mark dieſer Hoffnung, werden durch
die Geſetze des Handels, des Zwiſchenhandels, der Börſe und der Speku—
lation in die großen Siebe der Wolkenkratzer von Chicago und Neuyork ger
leitet. Die automatiſchen Schaufeln von zehntauſend Bureaus freſſen for
dann das Beſte dieſer Kraft, dieſes Fleißes und dieſer Menſchenhoffnungen
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in fich hinein, ſchlingen fie in ſich hinein, behalten fie in ſich zurück. Die Welt
mag ſich derweil weiter heiſer ſchreien vor Hunger.
On Winnipeg rühre ich mich einen ganzen Tag lang nicht aus dem Bahnhof
heraus. Auf der ganzen Welt kenne ich keinen Ort, hab ich an keinem
verweilt, der mich derart fasziniert hätte, wie der Bahnhof von Winnipeg.
Er iſt ganz voll, zum Überſtrömen voll und geſättigt von allen Strömen,
die durch die Menſchenherzen ziehen.
Hier kommen aus allen Teilen der Welt die Menſchen an, die die Erde
ſuchen und auf die die Erde wartet. In der Wartehalle ſtehen auf großen
Tafeln die Züge verzeichnet und die Schiffe des Atlantiſchen Meeres, deren
Menſchenfracht im Laufe des heutigen Tages hier auf dieſe Bahnhofshalle
ausgeſchüttet werden wird. Und die die große Prärie da draußen ſchon er—
wartet, ſeit Erſchaffung der Welt, ungeduldig und bräutlich.
Die „Teutonic“, „Jonian“, die „Caſſandra“ find vorgeſtern und vor-
vorgeſtern in Montreal und Quebec eingetroffen. Die Züge, die ihre Paſſa—
giere mit ſich bringen, werden um ein Viertel vor Elf da ſein. Eine Stunde
ſpäter treffen die „Homeſeekers-Trains“, die Züge der „Heimats-Sucher“
ein. Alle zehn Minuten kommen Koloniſten-Züge an und entladen ihren
Inhalt von ſtarken, ernſten und gefaßten Männern, ſtaunenden, übermüde—
ten Frauen und ſchlafenden oder weinenden Kindern. Ich gehe zwiſchen der
rieſigen Wartehalle und dem Perron hin und her, ſehe auf die Uhr und
weiß von jedem Zug: dieſer bringt die Leute der „Caſſandra“, dieſer kommt
aus St. Paul, dieſe Leute da ſind die dreißigtauſend Erntearbeiter, die
Manitoba braucht, die dort ſind die Heimſtätten-Sucher, die Homeſeekers
— ich erwarte ſie, ergriffen und aufgeregt, all die Tauſende, von denen ich
nicht einen kenne, von denen nicht einer mich auch nur im entfernteſten
angeht.
Hier auf dieſem Bahnhof habe ich das Gefühl wahrhaftigem Leben, zwin—
gendem Schickſal gegenüber zu ſtehen. Während mich ſonſt auf Bahnhöfen,
angeſichts der hin- und herſchießenden, mit Körben und Taſchen und
Schachteln aufgeregt hantierenden Reiſenden oft und oft die Vorſtellung
lachen macht: daß die große Mehrzahl all dieſer ſich Tummelnden ebenfogut
daheim bleiben und verſauern könnte.
Und meine eigene Wanderluſt, wie kommt mir die plötzlich kleinlich und
unwahrſcheinlich vor und wie in bengaliſcher Beleuchtung — während da
die Heimatſucher an mir vorüber ziehen zu den Ausgängen.
Sechs kleine Kinder in Schafsfell-Pelzen mit hochroten Mützchen auf
ihren ſchneeweißen Köpfen ſitzen auf einem Haufen Bettzeug. Um ſie herum
iſt ein Feſtungswall von Koffern, Kiſten mit Hausgerät, Kinderwagen und
rieſigen Körben mit Wäſche errichtet. Die Eltern ſind ins Einwanderer—
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bureau, zum Billettſchalter, zum Konful gelaufen. Wie hätten fie all das
Kleinzeug mitſchleppen können? Da ſitzen nun die Kleinen in ihrer Feſtung,
die bewegliche Habe der Familie bewacht ſie und ſie bewachen die bewegliche
Habe der Familie. Neugierig und gar nicht ſchüchtern blicken ſie auf all die
Leute heraus, die an der Feſtung vorüberlaufen und von denen keiner ihre
Sprache ſpricht.
Auf einer Bank gegenüber der Tür, die zum Landbureau führt, ſitzt eine
junge ſlovakiſche Bäuerin. Sie hat ein gelbes Kopftuch umgebunden,
und wiegt einen Säugling, der in ein knallrotes Tuch eingewickelt auf ihren
Armen ſchläft. Sie hat einen Meſſing⸗Ehering am Finger; die junge Eng⸗
länderin auf der Bank drüben hat keinen Ehering an dem Finger. Auch ihr
Baby ſchläft auf dem Schoß der Mutter, die hübſch in einen weißen Swea⸗
ter, braunen Rock angezogen iſt und einen modiſchen Federnhut auf dem
Kopf hat wie die Frauen der Mittelklaſſe überall auf der Welt. Sie warten
auf ihre Männer, die Slovakin auf ihren Slovaken, die Engländerin auß
ihren Engländer. Die Slovakin hat ein Bündel neben ſich liegen, das iſt
ihr Hab und Gut; die Engländerin drüben hat einen richtigen Handkoffer
von Leder neben ſich auf dem Boden ſtehen.
Nicht weit von ihnen beginnt auf einmal ein großer brauner Bauern—
lümmel mit über dem Topf geſchorenem Flachshaar und geſticktem Hemd
die Kamarinskaja auf feiner Ziehharmonika zu ſpielen. Ein paar an⸗
dere Bauernkerle tanzen, auf ihren Säcken ſitzend, ohne aufzuſtehen, mit
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wild ſtrampelnden Beinen die Kamarinskaja mit. Volk ſammelt ſich um
die Ruſſen an, lacht, ſpricht in allen Sprachen der Welt durcheinander.
Das Slovakenkind iſt aufgewacht von dem Lärm und fängt gottsjäm⸗
merlich zu heulen an. Die junge Mutter blickt puterrot um ſich, ob ihr
Mann denn nicht bald kommt? Dann, als ſie nicht mehr weiß, wie ſich zu
helfen, knöpft ſie ihre Bauernjacke auf und gibt ihrem Kind die Bruſt. Die
junge Engländerin drüben hat dieſelbe Not mit ihrem Baby. Beide Kleinen
heulen in derſelben Sprache dasfelbe Lied. Die Mutter des kleinen Englän-
ders errötet aber erſt, als ſie ihren Sweater aufknöpfelt und ihrem Kind den
Mund auf die gleiche Art ſtopft, wie die Slovakin auf der andern Bank.
Die beiden Mütter blicken ſich über ihren bloßen Brüſten lächelnd und
freundlich an. Sie ſind beide noch ein bißchen rot im Geſicht; ſie zeigen
ſich, wie gut ihre Brüſte ſind, ziehen das Hemd ganz weg von ihrer
Bruſt; und die Röte iſt gar nicht Schamröte auf ihren Geſichtern, ſondern
Stolz. —
Neben dem Bahnhof, ſo, daß jeder der ankommt, ob er ſie braucht oderg.
nicht, ſie ſofort ſehen und finden muß, ſind die Bureaus, die Informations-
halle und die Logierhäuſer des ſtaatlichen Einwanderungsamtes gelegen.
Beamte, an ihren Mützen gleich zu erkennen, freundliche und vertrauen ?
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erweckende Männer, die alle Sprachen der Erde fprechen, erwarten die An—
Ekömmlinge und geleiten fie in die Halle, die Bureaus und die freien Logier—
häuſer. Dort können fie ihre Papiere vorweiſen, ihre Wünſche vortragen,
dann ihre müden Glieder eine Nacht lang auf ſauberen Betten zur Ruhe
legen — und morgen früh werden ſie dem Land entgegenfahren, das
ihnen gehört von dieſem Morgen an!
Nein, wirklich — ich kann mir beim beſten Willen fo bald nichts der-
maßen Einladendes, Mut und Hoffnung Weckendes, Wohlgefälliges vor—
ftellen, wie es die Halle iſt im Einwanderungsamt zu Winnipeg. Die gehetzten,
von der tagelangen Reiſe durch Stein und Waſſer und verbrannte Wälder
matt und irr gewordenen Augen der Menſchen klären ſich, werden hell,
ſicher und froh, wenn die Menſchen in dieſen ſchönen lichtdurchfluteten, mit
Ahrenbündeln, Früchtefeſtons und allen Zeichen der Fruchtbarkeit geſchmück—
ten Raum eintreten.
Etwas Feſtes, Selbſtbewußtes, Forderndes glänzt auf in dieſen Augen,
die daheim ſich nur halb aufzutun gewagt haben. Der Armſte, der gewohnt
war, zu bitten, zu betteln, fortgeſagt und wahrſcheinlich noch verhöhnt zu
verden obendrein, wenn er Arbeit um Brot eintauſchen wollte, in der
ten Heimat“ — hier, das weiß er, iſt er der Erwartete, der Willkom—
ene, ein Notwendiger, Mützlicher, wieder ein Menſch gewordenes Geſchöpf
oktes.
Er wird mit gutem Blick und aufrichtigem Wort empfangen an der
Schwelle dieſes Landes, das von Fruchtbarkeit faſt berſten will und mit
Menſchen unterernährt iſt; das iſt es.
Der Beamte, der ſeine Heimatsſprache ſpricht, fragt ihn nach ſeiner Be—
ſchäftigung im alten und Begehr im neuen Land. Eine Landkarte, die in
winzige Quadrate eingeteilt iſt, wird ausgebreitet zwiſchen dem Einwanderer
und dem Beamten. Der Bleiſtift des Beamten zeichnet irgendwo ein Viereck
| in dieſe Landkarte, der Ankömmling erhält ein rotes Papier, er muß jetzt
nur ſeinen Binkel aus der Gepäckshalle holen und ſein rotes Papier gut in
die Taſche ſtecken. In einer Stunde hat er das erreicht, wonach ſich ſeine
Träume im grauſamen alten Land jahrelang verzehrt und zerfleiſcht haben.
Er hat Land und Brot für ſich und fein Weib und fein Kleines erhalten.
Er hat jetzt nur noch zu arbeiten.
Wenn ich will, brauche ich mich bloß in die Reihe mit den anderen zu
ſtellen, meinen Paß aus der Taſche zu ziehn und morgen ſitze ich auf meinen
160 Acres und bin ein gemachter Mann, ſtatt eines Bücher ſchreibenden
und ſich aus unſicheren Quellen ernährenden Proletariers. Den jeder von
dieſen Beſitzern eines roten Papiers mit Mißtrauen und einigermaßen be—
S gründeter Verachtung von der Seite her anſchauen darf — während er, der
| Feſte und Sichere, mit wuchtigen Schritten zur Tür hinausmarſchiert!
1
u
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Der Settler N
ED Schlüſſel zur Prärie hat Herr J. W. Greenway, Commiſſionern
of Dominion Lands im Miniſterium des Innern zu Ottawa in der
Taſche, ein überaus liebenswürdiger Mann, dem ich die beſten Informatio⸗
nen und mehr Empfehlungsſchreiben, als mein Koffer faßte, verdanke. An
der Pforte der Prärie ſteht aber als Türhüter Herr Bruce Walker, Com
miſſioner of Immigration zu Winnipeg, eine Perſönlichkeit, die ſchon über
das menſchliche Maß hinaus zu einem Mythus in die Höhe und Breite
gewachſen iſt. Dieſer behagliche, rundliche Mann ſtellt unter der Maske eines
ſtarkbeſchäftigten Amtsvorgeſetzten das leibhaftige Schickſal von Millionen
von Menſchen vor und gewiß wird fein gut ſchottiſcher Name nach Son—
nenuntergang all über die weite Prärie in zehntauſend Gebeten gleich nach
dem lieben Gott und dem guten König Georg genannt!
In Ottawa und Winnipeg habe ich theoretiſchen Unterricht in der Kunft,
ein Settler zu werden, erhalten, und habe dann in den drei großen Weizen⸗
ländern, den Provinzen Manitoba, Saskatchewan und Alberta, die ungefähr
drei Viertel des für Agrikulturzwecke geeigneten Bodens von Nord-Amerika
umfaſſen, Anſchauungsunterricht über alles weitere Wiſſenswerte empfangen. 0
Wenn Sie die Landkarte von Kanada anſehen, werden Sie bemerken, daß 1
die erwähnten drei Provinzen auf genau dieſelbe Weiſe durch gerade Striche
voneinander abgetrennt ſind, wie die meiſten Staaten der Union.
Die Landkarten, auf denen der Einwanderer zugleich mit dem Beamten
ſich fein Stück Land ausſucht, iſt ganz auf dieſelbe Weiſe durch gerade Hoch
und Querlinien in Vierecke eingeteilt. Dieſe Einteilung beruht auf einer Fla
chenberechnung von ſechs engl. Meilen im Geviert. Der Name dieſes Ge—
vierts ift: a Town ship, ein Stadtgebiet. Es iſt in 36 Vierecke zerſchnitten,
zu 640 Acres d. h. einer engl. Quadratmeile jedes, jedes dieſer Vierecke in vier
gleiche Teile von je 160 Acres. Die Regierung hat von dieſen 36 Vierecken
16 als freies Heimſtättenland zu vergeben, 16 gehören, wie früher erwähnt,
der C. P. R. (ich ſpreche von den Strecken in den Weizenländern, die dieſe
Bahn erſchloſſen hat), 2 der Hudſon-Bay-Company, der großen Handels⸗
geſellſchaft, der Canada vor der „Entdeckung Canadas“ in Wahrheit als
Eigentum gehört hat und die reſtlichen 2 Vierecke ſind Schulland.
Dieſes Wort „Schulland“ iſt natürlich nicht ſo zu verſtehen, daß da auf
1280 Acres in jedem Town ship eine Schule ſteht und weiter nichts, freies
Land um die Schule herum. In Kanada ift die Einrichtung getroffen (nach dem
Muſter der Staaten, wie man mir ſagte,) daß in einem bewohnten Um⸗
kreis von je 5 Meilen eine Schule errichtet iſt, in der eine junge Lehrerin den
Kindern aus den Farmen Leſen, Schreiben, Rechnen und Nationalgefühll
beibringt. Das Land um dieſe ſchmucken Schulhäuschen iſt ſehr viel wert
und ſteht höher im Preiſe noch als die Ländereien der Canadian Pacific und
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der Hudſons⸗Bay, über die der Settler, wenn er einmal zu Geld gekommen
iſt, kraft ſeines Geldbeutels verfügen kann. Der Ertrag aus dem Verkauf
dieſer Schulländer kommt der Schule zugute, die die Regierung erhält.
Der Settler kommt nun in dem fremden, weiten Lande an, das auf ihn
gewartet hat ſeit Erſchaffung der Welt. Es iſt jungfräulicher Boden, die
Prärie hat nie die Pflugſchar in ihren Eingeweiden geſpürt. Ich will an—
nehmen, dem Settler ſind, nach dem er die Überfahrt und die Reiſe ins
Innere bezahlt hat, in Winnipeg auf dem Bahnhof grad noch fünf Dollars
in der Taſche geblieben. Mit denen ſoll er ſein neues Leben als Grund—
beſitzer beginnen.
Nun, er wird ſich natürlich mit ſeinen 5 Dollars nicht gleich auf die
160 Acres ſetzen, die ihm gehören und mit den Fingern den Boden auf—
wühlen, der ihm zu feiner Exiſtenz verhelfen ſoll. Sondern er wird am beſten
als eine „Farmhand“, als Landarbeiter, auf der Farm eines beginnen, der
ebenſo mit 5 Dollars angefangen hat, wie er.
Auf dem Bahnhof ſteht zwiſchen der Einwandererhalle der Regierung
und dem Landbureau der Canadian Pacific eine Holzhütte, deren Wände
mit Plakaten bedeckt ſind.
PR Erntearbeiter geſucht.
Gilbert Plains 50
| Gladſtone 20
Teſſier 100
* Roblin 90
* Humboldt 50 uſw.
Dies Plakat iſt mit Dutzenden anderer um 8 Uhr früh ausgehängt
worden, um 10 find ſchon zwei Züge angekommen und hinter dem Orts—
namen Teſſier ſteht die Ziffer 20, alles übrige iſt geſtrichen.
Drin in der Stadt gibts unzählige Arbeitsbureaus, ja es gibt um den
Bahnhof kleine Straßen, in denen ein Vermittlungsbureau neben dem an—
dern iſt.
Ich notiere mir einige Löhne.
Dreſcher 2] Dollars den Tag; Farmkutſcher 2¼ Dollars den Tag;
Farmarbeiter 45 Dollars monatlich; immer Koft und Unterkunft einbegriffen.
Dieſe Löhne beziehen ſich auf die Arbeit während der Erntezeit. — Mühlen—
arbeiter 2) Dollars den Tag; Bautiſchler 25 Cents die Stunde; Bahn—
arbeiter 2¼ Dollars den Tag, Sägereiarbeiter 4 Dollars den Tag; Kohlen—
bergleute 55 Cents pro Tonne; Holzfäller 2¼ Dollars den Tag; Brücken—
bau⸗Leute 2¼ Dollars den Tag nebſt Verpflegung; Koch 65 Dollars
monatlich; Vormann auf Farm 75 Dollars monatlich.
Dtäier Mann mit ſeinen 5 Dollar kann ſich alſo irgendwo als Knecht ver—
dingen. Ein Farmarbeiter, der nicht nur während der Erntezeit dient und
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gebraucht wird, ſondern das ganze Jahr bleibt, kann auf einer Durchſchnitts⸗
farm 25 bis 35 Dollars den Monat verdienen. Am beſten iſt er dran,
wenn er ſich auf einer Farm verdingt, auf der er die Praxis von der Pike
auf erlernt. Arbeitet er und verſteht ſich aufs Zurücklegen, ſo wird er
in zwei Jahren 360 400 Dollars fein eigen nennen. Er kann nun
die 160 Acres von der Regierung aufnehmen. Alles wird ihm helfen bei
ſeinem Unternehmen, er mag ſein und herkommen, wo er und was er mag.
Iſt er als guter Arbeiter bekannt, wird man ihm den Kredit, den er braucht,
aufzwingen. Zuerſt braucht er ein Paar Ochſen, einen Pflug, eine Egge.
Dann Draht zum Zaun, Werkzeug zum Bau ſeiner Hütte, eine oder zwei
Kühe. All das gibt's auf Kredit zu geringen Zinſen. Landbanken, ſtaatliche
wie private, haben ihre Agenturen und Filialen in den verlorenften Neſtern
der Prärie und ſtehen in direktem Kontakt mit dem Farmer. Im erſten
Jahr kann er ohne jegliche Hilfe, ſofern es nicht anders zu bewerkſtelligen
ift, feine 40 Acres umgebrochen haben. Nun braucht er eine Säemaſchine,
ſpäter eine Erntemaſchine. Y
In Saskatſchewan habe ich Farmen geſehen und von welchen gehört, di
in den erſten Jahren 40 Buſhels (Scheffel) Weizen auf den Acker getrage
haben. Das Land hat einen Humus, deſſen Reichtum ſeinesgleichen ſuch
auf der Erde. Er hat aus der Pflanzenfäulnis und der Verweſung von
Tierkadavern ſeit der Urzeit die Kraft herbezogen, die ihn auszeichnet. Es f
iſt beſſer, wir nehmen nur einen Durchſchnittsertrag von 23 Buſhels pre
Acre an, einen Ertrag, den in Manitoba der vernachläſſigteſte Boden | ach
einer Bearbeitung von 30 bis 40 Jahren noch gelegentlich einer Mittel⸗
ernte liefert. Vierzig Acres bringen alſo dem Neuling tauſend Buſhels ein;
aus ihrem Ertrag kann er, nach Abrechnung der Drefch- und der Fracht-
koſten bis zum Elevator an der nächſten Station, einen Teil ſeiner 1 Bi
bei der Bank abzahlen und neue machen. Die Qualität des Weizens wird durch
Stichproben auf amtlichem Wege durch ſtaatliche Ernteaufſeher beſtimmt.
Es iſt die Regel, daß ein Farmer nach den zwei oder drei erſten Jahren
angeſtrengter Arbeit weitere 160 Acres zu einem nicht allzu hohen Preis
und mit geringer Anzahlung zu ſeinem Land hinzukauft. Der als ein
Armer und Verſtoßener ins Land kam, hat ſich vor dem Hunger und der
Verzweiflung in einen Hafen gerettet, in dem er frei und mit erhobenem
Kopf um ſich blicken kann. Steckt das Zeug in ihm, ſo wird er aus dem
Wunder der Jahreszeiten, das ſich vor ſeinem Häuschen draußen abſpielt
Morgen für Morgen, die Lehre ziehen und das große Allgemeine aus der
Wahrheit erkennen, daß die Arbeit alles iſt und der Beſitz nichts. Viel⸗
leicht wird ſich mit der Zeit bedrucktes Papier von beſſerer Art als das,
worauf der Tagesſchnickſchnack gedruckt iſt, auf dem Tiſch in ſeinem Häuschen
finden. Vielleicht wird in der großen Stille in dem langen Winter Kanadas
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ein Samen in den vielen tauſend Seelen aufgehen, die die Alte Welt grau⸗
ſam verdorren läßt und abtötet in dem ekligen Dunſt der Maffenquartiere.
Von der Heilsarmee und anderen Inſtitutionen
Dies iſt der typiſche Weg des Immigranten, vom Hungertuch zum
Brotkorb.
Natürlich bezieht ſich das Geſagte auf einen beſtimmten Stand, aber den,
deſſen Schickſal, ſo glaube ich, heute die Menſchheit am brennendſten
beſchäftigen und beunruhigen ſollte. Erſt dieſe Frage aus der Welt geſchaffen
und nachher alles andere. Auch hier, in dieſem unerhörten Land, mahlt
die Mühle, von der Dehmel in ſeinem wundervollen Gedicht ſpricht:
„Es wird kein Menſch mehr Hunger ſchreien . . .“ Das Land, das auf
die 92 Millionen wartet, bevölkert ſich nicht raſch. Man kann nichts
Beſſeres tun, als feine Ungeduld der Welt mitzuteilen.
1 Den Überfluß der Welt an Menſchen, den grauſigen Überfluß an armen
und elenden Geſchöpfen, den die ſogenannte Ziviliſation der heutigen
. Ordnung züchtet, über dieſes wartende Land auszuſchütten, die Herrſcher
der Wel könnten nichts Klügeres tun, als dies — einſtweilen. Statt deſſen
I: ſtoßen ſie den Überfluß tiefer und tiefer und tiefer in eine Sackgaſſe hinein,
pumpen dieſe voll mit Alkohol, damit der Überfluß nur ja gründlich erſaufe
und — die Zivilifation ſoll leben, hoch!
n Winnipeg war ich bei einer Verſammlung der Sozialdemokraten.
fm Lande, in dem es dem guten Willen des Einzelnen und nicht
* Notwendigkeit anheimgegeben ift, ob er fein Leben geftalten will oder
nicht, in Kanada iſt heute noch kein Platz für den Sozialdemokraten.
Wenn der Fabrikarbeiter hier für ſeine Klaſſe kämpft, ſo kann man ihm
ſagen: was geht dich deine Klaſſe an? ſei ein Einzelner und kämpfe
vi für dich. Bekämpft eine Klaſſe die andere, fo werden fie im beſten Fall
. die Plätze tauſchen; aber wie läßt ſichs am beſten gegen das Erbübel, die
Klaſſe, kämpfen? Man kann dem Fabrikarbeiter in Winnipeg mit Fug
weiter das Folgende ſagen: Kennſt du nicht den Weg zu Mr. Bruce
Walker? ich will ihn dir zeigen. Geh aufs Land und werde ein Farmer.
Wenn in der Stadt Not an Fabrikarbeitern ſein wird, wird ſich ihr Los
7 von ſelber beſſern. Geh aufs Land zum Nutzen deines Standes.
| Aber, wenn ich fo zu dem Fabrikarbeiter fpreche, fo muß ich mich auf
die Möglichkeit gefaßt machen, daß er mir ins Geſicht lacht und antwortet:
Alldas, was du Dahergereiſter da ſagſt, iſt von A bis Z falſch. Kannſt
du mir vielleicht Genaueres ſagen darüber: mit welchen Mitteln die Ein—
wanderung ſpeziell nach den Städten, die Induſtrie-Zentren find, betrieben
wird? Künſtlich betrieben wird? Mit welchen Mitteln es die Induſtrie,
die von dem Überſchuß des Angebotes über die Nachfrage nach Arbeits—
*
—
kräften lebt, allerorten zuwege bringt, daß das Proletariat ſich ſchon in dieſen
Städten, die mitten im Reichtum liegen, breit macht und anſchwillt zum
Entſetzen? Bleibe du gefälligſt erſt zwei Jahre hier feſt ſitzen; nachher
magſt du dann reden, bis dahin aber halte gefälligſt den Mund!
Mann auf dem Podium, fahre fort. Ich hör ſchon zu. —
Wie ich ſchon ſagte, die Länder der Welt bekunden geringes Intereſſe
daran, ihre Armen in das reiche Land zu ſchicken (das Proletariat der
großen Städte kann bei dieſer Bemerkung nicht mitzählen). Ein Rund⸗
gang durch die hölliſchen Vororte von London, Dublin, Liverpool bringt
einem an allen Straßenecken den Namen Kanadas auf die Lippen. Sonder⸗
bar iſt es, daß es hier, obzwar natürlich nächſt der Einwanderung aus den
Staaten, jene von den britiſchen Inſeln die ſtärkſte iſt, keine engliſche Ein—
wanderung im eigentlichſten Sinne, ſondern eine iriſche und ſchottiſche gibt.
Die O's und die Mac's ſind es, die, direkt oder ſchon auf dem Umweg
über die Staaten von den Weizenländern des Weſtens in Scharen Beſitz
ergreifen. Wales, Cornwall, der Oſten Englands verhält ſich ſtill. Die
Ziffern der reichsdeutſchen Einwanderung, die man mir im Konſulat i 1
Montreal genannt hat, waren ganz lächerlich geringe. Ich kann mir d
erklären — die geſegneten Kolonien des Deutſchen Reiches bieten wahr-
ſcheinlich dem deutſchen „Überfluß“ verlockendere Perſpektiven als die eng⸗
liſche Dominio . .. Nächft den britiſchen Inſeln und den Vereinigten
Staaten ſtellen die ſlaviſchen Länder Europas das ſtärkſte Kontingent für
die Einwanderung nach Kanada. 3
In den Konſulaten der öſterreichiſch-ungariſchen Monarchie habe ich mich
mit Intereſſe nach Daten über die Einwanderung aus Ungarn erkundigt und
habe da die rätſelhafte Auskunft erhalten — es gäbe keine. Ich habe nun
und in den Staaten gehört, mit welchen Mitteln die Agenturen gewiſſer
Dampfſchifflinien, z. B. der Cunard-Line, deren Schiffe von Fiume nach
Häfen der Union laufen, die Auswanderung der ungariſchen Kroaten,
Slovaken, Rumänen und Magyaren nach den Vereinigten Staaten
betreiben. (Sie würden gewiß etwas vorſichtiger zu Werke gehen, wenn ſie
bei ihren Manövern nicht durch die ungariſche Regierung gedeckt würden.)
Alſo warum gibt's keine ungariſche Einwanderung in Kanada?
Als ich dieſe befcheidene und höfliche Frage in den Konſulaten verlauten
ließ, erhielt ich zwar keine Antwort, jedoch es wurden mir die bewußten
überlegenen Amtsmienen gezeigt, welche einem immer entgegenſtarren, wenn
man eine den Staat gefährdende Indiskretion begangen hat oder begehen
möchte. Erſt in Winnipeg löſte mir ein freundlicher magyariſcher Seel-
ſorger dieſes Rätſel auf die einfachſte plauſibelſte Weiſe.
Die Ungarn, d. h. ungariſchen Staatsangehörigen, die nach den Gebieten N
felber in ungariſchen Broſchüren geleſen und von berufenen Leuten in Europa A
526
der Union wandern, fuchen dort fo raſch wie möglich zu Geld zu gelangen
(oft ſogar durch eine frevelhafte und auch auf künſtlichem Wege hervor—
gebrachte Unterbietung der Löhne). Sie packen dann, wenn ſie notabene
noch am Leben ſind, ihre blutig erworbenen Dollars in ihr Taſchentuch
und machen zurück in die Heimat, wo's ihnen alles in allem beſſer be—
hagt. In Kanada, im engliſchen Land aber lauert die Gefahr, daß es den
Ungarn doch noch beſſer gehen könnte, als in ihrem eigenen gelobten Land
daheim; und tatſächlich, die Ungarn, die nach Kanada kommen, ziehen es
vor, in Kanada zu bleiben und ihre Taſchentücher der engliſchen Sitte
gemäß und nicht als Bankkonto zu gebrauchen. Die Regierung unterſagt
alſo ſtillſchweigend und mit Nachdruck die Auswanderung nach Kanada.
Das iſt ein amüſantes Exempel.
Im Zenſusjahr 1909/10 kamen 208 O0 Menſchen nach Kanada.
Davon waren 6oooo britiſche Untertanen, 103 000 aus den Staaten, der
Reſt, 45000 Menſchen, gehörte 62 Nationalitäten an. 1910/11 find
325 ooo Menſchen ins Land gekommen. Wie man mir in Ottawa ſagte,
iſt die Einwanderung im Frühjahr dieſes Jahres 19 11 die außerordentlichſte
en, die Kanada je geſehen hat.
We die Heilsarmee betrifft, ſo kann man von ihr denken, wie man
will. Ich werde keinem widerſprechen, der ihre äußeren Methoden
als abſtoßend bezeichnet, und wenn einer mir vorhält, daß ihre Ausbeutung
der Arbeitsloſigkeit an vielen Orten eine fatale Verſchlechterung der Arbeits—
löhne in gewiſſen Gewerben zur Folge hatte, ſo werde ich ihn nicht gut
Lügen ſtrafen können. Aber was ſie für die Auswanderung bedürftiger
Leute aus den britiſchen Inſeln nach Kanada geleiſtet hat und leiſtet —
das zwingt Bewunderung und Reſpekt ab für dieſe Inſtitution und das
1 Genie, deſſen Gehirn ſie entſprang, den alten ſchlauen Apoſtel Booth. Sie
hat auch längſt die Klippe einer Wohltätigkeitseinrichtung umſchifft und
ſegelt, ſehr zu ihrem Heile, unter der Flagge einer ſozialen Macht, die aus
unſerer heutigen Ordnung gar nicht mehr weggedacht werden kann.
Der Weg, den ich beſchrieben habe, den der unbemittelte Ankömmling
von ſeiner Ankunft bis zur Übernahme ſeines eigenen Landes zu gehen hat,
iſt ein ziemlich ebener und die Heilsarmee ebnet ihn noch dem Arbeits⸗
willigen, der ſich ihrem Schutz und ihrer Vermittlung anvertraut. Aber
nicht nur für dieſen bedeutet ſie eine gute Vorſehung, ſondern auch für den
Farmer, der auf die beſchriebene Art immer wieder ſeinen tüchtigen Knecht
verliert und ſich oft in der Zeit, in der er am ſchwierigſten zu entbehren iſt,
nach Erſatz umſehen muß. Die untere Schicht muß immer wieder nach—
gefüllt werden und dies beſorgt zum großen Teil und mit ihrer bewunderungs—
würdigen Organiſation die Heilsarmee.
27
Ihr Syſtem des Arbeitsnachweifes und der Verſorgung des Farmers
mit Arbeitswilligen aus den britiſchen Inſeln hat ſich in großartiger Weiſe
bewährt. In Toronto ſind die „Headquarters“ der Heilsarmee und dort
hat mir Brigadier Morris die Logierhäuſer und Mädchenheime der Armee
gezeigt, die Bücher gewieſen, in denen Angebot und Nachfrage in über⸗
zeugenden Ziffern verzeichnet ſtanden, Briefe der Verſorgten und alles
mögliche ſtatiſtiſche Material vorgelegt.
In den letzten 7 Jahren hat die Armee fünfzigtauſend Menſchen herüber⸗
gebracht. In vielen Fällen hat ſie ihnen das Überfahrtsgeld vorgeſtreckt.
Speziell nach Dienſtmädchen herrſcht in allen Teilen Kanadas verzweifelte
Nachfrage. Es iſt ein Männerland und was fängt ein Farmer ohne Frau
an auf ſeiner Farm, auf der doch jemand nach dem Kleinvieh und der
Wirtſchaft ſehen muß. Die Armee ſichert den meiſten, die ſie herüber⸗
bringt, eine Quelle feſten Erwerbs, für ein Jahr ungefähr, ſo daß der
Arbeits willige die Heimat ſchon als fertiger Kanadier verlaſſen darf. Zur
Srühjahrszeit treffen Schiffsladungen voll Menſchenmaterials in Kanada 44
ein, von Offizieren der Armee perſönlich geführte und geleitete Geſellſchaften,
die dann auf die angenehmſte und ſicherſte Weiſe an ihren Beſtimmungs⸗
ort befördert werden. (Im Zeitraum vom 1. Juni bis 3 1. Oktober 191 7
hatte die Armee laut der „Emigration Gazette“ auf 97 Schiffen den
Canadian Pacific, Allan, White Star und anderen Linien Emigranten⸗
gruppen unter ihrer Obhut, davon auf 36 Schiffen perſönlich geführte
Geſellſchaften.) e
Weniger kümmert ſich die Heilsarmee um die direkte Koloniſation 1
Leute in Kanada. Sie find eben von den Armſten, von den 5 Dollar- oder
keinen Dollar⸗Leuten, die als Farmhände beginnen müſſen. Immerhin bat
die Heilsarmee eine II. Klaſſe von Einwanderern, die mich recht ſehr inter-
eſſiert hat und über die ich vom Brigadier bereitwillige Auskunft erholten.
habe.
Die große Mehrzahl der Heilsarmee⸗Schützlinge fährt III. Klaſſe, kommt
in Quebec an und wird dort ſofort nach den Gegenden verladen, wo ſie
gebraucht wird und ihr Leben begründen kann. Klaſſe II aber kommt in
Montreal an und ſieht dann auf eigene Fauſt zu, wie ſie weiterkommt.
Dieſe II. Klaſſe beſteht zum großen Teil aus kleinen Clerks, kleinen
Kaufleuten und Duodez⸗Kapitaliſten, Geiſtlichen und Militärpenſionären.
Sie enthält aber auch zu einem nicht geringen Prozentſatz Leute, die von
ihren Angehörigen oder Freunden mit etlichem Geld verſehen und mit vo
geheimen Wunſch und Abſchiedsſegen, der Teufel möge fie holen, in d
Ferne ſpediert worden ſind. Es ſind die „jüngeren Söhne des Lebens
Brigadier Morris verſteht nicht recht, was ich damit meine. Ich aber weiß
es recht gut, was es mit dieſen „jüngeren Söhnen“ auf ſich hat, und ver⸗
528
*
* 1
” ‚|
ſpreche dem Brigadier, ich werde in der „Neuen Rundſchau“ Propaganda für
dieſe II. Klaſſe machen. Ihm iſt die III. Klaſſe lieber; mir auch. Die Leute,
die um zu arbeiten nach Kanada gekommen ſind und von denen die Armee
nach —z Monaten nichts mehr hört, weil fie gut und ſicher verſorgt find,
keine Hilfe mehr benötigen und ihre Schuld an die Uberfahrtskaſſe bald
ganz abgetragen haben werden.
. II. Klaſſe aber, überhaupt die geſamte „zweite Klaſſe“ der Immi—
granten nach Kanada ſind Menſchen, die aus verſchiedenen geiſtigen
Berufen herüber zur Erde kommen. Unter der Schar der Bureaufklaven
finden ſich Künſtler und Gelehrte, Orford- und Cambridge-Leute, Schau—
ſpieler und die „Uberflüſſigen“ der intellektuellen Welt.
Legenden find im Umlauf von ganzen Kolonien aus einem der erklufivften
Kolleges von Cambridge, die jetzt im weſtlichen Alberta, in der Gegend von
Lloydminſter ihren Weizen bauen. Legenden von Ranchern, Poliziſten und
Cowboys, von denen ſpreche ich ſpäter.
Fur dieſe und ähnliche Arten von Koloniften hat die Canadian Pacific
Railway in ihrem Syſtem der Ready made farms, der vorbereiteten
Farmen, geſorgt.
Ea iſt dies eine überaus praktiſche Idee, will mir ſcheinen, Kanada dankt
fie Sir Thomas O' Shaugneſſy, dem Präſidenten der C. P. R.
In der Gegend um Irricana, dem gewaltigen, künſtlich bewäſſerten
Territorium zwiſchen Edmonton und Calgary, an einer Seitenlinie der
C. P. R., ſind dieſe vorbereiteten „fertigen“ Farmen gelegen. Wie viele
IJTauſende Eultivierter, empfindlich geborener oder gewordener Menſchen laffen
e her ihr Leben verderben, als daß fie ſich den Strapazen auszuſetzen wagten,
die der Beginn eines neuen Lebens, in einem fremden, weiten, unbekannten
Land mit ſich bringt? Menſchen, denen es an Geld nicht fehlt zum Anfangen,
nur an Mut. Auf der Ready made farm finden ſie ein hübſches Haus,
das warm und gut gebaut auf ſie und die Ihren wartet, eine Scheune mit
Maſchinen, einen Stall mit Vieh, und den beſten Boden, den keiner noch
bebaut hat vor ihnen. Eine Märchenfarm, ein Tiſchlein-deck⸗dich für
den ziviliſationsmüden Städter, der zur Erde wiederkehren will.
„FFC EN
| Wi von der Heilsarmee geſprochen, ſo muß man auch einige andere
Inſtitutionen geringeren Umfangs, aber ähnlicher Tendenz erwähnen.
So z. B. die berühmte Stiftung des Dr. Barnardo in London, die Heime
und Schulen für verwahrloſte Kinder, die im Eaſt End Londons unendlich
viel Gutes getan haben. In all den großen Städten Kanadas habe ich Bar—
N nardo⸗ Heime gefunden; große Scharen von Kindern werden herübergebracht,
kinderloſe Farmer nehmen ſich der Armſten an und manch ein Barnardo—
5209
junge fißt heute als Herr auf dem Gute, daß feine Pflegeeltern bewirt⸗
ſchaftet haben, als er ihrer Obhut und gutem Willen anvertraut wurde vor
Jahrzehnten. Die Zentralleitung der Stiftung bleibt immer in Verbindung
mit dieſen Kindern, weiß, wo ſie ſich befinden und wie es ihnen geht.
Das nach der Philanthropin Annie Macpherſon benannte Heim in Strat⸗
ford, Ontario, hat ſich eine ähnliche Aufgabe geſtellt und erfüllt ſie in
kleinerem Umfange als die Barnardohomes. Sie verſorgt die Farmer
Ontarios in einem nicht zu weiten Umkreis um Stratford mit ihren Pfleg⸗
lingen und hat ſo ſtets direkte Fühlung mit dieſen Kindern. In Berlin
bemüht ſich Fräulein Nisbet, deutſche Kinder, denen das gut bekäme, durch
Vermittlung des Macpherſon Home in junge Kanadier zu verwandeln.
All dieſe Inſtitutionen gehören, wie die bekannten Studentenſiedlungen
in den Vierteln des Londoner und Newyorker Elends, weſentlich ins Kapitel
der Wohltätigkeitseinrichtungen, einer Erfindung der bürgerlichen Klaſſe,
die glaubt, auf ſolche Weiſe quitt zu ſein für die Sünden, die ſie an den
Unteren begeht. Mit der rechten Hand die Menſchheit knebeln und mit der
linken ihr den Angſtſchweiß von der Stirne wiſchen. „Schneeballen in den
Höllenſchlund werfen,“ damit es denen dort unten nicht zu heiß werde! *
Irgendwie fühle ich aber, daß die Wohlfahrtseinrichtungen, deren Tätig 7
keit nach Kanada hinüberſpielt, einen Teil ihres odiös bürgerlichen Bei⸗
geſchmackes verloren haben. Auf alle Fälle hat es, wie ich erwähnte, die
Heilsarmee vorzüglich verftanden, ihre Miſſion in der unverfänglichſten Art
als reines Agenturgeſchäft auszuüben. Sie befördert alle ihre Leute herül er,
ohne nach Name und Art zu fragen, und ich habe von Leuten gehört, die
die Brigadiers und Majore ausdrücklich verſicherten, daß fie die Anſchau⸗ Be
ungen der Heilsarmee keineswegs teilten, und ſomit der Verdünſegu 4
die die Armee gewährt, vielleicht gar nicht teilhaftig werden dürften. Die
Soldaten haben darauf, mit dem Heilsarmee-Lächeln auf ihren Geſi ichtern, 1
dieſe allzu Gewiſſenhaften verſichert: das ſei gar nicht nötig, ſie würden Ri
auch fo hinübergenommen.
Ich kann jedem, der mich anhören will, den guten Rat geben, es zu
machen, wie ich: werde ich zum Mitſingen des Liedes:
„The old, old story is true ..“
oder gar zum Niederknien vor der Bußbank aufgefordert, ſo lehne ich dieſes
Anſinnen höflich und entſchieden ab. Kommt aber das Salvation-Laffie
mit dem Tamburin auf mich zu, ſo habe ich gar kein Bedenken, ihr meinen
Silberling auf das Tamburin zu werfen, denn ihr Werk verdient es! 4
Bei den Mennoniten in Süd-Manitoba
Wenn der Zug im Dörfchen Altona ankommt, iſt das Poſtbureau voll
von Menſchen. Das Poſtbureau iſt zugleich der General⸗-Store, in
530
lich gelegene Bergtaler Gemeinde kamen, fo erzählte man mir, die erften
Mennoniten um die Mitte der ſiebziger Jahre aus Südrußland, wo man
dem man von Salpeter aufwärts bis zu den Nähmaſchinen alles kaufen
kann, was gebraucht wird. Auf einmal bin ich in Deutſchland, höre viele
Dialekte, Platt, Hannoverſch, Oſtpreußiſch und das Deutſch, das in den
baltiſchen Provinzen geſprochen wird. Deutſch von drüben, der alten Hei—
mat, aber gottlob nicht das verhunzte Amerikanerdeutſch, ein Miſchmaſch
aus dem heimatlichen Dialekt und Pankee⸗Slang.
Ich bin noch keine fünf Minuten da und habe ſchon Bekanntſchaften
geſchloſſen. Ich ſoll von Deutſchland erzählen, höre aber lieber denen zu,
die mir von Altona erzählen, denn meine Berichte find mehr auf den Nork—
klub als das Poſtamt dieſes Dörfchens zugeſchnitten.
Altona liegt im Süden des Weizenlandes Manitoba, Manitous Land,
wie die Indianer es benannt haben, des Gotteslandes. Kaum eine halbe
Stunde weit vom Staat Nord-Dakota, deſſen Berge man hinter dem
Städchen Gretna blau aufſteigen ſieht.
Ich bin hier im Stadtgebiet Rheinland und die Dörfchen und Nieder—
laſſungen ringsum heißen Eigengrund, Blumenthal, Schoenhorſt, Berg—
mann, Winkler, Neuhoffnung. Es iſt eine der älteſten Anſiedlungen der
Mennoniten in Amerika.
Die Mennoniten haben es weniger geſchickt angefangen als ihre Schick—
ſalsgenoſſen, die Puritaner. Dieſe haben den Weg England — Holland —
Amerika gewählt, die Mennoniten ſind aber von Holland nach Preußen,
von Preußen nach Rußland gezogen, ehe ſie auf die gute Idee kamen, hieher
zu überfiedeln, wo fie feit so Jahren und darüber in Frieden und Wohlſtand
leben und ihr Land bebauen.
In die „Oſtreſerve“, jenſeits des Redrivers, in die wenige Stunden öſt—
ſie wegen ihrer Verweigerung des Militärdienſtes zu moleſtieren anfing.
1
Altona hat soo Einwohner, in ganz Manitoba find gegenwärtig an die
15 000 Mennoniten.
Der Photograph, er ift mit feiner Familie aus Minneſota hieher über-
ſiedelt, nimmt ſich meiner an und mit ihm beſuche ich den Schmied, den
Landagenten, den Gemeindeſchreiber. Mit ihnen allen ſitze ich am Abend
in den warmen Stuben ihrer hübſchen Häuschen beiſammen. Es ſind gute
und einfache Menſchen und es iſt Genuß, mit ihnen beiſammen zu ſein.
Der Photograph hat einen ſchönen Kopf. Er ſieht wie ein deutſcher Lehrer
aus Schwaben aus, der heimlich Gedichte ſchreibt und an Sonntagen mit
Novalis in der Taſche in den Wald zieht. Eduard von Gebhardt hätte
ſich glücklich geſchätzt, den prachtvollen Wiedertäuferkopf des Landagenten
malen zu dürfen. Schön wie ihre ruhigen und ernſten Geſichter ſind ihre
Namen, die man auf den Schildern der Geſchäfte Altonas lieſt: Frieſen,
531
Coblentz, Joerger, Toews. Ihre Trachten find die der Tradition und der
Sekten, die fi) innerhalb ihres Bekenntniſſes geſpaltet haben. Do find die
Schwarzen, die den Gebrauch weißer Wäſche verpönen; ſie tragen flache 2
ſchwarze Kappen und Schaftftiefel, in denen die ſchwarzen Tuchhoſen ſtecken.
Eine andre Sekte trägt die Hoſen über die Stiefel gezogen und weiße
Wäſche, die aber nicht mit Knöpfen, ſondern mit Haken und Sicherheits-
nadeln zugemacht iſt, denn: 4
„die mit den Haken und Öfen 1
wird Gott der Herr erlöſen.“ 1
Mein Freund, der Photograph, fühlt ſich nicht wohl in Altona und will
früheſtens in Kalifornien, dem Sonnenland, Obſtländer aufnehmen. Das
Klima bekömmt ihm hier nicht. Aber, ich glaube, es liegt auch ein wenig
an ſeinem modiſchen Kragen und hohen Hut. Einer hat einmal ſeinen
Schwager rundherum einkaſſieren geſchickt, der Schwager hatte ein weißes
Hemd an und konnte nur von den Weißhemdigen Geld erhalten, von den
andern aber Knurren und zugeſchlagene Türen. Bis dann ein Schwarzer 1
kaſſieren kam. 1
Indes, es gibt gemeinsame Angelegenheiten, in denen alles, was ſich zu |
Menno Simon bekennt, zuſammenſteht. Gehts einem Bruder oben in der!
Roſthern⸗Reſerve, Saskatſchewan, in den Staaten oder am Schwarzen Meer ö
drüben ſchlecht, dann tun ſich die Hände in all den ſieben Sekten um den
Red River auf. Das größte Haus in Altona iſt das Seminarium, in d *
Miſſionäre und Lehrer ausgebildet werden. Allüberall, wo emen,
hauſen, gibts ſolche Seminarien, und die jungen Prieſter gehen herum u
predigen, lehren die Lehre vom tauſendjährigen Reich, vom aus erwä
Volk Gottes, dem neuen Israel, das felig werden muß vor all den Andı
gläubigen. In Oklahoma, Nebraska, Arkanſas haben ſie rote Indianer
lehrt, ſchwarze Hemden zu tragen. In Indien unter den Hindus gib
Mennoniten. 15
Den Leuten in Rheinland dahier liegt nicht ſo ſehr viel an der Gering
neuer Seelen. Sie machen keine Proſelyten, enthalten ſich jeglicher Pro⸗
paganda, einſchließlich der Propaganda in politiſchen Dingen — zum
größeren Teil.
Mein Freund, der Photograph, hat in ſeinem Laden einen Aufruf an die
Farmer, für den Liberalen zu ſtimmen, hängen. Er ſelbſt wird nicht wählen,
weil ſein Glaube es ihm nicht erlaubt. Aber lieb wäre es ihm doch, wenn
es Reziprozität mit den Staaten gäbe, weil dann ſein Photographen
material billiger ins Land hereinkäme! Ahnlich wie ihm, ergehts in ande
Beziehung denen, die aus Gründen der Tradition ihre Kinder nur in die
eigenen deutſchen Schulen, die ſie ſich auf ihrem Landgebiet gebaut haben,
ſchicken und ſie die „fremde“ Sprache, das Engliſche, nicht erlernen laſſen.
932
Die Kinder der Fortſchrittlichen, die Engliſch gelernt haben, können auf den
Agrikultur⸗Schulen der Dominion, in den ſtaatlichen Lehrfarmen überall
im Lande lernen, wie der Boden ertragsfähiger gemacht werden kann, —
die Orthodoxen verſtehen ſich auf dieſe Kunſt nicht, ſie bauen ihren Boden
nach der alten Faſſon, minieren ihn, ſtatt ihn zu bebauen, verbrennen aus
Gleichgültigkeit oder Unerfahrenheit ihr Stroh, ſtatt es als Winterſtreu für
ihr Vieh zu verwenden und löſen auf dieſe Weiſe bloß 25-3 Buhſels
von ihrem Acre, ſtatt wie in früheren Jahren 40. Sie laſſen ganze Acres
ſich mit Unkraut bedecken, ſie bebauen kaum die Hälfte ihres Landes. In
Montreal hörte ich die Mär, die Mennoniten gingen nicht in Gegenden, wo
es Wald, Bäume zum Roden gibt, ſondern nach dem Flachland. Sentimen—
kal und ahnungslos ſagte ich mir — die Heimat, die Erinnerung an die
Steppen! Bis man mich dann in Altona verſicherte, daß fie einfach zu faul find,
die Bäume von dem Ackerboden wegzuputzen, und lieber dorthin gehen, wo
das Ackerland fix und fertig, ſozuſagen auf dem Präſentierbrett vor ihnen liegt.
Es geht ihnen gut, manche beſitzen ganze Quadratmeilen beſten Bodens.
Zwei Monate im Jahr gibts zu ſchaffen, der Reſt vergeht in Wohlbehagen,
5 denn die Erde arbeitet oder ruht derweil.
Im Winter eſſen ſie gut, die, denen ihr Sektenglaube den Alkohol nicht
verbietet, trinken noch beffer, halten ſich warm in ihren Häuschen, machen
4 Beſuche beieinander und lobpreiſen den Herrn.
In ihren Stuben liegt der „Nordweſten“, das in Winnipeg erſcheinende
1 80 eutſche Tagblatt, die „Mennonitiſche Rundſchau“, und wenig Bücher.
1 Hier und dort findet ſich ein Harmonium, dort, wo es die Sekte zuläßt,
überall aber rundherum läßt mans ſich gut gehen, lebt in der Familie, ſitzt
beim Ofen und „ſchmokt ſein' Peip!“
Sie ſind ohne Ausnahme arm herübergekommen, in wenigen Jahren hat
das Land ſie reich gemacht, obzwar ſie es ja nicht ausnutzen, wie geſagt.
Legenden ſind im Umlauf von fabelhaften Aufſtiegen. Da ſind die neun
Brüder, die vor einem Jahrzehnt herübergekommen ſind, die neun waren
ſo arm, daß ſie alle zuſammen nur eine Mütze beſaßen — wer die vom
Kleidernagel zuerſt erwiſchte, konnte am Abend ſpazieren gehn, die übrigen
mußten zu Haus bleiben. Jetzt iſt der eine der Brüder 50, ooo Dollars
| „wert“. Vier große rote Getreideelevatoren von Ogilvie und der Lake of
0 the Woods⸗Mühle ſind an der Bahn aufgepflanzt; von dort bis zur Bank
in der Hauptſtraße hat der Farmer nur hundert Schritte zu gehn.
55 Warum bringen ſie denn nicht alle ihre Freunde, Glaubensgenoſſen,
Brüder und Schweſtern aus Südrußland hier herüber? frage ich und be—
komme darauf ein paar Anekdoten zu hören, d. h., was ich zu hören be—
komme, klingt wie Anekdoten, iſt aber eine ſchaurige Enthüllung von Dingen,
die auf dem Grund unſrer heutigen Ziviliſation liegen.
Der Schmied erzählt mir von den Leuten in Südrußland. Er muß es
wiſſen, er kommt ja ſelber aus der Mennoniten-Gegend am Schwarzen Meer,
wo er vier Jahre lang um einen Taglohn von zwanzig Pfennigen gearbeitet
hat. (Jetzt ſteht feine große Schmiede, Wagen und Pferd bei feinem
hübſchen Häuschen, hinter deſſen ſauberen Gardinen blondköpfige Kinder in
den Sonnenſchein herauslachen.) Er weiß etwas vom ruſſiſchen Bauer,
und von der Sinnesart, die dem guten alten Stamm dort drüben im
Heiligen Rußland aufgepfropft wird, zu erzählen.
Er war anno 1910 zum Beſuch drüben. Warum kommt ihr nicht,
wir habens gut, ebenſo gut könntet ihr es haben. Wir bereiten euch den
Weg! Aber ſie verhungern lieber daheim. Sie haben gehört, in Amerika
ſitze der Herr mit dem Knecht an demſelben Tiſch — was muß das für ein
Land ſein? Ein paar von ihnen haben den Verſuch mit Kanada gemacht,
haben es aber nicht ausgehalten und ſind zurück. Dieſe hatten guten Lohn
und freundliche Anſprache. Niemand ſtand mit der Peitſche hinter ihnen er
bei der Arbeit. Da wurden fie mißmutig, legten ſich apathiſch ſchlafen und
dachten, es war beſſer daheim. Erſt wie jemand auf den guten Gedanken an
kam, fie mit Fußtritten zur Arbeit zurückzuprügeln, da wurden ſie munter, 2
da fühlten fie ſich wieder in ihrem Element! Aber fie haben es doch nicht
ausgehalten, ſondern liefen zurück ins Heilige Rußland, in die Sklaverei und
zum Hungertuch. Die Vettern und Baſen daheim beſchnüffeln den Schmied,
wie er in ſeinem guten, modiſchen Rock und Hoſen daher kommt in die
Heimat. Aha, ſagt einer — jetzt verſtehe ich es, warum dort drüben ſo viel
geſtohlen wird, in eurem Amerika. Kein Wunder, wenn ihr ſo viele 5
Taſchen in euren Kleidern habt! Zwei hie, zwei innen, zwei vorn, zwe
hinten — natürlich denken die Leute bei ſolch einem Überfluß an Luce
weiter an nichts als ans Stehlen! 37
Nie nach Amerika hinüber, ſagt eine gute Mutter. Das könnte man g
noch brauchen, den ganzen Tag auf die Kinder aufzupaſſen! Weshalb, wes-⸗
halb denn den ganzen Tag, Matuſchka? Nun, Amerika iſt doch auf allen
Seiten vom Meer umgeben — wie leicht fällt da ein Kind beim Spielen
ins Waſſer! Das Heilige Rußland im zwanzigſten Jahrhundert.
Wie hat ſich dieſer treueſte deutſche Menſchenſchlag in der Freiheit, die
ihm dieſes Land hier gewährt, entwickelt? Der Freiheit, jawohl, denn der
Staat zwingt ſie zu nichts, was ihnen gegen das Gewiſſen läuft. Sie
brauchen ihre Kinder nicht Engliſch lehren zu laſſen, ſie können ihre Religio
frei ausüben, ihre Miſſionäre ausbilden, zum Militärdienſt zwingt ſie en
Sie haben in ihrem Gebiet die vollſte Freiheit. 8
Ich habe mir ein paar Hefte der „Mennonitiſchen Rundſchau“ angeſchafft
und ſie genau von allen Seiten betrachtet. Sie iſt eine Kreuzung vom
„Kriegsruf“ der Heilsarmee und einem primitiven ländlichen Familienblatt
134
mit ſtark bigottem Einſchlag. Sie gilt als das führende Blatt der Menno—
niten in der ganzen Welt. Das Wertvollfte in ihr find die Briefe, die die
Brüder und Schweſtern aus all den Niederlaſſungen an den Herausgeber
adreſſieren, in denen ſie von ihrem eigenen Umkreiſe und von Beſuchen bei
Brüdern und Schweſtern im Lande und in der alten Heimat berichten.
Dieſe Briefe, intereſſante und ſympathiſch berührende menſchliche Doku—
mente, füllen die Hälfte des Blattes aus. Es iſt in ihnen von Sonnen—
ſchein und Hagelſchlag, von Hochzeiten, Taufen und Sterbefällen die Rede,
von Glück und Unglück der Gemeinde und ihrer Kinder, in einem redlichen,
herzlichen Bauerndeutſch. Sie ſchließen mit dem Rat, die Brüder und
Schweſtern mögen dieſen und dieſen Pſalm wieder leſen und beherzigen.
Und ich weiß, fie tun es und leſen die Pfalmen ringsum in dem weiten
Land, ehe ſie nach dem Erntewetter hinausſchauen aus den Fenſtern ihrer
Häuschen.
Mit dem guten Recht des Reiſenden habe ich manches von dem, was ich
unter den Menſchen Altonas ſah, hörte und fühlte, für mich behalten.
| Vielleicht iſt es nicht recht und ein Widerſpruch, wenn ich mich ſchon jetzt
ein wenig nach dem Abend zwiſchen den ſchönen, an Heſſen und Thüringen
emahnenden Häuschen und Blumengärtchen von Altona zurückſehne.
Aber ohne Rückhalt und von Herzen grüße ich nach dem kleinen blauen
Holzhaus hinüber, in dem Ehrwürden Hanſen, der Dichter „Wilhelm vom
Strande“, mit ſeiner guten Frau ſeinen Lebensabend beſchließt. Vor zwei
Menſchenaltern kam er aus Swinemünde herüber und iſt ein Pionier der
reformierten Deutſchen in den Staaten und der Dominion geworden.
Seine Gemeinde hier in Altona iſt faſt ganz weggeſtorben um den Greis.
Aber es iſt darum noch genug Gegenwart um ihn — wir gehen vor das
1 Häuschen hinaus, zwiſchen die Blumenrabatten und Obſtſpaliere und ſehen
zu, wie der jüngſte Sohn Ehrwürdens, ein friſcher, ganz engliſch ausſehen—
der Kanadier, das Vaterhaus mit ſchöner blauer Farbe vom Boden bis
zum Giebel neu anſtreicht!
Eſterhazy in Saskatchewan
er Magyare ſteht da, die eine Hand hat er in tränenreicher alkoholiſcher
Heiterkeit hinter ſein linkes Ohr gepreßt, in der Rechten über ſeinen
Kopf erhoben hält er den Cocktail in die Höhe und ſingt dazu:
„Ha bemegyek, ha bemegyek
„Esterhazy — Bar-ba,
„Raszölok a, raszölok a
„Cziganyra!
„Huzd ra czigany“, ufw. ...
Dabei hat er fein Lebtag keinen Zigeuner geſehen, er ift ſchon in Penn—
535
ſylvanien als Sohn eines Kohlenbergmanns zur Welt gekommen, ſteht jetzt
hier, in der Bar des Hotels in Eſterhazy, Provinz Saskatchewan und
ſpricht ſogar in der abſoluteſten Betrunkenheit das reinſte Ungariſch, das
man ſich denken kann. Und im übrigen gibt es gar keinen Zigeuner hier
und anderswo, weit und breit, höchſtens ein Grammophon.
Im Ort hat es ſich bald herumgeſprochen, daß ein ungariſch redender
Fremdling im Hotel abgeſtiegen ſei. Bald flogen die Dollars nur ſo auf
den Schanktiſch und ich lernte die ungariſche Gaſtfreundlichkeit hier herüben
unter Kopfſchmerzen und allen Symptomen einer leichteren Fuſelvergiftung
kennen. #
Der ſchlaue irländiſche Giftmiſcher hinter der Bar kann ſchon ungariſch
ſchimpfen und fluchen und gibt auf den Dollar ſiebzig Cents zu wenig
heraus, wenn ſich der Ungar über die fremdartige Ausſprache von basszama
teremtette ſchüttelt. Es iſt eine feine Atmoſphäre von Beſoffenheit rings⸗ 1
um zu verſpüren. 1
Mr. Greenway in Ottawa und Mr. Walker in Winnipeg waren ein 5
ſtimmig in der Verſicherung, wie hoch die Regierung die Ungarn in de
Dominion ſchätze. Gute, ja vorzügliche Farmer, and most law-abiding
citizens obendrein. Law-abiding, das war überhaupt das zweite Wort, das
ich in all den Regierungsbureaux zu hören bekam. Ich hatte den Fehler
begangen, ein bißchen zu viel von den Duchoborzen und den Mennoniten
und all dieſen Eigenbrödlern und Sonderbündlern und von der Toleranz
der Regierung zu reden. So bläute man mir dieſes Wort law-abiding
mit Hammerſchlägen ins Gehirn hinein. Sind's die Einwanderer nicht!
ſelber — aber ſie ſind's, es geht ihnen ja gut, ſo läßt es ſich die Regierun
angelegen fein, fie in kurzem dazu zu machen. Und die Ungarn fi ind e
ſchon, ſind ſchon geſetzestreue Bürger, wenn ſie Kanadas Boden unter W
Füßen haben.
In Ottawa hat man mir Wagen und Automobile verſprochen, die mi
auf dem Land herumkutſchieren follten. Herr Walker aber bedauerte unend-
lich, es war grad die hohe Erntezeit und alle ſeine Regierungsautos ſauſten
mit Kommiſſären in den Erntegebieten herum. Mir wars recht, die Staats⸗
automobile hätten mich ja doch nur auf die Renommierfarmen mitgenommen,
auf denen der Fremde dann die Hände über dem Kopf zuſammenſchlägt
vor Begeiſterung. Ich kam nach Eſterhazy, um irgendeine rechtſchaffene
Durchſchnittsfarm eines ungarifchen Weizenbauers anzuſehn und dabei zus
zuſchauen, was dieſes gute engliſche Land aus einem ungariſchen Bau ö
zu machen imſtande iſt. Der daheim in der Quetſchmühle zwiſchen dem
Pfaffen, dem Erbadel, dem Juden und den kinematographiſch raſch wech
ſelnden und ſich ablöſenden Regierungen feinen blutigen Schweiß ver⸗
ſpritzt. — — — A
536
In allen Orten Kanadas findet man bedruckte Tafeln in den Hotel—
zimmern: „Bitte nicht auf den Boden zu ſpucken!“ „Bitte die Streich—
hölzer nicht an den Wänden anzuſtreichen!“ „Gedenke deines Schöpfers,
wenn du zu Bette gehſt und wenn du aufſtehſt!“ — hier aber, in Eſterhazy
ſtand auf der Tafel:
„Haſardſpiel in den Zimmern ſtreng verboten!“
Auch war das vornehmſte Firmenſchild, das ich auf der Hauptſtraße er—
blickte, nicht das des General Store geweſen, ſondern es hing über dem
Laden eines Rechtsanwaltes. Die Ungarn find ein Juriſtenvolk und das
Nationalübel iſt das Kartenſpiel. Hier war ich wahrhaftig in einem bis in
die Wolle gefärbten Ungarn.
Auf ging die Türe der Bar und zwei Geſtalten kamen herein. Die eine,
ein kleiner bedächtiger, wie ein Städter angezogener Mann war Herr So—
undſo — der erfolgreichſte Farmer dieſer Gegend, wie man mich mit ehr—
erbietigem Seitenblick verſicherte, Beſitzer von zwei Quadratmeilen beſten
Landes hier herum, eine Perſönlichkeit, die ihr gewichtiges Wort mitzureden
. hatte in der township. Der Begleiter dieſes wichtigen Mannes war ein
junger Menſch mit Großſtadt-Allüren, von der Gelenkigkeit der Leute, denen
es dran liegt, raſch etwas zu erreichen, und die es auch tun müſſen, aus
naheliegenden Gründen. „Zweite Klaſſe der Heilsarmee“, ſagte ich mir
gleich. Und wirklich — es verging keine halbe Stunde, da hatte er mir
ſchon erzählt, er und feine Frau ſeien mit der Heilsarmee nach Montreal,
weil man, fährt man mit der, mehr für ſein Geld hat!
8 Sohn eines Budapeſter Millionärs. Weit in der weiten Welt herum—
ekommen, während daheim der Vater die Millionen verſpekulierte. Jetzt
iſt er in politiſcher Miſſion unter feinen Landsleuten da. Die Konſervativen
haben ihn hergeſchickt, damit er den einflußreichen Farmer Herrn Soundſo,
der für den Liberalen „arbeitet“, herumkriege, oder, wenn das nicht geht,
* ihm ein bißchen ſeine Effekte verpfuſche. Gelingt ihm das und iſt man an
maßgebender Stelle zufrieden, ſo wird er ſich hier im Kreis niederlaſſen,
das dankbare Gewerbe eines Rechtsanwaltes auszuüben, unter ſeinen leiden—
ſchaftlich prozeſſierenden und in Grund und Land ſpekulierenden Landsleuten.
Da iſt alſo der dritte ſpezifiſch magyariſche Typus, der „Cortes“, Wahl—
gagitator, eine Kreuzung des Juriſten und Kartenſpielers, mitten in der
3 fruchtbaren Prärie an der Arbeit.
Der liberale Farmer nimmt Herrn Bahnarbeiter A. in die Ecke, derweil
her der konſervative Exmillionär über ſeinem Cocktail in der anderen Ecke.
Herr A. wird mit einem Lächeln und Händedruck entlaſſen und der Farmer
wendet ſich Herrn Sattlermeiſter B. zu, der darauf gewartet hat und deſſen
Miene ausdrückt, er fühle ſich wohl geſchmeichelt, aber es wird nicht ſo leicht
ſein. Der Konſervative ſchlängelt ſich an Herrn A. heran und ſchielt zur
35 537
Gruppe um Herrn B. hinüber. Das politiſche Geſchäft ADB, BC,
C—0D geht langſam das ganze Alphabet lang und der iriſche Spitzbube
ſieht hinter der Bar dem Crescendo ſchmunzelnd und beherrſcht zu.
Der Konſervative hat ſich mit ſeiner Frau draußen auf der Farm des
Liberalen niedergelaſſen. Morgen abend ziehen ſie, der Liberale mit etlichen
Dollars, der Konſervative mit einem Sack voll Verſprechungen, einander
gut bewachend und belauernd auf die Dörfer in weitem Umkreis, der Um⸗
kreis iſt aber dem reziprozitätslüſternen Liberalen ſo gut wie ſicher.
Hier werde ich keine Renommierfarm zu ſehen kriegen, um ſo beſſer. Aber
es iſt einer, der groß geworden iſt dahier, dieſer pfiffige kleine Ungar mit
ſeinen zwei Quadratmeilen. Er iſt ſeine hunderttauſend Dollars „wert“,
als er hereinkam, hatte er ganze 75 Cents in der Taſche. Erreichen feine
Söhne das geſetzmäßige Alter, fo wird er fie, jeden 18 Acres aufnehmen
laſſen und die Familie wird an Reichtum zunehmen. Zudem baut jetzt die
Canadian Northern eine Linie quer an ſeinem Gut vorbei, er hat alſo ſein
Land nur zu halten, es arbeitet für ſich, in zehn Jahren wird es das 2 nF:
fache wert fein, wenn fein Beſitzer nur warten kann. 2
Er wartet auch, das ſehe ich.
. auf dem Feld der väterlichen Farm arbeitet der fünfzehn⸗
jährige Sohn, während der Vater mit dem Gaſt im Land herumfährt, “
um die Fahne für Sir Laurier zu ſchwingen. Die Familie (und das Er⸗
millionärspaar) wohnt in der Lehmhütte, die der Farmer, als er arm herein Bi‘
kam, mit eigenen Händen gebaut hat. Er erklärt mir auf meine? N
daß das Geld, das man in ein Wohnhaus ſtecke, doch keine Zinſen
Draußen vor der Hütte faulen ein paar Bindemaſchinen, ſchon alt
und ſeit Jahren außer Gebrauch. Das zahlreiche Vieh übernachtet in ei
Stall, in den's oben hineinregnet. Die jüngſten Sprößlinge des Zweimeilen⸗
Beſitzers laufen zwiſchen den Düngerhaufen und den Ferkeln in kleinen ;
dreckigen Hemdchen herum und haben fonft nichts an. Zwei Drittel des
Landes liegen brach — das Land arbeitet ja für ſich. u;
Hundert Schritt weit vor dem Haus, in einem Birken wäldchen, liegt ein
totes Pferd ſchon den dritten Tag. Vorgeſtern Nacht hat der Coyote
(Steppenwolf) ſich, vom Geſtank gelockt, an das Aas herangemacht, im
den Bauch aufgebiſſen und die Leber herausgeholt. Der brave Fido hat
den Räuber geſtellt, man kann da hinten beim Roggen noch die Leber ſe
die ſeinem Maul entfiel bei der Flucht.
Die Familie unternimmt jetzt alltäglich Ausflüge ins Wäldchen um 2
zuſehn, ob die Maden im Bauch des Pferdes zugenommen haben. Ich
werde als Weichling tüchtig ausgelacht, weil ich an dieſer Vergnügung nicht
teilnehmen will.
738 | | 7
Der einzige Schmuck der Lehmhütte ift ein halbes Dutzend Heiligen—
bilder in nachgemachten Goldrahmen. Dieſer Anblick bringt mir eine Ge—
ſchichte in den Sinn, die ich in Winnipeg vom Seelſorger der ungariſchen
Gemeinde gehört habe, und die ich nicht unterſchlagen darf, denn in ihr
ſteckt etwas von der Zukunft Kanadas, eine kleine, faule, widerwärtige Per-
ſpektive fozuiagen.
Ich habe mir wahrhaftig nicht die Mühe genommen, all die Broſchüren
durchzuleſen, die ſich auf den Hader der konfeſſionellen Parteien beziehen und
die mir in großer Menge unter Kreuzband und in Paketen ins Felſen—
gebirge nachgeſchickt wurden. Hier ſteht, was ich mir von der Angelegenheit
gemerkt habe: Die Ungarn lieben es, ihre eigenen Geiſtlichen aus der alten
Heimat herüberzuholen, um am Sonntag in ihrer eigenen Sprache von der
Kanzel herab angeredet zu werden. Die ungariſche Geiſtlichkeit zeichnet ſich
diurch eine liberale Anſchauung aus und dieſe ſtimmt mit der politiſchen
Richtung der Gemeinde überein. Die katholiſche Geiſtlichkeit Kanadas, die
aus Franzoſen und Belgiern beſteht, war mit dieſem Stand der Dinge
nicht zufrieden. Was geſchah? Ein belgiſcher Geiſtlicher wurde insgeheim
nach Ungarn geſchickt, um die Sprache zu erlernen. Jetzt bearbeitet er von
der Kanzel herab, in einem ſchauerlichen belgiſchfranzöſiſchen Ungariſch ſeine
Schafe für die politiſchen Zwecke ſeines Biſchofs. Wenn der Exmillionär
Rechtsanwalt in Eſterhazy wird, kann er nichts Klügeres tun, als ſich mit
dem guten Pater P. auf du und du zu ſtellen. — —
Da habe ich nun leider Gottes eine Farm im ertragreichſten Gebiet des
Weizenlandes geſehen. Dort, wo die Millionen hinziehen ſollen, die es
— nach Brot gelüſtet. Ich kann nichts dafür, wenn das Idealbild, das mir
* auf dem Ontario vor den Augen erſchien, weiter von der Wirklichkeit fort—
2 gleitet, wenn ich nach dem Weſten komme. Dieſe Farm bei Eſterhazy iſt
e vermutlich — keine typiſche Farm des Weizenlandes im Innern
ö Kanadas. Um ſo ſchlimmer. Herr Bruce Walker hätte mir ein Regierungs⸗
automobil mitgeben ſollen!
Städte und Leute des Weſtens
Och habe zwiſchen Winnipeg und dem Felſengebirge ein Dutzend Städte
Es; Kanadas geſehen, ein Dutzend und darüber, von allen Sorten und
Preislagen ſozuſagen, von ſolchen, die eben aus dem Ei herausgekrochen
waren, bis zu denen, die grad in ihre Flegeljahre eingetreten ſind, denn ältere
ibt es nicht dahier.
Winnipeg ſelbſt war vor 40 Jahren noch Fort Garry, wo die Trapper
und Felljäger der Hudſons Bay Company ihre Biber, Füchſe und Bären
abluden, wo dieſe Füchſe ſich Gutenacht ſagten — und zählte ſonſt nicht
mit auf Gottes weiter Erde. Heute wohnen dort zoo 000 Menſchen.
539
Die Entwicklung diefer Stadt geht mit ſolch rapiden Sprüngen vor=
wärts, daß ſich ihrer Bewohner ein gelinder Größenwahn bemächtigt hat.
Wenn einer ſich bis zu der Prophezeiung verſteigt: in 25 Jahren werde das
Parlament Großbritanniens in Winnipeg ſeinen Sitz haben und Buckingham
Palace werde am Ufer des Red River ſtehen, ſo darf man mit dem Finger
einen Kreis um die Stirne machen und weitergehn. Aber was ſoll man ſagen,
wenn einem mit einem Stück Bleiſtift und Papier, ſchwarz auf weiß er-
klärt wird, auf welche Weiſe in zehn Jahren Winnipeg Chicago überflügelt
und den Welthandel aus den Staaten zu ſich hinübergezogen haben wird?
Im Weſten dahier muß man überhaupt ſeine Uhr reparieren laſſen und
ſeine Zeitrechnung anders einſtellen als in der Welt draußen. Eine Rubrik
in der Winnipeger Tageszeitung betitelt ſich: Looking backward, und in
dieſer Rubrik ſtehen Ereigniſſe aus der vorgeſchichtlichen Zeit 1880 ver-
zeichnet. Wie Montreal ſeinem Maiſonneuve, hat Winnipeg ſeinem Fi :
oberer ein Denkmal geſetzt. Ja, Beſſeres getan, dieſen Eroberer felber in
eigener Perſon als Denkmal verwendet und verwertet. Er ſteht gegenüber
dem Bahnhof, in einem Glashaus, trägt die Inſchrift: Lady Dufferin
ift eine Lokomotive, die Lokomotive Nr. 1 der Canadian Pacific B »
1877 auf einem Schiff über den Lake Superior herüber und auf friſch⸗
gelegten Schienen hierhergebracht. Immigranten ſtehen andächtig vor
dieſem ehrwürdigen Inſtrument und flüſtern: „34 Jahre alt!“
Winnipeg hat ſich auch ſchon ein paar Wolkenkratzer beigelegt und in
ſtolz auf fie. Man könnte nicht fagen, daß hier ſchon erheblicher dne
an Raum herrſche, die Prärie dehnt ſich, dehnt ſich um Winnipeg herum,
aber der Städtebengel prahlt auf ſeiner Hauptſtraße mit den hohen Häuſe 75
die dem Fremden einen Beweis ſeiner unerhörten Vitalität liefern ſollen.
Der Fremde denkt an ein gefährliches Spielzeug, ein Taſchenmeſſer, das fi fid ch
der unartige Junge für ſein erſtes Taſchengeld angeſchafft hat, und möchte
Winnipeg, wenns das gäbe, am liebſten in ein Sail für Städte ſchicken,
bis es großjährig wird.
Jugendlich und jugendprotzig iſt hier alles. Menſchen, Zeit gen und
Firmenſchilder ſchwelgen in Superlativen, daß einem ſchwindlig wird. Eine
ungeſunde Habgier ſchlägt ſich, raſch, raſch, ehe die Weizenzüge, aus der
Prärie kommend, nach dem Oſten weiterrollen, hier noch den Wanſt voll
vom Ertrage der Arbeit in den Ländern dort im Weſten. Die Spekulanten
kommen aus aller Herren Länder und ſpekulieren zuſammen mit jenen, 5
no.
x
ſich in den wirklichen Weizengebieten Kanadas in den letzten Jahren
reichert haben und nun ihr Geld in der Stadt in die Höhe ſchießen laſſe
Es gibt eine ortsanſäſſige Macht von Pionieren, Pionieren von geſtern und
vorgeſtern, die heute die Plutokratie Winnipegs vorſtellen, mit all den
Merkmalen dieſer Klaſſe auf dem alten Kontinent. 5
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Wenn ich mich für den Gedanken begeiſtert habe, daß ein Armer aus
dr alten Heimat hier in kurzer Zeit fein gutes Brot finden kann, fo darf
ich mich auch nicht empören über den Anblick einzelner, die in kürzeſter
Zeit ſoviel Butter auf ihr Brot ſtreichen konnten, daß es ihnen jetzt fett von
den Mundwinkeln hinunterläuft.
Die öſterreichiſch-ungariſche Amts- und Reſpektperſon, die mir die Kul—
turloſigkeit der Winnipeger Geſellſchaft vorklagt, befindet ſich im Unrecht.
Ich mache mir nichts daraus, daß der Briefträger und Rübenpflanzer von
vorgeſtern heute mit 60 Pferdekräften an den Wolkenkratzern Winnipegs
? vorbeifauft und feine Ehehälfte mit dicken Brillanten, die fie nicht geftohlen
hat, vor drei Jahren noch von den Beſuchern ihrer Schankwirtſchaft in die
Weichteile gezwickt worden iſt. Die Söhne und Töchter dieſer Dreiviertel—
alphabeten und ganzen Patrizier werden in zwanzig Jahren aufgeregt durch
die Muſeen Europas laufen und die Zivilifation mit Schöpfkellen in ſich
hineingießen, und es wird nicht das ſchlechteſte Menſchenmaterial ſein, bei
Gott. Es iſt noch ein Unterſchied zwiſchen einer Entwicklung vom Boden
Be Erde aufwärts und vom oberſten Stock eines Bureauhauſes aufwärts.
0 Rings um den ſteinernen Kern Winnipegs iſt ein kosmopolitiſcher Gürtel
von hölzernen Vororten gelegt. In den hölzernen Kirchen dort kann man
an Sonntagen allen Riten der Welt beiwohnen, in allen Sprachen der
Welt Predigten hören. Aus den Holzhütten werden an manchen Stellen
* Ziegelhäuſer, Backſteinhäuſer aus dieſen und Marmorfaſſaden. Weit
draußen im Felde ſtehen rieſige Bauten ganz einſam, Schulen, Seminare,
rankenhäuſer, die die Peripherie künſtlich ausdehnen und hörbar zur Stadt
reden, alſo: komm raſch zu mir herausgelaufen!
„Jenſeits des Red Rivers aber, der die Stadt im Oſten in zwei ungleiche
Hälften auseinanderſchneidet, liegt das rein franzöſiſche Viertel St. Boni—
# face. Ein Biſchof hat ſich dort, mit allem was dazugehört, ſteinern breit
und ſolid eingerichtet, und die katholiſche Geiſtlichkeit, der franzöſiſch-belgiſche
Katholizismus zehrt ſchon, wie eine fette Zecke dahier, an dem geſunden
Fleiſch des kanadiſchen Schäfleins.
5 De — einer Stadt im kanadiſchen Weſten iſt fol—
5 gender.
Zuerſt kamen, ſelbſtredend, die Schienen durch die Prärie daher. An
einer Stelle neben den Schienen wird eine Holzhütte gebaut und auf dieſe
wird ein Brett genagelt, das einen Namen trägt. Einen Namen, der in
fünf Minuten aus der engeren oder weiteren Länderkunde oder u c
gefunden wird. Sagen wir: Wellington oder Karthago. Das nächſte
Gebäude, das Karthago erhält, iſt ein rotangeſtrichener Turm, der Weizen—
\ eleoator von Ogilvie, von der Britifh- American Co. oder irgendeiner
741
anderen Geſellſchaft. Ihm gegenüber wird der General Store hingebaut, der
zugleich Poſtamt, Standesamt, Klub, geiſtliche und weltliche Behörde und
Verbindungsglied zwiſchen der Wüſte und der Welt vorſtellt. Dieſes Ge⸗
bäude iſt von vorn geſehn doppelt ſo groß, wie von hinten angeſchaut. Seine
Faſſade ſteigt als eine einſtockhohe Bretterwand in die Höhe, wenn man
aber ums Haus herumgeht, fo liegt das Dach flach auf dem Erdgeſchoß
und die erſte Etage iſt eine Erfindung des unſterblichen Potemkin. Im
Generalſtore, den ein ſchweißtriefender, arbeitsüberladener Pionier von einem
armſeligen, zumeiſt ſchottiſchen Menſchenkind, verwaltet, findet der Farmer
alles, was er braucht und nicht ſelber produziert. Das nächſte Gebäude,
das Karthago erhält, iſt ein Schuppen mit der Aufſchrift: Me Cormick
oder Maſſey⸗Harris Farm⸗Implements. Das find die beiden großen Ernte⸗
maſchinenfabriken, die erſte hat in den Staaten, die letzte in Kanada ihre
Werke. 4
Bringt es Karthago zu einem Hotel, das das nächſte Gebäude in der
Reihe iſt, ſo iſt Karthago zum Rang einer Stadt emporgeſtiegen. a
beſtehen einfach keine Schranken mehr, die feine Entwicklung hen
könnten. Gegenüber vom Hotel öffnet ein Friſeur ſeine Bude, die zugleich
Billardzimmer iſt, und nun bilden das Hotel und die Friſeurhütte Rats
thagos Hauptſtraße. Der Grundſtücksmakler erſcheint auf der Bildfläche,
in ſeinem Häuschen ſteht ein Tiſch, zwei Stühle, ein Feldbett und eine
eiſerne Kaſſe. Oho! Karthago zählt bereits mit! Es hat jetzt ſogar ſchon ſein
ſteinernes Haus — die Bank of Kanada hat es neben den Friſeur hin⸗
gebaut. Daneben erſcheint der nächſte Pionier, der einen Drug⸗Store, d.
eine Apotheke, d. h. einen Quackſalberladen mit Schwindelbüchſen un
Teufelsdreck eröffnet. Herr Hong-Sing, der chineſi ſche Wäſcher, wi wi
Nachbar des Grundſtückmaklers. Vielleicht kommt ein Gemüſeladen an,
ſicherlich aber ein Prieſter mit bald darauffolgender Kirche und Glocken =
getöſe und in abſehbarer Friſt der Herausgeber, Redakteur und Drucker der
„Carthago Gazette“. Jetzt ſtehen meterhohe und breite Tafeln an der
Bahnſtrecke, ellenlange Ankündigungen in den Blättern der Dominion, alle
verkünden Ruhm und Ehre Karthagos, des Scolzes des Weſtens und des
großartigſten Exempels einer Stadtentwicklung im heutigen Kanada.
Steigt man in Karthago aus, weil man auf einen Wagen wartet, der
einen landeinwärts führen ſoll, und geht, um ſich die Zeit mit einem ſchol⸗
tiſchen Whisky zu vertreiben, in die Bar im Hotel, ſo findet man, zu
welcher Tageszeit immer, die geſamte männliche Bevölkerung e
dem Schanktiſch verſammelt. (Nur der Chineſe und der General⸗Stot 3
Menſch fehlen.) Sofort wird man von fünf Enthuſiaſten an den über⸗ 2
zieherknöpfen feſtgehalten. =
„Woher des Wegs?“
542 5 |
„Berlin, Germany.“
Hallo — große Zuſammenrottung — es iſt ein Mann aus Berlin
dahergekommen, um den Stolz des Weſtens zu beſichtigen. Europa hat
alſo von Karthago endlich gnädigſt Kenntnis genommen.
„Geſchäfte, eh? Grundſtücke?“
Nein; man macht die Geberde des Schreibens.
Jetzt verklären ſich die Züge der Karthaginienſer. Einer tritt vor und
ſpricht:
„Vor ſechs Jahren war hier noch nichts —“ ſagt er. „Prärie! Jetzt
ſchauen Sie einmal an, was hier entſtanden iſt.“
Sie ſtecken dir den Kopf zum Fenſter hinaus, — du ſiehſt gerade fünf
Holzbuden und ein Haus von Stein und enthältſt dich am liebſten einer
Erwiderung.
| Die anderen meinen, es hat dir den Atem verfchlagen: „Jou bet your.
sweet life, in drei Jahren haben wir hier ein neues Winnipeg!“
1 n bt man, zwiſchen einem high-ball und einem Bet auf die
Zahlen fliegen durch die Luft, Taglöhnerdollars, mit denen einer anfing
und Buſhelstauſende, mit denen es weitergeht. Zehntauſendangebote auf
Farm und Vieh. Keiner ſagt: bin ich nicht ein Teufelskerl? Jeder ſagt:
. mem Land nicht das erſte Land der Welt?
Weächſt die kleine Stadt weiter — dies geſchieht, wenn Waſſer in der
* Nähe ift oder eine neue Bahnlinie vorübergebaut wird, dann fangen auch
andere Leute an, von ihr mit Liebe und Bewunderung zu ſprechen. Ihr
® Nuf verbreitet fi) im Lande. Raſch kommt der Kinematograph, ein Kon-
klurrent des Hoteliers, einer des Friſeurs, einer der Zeitung. Zwei neue
Drugſtores öffnen ihre Pforten. Drei neue Bars tun ſich auf. Ein
Ringelſpiel mit einer nur drei Töne ſpielenden Drehorgel verſorgt die Stadt
mit höheren Genüſſen, und da iſt ja auch endlich der Juwelierladen, in dem
man bemaltes Porzellan, Jagdſcheine und Heiratslizenzen kriegen kann.
Die junge Großſtadt baut ihren erſten Wolkenkratzer, und zwar iſt es der
Grundſtückmakler, der ihn baut. Derſelbe, der mit einem Feldbett und
einem eiſernen Schrank angefangen hat, als hier noch nichts zu ſehen war
als drei Hütten; mitten in der Prärie.
Einige Städte zwiſchen Winnipeg und dem Felſengebirge haben es in
den letzten zehn Jahren von kleineren verlorenen Ortſchaften zum Rang
wirklicher Städte gebracht. So, um nur die zu nennen, die ich ſah, Sas—
katcon, Calgary, Medicine Hat, Edmonton.
543
Edmonton im Norden an dem breiten Saskatchewan-Strom gelegen, durch
zwei große Bahnlinien, die Grand Trunk und die C. P. R. an die gerade
Linie von Ozean zu Ozean angefchloffen, von reichen Kohlengebieten und
Urwäldern eingefaßt, in einer wundervollen verheißungsreichen Umgebung —
Calgary im Süden, die klimatiſch geſundeſte Stadt des Weizen bauenden
und Vieh züchtenden Alberta am Fuß des Felſengebirges: das ſind die
beiden Städte, die wohl nach Winnipeg die größte Entwicklung aller weft
lichen Städte vor ſich haben und durch Statiſtik der Bautätigkeit und Be⸗
völkerungszunahme auch beweiſen.
Indes — traue dich nicht dieſe Wahrheiten einem Mann aus Saskatoon
oder Medicine Hat ins Geſicht zu ſagen. Er wird dich anrüffeln: „Saska-
toon's all right!“ und wenn er ſich überhaupt noch die Mühe nimmt, ſich
mit dir abzugeben, ſo darfſt du dich auf einen Dithyrambus gefaßt machen,
der mit zwölffacher Affenliebe das Problem Saskatoon entwickelt und in die
Höhe treibt.
Eine Treibhausfrucht, aus der praktiſchen Ausnützung dieſes Lokalpatrio⸗
tismus erwachſen und durch irrſinniges, überhitztes Inſerieren und Lärt 75
machen in den Zeitungen zu fabelhaften Proportionen aufgedunſen iſt die
Grundſtück- und Boden-Spekulation in Kanada. Kommt man nach dem
Weſten, ſo merkt man bald: jeder zweite Menſch iſt ein Grundſtücksmakler
und Spekulant.
In Edmonton habe ich zwei richtige Photos nebeneinander im Schau⸗ .
fenſter eines Real-Eſtate-Agenten geſehen: Edmonton anno 1908 und d-
monton anno 1915. Die letztere war die Photographie einer wolkenkratzerge— .
ſegneten Stadt der weſtlichen Staaten, Kanſas City oder St. Paul. In Calgaey
fuhr mich ein Grundſtückſpekulant auf einen Hügel außerhalb der Stadt,
zeigte mit Feldherrngebärde auf das weite, mit zwei, drei Villen ſchüchtern
und ſchütter bebaute Land, das ihm untertänig war und in den letzten drei
Jahren fünfzehnmal mehr wert geworden als zur Zeit, da er es gekauft
hatte.
Spekulanten aus den Staaten, meiſt deutlich jüdiſcher Herkunft, ſauſen
durch die lehmigen Straßen dieſer Stadt feiſt und ſiegesbewußt in Autos
mobilen wie Kegelbahnen ſo lang. Der Neger, der meine Schuhe wichſt,
hat ein Terrain vor der Stadt. In den Zeitungen ſtehen Annoncen: Mr.
Workingman!! Miß Typwritergirl!! und in den Hotels macht der Gaſt
mit dem Kellner beim Frühſtück Grundſtücksgeſchäfte. 2
In gewiſſen Orten erreicht die Zahl der Real— Eſtate⸗Agenten eine ab
ſurde Höhe. In Vancouver, ſagte man mir, leben (bei einer Einwohnerzahl
von 100000) fünfzehntauſend Menſchen, en mit Angeſtellten und
ihren Familien vom Real-Eſtate-Geſchäft. Im Vancouver-Hotel ſehe ich
mir das nach Gewerben geordnete Telephonbuch an und ſchlage Real-Eſtate
544
auf. Beim Buchſtaben C. gebe ich das Zählen auf und habe bis dahin
144 gezählt.
Jedes fünfte Schaufenſter ift mit Kartoffeln, Blumenkohl, Ahren und
Obſtzweigen geſchmückt, und drin kann man Farmen kaufen. Aber von zehn
Schaufenſtern ſind ſieben ſolche, in denen die blauen mit weißen Linien ge—
zeichneten Bogen der Häuſer- und Stadtgrundſtück-Makler hängen. Die
Häuſer auf dieſen Grundſtücken werden von Leuten gekauft, die in ihnen
ſitzen und aufpaſſen werden, wie die Preiſe ihrer Grundſtücke in die Höhe
ſchießen.
Dabei ſchaut der Europäer zu, daß er ſo bald wie möglich aus dieſen im
Wachstum ſich räkelnden Großſtädten davonkomme. Das Waſſer, das
einem in die Wanne läuft, iſt eine gelbe Jauche; Städte wie Winnipeg
ſind um gewiſſe Jahreszeiten Fieberherde und Reinkulturen von Typhus—
bazillen; in ausgewachſenen Städten iſt die Hauptſtraße gepflaſtert, in allen
andern aber wirbeln die Hufe eines Bronchos und die Räder eines Auto—
. mobils Staub und getrockneten Miſt bis in den dritten Stock hinauf; das
einzige gute Hotel iſt Tage lang, eh man ankommt, überfüllt, und für Wochen
hinaus belegt und das nächſtbeſte, in dem man unterkommt, iſt von einer
Beſchaffenheit, daß man ſich vor ſeinem Nachthemd ſchämt, wenn man zu
*
Für Straßenbahnen, elektriſches Licht, Marmorbelag in Wolkenkratzern,
für Fabriksanlagen, Wolle, Eiſen, Zucker, Sägewerke, prunkvolle Regie—
rungspaläſte hat der Weſten Geld übrig, aber das Wort Hygiene iſt einſt—
weilen hinter der Potemkinſchen Bretterwand liegen geblieben.
Die Väter der Stadt ſitzen in den Hotels an den Fenſtern im Veſtibül
5 und haben ihre Füße vor ſich, hoch, faſt bis in den erſten Stock hin—
aufgelegt, auf die Brüſtung der Fenſter. Rieſige Stiefelſohlen mit Seiden—
ſocken darunter und haarigen Beinen dahinter ſtarren den draußen Vorbei—
wandelnden an. Schaut man über die Sohlen hinüber danach aus, was dort
hinten vorgeht, ſo ſieht man in der Verkürzung einen ſelbſtzufriedenen erfolg—
reichen Dreiviertel-Alphabeten, wie er mit Genugtuung die Brillantenringe an
ſeinen breiten Arbeitsfäuſten betrachtet. Neben ihm ſteht auf dem Boden
der mächtige Spucknapf, Cuſpidor geheißen wie ein Held aus der Cid-Le—
gende. Der Gewaltige kaut, aber was er kaut, iſt nicht Gummi, wie im Oſten,
ſondern Tabak. Von Zeit zu Zeit beißt er aus einer gepreßten Tafel mit
Wolfszähnen eine Ecke ab, die fo lang im Mund herumgewälzt wird, bis
eein Strahl wie aus einer Kaffeekanne in den ſpaniſchen Ritter auf dem Fuß—
boden hinunterfährt.
Wenn du dich neben den Gewaltigen ſetzeſt, wirft du ſtatt Pſychologie
Scatiſtik profitieren, eine höchſt reale Statiſtik, die in den Taſchen des
545
Gewaltigen klimpert. Die Symphonie des Weſtens ift in biefer Tonart
komponiert.
Schaut man vom Platz der Väter durch die Scheiben auf die Straße
hinaus, ſo ſieht man zwiſchen den jungen, kräftigen Männern, die dorten
gehen, hübſche junge Mädchen trippeln, einen notwendigen Importartikel, der
mit Windeseile unter die Haube geweht wird. Alle Menſchen haben den
ſympathiſchen, ſelbſtbewußten Zug im Geſicht, der beſagt: wir wiſſen, wir
werden gebraucht dahier, und wir wiſſen auch, daß wir die Frühangekom⸗
menen ſind. Wann wird es hier Nachzügler geben? Die Zeit iſt nicht ab⸗
zuſehen.
Alle guten Wünſche für die Starken und Willigen, die Hinterſichwerfer
alter Verhältniſſe, die Wagemutigen, die ihren Brocken Sicherheit gegen die
Berge Ungewißheit eintauſchen möchten! — Aber wenn ein Rotrock von der
Canadian Western Mounted Police vorübergehet, da weht einem die ſcharfe,
würzige Romantik aus lieben Büchern der Kinderjahre um die dae
und erwachſene Naſe. ;
Mit dem Militär in Kanada hats die gleiche Bewandtnis wie mit h
Militär in England. Wer einen befjeren Job findet, hütet fich, Tomm
Khaki anzuziehen. Außer, er hat ſich in die Karnevalstracht der (er
ſchen Hochländer verliebt. Mit der berittenen Polizei des kanadiſhf che
Weſtens hat es aber ſeine eigenen Wege. 2
In Winnipeg lernte ich einen jungen Mann kennen, er arbeitet jetzt im 0
ſtaatlichen Einwanderungsamt und hat mir die Einrichtungen des Amtes
und Aſyles im Auftrage von Bruce Walker gezeigt. Ehe er dieſes inter
eſſante und erſprießliche Amt bekleidete, war er jahrelang Sergeant bei de
Berittenen geweſen.
Im Städtchen Humboldt, Nordſaskatſchewan, einem exponierten Plaz,
von wo es galt mit vier Untergebenen in den endloſen Einöden und Wäldern
auf Verbrecher zu jagen und die Indianerſtämme im Schach zu halten. |
Sein Vater bekleidete eine höhere Charge im deutſchen Heer. Er ſelbſt
ſtammt aus Berlin und hat in Greifswald Medizin ſtudiert. W |
Wiſſenſchaft verdankte er dieſe heikle Aufgabe: einmal, mitten im Winter,
drei Reittage weit im Norden einen ganzen Indianerſtamm, Männlein und 2
Weiblein, gegen die Pocken zu impfen, es graſſierte die Krankheit unter daß u
Rothäuten. —
Man ſieht, es iſt keine Sinekure, die die Mounted Police in Kanade 8
Weſten ausübt. Tage und Nächte lang einem Pferdedieb aus einer Ranch
über Steppe und Wälder allein nachjagen müſſen. Oder einem bis an die
Zähne bewaffneten Deſperado aufzulauern, der jetzt, nachdem er einer ganzen
Farmers familie den Garaus gemacht hat, die Gegend nach Obdach, Nah⸗
rung und Whisky durchſtreift.
546
Alles in allem zählt die Mounted Force nicht mehr als 65o Mann und
iſt mit dem Wort Polizei unrichtig gekennzeichnet. Unter ihren Cowboy—
hüten tragen die Männer der C. W. M. P. ein ſelbſtbewußtes, verwegenes
und intelligentes Geſicht zur Schau. Sie ſind gut bezahlt, mit unbeſchränk⸗
ter Autorität über ungeheure Gebiete ausgeſtattet und ihr Job iſt einer, den
ſie ſich aus eigenem Antrieb gewählt haben, in den meiſten Fällen. Sollte
ich diefe Miliz mit einem in Europa mehr bekannten Militärkörper verglei—
chen, ſo wärs die Fremdenlegion, die ich nennen müßte. Nur daß die Leute
der Mounted Police aus ganz anderen Geſellſchaftsſchichten herkommen,
als jene Unglücklichen in Sidi bel Abbes dort unten im tiefſten Abgrund
der Menſchheit.
Ein Bekannter, der bei einem Crikett-Match der Leute in Regina dabei
geweſen iſt, erkannte in ihren Jacken und Mützen all die Farben der feudalen
Hochſchulen Englands, Trinity⸗Kollege von Cambridge, Balliol und Chriſt—
| 3 von Oxford und die Ramblers von Eton dazu. In Wahrheit ſind
dees nicht wenige von den „jüngeren Söhnen“ der älteften Adelsfamilien
Er nglands, die in dieſer wilden Miliz unter angenommenen Namen ihrer
Aoibenteurerluſt und Verzweiflung nachhängen. —
f Ich glaube, ich muß in dieſem Kapitel noch Rechenſchaft über den gegen-
. Stand der Cowboy⸗Spezies ablegen. Es find mir einige Exem⸗
re dieſer romantiſchen Menſchenart untergekommen, ich will ſie in kurzen
Y een klaſſieren und erledigen. Nach meiner Wahrnehmung bildet die
gewaltigſte Mehrzahl dieſer Spezies die kommerzielle Gattung der Buffalo—
8 Bill-Zirkusreiter. Des weiteren gibts den Amateur-Cowboy. Einem dieſer
Sorte bin ich in den Rockies begegnet. Er vermietete Pferde und ritt in Fell—
| hoſen mit den Geſellſchaften der Ausflügler mit. Zitierte einer von der
Partie Browning oder Ruskin, und zwar falſch, ſo ſtieg der Gaul des
Coowbops hoch und der Cowboy mußte ihm die Sporen geben und den Irr⸗—
tum verbeſſern. In Morley (bei den Indianern) bin ich einem wirklichen
wboy von einer Ranch begegnet, der über die Ausſichten der deutſchen
zialdemokratiſchen Partei bei den nächſten Wahlen, Spaß beiſeite, er-
öpfende Auskunft zu geben vermochte und mich im übrigen verſicherte,
daß er feine Stimme auf Herrn Arthur Maſters, den Kandidaten der So—
zialdemokraten Calgarys, abgeben werde. Einen andern habe ich in Van—
1 5 duver geſehen, wie er in Lederhoſen und Sporenſtiefeln, im roten Hemd
And gelben Halstuch, mit einem Laſſo widerſpenſtige Beſucher in ein
i ematographentheater hineinlotſte. Dies hört ſich wie ein Witz an, be⸗
deutet aber im Grunde, daß die Profeſſion im Rückgang iſt. In Bow—
land, Süd⸗Alberta, war ich Gaſt der Familie Me Gregor, die eine der
größten Pferde- und Vieh-Ranches der Gegend beſitzt. Auf dieſer ſelben
Ranch habe ich die erſtaunliche Experimental⸗Farm geſehen, von der ich in
* *
*
N.
nr
547
einem vorigen Kapitel Bericht gab. Die Ranches, die auf unendlichen
Strecken nur Weide für Vieh und Pferde abgaben, weichen allmählich einem
Syſtem von „gemiſchten Farmen“, zumal ſeit die künſtliche Bewäſſerung
ſich in den Gegenden, die ich bereiſte, zu bewähren anfängt. Der Cowboy
ſitzt jetzt einen Teil des Jahres auf den Erntemaſchinen ſeines Arbeitsgebers
und wird erſt im Spätherbſt für einige Tage, wenn der Roundup, das
Einfangen und Abſtempeln des Viehs auf den Gütern, ſtattfindet, ein
ſtrickeſchmeißender Sohn der Wildnis. Er ſchießt nur mehr in ſchlechten
Romanen in den Spiegel hinein und die Korke aus den Flaſchen. Er fährt
in Automobilen in die nächſte Stadt und iſt auf linksſtehende Zeitungen
abonniert. Er fühlt ſich als Arbeitender und als Knecht des Arbeitsgebers.
Aus praktiſchen Gründen trägt er wohl Hoſen aus Ziegenfell und zwei Ne-
volver im Gürtel, aber der Hausmeifter-Sprößling in Schöneberg, der ſich
am Samſtag für 10 Pfennige ſeinen allwöchentlichen Nick Carter kauft, hat
romantiſchere Gelüſte — als dieſer junge gebräunte Arbeiter auf den Sad Ar
Steppen zwiſchen Clyde und Galloway- Herden. 5 |
Es ift nichts mehr los mit der alten Romantik aus unferen lieben Bir
chern der Kinderjahre. Vielleicht noch oben in dem ſagenhaften e f
dere Romantik mehr als die des erwachenden Bewußtſeins von dem, was
nottut — und wenn noch fo viele Ziegenfellhoſen auf gondelähnlichen ſpaniſchen
Sätteln durch die Felder ſauſen.
548
Santa Caterina di Siena
Novelle von Hans Reiſiger
1368. Die ſchwermütige, roſtrote Stadt Siena ſteht unter dem Zeichen
des Blutes. Die großen politiſchen Gedanken ſchweben nur noch undeut—
lich über der verwirrten Wirklichkeit. In immer beſchränkteren Kreiſen ein—
geſchloſſen, branden Haß und Eiferſucht immer ungebärdiger gegeneinander.
Die furchtbare Verbrüderung durch Not und Peſt und durch gemeinſame
Gewöhnung an das mörderiſche Schalten mit Fleiſch und Blut hält Freund
und Feind umſchloſſen. Wo in der Welt iſt Friede? Ein rieſiger, fremder
Hintergrund von Rauch und Feuer ſcheint abenteuerlich das eigene Treiben
einzuhegen. Der Adel iſt niedergeworfen; die plebejiſchen „Reformatoren“
erneuern mit Beil und Schwert. Täglich finden Hinrichtungen auf dem
tiefen Marktplatze ſtatt.
Heißer, trockener Sommer hält die Mauern der Stadt umſchloſſen.
Der bleierne Glanz der Olivengärten liegt weithin wie lähmend. Um
Mittag wird das Geſchrei der großen, niemals ſichtbaren Grillen ſo drin—
gend und anhaltend, daß es bis an die Stadt ſchallt, gleichwie ein irrſinniges
Vibrieren der Sonnenglut. Kein Strom, kein ſchmalſter Fluß durchquert
dieſes Bereich und verbindet es mit der weiten Welt, der Ferne des Meeres.
Alles Leben, alle Leidenſchaften find hier hölliſch eingeſchloſſen, feſtgebannt
der Magie des Mittelalters.
Hineingemiſcht in Geruch und Nähe des körperlichen Seins iſt der
Weihrauch Gottes und aller Heiligen. Alles Sinnliche ſcheint hinzu—
ſchmelzen, aufzugehen in der zehrenden Glut des Glaubens. Der warme
> Schauder, der von den verfehmten Menſchengliedern ausgeht, verzittert in
Ekfſtaſen der Erlöſung, körperliche und geiſtige Erregung verſchwimmen
ineinander, und das Zeichen tieriſcher Grauſamkeit, höchſter Wolluſt: das
1 ut, duftet feinen Hauch in die Myſterien reinſter Heiligkeit.
Ein heller, zärtlicher Geruch geht durch das dunkelfarbige Treiben: der
Atem und die Stimme einer unſchuldigen Jungfrau, eines kaum erwachſenen
4 Mädchens, deren Inbrunſt und Liebe die freſſenden, ſaufenden und mor—
* denden Maſſen, die Frevler und die Furchtſamen, die Wölfe und die
Lemmer, wie mit Banden unbegreiflicher Verwandtſchaft umfängt. Ein
kſtatiſches Seufzen geht durch die robuſte Körperlichkeit dieſer Stadtwelt:
berühre uns! heilige uns! tue den Balſam deiner Reinheit auf unſere
Wunden, laß uns die Erregung deines ſchmächtigen, unbeugſamen Willens
bis in unſere Herzen fühlen! Ein Verſtehen lebt überall für dieſes nervöſe,
überſinnliche Mädchen, für das Kind, das einſt mit ſchwebenden Füßen
über die Treppen ſeines elterlichen Hauſes glitt; für die Leidende, die an
*
549
ihren Händen die Male Gottes und in ihrem Herzen die Leidensmale aller
Menſchheit fühlt; für die Braut, die, entrückten Sinnes, in unbekümmerter
Begier, vor aller Augen nach ihrem himmliſchen Freunde und Geliebten
langte: nach dem, deſſen Blut ihr myſtiſch im eigenen Herzen quoll und
dem ſie die Blüte ihres Leibes unter Geißelſchlägen und Nachtwachen dar⸗
brachte, indes der Brautring, den er ihr gereicht, an ihrem Fingee leuchtete,
ihren Augen allein ſichtbar.
In ihrem Weſen ſcheint das unſichtbare Verlangen aller dieſer Menſchen
verleiblicht zu fein, die nicht mehr wiſſen, wie ſich der allzu leidvollen Körper⸗
welt entringen, die ſie umgibt und die ſie ſelbſt ſind. Hier iſt etwas wie
ein ſinnliches Symbol ihres innerſten Seufzens und Strebens. Hier iſt
ein Weſen, deſſen irdiſche Glieder gleichſam nur noch der Traum ſind, über
den das eigentliche Leben immer mehr und mehr Macht gewinnt. Hier {
leuchtet und verweilt vor aller Augen ein zarter und inbrünſtiger Wille, der
das gutheißt und davon allein redet, was im dunkeln Treiben der Vielen
von Angſt, Hohn und Gleichgültigkeit, von Begierde oder Wolluft
ſtündlich vergewaltigt wird.
Und in dieſem Willen, wie in einem magiſchen Glaſe, glüht zugl
das helle Licht weltlicher Klugheit. Keine Heilige dies, die ihr Leben in
Enge der Kloſterzelle erſtickt. Ihr Heiligſein iſt ein offenes, raſtloſes Sich⸗
Verbrennen und Verzehren in Mitleid und Handeln, in Zuſpruch und Zu:
ſchrift, in Sinnen und Drängen, die verderblichen Zwieſpälte dieſes irrſinnigen
Weltlebens zu ö die nutzlos zum Spotte der Hölle vergeubgl
Helligkeit und ficheres, freies Wollen in den Seelen wachzurufen. Wahr u
und leidenſchaftlich zu fein, wie fie ſelbſt, nicht anders mehr zu können, ale
wahr und leidenſchaft lich zu ſein, iſt ihr ganzes Raten und Flehen. In Ge 4
meinſamkeit zu erglühen, aller ſpieleriſch⸗teufliſchen Ichſucht zu entſagen, den a .
gefährlichen Firlefanz der Begierden abzutun, iſt ihr Wunſch und alle ihre 5 3
Kraft. Ein Herz voller Menſchenſehnſucht, voller Menſchenklugheit, ein
kindhaft⸗kühner, ſtreitbar-liebender Sinn, eine triebhafte, ſichere Ener
bereit, in die Händel der Parteien und Völker beſtimmend einzugreifen, voll
frommer Diplomatie. An die Raubmörder großen Stiles, die berühmten
Söldnerführer ſchreibt ſie wie eine ernſte, leidenſchaftliche Schweſter. Zur 4
Einigung mahnt fie Papft und Könige und Herzöge, in viſionärer Be
ſtimmtheit und Rückſichtsloſigkeit. Aber noch kann fie eine Einigung nicht
denken ohne einen andern Feind, gegen den ſie gerichtet wäre: ſie p' 1ᷓ 9 A
den Kreuzzug. Ihr, die ſelbſt nur wie eine Flamme nach allen goldener N 74
Höhen der Verſöhnung emporbrennt, find die „Ungläubigen“ dennoch niches
als Hunde und Wölfe, die man zertreten müſſe. In unheimlichen Tiefen
ihres Weſens lebt ein Verlangen nach Blut: nach Opferung ihres eigenen
0
7
fer
550
und nach Berauſchtſein durch das Fließen des fremden. Stunden kommen
ihr, wo der Purpur ſolcher Ekſtaſe übermächtig in ihr aufſteigt und fie, von
ratloſer Luft und verzweifelter Seligkeit durchzückt, niederwirft an dem
aufwärtsraſenden Strom des Gottesbegehrens, in deſſen dunkles Leuchten
ihre Brunſt mitgeriſſen würde wie gehetzte Tropfen Blutes.
Weltliche und geiſtliche Freunde dienen dieſem Mädchen, umringen ſie
mit ihrer Verehrung. Die blaſſe Geſte ihrer Zärtlichkeit und ekſtatiſchen
Liebe iſt wie ein gehätſchelter Schatten in ihren Seelen. Frauen wie
Männer hängen ihr gleicherweiſe an. Die leidende Kraft ihres Weſens
wächſt über aller Seelen wie eine helle Lilie aus dunkelm Boden empor.
Das weibliche Sein ihrer irdiſchen Glieder, die fie fo rückſichtslos miß-
handelt und zu ſtrengem Dienſte zwingt, iſt unter ihnen wie ein fes
feines, grauſames Martyrium, etwas Sinnlich-Leidendes, Ratlos-In⸗
brünſtiges. Süßeſtes Mitleiden und zagende Verklärung ſchwillt und ringt
= aller Seelen. Aber ein dunkler Strom fließt betäubend durch aller Tiefen,
r Strom des Blutes.
Die Kranken ſchreien nach ihr, die zum Tode Verurteilten warten auf
f ſie. Die unirdiſche Speiſe, die ſie reicht, geht ihnen ſüß und ſtark ein.
Ein adeliger Jüngling, Nicola Tuldo, iſt von dem Berg der Refor—
matoren zum Tode verurteilt und ſchmachtet im Kerker der Hinrichtung
ei negegen. Er hat ein maß- und ſinnloſes Leben geführt, wie in haſtigen
arben iſt es ihm verrauſcht.
* Das Schreiten ſeiner Füße, die Kraft ſeiner Arme, der Glanz ſeiner
Augen war ſeine höchſte Luſt. Die Glut der Liebe erfüllte ihn ganz.
Seiner Schwäche lernte er vergeſſen.
Nun, inmitten ſolcher Freiheit, ſieht er ſich eingehalten und von fremder
we. Übermacht gelähmt. Hier ſind ſeine Glieder, lebendig, nach Springen,
2 Ta zen, Kämpfen und Umarmen dürſtend, feſtgebannt von einem ver—
haßten Willen, unnütz in enger Steinzelle liegend, gekrümmt, gebeugt,
zit ternd, ſchlaff. Morgen ſchon werden fie tot zuſammenſinken, wenn dieſes
Haupt von ihnen getrennt ſein wird, eine ekelhafte, der Verweſung beſtimmte
Sache. Und die Seele? Wird ſie leiden unter der Vernichtung des Körpers?
it fie ſich qualvoll dem Blut und der Betäubung entringen müffen,
einen Augenblick ins Ungewiſſe zögern, ins Kalte, Grauenvolle, um dann
0 br zu werden von denen, die ſie heimholen würden zu reinigender
RM, n oder ewiger Verdammnis? Was bedeutete „ewig“? War da irgend
1 92 15 undenkbar Furchtbares, etwas feurig Verweilendes, unendlich langſam
ifenbes? ein ſtummes, nach innen gerichtetes Schreien, das ſcharf und
brennend wurde, als hätte man Schwefel zu ſchlucken, und dem keine
Kühlung; je vergönnt war? Nang dort die Seele in dem einzigen Gefühl:
es muß, es muß ein einziges Mal enden! — und es endete nie? —
BE
War ihm dies beſtimmt? Wer ſollte der Verdammnis verfallen, wenn
nicht er?
Hat nicht immer ſchon in ihm ein drohendes Ahnen gewartet, das ſich
nun erfüllt? Hat er dieſen Kerker nicht ſchon im Traume geſehen, ſich nicht
im Traum ſchon der ſchwindligen Enge genähert, der er nun zugedrängt wird?
Die glühende, von Stimmen ſchallende Stadt, das ſteinerne Bereich
ſeines unſinnigen Lebens, umringt dieſe Mauern. Morgen, Mittage,
Abende und Nächte ſeiner eigenen Vergangenheit ſind wie ein geſpenſtiger
Hauch noch darin. Ihm iſt, als werde ſeine Seele langſam in den erſten
Kreis der Hölle eingeſchloſſen. Inmitten dieſer ihn anblickenden, ihn
anſchreienden Häuſer, von Lebendigen und von Schatten im Grauen des
Sommermorgens umheult, ſoll er, in der Tiefe ſeiner Sünden, ſich hin—
ſtellen, hinknien und, ohne zu zittern, fein Blut hingeben; es aus jämmer⸗
licher Wunde — im Nacken, rücklings — hingeben, indes ſeine Augen in
der Finſternis vor ihm erblinden. Wer kann ſolches ſterbendes Einſamſeinn
inmitten des Lebens aller anderen begreifen? Wie kann er dort hinfchreiten,
ohne daß ihm die Füße den Dienſt verſagen, ohne daß die Angſt auf fe 1
Geſicht zu leſen iſt?
O wenn er etwas beſäße, das ſtärker wäre als ſein gelobtes, hölli
Leben und die Angſt ſeiner Sinne; etwas Mütterliches, rein Geliebtes, de
vor Gott Recht hätte: eine lichte kühlende Kraft, die ihn aus dem Krampf h
der Todesfurcht geradenweges emporhöbe und erlöfte! eine Stimme, die
ihn tröſtete und auf die er, wie engelhaft ſie immer ſein möchte, den u.
ſpruch der Liebe hätte; eine Hilfe, auf die er ganz feſt vertrauen könnte, * 9
er ſelbſt ſo hilflos iſt. *
Und wie in einem plötzlichen, traumhaften Beſinnen, oder wie im SZ
meln des Durſtes kommt der Name der jungen Heiligen auf feine Lippen,
der Leidensfreundin, die mit den furchtbaren Gefühlen, die an der Gren
irdiſchen Seins Macht gewinnen, vertraut iſt; die ein Weib iſt und W
Weib war und ihr tief ererbtes Verſtehen, ihre ererbte Hüterkraft in 3
loſer Erregung bis an die Nähe des Himmels erhoben hat! O wenn ſie kä
Und ſie kommt am ganz frühen, hellen Morgen. Keine Glocke hat noch
geklungen. Von dem perlenfarbenen Glanz des italieniſchen Tagesbeginns
fällt nur ein leiſer Hauch in die ſteinerne Zelle. Die Fremdheit der Nacht Er
ift noch ganz nahe. Tiefe Ruhe erſten Erwachens herrſcht überall; ie
ſanftes Rauſchen ſcheint durch die gewaltigen Mauern bereinzudeingen, vie
ein unſichtbarer Ton. 5
Wer beſtimmt iſt, vom Leben Abſchied zu nehmen, kann die ftille Macht
des Morgens am ſchwerſten ertragen. Er weiß nichts, was er ihr entgegen⸗ 1
ſtellen, nichts, worein er ſich bergen könnte. Seine eigene vorige Angſt und
Erregung erſcheint ihm nun faſt wie ein Schutz, den er verloren. Ganz
552
nackt und leer, gleichſam ohne eigene Innerlichkeit, wie ein fröſtelnder
Schatten, ſieht er ſich vor der beginnenden Helligkeit.
Bringt dem jungen Verlaſſenen die zarte Helligkeit eine Viſion? Er
lehnt an der Mauer, halb knieend. Seine Hände ſind kraftlos und geöffnet,
ſein Haupt zurückgebogen, ſeine Augen feſt geſchloſſen. Durch ſeine ſchale,
ſtarre Empfindungsloſigkeit geht leiſe ein ſchmerzhaftes Entzücken, eilend,
peinigend, langſam und wohltuend. Etwas dem ſtummen Weh und Glück
einer Pflanze Ahnliches, einer vom Froſt halb getöteten, neu auftauenden,
zittert in ihm; in tauſend feinſten Adern und Faſern ſtreitet und drängt
und durchglüht ſich Leben und Tod.
Hier ganz allein mit ihm, ſtill und ſanft, ſteht dieſes ſonſt menſchenum—
ringte, doch ſo entrückte junge Weſen. Die weiche Elfenbeinfarbe des Domi—
nikanerkleides, umrahmt von dem Schwarz des Überwurfs, die weiße Stirn-
binde, die Falten des Halstuches ſind dem Atemloſen ganz nahe; die feine
Blüte dieſer pflegenden Hände, an die der Himmelskönig ſelber feinen un—
ſſichtbaren, leuchtenden Ring geſteckt, will ihn, den Makelvollen, berühren;
das dunkle, große Licht dieſer Augen, die ſchon an das purpurne Feuer
Gottes gewöhnt ſind, ſieht ihn hier an.
Vor dem Blicke der Heiligen iſt das Leben dieſes ſchönen Jünglings,
deſſen Blut ſchon morgen auf dem roten melancholiſchen Marktplatz, in—
mitten einer bewegten, witternden Menge, ſtrömen ſoll. Sie glaubt ſeine
Züge zu kennen, fie find ihr wie die Züge eines Menſchen, der dieſelben
Leiden und dieſelben Freuden empfinden müßte, wie ſie ſelbſt. Sie fühlt
eine niegekannte Luft, ihm nahe zu fein. Es iſt ihr, als ſtürmte hier etwas
in ſie, um ihr eigenes Stärkſtes und Beſtes zu umarmen; als zerbrächen
dieſe Kerkermauern, und Licht aus den weiten Morgenlandſchaften der Erde
ſtrömte herein. Sie ſieht, wie er in ſeiner Erſtarrung, in ſeiner Angſt, in
| * bee Sünden gefangen iſt, und wie er ihr entgegenzittert, als einem Weſen,
| as unerhörte Macht vor Gott hätte. Auf denn: Sei ftark, fei heilig, nimm
ihn und all ſein Leben, ſein herrliches irdiſches Sein in dich, in deine eigene
Brut! Bezwinge alles, worum er leidet, in dir ſelbſt, nimm ihn dir, ganz,
Fleiſch und Blut, mit Sinn und Seele, daß es dir gelinge, das Reine
43 210 Ewige in ihm mit deiner Reinheit vor Gott zu tragen!
Sie eilt hinweg, mit zitternden Füßen, in ihr Haus an der Fonte—
branda. Unter Faſten und Beten und Buße geht ihr der Tag hin. Nie—
g 5 ub kommt vor ihre Augen. Bezwinge das Irdiſche! Mache dich rein,
ö Blutopfer i in deine Hände zu empfangen! Auf hartem Holze knieend,
den nackten Rücken mit rohen Stricken geißelnd, bis das unbegreifliche,
ündhafte, erlöſungskräftige Element, das dunkelrote Blut, das ſeltſam duf—
ode, fließt. Dort, hoch oben, iſt die brauſende Welt Gottes und der Hei—
ligen, von dort rann dasſelbe, irdiſchgewordene Blut in Tropfen der Gnade
36 553
zur fündigen Erde hernieder! O, fei wie ein leichter, lichter Schatten, der
es trinkt!
Der frühe Abend bringt fie in die finftere Zelle zurück. Dem, der fie er-
wartet, will es ſcheinen, als ſei ſein ganzes Leben — das Koſtbare, um deſſen Ver⸗
luſt er eben noch bangte — ein blaſſes Nichts, und als ſei nun erſt im Schatten
des Todes, im Schutze des Todes ein Gefühl von ſo unfaßbarer Entrücktheit
und Bedeutſamkeit lebendig geworden, daß er mit feinem ganzen Weſen Atem
holen, nach Atem ringen müßte, um nicht wie ein Schemen niederzufallen.
War nicht früher in allem, was er tat, etwas Unruhiges, Selbſtbeobach⸗
tendes, Verzweifeltes? Lauſchte nicht etwas in ihm aus jeder glücklichen
Stunde heimlich hinweg, irgendwohin, in ein unbehagliches Dunkel, oder
einen unruhigen Glanz? War nicht in jeder Liebe ſchon Hohn, in jeder
Freundſchaft Verachtung, in jeder Tat die Drohung, die ferne herzukommen
ſchien von einem furchtbar Verweilenden, Untätigen, vor dem alles nur
jämmerliche Verzerrung war? 1
Wie iſt es nun, daß er zum erſten Male fühlt, wie ſein ganzes Ich ..
bannt 1 1 8 reſtlos 9 Er iſt e nahe: e 5
EEE ECHTES FED
ER a —
denn nun ſchon ein Geiſt geworden, ein 1 Funke im Paradieſe, ein
Etwas, das — wie es zuvor die Unvergänglichkeit nicht begreifen konnte —
nun das Vergehen nicht mehr kennt? Nur die Sünden — oder fi nd es
nur Worte? —, die an ihm haften, noch ein letztes Mal ausſprechen! ſie
hier, wie in an noch bekanntem Raume, vor ihr ausfprechen, vor der zart
und tief Lauſchenden, vor der wortlos Verſtehenden, deren ganzes Sein
nichts iſt als Vergebung, Erlöſung, Heiligung!
Die Seelenbegierige hört, gebeugt, die ſtammelnden Selbſtanklagen
und die entzückte Beichte des Opferlammes, das ſie in ihren Armen hält.
Seine vergangenen Taten gehen durch ſie, wie an ihr ſelbſt getan, und von
ihr ſelbſt getan; auch wie längſt von ihr gekannt und nach längſt gefaßtem
Ratſchluß mütterlich verziehen. Sie fühlt ſeine Glut, wie eines Ki des
Fieber, und ſeine Bitte: Bleibe bei mir und verlaſſe mich nicht! N
Sie hält ſein Haupt, das er an ihrer Bruſt birgt. Dieſe Seele ſoll id
Gott zuſenden! O, könnte ich auch mein Blut, grauſam befreit, 10 .
i
laſſen, mit dem feinen vermifcht, und ganz leicht und frei und rein mit
emporfliegen! Das Feuerzeichen des Gekreuzigten, das Bild entzückter Ou
ſteht wie ein Blitz über ihr.
Und ein erdenfremdes, zehrendes Geſpräch, kaum noch geflüſtert, huſcht
zwiſchen den beiden. Verweilend, verſchwindend, und doch ewig. Wie f |
Wünſche und Verſprechen, die dereinft nur in eigenfte Einſamkeit irrten
4
und die nun eine lebendige Seele finden. „Ich werde dich am Richtplatz
erwarten. Fürchte nichts. Ich werde dein Haupt in meinen Händen halten
und dein Blut empfangen.“ — „Wie darf ich an heiliger Stätte mein
Blut geben? Wie darf ich die Reinſte dort erwarten?“ — „Die Hochzeit
hat begonnen. Bald werden wir bei der ewigen Hochzeit ſein.“
Mit der Stirne am Boden jubelt er ſtumm der Entſchwundenen nach.
Das Feuer der Ekſtaſe brennt zwiſchen Wahnſinn und Glück. „Mein fließen—
des Blut wird mich dir vermählen. Die Nacht des Todes wird meine Braut—
nacht mit dir ſein!“ —
Wie ein Keſſel voll rätſelhaft-irdiſchen Weſens liegt der tiefe Marktplatz
Sienas, zu dem von allen Seiten Stufen oder ſteile, finſtere Gaſſen nieder—
führen. Weite, gewaltige Paläſte und enge, ſchmutzige Häuſer umgeben ihn.
Ihrer aller Farbe iſt rotbraun, eiſenbraun, mit hellem Zierat von Marmor
ſpärlich dazwiſchen. Wie ein Wahrzeichen ſehnſüchtigen, eifrigen, verlaſſenen
Menſchentreibens ragt der ſchmale Turm der Signoria hoch empor, von
20 lichterem Geſtein gekrönt. Rohes, holpriges Pflaſter bedeckt den Platz, auf
dem Ströme Blutes ſchon gefloſſen ſind.
Auf der einen Seite ſteht inmitten der klobigen Steine ein ſtilles Meifter-
verk, ein marmorner Brunnen, niedrig, ſchlicht: drei einfaſſende Wände
mit ſchöner, ſtarker Figurenarbeit. Kinder lümmeln darauf, Weiber hocken
auf ſeinem Rand, indes das Waſſer unaufhörlich fließt. Ein naher, blauer
Himmel ſteht über allem.
In der Mitte des Platzes, von Volk umdrängt, erhebt ſich ein Schafott.
Man ſieht den dunkeln Block darauf, und neben ihm eine ſchmale Geſtalt,
im elfenbeinfarbenen Gewand mit ſchwarzem Schleier. Sie ſteht geſenkten
Hauptes, mit betenden Händen, des lauten Volkes nicht achtend. Eine Er—
regung von Heiligkeit, Wunder, Himmelsnähe, von Blutbegier und Schau—
luſt geht wie eine ſtarke, körperliche Woge rings um dieſe kleine, ſtille
Figur.
Nun, plötzlich, tut ſie einen Schritt vorwärts, kniet nieder, das Gewand
vor ſich aufraffend, und legt ihren Hals auf den Block. Was tut ſie?
Warum tut fie das? Was wird geſchehen? Vielen iſt es, als fühlten fie
einen ſchneidenden Schlag im Nacken.
Die Heilige ſieht das Volk nicht. Sie erkennt niemanden unter den Hun—
derten, die ganz nahe unter ihr ſich drängen. Sie empfindet nur dunkel das
| ne größere Anwachſen der Menge. Die ganze Fülle diefes Erdenbildes
in ihr, und ſie ſucht es der erdrückenden Macht des Himmels mit ihrer
Seele zuzuheben.
Sie ſucht deſſen Seele mitzuheben, der da nun kommt, von vier Män—
nern geführt, und für deſſen Mut und Frieden ſie bangt. Wird die grau—
1 ſame Wirklichkeit mit ihrer Aufregung nicht ſtärker ſein, als aller Seelen—
:
\
*
557
wille, und den letzten Augenblick zu einem verzweifelten, ungläubigen machen
voller Sünde und Fluch? Wird nicht die ſchrecklichſte Vorſtellung, die ſich
des Menſchenſinnes bemächtigen kann, ihn überwältigen: die Vorſtellung,
daß etwas Sinnloſes und Ungerechtes mit ihm und aller Welt höhnend
walte? Und wird ſie ſelber, die Tröſterin, nicht mitgetroffen werden von der
jähen Verwünſchung des ſich genarrt Wähnenden?
Mit zitterndem Herzen und blaſſen Antlitzes wird fie fo ſtark, fo liebend,
daß ſie vermeint, das leuchtende Sein ihres himmliſchen Bräutigams mit
ihrem Wunſch und Atem zu erreichen und den Zauber ſeines vergoſſenen
Blutes herabzuzwingen.
Aber der Ankommende lächelt ſanft, als ſchritte er durch das gelinde
Rauſchen feierlicher Freude. Sein Gang iſt von bebender Sicherheit. Er
bittet ſie, indes ſein Auge in dem ihren haftet, das Zeichen des Kreuzes
über ihn zu machen, und kniet ſtill nieder. Und wie eine Mutter, oder eine 1
zarte pflegende Gattin und Freundin, mit einer Sanftheit, in der der Bal 2
ſam aller tiefften Lebensleiden iſt, entblößt fie mit ihren leichten bla
Händen ſeinen Nacken und beugt ſich zu ihm mit letzten, unſag
Worten. Dann hält ſie das junge Haupt, darin nur noch, als ein era 2
Glanz, fie felbft ift, in ihren Händen. 4
Ein dunkler, lebendiger Blutſtrom ergießt ſich über Leid und Tod; er
ſtrömt über ihre Hände, über ihr Kleid, über das Schafott, über die Stadt,
die ganze Welt. Als wiche aus ihrem eigenen armen, verlaſſenen Herzen y
alles Blut mit dahinein, und zugleich, unaufhaltſam, in die Gnadenfüll
des göttlichen Blutes, ſo ſchwinden ihr die Sinne. Blendender Glanz zückt
über ihren Augen. Du irdiſcher, du himmliſcher Geliebter! Eines Nichts, 4
einer armen Seele, eines armen, liebenden, lichtdürſtenden Weibes ganzes
Sein flieht mit dir empor! —
Späte Worte ſchreibt ſie ſelbſt in der Stille ihres Hauſes von (tem 8 1
Geſchehen, an teuerſte Freunde ſich wendend. „Und wie er dabhingeſchieden
war, ruhte meine Seele in ſo großem Frieden aus und in ſolchem Dufte
des Blutes, daß ich mich nicht entſchließen konnte, das Blut wegzuwaſch
das von ihm auf mein Gewand gekommen war.
Ach! Ich Arme, Elende! Ich will nicht mehr ſagen! Ich blieb al der
Erde mit peinvoller Sehnſucht zurück.“
956 14
8
Der verſtaatlichte Arzt
von Bernard Shaw
Die ſoziale Löſung des mediziniſchen Problems
ie ſoziale Löſung des mediziniſchen Problems hängt von jener großen,
D langſam fortſchreitenden Erneuerung der Geſellſchaft ab, der man
ſich eigenſinnig widerſetzt und die gewöhnlich Sozialismus genannt
wird. Solange der ärztliche Beruf nicht ein Geſellſchaftskörper geworden
iſt, der vom Staat erzogen und bezahlt wird, damit er das Land geſund er—
| halte, wird er bleiben, was er gegenwärtig ift: eine Verſchwörung zur Aus—
- nützung der allgemeinen Gläubigkeit und der menſchlichen Leiden. Unſere
S. B. (Sanitätsbeamten) befinden ſich ſchon in der neuen Lage: der
Wechſel wird nur noch nicht gewürdigt, weder vom Publikum noch von den
> Privatarzten. Denn wir haben ſchon geſehen, daß alle führenden S. B.,
wenn ſie ſich um eine vakante Stellung in einer der großen Städte bewerben,
uf den guten Geſundheitszuſtand der Bevölkerung hinweiſen müſſen, für
den ſie verantwortlich waren, und nicht auf die Höhe des Einkommens, das
die dortigen Privatärzte auf Grund der Krankheiten ihrer Patienten ver-
dienen. Wenn ein Mitbewerber bezeugen kann, daß er in einer großen
Stadt jede Art von mediziniſcher Privatpraxis zugrunde gerichtet hat, aus⸗
. genommen die Geburtshilfe und von Unfall zu Unfall die Chirurgie, dann
ſind ſeine Anſprüche unwiderlegbar; und das iſt das Ideal, wonach jeder
S. B. ſtreben ſollte. Aber der ärztliche Beruf ſollte den S. B. nichtsdeſto⸗
weniger willkommen heißen und ſich für den ſozialen Umſchwung vorbereiten,
der ſchließlich ſein eigenes Heil erwirken wird. Denn der S. B., wie wir
ihn kennen, iſt nur der Anfang jener öffentlichen Geſundheits⸗Armee, die
bud den Plaßz des allgemeinen Intereſſes und der Ehre einnehmen wird,
6 den jetzt unſere militäriſchen und maritimen Streitkräfte innehaben. Es iſt
| von einem Engländer töricht, ſich vor einem deutſchen Soldaten mehr als
vor einem britiſchen Krankheitskeim zu fürchten; mehr Kaſernen in denſelben
eitungen zu verlangen, die gegen mehr Schulkliniken proteſtieren; zu er—
klären, daß der Staat uns zu Bettlern macht, wenn er unſere Krankheiten
bekämpft, obgleich dieſe Leute uns niemals fagen, daß der Staat uns zu
eiglingen macht, wenn er die Deutſchen für uns bekämpft. Glücklicher—
peife braucht eine törichte Denkgewohnheit nur durch vernünftige und witzige
eute fortwährend ins Lächerliche gezogen zu werden; dann wird man ſich
2 ihrer ſchämen und ſie wird zugrunde gehen. Jedes Jahr nimmt die Zahl
der im öffentlichen Geſundheitsdienſt Beſchäftigten durch den Zuwachs von
15 Leuten zu, die früher nichts anderes als Abenteurer im Privatkrankheitsdienſt
geweſen find. Anders ausgedrückt: ein Heer von Männern und Frauen, das
557
gegenwärtig einen gewaltigen Trieb hat, ſich als unheilbringende und ſelbſt⸗
mörderiſche Schurken zu betätigen, wird dann einen bedeutend kräftigeren,
weil viel ehrlicheren Trieb bekommen, den: nicht nur gute Bürger, ſondern
auch für die Allgemeinheit mit helfende Wohltäter zu werden. Und um
ihre Einkünfte wird ihnen nicht bange ſein.
Die Zukunft der Privatpraxis
araus darf man nicht ſofort ſchließen, daß dies die Ausrottung des
D privaten praktiſchen Arztes zur Folge haben wird. Es wird für ihn
nur die Erlöſung von der jetzigen, entwürdigenden und wiſſenſchaftlich ver⸗
derblichen Knechtſchaft bedeuten, unter der er ſeinen Patienten gegenüber
ſteht. Wie ich ſchon gezeigt habe, wird der Arzt bald gezwungen, den Tem⸗
perenzlern und den Trunkenbolden Branntwein oder Champagner-Gelee,
Beefſteaks und Bier in dem einen und harnſäurefreie vegetariſche Diät im N
andern Falle vorzuſchreiben; denn er muß davon leben, daß er den Patienten
gefällt. Dabei hat er die Konkurrenz zu beſtehen mit jedem, der den Sui
dienſt abſolviert, die Prüfungen knapp beſtanden, und ein Meſſi ngſchild
gekauft hat. Er muß alten Stabsoffizieren das Schließen der Fenſter,
ſtarkes Einheizen und den ſchweren überrock verordnen und junge
Schwärmern friſche Luft und ſoviel Nacktheit als die Anſtändigkeit es zu⸗
läßt; und dabei darf er ſich niemals zu ſagen trauen: „das weiß ich nicht“
oder „dem kann ich nicht zuſtimmen“. Die Macht des Arztes wie die
eines jeden andern Menſchen wird, ſobald die Evolution der ſozialen Organi⸗
ſation endlich auch ſein Gewerbe erreicht, darin beſtehen, daß ihm immer
die Möglichkeit der amtlichen Verwendung offen bleibe, ſobald der ihn privat
Beſchäftigende zu tyranniſch wird. Man glaube ja nicht, daß die Worte
„Arzt“ und „Patient“ den Parteien die Tatſache verhüllen können, daß ſie
Arbeitnehmer und Brotgeber ſind. Zweifellos können Arzte, infolge der
großen Nachfrage, ebenſo anmaßend und unabhängig ſein, wie Angeſtellte
aller Berufszweige, ſobald Mangel an Arbeitern in ihrem Fach fie unent⸗
behrlich macht. Der Durchſchnittsarzt iſt aber nicht in dieſer Lage. In
einem überfüllten Beruf kämpft er um ſein Leben und weiß ſehr gut, daß
ein „gutes Krankenbettbenehmen“ ihn durch den Moraſt der Krankheit
zur Zahlungsfähigkeit führen wird, während der geringſte Verſuch, Leuten,
die zu viel eſſen oder zuviel feinen oder muffig wohnen (um die Lifte dei 5
Schädlichkeiten, an denen ſo viele Familien leiden, nicht noch zu vergrößern
die Wahrheit zu ſagen, ihn bald zahlungsunfähig machen würde.
Die ſo geſchützte Privatpraxis würde von ſelbſt Individuen ſogar vor
den Irrtümern und dem Aberglauben der ſtaatlichen Medizin beſchüen e
ſoweit ein ſolcher Schutz möglich iſt. Schlimmſtenfalls ſind dieſe „ ue
ärger als es die Irrtümer und der Aberglauben der Privatpraxis ſind, da
558
fie tatſächlich alle von ihr abſtammen. Wie wir gefehen haben, find Un—
geheuerlichkeiten wie die Impfung nicht auf die Wiſſenſchaft, ſondern auf
eleinige Schillinge gegründet. Wenn die Impfgeſetze ſtatt vollkommen auf—
gehoben zu werden, wie ſie es zur Hälfte ſchon ſind, gekräftigt würden,
daß jedes Elternpaar zwangsweiſe ſein Kind von einem öffentlichen Be—
amten impfen laſſen müßte, deſſen Honorar vollkommen unabhängig von
der Zahl ſeiner Impfungen wäre, und der eine Menge verſchiedener öffent—
licher Sanitätsarbeiten zu verrichten hätte, ſo wäre die Impfung in zwei
Jahren tot. Der Impfer gewänne nämlich durch ſie nicht nur nichts,
ſondern er verlöre an Anſehen infolge der niederdrückenden Wirkung der
Statiſtik der Krankheits- und Todesfälle, welche die Impfung in ſeinem
Bezirk verurſacht. Die Impfung brächte ihn übrigens um ſein ganzes
Anſehen im Zuſammenhang mit der behaupteten Tatſache, daß es keine
* Blattern mehr gäbe: das Reſultat einer guten ſanitären Verwaltung und
tüchtiger Infektionsvorbeugung. Eine fol) lächerliche panifche Angſt wie
die der letzten Londoner Epidemie, die ein Honorar von zwei und einhalb
Schilling für eine Wiederimpfung, gewaltſame Einfälle in die Häuſer in
lbweſenheit der Eltern und die gewaltſame Wiederimpfung von Kindern
zur Folge hatte, kann einfach dadurch verhindert werden, daß man das
dritthalb Schilling⸗Honorar und alle ähnlichen Torheiten abſchafft und nicht
flüür dieſe oder jene Zeremonie einer Hexerei, ſondern für die Immunität gegen
Krankheit bezahlt. Der Beamte mit fixem Gehalt erſpart ſich ſelbſt Mühe,
wenn er bei ſeiner Arbeit den Privatmann möglichſt wenig beläſtigt. Der
Mann, der für jede Arbeit bezahlt wird, verliert Geld, wenn er ſeine Arbeit
dem Publikum nicht rückſichtslos und e um die Folgen ſo oft
wie möglich aufdrängt.
Das techniſche Problem
s gibt kein beſonderes techniſches mediziniſches Problem. Wenn es
ein ſolches gäbe, wäre ich nicht kompetent es zu behandeln, da ich kein
techniſcher mediziniſcher Fachmann bin. Ich behandle den Gegenſtand als
Skonomiſt, als Politiker und als Bürger, der ſeinen geſunden Menſchen—
verſtand gebraucht. Alles, was ich geſagt habe, bezieht ſich gleichmäßig auf
die ganze mediziniſche Technik und gilt, ob nun die öffentliche Hygiene auf
dem poetiſchen Wahn der Geſundbeter, auf dem fachlichen Aberglauben
* es Apothekers und des Viviſektors oder auf dem möglichſt beſten Gebrauch
unſeres tatſächlichen Wiſſens beruht. Aber ich darf jene, die da glauben,
3 das medizinifche Problem fei auch das wiffenfchaftliche, daran erinnern, daß
ſchließlich alle Probleme wiſſenſchaftliche Probleme find. Die Meinung, daß
de Therapeutik oder die Hygiene oder die Chirurgie mehr oder weniger
wiſſenſchaftlich ſeien als Schuhe machen, wird nur von Leuten gehegt,
559
denen ein Mann der Wiſſenſchaft noch immer ein Zauberer ift, der Krank⸗
heiten heilen, Metalle umwandeln und uns befähigen kann, ewig zu leben.
Man wird vielleicht der volkstümlichen Leichtgläubigkeit, der volkstüm⸗
lichen Liebe zum Wunderbaren und der Furcht davor und auch dem volks⸗
tümlichen Götzendienſt noch eine Weile Zugeſtändniſſe machen müſſen
um die Armen dazu zu bringen, ſich mit den ſanitären Einrichtungen zu
befreunden, deren Nutzen zu verſtehen ſie zu unwiſſend ſind. Wie ich an
anderer Stelle eingeſtand, war ich ſelbſt einmal verantwortlich für eine lächer⸗
liche Bezauberung mit brennendem Schwefel, die experimentell als ganz
zwecklos erwieſen iſt, weil arme Menſchen wegen der myſtiſchen Art der
Verbrennung und des entſetzlichen Geſtankes überzeugt find, daß dies die
Dämonen der Blattern und des Scharlachfiebers austreibe und es den
Leuten ermögliche, ohne Gefahr in ihre Häuſer zurückzukehren. Solchen i
Menſchen verſichern, das wirkliche Sicherheitsmittel ſei Sonnenſchein und Ri
Seife, heißt fie nur überzeugen, daß einem nichts daran liegt, ob fie leben
oder fterben und daß man auf ihre Koften Geld erſparen will. Da vollz 8
man eben die Bezauberung und ſie gehen befriedigt nach Hauſe. Eine i⸗
giöſe Zeremonie — ein poetiſcher Segen der Schwelle z. B. — wäre vie i
nützlicher, aber leider ift unſere Religion in ſanitärer Hinſicht ſchwach. Einer
der größten Mißgriffe des Chriſtentums war die Reaktion gegen das wol⸗
lüſtige Baden in der römiſchen Kaiſerzeit. Die Folge davon war, daß die "we
ſchmutzigen Gewohnheiten als zur chriſtlichen Frömmigkeit gehörig betrachtet
wurden und daß an einigen unglückſeligen Orten (die Sandwich⸗Inſeln z. B.)
die Einführung des Chriſtentums auch die Einführung von Krankheiten be⸗
deutete. Die Gründer der abgeſchafften Religion der Eingeborenen hingegen
waren, wie Mahomet, erleuchtet genug, ſanitäre Maßregeln als da ſind:
Waſchungen und die ſorgſamſte und ehrerbietigſte Behandlung aller Aus-
ſcheidungen des menſchlichen Körpers bis zu dem Nagel- und Haarabſchn tel
ße .
15 religiöſe Pflichten zu N Unſere Miſſi onäre brachten leich -
85 ſie wurde ſofort durch Faulheit mi Nachläſſigkeit erſetzt. Wenn % ie
iriſchen Prieſter nur überredet werden könnten, ihre Gemeinden zu lehr 3
daß es eine tödliche Beleidigung der heiligen Jungfrau ſei, ihr Bild in
einer Bay 5 halten, die nicht auf jener Höhe von ee he
Be
u,
legt, weil ihr ee. in einem cen geboren ſei, ſo würden ſie in en 77
Jahr mehr ausrichten als alle Sanitätsinſpektoren Irlands in en
Jahren und ſie brauchten wohl nicht zu zweifeln, daß die heilige Jungfrau
davon entzückt wäre. Vielleicht geſchieht das heutzutage, denn Irland ift ſeit
meiner Jugend gewiß wie verwandelt, ſoweit reine Geſichter und a
560
Schürzen ein Land eben verwandeln können. In England, wo fo viele
} Einwohner zu grobſinnig find, um ſich poetiſchen Vorſtellungen hinzugeben
And zu anſtändig, um den Gedanken zu ertragen, daß der Stall zu Bethlehem
der Stall eines gewöhnlichen Bauern ſtatt ein allererſter Rennſtall geweſen
ſei, und zu ungeberdig, um zu glauben, daß den Teufel einer Krankheit irgend
etwas außer entſetzliche Torturen und Geſtänke wirklich auszutreiben ver—
möchte: in England werden die Sanitätsbehörden zweifellos noch durch eine
lange Spanne Zeit den Narren das predigen müſſen, was ihrer Narrheit ent—
ſwricht. Sie werden Wunder verfprechen und drohen müſſen, daß die Miß⸗
achtung ihrer Verordnungen gräßliche perſönliche Folgen nach ſich ziehen
werde uſw. Es wird deshalb wichtig ſein, daß jeder S. B. neben ſeinen (oder
ihren) andren u Sinn für Humor beſitze, damit nicht er (oder fie)
| endlich dahin gelange, all den Unſinn zu glauben, der notwendigerweiſe ge—
* ſprochen werden muß. — Aber in ſeiner Eigenſchaft als Fachmann, der die
Behörden aufklärt, muß er die Regierung ſelbſt frei von Aberglauben erhalten.
Wenn italieniſche Bauern ſo unwiſſend ſind, daß die Kirche ſich ihrer
nur mit Hilfe von Wundern bemächtigen kann, nun, dann muß es eben
Wunder geben. Das Blut des heiligen Januarius muß fließen, ob
der Heilige dazu geneigt iſt oder nicht. Einen Heiden zu einem pflicht—
eifrigen Chriſten überliſten iſt nicht ſchlimmer als einen Anſtreicher durch
. die Behauptung, daß man die Krankheit mit brennendem Schwefel aus⸗
brennen könne, zu überliſten, damit er ſich in ein Zimmer begebe, in welchem
ein blatternkranker Patient gelegen hat. Aber wehe der Kirche, die,
indem ſie den Bauern täuſcht, auch ſich ſelbſt täuſcht. Dann iſt die Kirche
verloren und der Bauer auch, falls er ſich nicht gegen ſie auflehnt. In—
ſofern die Kirche das angebliche Wunder oft widerwillig bewirkt und fort—
während durch ihre Abneigung gegen die Täuſchung dazu gedrängt wird,
7 den Bauer für die echten Gründe zugänglich zu machen, die ihn bewegen
ſollen, ſich anſtändig zu benehmen, inſofern wird die Kirche ein Inſtrument
ſeiner Verderbnis und ein Ausbeuter ſeiner Unwiſſenheit werden und ſich
zur Verfolgung wiſſenſchaftlicher Wahrheit gedrängt ſehen, deren man alle
Prieſterſchaften anklagt — und keine mit mehr Recht als die wiſſenſchaft—
| liche Prieſterſchaft.
Und damit kommen wir auf die Gefahr zu ſprechen, die ſoviele von uns
BR. ntſetzt, die Gefahr, daß uns eine hygieniſche Orthodoxie aufgedrängt werde.
Aoͤer der müſſen wir eben ins Auge ſehn, denn für ſo übervölkerte und von
Armut geplagte Ziviliſationen wie die unſerige iſt jede Orthodoxie beſſer,
als das laisser-faire. Wenn unſere Bevölkerung eines Tages ausſchließ—
25 aus wohlhabenden, höchſt gebildeten und gründlich unterrichteten freien
Menſchen beſtehen ſollte, die in der Lage ſind, ſich ſelbſt zu ſchützen,
ſo werden dieſe zweifellos kurzen Prozeß mit einer Menge amtlicher Ver—
561
ordnungen machen, die uns heute unbedingt notwendig find, weil Leben und
Tod davon abhängen. Aber ich wiederhole es: unter den beſtehenden Ver⸗
hältniſſen iſt faſt jede Art Überwachung, welche die Demokratie ſich gefallen
laſſen will, beſſer als Vernachläſſigung. Wachſamkeit und Tätigkeit führen
cbenſowohl zu Irrtümern wie zu Erfolgen, aber ein Leben, das mit Fehler⸗
machen verbracht wird, iſt nicht nur ehrenhafter, ſondern auch nützlicher als
ein Leben, das mit Nichtstun verbracht wird. Die eine Lehre können wir
aus all unſerem Theoretiſieren und Experimentieren ziehen: es gibt nur eine
wirklich wiſſenſchaftlich progreffive Methode, das iſt die Methode der Ver-
ſuche und der Irrtümer. Was iſt übrigens das laisser-faire eigentlich anderes
als eine Orthodoxie? Und zwar die tyraniſcheſte und unheilvollſte aller
Orthodoxien, da fie einem ſogar verbietet, etwas zu lernen!
Die neueſten Theorien A
Modu Theorien find fo ſehr Modeſache und die fruchtbarſten
darunter werden ſo raſch verändert durch die mediziniſche Praxis
und die biologiſche Forſchung, welche internationale Tätigkeiten ſind
mein Stück „Der Arzt am Scheideweg“ ſchon ein wenig veralt
Trotzdem glaube ich, daß es als verläßliche Aufzeichnung der Mode⸗
theorien im Jahr 1906, in welchem es begonnen wurde, gelten kann. Ich
darf keinen Berufsmenſchen dadurch dem Ruin ausſetzen, daß ich ſeinen .
Namen mit der vollkommenen Freiheit der Kritik in Zuſammenhang
bringe, die ich als Laie genieße. Aber es wird allen Kennern klar ſein, daß
mein Stück nicht ohne die Arbeit hätte geſchrieben werden können, die Sir
Almroth Wright in der Theorie und in der Praxis geleiſtet hat. Er hat
die Immuniſierung gegen Krankheiten durch Bakterien vorgenommen —
durch die Impfung mit aus ihren eigenen Bakterien erzeugter Kuhpocken⸗
materie — die augenſcheinlich unrichtig „Kuhpockentherapie“ genannt wird
weil es Blatternimpfung iſt, wie ſie ſein ſollte und nicht iſt. Ehe Sir Alm⸗
roth Wright in Ergänzung einer von Metſchnikoffs äußerſt anregenden bio⸗
logiſchen Fiktionen entdeckt hatte, daß die weißen Blutkörperchen oder Pha 2
gozyten, welche die Krankheitskeime für uns angreifen und verzehren, ihr
Werk nur dann vollbringen können, wenn wir die Krankheitskeime für fie appe-
titlich mit einer natürlichen Sauce begießen (Sir Almroth nannte ſie Opſonin)
und daß unſere Erzeugung dieſer Würze in rhythmiſchem Ablauf von der
Vernachläſſigung bis zur höchſten Wirkſamkeit fortwährend ſteigt und fällt, 6
war niemand imſtande, auch nur Mutmaßungen darüber aufzuſtellen, was 15
die verſchiedenen Serumarten, die von Zeit zu Zeit wegen ihres Rufes
wunderbare Heilungen bewirkt zu haben, eingeführt wurden, bald eine ſo
ſchreckliche Verheerung bei irgendeinem unglücklichen Patienten anrichteten,
daß man ſie ſehr raſch fallen laſſen mußte. Die Zahl der frechen Lügen,
562
die nötig waren, um das Anſehen der Impfung dazumal zu retten,
war ungeheuer; und ohne die Aufopferung, welche die militäriſchen
Behörden in ganz Europa an den Tag gelegt haben, indem fie das voll—
kommene Verſchwinden irgendeiner Krankheit aus ihren Armeen befahlen
und dieſes Verſchwinden dadurch zuſtande brachten, daß ſie ganz einfach
den Namen änderten, unter dem die Fälle angezeigt wurden, und ohne
unſere eigene hauptſtädtiſche Aſyl⸗Behörde, die ſorgfältig alle ärztlichen Be—
richte unterdrückte, welche manchmal ganz erſchreckende Wirkungen der
Epidemien, die auf Wiederimpfung folgten, aufzeichneten, hätte wahr—
ſcheinlich eine allgemeine Reaktion gegen die ganze Immuniſierungsbewegung
in der Therapie Platz gegriffen.
Die Situation wurde gerettet, als Sir Almroth Wright folgendes aus—
einanderſetzte: wenn man einen Patienten mit pathogenen Keimen in einem
Augenblick impft, wo ſeine Kräfte ihren niedrigſten Punkt erreicht haben,
um diefe Keime noch als Speiſen für die Phagozyten zu verkochen, ver—
ſchlechtert man fein Befinden ficherlic) ſehr, und tötet ihn vielleicht. Gibt
nan aber genau dieſelbe Einſpritzung, während die Kochkraft ſich zu einem
ihrer periodiſchen Höhepunkte erhebt, ſo ſteigert ſich dieſe Kraft zu noch
weiterer Betätigung und man erreicht genau das entgegengeſetzte Ergebnis.
Und er erfand eine Technik, um feftauftellen, in welcher Phaſe fich der Patient
zu jedem gegebenen Augenblick befindet. In meinem Stücke findet ſich die
ä u er Verwertung dieſer Entdeckung und Erfindung. Aber eine
echnik erfinden iſt ganz etwas anderes als den ärztlichen Beruf zu ihrer
Annahme überreden. Unſere gewöhnlichen praktiſchen Arzte lehnten, wie man
mir ſagt, die Technik einfach ab, da ſie meiſtens nicht die Mittel hatten, ſie
zu erwerben oder es fehlten im Falle der Erwerbung die Mittel zu ihrer
Ausübung. Etwas Einfaches, Wohlfeiles und zu jeder Zeit für alle Leute
ö Vorhandenes iſt, wie ich gezeigt habe, auch das einzige, was praktiſch in der
ü lichen Praxis möglich iſt, was immer im berühmten Laboratorium des
Sir Almroth im St. Mary Hoſpital paſſieren mag. Es wäre nötig ge—
worden, das Opſonin in den mediziniſchen Zeitungen als eine Phantaſterei
und Sir Almroth als einen gefährlichen Mann anzuklagen, wenn ſeine Labo—
kratoriumpraxis ihn nicht zu dem Schluß geführt hätte, daß die gewöhnlichen
pfungen viel zu ſtark ſeien und daß eine verhältnismäßig kleinere Doſis
Ei Phaſe der Kochkraft nicht raſch genug veranlaffen würde, viel—
r deren poſitive Phaſe hervorrufen könnte. Und ſo kommt es, daß die
Weigerung unſerer praktiſchen Arzte, die neue Technik aufzunehmen, in
Wirklichkeit nicht mehr ganz ſo gefährlich iſt, wie ſie es war, als „Der
Arzt am Scheideweg“ geſchrieben wurde; ja daß ſogar Sir Ralph Bloom—
field Benningtons Art der Anwendung von Impfungen, als ob es Löffel
voll Meerzwiebeln wären, manchmal ganz gute Dienſte leiſten kann. Trotz—
563
dem leſe ich, daß Sir Almroth Wright am 23. Mai 19 10 die Königliche
Akademie der Arzneiwiſſenſchaften darauf aufmerkſam machte, daß „der
Kliniker noch nicht dazu bewogen werden konnte, die Sache neuerlich zu
erwägen“, was ſo viel heißt, als daß der praktiſche Arzt (der „Doktor“,
wie er in unſeren Häuſern genannt wird) genau ſo wie früher vorgeht und
nicht die Mittel hat, eine neue Technik zur Kenntnis zu nehmen oder aus⸗
zuüben, ſelbſt wenn er jemals davon gehört hätte. Dem Patienten, der von
der Neuerung nichts weiß, wird er nichts ſagen, und dem Patienten, der da⸗
von gehört hat, wird er fie lächerlich machen und Sir Almroth verun-
glimpfen. Was kann er denn anders tun? Muß er ſonſt doch ſeine Un⸗
wiſſenheit zugeben und verhungern.
Aber nun bitte ich zu beachten, wie das Rad der Zeit ſeine Rache mit ſich
rollt. Jene letzte Entdeckung der Heilkraft eines ſehr dünnen Haares von
dem Hunde, der einen gebiſſen hat, erinnert uns nicht nur an Arndts Geſez
der protoplasmiſchen Gegenwirkung auf Reizmittel (Anregungsmittel),! ur
gemäß ſchwache und ſtarke Anregungsmittel entgegengeſetzte Wirkungen her
vorrufen, ſondern auch an Hahnemanns Homöopathie, die ſich auf di e v
Hahnemann behauptete Tatſache gründete, daß Mittel, die gewiſſe *
tome protoplasmiſcher Gegenwirkung hervorrufen, wenn fie in geröhnli en
noch ſichtbaren Quantitäten genommen werden, genau die entgegengeſetzten
Symptome hervorrufen, ſobald man ſie in unendlich kleinen Quantitäten
nimmt. Das heißt: das Mittel, das einem Kopfſchmerzen verurſacht, wird
die Kopfſchmerzen auch heilen, wenn man nur wenig genug davon nimmt.
Ich habe ſchon erklärt, daß die grimmige Oppoſition gegen die Homöopathie
von ſeiten des Arzteſtandes keine wiſſenſchaftliche Oppoſition geweſen iſt,
denn niemand ſcheint zu leugnen, daß einige Mittel in der angegebene
Weiſe wirken. Man lehnte ſich einfach deshalb dagegen auf, weil
Arzneimitteln, die löffelweiſe oder in erbſengroßen Pillen genommen wur
lebten und weil die Masche für Tropfen und Pillen, die nicht
wo die gebildeten Menſchen gegen die Arzneien mißtrauisch zu werden f
fangen und wo die unverbeſſerlich abergläubiſchen Leute ſo mit patentierten #
Medizinen überhäuft ſind (der ärztliche Rat fi ſie zu nehmen, ſteht rund 1
Mittel geworden, um den Handel mit Arzneien-Miſchungen wieder in gute em
Ruf zu bringen. In dieſem Punkt kommt die Opſonintheorie ſehr gelegen,
um der Homöopathie die Hand zu reichen. N
Man füge zu der neuerlich triumphierenden Homöopathie und dem
Opſonin noch jenen anderen bemerkenswerten Neuerer hinzu: den ſchwe⸗
diſchen Maſſeur, der ſich nicht in Theorien ergeht, ſondern einen von oben
564
bis unten mit mächtigen Daumen fo lange unterfucht, bis er die wunden
Punkte gefunden und ſie weggerieben hat. Dadurch überliſtet er einen
außerdem zu einer kleinen zuträglichen körperlichen Bewegung und man
hat beinahe das ganze Rüſtzeug der heutigen mediziniſchen Praxis bei—
ſammen, ſoweit es nicht ſchlechterdings Zauberei oder nichts als geſchäftliche
Ausbeutung der menſchlichen Gläubigkeit und Todesfurcht iſt. Man füge
noch recht viel Auseinanderſetzungen über vegetariſche, alkoholfreie Er—
nährung hinzu, die mit viel Lärm und Zank eine wiſſenſchaftliche Art des
Eſſens und Trinkens fordern, aber bis jetzt mit keinem andern Ergebnis, als
daß man die Verdauung Metabolismus nennt und das Publikum unent—
ſchieden zwiſchen dem hervorragenden Arzt, der uns ſagt, daß wir nicht
genug Fiſch eſſen, und ſeinem ebenſo hervorragenden Kollegen ſchwanken
N läßt, der uns warnend verſichert, daß eine Fiſchdiät in Lepraerkrankung
endigen müſſe. Man hat dann alles beiſammen, was mit irgendeinem
Schein von Selbſtvertrauen ſich dem zunehmenden Erfolg der Geſundbeter
mit ihren Kathedralen und Gemeinden und Zeloten und Wundern und
Kuren entgegenſetzt. Das iſt alles zweifellos ſehr töricht, aber geſund und
ſinnvoll, poetiſch und hoffnungsvoll im Vergleich zur Pſeudowiſſenſchaft des
betriebſamen Doktors der geſamten Heilkunde, der törichterweiſe die Ver—
folgung oder gar die Hinrichtung der Geſundbeter verlangt, wenn die
7 Patienten der Geſundbeter ſterben, und die lange Totenliſte ſeiner eigenen
patienten vergißt.
Bovor dieſe Epiſtel gedruckt ift, kann das Kaleidoſkop noch einen Ruck
bekommen haben und das Obſonin kann durch die Hand ſeines eigenen
krluheloſen Entdeckers den Weg des Phlogifton gegangen fein. Ich will
icht behaupten, daß Hahnemann den Weg des Diafoirus gegangen ſein
dürfte, denn Diafoirus umgibt uns immer, aber wir werden fortfahren,
unſere Kenntniſſe in der Verfolgung irgendeines Irrlichtes dieſe Dinge zu
erwerben. Was Wiſſenſchaft genannt wird, war immer auf der Suche nach
dem Lebenselixier und dem Stein des Weiſen und ſucht noch heutzutage
ebenfo eifrig wie zu den Zeiten des Parazelſus. Wir haben nur verſchiedene
Namen dafür, wie Immuniſation, Radiologie oder weiß Gott was, aber
die Träume, die uns zu den Abenteuern führen, aus denen wir lernen, ſind
letzten Endes immer dieſelben. Die Wiſſenſchaft wird nur gefährlich,
wenn fie ſich einbildet, daß fie ihr Ziel erreicht hat. An Prieſtern und
Paäpſten iſt nur auszuſetzen, daß fie, ftatt Apoſtel und Heilige, nichts als
Empiriker find, die „ich weiß“, ſtatt „ich lerne“ ſagen und um Gläubig—
keit und Faulheit ſtatt wie die Weißen um Zweifel und Tätigkeit beten.
Solche Abſcheulichkeiten wie die Inquiſition und die Impfgeſetze ſind nur
in den Jahren der Seelenloſigkeit möglich, wo die großen Lebensdogmen
von Ehre, Freimut und von der Verwandtſchaft alles Lebens vergeſſen ſind.
565
In der Zeit, wo der Glaube, daß das Unbekannte größer fei als das Be-
kannte und das Unbekannte nur vorläufig unbekannt ſei, und wo die Ent⸗
ſchloſſenheit, eine mannhaft gangbare Chauſſee dorthin zu finden, in einem
Paroxys mus von Kleinmut und Angſt, in welchem nichts außer finnlichen
Begierden und Todesfurcht tätig ſind, untergingen. Durch die Ausbeutung
der Todesfurcht kann jeder Geſchäftsmann ein Vermögen ergattern, jeder
Schurke ſeine Grauſamkeit befriedigen und jeder Tyrann uns zu ſeinem
Sklaven machen.
Dieſe Schlußfolgerung mag den Männern, die bei uns die Wiſſenſchaft
berufsmäßig vertreten, zu rhetoriſch ſcheinen, da die meiſten von ihnen dazu
erzogen find, nichts zu glauben, als was im Jargon jener Schriftſteller aus⸗
gedrückt iſt, die, weil ſie niemals wirklich verſtehen, was ſie zu ſagen verſuchen,
dafür keine bekannten Worte finden können und deshalb gezwungen find, für
jedes Buch, das ſie ſchreiben, eine neue Sprache des Unſinns zu erfinden. 1
Man geſtatte mir daher, meine Folgerungen fo trocken wie möglich zuſam n⸗
zufaſſen, wenn fie mit exaktem Denken und lebhafter Überzeugung üb
ſtimmen follen.
1. Nichts iſt gefährlicher als ein armer Arzt, nicht einmal ein ar
Brotherr oder ein armer Gutsbeſitzer.
2. Von allen inveſtierten antiſozialen Intereſſen iſt das an ſchlechter Se Ä
ſundheit das Schlimmſte.
3. Man erinnere ſich, daß Krankheit ein Vergehen iſt und man behandle
den Arzt wie einen Mitſchuldigen, wenn er nicht jeden Fall der öffenen
Sanitätsbehörde anzeigt. |
4. Man behandle jeden Todesfall als einen möglichen, und unter unferm
augenblicklichen Syſtem: als einen wahrſcheinlichen Mord, indem man ihn
zum Gegenſtand einer vernünftig geführten Unterſuchung macht und mar
richte den Arzt, wenn es nötig ift, wie man einen Arzt richten kann: indem
man ihn nämlich aus dem Arzteverzeichnis ausſtreichen läßt. Ber f
5. Man werde ſich darüber klar, wieviele Arzte die Gemeinde braud icht,
um geſund zu bleiben. Man trage nicht mehr oder weniger als dieſe Z i
ins Verzeichnis ein und man laſſe dieſe Eintragung aus dem Arzte einen
Staatsbeamten der Allgemeinheit machen, der aus öffentlichen Mitteln mit
einem ſeiner würdigen Lebensunterhalt bezahlt wird. 1
6. Man verwandle Harley Street (den Wohnort vieler Arzte) in ein
ſtädtiſches Amt. *
7. Man behandle den privaten Operateur genau ſo wie man den ben en
Scharfrichter behandeln würde. er
8. Man behandle Perſonen, die vorgeben, heilen zu können, wie man
Wahrſager behandeln würde.
9. Man benachrichtige das Publikum ſorgfältig durch beſondere Sta⸗
mer
W
566
tiſtiken und Kundmachungen über individuelle Fälle, oder über alle Krank—
heiten von Arzten oder ihren Familien.
10. Man mache es dem Arzt zur Pflicht, ein Schild zu führen, auf dem
außer den Buchſtaben, die ſeinen Grad ankündigen, die Worte ſtehen: be—
denke, daß auch ich ſterblich bin.
11. In der Geſetzgebung und der ſozialen Organiſation handle man
nach dem Grundſatz, daß man vernünftigerweiſe nicht erwarten darf, Kranke,
das heißt Perſonen, die ſich durch ihre eigene Tätigkeit nicht am Leben er—
halten können, durch die Tätigkeit anderer am Leben zu erhalten. Es gibt
einen Punkt, an welchem der tüchtigſte Polizeimann oder Arzt, wenn er
zu einem ſcheinbar toten Ertrunkenen gerufen wird, die Behandlung mit
künſtlicher Atmung aufgibt, obgleich man niemals mit Beſtimmtheit er—
klären kann, ob nicht noch fünf Minuten dieſer Übung die Wiederbelebung
zur Folge hätten, wenn die Zerſetzung noch nicht angefangen hat. Die
Theorie, daß jeder lebende Menſch von unſchätzbarem Werte ſei, iſt durch
die Geſetzgebung nicht zu erhärten. Je höher das Leben ſteht, das wir dem
Nenſchen durch weiſe ſoziale Organiſation ſichern, um fo größer iſt zweifel—
s ſein Wert für die Allgemeinheit und deſtomehr Mühe werden wir uns
geben, ihm jede vorübergehende Gefahr oder Untauglichkeit fernzuhalten.
Aber der Menſch, der mehr koſtet als er wert ift, iſt von einer folgerichtigen
* Hygiene ſo gut zum Tode verurteilt wie von einer folgerichtigen Volkswirt—
ſchaft
* 12. Man verſuche nicht ewig zu leben. Es wird einem nicht gelingen.
13z3. Man benütze feine Geſundheit, man nütze ſie ſelbſt ab. Dazu iſt fie
da. Man gebe alles aus, was man beſitzt, ehe man ſtirbt, und man über-
„ehe ſich ſelbſt nicht.
14. Man gebe ſich die äußerſte Mühe wohlgeboren und wohlerzogen zu
werden, was heißt, daß die Mutter einen guten Arzt haben muß. Man
te in eine Schule zu gehen, in der es das gibt, was man eine Schul—
ie nennt, wo Ernährung, Zähne, Augenlicht und andere wichtige Dinge
beobachtet werden. Man trachte beſonders, daß all dies auf Koften der
Nation geſchehe, ſonſt wird es überhaupt nicht geſchehen. Denn man könnte
ungefähr 40 gegen 1 wetten, daß es einem unmöglich ſein wird, dafür ſelbſt
aufzukommen, ſogar wenn man weiß, wie man das anſtellen foll. Widrigen⸗
falls wird man das ſein, was die meiſten Menſchen gegenwärtig ſind: ein
ungeſunder Bürger einer ungeſunden Nation, ohne genügend Verſtand, ſich
Gem en zu ſchämen oder darüber unglücklich zu fein.
%
-
. 567
Aphoriſtiſches von Franz Lift i
Aus Geſprächen auf der Altenburg geſammelt von M. W., mitgeteilt
von La Mara
as Geheimnis des Lebens beſteht im Entſagen. ö
Gedanken ſchwirren überall in der Luft, aber fie find ein ſchwer zu
erjagendes Wild.
Die Schwäche iſt mächtiger als Gewalt.
Man ſoll nicht an das Böſe glauben und nicht auf das Gute rechnen.
Eigenſinn iſt den Leuten zu eigen, denen der eigene Sinn fehlt.
Die Streber erreichen gewöhnlich nur die unterſte Stufe der es die
fie erreichen möchten.
Wenn der Geift uns verleitet, dreiſt Dummheiten zu begehen, ſo k ann
er uns doch nicht vor der Strafe dafür bewahren. R
Manche erfegen die Zartheit der Empfindung durch Feinheit des G0 es.
Es iſt erſtaunlich, wie viele Menſchen bewieſen haben wollen, daß bre
der Verſtand nicht abgeht. We
Da wir der Gerechtigkeit nicht genügende Macht verleihen können, fo %
beſtreben wir uns die Macht zu rechtfertigen. R
Die Geſellſchaft wie das Geſetz begnügen ſich zu beftrafen, nie 15
lohnen ſie.
Der geſunde Verſtand iſt das notwendige Futteral der geſunden = 2
fühle. *
Bewunderung iſt dem Geiſt, was Dankbarkeit dem Herzen iſt.
Die unverſtandene Frau verſteht nicht zur Genüge, daß man ſie n
gut verſteht.
Gunſtbezeigungen modern, wenn ſie zu lang auf ſich warten laſſen.
Ratſchläge gleichen den Brillen. Die Brillen müſſen ſi ch den 2 55 an⸗
paſſen, für Blinde taugen ſie nicht. N
Wie ſoll man ſich dies Ordensfieber erklären? Es gibt ſo viele nur ſchein⸗
bare Verdienſte, daß es begreiflich iſt, daß fie den Schein ſuchen.
„Dies Buch“, ſagt der Autor, „enthält Fetzen meiner Seele. 1 |
Solche Seelenfegen verbrauchen Papier, aber fie dienen nicht dazu, Pap pi
daraus zu machen.
Wenn meine Freunde mit mir diplomatifieren, ſpiele ich ihnen den 3
Dummen vor.
2 a
568 J I.
Das Glück ift die erhabenſte Selbſtverleugnung.
Weimar ift ein Begriff.
Der Klaſſizismus iſt ein Knochen, dem man alles Mark entzogen hat.
Als Richtſchnur laſſe ich nur die Meiſterwerke gelten.
Ich ziehe die muſikmachenden großen Herren der Muſik vor, die fie
machen.
Es gibt zwei Arten Künſtler: die ſchon Philiſter find und die ſich zum
Philiſter aufzuſchwingen ſuchen.
Die Schauſpielkunſt ohne Mimik iſt wie ein Lied ohne Begleitung.
Ein Kunſtwerk ohne Erfindung oder Empfindung iſt überflüſſig.
Don Carlos iſt ein Taſſo als Prinz.
Der Stil Lamartines gleicht den ſchönen Purpurwolken, die den Abend
im Sonnenuntergang vergolden, aber nur zu raſch in Dunſt vergehen.
die Stimme des Pater Roh hat einen herben Klang, aber ſie wurde
25 durch den Umgang mit Menſchen gemildert.
Der „Fauſt“ von Berlioz gleicht einer ſchönen Landſchaft, die durch eine
zu groß angelegte Staffage beeinträchtigt würde.
Ich habe Mendelsſohn gern, Schumann ſchätze ich; ich bewundere Ber—⸗
z und ich liebe Wagner.
Berlioz iſt ein Lavaſtrom, der Felsblöcke mit ſich reißt.
Rubinſtein hat viel Talent, aber nach keiner Richtung erreicht 5 Talent
den Gipfel.
Joachim iſt ein Mann nach dem Herzen der Kunſt.
Wi ſtehen uns mit B. zu nahe, um Freunde zu bleiben.
Madame B. hat nicht den Geiſt im Baren, aber fie hal den Geiſt, das
re Geld zu ſchätzen.
R. iſt eine Art muſikaliſcher Pächter.
| P. gehört zu den Leuten, die finden, daß man nicht zu eſſen braucht,
nur zu dinieren.
Rr. Hält ſich für ſehr weitſichtig, weil er inwendig ſchielt.
S. achtet ſich ſelbſt nicht genug, um andere zu achten.
B. iſt ein geſchickter Mann, denn er hat die Gabe, zu gefallen.
Von einer Sängerin: Sie leiſtet oft Außergewöhnliches, nie Außer:
rdentliches.
Lieber Freund D., Ihre Frau follte den Heroismus Ihres Egoismus haben.
37 569
D. will fo ſehr als erprobter Freund gelten, daß ich ihn nicht auf die
Probe ſtellen möchte.
Hoffmann von Fallersleben hat derbe Feinheiten.
Madam Hanska hat in ihren Beziehungen zu Balzac all ihren Geiſt
aufgewandt, um kleinlich das zu tun, was ihr als glänzende Torheit vor⸗
ſchwebte.
N. ſammelte Gedanken, Maximen wie Schmetterlinge, die fie dann auf-
ſpießte.
Madame d' A. glaubt nicht, was fie ſagt, darum ſagt fie es um fo
beredter.
Weil E. weiß, daß er Geiſt hat, hält er ſich für verpflichtet, bos haft zu fein.
Byron wollte nicht nur wie die Märchenprinzen blindlings, ſondern er
um feiner Fehler willen geliebt werden.
Cooper iſt Walter Scotts Giulio Romano.
König Ludwig J. beſchützte die Kunſt nach dem Maßſtabe ſeiner en
Zum Großherzog Karl Alexander von Weimar: „Sie können nicht durch
Macht wirken, gnädigſter Herr, daher müſſen Sie ſuchen, Vertrauen zu
erwecken.“ („Vous £tes trop peu puissant pour vous imposer, Monseigneur. 8
Il faut donc chercher à vous accrediter“.]
Der Erfolg und ich, wir ſind Vettern.
ER
a a ech a u
Judentaufen“*
von Moritz Heimann
drei Fragen geſtellt; die erſte, welche Folgen vorauszuſehen wären,
wenn ſämtliche Juden, ſei es durch die Taufe, ſei es durch Miſchehen,
ſich ihren Wirtsvölkern aſſimilierten; die zweite, welche Folgen vorauszuſehen
wären, wenn die zioniſtiſche Idee ſich verwirklichte; die dritte, was geſchehen
würde, wenn weder die Aſſimilation, noch der Zionismus einträte. Alle
drei zuſammenfaſſend, begehrt er zum Schluß zu wiſſen, welche der drei
Eventualitäten wünſchenswert erſchiene, ob die Aſſimilation, oder der Zionis—
mus, oder keines von beiden. Mit Recht hat Prof. Sombart in dieſer
vierten, eingeſchlichenen Frage den Sinn des ganzen Unternehmens erblickt;
m denn einzig fie richtet ſich an etwas Wirkliches, den Willen, die andern brei
an die Gabe der Prophetie.
Eine Enquete hat einen Wert, nur inſofern ſie Tatſachen ſammelt; einen
geringeren ſchon, wenn ſie auf Erfahrung aus iſt, einen ſehr geringen, wenn
ſie nach Meinungen und Urteilen geht; das heißt, ihr Wert verringert ſich
in dem Grade, in dem ihr Gegenſtand ſich dem Gewiſſen nähert. Eine
Enquete von dieſer letzteren Art iſt nicht viel anderes als ein Beiſpiel für
das Sprichwort, daß ein Narr mehr zu fragen vermag, als zehn Weiſe zu
antworten. Zwar will ich im vorliegenden die Antwortenden nicht unbe—
dingt Weiſe nennen; und ſie haben ja auch geantwortet.
Es iſt für einen ausgewachſenen Menſchen nicht ganz leicht, Unſinn zu
ſchreiben. Dieſelbe Welt fließt durch aller Menſchen Herz und Geiſt; in
allen iſt ungefähr derſelbe Inhalt; und ſeine Verſchiedenheit, und etwa ſeinen
Rang bekommt ein jeder nicht nach den Dingen, die in ihm ſind, ſondern
nach der Reihenfolge, in der ſie ihm wichtig ſind. Wer demnach auf Fragen,
wie die vorliegenden, erſt antwortet, wenn er gefragt wird, der hat uns nichts
& Weſentliches zu ſagen, auch wenn er das Richtige ſagt. Hat er aber, ſchon
bevor man ihn perſönlich anging, ſich mitgeteilt, ſo wäre es ein gutes und
* Dank verdienendes Stück Arbeit, aus den ſpontanen Mitteilungen einen
* Bei Georg Müller in München 1912.
E. Zeitgenoſſe, Dr. A. Landsberger, hat an eine Anzahl von Männern
*
2
%
27
Beitrag zur Geiftes und Kulturgeſchichte zu machen; die Enquete ift ein
zu leichter Fingerſatz.
Doch Enquete hin, Enquete her. Die Antworten ſind da, und es ſteht
Beachtenswertes genug darin. Am wenigſtens leider von denen, die die
Sache am meiſten anginge, von den Juden. Prof. Ludwig Geiger legt den
Unſinn in der Formulierung der Landsbergerſchen Frage dar, — worin wir
ihm beiſtimmen; aber was er dazu tut, dem ſtimmen wir nicht bei. Hört
man ihn, und zum Beiſpiel auch Prof. Maybaum, ſo müßte man denken,
es ſei alles in beſter Ordnung, zumindeſt auf beſtem Wege. Wir brauchen
die Aſſimilierung durch ein Bekenntnis oder durch Blutmiſchung nicht
mehr zu wünſchen, da wir eine ausreichende durch Bildung (es iſt die
Bildung, die „uns von den Ziegenhirten unterſcheidet“) ſchon durchzu⸗
machen im Begriffe ſind, oder wohl gar ſchon durchgemacht haben.
Zionismus iſt eine Utopie. Wir find Realpolitiker genug, um die Unmöt
lichkeit einer jüdiſchen Staatsbildung zu beweiſen, und lieben de
der Unmögliches begehrt. Das iſt die Stellung des deutſchen Staatsbürgers
jüdiſchen Glaubens; eine würdige, offizielle Stellung, recht für die Majori⸗
tät; nur ſchade, daß fie mit dem Vorwitz auch jede edlere Unruhe abweiſt.
Die heutige temperierte Synagoge ſpricht aus dem Munde dieſer Männer,
und die Gemeinden aller mittleren Städte mit Bildungsvereinen werden N
an dieſe Meinung von ihren Rabbinern hinlänglich gewöhnt fein. Immer⸗
hin iſt das alles beſſer, als was ſich jüdiſcherſeits in dem Buche originelle
und perſönlicher gebärdet. Israel Zangwill iſt ein Zioniſt. Wenn die Juden
nach Paläſtina zurückkehren, dann werden ſie den Grundſtein zu einem
Staate legen, der in einem Jahrhundert oder in zweien den Glanz des alten
Griechenlands und die Größe Roms wird auferſtehen laſſen. Das iſt ſehr
viel Glaube in Israel; das iſt ſo bequem, wie es leer iſt; damit iſt nicht d 5
Geringſte anzufangen. Von einem andern Zioniſten aber, einem Vorkämpfe
noch dazu, ſetze ich den Anfang ſeiner Herzenserleichterung hier wörtlich .
„Meiner Antwort auf Ihre werte Zuſchrift haben ſich faft fo viele fata und
numina entgegengeſetzt, wie der Landung des Dardaners Aneas in Italien:
zuerſt eine wahrhaft mörderiſche Uberbürdung mit Arbeit, dann als Folge
dieſer Erkrankung und —“ und ſo weiter.
So zwitſchert das feuilletoniſtiſch darauf los, — und iſt oder war ein
Führer der Zioniſten. Der und Herzel — welcher, auf tauſend Poſtkacten,
mit dem Gebetsmantel angetan, im Tempel zu Jeruſalem die Thoraroll
erhebend, bis in das letzte kleinruſſiſche Dorf eine Idee propagierte, aber d 2
nicht aufhörte, feine netten Theaterſtückchen zu ſchreiben — das waren Führer 5
von Menſchen, die eine neue Sehnſucht, einen neuen Willen, ein neues Opfer — 1
darzubringen hatten, und in ihrer Inſtinktloſigkeit nicht einmal ahnten, daß Ze
fie ſchon in dem Augenblick widerlegt waren, als fie ſich ſolche Führer
572
nahmen. — Fühlt ſich der Synagogenjude kalt und der nationaliſtiſche kühl
an, ſo iſt der Eigenbrödler — Fritz Mauthner iſt nicht kalt und nicht kühl,
er iſt klamm. Dieſer Philoſoph — der immer nur in der gerade vorliegen—
den Außerung mittelmäßig iſt — glaubt, auf die Klarheit ſeiner Begriffe
ſtolz, an keine Geſchichtsphiloſophie; aber er ſelbſt fühlt ſich im Beſitze eines
„hiſtoriſchen Inſtinktes“, der ihm, zum Beiſpiel, ſagt, daß „die Errichtung
eines Judenſtaates irgendwo in einem angeblich herrenloſen oder geſchenkten
Lande eine Rettung wäre für die unglücklichen ruſſiſchen Juden . . ., daß aber
der abendländiſche Jude von nur Viertelskultur nicht daran denken wird, zu—
gunſten eines ſolchen Judenſtaates auszuwandern.“ Welch ein Inſtinkt! Und
dieſer Philoſoph begreift nicht, „wie etwa deutſche Juden, denen Kant und
Goethe und Beethoven die beſten Erlebniſſe ihres Daſeins geſchenkt haben,
dennoch, aus Prinzipien heraus, zioniſtiſch empfinden können.“ Wenn er noch
3 | : aus dem Blut heraus, oder aus der Leidenſchaft heraus; aber warum
nicht aus Prinzipien heraus? Es iſt eine ſehr dürre Philoſophie, die das nicht
begrei t, und die ſich aus ihr ſelbſt nicht erinnert, wenn ſie ſich nicht aus der
Geſchichte erinnert, daß es Ideenkreuzungen gibt, ganz in demſelben Sinne
von Ernſt und Tatſächlichkeit, wie die Phyſiologen von Blutkreuzung
ſprechen. Aber damit würde er freilich zugeben, daß die Ideen etwas ſind,
und das geht ihm wider die Philoſophie. Welch eine Philoſophie!
* Um es kurz zu ſagen: was uns hier vom Stockjuden und vom Unjuden
2
;
*
zukommt, das iſt zum Einpacken oder zum Verzweifeln. Kein Wille dringt
daraus, kein Wort des Gewiſſens in die Zukunft, und ſogar ſtatt eines
Traumes nur Selbſtgerechtigkeit oder Phantaſterei. Wollen wir erfahren, wie
es um uns ſteht, fo dürfen wir wieder einmal nicht auf unſer Eigen hören und,
im Verfolg davon, auch auf die Freunde weniger, als auf die eingeſtandenen
oder uneingeſtandenen Unfreunde. Die Freunde machen es uns zu leicht.
Sie geben, mit der unangefochtenen und noch in der wohlwollendſten
Klugheit oberflächlichen Heiterkeit alles guten Rates, den guten Rat: tretet
heraus aus der Enge, zerſprengt ſie, die euch drückt, verlaßt die Gemeinſchaft,
in die ihr wider Willen geboren ſeid. Schön; aber wohin ſollen wir treten?
Lagarde, den man ja doch nicht immer nur antiſemitiſch zu zitieren braucht,
erklärte — wie es kleemüden Boden gebe — fo für eine Zeit religions-
müde geworden zu fein infolge feiner „Odyſſee durch die Kirchlein“. Das
kam daher, daß er die Dinge ernſt nahm; — wer ſollte ſie ernſter nehmen,
als der zu wählen hat? Derſelbe Lagarde, der es wiſſen konnte, ſagte:
e proteſtantiſchen Geiſtlichen aller Schattierung find nichts als theo-
ogiſch angefärbte Projektionen politiſcher Velleitäten: Maden, welche die
Farbe der ſie fütternden Frucht annahmen.“ Sollen wir alſo katholiſch
werden, nicht bloß im figürlichen Sinne dieſer Redensart? Wenn wir uns
wollen taufen laſſen, ſo kommen wir um die Frage nicht herum, wohin wir
773
uns taufen laſſen. Daß die Taufe überhaupt nicht recht gelingt, wie der eine
oder der andere Chriſt ſpöttiſch zu bedenken gibt, braucht uns freilich nicht
zu bekümmern. O, ſie gelingt recht gut; ſie macht nicht bloß neue Chriſten,
ſondern macht ſogar Ariſtokraten. Die meiſten unſerer deutſchen ariſto—
kratiſchen Geſichter ſind phyſiognomiſch mehr durch die Geringſchätzung
anderer Menſchen geformt, als durch das reine Selbſtgefühl, durch die Hoch—
formung der eignen Seele und die Geſetzgebung über ſich ſelbſt; dieſe Sorte
von Ariſtokratie hat den Anderen nötig, den ſie verachtet; und die lernt ſich
bald. Nichts lernt ſich leichter, als Genießen; nichts leichter, als Befehlen;
nichts leichter, als Verachten. Aber wenn der Prozeß dieſer Aſſimilierung
zu Ende geſchehen iſt, dann hat er ſogar ſein bißchen Sinn verloren. Hier
ein Lebenslauf in aufſteigender, abſteigender Linie: heute noch ein Jude mit
einem Vater im Synagogenvorſtand; morgen wird er getauft; übermorgen
iſt er Kirchenrat. Seine Kinder laufen als wahre Malvolios mit einer
ſteifen Würde von Antiſemitismus und Religiofität herum; aber ſein
Enkel ſind — nichts mehr; ſie ſind verſchwunden im Nichts, wie
Tropfenperlen von Waſſer im See, fie können nicht einmal mehr mit Ge—
räuſch getauft werden. Es geſchieht für die Kinder, ſo lautet regelmäßig
die Entſchuldigung. Doch das iſt Selbſtbetrug: für die Kinder iſt, wenn
es nur erſt geſchehen iſt, nichts damit geſchehen. Ein Jude kann nicht
Leutnant werden, er läßt ſich taufen, — aber wird denn der Jude Leutnant?
Es wird ja ein ganz Anderer Leutnant, als der es werden wollte! Welch eine
verächtliche Wiedergeburt! Die Taufe iſt, wie die meiſten andern Selbſt—
morde, ein Irrtum über den zu erreichenden Zuſtand; den Selbſtmord
wollen faſt alle Selbſtmörder, aber nicht das Totſein. Ich halte es mit
Sombart, — der uns, glaube ich, nicht wohl will, aber recht hat damit,
daß die Getauften vom ſchwächeren Charakter ſind. Was wollt ihr mit
unſerem Abhub? Aber den habt ihr immer willkommen geheißen.
Nun gibt es indeſſen einen plauſibleren Ausweg, und von denen, die ihn
empfehlen und beinah fordern, ſpricht Richard Dehmel, wie immer, am
meiſten konſequent und der Verantwortung bewußt. Nach ihm hätte die
Forderung an den Juden nicht zu lauten: werde Katholik oder Proteſtant!
ſondern: werde Diſſident! Er ſelbſt iſt Diſſident, und „ein maſſenhafter Zu
drang intelligenter und energiſcher Juden zur diſſidentiſchen Bewegung
würde ihr friſchen Schwung beibringen und ſo auch deutſche Freigeiſter mit—
reißen, männliche wie weibliche.“ Ich laſſe dahingeſtellt, ob dieſer Diffiden-
tismus, außer ſeinem negativen Willen, noch etwas mit ſich vorhabe. Aber
es iſt in dem Worte Dehmels ſelbſt etwas eingeſchlichenes Wahres, woran 1
es zu nichte wird. Dieſes nämlich: daß wir nichts um unſerer bloßen Not
willen tun ſollen, ſondern für ein Ziel und eine Zukunft, daß wir uns in
Wahrheit nur dann helfen, wenn wir damit auch anderen helfen. Und hier
574
überſieht Dehmel, daß ein Jude niemals auf dieſelbe Weiſe Diſſident
wird wie ein Chriſt. Bei dieſem iſt es ein Angriff, bei jenem eine Flucht.
Und eine Flucht wovor? In Weſt-⸗Europa nicht einmal vor einer ſchweren
Bedrängnis — ganz abgeſehen davon, daß eine antiſemitiſche Revolte die
Diſſidenten nicht verſchonen würde; eine Flucht vor Unbequemlichkeiten, vor
Pflichten, oft vor nichts anderm, als vor den Steuern der Gemeinde.
Diſſident zu werden iſt alſo für den Juden keine Tat, die des Rühmens
wert wäre; und um Diſſident zu ſein, müßte er immer wieder fragen, was
er damit iſt, daß er Diſſident iſt. Dehmel meint, daß es keinen aufgeklärten
Juden gebe, „der nicht im Sinne des Evangeliums ein ebenſo guter oder
ſchlechter Chriſt wäre wie irgendein anderer moderner Europäer.“ Er irrt
hierin, er muß es mir aufs Wort glauben, und irrt vollſtändig. Das gebildete
Lyzeumschriſtentum geſchwächter Juden iſt nichts nutze. Dehmels Irrtum
iſt ein perſpektiviſcher Irrtum; der Dichter ſollte ſich nicht ſelbſt vergeſſen, wenn
er philoſophiert, und es immer wiſſen, daß Gott ein Weg iſt und kein Ziel.
Wenn ich alſo gefragt werde, ob ich mich taufen laſſen will, oder Diſſident
werden, oder ſonſtwie als Jude verſchwinden, und darauf mit nein ant—
worte; und weiter gefragt werde, ob ich demnach der Jude der Synagoge
und Gemeinde bleiben will, und darauf wieder mit nein antworte; — iſt
das überhaupt noch eine Anwort? es ſcheint nicht ſo; und doch gibt es, in
unſrer vorliegenden Enquete, von nicht jüdiſcher Seite, Auseinanderſetzungen
die die Möglichkeit einer ſolchen Antwort zum Grunde haben. Profeſſor
a
|
Niebergall unterſucht, wohin der eigentlich will, der ſich taufen läßt. Es ift
die Kirche, die ihn aufnimmt; und gerade dort hinein will er erfahrungsgemäß
am wenigſten. Scheidet man die leichtfertigen und die Renegatenfälle des
gewöhnlichen Kalibers aus, ſo will der Täufling am öfteſten an die allge—
meine Kultur des Volkes erklärtermaßen angeſchloſſen ſein. Und Niebergall
möchte nicht nur dieſes ohne die Taufe ermöglicht wiſſen, ſondern er
geht noch den Schritt weiter, daß er auch die Glaubensgemeinſchaft ohne
die Taufe erreichbar möchte ſein laſſen. Der Akt der Taufe ſelbſt ſollte immer
nur in die Kirche beſonderer Form, beſonderer Konfeffion und beſonderer
Verpflichtung führen.
Um dergleichen zu ermöglichen, dazu gehörte die Bereitſchaft der Kirche,
des Staates und des Volkes. Und dazu gehörte, daß der Staat und das
Volk ſich zu ihren Kirchen in ein anderes Verhältnis ſetzten, als in dem ſie
heute ſtehen. Vorläufig iſt davon nichts zu erwarten. Aber an der Nieber—
gallſchen Unterſuchung iſt etwas uns wertvoll: daß ſie keine Löſung als
möglich hinſtellt, die nur die eine Seite zur Handlung treibt, die andere
aber liegen, beſitzen und ſchlafen läßt. Wir, wir Juden, ſehen aus ſolchen
Erſcheinungen, daß, wenn wir uns nur wirklich regen wollten, wir nicht
überall auf das Unbewegbare ſtoßen würden; und daß es ſich bei uns regt,
1
Pr
575
ift eine Tatſache. Es regt ſich, nicht von einer äußeren Not aufgeſcheucht,
ſondern von einer inneren. Es gibt unter den Juden heute nicht wenige, die
der chriſtliche Gedanke in anderer Weiſe unruhig macht, als Dehmel ahnt,
und wenn ſie an Diſſidentismus denken, ſo geſchieht es nicht, um ſich ſelbſt
aufzugeben.
Die Frauen⸗Ausſtellung
von Lucia Dora Froſt
er Sinn der Ausſtellung iſt von denen, die fie verurteilen, nicht ver
ſtanden worden. Wenn man mit der Erwartung hineinging, aus- |
ſtellenswerte weibliche Leiſtungen zu ſehen, fo mußte man e 8
herauskommen wie degradiert, erbittert gegen fein eigenes Geſchlecht, das
ganz Deutſchland mobiliſieren kann, ohne auch nur einen halben Saal
voll repräſentabler Dinge zuſammenbringen, ohne mehr als eine N d
erträglich behängen zu können; mußte erſtaunt fein, über die ſinnloſen Deko-
rations⸗Einfälle über dieſen Wuſt hergelaufener Nichtigkeiten, über dieſe
Sammlungen aktiver Unfähigkeit. Aber der Zweck war ein ganz anderer;
und der iſt glänzend erreicht worden. N
Dieſe Schauſtellung ſollte die deutſche Frauenwelt um die Frauen⸗
bewegung ſammeln. Deshalb durfte nicht gewählt und nicht geſichtet werden,
mußte eine Unſumme von Beteiligungen zugelaſſen und herangezogen und
ein Niveau hergeſtellt werden, daß auch die Maſſen der Beſucherinnen ſich
ausftellungsfähig, heimiſch und nicht bedrückt fühlen konnten. Zugleich mußte
jeder in Kunſt, Literatur und Gewerbe tätigen Frau die Überzeugung er⸗
wachſen: die deutſche Frauenbewegung ſtellt keine Anſprüche von männlicher
Strenge, ſie iſt abſolut zugängig, hier wird noch die Berechtigung aller
„Richtungen“ zugeſtanden; wenn ich nirgends anerkannt werde, in ihrem
Zeichen werde ich ſiegen. Die deutſche Frauenbewegung hält ihren Sch
über jede Weiblichkeit. 5
Das iſt natürlich ein grundſätzlicher Rückſchritt. Die alte Neutralisation
der weiblichen Angelegenheiten, ihre Sicherung gegen männliche Urteile,
ihre Abſonderung in Erziehung und Lebensführung: das war es, wogegen
die Frauenrechtlerei einſt auszog; man wollte Gleichheit der Beurteilung,
gleiche Verpflichtung, offenen Wettbewerb. Jetzt, mit dieſer Schaufel 7
beginnt die Rückkehr zur Neutraliſation. Sie iſt die vielleicht endgültige lb⸗
kehr von dem Gedanken, durch Emanzipation von ſeinem Geſchlecht in de a
Leiftung und Lebensführung dem männlichen Geſchlecht nacheifern zu
576
können. Man grenzt fich wieder ab, man iſt unter ſich, man betont (das ift
das Geſunde an dieſer Ausſtellung) wieder die Tatſache der Spezifität. Aber
(und das iſt das Bedenkliche) man pocht auch auf ſie und zeigt ſich bereit,
die Einmiſchung und letzte Kompetenz der Männer und damit die Kultur
abzulehnen. Es iſt eine Niederlage, nicht des Emanzipationsgedankens,
wohl aber der Abſicht, ihn auf das ganze Geſchlecht auszudehnen; und es
| ift zugleich ein Sieg der Frauenbewegung, die gegen die männliche Autori—
tät ankämpft (die von der Emanzipation anerkannt wurde). Die Ausſtellung
iſt ein Strategem der Führerinnen. Man ging zurück, um beſſer zu ſpringen.
Dieſe Ausſtellung iſt alſo zunächſt politiſch zu beurteilen. Seinerzeit wurde
in der „Zukunft“ bei Beurteilung des Vereinsgeſetzes die Befürchtung aus⸗
. geſprochen, daß nun die politiſche Erweckung der Frauen durch Schauſtellungen
würde betrieben werden. Das iſt nun zum erſten Male geſchehen. Die
* Frauen⸗Ausſtellung war eine erſte General⸗Muſterung und eine allgemeine
. Fühlungnahme in möglichſtem Umkreis. Das Bewußtſein der Einheit iſt
erweckt worden, das die Vorausſetzung großer Aktionen iſt. Unter Sanktion
durch die Kaiſerin, Anweſenheit der Miniſter, Aſſiſtenz der Preſſe ſind der
Frauenwelt die berufenen Führerinnen vorgeſtellt worden. Sie können jetzt
nach unten verſichern: wendet euch an uns, wir haben die Preſſe, die Abge—
ordneten, die Regierung zur Verfügung; wir haben Beziehungen zu allen
Höfen, unſere Macht reicht an die allerhöchſte Stelle. Und ſie könnten nach
oben hin, wenn man nicht willig ſein ſollte, auf die unüberſehbaren Scharen
weiſen, deren Eifer hinter ihnen bereit ſteht. „Die Frauenbewegung iſt eine
Macht geworden“, ſagte ein Parteiführer unter dem Beifall des Reichstags.
Keineswegs ſteht ihr frei, dieſen Sieg nicht auszunutzen. Die Gründung
eines Lyceum-Bundes (aus dem dereinſt eine Lyceums-Partei entſtehen
könnte) wäre jetzt möglich. Was den Männern nicht gelingen wollte, der
Frauenpolitik wird es vielleicht glücken: einen bürgerlichen Frauen-„Block“
au errichten; der hier fein erſtes Erlebnis hatte.
Dieſes Werk gilt auch außerhalb der Frauenwelt für eminent ſozial und
Politiſch bedeutungsvoll. Die Erkenntnis, daß ſich die Frauen, von den Ho—
? heiten und Exzellenzen bis zur Handwerkerin und Tochter des Arbeiters, unter
dem Zepter des Sozialen, Spezifiſch⸗Weiblichen und Unbedeutenden zus
ſammenfinden können, entzückt die Überbrückungspolitiker. Man ſieht ſchon
die Frauen als das eigentliche Bindemittel, als das Medium der ſozialen
Verſöhnung. Aufhebung der ſozialen Gegenſätze durch vertiefte Ethik: dieſer
Frauen⸗Sozialismus wurde im Reichstag ſchon den Männern als Beiſpiel
aufgeſtellt. Man könnte glauben, der Teufel ſei geſtern geſtorben. Ein ſo
beunruhigend kleiner Optimismus dürfte natürlich auch wähnen, jetzt mit
Hilfe eines Lyceumbundes ohne Frauenwahlrecht auskommen zu können.
Statt der Frauen im Parlament hätte man dann die Konterregierung eines
1
Klubs, der die Damen der Geſellſchaft und die Rechtlerinnen umfaßte, der
die Reſolutionen und Petitionen der deutſchen Frauenvereine und Berufsver—
tretungen ſammelte, Abſtimmungen und Gutachten einforderte, Enqueten ver⸗
anſtaltete und Kundgebungen organiſierte. Dahin treiben die Dinge. Aber
das iſt gefährlich. Davor muß gewarnt werden. Man überhöre nicht das
dumpfe Grollen, das dieſe Frauen-Veranſtaltung in der Sozialdemokratie er⸗
regt hat. Jede Frau könnte in dem unbeſtimmten Medium dieſer Damen-
politik ihre foziale Stellung in politiſchen Einfluß umſetzen; fie könnte das
Vorrecht ihrer Geburt auch noch politiſch aktivieren, ohne viel Mühe eine
Rolle ſpielen, Macht erlangen, die Männern nur durch ſchwerſtes Ringen
oder überhaupt nicht erreichbar iſt. Die Frau von Stand, die ſich der
Offentlichkeit ausſetzt, verkörpert die Ungerechtigkeit, die in der
ſozialen Schichtung liegt, auf eine irrationelle und aufreizende Weiſe.
Man berechne, wie die Luft der Politik durch dieſe weibliche Nebenpolitik
heißer und ſchwüler würde, wie ein irrationelles Milieu entſtände, in dem
ſich Keime entwickeln und Dinge möglich werden können, die in der harten
Luft der ſcharf begrenzten Kompetenzen, in der ſchönen offenen Mafchinerie
der Männerpolitik nicht ausführbar ſind. Die Beſchränkung auf weibliche
Angelegenheiten würde auch nicht dauern, die ſoliden Methoden würden
weichen, wenn einmal Eitelkeit und Ehrgeiz entfeſſelt wird. Dieſe Art
Frauenpolitik wäre ein Verhängnis für die ſchon genug bezweifelte bürger—
liche Welt. Man hat ſchon zu viel inoffiziell geleiſtet. Man rühmte ſich
einſt offen, die Durchſetzung der Frauenbildungsreform im Landtag ſei den
Salonpropanda zu danken. Das war ſchon verkehrt. Das iſt ancien
régime. Das iſt vorrevolutionärer Stil. Das iſt gerichtet. Vergißt man
die Volksſzenen nach Frauenprozeſſen? Vergißt man die ſo nachdenkliche
Tatſache, daß man den König zwar in der Staatskaroſſe zur Guillotine
fuhr, Marie Antoinette aber damit überraſchte, daß man ſie mit einem
Schinderkarren abholte? Man kann die politiſchen Rechte der Frau rück⸗
gängig oder überflüſſig machen; ſonſt muß man weitergehen im Alphabet der
Freiheit. Aber vielleicht war nur die Gemäldeausſtellung daran ſchuld, daß
man ſieben Tage lang rot ſah.
Von der Abſicht, durch Sammlung Macht zu gewinnen, wurde nich
geſprochen. Auf dem Kongreß iſt geſagt worden, dieſe Veranſtaltung ſei be⸗
ſtimmt, die Kultur der Frau zu erhöhen. Wenn das als Nebenprodukt be⸗
abſichtigt war, ſo hat ſich gezeigt, daß man es nicht kann, daß jede Frau, die
zu einem perſönlichen Leben in größerem Sinne aufſteigen will, nach wie 55
auf die von Männern geſchaffenen Kulturmittel angewieſen iſt. Wenn man
auch auf die Maſſe Rückſicht nahm, ſo bleibt doch beſtehen, daß man es
übers Herz brachte, eine ſolche Ausſtellung von Gegenbeiſpielen der Kultur
zu veranſtalten, daß man verſagte, auch wo man repräſentieren wollte.
578
Man denke an den Fries auf dem konvexen Halbring mit dem leeren Rechteck
als „Kulminationspunkt“; das war einmal für ein Totendenkmal die
Idee, und Bartholomes Werk mag bewundern, wer kann, es war doch nicht
ſinnlos; aber dieſe Allegorie „Der Weg des Weibes führt in den Lyceum—
klub“ war grundverfehlt; und ſtand als Einfall nicht über der Schaufenſter—
fontäne, die Seidenſtoffe von innen erleuchtete, wodurch die Farben einen
Ausdruck aktiver Starrheit bekamen, vor dem man ſich auf dem kurzen
Wege ſchon mehrmals glaubte bekreuzigt zu haben. Doch wozu den Paſſions—
weg noch einmal rekapitulieren? Was für ein Fortſchritt iſt es, den ſpieß—
bürgerlichen Imperativ: Schmücke dein Heim, zu ergänzen: Schmücke dein
Heim modern? Und glaubt man im Ernſt, daß jemand die Kunſtausſtellung
als „ſpezifiſch weibliche“ Malerei verteidigen dürfte? Das Schaffen iſt ein
ſpezifiſch männliches Vermögen und kommt manchmal bei Frauen vor, aber
es gibt keine ſpezifiſch männliche und ſpezifiſch weibliche Malerei. Das iſt
längſt bekannt. Auch wäre die Annahme verfehlt, daß alles das nicht ge—
ſehen wird. Aber man iſt bereit, den Wert gegen den Erfolg einzutauſchen,
die ſtrenge Heiterkeit der Kultur an den entgötterten Ernſt der Politik zu
verraten, und hofft in der Offentlichkeit durch ſeine Inſzenierungskunſt auf
größere und pomphafte Erfolge.
Das beſtätigte im ganzen auch der Kongreß. Manchmal konnte es
ſcheinen, als ob eine Wendung zum Beſſeren eingetreten ſei. Man ſprach
ſogar von Umſchwung, von Verirrung, von einſtiger Unterwertung der
Frauenſendung in Haus und Familie. Aber die ſo ſprach, ſchlug obliga—
toriſche Haushaltungskaſernen für die halbe Million deutſcher Mädchen vor.
Das bedeutet 25000 neue Berufsſtellen und eine weibliche Fach- und
Verwaltungsbureaukratie, die bis ins Miniſterium hinaufſteigt. Darauf
läuft dieſer merkwürdige Umſchwung immer hinaus. Man kann dieſes
mehrtätige Redewerk um die drei Forderungen gruppieren: Hauswirtſchaft,
Qualitätsarbeit und ſpezifiſche Weiblichkeit. Mit Hauswirtſchaft werden
Hauswirtſchaftsſchulen gefordert, mit Qualitätsarbeit Gewerbe-, Handels—
und Arbeitsſchulen, mit ſpezifiſcher Weiblichkeit wird das Verlangen
gedeckt, die Fachleiſtung in dieſen Schulen und ihre Verwaltung weib—
en Händen zu übertragen. Das iſt eine Ausdehnung des Berufs—
weſens mit frauenfreundlicher Dekoration.
k Trotzdem muß die Geneigtheit zum Umſchwung feſtgeſtellt werden. Oder
wenigſtens die Geneigtheit, das Fortſetzen der alten echten Weiblichkeit
manchmal für wichtiger zu halten als die Erringung neuer Rechte. Aber
. iſt an ſolchen Außerungen aus dem Wunſch zu erklären, alle irgend—
wie geltenden Meinungen zu Gehör zu bringen? Das eigentliche Problem
aber wurde nicht behandelt.
3
579
Schloß Wetterſtein
von Will Scheller
I. Trilogie.
egebenheiten wirken, wenn ſie von der Kraft erſonnen ſind, nicht auf
B dem Papier; auch die Bühne iſt ſtets nur ein Mittler. In der ge⸗
hirnlichen Eigenſphäre des Schauenden aber ſpielen die Kämpfe.
Verso folio: Der Mord auf der Gaſſe läßt ſich anſchauen wie eine Geflügel⸗
ausſtellung, hat nichts vom Hauch methaphyſiſcher Bedingtheit. Aber der
Bericht gibt ihm Geſtalt; das Papier gibt ihm Grund zur Unſterblichkeit
über zwei Tage hinaus. Kulminationspunkt und Maß der Dinge: der ge⸗
fühlvolle Zuſchauer im Parterre. Keinen ſoll das aber ſtören, denn man
nimmt ſich ſelber ſchüttelnd aus von allem, was da ſimpelt. Man hat recht.
Wenn aber der Kampf aus dem unausgeſetzt zuckenden Hirn bildhaft herr
austritt, auf das Papier, auf die Bretter, wenn der alte Funke hinüberſpringt
in das zweite Hirn, wenn dieſer unſichtbare elektriſche Prozeß die Luft der
Stube oder die des verdunkelten Hauſes mit zündenden Stoffen erfüllt,
dann verſinkt das Individualgefühl, dann verbrennt das Papier mit einem
raſchen Zug vom Wind und die Bühne geht auf in Rauch. Das geiftige 2
Erlebnis als chemiſcher Vorgang: Ein Symbol. 2
Aber ſo kommt man nicht weiter. Hier auf dem Brette der Tanz des
Gauklers, dort vor dem geſpannten Seile die ſtarrenden Blicke. Das, was
vorgeht, ift weder Tanz noch Blick, es liegt in der Luft, leicht entzündbar
und ebenſo leicht zu vernichten. Prädeſtinierte Hirne leben das Ganze; aber
nicht alle ſind — prädeſtiniert. Entweder quellen die auf oder ſie ſengen an;
jedenfalls riechen ſie nicht gut. Am übelſten unterm Strich.
Es iſt ja nicht leicht, keineswegs. Man erwäge die Vorgeſchichte. Rüdiger
von Wetterſtein hat anonyme Briefe geſchrieben, dadurch liſtvoll ſeine Frau
ſich ſelbſt entfremdet, dem Major die Ehe verträufelt; ein Duell, Mar
tot, Frau von Wetterſtein geſchieden. Reſt: Rüdiger v. Wetterſtein und dee
Frau Major. Nämlich Leonore mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Effie, die
gerne ins Theater gehen möchte. Damit beginnt der Komödie brillant
Dialog: Zündſtoff. Am Ende zwei Verlobungen. Effie hat ſich einen jung
Grafen von der Straße geholt und ſagt zu ihrem Stiefvater: Sie ſind in
allen Sätteln gerecht. Rüdiger antwortet elwas ſpäter: unſer Gefühlsleber
befteht aus der Überſchätzung menſchlicher Beziehungen. (Man fage ſich 7
einmal laut her; es klingt ſehr merkwürdig.) 5
Jetzt ſpalten ſich die Bewegungen. Luckner, ein Vieh, hat ſich von Rü- N
diger mit Abſicht um zwei Millionen in Diamanten beſchwindeln laſſen,
um die Frau zu kirren. Er hat aber üble Sprachangewohnheiten, was ihm
180
alle Möglichkeiten im vorhinein verdirbt. Dennoch ſpannt ſich das Ge—
ſchehen. Da gibt Effie der Mama einen guten Rat. Luckner erſchießt ſich,
er kann es nicht ertragen, es gibt auch ein Übermaß von Liebe. Was zu
heiß iſt, iſt zu heiß. Rüdiger iſt ſchon geſchwächt, fein paſſionelles Pathos
angekränkelt; er hat offenbar einen Rechenfehler begangen. Effie, la Com-
tesse d' Armont, in aufſteigender Linie zur Edelhure. Rüdiger hält ihr nicht
lange ſtand, — als die Kataſtrophe eintritt: Der Schuß, Leonores Zer—
rüttung und prompt erfolgende Feſtnahme durch die bundesrätliche Polizei.
Vorhang.
Nach dem Schauſpiel die Tragödie. Effie hat ſich auf Schloß Wetter⸗
ſtein etabliert und läßt ſich durch ihren Manager Salzmann bloß noch an
Staatsoberhäupter und Milliardäre verkaufen. Sie beſitzt einen ſkurrilen
Hofſtaat und ſpendet ihren Eltern eine Leibrente: Rüdiger und Leonore ſind
IR bereits abgetan und wandeln wonneſäuſelnd einher. Von Anfang diefes
4 Stückes bis zum Ende iſt nun Hochſpannung. Alles vibriert unter dem
elektriſchen Einfluß. Mr. Tſchamper aus Atakama fährt ein mit Getute.
Seine klobige Beſcheidenheit bringt das Ding zur Exploſion. Dramatiſche
Höhe von äußerſter Intenſität: Effies Lebensbewegung ſcheitert in ekſtatiſch
geſteigertem Kampf an der hypergeſunden Perverſität des Amerikaners.
Was ihre Daſeinsbejahung nicht erreichen konnte, das fällt der Umkehrung
ihres Lebens reif in den Schoß. Ein paſſiver Triumph. Effie trinkt dem
Amerikaner die Blauſäure vom Tiſch weg. Sie windet ſich. Tot. Tſchamper:
„er ſpringt erfriſcht auf und blickt zum Fenſter hinaus.“ Einige Minuten
ſpäter Schluß. Gänzlich.
II. Wedekind Kompreſſor.
W'öe⸗ einer in ſich zu bändigen hat, iſt Chaos. Wie er es herausſtößt,
das iſt ſein Geſetz, ſein Stern, und ſeine Verwandlungen ſind den
Umläufen eines Geſtirnes vergleichbar. Wir ſehen beim einen die Glut wie
durch bunte Gläſer ſchimmern, beim anderen wirkt ſie verworren die ſtete
Gebärde, den Strahl durch Wolken; manches Kataſtrophen ſprengen die
Häute und machen Wunden, welche dunkel glühen. Das Chaos aber iſt die
die qualvolle Geburt des Blutes, und ſo lange das Blut im lebendigen
We urkel kreiſt, erneut ſich das Chaos von Stunde zu Stunde; jede Bändigung
N ſprengt eine neue Quelle. Wird das Blut träge, ſo gerinnt das Chaos;
Man geht einen ſehr bedenklichen Irrweg, ſobald man vom geſchriebenen
Wort her nach dem erzeugenden Stoff zurücktaſtet. Auch wird man es nie⸗
mals vermögen, pſychophyſiſche Normen in dieſem Betrachtungswinkel auf
zuſtellen. Das ſchaffende Gehirn iſt einzig und kann nur an ihm ſelbſt —
581
gemeffen werden, wenn ihr denn Maße wollt. Aber ihr werdet auch da fehl-
gehen, weil ein Gehirn, das nicht gemeſſen werden will, ſondern im andern
hier und dort zünden und geſtalten will, ſich nicht meſſen läßt. Es duldet
nicht dergleichen; es macht eure Zahlen zu ſchanden und ihr werdet
Fratzen ſehen, wo euch Geſichter anblickten, als ihr unbefangen wart.
So hat hat man dieſen Dichter betrachtet: Von dieſer und jener Seite,
und immer eine Teilanſicht gewonnen und eine verzerrte obendrein. Dies
Zeitalter wird ihn niemals richten.
Sein Drama iſt zunächſt die Kraft. Seit Shakeſpeare hat vielleicht
keiner ſo ſchmerzlich ganz gefühlt, woraus zu ſchöpfen ſei, keiner ganz den
ungeteilten Schwung im Blut empfunden. Hier aber iſt er zu ſpüren, ganz
echt, ganz klar, ganz ſchmerzvoll. Dies Leben von einer Intenſität ſonder⸗
gleichen ſaugt alles Zukünftige, Blutnährende, alles, was jetzt da iſt und
alles, was in dieſem quillt, mit äußerſter Hingabe des geſamten Daſeins in
ſich hinein, kondenſiert alles Weſenhafte, alles dieſer und der nächſten und
der übernächſten Epoche innerlichſt Eigene nach dem Takte des Pulsfchlage: „
und dieſes Chaos, das aus dem lebhafteſten Blute hervortritt, läßt im Ge⸗
hirn ſich langſam bilden, es läßt ſich bilden, bis es der Bändigung unter
liegen muß, und dann empfangen die ſchmerzenden Hände das Werk. 1
Alles Schaffen iſt Wechſelwirkung. Wenn bei dieſem Dichter und
beſonders bei ſeinem neuen Werk dies ſo ſehr zu empfinden iſt, ſo kann man
daraus doch nichts formulieren, was erheblich ausſähe. Wer ſein Empfinden
auf Spalieren zieht, wende ſich ab. Denn es geſchehen hier Dinge, die
nicht mehr vom bloßen Empfinden abhängig ſind; hier geſchieht, was bei
euch auf der Straße und in der Stube nie geſchehen wird, ſo, wie ihr es
da ſeht. Hier geſchieht der ganze Akt einer Zeit über zwei, drei Epochen,
hier iſt, mit Anſpannung eines ganz individuellen Vorhandenſeins, aus dem
tauſendfachen Geſchehen ringsumher ahnungsweiſe und dennoch mit
größter Sicherheit des Gefühls ein einziges Geſchehnis gemacht, ſymbolhaft
anzuſchauen, erſchütternd, den Boden, auf dem wir ſtehen, mit Aſche
verſehrend. Die Menſchen, die wir dort reden hören und handeln ſehen,
ſind nicht dieſe oder jene Menſchen, ſondern das eine iſt dieſe Art von
Menſch und das andere iſt jene Art von Menſch; ein gigeniſches Schau⸗
ſpiel, welches dem kalten Herz den Sieg überläßt. Ihm iſt die Zukunft
zu eigen. Alle übrigen ſind Erſcheinungen der Etappe. a
Hütet euch aber, an Allegorieen zu denken. Dieſem Dichter war es
keineswegs angelegen, ſeinen Geſtalten aufzuprägen, was nun ſinnbildlich 23
erſcheinen mag. Unbewußt ſchuf er an dem über dieſe Zeit Hinausdeutenden
ſeines Werkes, ahnte vielleicht kaum, daß aus den Ideen unerbittliche Bei—
ſpiele wurden. Das erhebt den Namen über die Sphäre des literariſchen
Partikularismus. Aber: dies Zeitalter wird ihn niemals richten. Die
En,
8
582
Kraft der Kondenfation als Kriterium dramatiſchen Geſtaltens ift heutigen
Zungen zu ſchwer auszuſprechen.
r
III. Beklemmungen.
s gibt kein zutreffendes Wort für die Tonart, welche die Deutſchen von
heute ihren Dichtern gegenüber anzuſchlagen belieben. Es kann einer
noch ſo ſehr ein ganzes Leben langſam opfern, coram publico ſezieren mit den
erſtaunlichſten Handgriffen: es zieht nicht, denn der gute Bürger hat Gemüt.
Er geht und führt ſeine ſemmelblonden Leidenſchaften fünf Akte lang vor
einem ebenſo ſemmelblonden Getue ſpazieren und agiert alsdann mit der
getreuen Bettgenoſſin das dämmrige Nachſpiel. Vor ſeiner Türe aber hängt
ein Schild: cave canem.
Wir wollen nicht glauben, daß dieſes vor hundert Jahren ſchon der—
maßen geweſen ſei. Nein, das wollen wir nicht glauben. Da haben wir
doch hiſtoriſche Daten, und die laſſen wir uns nicht ausreden. Aber woher
1 dieſes heute, daß von den etwa drei ſublimſten Geſtaltern der eine, nach—
den er kraft ſeines unerhörten Individualwillens das Niveau der Sprache
nur durch ſein Beiſpiel in einem Jahrzehnt um Menſchenalter gehoben hat,
ſehen muß, daß er die Summe der erbärmlichſten Schmarotzer mitgehoben
hat, im ſchier unausrottbaren Verein; der andere, hier Gegenteilige,
ſchmerzvoll ſtreitend jedes Werk zu gering für die ſtarken, erſehnenden Hände
ſchauend, dieſe ſeine ganz perſönliche Tragik vor aller Welt im beinahe
ſteten Mißlingen zur Schau tragen muß; der dritte, aus gepeinigteſten
Zügen Blickende, das eigene Blut durch alle Masken reden Laſſende den
Bajazzo ſpielen muß, als Harlekin vor der Rampe ſtehend in Verzweiflung
nichts anderes ſehen darf als Mißkennung?
Das aber iſt das Heute der deutſchen Dichter, das ihr Herausſtoßen des
Gelebten als Ding der Kunſt wie das Hinausſtoßen eines ſchutzloſen Kindes
in eine Dezembernacht iſt, unter allen Vorausſetzungen, weil ſie es heraus—
ſtoßen müſſen, weil ſie es nicht verſchließen können, weil die Atmoſphäre
der ſie tragenden Zeit von magnetiſcher Kraft iſt. Arger denn je, gepeitſchter
denn je geht das dichteriſche Gewiſſen von heute ſeinen zweifelhaften Weg;
des Genius Züge ſind entſtellt, er leidet unter den Schlägen des eigenen
Herzens.
Wer es nicht vermag, ſeiner ſchöpferiſchen Leidenſchaft mit unnachſicht—
cher Gebärde die kälteſte, aber die ſchutzreichſte Maske aufzulegen, der wird
nicht allein im Innern bluten, der wird auch an Geſicht und Händen
= unden fragen. Das ift fein Stern, fein Geſetz, unter dem ſtehen zu
müſſen fein Temperament unabläffig ihm einflüftere.
Sie fragen ſich nicht, für wen verbluten oder für wen bändigen wir
unſere Leidenſchaft, beſtenfalls äußern ſie eine konventionelle Hoffnung
583
*
ideeller Zukünfte. Daß fie müffen, fagen fie insgeheim nur dem Einzelnen
in Stunden, welche fo ſtark find, daß der Hauch der Zeit ihr Weſen nicht
zerſetzt.
Die da Frank Wedekind fragen, wo hinaus der Weg ginge, die haben
ſomit den bourgeoiſen Pulsſchlag geäußert. Man braucht nicht mehr an ihren
Handgelenken taſten. Frank Wedekind ſollte nicht vor das vielköpfige Tier
ſich hinſtellen und ſein Werk vorleſen. Auch unter der Schneckenfriſur
ſchlummert ein Bürgerhirn, auch unter der modiſcheſten Kravatte linkswärts
tiefer geht ein Herz im trägen Gleichtakt nur des heutigen Tages. Aber
auf, ſagen wir günſtig, zehntauſend Bürger kommt ein Menſch. Das
macht bei hunderttauſend zehn Menſchen. Von dieſen aber ſind fünf, zum
wenigſten, reproduktiv. Ecce poeta, ecce applaudiens.
Alte Lieder und neue Verſe
von Julius Bab
as letzte Ziel aller Lyrik iſt Lied zu werden. Ein Lebensgefühl,
D ganz ſicherer Beſitz iſt, das keine Spuren von Kampf und Gegenſatz,
Arbeit, Trotz und Reflexion an ſich trägt, ſolch ein Gefühl allein wird 2 *
Muſik; aus dem bedeutungsſchweren Leibe ſchwingt ſich die befreite Seele
auf, der Klang, der den Sinn noch einmal trägt, aber in ſchlackenloſer, un—
ausſprechlicher Sicherheit. — Das Höchſte, was dem dichtenden Menſchen
gelingen kann, iſt ein neues Lied. Der Weg hinan führt durch das Pathos
des Redners, das geſpannter Wille iſt, — den Vers des Halbdichters, deſſen
Gefühl noch vom Willen gehetzt iſt, — die Rhythmen des Hymnikers, der
ſich an der Ahnung einer Religion berauſcht, die er noch nicht beſitzt. —
Sind wir heute in Deutſchland auf dem Wege zu einem neuen Liede? Vor
ein paar Jahren durfte man noch behaupten, daß Lyrik von ſelbſtändigem
Rang nur jene Generation gäbe, die in der Mitte ihres zweiten Menſchenalters
ſtand; alle jüngeren waren ſchwächliche Epigonen dieſer Meiſter, wenn fie u
nicht gar in noch viel verſchliffnerer Weiſe den Klang noch älterer Lieder wied
holten. Jetzt gilt das nicht mehr ganz. Noch erklingt kein neues Lied, a
neue Verſe ſind laut geworden, Verſe, die Sehnſucht, Willen und Kr
verraten, Kraft einer Seele, die neuen Geſang lernen will. Und neben
Schöpfern dieſer neuen Verſe ſtehen ein paar Dichter — nicht reich genug,
um ein neues Lied aus ihrer Seele zu holen, aber doch ſelbſtändig und
ſtark genug, um der alten Melodie eine Variation abzulocken, die des Hörens
wohl wert iſt.
534
8 Eduard Stuckens „Romanzen und Elegien“ ſind vielleicht der
ſtärkſte Typus ſolch vornehmer, mehr kunſtreicher als ſchöpferiſcher Variationen.
Es ſind die Stoffe und es ſind die Formen eines ſehr ſenſiblen Antiquars,
der über ſeinen Schätzen träumt. Auch Stuckens Elegien ſind „Romanzen“
— lyriſch gedeutete Epik: Immer find es alte Geſchichten, Mythen, Sagen
und Märchenwunder, aus denen der kenntnisreiche Mann Bedeutung und
Stimmung ſaugt. In einem Wundergarten von Rhythmen, Reimen und
Klängen wandern die Geſtalten, die Stucken beſchwört; nur zwei Reimpaare
durchſchlingen die drei achtzeiligen Strophen, die zugleich noch einen Refrain
dreimal variieren und jedesmal in eine vierzeilige Strophe mit variiertem Reim
auslaufen: ſo iſt jedes Gedicht im Zyklus „Triumph des Todes“ gebaut.
Und keines der andern Gedichte iſt weniger kunſtreich, weniger originell in
der formalen Variante. Der innerſte Rhythmus iſt freilich gleichmäßig und
aus vornehmſter romantiſcher Tradition. Er ſingt ein melancholiſches Lied
von der Frau Welt, die ihren höchſt verweslichen Leib mit trügeriſcher Lockung
anbietet, er ſingt mit einer etwas diſtanzierten Wehmut von Herzen, die ver-
brennen „verzehrt von Leidenſchaften“, und er klingt von dem unwandelbar
ſchenen Traum, der über wehvollem Geſtern, grauenvollem Morgen und
. * Heute ſchwebt —
. . . mich betörte Maja; ſieh dich im Spiegel!
7 Alf ſprach meine Sehnſucht zu mir, und ihr Auge brach.“
Freilich von der höchſten, weltüberwindenden Ekſtaſe des Inders, der den
Schleiern der Maja im Ernſt entrinnen will, iſt nichts in Stuckens vornehm
ſinnlicher Melancholie. Ein Bedenkvoller träumt über feinen Schätzen, er
träumt und genießt ſeinen melancholiſchen Traum. Es iſt auch nur das
(nicht ſehr elementare) Erlebnis eines vornehm ſenſiblen Antiquars.
Immerhin glaube ich, daß man die gepflegte und zarte Eigenart Stuckens
hier reiner genießen kann, als auf der Bühne, die mit ihren dramatiſchen
Anſprüchen den brillanten Verstechniker bindet und mit ihren theatraliſchen
Möglichkeiten den kontraſtlüſternen Romantiker verführt. Dieſe Gedichte
laſſen reiner in den Grund des Poeten Stucken herabblicken. — Dagegen
ſcheint das Lyriſche mehr ein paar liebenswürdig begleitende Variationen als
Ash is Grundthema anzugeben bei dem Dramatiker Herbert Eulenberg,
n dem der Verlag Rowohlt (Leipzig) einen faft zu monumentalen Band
©.) eutſche Sonette“ vorlegt, — Buchſtaben wie Häuſer, Initialen wie
Kirchtürme, und ein ungeheurer weißer Horizont von Papier darüber. Da—
ei ſind dieſe Sonetten keineswegs von tempelhafter Würde; Eulenbergs
8 obuſt nervöſes Temperament, das nichts von Maja weiß, und ſich mit
grimmigem Behagen einen Platz in dieſer verbiſſenen Welt erknuffen will,
wirft ſich breit und gemütvoll in die gemeſſene Feierform des Sonetts, freut
ſich derb am Ringen mit den hochmütigen Reimgeſetzen, und nötigt den
—
38 585
ftolzen Vierzehnzeiler den äußerſten Grad von Jovialität, Herzhaftigkeit und
Friſche herzugeben, deſſen er nur fähig iſt. Doch bleibt von der veredelnden
Zucht dieſer romaniſchen Form noch genug in Kraft, um Eulenbergs leicht
überſchäumende Säfte wohltätig zu zügeln; und fo entſtehen neben manchen
allzu gewichtloſen, allzu privat hingedichteten Stücken eine Anzahl blutvoll
drängender, ſtarker Gebilde, die uns Eulenbergs beſte Art zeigen. Die
herausfordende Art eines ingrimmigen Phantaſten, der kein Nachahmer,
ſondern ein echter Nachkomme der deutſchen Romantik ift, aus dem mehr
irdiſchen Zweige der großen Familie. Und deshalb ſo gewiß ein liebenswerter
Poet und Menſch wie kein ausdauernder Führer auf neuen Pfaden.
Weniger unmittelbar vom Alltags ſpott und Traumgelage der guten, alten,
deutſchen Romantik ſtammt die Träumerpoeſie, die Camill Hoffmann zu
einem mattfarbenen Strauße gebunden und in „Die Vaſe“ (bei Axel J June 4
Charlottenburg) geordnet hat. Hoffmanns Weg führt durch die abendli
| da
)
Ei
| 1
Gartengänge des Hofmannsthalſchen Parks und durch das dämmrige
Labyrinth in Rainer Maria Rilkes heiligem Hain. Den müden Ton
Mannes, dem das Wirkliche zerfließt und nur die Ahnung einer h
Realität zurückläßt, bringt er mit. Wo er ſich dieſem Ton entraffen moi
um unmittelbar froh vom Leben zu fingen und zu ſagen, da verfäll
der banalen pſeudoromantiſchen Klingelweiſe, die „Mai“ auf „vorbei
„Tanz“ auf „Kranz“ reimt. Aber wenn er in ſeinem Kreiſe bleib
melancholiſche „Zecher in der Sternennacht“ —
„Der Sterne diamantner Glanz
Iſt in mein dunkles Glas geſtürzt —
dann gelingt ihm ein Lied, das uns ergreift, freilich 1 mit der Macht
alter Erinnerung als mit dem Glück neuer Ahnung. Ein altes Lied.
Vom Neuen voll und übervoll ift der „Lobgeſang des Lebens“, den
Wilhelm Schmidtbonn anhebt. (Egon Fleiſchel & Co., Berlin.) Das
iſt das Gegenteil eines Romantikers. Ein unbedingtes Jaſagen zu allen
Wirklichkeiten iſt das Programm dieſes aufrechten, jungen, kräftigen, wunder⸗
ſchön hinbrauſenden Buches. Alte Fabeln werden beſchworen, nicht um
melancholiſch im Verweſungslicht über der trügeriſchen Erde zu leuchten,
ſondern um in allen Formen, Farben und Gewändern aller Zeiten die wun
bare, verwirrende, ſchreckliche und immer beglückende Zaubermacht des
vorbeitanzen zu laſſen. Wie der Orpheus ſeines erſten Gedichtes ſor r
dieſer Dichter in das Totenſchiff und alles füllt ſich neu mit Blut und &
beim Anruf feiner Seele. Eine Reiterin am Morgen und die Räuber
führung im „Deutſchen Theater“, ein Abſturz auf der Benediktenwand und
der toſende Arbeitslärm Berlins, das find ihm alles gleich liebe Wirklichkeiten
gleich große Offenbarungen der furchibaren alles haltenden Kraft. Einfach
und ſtark ſpricht er von ihr, ſeiner Göttin — Worte, die nicht ri;
586 | f
leuchten, nicht in myſtiſche Strudel ziehen, Worte, Bilder, die von feſtem,
klarem Erleben umgrenzt find, Worte wie Schuh und Wanderſtock, Stein und
Gras, Luft, Acker und Eiſen. So ſpricht er zu uns, ſpricht in hochaufwogen—
den, hart und knapp vorwärts reißenden Verſen, aber er ſpricht, er ſingt nicht.
Die „Rhapſodien“ find keine Lieder. Der vorſichtig gewählte Name ändert
nichts und entſchuldigt nichts; es iſt nicht einfach eine andere oder gar eine höhere
Form der Wortkunſt, es iſt doch nur eine Halbform, eine Vorform der Poeſie,
ein Zwiſchending zwiſchen werbender Rede und geſtaltendem Wortkunſtwerk.
Dieſe menſchlich ſo einfachen, ſtarken und gehaltenen Predigten ſind doch
künſtleriſch viel zu weit und breit und ungemeſſen. Die teilende Strophe,
der bindende Reim, die ballende Versform, ſie fehlen uns — nicht aus lieber
Gewohnheit, ſondern weil in dieſen Dingen die letzte Zauberkraft der Sprach⸗
. beſchloſſen iſt, weil nur fie unferen Nerven jenes dichteſte Erlebnis be⸗
zeugen und erzeugen, da ein ſchöpferiſcher Geiſt das Leben wie in einer Nuß
cc sggedränge, unſagbar leiblich und faßlich beſaß. Nur jene klingenden
7 Ordnungen, deren ſinnliche Begegnungen fo wunderbar der dichteriſchen
| entſprechen, geben dem Wort dieſe tiefſte Bedeutung für uns. Die
Rh othmen Schmidtbonns übertreffen an Gliederung und Betonungs⸗
nur wenig die Mittel der Rhetorik; ſie geben uns nur ein Erlebnis,
ı werfendes Bewußtſein, en Wille viel Anteil hat, — das
froher, . voll ſ 2 1 er: voll traum⸗
los wachen Erdenglücks — dieſe neuen Verſe ergeben noch kein Lied. Ein
einziges Mal bindet ſich Schmidtbonns redneriſch freier Vers in Strophe
And Reim: das ſchöne Gedicht, da der Wandrer in den Spielen des fremden
1 Kindes ſeine eigene Jugendſeele wieder begrüßt, iſt vielleicht einem wahrhaft
lyriſchen Gedichte, einem Liede, am nächſten. Aber freilich dies Gedicht hat
auch am meiſten noch Teil an der alten romantiſchen Klage, und nur unter—
irdiſch miſcht fich ein jüngerer Ton von kampfbereitem Selbſtvertrauen hinein
— Berfprechen eines neuen Liedes.
Iſt die Stunde des neuen Liedes ſchon gekommen? Kündete fie der junge
erſchien? Manche haben das gemeint, und ihn mit begeiſtertem Zuruf
begrüßt. Auch mir ſchien er viel — aber weit mehr ein ſtarkes Verſprechen
als eine Erfüllung. Aber wer wird nun dies Verſprechen halten? Den vier—
5 undzwanzigjährigen Dichter hat der Tod abgefangen — auf dem Wannſee
L ein ſchwarzes Loch im Eis hat ihn verſchlungen. Ein Zufall hat fo
äßlich ſchrill ein eben üppig ſi ich auffaltendes Leben umgebrochen, daß es
rivol ſcheint, hier einen Sinn, einen irgend begreiflichen Zuſammenhang
0 11 nur zu ſuchen. Denn nichts war in der Kunſt dieſes jungen Mannes
187
frühreif, fertig, totbereit vollendet — alles war wildwuchern der Beginn,
erſter unbändiger Anfang. Was man ſah, war kein Meiſter und kein Lieder⸗
ſänger, aber ein Verstalent von ganz ungewöhnlicher, verblüffender Intenſität
und Eigenart. Schon die geſchichtliche Stellung ſeiner Form iſt merkwürdig.
Die deutſche Sprache gibt hier alles, was ſie in der harthämmernden Zucht
von Stefan Georges weltüberlegener Haltung gelernt haben mag, an das
heißeſte Leben zurück. Georg Heym hatte die ganze, ehern gedrängte Prägnanz,
die feſt und kurz pulſende Verbalrhythmik, die ſinnlich ſatte Geſchloſſenheit
der Bilder, die Meiſter George lehren kann. Aber er hatte nichts von der
ariſtokratiſch überlegenen Miene, mit der das thronende Selbſtgefühl jenes die
Welt ſubjektiv zurecht ruͤckt. Heym war ganz voll und toll von der beraufchen-
den Maſſe ſeiner Viſionen; ſein inneres und äußeres Geſicht iſt gleich ſcharf.
Mit derſelben wütenden Impreſſioniſten-Technik hauen ſeine Verſe — faſt
jede Zeile ein neuer Satz — das ſchmutzig ſchwelende Elend einer Vorſtadt⸗ en
gaffe hin und den üppigen Tanz der Faune im Herbſtwald. Übervoll iſt
dieſer Dichter von Geſichten — die einzelnen Bilder drängen und verwirren
ſich, und es fehlt oft noch an der weiſen Wahl, die aus der Maß
Einzelheiten das Ganze erſchafft. Maß fehlte in allem, und in der!
am Gräßlichen erinnern feine Motive peinlich, aber auch hoffnungsv
die üppigſte Blütezeit des jungdeutſchen Naturalismus. Die Maſſe di
im dröhnenden Marſchſchritt vorbeiziehenden Verſe hatte bis jetzt eigentl. MR
nur einen Rhythmus; in ihm jauchzt die Eroberung, der kriegeriſc ch
trotzige, heidniſch frohe Beſitz der Wirklichkeit — minder geiſtig, ſi mg 0
und alſo künſtleriſch voller noch als bei Schmidtbonn. Man könnte be
haupten, daß ſeit Richard Dehmels „Erlöſungen“ kein deutſches Gedicht—
buch erſchienen iſt, das ſo berſtend voll ſinnlicher Kraft war wie dieſe Verſe
Georg Heyms; und um die zwei Jahrzehnte lyriſcher Kultur, die dazwiſchen
liegen, iſt „Der ewige Tag“ ſogar formal reifer und fertiger. Nur eines fehlte
mir: jene himmelſtürmende geiſtige Leidenſchaft, jenes tiefethiſche Pathos,
das beim jungen Dehmel gerade ſo unreif und verſtiegen ſich ausſchrie —
es war doch die Quelle feiner tiefſten Kraft, die Kraft, die feine „Selbſt⸗
zucht“ vollbrachte „von dumpfer Brunſt zu Frucht und Fülle“. Den Hauch
ſolches jugendlich reinen Geiſtes fühlte ich durch die Heymſchen Verſe nic N
wehen; — vielleicht war es nur ein fraglicher Schulbegriff, ein falſcher S
lichkeits⸗Stolz, der ihn bis jetzt zurückdrängte, vielleicht ſollte bald das
der zielende Geiſt als die maß — gebende Seele eintreten in den 1
üppigen Leib dieſer Poeſie. Es iſt müßig geworden, darüber nachzuden a
Dieſer Vielzujunge iſt nun älter als wir alle; aber er verrät uns nicht mehr.
Mitten im Kreszendo einer hellen Fanfare zerbarſt das Inſtrument. Die
Weiſe ſchwingt weiter — wann wird aus dem ſchmetternden Kriegsruf des
neuen Lebens ein Lied werden?
11
588
ie bürgerlichen Harmonieapoſtel erleben ſchwere Stunden. Sie
D asume von der endgültigen Verſöhnung zwiſchen Kapital und
Arbeit, herbeigeführt durch rein ethiſche Mittel, durch Erziehung
5 des Willens zum Guten, durch Abtötung der kaſſenegoiſtiſchen Triebe. In
ihrer wattierten Sprache klingen ſo zwietrachthaltige Worte wie Lohn—
empfänger und Kapitaliſt unverfänglich; wenn man (klagen fie) auf fie beſſer
hörte, würden die wertzerſtörenden Ausſtände, Spannungen, Reibungen,
Kämpfe zwiſchen den Trägern des Wirtſchaftskörpers endlich der brüderlichen
Gemeinſamkeit weichen. Aber wer hört auf ſie? Jede kleinſte Aufbeſſerung im
Proletarierloſe wird durch Zwang und Kampf herbeigeführt und die billige.
ſozialpolitiſche Romantik wird alle paar Jahre aufs grauſamſte bloßgeſtellt.
Schon vergangenen Sommer, als der giftige Eiſenbahnerſtreik über Shake—
ſpeares Smaragdinfel plötzlich hereinbrach und die bürgerliche Erwerbs—
geſellſchaft erdbebengleich durchzuckte, wurde hier ausgeführt, daß die
b Lehre, im Inſelreich m der Weg zum fozialen n
& Chronik: Aus Junius Tagebuch
}
t
BR Mlände und ber on ierung der Arbeiter in Gewerkſchaften; ſie reicht bis
Anfang der ſiebenziger Jahre. An ſie ſchließt ſich, den dauerhaften ſozialen
: Frieden einleitend, die Periode der Gemeinſamkeit; man bildet gemein-
ſame ſtändige Ausſchüſſe (die joint committees) und Schiedsgerichte, macht
Tarifverträge für die einzelnen Gewerkſchaften, revidiert ſie von Zeit zu Zeit
je nach der Marktlage. Einen Stillſtand, der nach Roſen duftete, erlitt
dieſe Bewegung während der profitreichen Epoche der engliſchen Kohlen—
und Baumwolleninduſtrie; aber dieſe goldene monopoliſtiſche Zeit iſt ſeit
1890 vorbei und ſeitdem herrſcht Unruhe, Unfriede, Kampfſtimmung. Wir
erleben faſt krampfartige Ausbrüche von Kapitaliſtenfeindlichkeit, beſonders
1 un nter den hitzigen und zu jähen Entladungen geneigten Kelten in Wales,
4 wo ſich das größte britiſche Kohlenfeld befindet. Aber auch die Schotten ſind
radikal. Die alten Führer verlieren die Herrſchaft über die Maſſe, fie folgt
vielmehr jungen radikalen Heißſpornen, die den lärmenden franzöſiſchen Syn—
bdikaliſten gleichen und mit den älteren gemütlichen Methoden des britiſchen
Poroletarierkampfes brechen. Da hatten die Walliſer früher einen hochange—
fehenen Führer, den begeifterten Barden Abraham, weit und breit unter
ſeinem Sängernamen Mabon bekannt und beliebt; ihm glaubte man aufs
Wort und im Parlament hatte der (übrigens unverfälſcht ariſche) Mann
589
das Ohr des Hauſes, wann immer er für die Intereſſen feiner Bergleute
focht. Er iſt heute beiſeite geſchoben und entwertet; bei den unbeherrſchten
Ausbrüchen keltiſcher Leidenſchaft im Rhonda-Tal im vorigen Jahre, die
außerdem durch ihren antiſemitiſchen Unterton auffielen, geriet Abraham in
Lebensgefahr. Jugendlicher Sturm und Drang gewinnt die Oberhand. Schon
um den geſetzlichen Achtſtundentag wurde jahrelang erbittert gekämpft: die
Grubenbeſitzer und die Konſervativen im Parlament ſtemmten ſich heftig da⸗
gegen. Die Einführung des ſogenannten Minimallohnes iſt von unendlich
größerer grundſätzlicher Bedeutung. Der gelernte engliſche Arbeiter, beſon⸗
ders der verantwortungsvolle Häuer unter Tag, will ſich fein Lebens minimum
(minimum wages) ein für allemal zunächſt garantieren laſſen, er ſtrebt nach
der Sicherung des ſubalternen Beamten, deſſen Löhnung ja auch nicht von
dem Eigenwillen des Marktes abhängt, und deſſen Leiſtung nicht nach indive
dueller Tüchtigkeit, ſondern nach dem Durchſchnitt der Gruppenarbeit bezahlt
wird. Und an dieſes ſtabile Minimum ſoll ſich die Differenzierung je nach
der Schwierigkeit der Leiſtung, nach der Ergiebigkeit der einzelnen Kohlen
felder (Diſtriktslohn) und der Höhe der Lebenskoſten in den einzeln
den anſchließen. Im engliſchen Kohlenbergbau drohte der Generg
dieſer Prinzipienfrage willen ſeit Monaten. Anfang Januar war ka
ſicht auf Frieden und Vergleich vorhanden; gleich damals zogen die 8
preiſe an: die Grubenbeſitzer ſuchten das Riſiko des erſt noch wahrſcheinli hen
Streikverluſtes im voraus zu decken. Und die Verbraucher in der Mitte, fh 1
die gutmütigen Schafe zwiſchen zwei Kannibalen, zahlten wie gewöhnlich
die Zeche. m
Hier geht der Kampf an die Wurzel der Gegenſätze und es wäre Narr⸗
heit zu glauben, man könnte alles, alſo auch die letzten Tendenzen der
Proletarierbewegung, dialektiſch, das heißt: durch Zungengeläufigkeit und
Advokatenkniffe ausgleichen. Die ſoziale Entwicklung vollzieht ſich in der
Richtung auf Anteil an der kapitaliſtiſchen Profitrate, die von der Kon⸗
junktur abhängt, und Sicherung eines anſtändigen und ſtabilen Lohn⸗
minimums, das nicht von der Marktlage abhängt; die Ware Arbeit ſoll
Ware ſein dürfen nur, wenn dieſe auf dem Markte hoch notiert, ſonſt nicht.
Wie ſich der Kapitalismus mit dieſer Forderung abfindet, die zu fein ö
Schema in logiſchem Widerſpruch ſteht, iſt ſeine Sache; kann er es
iſt er dazu zu unelaſtiſch geworden, ſo darf er zum Teufel gehen. Bishe
noch immer gegangen, weil es Geſetz der menſchlichen Praxis iſt, ſich
Abzahlungen auf die Grundſätze jeweils zufrieden zu geben. D
wird auch dieſer gewaltigſte Lohnkampf der Weltgeſchichte — am zehnt
März waren über eine Million Grubenarbeiter, über einundeinehalbe Million
Arbeiter überhaupt beteiligt — bald ſein natürliches Ende finden, und es iſt
ein Glück, daß diesmal kein Lloyd George ſich einmiſchen durfte, um durch
590
Zerreden und Verwiſchen des grundſätzlichen Gegenſatzes einen faulen
Frieden herbeizuführen. Das war ſeine viel gerühmte Leiſtung im Eiſen—
bahnerſtreik vor fünf Jahren: der vergangene Sommer hat gründlichſt
bewieſen, wohin ſolch Alleswegredenwollen führt. Für alle geſellſchaftsnot—
wendige Arbeit kommt, früher oder ſpäter, die geſetzliche Feſtſetzung des
Lohnminimums und der Mindeſtleiſtung: die Verbeamtung des Proletariers
und feines Willens zur Arbeit. Ich ſehe darin weder Schlimmes noch Un-
mögliches. Iſt nicht ſchon die Gehirnarbeit zum großen Teil verbeamtet,
d. h. vermittelmäßigt und darum penfionsfäbig? Alſo. Die Tendenz iſt
durch Pulver und Blei nicht aufzuhalten, und das Kapitaliſtenparadies
England wird, um von der Gewalt der „Hände: nicht erdroſſelt zu werden,
der 85 Sroßſtaat fein, der fie verkörpert.
In unſerem Ruhrgebiet liegen die Verhältniſſe ähnlich. Dieſelbe For⸗
g erung der menſchenwürdigen Exiſtenz in Lohn und Arbeitsweiſe, dieſelben
N Kampfmittel, dieſelben Widerſtände. Ob die gewählte Taktik im einzelnen
tauglich war oder nicht, ob und auf welcher Seite die üblichen kleinen Per-
en b begangen wurden, intereſſiert uns hier nicht; und es wäre viel gewonnen,
die unerträgliche Bemoraliſierung ſolcher Machtkämpfe in der Preſſe
zufhörte. Der von feinem warmen Verſteck aus Betrachtende kann
5 den Triumph der Zucht rühmen, der darin liegt, daß Millionen
' lebeitern, die der Tierheit doch unendlich näher ſtehen als wir Zärt-
linge der Bildung, ſich Tage, ja Wochen lang trotz Unterernährung verhältnis⸗
m äßig gefittet verhalten und freiwillig Polizei über fi) üben. Streikführer, die
ihre Genoſſen bei ihrer Proletarierehre beſchwören, während des Ausſtandes
5 zur Enthaltung vom Alkohol zu verpflichten: ich wüßte im Umkreis
_ umferer, wie man klagt, entgotteten und mechanifierten Welt keinen Vor—
gang, der dem Fanatiker des Fortſchrittsglaubens mehr Anlaß zur Freude
geben könnte.
lle Zeichen wachſender parlamentariſcher Selbſtachtung heißen wir will⸗
kommen, und darum ſei ohne billige Ironie die Anderung in der Ge—
häftsordnung des Reichstags verzeichnet, wonach in Zukunft dem Kanzler
Vertrauen oder die Mißbilligung ausgeſprochen werden kann. Das ſieht
wie kindiſche Nachäffung des weſteuropäiſchen Parlamentarismus aus, der
— wer wollte es leugnen — blaſſe und ſieche Züge trägt; aber dieſes Ver⸗
hren bleibt ſchließlich doch das einzig zweckdienliche Mittel, dem Kaiſer zu
agen, daß er ſich in der Wahl feines verantwortlichen Beraters geirrt habe, und
kan indirekt ſehr wirkſam eine Mehrheitsbildung beſchleunigen, die mehr iſt
als das Zufallsprodukt von Parteimanövern. Wagt der Monarch dauernd
gegen den Willen der Volksmehrheit zu regieren und die Politik eines dieſer
891
mißliebigen Kanzlers zu decken, fo mag er natürlich tauſendmal im Rechte fein
oder, vorſichtiger ausgedrückt, fich berechtigt glauben, die Geſchichte zu zwingen,
die Richtung ſeines Willens einzuſchlagen: der Fall Wilhelms I. in der
Konfliktszeit, der Bismarck ſtützt. Aber der König muß wiſſen, was er
tut, und daß ſein königlicher Eigenwille die Exiſtenz der Dynaſtie gefährden
kann; in der Regel wird er gegen eine organiſche Mehrheit, die weiß was
ſie will, einen impotenten oder bösartigen Staatsmann nicht lange halten
können .. So entwächſt unſer Parlament langſam dem Debattierklub⸗
ſtadium, vielleicht lernt es am Ende gar noch wollen, ehe die große deutſche
Linke Ereignis geworden fein wird .. Eine andere Frage betrifft die recht-
liche Verantwortung der Miniſter. Bethmann Hollweg nennt fie — doktri⸗
när. Merkt der Doktrinär nicht, daß es ſich hier um Symptome, um Vorboten
handelt? Treitſchke in ſeiner liberalen Epoche dachte anders darüber. „Wo
die Parteien einander ablöfen in der Leitung des Staates, da bildet ſich not⸗
wendig der engliſche Brauch,, das Vergangene in Lethe zu begraben“. Eine
ſolche Sitte bringt wenig Gefahr in einem Lande, wo tauſend Rechts ſo
den Übergriffen der Verwaltung vorbeugen und derblutige Schatten tr
noch an das unausbleibliche Schickſal meineidiger Miniſter erinnert.
deutſche konſtitutionelle Freiheit aber hat keinen ſchlimmeren Feind als den‘
brauch der Amtsgewalt. Wir müſſen um jeden Preis die rechtlich
antwortlichkeit der Miniſter durch ein Geſetz feſtſtellen, und vielleicht
unſere Bureaukratie ſich erſt dann ganz ehrlich in das konſtitutionelle Let 9 1
eingewöhnen, wenn einmal ein Exempel ſtatuiert und ein Miniſter, der die
Geſetze des Landes gebrochen hat, im Wege Rechtens abgeſetzt worden iſt.
Das Syſtem der Parteiregierung verlangen, bevor wir die rechtliche
Verantwortlichkeit der Miniſter beſitzen und ſolange die Bureaukratie noch
ihre gegenwärtige Macht behauptet — das heißt die politiſche are
gefährden.“
N
Lan Graf von Ahrental iſt geſtorben. Die männlich tapfere Art, die durch
ein unheilbares Leiden benagte und geſchwächte Kraft ſeinen Lebensauf-
gaben zu weihen, ohne je die Grimaſſe des Märtyrers vorzuſtecken, bird
ſeinem Andenken zugute kommen. Der kluge, runde Ariſtokratenkop
deſſen Ausdruck die ſemitiſche Miſchung noch leiſe und fein durchklang, v
in Stirn und Auge keine Größe und nicht einmal die vorauseilende Pha
des irgendwie Begnadeten; aber der ſachernſte, grundtüchtige, gewiſſen
Mann, der den Tamtam der Preſſe und ihre welken Lorbeeren fürchtet
eine anſteckende Krankheit, konnte ſchließlich nichts dafür, daß ihm Reporter⸗
gehirne den Titel eines öſterreichiſchen Bismarck anhefteten und die An— |
gliederung von Bosnien als den Triumph einer produktiven Politik priefen.- «
592
Der Weg war dem zeitlebens ruſſophilen Diplomaten vorgeſchrieben; als in
der Türkei die Verfaſſung eingeführt wurde, mußte dem unklaren verfaffungs-
rechtlichen Zuſtand des ſeit dreißig Jahren tatſächlich zu Oſterreich gehörigen
Landes ein Ende gemacht werden. Abenteuernde Expanſionspolitik konnte ihm
nur die ruſſiſche Eiferſucht vorwerfen. Sie lag dem Manne fern, der, nach
Bismarcks Rezept, die größte Mäßigung bekundete, auf das nach dem
Berliner Vertrage der Donaumonarchie zuſtehende Beſatzungsrecht im
Sandſchak Novibazar verzichtete und an die Türkei obendrein vier Millionen
Pfund Entſchädigung zahlte. Nie hat Ahrenthal den Traum ausſchweifender
ſchwarzgelber Patrioten geträumt und ſeinen Blick anders als handels—
politiſch nach Saloniki ſchweifen laſſen; er wußte was der Kranz der chriſt—
lichen Balkanſtaaten um den morfchen türkiſchen Kern bedeutet, er rechnete
mit Rußlands traditioneller Preſtigepolitik unter den Südflaven und wird ſich
unter ſeinen lieben Vaterländern wohl umſonſt nach der einheitlich fühlenden
e umgeſehen haben, für die der edle Prinz Eugen auf den Wällen
Belgrads die Fahne der Habsburger hatte flattern laſſen. Seine verſöhn—
liche Haltung gegen Italien und die ſtrenge Zurückhaltung des politiſch Unbe⸗
ten während der Marokkohändel hatten zuletzt dem raſch dahinſiechenden
lomaten wüſte Anpöbelungen der Chriſtlichſozialen und Deutſchnationalen
zugez ogen, und fein letztes Lebensjahr verglomm trübe. Ein Präventivkrieg
2 gegen das in Tripolis verbiffene Italien wurde ſogar empfohlen, die Vor—
t ſchiebung von mehr Truppen an die (ſtark befeſtigte) italieniſche Grenze ge—
Fordert; Ahrenthal wußte dieſe Politik zu durchkreuzen, er ſetzte ſich gegen
den Thronfolger und den Generalſtabschef Hötzendorf, die ſie befürworteten,
zur Wehr und blieb Sieger .. Seine Geſamtleiſtung war durchaus an—
0 ſtändig; und wenn es ihm nicht gelang, das großöſterreichiſche Bewußtſein
dauernd wach zu halten und die Hydra der feindlichen Vaterländer wenig—
ſtens nach außen hin zu gleichem Wollen und Handeln zu erziehen, ſo lag
die Schuld nicht an ihm. Eben tobt dort der Streit um die neue Wehr—
verfaſſung, den alle Einſichtigen jubelnd willkommen heißen: ſie bringt die
zweijährige Dienſtzeit, die Moderniſierung der Militärſtrafprozeßordnung
und die Erhöhung der Rekrutenziffer. Aber wie blähen ſich da wieder die
1 verschiedenen nationalen Souveränitätsgefühle (beſonders der Ungarn), mit
welch trauriger Verbiſſenheit wird um Buchſtaben und Scheinrechte gerauft
den Betrachter erfaßt Ekel und er fragt ſich, wie der Staatsmann aus—
„ĩ epe:IEBz tj
993
Anmerkungen
Von Gottes Gnaden
Der Großherzog von Luxemburg iſt dieſen
Monat geſtorben. Das Jahrtauſend,
das an dem Adel ſeiner Familie gearbeitet,
hatte nicht vermocht, den Großherzog ſo
populär zu machen, wie die leichtbeſchwing⸗
ten Walzertafte feinen Namensvetter, den
berühmten Grafen, der im Augenblick tän⸗
zelnd Erdteile gewinnt. Und obgleich auch
mit dem Toten das letzte männliche Reis
eines einſt machtbewußten Stammes ver⸗
ſchwindet und den alten Namen mit in
ſeinem Tod begräbt, ſo kniſtert kein Blätt⸗
chen Weltgeſchichte vor dieſem Ereignis
und das, was man ſein Volk nennt, dürfte,
wenn es die pathetiſche Feierlichkeit des
Fürſtenbegräbniſſes hinter ſich hat, ſich
am wenigſten drüber aufregen. Aber das
iſt das Anziehendſte dran: daß Fürſten es
fertig bringen, dem Volk ſo unverbunden
zu bleiben, wie die beiden Großherzöge,
die ſeit zwanzig Jahren in Luxemburg
regierten. Sie hatten ſo gar nichts von
der Technik des Fürſtſeins heraus, waren
weder altertümliche Sereniſſimi, noch mo⸗
derne Geiſter. Sie übernahmen ihr Amt
in Luxemburg wie eine peinliche und viel-
leicht fatale Notwendigkeit.
Der Vater des verſtorbenen Groß
herzogs Wilhelm, der alte Herzog Adolf
von Naſſau, der nach dem Krieg von 1866
ſein Land an Preußen abtreten mußte,
kam als Großherzog nach Luxemburg, als
der König Wilhelm von Holland ftarb
und keine männlichen Erben hinterließ.
Er kannte Luxemburg wohl gerade nach
dem Namen. Aber ſeinem Kommen vor⸗
aus fiel damals in das Land der Schein
feines fabelhaften Reichtums und mit
994
dieſen Schätzen begannen die Luremburger
zu ſpekulieren, noch bevor ſie da waren.
Demgemäß war die Stimmung, wie man
ſo ſagt, gar nicht ſchlecht für den neuen
Großherzog. Man war neugierig, wie
fo ein Hofhalt ſich benehmen folite, man
erwartete Staat und Glanz und, wie ge⸗
ſagt, die notwendigen Abfenberungen des
großen Reichtums. A
Und dann kam eines Tags ein
rundrückiges Männlein in Luren
in feinem Aus ſehn ganz anders
ein Luxemburger. Er war fört 1
wallt mit fremden Menſchen.
denen begann er ſein Leben fortzuſetz
ſparſam und knauſernd, als Privatperf
als ob er noch in Frankfurt umhergin
Er fuhr und ritt mit ſeinen wunderbar
Rappen durch das Land und das Vo
immer hinter feinen großen blinden Brille
gläſern, vom Rauch ſeiner dicken Im⸗
porten wie hinter Schleiern abgeſondert,
umgeben von fürſtlichen und andern öfters
reichiſchen Dienern. Er fand nie die Ge⸗
bärde des Landesvaters, in deſſen Herz
ſich Volk, Landſchaft und Geſchichte wie
in einem Spiegel trifft. Für das Voll,
das ſchon durch den rüden Holländer nicht
ſehr aufs Monarchiſtiſche geſtimmt war,
blieb ſowohl der goldene Segen, als auch
der wirkſame Happen der höfiſchen S
ſtellungen aus. Außer zu ein paar I
burgiſchen Spaßmachern fand der
herzog Adolf auch kein Verhältn
wohlhabenden Geſellſchaft. Jährli
ein Pflichtdiner gegeben, welches da
aufbrachte: man ißt da und da ſch
wie bei Großherzogs. Und in ſolch
Dingen ſind die Luxemburger ſchwierig.
Nur mit dem Militär verſuchte ers. Aber
das luxemburgiſche Militär! Hundert
Mann, davon 35 Muſiker und 20 Offi⸗
ziere, drei Pferde, fünf Sättel und eine
geborſtene Kanone, welche die Franzoſen
1871 an der Grenze liegengelaſſen hatten,
von der aber behauptet wurde, daß ſie die
luxemburgiſche Armee den Preußen ab:
erobert hätte. Der Großherzog gab dieſer
ſtolzen Armee bſterreichiſche Uniformen
und erntete dafür Heiterkeit.
Die Luxemburger hingen ſchon bei ſeinem
zweiten Beburtsfeſt die Fahnen nicht mehr
hinaus. Nur die Hoflieferanten noch
natürlich und auch die mit Kühle. Man
kann coirklich ſagen, es gab kein Lebeweſen
im Land, das dem Volk gleichgültiger ge-
blieben wäre, als der Großherzog. Wir
0 nannten, ihn nie anders als „de Naſſauer“
der kräftiger: „de Preiß“. Dieſe Unehr⸗
gkeit ging ſchließlich ſoweit, daß die
g anordnete, durch Schulſtrafen
denigftens unter die heranwachſende Ge⸗
n monarchiſchen Reſpekt zu bringen.
ber der Lehrer, wenn er nicht gerade auf
0 0 und vom Großherzog ſprach,
* 4
.
.
N
0
a ge ee
\ lun hatte es dieſer Mann allerdings
4 er Er kam durch den Zufall der
pbhiolländiſchen Sohnesloſigkeit plötzlich in
ein Land, das ihm fremd war, deſſen Volk,
obwohl deutſchen Urſprungs, ſich in fran-
zöſiſchen Anſchauungen entwickelt hatte
und ihn als Deutſchen von vornherein
etwas mißtrauiſch aufnahm. Es war
nüchtern, liebte die Genauigkeit gut ſtim⸗
mender pekuniärer Verhältniſſe, fühlte fich
. herrenhaft frei und ſtrotzte von demokra⸗
tiſchen Inſtinkten, daß man feine Freude
haben konnte. Mit feinem Groß:
teilte es nur höchſtens den Haß
n Preußen, aber dieſes Ferment war
cht ſtark genug, um die Miſchung in-
r aufgehen zu machen. Das Volk
ſich im Lauf der Zeit an ſeinen ehe—
maligen Raubrittern gerächt und den Adel
ſeines Landes gänzlich beſeitigt. Auch
e vermittelnde Leiter fehlte alſo dem
Fürſten, um zu feinen Untertanen hinab:
zuſteigen, an deren Entwicklung er nichts
miterlebt hatte und die er wahrſcheinlich
nicht einmal verſtand.
Aber er war ein geſcheiter Kopf. Die
Hälfte des Jahres ſchoß er auf Gemſen
in ſeinen bayriſchen Alpen, und die andre
Hälfte ſaß er auch nicht immer auf dem
Thron in Luxemburg. Schließlich gab er
das Land ganz auf, inkluſive ſeine Würde.
Er floh, weil er den Schluß ſeines Lebens
in Frieden verbringen und ihn ſich nicht
durch ein Volk vergiften laſſen wollte,
über das ihn Gott geſtellt hatte, das ihn
aber nie anders, denn als einen Fremd⸗
körper in ſeiner Mitte behandelt hatte.
So wenig ſeine Frau ſich ſonſt mit ihm
vertrug, ſie fanden ſich darin, in dieſen
Luxemburgern eine unausſtehliche Geſell—
ſchaft zu ſehn, denn die Großherzogin gab
ſich ſchöngeiſtig, malte und ſtieß dabei an
den immer bereiten Spott und die ab⸗
weiſende demokratiſche Derbheit ihres Volks.
Die beiden überließen ihrem Sohn
Wilhelm Land, Volk und Thron. Wilhelm
hatte zunächſt als Erbgroßherzog Sym—
pathie gefunden. Er erſchien bei feier⸗
lichen Anläſſen ſtets in der beſtechenden
Uniform der öſterreichiſchen Huſaren und
die Leute kleideten ihn in den Schein von
Liebesabenteuern, morganatiſchen Ehen
und dergleichen leckeren Dingen. Priva—
tim trank er Bier mit ihnen. Wilhelm
wurde aber durch eine furchtbare Krank:
heit gleich von Beginn feiner Regierungs⸗
zeit ab auf ein ewiges Krankenlager ge—
worfen und hörte ſpäter auf Menſch zu
ſein. Er lebte als Fürſt eigentlich nur
den Schatten ſeines bedeutenderen Vaters
weiter. Das änderte ſich nicht, als ſein
Zuſtand ihn zwang, in ausländiſchen
Heilanftalten Zuflucht zu ſuchen, und
ſeine Frau — eine ſchlanke braunhäutige
und ſehr katholiſche Braganza — an die
Regentſchaft gelangte. Bis dahin mit dem
alten, verbohrten evangeliſchen Adolf hatte
die Sache wenigſtens den Reiz des Frem—
den gehabt. Nun wurde es aber verbohrt
797
katholiſch und das kannten die Leute.
Darin waren fie aufgewachſen. Infolge:
deſſen nahmen nur die Geiſtlichen Inter:
eſſe an der herrſchenden Familie. Ob—
gleich der Großherzog Wilhelm Proteſtant
war, hatten ſie vor jeder Niederkunft der
Fürſtin Gebete zu dem Gott ſteigen laſſen,
der die Großherzöge auf den Thron ſetzt.
Doch Gott hatte den hohen Schoß ſtets
nur mit Mädchen geſegnet. Sechs ſchöne
Mädchen leben nun in einem roten Land—
ſchloß in den lieblichen Gefilden eines
luxemburgiſchen Tals — und in ihren Ge—
danken, wer weiß, wie weit weg aus dem
Land und dem Volk, das die Ältefte von
ihnen jetzt zu beherrſchen beginnt. Aber
das Verhältnis iſt gegenſeitig.
Norbert Jacques
Kunſt⸗Anarchie
m Rhein ſoll Bismarck ein Denkmal
errichtet werden. Man ſchreibt einen
Wettbewerb aus und wählt eine Jury.
Die Jury gibt dem Entwurf von Hahn
den Preis, der einen idealen Schwertprüfer
darſtellt. Aber eine Laienmajorität ver⸗
wirft das Urteil der eignen Jury und be—
ſtimmt den Entwurf Lederer-Kreis zur
Ausführung. Der Streit geht bis in die
perſönlichſten Unterſtellungen, Bosheiten
und Beſchuldigungen, alles liegt ſich in
den Haaren, niemand wird mehr daraus
klug und, die von der Sache ſelbſt ſprechen,
werden kaum noch gehört. Gleichzeitig
ſchreibt das preußiſche Miniſterium einen
Wettbewerb um das neue Berliner Opern—
haus aus, unter voraus beſtimmten wenigen
Künſtlern. Die Entwürfe werden ſchwei—
gend beiſeite geſtellt und ein zweiter Wett—
bewerb veranſtaltet nur zwiſchen Ihne,
Littmann, Seeling und dem gänzlich un—
bekannten Grube. Frage: warum iſt es
kein allgemeiner Wettbewerb, als Aus—
druck nationaler Kräfte? Antwort: wir
geben ja die Schiffe auch wem wir wollen
zum Bauen. Frage: aber das preußiſche
996
Volk bewilligt doch den größeren Teil der
Bauſumme? Antwort: bei den Schiffen
bewilligt es ſogar alles. Iſt es keine natio⸗
nale Angelegenheit, die Kunſt, und gar eine
ſolche Aufgabe? Nein, es iſt eine Sache
der Behörde. „Behördlicherſeits“ iſt gegen
den Entwurf von Grube am wenigſten
einzuwenden. Wahrſcheinlich war behörd-
licherſeits gegen das ſcheußliche Innere
des Doms oder gegen das unmögliche
Kaiſer Friedrich-Muſeum auch nichts
aue Worin beſteht Grubes
Offenbarung? In einer Variante von
Littmann. Und Littmann? In einer Vari⸗
ante von Schinkel: das Schinkelſche
Schauſpielhaus ins Opernhafte vergrößert.
Worin beſteht Garniers Oper in Paris?
Es war eine neue, großartige, freizü ige
Dofumentierung einer ganzen s⸗
wegen werden die Zahlen fü
des Baues hier zu hoch a
einer einen Schintef chen Entwurf
man auf den Archaismus. Machte
Kauffmann etwa einen neuzeitlichen,
man daran ebenſo nörgeln. Baut Genz⸗
mer das Schaufpielhaus innen um, wird
es eo ipſo getadelt (dabei iſt es ganz hübſch).
Streicht der Kaifer auf einem Entwurf
etwas an, was ihm gefällt, wird eo ipſo
gelächelt. Der Kaiſer ſoll Geld dazu geben
und das Defizit zahlen, aber er ſoll ſich
nicht darum kümmern dürfen. Da man
den Platz bei Kroll gewählt hat, ärgert
man ſich über die erzentrifche Lage und
wünſchte das Abreißen des alten Opern⸗
hauſes: ſtarke Zeiten reißen ein. Riſſe
man es ein, würde man über die
loſigkeit klagen und bedauern, we
indeſſen jahrelang zu Kroll pilgern
Wer findet ſich da noch heraus
Bismarckſache zeigt die Mängel de
Konkurrenz, die Opernſache die de
dingten. Es iſt bei uns ſchon lange Fi.
vorgekommen, daß ſich Volk, Rn ler, ki
Behörde, König auf irgendein Wer ale
annehmbares geeinigt hätten. Schimpft,
das ſchadet nichts. Aber das Hauptübel
liegt in der Anarchie.
Oskar Bie
Einem Dichter
j ed) weiß nicht: ift das viel oder wenig,
1 8 wenn ich von einem Schriftſteller ſagen
kann: Er iſt ein Dichter?!
. Ich weiß es nicht, und ich muß in
dieſen Zeilen noch perſönlicher werden;
muß hinzufügen, daß ich mit den Schrift⸗
ſtellern, die fo ganz eigentliche, echte und
nichts als dichteriſche Dichter ſind, im
Grunde gar nicht viel anzufangen verſtehe.
Es iſt mir nicht unbekannt, daß man ſie
eſen und ſich ihrer freuen kann, doch laſſe
ich mich immer nur ein wenig zögernd
m g mit ihnen ein. (Während ich
r Sand Bismarck oder Eckermann
der Zolc a immer wieder ohne Zwang leſen
nn.) ies das Bekenntnis einer perfön-
lichen Einſchränkung.
Aber ich kenne einen Schriftſteller, von
dem ich jetzt überzeugt bin, daß er ein
„Dichter“ iſt. (Das Wort zunächſt ein-
mal als ein Stück Pſychologie, als bloße
Charakteriſtik genommen.) Ich habe es
bisher nicht ſo ganz ſicher gewußt, und
nun beſchäftigt mich dieſe Entdeckung doch
ein wenig; es iſt immerhin doch ein Fund,
ſolch ein Dichter. Mein Fund wird viel:
leicht manchen „überraſchen“; er heißt
Siegfried Trebitſch. Trebitſch, der uner:
müdliche Shaw ⸗Interpreter, hat ja gewiß
gegen manche Voreingenommenheit zu
kämpfen. Nun leſe man ſein Märchen
dom Tod und der Liebe. Man leſe feinen
erentraum. („Des Feldherrn erſter
Traum“. Inſel⸗Verlag, 1910.)
Es ſind altmodiſche Geſchichten, dieſe
Trebitſchſchen Novellen, oder wenigſtens,
aus ſchönfließender Feder in ſchöner
Schrift auf das Papier kommen. Es iſt
immer ein naives himmelblaues Blau und
dann ein Rot, das Rot eines gemalten
roten Flammenherzens, einer roten Schleife,
einer roten Roſe darin, und nun aber das
Wichtigere, das Entſcheidende: nun gehört
es mit zu Trebitſchs Dichtertum, wie er
aus ſeinen Viſionen heraus mit einem
Mal enthüllt, daß dieſe Farben noch da
ſind; daß ſie noch irgendwo irgendwie
ihren Platz haben. Man darf ſie bloß
nicht mißverſtehen, ſie nicht für Kuliſſe
anſehen, dieſe Farben, wenn ſie doch in
Wahrheit ihre Tiefen, ihren Sinn, ihren
Witz haben. Bei Trebitſch liegen ſie über
den Dingen, aber die Dinge ſind ſo echt,
ſind ſo ehrlich errungen, daß die Spuren
blutiger Erkenntniſſe mir fie doch eigent—
lich wertvoller machen als manchen Skiz⸗
ziervirtuoſen, der nicht altmodiſch iſt.
Trebitſch erzählt ſeine Märchengeſchichte
vom Tod, der einem Kranken das Herz
nimmt und ihn dafür am Leben läßt, mit
der Kraft eines Steinbildners, der jeden
Schlag meiſtert. Da liegt der junge
Mann im reichen Landhaus. Da ſind
die Arzte. Da kommt der weiſe, fremde
Wanderer, der ſagt: Der Tod will hier
etwas zerſtören, wofür die Geneſung des
Leibes der Preis iſt. Und wirklich hat
der junge Kranke eine Geliebte, die ſeine
Pflegerin iſt, und deren Pflege entzieht er
ſich nun zum erſtenmal: Er ſchläft. Da
er aufwacht, iſt ihm, als hätte er vor ihr
ein Geheimnis, das „nach innen leuchtet“.
Es iſt das Geheimnis ſeines Geſund—
werdens. Und auch in der Freundin iſt
ſchon alles auf dieſe innere Trennung vor—
bereitet. Die Entfremdung ſpringt auf
ſie über, blitzähnlich, mit einem Funken;
ihre Sorge wird ihr ſelbſt drückend, und
da nun (das Märchen nimmt dem Leben
die Zügel aus der Hand) da kommt ein
Lied aus der Ferne, ein Lied, mit dem
Sorge, Leid, Schmerz eins werden und
ſich von ihr ablöſen, und das lockt ſie fort.
Trebitſch liebt das Problem, das hier
anklingt, das Problem männlicher Selbſt—
erziehung, Selbſtzucht; er hat es von An—
fang an zu variieren und zu geſtalten ge—
597
mußt, und er ift in dieſem einen Punkt
mehr als ein Dichter, er ift Berater,
Freund, Moralkritiker. Er hat eine Lieb-
lingsfigur, der er immer nachgeht: den
ſeeliſch Erſtarkten, den Feinfühligen, der
zum Helden wird, den Helden ſelbſt. Die
Geſchichte des heldiſchen Mannes ſchreibt
er auf knappen achtzig Seiten in der eben
ſchon genannten Novelle, der Novelle von
dem Feldherrn der Thebaner, der niemals
träumte, weil er nie an ſeinen Ruhm oder
an ſich ſelbſt dachte.
Das iſt eine ernſte und getragene Er⸗
zählung, nicht mehr auf blaßblauem
Grund, ſondern auf dunklem und ver⸗
tieftem. In einem vibrierenden und ver⸗
haltenen Chronikenſtil, einem Stil, der
ſein Ornament, ſein antikes Muſter in ſich
ſelbſt trägt, wird das Bild eines ent⸗
ſchloſſenen und edlen Patrioten gezeichnet.
Ich bewundere dieſe Zeichnung, dieſen
Stil. Ich bewundere auch die Erfindung,
obgleich mir nicht entgeht, daß hier die
Symbolik des „Traums“ und des Helden⸗
tums ſich nicht immer rein verbinden.
(Es ſind auch Partien in dieſem Buch,
die klanglos bleiben.) Die Erfindung iſt
die: Theanor, der Held, empfängt im
Krieg den Todesſtreich und — träumt.
Zum erſtenmal träumt er, und er ſieht im
Traum ſeinen Nachruhm. Wie iſt ihm?
Der Name Theanor bekommt einen „frem⸗
den, ruhmredigen Klang“. „Wohin kam
mein Name?“ fragt er. „Es gelingt
nicht, ihn auf die Lippen zu bringen, er
weiß ihn nicht mehr!“ Und ſo erklärt ſich
dieſe letzte und tiefſte, allertiefſte Empfin⸗
dung: „Denn die ſinkende Wagſchale des
Geſchickes aufzuhalten, kein Held vermag
es, drum iſt jedes namenlos im All.“
Theanor aber heißt fortan — Epami—
nondas.
Das iſt die wundervolle klare und un-
gekünſtelte Schlußwendung. Das iſt die
Überraſchung zum Schluß.
Einem Dichter, nur einem Dichter fällt —
ſo etwas ein.
A. G.
598
Schöne Verſe
Noch um des Atiributiven willen, der
Schönheit, ſei hier das Versbuch
von Max Mell „Das bekränzte Jahr“
gerühmt (denn wieviel ſchöne Strophen
werden dank einer automatiſierten Technik
heute in Deutſchland geſchrieben), ſondern
weil das Subſtanzielle in ihnen ſo ſelten
rein und weſensecht iſt, weil dieſe Verſe
eben wirklich Gedichte ſind ganz in bild⸗
neriſchen Ausdruck erhobenes, einheitlich
bewahrtes Gefühl. Seine Verſe bereden
nicht eine in raſchem Umriß geſehene, vor⸗
ſchnell der Innerlichkeit entroendete Er⸗
griffenheit, ſondern ſind mit ihrem all⸗
mählich wie aus tauſend Eapillaren Röhren
aufgeſogenen atmoſphäriſchen Niederſchlag
ſüß geſättigt und ſchon fo leise trunke
daß in ihnen ein ſachter Nh 0
hebt von Tanz oder Geſan
(im höchſten Sinn) ſachlich und
echt, fie find reif und das iſt il 0
nis. Sie mouſſieren nicht mehr, ww
ſie Minderverſtändigen leicht als un 9
erſcheinen könnten, fie atmen nur ruhig, weil
fie ausgegoren find, dem Kenner an jenem
feinen unerklärbaren Aroma der unſüß⸗
lichen Süße kenntlich, wie er altem guten
Weine zu eigen iſt. Und dies iſt ja das
unkommenſurabel Köſtliche, das die Zeit,
ſie, die ſelbſt körperloſe, den vollendeten
Dingen umlegt, dies nicht zu Fälſchende
und künſtlich zu Erringende, dieſes ger
heime Fluidum, das frühen Bildern den
rauchfarbenen warmen Ton, alten Geigen
die hinreißende Süße im Klang und reifen
Gedichten ihr Unfaßbares gibt. Aus ſich
ſelber find dieſe Verſe gewachſen; wennn
fie auch vielfach anknüpfen an frühre mans
tiſche Tradition oder die neue, f
widerſtrebt das Organiſche ihrer Str
dem fremden Rhythmus und überwä
ihn in der Geſtaltung. Noch iſt aus il
der volle Umfang von Max Muß
x Mar Mell: Das bekränzte Jahr. Be i
lin, Axel Juncker, 1912. er
2 |
leriſchem Können nicht zu erkennen (die
Probe iſt zu ſparſam) wohl aber die In⸗
tenfität, die Konzentrationsmöglichkeit feiner
bildneriſchen Kraft. Statt eines Urteils
rede hier das Gefühl: mir ſcheinen ſie die
ſchönſten Gedichte, die ſeit Rilke und Hof:
mannsthal aus Oſterreich gekommen ſind.
Stefan Zweig
; Borfrübling
4 5 ißt gar nicht zu fagen, wie ſchön es
En wenn 95 Frühling, noch nicht
Frühling, erſtlich ins Land hereinguckt. Er
blinzelt, er atmet herüber, er iſt als un⸗
ſichtbarer Gaſt unter uns, uns alle ver⸗
1 Härend; und alles iſt eitel Glück. Der
zoden debt leiſe unter feinen Schritten,
aben unſer Gewicht verloren, denn
en Arm um unſere Hüften gelegt
gt uns, nicht ohne uns über den
Fi eftreichet zu haben. Und daran
erkennen wir ihn. Die Luft hat ſich ſtrah—
len geteilt, nur am Rande des Tiergartens
8 gt es wie roſiger Nebel.
Wenn man aus dem Hauſe geht und
an dem Blumenladen vorbeikommt, der
gleich am Eingang wartet, bekommen die
Blumen plötzlich einen beſondern Sinn
und ſie leben. Die Farben leuchten zuver⸗
ſichtlich, die Blüten ſind üppiger, ſchwerer,
beweglicher geworden, als fühlten ſie, dieſer
Tag iſt ihr Tag! Sie ſcheinen herüber⸗
zuduften und dieſer Duft erfüllt die
Straße, die Luft, die Welt, und dringt
allen in die Adern. Beſonders die Hya⸗
zinthen ſind es, die, zu Luft verſtaubt, in
0 t verwandelt, weiterduften. Aber tau⸗
mal ſchöner iſt es in der Tat. Und
dieſer Duft eilt koſend einem andern Duft
gegen, ſich mit dieſem vermählend, der
der Erde dringt. Sintemalen wo die
Erde tief aufgewühlt wird, ſo daß man
ſie, die lang entbehrte, unbewußt, doch
eudig begrüßen kann.
Ja, dieſer Geruch iſt das Befondere.
r
Es iſt, als ob er mit der Stirn aufge—⸗
fangen wird, als ob er ſich dahinter lagert,
nach dem Hinterkopf ſich verpflanzt; etwas
peinigt, etwas wie eine Ungeduld, die man
doch nicht auflöſen möchte, etwas ſüß
Quälendes taucht auf, taſtet ſich empor,
ſetzt ſich auf die Zunge fort. Eine Er⸗
innerung hänſelt: wo und wann und wie
wer es doch, da man ähnlich und doch
ganz neu gequält worden? Das erſte
Enipfinden und Empfangen des erſten
Frühlings. Mit neun Jahren oder wieder
mit vierzehn und fünfzehn? Die Erinne⸗
rung an einen Geruch verbunden mit einer
Melodie. Irgend etwas, don verſchiedenen
Sinnen kommend, was zuſammenfiel?
oder wieder anders? Und das Ganze ſcheint
nur dieſer Kampf mit der Erinnerung zu
fein.
Wie lange ift es her, da hatten wir
ſtrengen Winter, und wie wohl hat der
getan. Wir ſind Nordländer und brauchten
ihn, um das Gleichgewicht unſerer Natur
zu erlangen. Frieden und Ruhe war für
eine Weile in uns eingezogen, ſchien ſo
manche Laſt von uns genommen zu haben
und das Hetzende zu verſcheuchen. Eine
Weile, länger brauchten wir ihn nicht.
Nun iſt es anders geworden, und das iſt
doppelt ſchön wie ein Geſchenk.
Aus aller Augen blinkt die Freude der
Erwartung. Die Blicke ſind blank und
trotz der Heimlichkeiten des Herzens offen
und rein. Alle ſind ſie heute huldvoll und
glücklich. Iſt das nicht herrlich? Auch
die kleinen Mädchen. Die Jungen wohl
auch, doch wir ſehn auf die kleinen Mäd⸗
chen. Wie die ganz jungen Katzen, die
erſtlich die Geſchmeidigkeit ihrer Glieder
beherrſchen und zu ſpielen beginnen, Raub:
lüſtchen im Herzen. Ja, was iſt nur in
dieſe kleinen Mädchen gefahren. Hat ſich
nicht jetzt zuerſt ihr kleines Herzchen ge—
öffnet, iſt nicht der erſte Keim darin ge-
fallen, der, ſtets ſich erneuernd, das ganze
eben deuten und bedeuten wird?
Nun, wie wär's mit einem ſemmel⸗
blonden Köpfchen, mit einem Schrippen⸗
599
herzchen, mit brühwarmen Lippen und
blankgeputzten Augchen, den himmelblauen,
die ſo irdiſch ſind?
Jetzt iſt es daran, Deutſches zu denken.
So allerlei deutſche Worte kommen in
den Sinn, wie Aue, Lüfte, Wandeln und
Sehnſucht. Ja, eine deutſche Landſchaft
ſoll es fein und ferne deutſche Dach:
giebeln.
Auch an einen Dichter iſt zu denken.
Und wer wäre da näher, als der allliebſte
Knut Hamſun? Doch nein, ein Deutſcher
ſoll es ſein, alſo der zauberhaft liebe (o,
liebt ihn mit!) Robert Walſer mit ſeiner
ſchweizeriſch tückiſchen Güte und ſeiner
Verliebtheit. Und wie ſchön ihm nachzu⸗
eifern. Wie ſüß um ſeine eigne Verliebt⸗
heit zu wiſſen, es nicht ſagen zu dürfen
und doch es zu ſagen!
Und die allerdeutſchſten Namen ſollen
es ſein. Grete und Elſe, und Irma und
Martha. Wart', noch ein Name war es
doch, ein allerwichtigſter? Nun iſt er
entfallen. Ach, was liegt daran. Wenn
die Zeit gekommen, wenn die ſo viel⸗
geprüfte, die richtige deutſche Sehnſucht,
die überall hinmuß und ſtets leer ausgeht,
herangereift iſt, dann wird ſie daſein, eine
Neue, Ungekannte, ein Leben lang Er⸗
wartete. = *
Laßt nur die Erwartung währen.
Paul Barchan
Verantwortlich für die Redaktion: Prof. Dr. Oskar Bie, Berlin.
Verlag von S. Fiſcher. Berlin. Druck von W. Drugulin in Leipzig.
Armut und Raſſenſchönheit
von Sidney und Beatrice Webb
Vorbemerkung
eit Jahren bemühen ſich, beſonders in England, moderne Raſſen—
hygieniker, alle Bedingungen zuſammenzuſtellen, die über die Schön—
heit und Wohlgeratenheit des menſchlichen Typus entſcheiden. An
ihrer Spitze ſteht der greiſe Francis Galton, dem wir die wohlbekannte
Studie über „Genie und Erblichkeit' danken, und der ſcharfſinnige Karl
Pearſon. Für ihre Beſtrebungen, die Fernſtenliebe über Nächſtenliebe zu
ſtellen und die, wie ſie glauben, aus mißverſtandener Philanthropie betriebene
Erhaltung von Niedergangstypen einzudämmen, haben ſie den Namen
Eugenik geprägt. Da bei dieſen Beſtrebungen die Gefahr einer falſchen
oder einſeitigen Deutung biologiſcher Grundgeſetze vorlag und eine Diskre—
ditierung der modernen Sozialpolitik zu befürchten war, hat es das berühmte
Ehepaar Webb für nötig erachtet, den Tatbeſtand und die Zuſammenhänge
zwiſchen Armut und Raſſenſchönheit zu unterſuchen. a
e
n den letzten Jahren ſind gegen den ſozialen Reformeifer im Namen
der Eugenik Befürchtungen erhoben worden. So weit wir Sir Fran—
eis Galton, Profeſſor Karl Pearſon und Dr. Saleeby begreifen, er—
geben die Entdeckungen und Folgerungen der Zuchtwahl nicht nur keinen
Widerſpruch zu dem Kreuzzug gegen die Krankheit oder gegen unſere
übrigen Maßnahmen zur Verhütung der Armut, ſondern liefern ſogar
die ſtärkſten Beweisgründe zu ihren Gunſten. Sind doch viele der
N *.
8
ſtellung beherrſcht, es handele ſich bei der Eugenik um eine Alternativ-
7 volitik. Einige dieſer Leute ſcheinen im Glauben an „Evolution“ und „das
Überleben des Geeignetſten“ weitere Schritte der Öffentlichkeit zur Ver—
hütung von Krankheiten oder zur Herabdrückung der Sterblichkeitsrate als
tatſächliche Gefährdung der Raſſe zu empfinden. Andern ſchwebt vor: daß,
39 601
da „erworbene Eigenſchaften nicht erblich find“, es weder nötig noch von
öffentlicher Bedeutung ſei, Erkrankungen, übler Gewöhnung oder ſonſtigen
körperlichen, geiſtigen oder ſittlichen Schädigungen vorzubeugen. Wieder
andere find fo ſehr unter dem Eindruck des Umfangs, in dem ſich körper⸗
liche und geiſtige Mißbildungen fortpflanzen, dag fie alle Kräfte und Mittel
der Gemeinſchaft auf einen Verſuch ſtrikteſter Zuchtwahl konzentriert ſehen
möchten. Dieſe drei Glaubensformeln landläufiger „Eugenik“ begegnen
fi) in der einſtimmigen Abneigung nicht nur gegen die Pläne zur Armut⸗
verhütung, ſondern auch gegen alle und jede Sozialreform. Das iſt in den
Tat im Augenblick die modernſte Gewandung des laissen faire! 1
Nehmen wir dieſe Einwände der Reihe nach vor. Zunächſt die des rohen
Biologen, der im Namen der Evolution jeden Verſuch zur Senkung der
Sterblichkeitsrate, alle Vorſchläge zur Krankheitsverhütung verwirft und
namentlich jede Bekämpfung des furchtbaren Mürgengels der Säuglinge
höchlichſt verübelt. Er wünſcht, ſo erklärt er, die Vermeidung jeder Ein⸗
miſchung in den Kampf um das Daſein.
Wir wagen die Behauptung, daß nach allen Grundſätzen und Ent⸗
deckungen feiner ureigenſten Wiſſenſchaft des laisser faire für den Eugenifer
naturnotwendig die denkbar ſchlechteſte Taktik iſt. Bedeutet es doch die end⸗
gültige Verleugnung jener zweckbewußk⸗raſſenhygieniſchen Aus wahl, auf die
er ſeine Hoffnung ſetzt. Stimmten wir ſelbſt überein, daß die rigoroſe „Se⸗
lektion“ des „Naturſtaates“ die für die Bedürfniſſe eines neuzeitlich⸗hoch⸗
ziviliſierten Gemeinweſens geeignetſte Auswahl treffe, fo wäre es inmer
noch unzweckmäßig oder unmöglich, dieſer „natürlichen!“ Auswahl freien
Lauf zu laſſen. Wollten wir als Nation für einen Augenblick unſere menſch⸗
lichen Sympathien abſchwören und die Defeitigung aller öffentlichen Ob⸗
forge für die Schwachen und Unfähigen beiihließen, fo wäre ein Ausbruch
wehleidigſter Privatwohltätigkeit die unvermeidliche Folge. Der fanatiſche
Eugeniker der individualiſtiſchen Schule iſt mertwürdig unvertraut mit der
menſchlichen Natur, wenn er glaubt, er keune den Durchſchnittschriſten —
Mann oder Weib — dahin bringen, kleine Kinder verhungern zu ſehen,
ohne krampfhafte, ja geradezu verzweifelte Anfälle der Hilfsbereitſchaft.
Und es iſt das Kennzeichen ſolcher unterſchiedloſen und krampfhaften Wohl:
tätigkeit, daß fie nicht nur alle eugeniſchen Grundſätze vernachläſſigt, font
auch, ſofern ſie überhaupt unterſcheidet, es meiſt nach der verkehrten Se ite
tut. Das heißt: ſie fördert kritiklos die Erhaltung der zweifellos böſeſten,
ſchwächſten, am erh behafteten und deshalb mitleiderregendſten Fälle.
Unter dem Syſtem privater Schmerzensgelder gelingt es erfahrungsgemäß
den Eltern, die am meiſten betteln, lügen und kriechen, die zuweilen im Hin⸗
blick auf das zu erweckende Mitgefühl ihre Sprößlinge ſogar verſtümmeln,
am beſten, ihren Unterhalt aus den Taſchen der Barmherzigen zu beziehen.
602
Allein angenommen, es wäre möglich, die chriſtliche Nächſtenliebe und
alle private und öffentliche Jugendfürſorge zu unterdrücken. Könnten wir
dann die wünſchenswerte „Eliminjerung des Ungeeigneten“ dem blinden
Geſchehen ungeheramter Sterblichkeit überlaſſen? In Wirklichkeit fehlt
jeder Beweis, daß die ungehemmten Verheerungen der Seuchen oder der
verhängnisvolle Einfluß einer unſeligen Umwelt (ebenſowenig wie Krieg
oder Hungersnot) eine Hebung der Raſſe bewirken. Jede wirkliche derartige
A iſt unter dem vorausgeſetzten ſchrankenloſen Kampf ums Dafein
völlig unwahrſcheinlich. Die „Natur“ kennt keine bewußte Zweckmäßigkeit,
und der Begriff des Kulturniveaus iſt ihr fremd. Sich felöſt überlaſſen
treibt die Natur weder Zuchtwahl — wie wir fie verſtehen — noch erhält
fie die zum Überleben geeignetſten Individuen. Und die im zügelloſen Wett⸗
kampf Eliminierten werden oft genug gerade diejenigen ſein, deren Überleben
für uns, als ziviliſierte Menſchen, am wünſchenswerteſten wäre. Nur ein
Beifpiel: Bekanntlich ſterben mehr Säuglinge männlichen als weiblichen
e Das beweiſt aber nichts für die Inferiorität der Männer oder
einer Geſellſchaft mit Frauenüberſchuß) für ihre geringere „Geeignet⸗
heit“ zum Überleben. Tatſächlich beſteht, wie Fe Biologe weiß, zwiſchen
„Lebens fähigkeit“ und ſozialer Geeignetheit überhaupt kein Zuſammenhang.
Die Frage: wer wird der Überlebende ſein? entſcheidet ſich nach den Be⸗
dingungen des Kampfes, nach den Regeln der Rennbahn. Ws die Regeln
der Rennbahn einen niederen Top begünſtigen, überlebt er und vice versa.
Die Überlebenden bei einer unbekämpften Scharlach⸗ oder Typhusepibemie
mogen ihr Entkommen konſtitutionellen Eigenheiten verdanken, die an ſich
vollg wertlos ſind, ja ſich vielleicht ſogar bei Perſonen finden, die wir in
jeder andern Hinſicht als febensunti tüchtig bezeichnen würden. Angenommen,
eine Malaria verbreite ſich ungehemmt über die Vereinigten Staaten, ſo
würden höchſtwahrſcheinlich die Weißen ausfterben, die Schwarzen überleben.
Liegt doch immer eine allgemeine Wahrſcheinlichkeit vor, daß der zweck⸗
und regelloſe Kampf die unentwickelteren und gebärfähigeren gegenüber den
| höheren und weniger fruchtbaren Organismen entſchieden begünſtigt. Kurz
% das „Übeeteben des Geeignetſten“ mag — wie jeder Biologe weiß — in einer
ßfÿaortſchrittfeindlichen Umwelt das Uberleben des unterſten Paraſiten bedeuten.
Der zweite Einwand: die körperliche und ſittliche Minderwertigkeit der
frmſten Bevölkerungs ſchicht habe vergleichsweiſe geringe Bedeutung, weil
amworbene Eigenſchaften fi ſich nicht vererben, ſchießt zweifellos übers Ziel.
Zeigt es doch eine ſeltſame Verkennung ſowohl der Einwirkung widriger
= Schwangerſchaft⸗ bedingungen, mit ihrem unbeſtrittenen Schuldkonto an
leiblichen und geiſtigen Verkrüppelungen, an „angeborenen“ Ubeln, als auch
der Einwirkung von Raſſengiften auf das Keimplasma (Syphilis, Ausſatz,
vielleicht auch Alkoholismus) mit ihrer nachweisbar echten Erblichkeit. Über:
2
603
dies gibt es neben der biologiſchen fo ein Ding wie foziale Vererbung. Selbſt
wenn die körperliche Entartung der Eltern die neugeborene Generation nicht
erblich belaſtet, was keineswegs feſtſteht, ſo fehlt es ſicher nicht an einer ſehr
mächtigen Familientradition und „Klaſſenatmoſphäre“ von Verlumpung,
Liederlichkeit und Gewiſſenloſigkeit — ja buchſtäblichem Schmarotzertum,
— die ſich unverkennbar auf die nächſte Generation überträgt. Und wir
müſſen uns der Einflüffe, die Sumpfluft, Krankheit, Not, Laſter und Ver⸗
brechen erzeugen, auch dann erwehren, wenn eine phyſiſche Übertragung der
in ſolcher Umwelt erworbenen ſchlimmen Eigenſchaften von den Eltern auf
das Kind nicht ſtattfindet. Was nutzt es, daß „erworbene Eigenſchaften
nicht erblich ſind“, wenn wir ihre ſoziale übertragung durch eine Umwelt
dulden, die jede Generation aufs neue vor und nach ihrer Geburt ſchädigt
oder verdirbt. Die Ablehnung der Einwirkung der Umwelt iſt in der Tat
merkwürdig unangebracht bei denen, die an die Wiſſenſchaft der Zuchtwahl
glauben. Geht doch der Endzweck der Eugeniker nicht nur auf die Er-
zeugung prächtiger Babys; vielmehr ſoll ein Geſchlecht ſtattlicher Männer
und Frauen heranwachſen. Trotz tadelloſeſter Abſtammung wird aber ein
Säugling unter genügend widrigen Lebensverhältniſſen zum kümmerlichen
Schwächling. „Die größte Gefahr für das Gemeinweſen“, ſchreibt ein be⸗
rühmter Kinderarzt im Hinblick auf die Säuglingsſterblichkeit, „iſt die Lage
der Kinder, die leben bleiben, aber in hoffnungsloſer Unterernährung auf-
wachſen. Betrachten wir zum Beiſpiel die Rachitis. Ihr Einfluß auf den
ganzen Organismus iſt von der allerhöchſten Tragweite. Sie iſt die Haupt⸗
urſache der Krampfanfälle mit tödlichem Ausgang im erſten Lebensjahre.
Ihre ſpäteren Manifeftationen zeigen ſich in Epilepſie und Geiſtesſtörung.
Fälle dieſer Art füllen heute die Irrenanſtalten. Die bei Kindern fo häu⸗
figen Drüſenanſchwellungen entſtehen durch rachitiſche Mißbildungen. Zahl⸗
reiche Lungenleiden find eine Sekundärerſcheinung rachitiſcher Gewebezer-
ſtörungen und von Mißbildungen des Bruſtkaſtens. Alle möglichen Arten
von Verkrüppelung, von allgemeinen und dauernden Schwächezuſtänden
ſind auf Rachitis zurückzuführen. „Und dieſes allzu weit verbreitete Übel
iſt im weſentlichen eine Krankheit der Armenviertel und die definitive Folge 4
von Vernachläſſigung und Unterernährung. Rachitis erwächſt nicht aus einem
ſchlechten Stamme, ſondern aus einer ſchlechten Umwelt. Erſtreben wir!
Hervorbringung einer guten Raſſe, ſo können wir die ſchlechte Umwelt nicht
ſich ſelbſt überlaſſen. Was einige tötet, ſchädigt viele. Wünſchten wir ſelbſt
keine Verminderung der Säuglingsſterblichkeitsrate, ſo müßten wir trotzdem
alle Hebel anſetzen, um die Rate der Geſchädigten unter den Überlebenden
herabzuzwingen, die ſich in ſehr naher Beziehung zur Sterblichkeitsrate bewegt.
Das Problem, das ſich dem Eugeniker mit der Entartung jeder neuen 5
Generation durch die üble Umwelt ſtätiſcher Armut entgegenſtellt, gewinnt 4
RE
604
noch an Bedeutung und Dringlichkeit durch die heute in allen Kulturſtaaten
ſchnell um ſich greifende willkürliche Beſchränkung der Geburten. Dieſe
Beſchränkung iſt offenbar differenziert. In der Arbeiterklaſſe iſt ſie am häu—
figſten bei bedachtſamen, ſparſamen und pflichtbewußten gelernten Arbeitern,
die ſich regelmäßiger Tätigkeit zu relativ günſtigen Bedingungen erfreuen.
Sie iſt am ſeltenſten bei den ungelernten Gelegenheitsarbeitern, die die Ein—
zimmerwohnungen unſerer Armenviertel füllen. Zu den zahlreichen Ur—
ſachen dieſer Erſcheinung gehören: das Fehlen einer anſtändigen Häuslich—
keit, die aus der Unſicherheit des Unterhalts entſtehende Gleichgültigkeit und
die Neigung zu Trägheit und Trunk, die den „unterbeſchäftigten Mann“
0 kennzeichnet. Wer je den Einfluß regelmäßiger Arbeit und anſtändiger Be—
hauſung auf die Lebensführung beobachtete, weiß, daß die Geburtenbeſchrän—
kung, die jetzt unter den regelmäßig beſchäftigten Arbeitern üblich iſt, zum
großen Teil der bloßen Hebung ihrer Lage entſpringt. Die derart differen—
zierte Geburtenrate ergibt naturgemäß weniger Geburten in den beſtqualifi—
ierten Familien, wo Stamm und Verhältniſſe der Aufzucht einer geſunden
zeneration günſtig find. Das heißt mit andern Worten: wachſende Zu—
ie der durch Vererbung oder Umwelt Lebensuntüchtigen. Und zwar als
ittelbares Ergebnis der mangelnden Organiſation des Arbeitsmarktes
und der Wohnungsnot; Zuſtände, die ihrerſeits durch die Lebensuntüchtigen
hervorgerufen und weitergeſchleppt werden. Den raſſenhygieniſchen Ge—
fahren kann des halb nur begegnet werden durch Veränderung der fie be—
dingenden Umwelt. Die Emporhebung der Hafenarbeiter ſelbſt nur auf die
Lebenshaltung der Gepäckträger bedeutet ſchon eine erhebliche Herabdrückung
deer Fruchtbarkeit in der unterſten Bevölkerungsſchicht. Im übrigen iſt es
eeine unumgänglich dringende Notwendigkeit, die ökonomiſche Unſicherheit
der Schwangerſchaft im Arbeiter- und kleinen Mittelſtand zu beſeitigen.
Unter den heutigen ſozialen Verhältniſſen kommt die Geburt eines Kindes
in Familien mit einem Einkommen von weniger als drei E wöchentlich
(und fie machen vier Fünftel der Nation aus) faſt einer Strafe gleich. Das
Hauptproblem aller praktiſchen Eugenik gipfelt nach Profeſſor Pearſon darin,
das geſunde Kind zur wertvollen Kapitalsanlage für die Volkswirtſchaft zu
aachen. Das iſt das Ideal, dem wir alle zuſtreben. Nur fehlt gegenwärtig
eder gangbare Weg dahin. Inzwiſchen können wir im Sinne des raſſen⸗
hygieniſchen Problems nichts Geſcheiteres tun, als den geſunden Säugling
zu einer etwas geringeren Belaſtung für feine Eltern zu machen.
4 Wir kommen nun zum dritten Einwand der Eugeniker gegen die Politik
der Armutsverhütung: dem durchaus vernünftigen Wunſch, das geſamte
öffentliche Intereſſe, alle Kräfte und Mittel auf die Zuchtwahl zu konzen—
trieren und namentlich ſofortige Schritte zur Verhütung der Vermehrung
ererbten Schwachſinns zu tun. Damit aber verliert die Verhütung der Ar—
605
mut nichts von ihrer Bedeutung. Gerade weil die Nation gegenwärtig die
Armut nicht „verhütet“, ſondern nur „unterſtützt“, iſt die Fortpflanzung
angeborenen Schwachſinns geſtattet, ja wird ſogar durch Geldbewilligungen
ermutigt. Das geltende Armenrecht wirkt faſt ausſchließlich antieugeniſch,
namentlich durch die laxe Behandlung ſchwachſinniger Mutterſchaft und
durch die im Armenhaus gegebene Gelegenheit zur Eingehung wenig wün⸗
ſchenswerter Beziehungen; dann durch die Ohnmacht gegenüber nicht armen⸗
unterſtützten Minderwertigen und Umhertreibern, und ſchließlich durch das
Unvermögen, die heute Tauſenden minderwertiger Eltern bewilligte Geld⸗
unterſtützung durch geeignete Fürſorge zu erſetzen. Bei der jetzigen Sad
lage kann die Armenbehörde nicht einmal verſuchen, der fortgeſetzten Frucht-
barkeit von Perſonen Einhalt zu tun, die ihr zwar als geiſtig defekt bekannt
ſind, aber deren Minderwertigkeit nicht ärztlich atteſtiert iſt. Vielmehr hat
die hier gewährte Unterſtützung die genau entgegengeſetzte Wirkung. Es iſt
nicht allgemein bekannt, daß jährlich gegen fünfzehnhundert Kinder im
Armenhaus geboren werden. Nicht ausgeſprochen blödfinnigen, aber ſchwach )-
ſinnigen oder geiftig und ſittlich degenerierten Frauen bietet die Armenpflege
bedingungslos unentgeltlichen ärztlichen Beiſtand während der Entbindun .
Tauſende dieſer „ungeeigneten“ Mütter betrachten das Armenhaus ledig lich
als unentgeltliche Entbindungsanſtalt. Nachdem fie dort auf öffentliche
Koſten die ſorgfältigſte ärztliche Pflege als ihr gutes Recht genoſſen, ziehen
ſie mit ihren Kindern ab, nur um ſich zur nächſten Entbindung mit aller
Selbſtverſtändlichkeit wieder einzufinden. ;
Dieſer Mißbrauch öffentlicher Armenfürſorge wird und kann durch feine
Form der Armenunterſtützung als ſolcher verhindert werden. Das Armen⸗ |
geſetz verpflichtet die Behörden, allen Bedürftigen — aber nur ihnen — den
nötigen Lebensunterhalt zu gewähren; das heißt: nur folange fie bedürftig
ſind; deshalb müſſen ſie ihre Patienten auf deren Wunſch ſofort entlaſſen.
Ihre einzige Waffe iſt „Abſchreckung“, das heißt, ſie können (bei Gefahr
völliger Vernachläſſigung gegebener Fälle) die Unterſtützungsbedingungen
möglichſt entehrend und unangenehm machen. Es liegt in der Natur der
Sache, daß ſich die Behandlung während der Entbindung im Tatſächlichen 3
nicht unangenehm geſtalten läßt. Bleibt als einziges Abſchreckungsmittel di ie
Schande des Pauperismus. Unnötig zu ſagen, daß die in Frage kommend a
Frauen gegen derartige immateriellen Einflüffe völlig unempfindlich ſind.
So geht der Mißbrauch ſeinen Gang. N
Allein nicht nur das Armenrecht geht hier fehl. Unſer ganzes Strafſyſtem,
hart und grauſam wie es mit dieſem Schwachſinnigenheer verfährt, dem
Behandlung, nicht Strafe nottut, unterſtützt tatſächlich ſein Anſchwellen
durch kurze, mit Obdach und Unterhalt verbundene Freiheitsſtrafen. Die
Gefängnisberichte bekunden, daß ein erheblicher Teil der Gefangenen an an⸗
606
*
*
geborenem Schwachſinn leidet. „Von früheſter Kindheit an,“ heißt es dort,
„erſcheinen die Schwachſinnigen vor Gericht, um während ihres ganzen
Lebens immer wiederzukehren; zuerſt mit einem bloßen Verweis ihren Eltern
zurückgeſchickt; ſofort dann nach kurzer Haft; dann ſpäter andauernd zu
kurzen Freiheitsſtrafen verurteilt und wieder verurteilt, bis ſchlimmere Ver—
brechen ſie ins Strafgefängnis bringen. So behandelt man ſie, ſonder
Hoffnung und Zweck, in einer Weiſe, die ſie zu Gewohnheitsverbrechern der
ſchlimmſten Sorte werden läßt und ihnen die Erzeugung einer ſchwach—
finnigen Nachkommenſchaft geſtattet, die wahrſcheinlich gleich ihren Eltern
ins Gefängnis wandert.“ — „Strafen machen auf den Schwachſinnigen
wenig Eindruck. Ebenſo verſagen in der Regel Beſſerungsverſuche. Da ihre
Selbſtachtung ſehr gering iſt und Familienbande, wenn überhaupt vorhanden,
ihnen ziemlich gleichgülti tig ſind, haben ſie keine Furcht vor dem Gefängnis.
Vielen iſt es ſogar eine Zufluchtsſtätte, d ie ihnen die Mühe des Nachdenkens
über die Beſchaffung von Unterkunft und Nahrung erſpart.“
So fragen heute Armenpflege und Gefängnis gleichermaßen zur Erhal—
ng des Schwachſinns bei. In der Tat erſcheint es faſt als Spezialität
en Schwachſinniger, daß fie nicht am Hunger zugrunde gehen. Die
n verfallen bei erſter Gelegenheit der Proſtitution, die Knaben dem
Diebſtahl. Das laisser faire auf der einen, das Abſchreckungsverfahren auf
der andern Seite iſt ſomit gleich wertlos. Beide Syſteme ſtehen gegenüber
dem Schwachſinnigenproblem vor dem unbedingten Bankerott.
In dieſer ſchweren Verurteilung der jetzigen Behandlung erblichen
* Schwachſinns ſtimmen nach den überzeugenden Ausſagen einer Königlichen
* Kommiſſion für Schwachſinnige (Royal Commission on the Care and
Control of the Feebleminded“) Perſonen der verfchiedenften Richtungen
überein. Ob wir im Sinne des Chriſtentums unwiſſentliches Proſtituierten—
und Verbrechertum bekämpfen, oder im Sinne der Eugenik Raſſengefahren
beſeitigen wollen, oder an das Problem im Sinne der Verhütung (anſtatt
der Unterſtützung) dieſer wie der übrigen Bekundungen der Armut heran—
treten: wir alle begegnen uns auf einer gemeinſamen Linie der Reform.
Unſere Aufgabe iſt Ausfindigmachung aller angeborenen Schwachſinnigen
d ihre dauernde Internierung unter geeigneten Umſtänden und unter feſter,
r gütiger Leitung. Das bedingt nach einſtimmiger Anſicht ebenſowohl die
oslöſung dieſer Unglücklichen von Armen- und Strafbehörden, als vom
allgemeinen Schulweſen und der normalen Bevölkerung. Bedingt, daß man
ſie nicht als Paupers oder Verbrecher behandelt, ſondern ſie endgültig als geiſtig
Minderwertige einer Spezialbehörde für dieſes Gebiet überweiſt. Und dies heißt
nach übereinſtimmiger Anſicht: Übertragung der Entſcheidung über und der
Verantwortung für den erblichen Schwachſinn auf die Zentral- und Lokalbe—
hörden, deren Obhut bereits andere vazurechnungsfähige Perſonen unterſtehen.
607
Die vom Mehrheits- und Minderheitsbericht der Armenweſenkommiſſion
erhärteten Empfehlungen der Königlichen Schwachſinnigenkommiſſion ſtellen
die Weiterbildung eines ſchon in der Entwicklung begriffenen Prozeſſes der
Erſetzung der Armenbehörde durch die Irrenbehörde dar. Vor hundert Jahren
kamen Irre, die ſich mittellos umhertrieben, ins Armenhaus, wo man ſie
als eine äußerſt unangenehme Spielart der Armen behandelte. Seither ward
ſich die Geſetzgebung der Gefährlichkeit der wandernden Irren bewußt. Eine
beſondere Behörde ward mit der Internierung Geiſteskranker — gleichviel
ob mittellos oder nicht — in Irrenanſtalten betraut, um ſie dort zu heilen
oder, wenn unheilbar, in ihrem eigenen und im allgemeinen Intereſſe zu
überwachen. Heute wiſſen wir, daß es Formen geiſtiger Minderwertigkeit
gibt, die durch größere Wahrſcheinlichkeit der Vererbung noch gefährlicher
für die Geſellſchaft ſind als der akute Wahnſi nn. Dahe er der Vorſchlag, alle
geiſtig Minderwertigen der Vollmacht einer Behörde zu unterſtellen, die ſie
— gleichviel ob mittellos oder nicht — zum Zweck der Heilung oder Über-
wachung unferfuchen und infernieren kann. 2
Dieſer einſtimmig angenommene Beſchluß betreffs der Schwachſimr ich gen
ſteht nicht nur in keinem Gegenſatz zu den übrigen Vorſchlägen zur Armuts
verhütung, ſondern bewegt ſich auf genau dem gleichen Gleiſe. Wenig
für dieſe Abteilung find wir entſchloſſen, das Armenweſen niederzi
(„break up“) und uns freimütig von aller und jeder „Armenunterſtützung“
loszuſagen. Wir wollen die Verantwortung für dieſe beſondere Armenabteilung
dem Grafſchafts- oder Kreisausſchuß übertragen, der auf dem umfaſſenderen
Spezialgebiet zuſtändig iſt, zu dem ſie ihrer Natur nach gehört. Und wir
fordern von dieſem Ausſchuß Erkundung und beſtgeeignete Verſorgung jedes
vorkommenden Falles von Schwachſinn. Die Möglichkeit frühzeitiger Ber
handlung ererbten Schwachſinns, noch ehe üble Folgen zutage treten — der
Punkt, auf den Eugeniker wie Menſchenfreunde den Hauptnachdruck legen —,
hängt jedoch davon ab, wie weit unſere übrigen Vorſchläge zur Armut⸗
verhütung Verwirklichung finden. Solange es keine für die ärztliche Unter⸗
ſuchung und Beaufſichtigung jedes ſchulpflichtigen Kindes verantwortliche
Ortsbehörde gibt, wird die örtliche Irrenbehörde nicht viele der ſchwachſinnigen
Mädchen erfaſſen, ehe ein Unglück geſchehen iſt. Solange es keine für die
ärztliche Behandlung jedes Kranken verantwortliche Ortsbehörde gibt und ;
keine über alle unbeſchäftigten Männer und Frauen unterrichtete Arbeitslofen
behörde, die an Hand ihrer Verzeichniſſe über jeden Fall anſcheinenden
Schwachſinns, zum Zweck näherer Unterſuchung und eventueller Inter—
nierung, berichten kann: fo lange werden die ſchwachſinnigen Mütter illegitimer
Kinder, die ſchwachſinnigen Landſtreicher und die ſchwachſinnigen Paraſiten
ſtädtiſcher Volksküchen und Obdachloſenaſyle zum Verderb der Nationen
ihre Minderwertigkeit weitervererben.
608
1
Der Nackte Mann
Roman von Emil Strauß
(Fortſetzung)
er Apotheker ſtieß die unverſchloſſene Tür weit auf, dabei fiel ein innen
Doch Beſen in das von einer Ampel erhellte Gewölbe hinein.
Michel nahm ſeine Frau auf und trug ſie über die Schwelle und ſchien
auch mit ihr über den Beſen ſchreiten zu wollen; aber da ſchrie und zappelte
ſie, ſo daß er ſie vor dem Beſen niederſetzte. Sie hob dieſen auf und wollte
ihn ſchon in den Winkel tragen, beſann ſich aber, fegte dreimal über die Schwelle
hinab und ſprach:
„Unfrieden hinaus,
„Glück ins Haus!“
dann ſtellte fie ihn in die Ecke. Sie kam wieder und umarmte und küßte
ihren Mann und ihre Schwiegermutter. Danach gab ſie den herbeigeeilten
Dienſtboten die Hand und hieß fie zu Bette gehen. Nun wandte fie ſich
zur Küche, ſuchte Stroh, Holz, Stahl und Feuerſchwamm, entzündete
auf dem kalten Herd ein Feuer und rückte, ſobald die Flamme golden hinauf—
gelte, einen Keſſel mit Waſſer darüber.
Dann erſt ſtieg fie mit den andern hinauf in das große nach vorn ge—
legene Zimmer und unwillkürlich traten alle drei zugleich an das Fenſter
und blickten auf den Platz. Er lag nun ſchon ſtill und dunkel da und ließ
durch dieſen Wechſel das haſtige Verlangen nach Ruhe fühlen, das die
Bürgerſchaft nach Hauſe getrieben hatte. Ein weicher Regen ſank herab.
„Ein Salatregen!“ ſagte Michel geringſchätzig.
„Wollen wir auch ſchlafen gehen?“ fragte die alte Frau, in das Dunkel
und ſchläferige Rauſchen hinauslauſchend.
„Seid Ihr müde, Mutter?“ ſprach Pele.
„Nein, ich nicht. Ich bleibe noch auf,“ erwiderte die Schwiegermutter.
Da war die junge Frau froh; denn ſie hatte das Bedürfnis, ſtill zu
ſitzen und die Erregung des Tages vergehen zu laſſen.
So blieben ſie beiſammen und ſprachen über die ſeltengeſehenen Ver—
1 wandten, die gekommen waren, und die Mutter erzählte von ihrer eigenen
und anderen Hochzeiten in der alten Zeit.
Es dauerte nicht lange, da fühlte Pele Hunger und auch Grieninger und
ſeine Mutter geſtanden lachend, daß ſie noch etwas vertragen könnten. Pele
ging nach Küche und Speiſekammer, Michel folgte unter dem Vorwand,
ihr leuchten und auch Wein holen zu wollen, und ſo währte es denn einige
Zeit, bis die beiden mit dem Nötigen zurückkehrten, und die alte Frau hatte
längſt den Eßtiſch gerichtet.
Sie aßen und tranken, wurden zuletzt noch grundvergnügt und es
609
Fa u
ging auf Mitternacht, als das junge Paar endlich die Mutter an ihre Tür
brachte.
„Ich muß jetzt noch durch das Haus gehen; machſt du mit?“ fragte
dann Michel.
„Ich halte dich doch nur auf!“ entgegnete ſie lachend. „Geh du nur
allein! Ich ſeh unterdes droben nach dem Rechten.“
Sie küßten einander, er die Laterne, ſie das Ampelein in der Hand, und
freuten ſich über die Schatten, die ſie nach beiden Seiten warfen, auf der
rechten einen langen über die ganze Wand zur Decke hinaufgereckten, auf
der linken einen kurzen von der höhergehaltenen Ampel. Pele machte eine
lange Naſe und flog die Treppe hinauf, Michel drohte ihr mit dem Finger
und eilte treppabwärts. |
Als er Keller, Hof und Untergeſchoß abgeleuchtet hatte und zur Haustür
kam, mußte er aufhorchen: es klang wie eine Trommel. Er runzelte die
Stirn und dachte an einen ſchlechten Scherz.
Aber nun tönte es in regelmäßigeren harten Schlägen über den Me 12
herauf, und Stimmen wurden hörbar. |
Er weckte raſch den neben dem Gewölbe ſchlafenden Biſſigkumm
eilte mit ſeiner Laterne über den noch feuchtduftenden Platz, bis er au
aus der Tränkgaſſe heraufeilende Männer ſtieß, voran Dr. Ebertz, barfuß, in
Hemd und Hoſen, die Trommel ungeſchickt ſchleppend, mit zwei Schlägeln
in einer Hand draufhämmernd, mit entſetzten Blicken ins Dunkel ſpähend.
Streifwachen hatten im Wald an der Durlacher Straße Fackeln geſehen,
die ſich herwärts bewegten. Es wurde von Poſten zu Poſten gemeldet und
von der Brötzinger Torwache war Ebertz' Schwager heimgelaufen und hatte
den Advokaten mit der Schreckensbotſchaft geweckt. Der war notdürftig
bekleidet zum Nachbar, dem Trommler, geeilt, hatte ihm, der ſich erſt an
ziehen wollte, die Trommel weggenommen, und noch bewußtlos vor Auf—
regung draufgehauen. Ebertz ſtürmte durch die Gaſſen, nicht nur, um die
Gefahr weiterzumelden, auch um unter Menſchen zu kommen und den
Schrecken nicht allein tragen zu müſſen. Draufſchlagend und mit lauter
Stimme rufend entlud er ſich ſeiner Angſt und Aufregung, und wie er
dann Geſichter um ſich ſah, Fragen hörte, vertrauende Augen auf ſich ge
richtet fühlte, ſich feiner Wichtigkeit und feines Anſehens bewußt ward, da
ſchnellte wie ein Weidenſtab ſein tiefgebeugtes Selbſtbewußtſein zurück, er
bezwang ſich, faßte ſich und ſchlug nun mit bewußter Herzhaftigkeit und
Freude an ihr die Trommel, bis der Trommler ihn einholte und erſt den
richtigen Alarm raſſeln ließ.
Nun lief der Advokat, ſtolz auf ſein raſches Handeln, wieder heim und,
wenn er von Männern, die ſchon bewaffnet auf den Markt eilten, über den
Lärm oder über ſein Ausſehen befragt wurde, ſprach er beſcheiden:
610
„Im Klaffnert find Fackeln gefehen worden. Möglich, es geht los! Und
weil der Trommler nicht ſo raſch fertig war, hab ich ſo lang die Trommel
geſchlagen — nun, 's war ja danach!“ und eilte weiter, um ſich in feinen
blauen Doppeltaft zu werfen.
Der Apotheker hatte gar nicht mehr Zeit, daran zu denken, zu welchem
Zweck er eigentlich ſeine Laterne in der Hand trug: ſein erſter Gedanke war,
nach dem der nächſten Gefahr abgewandten Altſtädtertor zu laufen und
Meldung zu tun. Aber er kam nur langſam vorwärts; jeder der enfgegen-
ſtürzenden Bewaffneten rief ihn um Beſcheid an und aus den Fenſtern
ſchrien aufgeregt fragende Stimmen herab. Schließlich hörte er auf nichts
mehr, er lief aus allen Kräften, ſchwang die Laterne und ſchrie, ſooft es
ihm ſein Atem erlaubte:
„Wehr und Waffen! Wehr und Waffen!“
Am Altſtädtertor war von beiden Mauerrichtungen her die Gefahr ge—
meldet worden und jeder auf ſeiner Hut; aber nichts Verdächtiges zu
ieninger drehte ſich ſofort um; der Gedanke, was unterdeſſen wohl
der bedrohten Seite vor dem Brößinger und den Vorſtadttoren ge⸗
hen ſei, trieb ihn den Weg zurück. Gleich ſammelten ſich Männer um
„die mit Spießen, Gewehren und Axten zum Markte zogen, drängten
auf ihn zu und ſchrien ihn mit Fragen an, er brüllte die Antworten zurück;
aber in dem Getrappel, Geraſſel und Geſchrei verſtand kaum der Nächſte.
Aus den Häuſern zeterten und kriſchen Weiber und Kinder, und manchmal
ſchwang ſich über den wirren Lärm breitfließend ein Angſtgeheul in die
Nacht hinauf.
Am Marktplatze war nicht mehr durchzukommen. Nach Ordnung und
Kommando ſuchend wogten die aus dem Schlaf geſchreckten, noch ſchlaf—
trunkenen Bewaffneten ratlos hin und her. Der Boden dröhnte, das Eiſen
raſſelte, klang und knirſchte, die Stimmen brauſten aus der Nacht, die
Pechpfannen vor dem Rat- und dem Tanzhauſe und einige Fackeln an
Bürgerhäuſern warfen rotnebelnd ein Brandlicht auf die Nächſtſtehenden
und fpiegelten ſich über die ganze dunkle Menge hin- und herblitzend in
blanken Harniſchen, Spießen und Flintenläufen.
Da Ebertz das erſte Zeichen gegeben hatte, fo fragten viele nach ihm,
bald pflanzte ſich der Ruf über den ganzen Platz fort, und als er im blauen
Dioppeltaft und in Waffen wieder auftauchte, da wurde er mit Fragen,
was zu tun ſei, unangenehm überraſcht. Aber er war Advokat genug, feine
Verlegenheit zu verbergen, er wollte die Wertſchätzung und das Vertrauen
der Bürger nicht jählings verlieren, er antwortete alſo nur vorwärtsdrängend:
„Ja, laßt mich doch nur erſt einmal durch und ſehen, was los iſt!“ Da—
bei kam ihm ſchon ein rettender Gedanke und er rief befehlend:
611
„Stellt euch einſtweilen nach Zünften und Vorſtädten auf und gehorcht
euern Zunft⸗ und Viertelsmeiſtern! und bleibt in der Ordnung, daß man
weiß, wo man euch findet!“
Das hätten ſie von ſelbſt tun ſollen, ſie riefen es einander von Haufen
zu Haufen zu und ſuchten unter neuem Drängen und Durcheinander die
Aufſtellung, die bei feſtlichen Anläſſen hergebracht war.
Ebertz ſchlüpfte, ſeiner Geiſtesgegenwart froh, nach dem Rathauſe hinüber,
auf deſſen Freitreppe ſchon der Bürgermeiſter, einige des Ausſchuſſes
und Herren vom Adel ſich beſprachen; und er berichtete, was er angeordnet
habe. i
Die andern warens zufrieden und teilten ihm den eben ausgemachten
Plan mit: daß einzelne Rotten die Vorſtadttore verſtärken und ſich auf die
Wehrgänge verteilen ſollten, der Haupthaufe aber vor das Schloß hinauf⸗
rücken müſſe, weil von dort die meiſte Gefahr drohte.
Einige kriegserfahrene Bürger mußten die Einteilung ausführen, und
bald zogen die Männer truppweiſe wieder nach allen Seiten vom Mar kte
ab, die große Maſſe den Schloßberg hinauf. +
Dabei ſtieß Hans Aichelin, vom Ausſchuß, auf den Apotheker, der zu⸗
ſchauend mit ſeiner Laterne daſtand, und er ſprach: er
„No — Grieninger —? Haben wir dir doch noch einen Poſſen ge
Auch eine Brautnacht — hm?“
„Aufgeſchoben iſt nicht aufgehoben —“ brummte der Apotheker, der die
ganze Zeit nicht mehr an ſeine Braut gedacht hatte, und ſchaute beſinnend
vor ſich hin.
„Hätteſt ruhig bei deiner Jungfrau Pela bleiben können und ihr ein
Licht aufſtecken! Wir werden ohne deine Laterne fertig. — Was willſt dun
überhaupt da? — Spionieren?“ Er ſah ihn bös an und hob ſchon den Fuß,
ihm die Laterne einzutreten; ſenkte ihn aber wieder, da Grieningers lachendes
Geſicht ihn verblüffte.
„O Lutz — alte Kuh!“ brummte der Verdächtigte. „Geſchworen hab
ich nicht; aber ein Pforzheimer bin ich ſo gut wie du!“
Aichelin blickte ihm in die Augen, nickte lächelnd und ſagte:
„'s iſt ja wahr. Nichts für ungut! — Aber du hätteſt ſchwören ſollen!
Da,“ fuhr er, ihm die Hellebarde gebend, fort, „häng deine Laterne dran 4
und zünd uns den Berg hinauf! Ich hab an der Axt genug.“ RE
So geriet Grieninger als eine Art Fahnenträger mitten in den Haufen.
Das untere Schloßtor, das den Schloßberg auf halber Höhe quer ab-
ſchloß, wurde auf das erſte Klopfen geöffnet. Die Bürger drangen weiter:
ein Trupp ſtreifte rechts hin um die winkelreiche Schloßkirche und durch den
Zwingelgarten, ein anderer durchſuchte die links gelegene Schloßkellerei,
Zehntſcheuer, Marſtall und Kellereigarten, die größere Maſſe rückte bis
612
hinauf vors obere Schloßtor. Der Wächter wurde verhört, gab an, nichts
Verdächtiges erfahren zu haben, und bekam einige Mann Beſatzung. Das
Tor zum inneren Schloßhof, über der Kirche, war zu, das Schloß dunkel
und totenſtill. Da auf Pochen nichts erfolgte, wurde in die Trompete ge—
ſtoßen. Endlich erſchien von der Kellerei herüber mit einer Laterne der
Schreiber des Amtskellers und beteuerte, es ſei niemand im Schloß, man
habe falſchen Verdacht, öffnete aber auf die Drohung, man werde das Tor
einſchlagen, mit zitternden Händen beide Flügel.
Einen Augenblick ſtarrten die Bürger verſtummend in den dunklen
Schloßhof, als erwarteten ſie einen ſcharfen Empfang. Das benutzte auf
Geheiß Grieningers, der dazu die Hellebarde mit der Laterne emporhob, der
Advokat Ebertz und rief:
„Jetzt — ruhig Blut, ihr Leut! Keine Unbeſonnenheit! Keine Gewalt—
tat! Wir haben noch keinen Widerſtand erfahren, vielleicht iſt noch kein
ind im Schloß. Bedenkt, daß wir ruhige Bürger find, die nichts als
: Recht wahren wollen, aber auch jedes Recht des Markgrafen achten!“
Nun quoll die Menge zum Tor hinein, beſetzte alle Türen des Gebäudes
u d erfüllte den Schloßhof mit Fackellicht, Pechqualm und erwartungsvoll
edämpfter Unruhe; denn alle horchten geſpannt auf die Abteilung, die
Schloßkellereiſchreiber und Grieninger mit ihren Laternen geführt, bes
dächtig in das Gebäude eindrangen, um es von unten bis oben zu durch—
ſuchen. An dem ſchwachen Lichtſchein, der durch die Ausſchnitte der Fenſter—
läden als Herz, Kreis oder Halbmond ſichtbar wurde, konnte man von
Zimmer zu Zimmer, über Gänge und Treppen, von Geſchoß zu Geſchoß
das langſame Vorrücken der Laternen verfolgen, kundige Leute nannten die
einzelnen Räume und Gelaſſe, meinten, hier könnte etwas ſein, dort ſei
nichts möglich, jetzt ſei noch der oder jener verdächtige Winkel. Geſpannt
wartete man auf den Lärm, der die Entdeckung einer Beſatzung verkünden
würde, auf Schüſſe, aufgeriſſene Fenſter und herausgeworfene Feindesleiber,
wartete, bis der ganze Zug ruhig wieder die Treppe herunter und aus der Tür
herausklirrte.
Es war keine Beſatzung gefunden und nichts Verdächtiges geſehen
worden.
Aber ſtatt zu beruhigen, vergrößerte dies Ergebnis die Ungewißheit. Der
Zorn des Markgrafen war unleugbar, die Überfallsgerüchte waren von
außen gekommen, nicht etwa aus der Angſt der Bürger entſtanden, die
Fackeln waren geſehen worden: wenn das Schloß ſtill und leer war, ſo
bewies das nur, daß der Fürſt einen verſteckteren Plan hatte. Aber
welchen?
Die ſeltſamſten Vermutungen wurden ausgeſprochen, die Meinungsver—
ſchiedenheiten der einzelnen arteten leicht in perſönliche Streiterei aus und
613
mußten durch Unbeteiligte geſchlichtet werden, und manchem gefiel es offen-
bar, auch einmal hier im Schloßhof unter den markgräflichen Fenſtern beim
Scheine gefährlicher Fackeln das große Wort zu führen.
Endlich ſchlug der Bürgermeiſter vor, da man ja doch nicht die Pläne alle
zuſammen ausführen könnte, fo ſollte man eine Beſatzung dalaſſen und
ſich für alles bereit halten. Dieſer Vorſchlag fand Beifall. Auf der
Brücke vor dem oberen Tor und auf der Altane des Schloſſes wurden
Wachen ausgeſtellt, eine Mannſchaft lagerte ſich um den Brunnen des
Schloßhofes, und die Abziehenden machten ſich auf, den Zugang vom
untern Schloßtor zur Stadt durch eine Wagenburg zu ſperren. 19
„Ich geh jetzt heim!“ fagte Grieninger zu Aichelin und gab die Hellebarde *
zurück. „Mit eurem Überfall iſt's ja doch nichts.“ 3
„Schon recht, wenns nichts iſt,“ erwiderte Lutz. „Das Ol haben wir
aber einmal verſchüttet beim Markgrafen, das ſteht feſt. Jetzt heißt es halt
auf dem Poſten ſein und ihn auflaufen laſſen, wenn er kommt! — Aber,
du, geh du nur,“ ſetzte er lachend hinzu; „geh du und ſing: a
Freu dich, ſtiefelbraunes Maidelein,
ich komm, — ich komm, — ich komm.“
Der Apotheker wandte ſich und lief. Das Liedlein ging ihr
mehr aus dem Sinn, ſo daß er es ſelbſt ſummen mußte, das Liedlein
munterte ihn auf, er ſchaute nicht mehr rechts, nicht links. Er drang, ſo ſtill
es in der Eile anging, ins Haus, mit leiſen Sprüngen jagte er die Treppe
hinauf. Kaum konnte er ſeine Überraſchungsfreude ſoweit bezwingen, daß
ihm leiſe die Zür zum Brautgemache zu öffnen gelang. Nun hielt er ſtill
und lauſchte, und nun trat er mit abgeblendeter Laterne an das Bett-
und nun ſuchte er verwundert in der Stube herum: denn das Lager war
leer. Eigentlich glaubte er gar nicht, daß ſie ſich verſteckt habe; dennoch
leuchtete er das Zimmer ab und fand ſie nicht.
Er trat dann eben auf den Gang hinaus, um zu ſehen, ob ſie bei ſeiner Mutter
ſei, da kam Biſſigkummer die Treppe herauf und meldete, fie ſei in ihr Vater⸗
haus hinübergegangen, da ſie ſich allein in dem fremden Hauſe gefürchtet habe.
„Na —“ fuhr der Apotheker heraus; ſetzte aber raſch gefaßt hinzu: „das
war ja ganz geſcheit! Ja, das kann ich mir denken. — Alſo — gute Nacht,
Biſſigkummer.“ m
Er trat wieder in das Zimmer, in dem er zum erſten Male fehlafen
ſollte, blieb ſtehen und nickte wiederholt. 0
„Freu dich, ſtiefelbraunes Maidelein —“ brummte er bitter lächelnd.
Es kam ihm gar nicht in den Sinn, die beleidigte Braut holen zu wollen,
er zog ſich aus und legte ſich zu Bett, und als beim Hin- und Herdrehen
ein Kreiſchen unten vorklang wie von einer Schreipuppe, da lachte er hin-
aus und ſprach:
614
*
N
u
.
u
r
h „Das iſt nun aber wirklich am Platz!“ i
. Er lag noch geraume Zeit wach, dachte über Peles Übelnehmerei und
Trutzen nach und nahm ſich vor, ſie am andern Morgen mit zufriedener
Miene abzuholen und dafür zu loben, daß ſie ihrer Unbehaglichkeit in der
neuen Wohnung auf ſo ſichere Weiſe abgeholfen habe; mochte ſie ihn dann
für arglos und harmlos halten oder merken, daß ſie einen Fehlhieb getan,
— jedenfalls würde ſein Verhalten ihr das Einlenken bequem machen.
Dann zog der Lärm und das Geraſſel der zur Wagenburg den Schloß—
berg hinauffahrenden Wagen ihn ab, und er ſchlief ein, noch bevor die
* Bürger, auch etwas verdutzt, auseinander gingen und Ruhe ſuchten: denn
5 die Kundſchafter, die ganze Gegend abſtreifend, hatten kein Kriegsvolk, wohl
aber die Fackelträger gefunden, zwei Eilboten, die nach dem Gemmingen—
ſchen Schloß Steinegg bei Tiefenbronn die Trauernachricht zu bringen hatten,
daß Herr Wolf Dietrich von Gemmingen am Abend in Durlach eines
plötzlichen Todes verſchieden ſei.
**
5
4
ae
ee Zehntes Kapitel
Wer Südweſt fuhr durchs Land und um die Karlsburg. Wie eine un-
überſehbare flache Decke mit hellen und dunklen Bäuchen lag das
graue Gewölk über dem breiten Rheintal und ſchob langſam abwärts, und
darunter weg konnte man, wenn nicht gerade irgendwo ein Regen niederging,
tief in die jenſeitige Pfalz mit ihren dunkelblauen Hügeln hineinſehen. Das
Land war naß, die Baumſtämme hoben ſich ſchwarz ab, das herbſtlich trüb
und dunkel gewordene Grün der Belaubung glänzte wieder, gab jedem
Windſtoß einen Sprühregen ab und bekam nie Zeit, zu trocknen.
Ernſt Friedrich hatte die Beine mit grauen Wollbinden umwickelt, einen
bis unters Knie reichenden Rock von Biberpelz an, ein leichtfertiges graues
Filzhütchen mit Federbuſch auf dem Kopf, und mit der langſamen feier—
lichen Würde eines Kirchenfürſten bewegte er ſich über den wohlver—
ſchloſſenen Korridor nach dem Sitzungszimmer, das ſtark eingeheizt
worden war.
Er ſaß nun auf ſeinem Seſſel, die Füße auf einem dicken Schafspelz,
wartete auf die Antworten der Räte, die er über die rechtlichen Folgen der
nneueſten Pforzheimer Ereigniſſe befragt hatte, und freute ſich ein wenig
darüber, daß die Herren erſichtlich unter der Hitze im Zimmer litten. Nur
der Dr. Joſt Reuber, der heute des dicken Tiſchelin Platz in der Nähe des
Ofens einnahm, fühlte ſich behaglich; der magere Gelehrte war verfroren
wie eine Schwalbe und konnte Hitze vertragen wie ein deutſcher Bauer:
am liebſten hätte er ſich gegen den Ofen gelehnt und ſich den Rücken
gewärmt.
Der Geheimrat und Statthalter von Peblitz ſtand da, räuſperte ſich
615
wiederholt, drehte ungeduldig den Kopf hin und her und ſchien mit dem
Arger zu kämpfen, der ihn nicht zu Worte kommen ließ; endlich fuhr er
heraus:
„Nach allem, was ich zu Pforzheim erfahren habe, begehr ich nicht mehr
hin; ich bin entſchloſſen, ſie alle miteinander mit Weib und Kind und Ge—
ſind peinlich zu verklagen, und hab das ihrem Bürgermeiſter auf gut
Deutſch geſchrieben. Sie haben mich und die ehrwürdigen Prediger ſamt
dem Obervogt bis ins Schloß hinein ausgelacht.“ — Er blickte ſo feindlich
um ſich, als wäre das erſt geſtern geſchehen. — „Wahrhaftig, wenn ich
Herr über fie wäre und Niederländer an der Hand hätte, die Stadt zu be—
ſetzen, — ich wollt ihnen die Köpfe wie Krauthäupter abheben laſſen! Freilich, =
die Stadt würde allerdings darüber zugrunde gehen und das fürftliche Ein-
kommen dorther auch; denn ſie ſind alle über einen Leiſten geſchlagen. Sie
müſſen verhetzt ſein! Da iſt dieſer Advokat Ebertz, der ſie öffentlich tröſtet
und vermahnt, als ſtänd er auf der Kanzel, ein überaus arger Fuchs!
Wenn der Sakramentsdoktor nicht wäre, wüßten die Bürger gar nicht, ob
Kunz oder Benz im Religionsfrieden iſt oder wie ihnen geſchoren würde.
Drum iſt hochnötig, daß man ihn fortweiſe! Man darf nur nicht fagen, }
es fei wegen der Religion, fondern wegen des Aufruhrs. — Sonſt wäre
auch nicht unratſam, daß man ſich nach Niederländern umtäte, die man
allgemach in Pforzheim einſchmuggelte, und gäbe ihnen eine Kirche und
Prädikanten: dann kämen die Pforzheimer ſchon von ſelbſt und wollten
reformieren!“
Ohne Peblitz anzuſehen machte der Landgraf eine leichte Verbeugung,
und der Sprecher ſetzte ſich. Der Fürſt ſprach nicht und ſchaute den Ober⸗
vogt von Münſter an, der auch ſofort aufſtand und im Tone der Entſchul-
digung anhob:
„Ich bin von Ew. Fürſtl. Gnaden zu dem Zwecke nach Pforzheim be—
ordert worden, daß ich die reine Lehre dahin pflanzen und den alten luthe⸗
riſchen Sauerteig ausfegen ſoll, hab auch mein Beſtes getan und nicht
allein in der Kirche auf die Prädikanten fleißig Achtung gegeben, ob ſie ſich
irgend wider Ew. Fürſtl. Gnaden Mandat vergriffen und die Kalviniſten
nennten, ſondern hab auch Traktätlein unſerer Lehre verteilt und mich gegen
jedermann freundlich erzeigt, hab auch vermeint, etliche Seelen zu gewinnen.
Aber die Herrgottspfaffen find fo behutſam, daß ich fie nie recht hab er⸗ 1
wiſchen können, wie ich gern gewollt hätte! Und die Bürger find gar hals
ſtarrig, wie fie ja jüngſt bei der Präſentation erwieſen und ſich fo unſinnig,
toll und töricht erzeigt haben, daß dergleichen weder bei Türken noch Heiden
erhört worden iſt, — wie ich an einen Geiſtlichen in Brüſſel geſchrieben
habe und aus meinem Stobäus des weiteren erweiſen könnte! Ich habe,
als ich zu Wied Amtmann war, beinahe die ganze Grafſchaft reformiert —
616
und die Sakramentspforzheimer kann ich nicht rumbringen! Ich bin eben
auch der Meinung, daß ſie von andern müſſen verhetzt werden; denn unſere
Lehr iſt nicht ſo gar gegen die Vernunft, daß ſie von ihnen ſo gar ſtreng
ſollte verworfen werden. Es iſt gewiß, daß der Doktor Ebertz nicht wenig
Schaden getan hat. Ich bin lange damit umgegangen, wie ich ihn unver—
merkt aufheben könnte, und habe mich zu dem Zwecke mehrmals mündlich
und ſchriftlich erboten, ihm meine Pferde zu leihen, und gehofft, er würde
drauf reinfallen; aber — der Lauer muß es gemerkt haben! Ich hab ihm
bereits vor zehn Tagen das Urteil gefällt und zu einem guten Freund in
meiner Studierſtube, als Doktor Ebertz den Markt heraufkam, geſagt: ich
Ache dieſem Doktor den Kopf wackeln. — Aber es wäre beſſer (weil er
überdies ein Fremder iſt) man führte ihn allein fort, als daß man die
* Bürger peinlich verfolgte. Wenn man dabei von der Religion ganz
ſchweigen und es auf ihn allein drehen könnte, ſo würde kein Hahn danach
\ iin und auch kein Fürſt oder Herr um feinetwillen einen Sattel auf-
egen. Dabei iſt auch zu bedenken: wenn man auf peinliche Schärfe gegen
e Bürgerſchaft dringen ſollte, daß ihrer viele ausreißen oder ſämtliche
nter fremden Schutz und Schirm begeben und keinen Zoll, keine
r und Schatzung mehr zahlen würden. Darum wär immer beſſer
n Einzelner als das ganze Volk! Mich für meine Perfon haben fie fo
eſchabernackt, daß ich nicht mehr zu ihnen begehre. Der Teufel ſei ihr
Vogt, ich nicht!
Der Fürſt machte ſeine kleine Verbeugung und blickte dann den Doktor
Joſt Reuber an, der, das Kinn auf die Bruſt gedrückt, mit aufgeriſſenen
Augen, hochgezogenen Brauen und zahlloſen nachdenklichen Querfalten auf
der hohen Stirne, in ſeinem Seſſel lag. Er ſprang auf und fing mit be—
g denklicher Miene an:
805 „Es erfordern dieſe Sachen ein ſehr ernſtes und ſcharfes Nachdenken!
Es geht nicht an, daß man die Pforzheimer gleich für Aufrührer halte oder
gar als Aufrührer verdamme, — ſonſt würden wir die gleiche Schärfe des
Rechtes auch wider unſerer Religion Untertanen, die ſich irgendwo wider—
ſetzen, gelten laſſen müſſen und dadurch unſere Glaubensgenoſſen in Frank—
reich und Niederland ſelbſt zu Aufrührern machen, und da ſei Gott vor!
; Drum wer nicht will, den laffe man fahren und trachte indeſſen nach ge—
linden Mitteln. Es iſt die ganze Pfalz von dem lutheriſchen Sauerteig ohne
7 Blutvergießen reformiert worden. Man hat es aber etwas ſubtiler angegriffen
und iſt nicht gleich dreingefallen wie der Hagel in die Häfen. Hätte man
zuvor etliche Pforzheimer ad partem bekehrt und ſie angeſtiftet, daß ſie um
einen Pfarrer der reformierten Religion anhielten, ſo wäre es beſſer ab—
gegangen, und nach und nach hätte unſere Lehre den Bürgern ſelbſt nicht
mißfallen! Auch iſt zu bedenken, daß wir im Reich ohnedies noch nicht über
40 617
den Zaun find, — daß wir gleich trutzen dürften. Fein langſam geht man
auch weit. Wenn man Hühner fangen will, muß man den Prügel zu Hauſe
laſſen! — Was den Doktor Ebertz anlangt, ſo gebührt mir nicht, meine
Meinung aufzudrängen, da er mir etwas verſchwägert ift: aber — es könnte
nicht ſchaden, wenn man ſeine ſchriftliche Verantwortung begehrte, ehe man
ihn gefangen nähme! Es iſt raſch etwas angefangen, aber langſam geendet.
Und ich kenne ihn dafür, daß er nichts unverſucht laſſen wird.“
Der Markgraf hörte aufmerkſam zu und ſeine Miene wurde ernſter:
dieſer gute Doktor Reuber zog durch die Zähne, was er vor einigen Wochen
ſelbſt angeregt und eingeleitet hatte, und tat mit Urväterweisheit dick, als fei
A
fie Frucht dieſer neueſten Erfahrung! Hinterher wills keiner geweſen ſein!
Nun, es war die Art Ernſt Friedrichs, einen Rat, den er einmal gut ge
heißen, bei Mißerfolg immer auf ſeine Kappe zu nehmen und ſo hielt er ſich
jetzt auch in Gedanken nicht weiter dabei auf; er zog das ſachliche Ergebnis
des Gehörten, daß alſo die Pforzheimer keine Aufrührer ſeien, daß Ebertz
nicht ohne weiteres zu verhaften und daß die Reformierung überhaupt anders
anzugreifen ſei, — und dieſes Ergebnis mißfiel feiner drängenden Abfü icht.
Er runzelte die Stirn und war ärgerlich, all das gehört zu bah i
ſolchen Bedenken kam man nie weiter. .
Er nickte dem Doktor Reuber, dem er immer gern ſeine Hochſch ätzun;
zeigte, gewichtig zu, als wollte er damit ſagen: fo ſteht es alfo?! und forderte
den Rat Tiſchelin zur Außerung auf.
Dieſer erhob ſich, ſetzte ſich durch einen elaſtiſchen Stoß feines Bäuch⸗
leins gegen die Tiſchkante in die beliebte vor- und rückwärts pendelnde Be
wegung, heftete die runden Augen ſtarr auf den blaubemalten weißen
Kachelofen, als leſe er aus deſſen Bildern ſeine Weisheit ab, und nach jedem
Satze zum Markgrafen hinſchielend, ſprach er:
„Ich ſchließe mich Doktor Reubers Bedenken an und weiß ihnen nichts
Ferneres zuzufügen. Das Landvolk iſt durchaus lutheriſch: ſollte man zu
ſcharf verfahren, ſo dürfte wohl ein gemeiner Aufruhr gemacht und das Ende
ärger werden als der Anfang. Auch iſt zu bedenken, daß die Untertanen zu
derlei deſto mutiger ſind, weil ſie wiſſen, daß ihr gnädiger Erbherr, Mark—
graf Georg Friedrich, gut lutheriſch iſt und ſie in der Not nicht verlaſſen
wird. Euer Fürſtliche Gnaden haben das Ihrige getan und ſind vor Gott
entſchuldigt. Wer nicht will, den laſſe man fahren!“
Sobald der Markgraf dankend nickte, zog Tiſchelin ein großes blaues
Sacktuch und fing, ſchon während er ſich ſetzte, an, ſo heftig ſeine mächtige 5
Gurkennaſe zu putzen, daß er himbeerrot im Geſicht wurde und der gegen-
überſitzende Joſt Reuber geſpannt wartete, ob nicht die blauen Kugelaugen {
aus dem Kopf geſprungen kämen.
Der Rat Jacob Commali, ein wohlgeſtalteter Italiener mit feſten Knochen
618
5
und prallem Fleiſch, erhob ſich leicht, richtete die dunklen Augen auf den
Fürſten, hob achſelzuckend die Hände zu einer Gebärde der Ratloſigkeit und
ſagte dann, indem er ſich der treuherzig klingenden Gebrechen ſeiner deutſchen
Ausſprache mit Bewußtſein bediente:
„Ich bin ein welſcher Mann und verſtehe von den Sachen nichts. Was
Euer Fürſtliche Gnaden glauben, das glaube ich auch. Man ſpürt aus der
Halsſtarrigkeit der Pforzheimer, daß ſie nicht erwählt ſind; darum hilft
nichts bei ihnen. Was will man ſie denn viel in dieſem Leben plagen; ſie
werden ihre Plage ſchon dort finden! Ich glaube nicht, daß es weit und
breit eine Stadt gibt, in der fo gar kein Erwählter ift wie zu Pforzheim;
00 noch nicht ein einziger hat ſich bekehren wollen. Drum — würde ich
ich nicht viel über ſie erzürnen und mir ſelbſt am Leibe Schaden tun! Es
hilft doch nichts. So wenig wir die Ausſätzigen reinigen können, ſo wenig
* werden wir die Pforzheimer hugenottiſch machen! Gott ſei mit uns allen,
Amen!“
! 1 Markgraf zeigte durch keine Miene, wie ſehr ihm der fromme Schluß
fiel, er dachte: die Kerle glauben mir alſo etwas Willkommenes zu ſagen,
n ſie mir raten, den verfahrenen Karren im Dreck ſtecken zu laſſen!
Nun ſtand der Rat Paul auf, ein wuchtiger Mann mit ergrauendem
t, zupfte an feinem Wams, das ihm zu heiß auf dem Leibe lag, blies
ur Erleichterung einen Stoß Luft von ſich, fuhr mit der Hand über den
kahlen Schädel und ſah nach, ob ſie feucht geworden ſei, und fing endlich
langſam zu ſprechen an:
„Auch mir gefällt Doktor Reubers Meinung ſehr wohl. Man hat ſich
in der Pfalz nicht übel dabei befunden. Beſonders aber will mir ratſam
ſcheinen, daß man die Religion umgehe in den Befehlen und womöglich
alles aufs Politiſche ziehe; denn ſonſt, wenn die andern hörten, daß die
ganze Stadt Pforzheim ſich unſerer Religion widerſetzt, hätte es gleich das
Anſehen, als ob unſer Bekenntnis nicht recht wäre, und der gemeine Mann
ſieht ohnehin mehr auf den Schein als auf den rechten Grund. Man könnte
ſonſt auch mit den Pforzheimern in den leidigen Disput geraten, ob wir
überhaupt im Religionsfrieden find oder nicht. Und noch eines! Wenngleich
die Pforzheimer für keine Aufrührer zu halten ſind, ſo würde ich ſie doch
ſo nennen und mit der peinlichen Halsgerichtsordnung drohen; denn die
Enfalcigen unter ihnen verſtehen ja nichts davon, und ſo könnte bald eine
Uneinigkeit unter ihnen entſtehen. Und weil man mehr mit Bedrohung als
mit gelinden Worten bei ihnen ausrichten wird, ſo hielte ich es für ratſam,
nichts Pfäffiſches zu ihnen zu ſchicken, ſondern ein paar ſoldatiſche Geſandte,
die mit ihnen ſchmeißen wie freſſen. Dadurch könnte der gemeine Mann
eher gewonnen und die Bürgerſchaft geſpalten werden!“
So ruhig er ſich verhielt, der Markgraf wurde immer ungeduldiger.
619
Dieſen Räten mußte es doch recht unbehaglich zumute fein, daß fie nur
daran dachten, die Religionsſache möglichſt ſtill wieder aus der Welt zu
ſchaffen, und gar nicht fühlten, worauf es ihm heute ankommen mußte. Er
wandt ſich an Leuprant, der ſowohl der Kühle wegen wie aus Zurückhaltung
in einer Fenſterniſche lehnte:
„Darf ich auch die Anſicht des Hauptmanns Gößlin hören?“
Der Angeredete trat vor, ſtützte einen Arm leicht auf die Lehne ſeines
Stuhles und ſprach in einem Tone, der ſeiner Außerung jede Bedeutung
nehmen ſollte:
„Ich — teile ganz die Meinung der Räte.“ 7
„Nun —,“ entgegnete der Fürſt, ihn ſcharf anſeheſß, „dieſe dec
ſcheinen mir ziemlich verſchieden zu ſein!“
„Alſo — genauer geſprochen — etwa die Mein des Rates Jacobo 14
Commali. 0 f
Der Markgraf warf einen raſchen Blick auf den Italiener, um ſich deſſen
Rat wieder zu vergegenwärtigen. Er empfand den Hohn, der ja faſt ſo gut
wie den Commali ihn, den Fürſten felber, traf; aber nach all dem perſönlich
beleidigten, ängſtlichen und kleinlich ſchlauen Geſchwätz tat ihm die Frech⸗
heit des Freundes ſo wohl, daß er ſich im Seſſel aufrichtete und in ei m
Tone fortfuhr: "I
„Worauf kommt es alfo an?“ *
„Da die Religionsfrage ſchon durch die jüngſt verfügte Wiederzulaſſung
der lutheriſchen Geiſtlichen einſtweilen erledigt worden iſt, ſo handelt es ſich
nur darum, daß die Pforzheimer auf leere Gerüchte hin den Frieden geſtört,
das markgräfliche Schloß beſetzt und die fürſtlichen Hoheitsrechte 1 |
haben.“ 1
„Und —? Wie iſt darauf zu antworten?“
„Ich glaube, auch wenn es ſich nicht um meine Vaterſtadt handelte,
würde ich ſagen: nach allem, was voranging, waren die Bürger nicht un⸗
berechtigt, den Überfallsgerüchten zu glauben; daß fie ein leeres Schloß er⸗
ſtürmten und gegen den Schloßkeller Ulrich Greyß und ſein Schreiberlein
eine Wagenburg aufſchlugen, das wird ihnen bitter genug ſein und ihnen
Spott genug eintragen, — falls wir ſie auf dieſer Blamage ſitzen laſſen.“
„Und du meinſt, dieſe Blamage würde geringer ſein, wenn ſie die en
dabei anrennten und ein blaues Mal davontrügen —?“ 60
„Sie können die Stirne nicht mehr anrennen, da ſie längſt zurhige *
gegangen ſind und ſich entſchuldigt haben. Beſtrafen wir fie, fo fühlen ſie
ſich gerechtfertigt und aufs neue gereizt; lachen wir ſie aber aus und erlaſſen 4
wir ihnen die Strafe, fo bleiben fie in der Schuld und werden ſich um gute
Haltung bemühen!“ ö
Hätte der Markgraf freie Hand über ſeine Truppen gehabt oder Geld zur \
620
Anwerbung neuer, fo wäre ihm nichts lieber geweſen, als die widerſpenſtige
Stadt zu den äußerſten Ausſchreitungen zu reizen, um dann raſch ein Ende
machen zu können; aber das mußte verſchoben werden. Er ſchüttelte lang—
ſam den Kopf und ſprach:
„Ich kann den Bürgern nicht jeden Unfug nachſehen. Ich kann auch
nicht, da ich einmal mit ihnen uneins bin, meine Vorteile ſchwimmen laſſen.
Ich glaube, mich langmütig genug zu zeigen, wenn ich vom peinlichen Ver⸗
fahren mit Rückſicht auf die Verhetzung und ängſtlichen Gerüchte abſehe,
— natürlich unter Betonung meines Rechtes zur Strenge; dagegen von
der Bürgerſchaft den Beweis ihres friedlichen Sinnes durch Verzicht auf
en ſogenannten Religionseid verlange, der ja doch nichts anderes als eine
bwörung iſt. Liſten und Siegel ſind mir auszuliefern und vor allem der
Raoͤdelsführer Doktor Ebertz, daß er fich verantworte. Zum Überbringer dieſes
K Befehles ſchicke ich — wie Rat Paul vorſchlägt — ſoldatiſche Abgeſandte.“
Fin achtete nicht auf die zuſtimmenden Mienen und Gebärden der
Räte, er blickte einen Moment nachdenklich vor ſich hin und ſprach dann,
' ‚ehe Aufforderung abzuwarten:
G Gegen den Verzicht auf den Religionseid will ich nichts fagen: fie können
uch ohne Eid ihre Treue halten. Den Doktor Ebertz, den fie felber zu—
gezogen haben, können fi ſie nicht preisgeben — als anſtändige Leute.“
„Sie können ſich ja auch beim Doktor Ebertz hinterher entſchuldigen, es
fei in der Angſt und Verwirrung geſchehen!“ rief der Markgraf gering—
ſchätzig. „Sie müſſen froh ſein, daß ich nach dieſer Friedensſtörung nicht
Beſatzung hinlege, mir den Dreizehneraus ſchuß herauslange und im Turm
. geſchmeidi⸗ g mache!“
GOSoößlin ſchwieg; er ſah wieder, daß es für den Fürſten nur eine Macht⸗
frage war. In dem Gemeinſchaftsgefühle, in dem der Freund als Mit-
ſchuldiger leidet oder jubelt, da regte ſich wieder der ſchmerzliche Zorn über
das Fremde wie über eine eigne unverwindliche Schmach, und er dachte:
nur gut, daß die Macht fehlt!
Ernſt Friedrich empfand einfacher. Eine Meinungsverſchiedenheit war
eben eine Verſchiedenheit der Meinungen, die er bei dem Freund etwa ſchonte,
während er bei andern mit einem Befehl darüber wegging. Diesmal freilich
kränkte ihn im geheimen der Widerſpruch, weil er Parteinahme für die
N Vaterſtadt gegen den Fürſten darin fühlte, und als Würfler — der er war,
ohne je Würfel anzurühren — zum Wagnis der Probe gereizt, warf er im
Tone eines noch zu beratenden Vorſchlages hin:
„Und wen ſchicken wir da, welchen Soldaten? Wer verbände mit der
Entſchloſſenheit des Kriegs mannes die politiſche Ruhe und Übung, — wer
mit der Hingabe an unſere Perſon die berechtigte Rückſicht auf das uns allen
koſtbare Wohl der Stadt, wer ware geſchickter, durch perſönlichen Einfluß
Han
*
Mi
4
621
und Anhang unter der Hand verſöhnend und gewinnend zu wirken, als unfer
alter Freund und Gardehauptmann Gößlin?“
Leuprant hatte die langrollende Woge der Worte auf ſich zukommen ſehen,
und doch war er, als fie ihn traf, erſtarrt. Es war eine Krampfſtille in ihm.
Es war ihm wie ein Fauſthieb auf das nackte Herz. Er legte langſam die
Unterarme auf die Lehne des Seſſels, hinter dem er ſtand, neigte ſich vor
und ſprach mit rückſichts vollem Lächeln:
„Meine Ergebenheit gegen Eure Fürſtlichen Gnaden und das natürliche
Gefühl für die Heimat machen gewiß, daß niemand inniger eine beiden
Teilen erfreuliche Beilegung des Handels wünſcht ole ig. Niemanden aber
halte ich für ungeeigneter zum Verhandeln als eben mich. Ich bin den Do
heimern als Höfling längſt fremd und verdächtig: jetz vollends gelte ich als
Eurer Fürſtl. Gnaden Parteimann. Sollte ich zum Wohle der Stadt
ſprechen, ſo würden ſie eine Falle vermuten, — ſollte ich das Fürſtliche
Recht vertreten, ſo würden ſie den Haß gegen meine abtrünnige Perſon auf
die Sache übertragen, und alle Verſtändigung würde unmöglich fein.”
Der Markgraf dachte zwar, man müßte den Hauptmann nur in dieſes in
Waſſer hineinſtoßen, dann würde er ſchon ſchwimmen. Die Gegenwart der
Räte aber hinderte ihn, weiter auf den Freund einzudringen, er ſagte raſt ö
„Nun, die Beſtimmung der Abgeſandten hat ja noch Zeit. Zunächſt
—,“ wandte er ſich an die andern Räte, „bitte ich um die Ausarbeitung
des Schreibens an die Stadt — nach meinen vorhin gemachten Angaben.“
Die Räte murmelten beifällig und machten Notizen, Gößlin trat an das
Fenſter zurück.
Nach einer Weile des Nachſinnens fing der Fürſt wieder an:
„Über das neueſte Schreiben aus der kaiſerlichen Kanzlei in Prag haben
wir vorgeſtern geſprochen; nun bin ich nach neuer Überlegung zu dieſer An-
ſicht gelangt: durch den unerwarteten Tod des Markgrafen Eduard Fortunat
iſt die obere Markgrafſchaft, die ich bisher, um die Verpfändung zu verhüten,
beſetzt halten mußte, erledigt und nach den geltenden Rechten an die über-
lebende Linie, alſo uns, zurückgefallen; denn die jahrelang geheimgehaltene
Ehe des Eduard Fortunat — wenn ſie nicht überhaupt nur Konkubinat war
— hat als unebenbürtig und die Nachkommenſchaft als nicht nachfolge⸗
berechtigt zu gelten. Das iſt klar und unantaſtbar, für niemand auf der
Welt ſelbſtverſtändlicher als für einen Habsburger! Dem Kaiſer war, als
er neuerdings auf die Räumung der oberen Markgrafſchaft drang, Eduard
Fortunats Tod noch unbekannt; jetzt aber wird er nur noch aus katholiſcher
Parteilichkeit mein Recht bekämpfen können. Da er nun ebenſo zäh und
hartnäckig wie geſchäftsſcheu und unentſchloſſen iſt, ſo fürchte ich, wird er,
wenn wir wieder gegen beide Befehle proteſtieren, nur den Proteſt erfahren,
nicht aber die neuen, entſcheidenden Gründe ſtudieren, er wird glauben, alles
U
622
*
&
fei beim alten, und der Ärger wird uns zum Schaden in ihm weiterfreſſen.
Ich werde ihm deshalb im zweiten Punkte nachgeben, damit er überhaupt
aufmerkt und mir mein Recht im erſten anerkennt! Alſo — ſein Verlangen,
daß die Töchter Anna und Jacobea meines verſtorbenen Bruders Jacob in
katholiſcher Umgebung katholiſch erzogen werden, will ich erfüllen. So ſchwer
es mir wird, mich von ihnen zu trennen, — ich werde ſie nach Baden
ſchicken und ihnen katholiſches Gefolge und katholiſche Lehrer beſtellen. —
Ich habe, um Baden halten zu können, Beſigheim und Altenſteig geopfert —“
ſetzte er wie zu einer Rechtfertigung hinzu. „Es iſt eine Gnade, ein ſichtbarer
Beiſtand Gottes, daß Eduard Fortunatus gerade jetzt ſein Ende fand —
es wäre nicht mehr lange ſo weitergegangen, ohne das Land zu drücken —
nun muß auch ich das Mögliche tun, um Gottes Hilfe auszunutzen! Ich
kann nicht ewig das teure Geld für Truppen hinwerfen, die ich im Badiſchen
als Beſatzung ſtill liegen laſſen muß, — die ich nicht einmal bewegen und
verwenden kann!“ In plötzlichem Zorne auffahrend, hatte er die geſpreizte
Hand in die Luft geſtoßen, zu würgender Fauſt geſchloſſen und auf den
Tiſch geſchlagen; nun ſah er die Räte an, die noch mit überraſchten Blicken
| 25 jähen Gebärde nachſtarrten, runzelte ein wenig die Stirn und ſagte:
„Ich bitte um die Entwürfe in dieſem Sinne.“
Mit den Händen die Stuhllehnen faſſend, blickte er noch eine Weile ſich
beſi nnend beiſeite, hob ſich dann langſam und ſchwer empor und blieb
3
ſtehen, indem er ſeine Gewandung zurechtzupfte. Gößlin trat leiſe hinzu und
zog den Stuhl hinter ihm weg. Die Hand zum Gruße gegen die Räte er—
hebend, nickte Ernſt Friedrich und ſprach:
„Ich danke.“
Während die Herren auffuhren und ſich verbeugten, winkte er dem Haupt—
mann Gößlin mitzugehen, und ſchritt langſam hinaus. Er nahm des
Freundes Arm und fing ſchon nach wenigen Schritten an:
„Und du willſt mir nicht helfen in Pforzheim?“ und da der andere
ſchwieg, blieb er ſtehen und ſah ihn erwartend an.
„Nicht im Kalten ſtehen!“ ſagte Leuprant und zog ihn weiter. „Ich
habe ſchon oft den Wunſch ausgeſprochen, nicht in dieſen Handel verwickelt
zu werden, und bitte dich jetzt ausdrücklich, mich zu ſchonen. Man muß den
Sohn nicht gegen die Mutter ſchicken!“
„Ich will dich nicht gegen deine Mutter ſchicken, ſondern gegen eine
widerſpenſtige Bürgerſchaft. Und du ſagſt ſelbſt, daß du ihr längſt ein
Fremder biſt!“
„Ich bin ihr ein Fremder; ſie iſt mir nicht fremd, ſie iſt meine Heimat!
Aber davon können wir ganz abſehen; wie ich vorhin ſagte, aus Gründen der
Zweckmäßigkeit darfſt du mich nicht ſchicken, darf ich mich nicht ſchicken laſſen.“
„Die Gründe leuchten mir nicht ein.“
623
„Ich fage dir, nur dein Feind kann wünſchen, daß du mich nach Pforz⸗
heim ſchickſt. Ich kenne meine Leute und ich kenne mich.“
„Ich kenne dich auch und ich weiß, daß ein wohlwollender und feſter
Mann auf jeden Fall der beſte iſt und das Beſte tut.“
„Möglich. — Ich — bin eben nicht ruhig, ich bin nicht feſt in dieſem
Falle! Kannſt du mir das blanke Recht mitgeben, dann will ich auch meine
Vaterſtadt ſchuhriegeln; ſo aber — wäre ich ratlos, hilflos, ein Spott meiner
Erregung.“
„Recht — Recht —!“ rief der Markgraf ſtehen bleibend. „Zwiſchen
Menſchen und Menſchen beſteht ein Recht. Zwiſchen Fürſt und Untertan
ein anderes! Wenn du deines Nächſten Finger nimmſt und hineinſchneideſt,
ſo begehſt du einen Frevel; wenn der Arzt in den Finz ger ſchneidet, tut es
ebenſo weh, vielleicht noch ärger, und er tut eine Wohltat! Ich habe als
Fürſt nicht an den einzelnen und ſeine Wehleidigkeit zu denken, ſondern an
das Wohl der Geſamtheit. Bin ich wehleidig? Schone ich mich? Könnt
ich es nicht tauſendmal bequemer und angenehmer haben im Leben? Hier
— Gott ſieht ſich nicht um nach meinem faulen Adam und meinem Ge⸗
ſeufz — hier, ſagt er, haft du ein Volk, da mußt du mir Ordnung
Zucht und Kraft hineinbringen, oder der Teufel hat dich! Und dazı
mir Gott nur meine Kraft und meinen Willen und meinen Verſtand 5
keinen beſſern; damit muß ichs machen. Obs mit oder gegen den Katechis⸗
mus geht, es muß geſchehen! Ob ich in der Hitze des Kampfes daneben
haue, — ich muß kämpfen! Ich habe auf das Ziel zu ſehen und nicht auf
das Opfer, das es mich koſtet! Bin ich ſündlos? Sündige ich nicht aus
Kopfloſigkeit und Trägheit den ganzen Tag, ohne daß es mich umbringt, -
aber wo es ſich um meine Aufgabe handelt, da ſoll ich ſparſam tun mit
meinem Seelenheil — ?! Fühlte ich nicht Gottes Willen und Zwang in mir,
ich wäre ratlos, ich wäre unfähig, ja und nein zu ſagen; — ich wäre fallend
ins Bodenloſe. Aber Gott will in mir, er will etwas durch mich, und ſo⸗
lange ich ſeinen Zwecken brauchbar bin, ſo lange hält er mich. Sag —“
Gößlin wollte ihn weiterziehen in das nahe Zimmer, aber der Fürſt ſchüttelte
ungeduldig den Kopf und fuhr fort:
„Sag — der Markgraf Eduard Fortunatus von Baden aus dem alten
Hauſe der Herzöge von Zähringen — ſo alt wie eines in Deutſchland! —
der ſtürzt in der Trunkenheit die Treppe hinab und bricht den Hals: weißt i
du was Sinnloſeres, Scheußlicheres?! Füge es ein in die Kette von Ur⸗
ſache und Wirkung, mit der Gott heute unſer Land und Volk vorwärtsreißt ?
oder =peitfcht, und es ift die wunderbarſte, ſinnvollſte Fügung! Wie ſollte
Gott das alte Blut von Heiligen, Helden und Städtegründern auch nur
in einem verirrten Tropfen der Verachtung preisgeben, wenn er ihn nicht
dadurch zu einer unendlich höheren Bedeutung erhöbe! Was wäre Eduard
624
Fortunatus, der fromm und bieder lebt, mit einer richtigen Prinzeſſin Kinder
zeugt unb ſtirbt — ?! und was iſt Eduard Fortunatus, der glänzende Un—
band, der irrende Ritter, der Verführer der Weiber, die Hoffnung der
Männer, der Verderber ſeines Landes, der Straßenräuber, Falſchmünzer,
Giftmiſcher, Meuchelmörder, in ſeiner beſtrickenden Ruchloſigkeit der Aus—
wurf feines Hauſes, was wird er?! wie iſt er plötzlich weit erhaben über
Urteil und Abſcheu, ſobald du ſiehſt, wie er fi) und feinen Aft zu zerftören
— berufen war, um das zerfetzte Land wieder zuſammenwachſen zu laſſen,
damit es Stärke gewinnen kann zu größerem Wachstum und höheren Auf—
gaben! — — Murtte ich — darüber, daß ich kinderlos bin —?!“
Er ſchlug ſich mit beiden Fäuſten heftig auf die Bruſt, als gält es,
klagende Wünſche auf i immer zu zermalmen, und ſtarrte von dem heimlichen
Schmerz überraſcht vor ſich hin.
1 Der Freund ſchwieg, nach einer ableitenden Wendung ſuchend, dann er—
widerte er:
an könnte darüber murren, verzeih, im Gedanken an deinen Nachfolger.“
er Markgraf ging ſchweigend auf die Tür zu, die von innen geöffnet
d, trat mit Gößlin ein, wies den Diener hinaus und ſagte, ſich in die
. beg Friedrich — iſt ein ganz guter Menſch, ein bißchen harmlos, ja,
ahnungslos! er meint, man könnte alles lernen! Er wird fein Teil Dumm—
heiten machen und dann tun, als fei ers nicht geweſen — gewiß! aber das
liegt außer meiner Sorge. Gott weiß ſchon, was er mit ihm vorhat.“ Er
ſchaute durch das Zimmer nach dem Fenſter, gegen deſſen rautenförmige
Scheiben der Regen klatſchte und deſſen farbige Wappenſchilder ſeltſam aus
dem kühlen grauen Luftton herausleuchteten. Dann blickte er den Haupt—
mann feſt und fordernd an und ſetzte hinzu:
„Alſo — mein Recht kann ich dir mitgeben.“
„Es iſt nicht das meine!“
„Aber deine Schuld wird es ſein,“ ſchrie der Fürſt, über den Widerſtand
empört, „wenn der andere, den ich ſchicken muß, härter dreinfährt!“
Der Zorn zuckte in Gößlins Augen auf.
„Nun —“ rief der Markgraf, als die Antwort ausblieb, „ſprich nur!“
Dieer Freund war aber ſchon wieder ruhig, er wollte das Böſe, das in des
andern Worten trieb, nicht zwiſchen ihnen beiden aufkommen laſſen und ſprach:
w Wenn du das fücchteſt, wirft du es verhüten! mir iſt nicht bange.“
Ernſt Friedrich ſah ihn einen Augenblick groß an, als verſtände er nicht
recht; dann erhob er ſich, blickte, die Hand auf deſſen Schulter legend, dem
Freund ins Geſicht, ſchüttelte den Kopf und ſchritt in das Nebenzimmer,
deſſen Türe er offen ließ, und dann in das nächſte, wo ihn die klangvolle
Knabenſtimme ſeiner Gemahlin begrüßte.
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Leuprant trat zum Fenſter und ſtarrte durch die rinnenden Scheiben. Er
atmete ergriffen. Er hatte, als der Markgraf vor ihm ſtand und ihm ins
Auge ſah, über alle Verſchiedenheit und Mißverſtändniſſe hinweg die ſie beide
durchſtrömende und einende heiße Welle gefühlt. Nachdem er ſchon oft dieſe
Freundſchaft nur noch als Gewohnheit empfunden, als Herrſchaft der Ver—
gangenheit, als eine willkürliche Treue gegen ſich ſelbſt, ſpürte er nun auf
einmal wieder ihren unbegreiflichen ſchickſalhaften Zwang und er verſtand
nicht, daß er ſie je hatte für bedroht halten können. Er ſchüttelte lächelnd den
Kopf, und feine Augen hingen, ohne daß er es inneward, an den unauf-
hörlich fließenden Farben des Fenſterwappens; der Regen wuſch darüber, und
es war, als wogten die Farben von inkräftigem Gold
Um allein zu bleiben, verließ er das Gemach, ſchritt
zum älteren Flügel des Schloſſes, ſtieg eine breite ſteinerne Wendeltreppe
hinan und betrat durch ein dem Schloßhofe zugewandtes Vorzimmer ſeine
r ESS
Stube, deren breites durch zwei Säulen geteiltes Fenſter auf die braunen
Dächer und Türme der Stadt Durlach und in das Grau des Himmels ging.
Es zog den Verſonnenen zum Fenſter und er erſtaunte, auf einem Schemel
davor Jacobea zu finden, die ein Buch auf den Knieen haltend ihm zumi
„Was lieſt du denn?“ fragte er. |
„Ich leſe nicht!“ erwiderte fie; ihre Hände ruhten gefaltet auf dem B N
„Ich fand es aufgeſchlagen und wollte drin leſen; aber auf einmal verſtand
ich nichts mehr. Da ſchaute ich das Bild an.“ Und ſie wandte die Augen
wieder dem großen Teppich zu, der die Innenwand des Zimmers bedeckte.
Leuprant zog einen Stuhl herbei, ſetzte ſich neben ſie und ſprach:
„Da geht es dir mit dem Buche, wie es mir ergangen iſt vor vielen
Jahren, als ich auch noch ein Kind war. Ich ſuchte meinen Vetter, mit
dem ich ſpazieren und baden ging, und der um jene Stunde im Reuchlins⸗
zimmer neben dem Chor der Pforzheimer Schloßkirche ein Reuchlins Bibliothek
zu ſtudieren pflegte; er war viel älter als ich. Er war nicht da, ich wartete
und blätterte in einem daliegenden Buche des Titels: Eine deutſche Theo—
logie. Ich las und auf einmal verſtand ichs nicht mehr. Ich ſah zum Fenſter
hinaus, die Nachmittagsſonne kam durch die Bäume, und ich ſtarrte
in ein blendendes Gewirr von Blättern und Sonnenlicht und war
ſehr hilflos und ratlos. Nach vielen Jahren fiel mir das Büchlein wieder
ein und da kaufte ich mirs. Wenn du älter biſt, will ich dirs ſchenken; denn
es iſt, wie auf dem Titel ſteht, ein edles und köſtliches Buch.“
„Zeige mir, wo du es hinſtellſt! ich will manchmal kommen und prüfen,
ob ich verftändiger werde.“ Dabei wandte fie ihren Blick nicht von der ge-
wirkten Tapete ab.
Ein Wald war darauf zu ſehen mit grünem Dickicht und herausleuchtenden
Stämmen. Vor dem Wald an der Straße, die hell von links nach rechts
626
zog, ſaß ein ſchönes Weib auf einem Stein. Und auf der Straße ritten
Ritter dahin auf verſchiedenfarbigen Roſſen einer fern hinter dem Wald
aufragenden Burg entgegen. Aber einer der Ritter zügelte ſeinen Schimmel
und blickte ſeiner ſelbſt nicht mächtig nach der ſchönen Frau zurück, die ihn
mit ſehnſüchtigen Augen feſthielt und die Arme nach ihm ſtreckte, und
den rechten Fuß hatte er ſchon aus dem Steigbügel gezogen. Braun wie
welkes Buchenlaub und wie der Fuchs des zweiten Reiters war ihr Gewand,
weiß ſchimmerten die Schultern, die verlangenden Arme, der nackte linke
Fuß bis über den Knöchel daraus hervor.
„Du ſagteſt, das ſei der Ritter von Staufenberg,“ fing Jacobea an.
Ich hab es nie ſo recht betrachtet; nun ſchau ich ſchon die ganze Zeit.
5 3
*
*
und ſieht die Unzähligen vorbeiziehen und ſieht ſie nicht und wird nicht von
Warum kümmern fü ich die andern Rittern nicht um die Frau? Warum fißt
ſie verlaſſen am Wege und warum hat ſie keine Schuhe an? ſie hat doch ein
koſtbares Gewand und ſchöne Spangen!“
„Es iſt der Staufenberger und ſeine Meerminne. Sie ſitzt an der Straße
ihnen geſehen und ſie wartet. Aber — ich will dirs erzählen.
2 den Ritter von Staufenberg war aus einem Seitenaſt eueres Gefchlechtes.
£
am vom heiligen Grabe zurück, und weder See noch Wüſte, nicht
Sgarazenenpfeile noch Peſt hatten ihm Schaden getan, ſtolz und froh ritt
er mit den Gefährten in die Heimat ein und ſah ſchon den Turm ſeiner
Burg, da ſaß ein Weib auf einem Stein an der Straße, bei deren Anblick
ſein Herz erſchrak. Nach ihr ſchauend riß er ſein Roß zurück und ſchwang ſich
ab und ſetzte ſich zu ihr und vergaß die Welt.
Nun iſt es eigentlich fertig. Aber es geht noch weiter, weil wir Menſchen
ſchwach find und uns betören laſſen und uns ſelbſt vergeſſen und verirren können.
Der Staufenberger bat die Frau, mit ihm auf ſein Schloß zu kommen
und die Seine zu werden; denn nachdem er ſie nun geſehen, wiſſe er, daß
er ſich ſchon immer nach ihr geſehnt habe und daß er ohne ſie nicht mehr
leben könnte. Sie erwiderte, ſie ſei ſtets ſchon um ihn geweſen und habe ihn
behütet, ohne daß er es merkte, und ſie wünſche ſich nichts anderes als immer
bei ihm zu ſein. Wenn er ihr verſprechen könnte, keinem Menſchen je ein
Wort von ihr reden und ihr ſein Leben lang treu bleiben zu wollen,
dann werde ſie ſich ihm zum Weibe geben und, ſo oft er nach ihrer Gegen—
wart verlange, alsbald bei ihm ſein; nur — den andern Menſchen müßte
es verborgen bleiben, denn ſie ſei eine Waſſerfey. Sollte er ihr aber je die
Teeue brechen, fo würde das fein Tod fein. Drum bat fie ihn, es wohl zu
bedenken. Er entgegnet, ihm ſei, als habe er das bedacht, ſeitdem er lebe,
und verſprach es ihr mit den teuerſten Eiden. So ſchloſſen ſie ihren Bund,
ſie ward ſein Weib und ſie lebten lange Zeit in ungeſtörter Freude. Niemals
kam ihm der Gedanke, daß er etwas anderes wünſchen könnte als dieſes
627
heimliche, von den Menſchen unbetaftete Glück. Und wenn ihn feine Freunde
und Verwandten baten, ſich doch eine Frau zu nehmen, ſo ſchüttelte er nur
mit verträumtem Lächeln den Kopf.
So waren Jahre vergangen, da ritt er einſt mit ſeinen Vaſallen nach
Mainz, um dem Kaiſer, der gerade dort Hof hielt, Ehre zu erweiſen und in
den Kampfſpielen ſelbſt Ehre zu ſuchen. Und dieſes gelang ihm ſo gut, daß
er der höchſte Sieger blieb, daß die Männer ihn beneideten und die Jung⸗
frauen erröteten, wenn er vorbeiging. Der Kaiſer rief ihn zu ſich, rühmte
ihn und, um ſich den tapferen Mann zu verpflichten, bot er ihm ſeine eigene
Nichte, die Herzogin von Kärnten, zur Gemahlin an. Der Staufenbergen
erſchrak über dieſe gefährliche Ehre, faßte ſich aber und erwiderte mit be⸗
ſchämtem Lächeln, er wünſche unvermählt zu bleiben. Der Kaiſer verübelte
ihm die Antwort nicht, obſchon er über ſie erſtaunt war; die Freunde aber,
die den Ritter längſt vermählt wünſchten, drangen auf ihn ein, dieſe Ehre
nicht zu verſchmähen und ſchickten, als all ihr Reden umſonſt war, den Erz⸗
biſchof zu ihm. Dieſer ſtellte ihm vor, daß er vor Gott verpflichtet ſei, dem
Lande einen Erben feines edlen Stammes zu geben, damit es nicht in ge⸗
ringere Hände käme, er machte ihm alle Gründe gegen eine Vermählung
zunichte und ſchnitt ihm alle Ausflüchte ab, er zwang ihn endlich, zu geſtehen
habe ſchon eine Frau, und entriß ihm unter Androhung des Zornes d
Kirche ſchließlich ſogar das Bekenntnis, er lebe in heimlicher Ehe mit einer
Meerminne. Nun ließ ihn der Biſchof nicht mehr los, er erklärte dieſe Ehe
ohne Segen der Kirche für nichtig, ja für eine Sünde, er nannte die Meer⸗
frau nichts anderes als eine teufliſche Verſucherin, die ihn noch um ſein
zeitliches und ewiges Heil bringen werde, wenn er ſie nicht von ſich ſtoße
und Buße tue, — ja, er bewies ihm eben aus der unendlichen Liebe und
Güte der Waſſerfrau, die ihn nie durch einen Hauch von Böſem oder
Häßlichem betrübt habe, daß ſie nur eine Lockſpeiſe des Böſen ſein könne;
er befahl ihm im Namen Gottes und der Kirche, ihr abzuſagen und die
Kaiſersnichte zu ehelichen. So ward der Staufenberger irre an ſeinem Glück
ſo mancher Jahre. In Zweifel und Seelenangſt gab er nach. Aber ſein
Herz war voll Trauer, als nun unverzüglich das Verlöbnis mit der lieblichen
jungen Herzogin vollzogen und gefeiert wurde. Im Jubel des Feſtes, in der
lauten und aus fo vielen Augen leuchtenden Freude, die ihm ja nur aufge⸗
8
6
kr
r
zwungen war, im Genuß der allgemeinen Zeilnahme wurde fein Herz doch
warm und der Gedanke wandelte ihn an, ſein bisheriges Glück möchte
nicht das wahre geweſen ſein, ſondern des höchſten Segens, der Weiterwir⸗
kung entbehrt haben, und neue Hoffnung begann ſeinem Herzen zuzuſprechen.
Spät abends, allein in feiner Herberge, bedachte er, daß er der Meer-
minne nun nicht mehr rufen dürfe. Aber zornig empfand er die abſcheuliche
Feigheit, ſie ohne Abſchied zu verlaſſen, und ſein Herz, das ſo viel Liebe
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von ihr erfahren, gebot ihm, ſich nun auch ihrer Rache auszuſetzen, wenn
ſie denn wirklich eine Teufelin wäre. Er rief, und alsbald trat ſie ihm ent—
gegen; und war ihr Blick bisher ſtets voll Liebe und Freude geweſen, ſo war
erer nun voll Schmerz und Liebe. Sie nahm fein Geſicht in ihren beiden
Hände und ſah ihm in die Augen: er fühlte, daß er nie andere Frauenaugen,
nie ein anderes Frauenantlitz ſchauen werde, im Wachen und im Traum,
im Leben und Sterben, und ſie küßte ihn wie zum Troſt. „Nun darf ich
nie mehr zu dir kommen,“ ſagte ſie. „Du — laß den Dingen ihren Lauf
und tue, was du verſprochen haft! es wird dich nicht beſchweren. Aber wenn
dir mein Fuß erſcheint, dann bedenke, daß du nach drei Tagen dieſes Leben
llaſſen wirft!” Und fie nahm Abſchied und verſchwand.
Dies Staufenbergers Hochzeit kam und wurde viele Tage lang gefeiert.
Er gedachte mit ſtillem Herzen ohne Reue der Meerminne, und da er alles,
was die Feſttage verlangten, mit heiterer Gelaſſenheit begehen konnte, ſo
träumte er wohl gar manchmal, es werde ihm doch noch bei ſeligem Erinnern
an die Verlorene ein ruhiges Leben und Wirken blühen. Als er aber am
Vermählungstage neben der Kaiſersnichte an der Hochzeitstafel ſaß, da er⸗
ſchien ihm an der braungetäfelten Decke ein elfenbeinweißer Frauenfuß, den
er einſt am Rande der Straße unter dem Saum eines braunen Gewandes
geſehen hatte. Er ſtarrte hinauf, und alle im Saale ſtaunten hinauf, bis er
ſtöhnend zuſammenſank und das Geſicht mit den Händen bedeckte. Er
ſtand auf von der Tafel und ſchloß ſich in ſein Gemach, er verſchenkte alles,
was er beſaß, er nahm nicht mehr Speiſe noch Trank und ſtarb am dritten Tage.“
Er ſchwieg. Das Kind weinte ſtill vor ſich hin.
Nach einer Weile ergriff Jakobea plötzlich ſeine Hand und fragte:
„Leuprant, was hat der Oheim?“ Denn aus dieſem Weinen und Leiden
war ihr ein eigener Kummer wieder aufgetaucht, um deffentwillen fie den Freund
hier geſucht und den ſie dann über dem Buch und dem Bilde vergeſſen
hatte. „Was iſt dem Oheim?“
„Dem Markgrafen? Wie meinſt du das?“
| „Er ift gar nicht mehr wie fonft. Er ift fo eigen! Geſtern blieb er vor
mir ftehen und ſchaute mich an und ſtreichelte mir ſchließlich das Haar und
die Backen und ſagte kein Wort und ging weiter. Und heute früh ſaß er
g im Stuhl und blickte mich ein paarmal an und dann winkte er mir, und
als ich hinging, legte er den Arm um mich und ſprach wieder nichts und
hielt mich ſo eine ganze Weile, dann ſchob er mich wieder weg, ſoweit ſein
Arm reichte, und ſah mich nicht mehr an. — Was hat er? Hab ich ihn
gekränkt? Er macht gar keine Späße und Dummheiten mit mir! und ſagt
auch nie mehr Jacöble.“ Das letzte brachte ſie vor Schluchzen kaum heraus.
1 „Der Markgraf iſt bekümmert,“ ſprach Leuprant, „weil man ihm dich
; und deine Schweſter nehmen will“
629
Sie richtete ſich auf, drehte fi) dem Hauptmann zu, ſah ihn mit tränen-
vollen, entſetzten Augen an und ihre Lippen zitterten, ohne daß ſie ein Wort
hervorbrachten. 10
„Die Vormünder verlangen, daß ihr an katholiſchem Orte katholiſch
erzogen werdet, und der Kaiſer — ich weiß nicht, zum wievielten Male —
befiehlt es dem Markgrafen aufs ſtrengſte. Dein Oheim wird endlich nach—
geben müſſen, und das ſchmerzt ihn.“
Sie wiſchte ſich mit dem Rücken ihrer dünnen weißen Hand die Tränen
aus den Augen, als ſei ſie plötzlich fertig mit Weinen, ſchüttelte, den Haupt-
mann feſt anſchauend, ganz ſachte den Kopf und ſagte leiſe, mit einem
Ausdruck tiefſter Entſchiedenheit: 4
„O — ich geh aber nicht:“ a
e ſtrich ihr über die Hand und dachte beliahmert was fingen
wir auch an ohne dich!
„Der Kaiſer kennt mich ja gar nicht,“ fuhr ſie laut fort, „und die Vormün⸗
der kümmern ſich ſonſt nichts um mich; ſie ſollen mich auch jetzt in Frieden
laſſen! Hier bin ich zu Haufe und hier bleib ich. Ich geh nicht vom Oheim weg.
Daß er mich reformieren will, das ſtört mich nicht; die Heiligen haben es viel
ſchwerer gehabt! Ich werde dem Oheim ſagen, daß er dem Kaiſer ſchreibt, 4
— — und ich kann es dem Kaiſer ſelbſt ſchreiben, daß ich hier bleibe, und
daß er nicht zu fürchten braucht, ich fiele vom Glauben ab. — geupran
hilf mir, ich will nicht fort von euch.“
Sie erhob ſich und ſtand vor ihm, überſchlank und zart, nickte ihm zu
und ſprach:
„Ich gehe — — zum Oheim!“
Die ſonſt unkindlichen Züge ihres ſchmalen Geſichtes erſchienen ganz
erfüllt und darum verjüngt vom Ausdruck eines erfahrenen Herzens, und
ihre großen Augen, noch von Tränen ſchimmernd, leuchteten ſo freudig von
ihrem Willen und Vorhaben, daß Gößlin ſie erſtaunt anſchaute. Rat und
Bedenken erſchienen ihm überflüſſig. Er nickte ihr befriedigt zu und ließ ſie
gehen. Er blickte ihr nach und lauſchte ihr nach, und als er ihren Schritt
nicht mehr hörte, da dachte er an den Markgrafen. Plötzlich empfand er
wieder den Gegenſatz, die Gefahr der ſchaltenden Willkür des Fürſten, und
er erbebte von ſeinem eigenen zurückgehaltenen Kampf.
Elftes Kapitel '
Wöüden die meiſten Teilnehmer an dem nächtlichen Sturm auf das
Schloß ſich noch verärgert im Bett herumdrehten oder mit einem
bitteren Geſchmack auf der Zunge an der Morgenſuppe herumlöffelten, jeden-
falls aber einander noch aus dem Wege gingen, war der Apotheker früh⸗
zeitig mit beiden Beinen zugleich aus dem Bette geſprungen, um feiner Frau
630
zuvorzukommen. Er hatte ſich munter fertig gemacht und auf Biſſig—
kummers Bericht, daß nichts anderes als die Fackeln der Gemmingſchen
Todesboten Urſache des Schreckens geweſen ſeien, hatte er ſchadenfroh
gelacht und ſich auf die Redensarten gefreut, die nun folgen mußten. Er
war über den Platz geeilt und nicht nur, um ihren Trotz zu verſöhnen und
zu zeigen, daß er nicht übelnehmeriſch ſei, auch wirklich guten Mutes und
des Wiederſehens froh hatte er ſie unbefangen begrüßt und dafür
gelobt, daß ſie, ſtatt in fremdem Hauſe ati zu warten, kurz entſchloſſen
im Elternhauſe Ruhe geſucht habe. In der erſten Überraſchung war fie,
um ſich keine Blöße zu geben, auf ſeine Erklärung eingegangen; aber ſeinen
SZ weck hatte er nicht erreicht. Sie war bereit geweſen, wenn er ſich zu ſeiner
unerhörten Rückſichtsloſigkeit bekannt und reumütig gezeigt hätte, ihm groß—
herzig zu vergeben; nun aber ſchien er gar nicht zu fühlen, daß ſie ihn mit
der Flucht ins Vaterhaus hatte ſtrafen wollen, ja er ſchien nicht einmal ſein
Unrecht zu fühlen oder fühlen zu wollen, und das konnte ſie nicht verzeihen.
Sie behielt ihre Haltung, nahm ſich, in die Apotheke heimgekehrt, ſofort
ſicher und freundlich der Hausfrauenpflichten an, ja, da ihr beim Ordnen
des mit finſtren Gedanken betretenen Schlafzimmers und des bräutlichen
Lagers ein trutziger Racheplan kam, den ſie alsbald vorbereitete, ſo wehrte
ſie den gelegentlichen Zärtlichkeiten des Menſchen nicht mehr, als unbedingt
nötig war, und genoß in ſeinen Küſſen ſchon die ganze Süße ihrer Rache.
Am Abend trennten ſie ſich wie tags zuvor auf der Treppe, ſie das
Ampelchen i in der erhobenen Hand, er die Laterne ſchwingend, ſie ſtieg auf—
wärts, er hinab, überall nachzuſehen.
an aber diesmal wieder!“ rief fie über das Treppengeländer.
„Ja, ich komm!“ gab er zurück.
„Freu dich, ſtiefelbraunes Maidelein, ich komm — ich komm — ich
komm!“
Da klang oben ein Gelächter, und er dachte, ſie ſei doch eine flotte Perſon,
die auch Spaß verſtehe. Er eilte ſich.
Als er fertig war, ſchlich er auf den Zehen und mäuschenſtill nach dem
Schlafzimmer, blies die Laterne aus und hängte ſie an den Pflock neben
der Tür, öffnete lautlos und trat ein. Es blieb ſtill. Das Ampelein ſtand
auf dem Tiſch und flackerte qualmend im Luftzug, Pele war nicht zu ſehen.
Er dachte, ſie läge ſchon, und ſah nach dem Bett, konnte ſie aber nicht ent—
decken. Er lächelte und bemühte ſich, unhörbar hinzutreten; aber ſchon
einige Schritte davor blieb er ſtehen und blickte plötzlich mit mißtrauiſcher
Schärfe hin. Da ſchien etwas nicht in Ordnung zu ſein. Er ſtreckte den
Hals und merkte nun, daß das breite Brett durch eine Zwiſchenwand in
zwei ſchmale Teile geſchieden und daß der ihm zugekehrte Teil leer ſei. Er
erwartete ein Gelächter oder Kichern von der andern Seite; das aber kam
631
nicht. Er rückte dicht an das Bett und erkannte, daß Peles neues Bügel⸗
brett als Scheidewand zwiſchen Kopf- und Fußende eingeſchoben ſei: er
klopfte leiſe mit dem Zeigefinger daran — er klopfte lauter — es erfolgte
keine Antwort. Er ſchüttelte den Kopf und als er nun wahrnahm, daß von
dem einen Ende des Bügelbrettes, um es einzupaſſen, ein Stück abgeſägt
ſei, da durchfuhr ihn, daß Pele Ernſt mache; zum Scherz hätte die pein⸗
liche Hausfrau das Brett nicht geopfert.
„Aha!“ murmelte er unwillkürlich, indem er verſtehend den Kopf hob
und ſenkte. „Es fängt an!“ dachte er, „jetzt gilt es!“ packte mit beiden
Händen das Brett und rüttelte daran.
„Unterſteh dich!“ ziſchte es von der andern Seite her. FR
„Keine Angſt!“ erwiderte er gemütlich. „Ich wollte nur prüfen, ob 9
auch hält; — damit ich dirs, wenn ich mich im Schlaf umdrehe, nicht auf
den Kopf werfe. Sonſt hätt ich noch ein paar Nägel eingeſchlagen. Aber
es hält, brauchſt keine Angſt zu haben!“
Er kleidete ſich gemächlich aus, indem er leiſe vor ſich hinpfiff. 8 ler
ein ging er zum Fenſter und ſah nach, ob die Läden feſt zugemacht ſeien.
„Horch, wie es gießt!“ ſagte er. ö
„Ja,“ erwiderte ſie in möglichſt unbefangenem Tone, „der Rege tut MR
aber auch not.“ g
Er ſtopfte mit der Nadel den Docht des Ampeleins zurück, ſo daß nur
ein kleines Flämmchen blieb, ſtellte es hinter den Lichtſchirm und legte ſich.
„Gute Nacht, Frau!“ ſagte er, „den Kuß haben wir uns ja ſchon auf
der Treppe gegeben.“ a
„Ja, es gilt!“ meinte ſie, „gute Nacht!“
„Das wäre alſo Brautnacht Numero zwei!“ dachte er, und es gelang ihm
zwar, jeden Laut zu unterdrücken; aber das Lachen ſchüttelte ihn doch ſo,
daß Pele es fühlte. Sie ergrimmte und bereitete ſich vor, ihm ſcharf zu
erwidern, aber ſie wartete umſonſt, er ſagte nichts. „Ja, liebe Pele,“ dachte
er, „dir wollen wir den Meiſter zeigen, gleich am Anfang! Dieſe Mode
kommt mir nicht ins Haus! Das iſt für mich nur ein Freſſen!“ Um ihr
ſeine Gemütsruhe zu zeigen, bemühte er ſich, einzuſchlafen. Und in der
Tat hörte Pele bald ſeinen Atem gehen, regelmäßig und leiſe wie eine ferne
feine Säge. Sie hielt es für Verſtellung. Sie war durch ſein ruhiges
Nachgeben bitter enttäuſcht und gereizt, ſie dachte, er müßte vor unterdrückten
Wut demnächſt Feuer ſpeien und nur, um ſie zu verhöhnen, gehe dieſes
künſtliche Schnarchen dem Ausbruch vorher: ſie wartete aufgeregt, wie ſie
beim Gewitter auf die Blitzſchläge wartete. Als er ſich aber noch ein gutes
Stück weiter durch die Nacht vorwärts geſägt hatte und mit den unwillkür⸗
lichſten Begleittönen, die nur ein Schläfer bat, ruhig hinatmete, da erkannte
fie ſchließlich mit einem Gefühl der Veriaffenheit, daß der Menſch wirklich
632
ſchlief und ſchlafen konnte. Sie drückte ihr Geſicht ins Kiffen und war im
Begriff, ihren Tränen den Lauf zu laſſen, da durchfuhr ſie die Angſt, er
ſchliefe doch nicht und könnte es merken; fie bezwang ſich, ſie ſetzte ſich zur
Wehr, ſie erzählte ſich mit unecbittlichen Erläuterungen, mit hinterliſtigen
Deutungen nicht nur dieſe neue Kränkung, nicht nur den Hohn der letzten
Tage, nein, alles, was ihr je nicht an ihm gefallen hatte, ſie hetzte ſich ſelbſt,
wie man ein anderes gegen den Feind hetzt, und erſt, als ſie durch die
Ahnung ſeiner Schlechtigkeit zur Erkenntnis ihrer von Gott verfügten
Pflicht gedrungen war, dieſen Menſchen, ſeis zu ihrem eigenen Schmerze,
zu ſtrafen, zu demütigen und womöglich zu beſſern, da fand fie Ruhe
und Schlaf. 8
Michel erwachte früher, als er ſonſt aufzuſtehen pflegte; aber da er ſich
dieſen Tag der Bosheit befleißigen wollte, ſo ſchwang er ſich alsbald aus
dem Bett, blieb davor ſtehen, ſtreckte ſich, daß die Gelente knackten, und
gähnte die ganze Tonleiter hinab. Dann fing er, wie wackere Männer neben
dem Aufſtehen her nun einmal zu tun pflegen, ſofort an, mit ausgeruhter
Stimme zu ſingen und zu jodeln, daß es hallte. Plötzlich ſtockte er, denn
er hörte etwas, und vernahm nun:
„— eine Rückſichtsloſigkeit — ſondergleichen — einen fo aus dem
Schlaf zu brüllen —! — — — Da freut mich mein Leben!“
„O — Pele —,“ ſprach er in demütigem Tone, „verzeih! das tut mir
furchtbar leid! aber — mir war gar nicht, als ſei noch jemand da; man
muß ſich an alles gewöhnen. Nimm mirs nicht übel, Schatz! ich will mich
künftig gewiß in acht nehmen. Nein, ſo — eine Roheit! das iſt ja ſcheuß⸗
lich. Ich werde mich jetzt aber auch recht eilen, daß du wieder Ruh haſt
und weiterſchlafen kannſt.“
„Weiterſchlafen! ja!“ entgegnete ſie bitter, „wenn man ſo aufgeſchreckt
worden iſt. Ich habe ja Herzklopfen, daß ichs im Kopf ſpüre!“
„Siehſte — “ ſagte er. „Ich war ja immer überzeugt, daß du das Herz
am rechten Fleck haſt.“
Darauf gab ſie ihm keine Antwort, und obwohl ſie entſchloſſen war, nicht
mehr zu ſchlafen, ſtellte ſie ſich, als verſuchte ſie es, — um nur weiteren
Geſprächen auszuweichen. Kaum aber hatte er leiſe das Zimmer verlaſſen,
da ſtand auch ſie auf und machte ſich fertig, hob das Bügelbrett aus der
Beelſtelle und ſchob es hinter den Schrank, öffnete die Fenſter und legte die
Betten aus, ging dann hinunter an ihre Hausarbeit und zeigte ſich gegen
ihren Mann freundlich und forglich.
Da er mit Freuden dieſen Ton erwiderte, entwickelte ſich im Laufe des
Tages ein ſo harmloſes Behagen, baß iht vor dem Abend etwas graute: ſie
wünſchte nicht mehr in ihren Trotz zurückzufallen, fie wollte aber zum Nach⸗
geben gezwungen werden.
+: | 633
Am Abend mit dem Ampelein in der Hand neben ihm zur Treppe
ſchreitend, erwartete ſie, daß er ſie bäte, ihn auf der Runde durch das Haus
zu begleiten: ſo würden ſie zugleich das Schlafzimmer betreten und alles
wäre gut; aber er lud ſie nicht ein. Sie ſtieg ſchwer atmend die Treppe
hinauf. Sie kam, um Zeit zu verlieren, wieder herunter und machte ſich
noch im Wohnzimmer zu ſchaffen. Nachdem ſie ihm wahrlich Friſt genug
gelaſſen hatte und er immer noch nicht zurückkam, war ihr ſeine Hinterliſt
klar und ſie ging wieder die Treppe hinauf, immer noch langſam, in der
Hoffnung, er werde ſie einholen. Und dann trat ſie in die Schlafſtube und
ſah ſehr enttäuſcht und weinerlich umher, blieb vor dem breiten Ehebett
ſtehen, und ein Seufzer hob ihre Bruſt. Sie runzelte aber die Stirn, eilte
in die Ecke, zog das Brett hinter dem Schrank hervor und klemmte es
wieder als Wand zwiſchen Kopf- und Fußende des Bettes ein: |
„Wenn ers nicht anders haben will, der Kerl!“ und ſetzte begütigend -
hinzu: „Er kann es ja rausreißen, — der Dummkopf!“ dann ſchlüpfte fie
hurtig aus den Kleidern und lag ſchon ruhig in ihrem Fache, als der Mann
mit knarrenden Schritten auf der Treppe hörbar wurde.
Und nun ſtand er vor der Veranſtaltung, nickte, räuſperte ſich und dachte,
indem er ſtillſchweigend anfing, ſich auszuziehen: Jüngferle, wenn dir das
nicht zu dumm wird, — vor mir biſt du ficher.“ Er mußte ja annehmen,
Pele habe ſich den Tag über ſo freundlich gezeigt, nur um ihn nun deſto
härter zu überraſchen, und er war um ſo kühler bereit, ihr nichts zu erſparen.
Er rüttelte nicht einmal an der Scheidewand, er ſtreckte ſich ruhig in ſeinem
Abteil aus und erſt nach geraumer Weile ſagte er in die Luft hinauf:
„Erſchrick nicht, wenn ich morgen etwas früh aufſtehe! Erſtens iſt
Wochenmarkt, zweitens iſt heute abend der Hauptmann v. Schornſtetten
mit acht oder zehn Mann im Schloß angekommen; der wird morgen
Botſchaft vom Markgrafen an die Bürgerſchaft bringen, da weiß man nie,
was es gibt. Botſchaft hin — Botſchaft her, Händel und kein Ende!“
„Ja — ihr treibt es fo lange, bis dem Markgrafen die Geduld ausgeht!“
„Ihr —?! — Übrigens, wenn fie ihm ausgeht, hat er ſchon verloren;
denn — uns — geht ſie noch lange nicht aus. Wir ſind nun offenbar ein⸗
mal dazu prädeſtiniert, daß ſich der Markgraf ein paar Zähne an uns ausbeißt.“
„Aha — da paßt dir auf einmal die Prädeſtination!“
„Ja — man lernt halt als Ehemann!“ 1
Sie antwortete nicht; als er ſich aber räuſperte, um weiter zu ſprechen,
bat ſie in ſchläfrigem Tone: 2
„Ich bin müd.“
„Ach ſo! Verzeih! Gute Nacht, Pele!“
„Gute Nacht!“ aber ſie ſchlief nicht ſo bald ein.
4
(Schluß folgt) 5
|
4
634
Arthur Schnitzler
von Felix Salten
n dieſen Tagen der Erinnerung habe ich manches Buch von Schnitzler
8 wieder geleſen; manche von den Novellen, die mir lieb ſind, einige von
den dramatiſchen Dialogen, darin ſo viel ſorgſame Arbeit wie ſorgloſe
Anmut ſich ausnimmt. Dann, auf einſamen Spaziergängen im jungen
Frühling der Wiener Landſchaft ſprachen dieſe Bücher in mir weiter, und
es ward mir jetzt erſt bewußt, daß ich beim Leſen beſtändig eine Stimme
gehört hatte. Als ſeien die Worte, die Sätze, die Schilderungen, Vorgänge
und Geſpräche nicht auf dem Wege der Buchſtaben zu mir gekommen,
ſondern auf dem Klingen einer edlen, in ihrer Kraft und in ihrem Emp—
finden verhaltenen Stimme.
Das rührt gewiß nicht davon her, daß ich den Dichter kenne, der all
dieſe Bücher gemacht hat; denn viele Menſchen, die Bücher ſchreiben, ſind
mir perſönlich bekannt, ſind mir im Leben manchmal nahe und durch langen
Umgang vertraut. Aber bei vielen, wenn ich ihre Bücher leſe, iſt es mir
gar nicht gegenwärtig, wie ſie ſprechen, oder ich höre eine fremde Stimme,
oder eine Stimme, die verſtellt iſt, oder eine, die mit angenommenem Ton—
fall zu deklamieren ſcheint, oder ich höre das Echo anderer, mächtiger Stim—
men hereindringen und ſich einmengen. Manchmal höre ich auch nur meine
eigene Stimme flüſternd in mir die geleſenen Worte aufheben und in mein
Bewußtſein tragen. Oder ich höre gar nichts; ſondern ſehe nur Lettern,
Satzbilder, ſchwarze Reihen von Zeilen, Blatt für Blatt.
Unmeßbare Dinge, die wir nur fühlen, nur von ferne ahnen können, die
aber doch mit vollkommener Schärfe und Genauigkeit wirken.
Von den Schreibenden ſind etliche in ihrem dichteriſchen Vermögen nicht
eben bedeutend. Aber ſie haben dieſen feinen ſtimmlichen Klang, haben
dieſes tönende Atmen der Seele, und man neigt ſich ihnen zu, man begegnet
ihnen mit Schonung. Irgendwie werden ſie von der menſchlichen Kraft ihres
Weſens, das aus ihren wenig kraftvollen Werken mit wortloſer Beredſamkeit
hervorklingt, gehoben und getragen. Gibt es dagegen nicht auch ſolche Dichter,
die wir als groß anſprechen, die uns zu lauter Bewunderung, zu augenblick—
lichem Entzücken, die uns zu allem zwingen können, nur nicht zur Liebe?
Irgendwie fehlt in ihren Werken die ſanfte, eindringliche Stimme eines
Menſchen, der unſer Zutrauen weckt, der zart an unſere Zärtlichkeit rührt.
Irgendwie haucht da eine Kälte zu uns her, ein Fremdſein, und es iſt in
all ihren beredſamen, ſinnvollen, prangenden Worten ein tiefes Schweigen.
In der ſtarken, kulturfeinen, reizvoll aromatiſchen Kunſt Arthur Schnitz—
lers aber hört man immer den Vollklang einer ſchönen Menſchlichkeit. Aus
635
den Büchern Theodor Fontanes tönt ſolch eine Stimme von perſönlichem
Zauber, aus den Büchern des Grafen Eduard Keyſerling und aus den
Büchern von Herman Bang. Daher iſt es, daß dieſe Dichter geliebt werden.
Mit einer perſönlichen, beinahe könnte man ſagen mit einer privaten Zu⸗
neigung. Mit einer Liebe, die zuverſichtlich, überzeugt und unerſchütterlich
iſt, die ſich über die geleſenen Bücher hinweg an die perſönliche Weſenheit
des Dichters wendet, ihr anhänglich iſt und ergeben. Eine Liebe, die mit
naiver, treffſicherer Gerechtigkeit den Dichter und ſeine Werke zu einer un⸗
trennbaren Einheit wieder zuſammenfügt, ihn und ſeine Bücher als eine
einzige köſtliche Erſcheinung auffaßt und im Herzen trägt. So iſt auch Arthur
Schnitzler gleich von Anfang an geliebt worden. Man hat von Anfang an
den edlen Geigenton ſeiner Stimme aus allen ſeinen Werken vernommen.
Es iſt eine ſüße, weiche Zärtlichkeit in dieſer Stimme, welche die Frauen
verführt, und ein herbes Feſtſein, ein treues Beharren in ſich ſelbſt, dem die
Männer ſich nicht verſchließen können. Ein unſchuldig heiteres Auflachen
iſt in ſeiner Stimme, ein Ton hingegebenen Entzückens, und dann wieder
ein Vibrieren nachdenklicher Melancholie. Und es iſt in dieſer Stimme eine
Güte von kindlicher Reinheit, die alles Gütige und Kindliche in uns aufruft.
on der Liebe ſprechen alle ſeine Bücher, alle dieſe Erzählungen, dieſe
kleinen Dialoge und großen Theaterſtücke. Von der Liebe und vom Tode.
Auch wenn ſie ſich anders geben, auch wenn ſie manchen ſinnreich unſinnigen
und erſtaunlichen Verknüpfungen des Schickſals nachſpüren, auch wenn
Streit, Aufruhr, Tapferkeit und Not des Daſeins ſie erfüllen und durch-
ſchüttern möchten, iſt ihr Inhalt die Liebe und der Tod.
Eine merkwürdige Kraft und Andacht des Erlebens läßt dieſen Dichter
die blutdurchſtrömte Schwere der kleinſten Geſchehniſſe empfinden, die
unauslöſchliche Realität der geringſten Tatſache, die tiefe Folge des flüchtigſten
Wortes. Zugleich aber hebt ihn ein geiſtiger Schwung und Auftrieb bis zu
einer Höhe, in welcher der atmoſphäriſche Druck von unſeren Schultern weicht,
in der die Wucht des Wirklichen ſchwerlos und ſchwebend wird, und in der
alle Wichtigkeiten ſich auflöſen. Seine Melancholie und ſeine nachdenklichen
Traurigkeiten haften am Erdboden. Liebelei. In ſeiner Heiterkeit aber
iſt das beſſere Jenſeits der Phantaſie, das Lächeln des Überwundenhabens.
Caſſian und Leiſenbogh. Die Höhe. Das Auftöſen der Wichtigkeiten.
Eine Quelle ſeiner dichteriſchen Kraft: das Staunen. Die Kraft ſeiner
reifen und meiſterlichen Kunſt: das Nufſpüren, Verſtehen und Enthüllen
der Zuſammenhänge. Ein berauſchtes lyriſch gewordenes Staunen über
das Wunder der Liebe; über die Süßigkeit, 2. umut, Hingabe und beherr-
ſchende Gewalt des Weibes; über den unermeßlichen Reichtum des Lebens,
über alle unfaßbaren Möglichkeiten des Slückes. Zugleich ein ſchmerz⸗
636
*
durchwühltes Staunen darüber, daß zwei Menſchen, die fo nahe beiſammen
geweſen, ſo endlos weit voneinander abgleiten können; daß fremd zu werden
1 vermag, was jemals eins war. Ein erſchüttertes Staunen darüber, daß die
$ Fülle des Daſeins in ewiger Leere endigt, daß dieſes ſtrahlende Licht ewiger
ü Finſternis nur als kurze Einleitung voraufgeht; daß dieſer tiefwehende
jauchzende Atem der Lebendigkeit in uns zu jeder Minute ausgeblaſen und
erſtickt werden kann. Dieſes doppelte Staunen, aus dem der Jüngling
einſt vor ſich ſelbſt, vor ſein Schickſal und vor die Wele trat, iſt in all den
Jahren nicht gemindert noch beſchwichtigt worden, und der Fünfzigjährige
ſteht heute ſich ſelbſt, dem Schickſal und der Welt gegenüber, voll Staunen,
4 wie nur je; in lächelnder Anmut des Geiſtes, in lyriſch⸗nachdenklicher Me⸗
lancholie des Herzens, voll Entzücken und trunkener Daſeinsluſt dem Leben
dahingegeben, voll ſanfter Weisheit das Leben gütig belächelnd.
In dieſer Bilderreihe immer wiederkehrender und immer wieder ſchwin—
er Liebe, in dieſer beſtändig über allem Erblühen ſchwebenden Drohung
d elkens, in dieſem Umkreis einer Welt, der abgeſteckt iſt von Wonne
des Seins und Grauen des Todes, liegt freilich eine Dageweſenheit, die fo
> ewig ift, und beinahe fo alt, wie das Leben felbft. Arthur Schnitzler aber hat
* mit dieſen Dingen, die jedem gegeben ſind, nur geſpielt. Sein Spiel geſpielt.
Er hat auf dieſem Hintergrund, vor den wir alle treten, ſein Profil
gezeichnet. Sein eigenes. Und aus dieſem Erdenlehm, der jeder formen—
den Hand willig iſt, hat er ſeine Geſtalten geſchaffen. In ſeinem Ebenbild.
Eine kleine Welt von Menſchen lebt nun mit uns, führt in unſerm Ge—
dächtnis, in unſerer Kenntnis von der Welt und in unſeren Erkenntniſſen
eine lebendige Exiſtenz von erhöhter Wirklichkeit. Anatol, der verwöhnte
Melancholiker des Genuſſes, die einfache, ſüße Chriſtine aus der Liebelei, der
8 edel komplizierte Herr von Sala aus dem „Einſamen Weg“, die Herzogin
aus dem „Grünen Kakadu“, der junge Kavalier aus „Literatur“; und alle tragen
die Züge Schnitzlerſchen Geiſtes, alle haben an ihrer Geſtalt vom Griff und
Druck ſeiner formenden Hand die Spur. Alle reden ſo, daß man nach
ihren erſten drei Worten ſchon wiſſen muß: ſie ſind von Schnitzler. Alle
ſind in Erlebniſſe, in Konflikte, in Schickſale, in eine Atmoſphäre geſtellt,
die vollkommen Schnitzlers Weſen und Eigenart ſpiegelt. Wie ſie jetzt einer
nach dem andern an mir vorüberziehen, fällt es mir auf: von einer merk—
würdigen Milde und Reinheit find fie alle. Auf keinem von ihnen hat ein
trüber Blick des Haſſes gerubt. Schuldloſe find fie alle. Oder Entſchuldigte.
Von Schuld befreit.
22
Er
er Generation, die jetzt die ceifen Mannesjahre lebt, die jetzt ſacht ſchon
dem Alter entgegenſchreitet, iſt Arthur Schnitzler innig verbunden.
Er iſt eines ihrer ſtärkſten künſt (erifchen Ereigniſſe, ift eines ihrer fuggeffiven
637
Vorbilder. Von feiner Art, die Liebe zu ſehen, ift das Liebes gefühl dieſer
Generation beeinflußt worden; von ſeiner Art, den Tod zu denken, ward
ihr Vergänglichkeitsgedanke angefärbt, von ſeiner Inbrunſt, das Leben zu
verehren, ihre Daſeinsluſt erhöht und befeuert.
Seine weltliche Anmut und ſeine äußerſte Kultiviertheit haben erzieheriſche
Wirkung geübt, und der exkluſiv empfindliche Geſchmack ſeiner Kunſtmittel
hat viele andere, ähnliche Exkluſivitäten und gute Empfindlichkeiten er⸗
mutigt. Seine Technik iſt in ihrer früheſten Jugend von den Franzoſen
erzogen und angeregt worden. Daher rührt der leiſe Duft nach allerlei
mondänen Parfüms in feinen erſten Büchern; daher der Name Anatol,
der wie ein Echo, aus Frankreich herübergeweht, in u erſten Dialogen
aufklingt, daher auch die elegante, höflich grüßende beugung, mit der
ſich manches ſeiner Worte zur Pointe ſchmiegt und rundet. Dann aber iſt
ihm aus der raſtlos arbeitſamen und tiefen Echtheit ſeines Weſens die eigene
Technik erwachſen, dieſes wundervolle Vermögen, in einfachen Sätzen Un⸗
ſagbares mitſchwingen zu laſſen. Zwiſchentöne der Seele, Unterſtimmen
des Bewußtſeins frei zu machen, pſychologiſche Konflikte von einer Zartheit,
die ſich zuvor weder anrühren noch geſtalten ließ, anzurühren und zu ge—
ſtalten. Dieſe merkwürdig weiche, nachgiebige, ſcheinbar ſorgloſe Technik,
in der dennoch ſo viel wache Aufmerkſamkeit, ſo viel Selbſterziehung,
Straffheit und Friſche lebt. Mit dieſer nachſpürenden, ausgewogenen,
nervenzarten Technik iſt er auf die leidenſchaftliche Suche nach den Zu—
ſammenhängen gegangen. Sein kühnſtes Experiment, die Zuſammenhänge
zu enträtſeln: „Der Ruf des Lebens“. Sein intereſſanteſter Verſuch: „Das
weite Land“ und „Der junge Medardus“. Sein übermütigſtes und freieſtes
Ergreifen der Zuſammenhänge: „Reigen“. Mit dieſer anmutig federnden,
in ihrem Reichtum ſchwelgeriſchen Technik hat er die Farbigkeit des modernen
Lebens, den Prunk und die Schönheit einer vornehmen und weiten Welt
herausgebracht. Man hat oft, und in einer nur zu nahe liegenden Ideen—
verbindung geſagt, aus Schnitzlers Werken ſei der Jubel und die Schwer—
mut Wiener Walzer zu hören. Vielleicht iſt es ebenſo wahr, daß ſeine
Inſtrumentation gelegentlich an den blendenden Geigenglanz Puccinis er—
innert, darin das verführeriſche, ſinnliche Strahlen und die prächtig ver—
wirrende Erhabenheit der Großſtadt manchmal aufleuchten.
Jet einſamen Spaziergängen durch die elegante Belebtheit der Stadt,
durch die heimliche Traurigkeit ſtiller Gaſſen der Vorſtadt, auf ein—
ſamen Spaziergängen im herbſüßen Frühling des Wiener Waldes, wird
es mir in dieſen Tagen mehr und mehr bewußt, wie ſtark ſich Arthur
Schnitzlers Weſen dieſer Landſchaft, dieſer Stadt hier eingeprägt hat, wie
viel er von ihr empfing, und ſie von ihm. Das Frühlinghafte, das Maien—
638
hafte, das Lenzliche, das Wiens eigenften und füßeften Zauber ausmacht,
durchdringt auch die Art, durchdringt das Schaffen dieſes maigeborenen
Wiener Dichters, der nun fünfzig Jahre alt geworden iſt, reif und meiſter—
lich vollendet, berühmt und geliebt. Und in allen ſeinen Werken grüßt uns
die Jugend. In allen ſeinen Werken duftet der Flieder.
Wenn wir ihn jetzt ſchon hiſtoriſch empfinden dürfen, dann ſteht er, als
letzter, in jener Reihe Wieneriſcher Geſtalten, die uns am liebſten ſind.
Von Schubert weht ein Klang zärtlicher Lieder um ihn her, von Schwinds
holder Phantaſtik ſchwingt manche feine Linie an den Konturen Schnitzler—
ſcher Mädchen, und zu Grillparzers Melancholie ließe ſich mancher vettern—
haft verwandte Zug an ihm finden.
Schließlich aber iſt der fünfzigſte Geburtstag noch nicht der Abſchnitt,
an welchem einer hiſtoriſch wird. Nicht immer, und noch nicht ganz. „Das
Leben geht eben weiter.“
m
639
Reife durch Kanada III
von Arthur Holitſcher
Die Duchoborzen und Peter Verigin
ch ſagte Herrn Walker: „Von den Duchoborzen geht die Sage um,
af daß fie ſich zuweilen, mitten während der Ernte oder auch im Winter,
auskleiden und Männer und Weiber ziehen nackt und jammernd durch
die Felder, Chriſtum zu ſuchen, der ſich irgendwo in der Nähe aufhalten ſoll.“
Mr. Walker: „Wel, das iſt vorgekommen. Aber ich habe ſie dann ſo
lange ins Gefängnis und in die Irrenhäuſer geſteckt, 08 ihnen die Luſt an
ihren Märſchen vergangen iſt.“
„Verzeihen Sie — aber dazu ſind doch dieſe armen Leute nicht aus
Rußland herübergekommen! Dort hat man ſie auch ſo lang in 1
und Irrenhäuſer geſteckt, bis —“
„All das können wir hier nicht brauchen. Was wir hier wollen, fi nd
gute, gehorſame Bürger, law-abiding citizens. übrigens hab ich den Ducho⸗ a
borzen bei der letzten Gelegenheit geſagt, in ihrem eigenen Intereſſe geſagt:
wenns euch nächſtens wieder mal nach Chriſtus verlangt, ſchreibt mir eine
Zeile, ich will ihn euch ſchicken.“
Alſo ſprach Mr. Walker. Man kann nicht anders, als ihm recht geben.
Ein Nacktmarſch, von zweitauſend Menſchen im Winter ausgeführt, iſt
keine ſehr geſunde Turnübung. Auch das Vieh in den Ställen fährt nicht
gut dabei, das nach drei Tage währendem Hunger, weil niemand nach dem
Futter ſieht, in den Ställen verreckt oder aus den Ställen bricht und dann
von den Behörden eingefangen werden muß — damit die unglücklichen Be⸗
ſitzer, wenn ſie von ihrer vergeblichen Expedition zurückkehren, es nicht im
Schnee mit allen Vieren nach oben vorfinden!
Die Duchoborzen haben ihren letzten Marſch vor fünf Jahren vollführt.
Fährt man durch ihre ſauberen Dörfer im Norden von Saskatſchewan und
ſieht ihre breiten Geſichter hinter den Fenſtern ihrer Giebelhäuschen oder zwiſchen
den Sonnenblumen in ihren netten Gärtchen auftauchen, ſo glaubt man nicht
an gefährliche Fanatiker, ſondern daß es brave, beſcheidene Muſchiks ſind,
die da hauſen. In Wahrheit ſind es die einzigen Menſchen, die heute in
Kanada unter dem wirtſchaftlichen Prinzip des Kommunismus beifammen
leben, in einer Reſervation, wie alle, die ſich der Staatsform nicht be⸗
quemen wollen, unter deren Schutz die !aw-abiding citizens ringsum ihren
Kohl bauen.
Ich wohne beim Müller, der ein Schotte und Vorarbeiter in der Mühle
ift, wo der Weizen der „Doukhobor Community“ zu Mehl vermahlt und in
Säcken bis nach Liverpool und Shanghai verſendet wird.
640
|
s
„
Ay
wi
|
Freund Kon in Winnipeg, der Immigrationsagent der Grand Trunk
Pacific und väterlicher Freund und Berater aller Ankömmlinge ſlaviſcher
Herkunft, die ſich in den von der Grand Trunk-Bahn eben erſchloſſenen
Weizenländern im Norden niederlaſſen wollen — Freund Kon hat mir
geraten, nach Verigin zu fahren, ins Reich des „Duchoborzen-⸗Zaren“ Peter
Verigin, ſtatt nach den Duchoborzen⸗ RE und Buchanan, die
man mir in Ottawa genannt hat.
| Freund Kon kennt die Ruſſen hierzulande, wie er fie in feiner alten
Heimat kennt. Die alte Heimat gedachte Freund Kon ein bißchen zu henken
wegen irgendwelcher politiſchen Vorurteile. Vor drei Jahren noch hat er,
als ein Armer, als der er herüberkam, oben in Alberta mit einigen ſeiner
N Bandsteute Bäume im Urwald gerodet, Schwellen gelegt, Schienen an die
Schwellen geſchraubt — heute ſitzt er zwiſchen den Oberen der Grand Trunk
Pacific und hilft, die Schickſale des Syſtems lenken — eine kanadiſche
Karrier unter Tauſenden, die ſich in der neuen Heimat in die Höhe entwickeln.
Ich tachte von ihm einen Brief an feinen alten Kameraden Sam Bat—
ſchnein mit, und einen zweiten an den Sekretär der kommuniſtiſchen Ge⸗
ſellſchaft. Der Präſident der Geſellſchaft iſt „Zar“ Peter und der Ort iſt
nach ihm benannt. —
Den „Zaren“ möchte ich für mein Leben gern von Angeſicht ſehen.
Leider wirds nicht möglich fein. Er iſt in Britiſch-Kolumbien, wo er Obſt⸗
land für die Duchoborzen aufgenommen hat, die das harte Winterklima
hier oben im Norden nicht mehr aushalten. Erſt in zwei bis drei Tagen
wird er zurückerwartet — wenn ich Geduld hätte, ſo lange zu warten?
Nein, es geht nicht. Schade! ſagt der Müller. Ein großer Mann! Aber
ich muß darauf verzichten, dieſen Kommuniſten-Zaren von Angeſicht zu
ſchauen. Auch ſeinen Sekretär werde ich nicht ſprechen können, der iſt ihm
2 nach Nockton entgegengefahren.
a (Norkton . wo habe ich dieſen Ortsnamen gehört?
Der Tonfall, in dem man mir dieſes Wort ſagt, bringt mir die Szene
ins Gedächtnis zurück: Vor vier Tagen, als ich von Brandon, Manitoba
nach Eſterhazy fuhr, um ſechs Uhr früh — ſprang da im Zug plötzlich ein
Menſch auf, und fing wie verrückt im Wagen herumzulaufen an: Stop!
ſtop! Er wollte ja nach Norkton und dies ſei der verkehrte Zug!
| Er war ein großer ſtämmiger Mann, halb wie ein Städter, halb wie ein
Bauer angezogen, in einem billigen ſchwarzen Anzug, Hemd ohne Kragen,
die Haare in die Stirn gekämmt. Die Tränen ſtanden ihm in den Augen,
er ſtotterte heiſer, engliſch war nicht feine Mutterſprache, er wollte wahr—
haftig aus dem mit voller Kraft fahrenden Zug hinausſpringen, der Kon—
dukteur und ich, die der Tür zunächſt ſaßen, wir hatten beide Mühe, ihn
an den Armen zurückzuhalten
641
Bei der nächften Station ſahen wir dann den breiten Rücken des Mannes
im Sonnenſchein glänzen. Mit ſeinem Regenſchirm unterm Arm lief er
in einem vom Anfang an ſyſtematiſchen Trab, den Schienenweg entlang
nach Brandon zurück — die zwölf Meilen nach Brandon zurück —
Staunen und Gelächter aus den Kupeefenſtern hinter ihm her. — —)
Och habe Sam Batſchurin beim Abladen von Holz aus einem Waggon
x angetroffen und habe ihm meinen Brief übergeben. Er ift kein Farmer,
ſondern Kutſcher in einem livery-stable. Heute nachmittag wird er einen
Wagen anſpannen und dann fahren wir ein bißchen herum in die Dörfer.
Der Müller fragt mich, ob ich Peter Verigin jr., den Neffen des großen
Peters, in der Mühle beſuchen will? Das will ich, gewiß. Und dann finde
ich den jungen Verigin zwiſchen den Mehlſäcken. Er ſpricht ganz gut
engliſch, er ſcheint es gewöhnt zu ſein, Fremden über die Angelegenheiten
der Duchoborzen zu berichten, auf meine Fragen kriege ich gut hergerichtete
und unverfängliche Antworten zu hören, wir reden laut, denn über uns
donnert und ſchüttert das Werk der Mühle.
Er iſt ein junger Menſch mit einem ehrlichen ruſſiſchen Gef icht.
Er wird ein bißchen rot, wie er von ſeiner Religion ſpricht. Ich glaubs ihm
gerne. Es iſt gewiß hart für einen, der ſeine zehn oder mehr Stunden
angeſtrengt arbeitet, Sätze auszuſprechen wie dieſen: „Chriſtus iſt immer
leibhaftig zwiſchen uns!“ (Soll das im übertragenen Sinne oder im Sinne
der Marſchirer gemeint ſein? Die Antwort iſt geſchickt präpariert.) „Ich
glaube an den Himmel!“ (An die Hölle aber glaubt er nicht.)
Er will es nicht wahr haben, daß ſein Onkel der Zar ſei. Ich beruhige
ihn, das ſei ja nur ſo eine Redensart; aber er ereifert ſich: Alle, Alle
find gleich! Er zeigt auf die Marken der Säcke: Doukhobor Commu-
nity, als ob das ein Beweis wäre. Ich habe das Gefühl: Der will oder
darf nicht reden. Darum halte ich ihn nicht länger von ſeiner Arbeit zurück.
8 Duchoborzen ſind vor zwölf Jahren aus Rußland herübergekommen,
wo ſie als gefährliche Narren und Anarchiſten verfolgt und dezimiert
wurden ihr Leben lang. Sie ſind Vegetarier und töten weder Tiere noch
Menſchen. Sie weigern ſich, Waffen in die Hand zu nehmen, die den
Zweck haben, ihresgleichen damit den Garaus zu machen. „Dem Cäſar
geben, was des Cäſars iſt,“ ſteht nicht in ihrem Katechismus. Die Quäker
in Pennſylvanien, Maſſachuſets und England waren es, die dieſem armen
Volk die Mittel verſchafften, daß es herüberkommen konnte — aus dem
Land, wo man es ſterben und verkommen ließ. Arm, wie Gott ſie
geſchaffen hat, ſind ſie herübergekommen. Immer waren ſie fleißig und
beſcheiden geweſen, aber das Heilige Rußland hat ihnen ihr Hab und Gut
642
|
4
J
konfisziert und entwendet, fie nach Sibirien und in die Gefängniſſe geſteckt,
bis ſie blau geworden find. Peter Verigin ſelbſt, der drüben, obzwar ein
Mann von höherer Kultur und Wiſſen, ein Bauer und Hirt unter ſeinen
Glaubensgenoſſen war, iſt 18 Jahre lang aus einer Feſtung in die andere
getrieben worden, hat mit Schellen an Händen und Füßen Sibirien durch—
quert in den harten Jahres zeiten ....
Jetzt zählen fie hier herüben 8 Seelen. Sie haufen in Saskatſchewan
und am Kootenay in Britiſch-Kolumbien. Von den 8000 find ooo
Kommuniſten. Sie leben hier um den Ort Verigin herum in 42 kleinen
Dörfern, und haben ungefähr 10000 Acker Landes, die ins Grundbuch
in Yorkton, wie man mir ſagte, auf den Namen des Präſidenten Peter
Verigin eingetragen ſind.
Jedes dieſer Dörfer wählt drei Männer und drei Frauen, dieſe ſehen
nach dem Wohl und Wehe der Männer und Frauen ihres Dorfes, es geht
zu wie im Alten Teſtament. Einmal im Jahr kommen dieſe zweiundvierzig⸗
malſechs zu einer Verſammlung zuſammen, in der die Angelegenheiten der
„Community“ beſprochen werden. Es iſt ein Warenhaus da, aus dem jeder,
nach Maßgabe feiner Arbeit und feiner Bedürfniſſe heraus holt, was er braucht,
und eine Kanzlei mit großen Büchern, in denen jedem gut und zur Laſt
geſchrieben wird, was er ſchafft und verbraucht, für die Kinder und die
Alten ſorgt die „Community“. Dieſer edle Zug wird mir von den
Kommuniſten nachdrücklichſt eingebläut.
Ein Trommler (ſo heißen im Volksmunde die Handlungsreiſenden hier—
zulande) verſichert mich, daß die Duchoborzen auf ihren ihnen von der
Regierung reſervierten und ihrem dazu erworbenen Land heute drei Milli—
onen Dollars „wert“ ſind. Er irrt ſich und ſagt: Peter Verigin ſei dieſe
drei Millionen „wert“.
Ich verbeſſere:
„Sie meinen: die Community.“
Der Trommler erwidert: „Ich meine Verigin.“
„Die Community!“
„Verigin!“
Ich: „Aber dies alles hier gehört doch der „Community!“
Darauf lacht der Trommler: „ep, Siree, alſo meinetwegen, die Com—
munity.“ —
Jeder Einwanderer wird, wenn er drei Jahre lang in Kanada gewohnt
hat, von der Regierung aufgefordert, Kanadier zu werden. Kanadier zu
werden iſt nicht ſchwer und die Prozedur äußerſt einfach. In einem Bureau
in Montreal habe ich geſehen, wie es gemacht wird. Ein junger Mann
kam herein, trat an einen Schalter heran, legte zwei Finger ſeiner rechten
Hand auf eine kleine fleckige Bibel, während er in der linken derweil ſeine
643
brennende Zigarette hielt — der Beamte kritzelte etwas auf einen Bogen,
dann kam der nächſte heran. Alles dies ging einfach und raſch zu, wie beim
Barbier. e
Die Duchoborzen aber weigern ſich, die beiden Finger aufs Buch zu
legen. Das Land, auf dem ſie ſitzen, fällt infolgedeſſen nach drei Jahren an
die Dominion zurück. Die Dominion leiht ihnen pro Kopf 15 Acker, die
ihnen aber auch jeden Augenblick genommen werden können. f
Wie kommt es nun, daß das Land in Norkton auf Verigins Namen ins
Grundbuch geſchrieben ſteht? Der Poſtmeiſter, ein deutſcher Mennonit, hat
früher im Amt in Vorkton gearbeitet und die Eintrag gung mit eigenen Augen
geſehen. Wie das kam, weiß er mir nicht zu ſagen.
Was geſchieht wenn „Königliche Hoheit“, wie der Poſtmeiſter ſagt,
einmal die Augen ſchließt? Dann fällt das Land an die Kommunität
zurück, ſagen die Getreuen. Dann gibts einen Kampf aufs Mei ” fagen
die Rebellen, ſagt auch Sam Batſchurin. 2
Sim iſt 25 Jahre alt und hat Weib und Kind und ſeine alte Mut
im Dörfchen Terpenje wohnen. Sam gehört nicht mehr der Kommuni⸗
tät an. Er ſprüht Blitze, wenn er von der Kommunität ſpricht, die er
übrigens wie „Kominutom“ ausſpricht.
„Foolish people!“ Wer? Die „Kommuniſten“. Er ſelbſt hat jahre⸗
lang für die Kommunität gearbeitet. Hart und von früh bis ſpät. Er für 7
ſein Teil hat es ſatt, ſagt er, für Peter Verigin zu arbeiten. Es heißt: jedem
der Kommuniſten werde jährlich für ſeine geleiſtete Arbeit 200 Dollars in 1
den Büchern der Geſellſchaft gutgeſchrieben. Hat er keine Luft mehr, für =
die Allgemeinheit zu arbeiten, fo erhält er beim Austritt fein Guthaben auß
den Tiſch gelegt. Sam und feine Familie aber haben, als fie nach jahre 7
langer Arbeit austraten, 15 Dollars erhalten. Sam iſt jetzt Kutſcher in
einem Liveryſtable und Knecht eines Kanadiers. Mit ihm iſt ſein ganzes
Dorf aus der „Kominutom“ ausgetreten. 1
Terpenje iſt nicht der einzige Ort, der nicht mehr zur Kommunität
gehört. Es gibt eine ganze Anzahl von Dörfern unter den 42, die Verigin
untreu geworden iſt, und einfach nichts herausgezahlt bekam beim Austritt,
obzwar ſich in der Zahl Dörfer befinden, deren Bewohner ein Jahrzehnt
und darüber für die Kommunität gearbeitet haben. Alles, worauf die Leute
Anſpruch hatten, blieb einfach in der Kaſſe der Kommunität begraben. 1
Wir kommen in Terpenje an und Sam hält vor ſeinem kleinen ſauberen
Häuschen. Sam benutzt die gute Gelegenheit und ſtattet feiner Familie
eine Viſite ab. Seit er nicht mehr für Verigin, ſondern in einem Job
arbeitet, kommt er nur einmal in der Woche, am Sonntag dazu, ſeine
Familie zu ſehn. 5
644
Dies ift ein Häuschen der Armut, aber wie hübſch und wohnlich und
bunt doch im Vergleich zur behmhütte des Ungarn in Eſterhazy! Sams
alte Mutter und ſeine ſchöne junge Frau kommen uns auf der Schwelle
entgegen und es wird mir unter ſtummen Verbeugungen eine Schale Waſſer
gereicht.
i Sams Frau hat ein ſorgenerfülltes Geſicht; ſie hält ihr zehn Monate
altes Kind Poſja auf dem Arm, Polja ift immer krank und hat ein wachs⸗
gelbes Geſichtlein unter dem bunteſten Wollmützchen, das ich mein Lebtag
geſehen habe! Die Familie fühlt ſich längſt nicht mehr wohl in der Ducho⸗
borzengegend und denkt daran, nach Mexiko auszuwandern. Bald iſt die
hübſche Stube voll son Menſchen aus Terpenje. Sam macht den Dol-
a und ich probiere, fo gut ich kann, die politiſchen Verhältniſſe in
Mexiko den Leuten darzuftellen, um fie von ihrer unglücklichen Idee abzu-
bringen. Sie wollen, was ſich bietet, annehmen, aber das gute Obſtland,
im 1 ep, wo von Verigins Gnaden ſchon 2000 der ihren ſitzen, lockt
icht. Sie wollen Homeſteaders werden und haben genug von Komi⸗
Rur die Alten und Alteſten find dem alten Glauben und Verigin
wir fac noch ergeben. Die Jungen wollen, offen oder verſteckt, heraus; ja
ogar der Neffe Peter, der mir heute in der Mühle von ſeinem Volk erzählt
hat, ſucht ein homestead! Wenn Onkel Peter zurückkehrt, wird er es zu
ſeiner großen Verwunderung erfahren.
Sie haſſen die Zurückgebliebenen und haſſen den Zaren. Sie ſchicken
ihr Korn lieber in eine engliſche Mühle, ſie haben es ſatt, für den Zaren zu
arbeiten. Er hat fie kurz gehalten zur Zeit, da fie für die Kommunität ge-
arbeitet haben, hat es verhindert, daß ſie Schulen haben, engliſch oder auch
nur ruſſiſch ſchreiben und leſen lernen; all dies mit Chriſtus als Rücken⸗
deckung.
Freilich, er hat ſich nicht ſelber zu ihrem Führer aufgeworfen. Der Geiſt
kommt über die Gemeinde und der Geiſt niſtet ſich in Einem der Gemeinde
feſt ein. Zuletzt wars eine Frau, die an der Spitze der Duchoborzen ſtand,
als ſie ſtarb, hat ſie Verigin als ihren Nachfolger bezeichnet und Peter,
der daheim in Rußland wahr und wahrhaftig ein Märtyrer geweſen iſt,
18 Jahre feines Lebens lang, iſt jetzt nicht nur der Zar, ſondern fo etwas
wie der Chriſtus der Duchoborzen — die ihm blind ergeben folgen — bis
auf die Abtrünnigen, wie geſagt.
Scams Leute und ich nehmen unter tiefen Salamaleks Abſchied von—
einander; ich ſtreichle noch einmal den armen kranken Kind Polja über die
elben Wängelein; dann knallt Sam mit ſeiner Peitſche und die beiden wil—
den Bronchos faufen im Hui burch die Felder landeinwärts.
Ich frage Sam nach den Sitten und Gebräuchen, die im Familienleben
gang und gäbe find. In ſexruellen Dingen gibts keine „Kommunität“ bei
645
den Duchoborzen, das ift eine Verleumdung durch böfe Zungen. Freilich
der Zar ſoll kein Koſtverächter fein, und die Erbitterung unter den Leuten
geht auch auf dieſe Urſache zurück, das höre ich nicht von Sam allein.
Wirklich, die Frauen dahier find außerordentlich hübſch. Die Duchoborzen
heiraten ſehr früh, die meiſten mit 16—ı7 Jahren. Mag ein Junge ein
Mädchen und dieſes ihn, dann kommen an einem Sonntag nachmittag die
Eltern zuſammen, beſprechen die Angelegenheit und die beiden ſind Ehe—
leute vor Gott und der Gemeinde.
Wir kommen in einen kleinen Ort, ich glaube, ſein Name iſt Nadjeſhda
— in dem die Duchoborzenkirche ſteht. Die Kirche an großer Saal mit
einem Holztiſch, auf dem ift ein Glas Waſſer und eine Schale Salz.
Wenn Gottesdienſt iſt, tritt, je nach dem der Geiſt über ihn oder ſie kommt,
einer oder eine aus der Gemeinde hervor, tritt zum Tiſch und predigt den
übrigen von Gott und Chriſtus.
Im übrigen muß geſagt fein, daß, genau wie bei den Mennoniten drüben,
jedes der 42 Dörfchen eine eigene Sekte vorſtellt, mit eigenen Anſchauungen
und Gebräuchen. Der Vater der Poſtmeiſters, ein alter Mann, der mit
ihnen hauſt ſeit fie hier find, ſagt mir: er habe noch nicht herausbekommen,
was es mit ihrer Uberzeugung eigentlich auf ſich habe. In geſchäftlichen
und weltlichen Dingen ſinds die ehrlichſten und vernünftigſten Leute, 0
in der religiöſen Abteilung ihrer Gehirne ſiehts trüb und wirr aus. Von
den achttauſend ſind bloß fünfunddreißig wirklich wahnſinnig. Mit dieſen,
ſoweit ſie nicht in Brandon im Irrenhaus ſitzen, ſondern frei in den Dör—
fern hauſen, haben die anderen ihre liebe Not. Wenns keine beſondere Ver—
anlaſſung gibt, wies damals im Winter eine gab, fängt es regelmäßig im
Frühjahr in dieſen Köpfen zu rumoren an. Da wirft zuweilen auf dem
Felde mitten während der Arbeit einer fein Gerät hin, reißt ſich die Kleiden
vom Leibe und beginnt in Zungen zu reden. Die übrigen — wenn ſie der
Wahnſinn nicht ſchon angeſteckt hat — packen dann den Propheten zu-
ſammen und ſtecken ihn mit dem Kopf ins Heu oder verbergen ihn irgend-
wo ganz ſicher, ſie ſelber wollen keine Kalamität mehr mit den Be—
hörden haben. Wenns aber zu arg wird und der Tobſüchtige nicht mehr
zu halten iſt, dann rufen die Kommuniſten ſelber nach der Polizei.
Anderthalb Dutzend der ihren ſitzt feſt im Irrenhaus in Brandon. Andere
haben ſechs Monate Gefängnis abgeſeſſen — Rückfällige gar zwei
Jahre ... Es find junge unter ihnen und ganz alte. Natürlich fördert
die Unwiſſenheit, in der fie dahinleben, dieſe Anlage in ihnen. Die Uns
wiſſenheit war auch ſchuld daran, daß ſie, noch vor Jahren, ihre Weiber
als Ackergäule vor den Pflug ſpannten und überhaupt die ſchwerſten Arbeiten
verrichten ließen (genau ſo ſollen es die Indianer vor der Ankunft der
Weißen gehalten haben!) Bis dann die Regierung ſich ins Zeug legte.
f
1
*
646
J
Jetzt haben ſie Maſchinen, aber doch noch arbeitet die Frau am härteſten
im Felde.
Sam will mich nach dem Dorf fahren, wo das Badehaus der Gemeinde
iſt. Einmal in der Woche reinigen ſie ſich im heißen Waſſer, nach dem
Gebot ihrer Religion. Die Sonne aber geht ſchon unter, ich verzichte und
werde das Badehaus der Duchoborzen nicht mehr erblicken. Fahr heim,
ſage ich Sam. Und wir fliegen nach Verigin.
er Poſthalter hat mich zum Abendeſſen eingeladen und wie Sam vor
dem Store hält, ſehe ich drüben, jenſeits des Bahngleiſes, ein beleuch—
tetes und blumengeſchmücktes Automobil in das Häuſerviereck um das
Warenhaus der Kommunität einbiegen.
Von der Station, von allen Seiten her, laufen Leute dem Automobil
nach. Schon im Lauf nehmen ſie die Hüte ab — ich errate, quelle chance!
g Verigin iſt es, Zar Peter iſt angekommen!
So raſch ich kann, mache ich dort hinüber. Wie ich drüben bin, ſteht
eine e Menſchengruppe auf dem Platz zwiſchen den Häuſern, die Männer
mi Dioden Kopf, alle in einer Haltung, als wären ſie in der Kirche dahier.
Vor ihnen ſteht ein großgewachſener, ſtämmiger Mann, auch er hat den
Hut in der Hand, wie die Menſchen, zu denen er ſpricht. Ich ſehe ſeinen
breiten Rücken, aber ich kann vom Platze, an dem ich ſtehe, nichts davon
hören, was er ſagt. Ich würde es ja auch nicht verſtehen, er ſpricht Ruſſiſch.
Er erzählt den Duchoborzen, was er in Britiſch-Kolumbien ausgerichtet
hat. Er bringt ihnen Grüße aus dem Kootenaytal. Hie und da verneigen
ſie ſich, ſehr tief, voreinander, der Mann vor der Menge, die Menge vor
dem Mann. Es wird ganz dunkel, der Mond kommt irgendwo herauf, ich
ſtehe wie ein Reporter im Mondenſchein und warte auf die Gelegenheit,
mich dem Zaren zu nähern. Ich gehe um die Gruppe herum und kann
etzt im Schein eines beleuchteten Fenſters dem Sprechenden ins Geſicht
blicken.
Es iſt der Ausreißer aus dem Brandoner Schnellzug.
Herrgott, ſollten alle dieſe Anklagen, die ich heute von fünf, ſechs, ſieben
verſchiedenen Seiten gegen dieſen Menſchen habe vorbringen hören, falſches
Geſchwätz, Neid und giftige Nachrede ſein? Am Ende und im Grunde iſt
dieſer da weiter nichts als ein Fanatiker von reinem Waſſer, ein naiver
Draufgänger und Geſichteſeher, Stimmenhörer und in praktiſchen Dingen
ein verbohrter Bauer? Dieſer ruſſiſche Märtyrer, der um ſeines Glaubens
willen barfuß durch Sibirien gehetzt worden, in der Schlüſſelburg und Orel
und der Paulsfeſtung gequält worden iſt und jetzt im Automobil daher—
gefahren kommt, drei Millionen wert iſt, vor all den anderen rund um ihn,
die nichts haben und nichts wiſſen, weil er es ihnen nicht erlaubt!
647
Nach langen und tiefen Verbeugungen trennt ſich der Redner von den Ducho⸗
borzen. Dieſe ſtehn noch eine Weile aufgeregt miteinander redend auf dem
Hof, der jetzt ganz in Nacht gehüllt iſt.
Ein Mann mit einer Laterne kommt an mich heran. Er iſt der Sekretär,
der mit Verigin aus Vorkton eben angekommen ift. Er hat gehört, ich habe
einen Brief an ihn, er muß nur erſt das Automobil verſorgen, dann kommt
er zu mir ins Bureau.
Die Duchoborzen ſtehen da und hören mit ehrerbietigen Mienen das
wüſte Geknatter an, mit dem die angekurbelte Maſchine auf ihren Gummi⸗
rädern rücklings in die Scheune hineinfährt.
Im Bureau bringe ich dann mein Anliegen vor. Ich möchte, da ich
ja jetzt die Chance habe, Herrn Verigin hier anzutreffen, an ihn zwei, drei
kurze Fragen ſtellen über die Community, am liebſten heute noch, ſollte er
aber von der Reiſe zu müde ſein, ſo morgen früh. Um neun will ich morgen
nach dem Weſten weiter.
Der Sekretär iſt müde, aber gutwillig. Ich ſehe es ihm an und uns
ihm nicht verdenken, daß er mich heim zum Müller und ſich in ſein Bett
wünſcht, von Norkton ſind's ja gut acht Stunden Ane
Verigin.
Ich möchte alſo, wie geſagt, einiges über das wirtſchaftliche Prinzip des
Kommunismus, unter dem die Duchoborzen hier leben, zu hören bekommen.
Der Sekretär läßt ſich das Wort communism, das ich ja ganz gut und
deutlich ausſpreche, einigemal vorſagen und zuletzt bittet er mich, es ihm auß
ein Papier aufzuſchreiben. Ich ſchreibe alſo mit großen Buchſtaben das
Wort
„communism“
auf ein Stück Papier. Der Sekretär ſieht das Wort an, dann mich. Er
verſteht uns beide nicht, nicht das Wort und mich auch nicht. Er weiß,
was Community iſt, er iſt ja angeſtellt bei ihr, aber was communism be
deutet, weiß er nicht, hat nie davon gehört.
Ich ziehe mein Notizbuch hervor und mache mir eine Notiz: „Sekretär
kennt Bedeutung des Worts communism nicht“. Plötzlich wird der
Sekretär munter. Er legt ſeine Hand auf meine Schulter und will jene
eine Auskunft von mir haben. 1
Ich ſoll ihm erklären, warum ich in meinem Notizbuch die Blätter nur
auf der einen Seite beſchreibe? 1
Ich erkläre ihm dieſen Trick, dieſe techniſche Spitzfindigkeit. Darauf ä
begibt er ſich, gähnend und todmüde, mit dem Zettel, auf dem 4
„communism“
geſchrieben ſteht, hinüber ins Nachbarhaus zu Peter Verigin. 7
Nach einer Weile höre ich, daß mir die Audienz für morgen früh um
648
acht bewilligt fei, und fo bin ich nächſten Morgen um acht, meine Hand—
taſche auf dem Boden neben mir, wie ein Reporter in der Morgenſonne, zur
Stelle und warte auf Peter Verigin. — Er iſt mit dem Automobil auf
dem Lande herum und es wird halb und dreiviertel neune. Endlich erſcheint
das Automobil am Horizont.
Verigin kommt, vom Sekretär geleitet, auf mich zu, und ich ſehe: er
erkennt in mir auf den erſten Blick, mit einem kleinen Aufzucken der
Augenbrauen, den einen von den beiden wieder, die ihn hinter Brandon
verhindert haben, aus dem Zug zu ſpringen.
Über ſein großes, offenes Geſicht geht die Unruhe ſchnell dahin, dann
bittet er mich burg den Sekretär, der ſein Dolmetſcher iſt, die Fragen zu
ſtellen. —
„Halten Sie es für durchführbar, daß heute in einem ſtaatlichen Orga—
nismus Menſchen unter dem wirtſchaftlichen Prinzip des Kommunismus
be eiſammenleben?“
E ntwort: „Der Kommunismus, unter dem die Duchoborzen beiſammen—
»
5
leben, iſt kein wirtſchaftliches Prinzip. Er iſt ein religiöſes und kein ſoziales
Prinzip. Wir alle arbeiten für Gott und nicht für uns ſelber, darum be-
währt ſich das Syſtem.“
„Befürchten Sie nicht, daß die Regierung eines Tages den Stand der
Dinge ändern und Ihnen nahelegen wird, in den Verband des Landes
einzutreten und ſich Kanadier zu nennen mit all den Verpflichtungen, die
das mit ſich bringt?“
„Wir ſtehen ſehr gut mit der Regierung und haben eben im Kootenay
das größte Zuvorkommen gefunden.“
„Haben Sie Briefe von Tolſtoi, aus denen man ſeine Anſchauungen
über Ihre Stellung als Führer der Duchoborzen erfahren könnte? Sind
dieſe Briefe jemals veröffentlicht worden?“
„Herr Verigin war mit Tolſtoi befreundet und beſitzt Briefe von ihm,
die ſich auf die Duchoborzen beziehen, betrachtet ſie aber als Privatbriefe.“
„Wie erklären Sie ſich, daß es unter den Duchoborzen jetzt ſo viele gibt,
die von der Kommunität, alſo von ihrem alten Glauben abfallen und es
vorziehen, ihre Exiſtenz auf eigene Fauſt aufzubauen?“
Antwort: „Herr Verigin fürchtet, Sie werden Ihren Zug verſäumen.“
Tiefe Verbeugung. Automobil ab.
o verlief mein erſtes Intervien mit einem Mächtigen der Erde.
| Ich hatte noch einige Fragen vor, darunter die: ob es die Religion
denn zulaſſe, daß Menſchen die Erde Gottes von anderen Menſchen kaufen
und an andre Menſchen verkaufen, wie ein Ding, das ihnen gehört?
Aber, wie geſagt, das Interview war zu Ende.
42 649
Ich habe auf meinen Zug, der Verſpätung hatte, noch drei Viertelſtunden
lang gewartet. Peter Verigin fuhr derweil weit, weit draußen in ſeinem
blumengeſchmückten Automobil den Horizont entlang auf ſein Gut Otradnoe
zu, acht Meilen weit von der Station, die nach ihm Verigin heißt und im
nördlichen Saskatſchewan gelegen iſt.
*
Begegnungen mit Indianern
Berg, Strom, Wald, Fiſch und Wild,
Alles Roter Mann.
Weißer Mann kommt, mit ihm großer Rauch,
Roter Mann gibt Weißem Mann Alles.
Weißer Mann gibt Rotern Mann Hölle.
(Großes Offenes Herz.)
1 4 gerade darum, weil die Indianer ein ſo ſchwer ziviliſt erbares Natur⸗
volk find, ſtellen fie ein ſolch ſympathiſches Wunder im neuen Welt⸗
teil vor. Sondern darum, weil alles rings um dieſes ſtolze, beraubte und
mißhandelte Volk herum ſich der modernen Ziviliſation erfreut und der In⸗
dianer es vorzieht, in feinen Bergen und Gebüſchen elend n zu gehen.
Darum hat der Indianer auf irgendeine Weiſe ſich die Liebe der Menſchen
erworben, die die Erde lieben, die aber die Ziviliſation einigermaßen 1
gemacht hat.
Man darf von den Indianern nicht als von einem vertierten und ver⸗
lorenen Volk reden. Man braucht ſich nur die Kunſt und die traditionellen
Kunſtformen dieſes Volkes anzuſehn, um den ganzen Abſtand ihrer uralten,
ſicherlich ſchon längſt vor dem Kommen des Weißen dem Verfall geweihten
Kultur, zu dem, was wir ſo benennen, zu ermeſſen. Man braucht nur ein
paar gute Exemplare der Raſſe ſich anzuſchauen, um eine Vorſtellung davon
zu gewinnen, wie dieſes Naturvolk in der Freiheit beſchaffen ſein mochte.
Ein amüſantes Erlebnis iſt mir in Niagara Falls, ein anderes in Caugh⸗
nawaga bei Montreal widerfahren; in beiden Fällen hats mit einer Blamage
geendet, aber ſieht man nur genauer hin, ſo waren gar nicht die, die ſich
blamierten, die Blamierten.
Bei Niagara Falls, im nordweſtlichſten Winkel des Staates Newyork,
ſind die Tuskaroras zu Hauſe, ein total verkommener, das heißt gänzlich
ziviliſierter Indianerſtamm von kleinen katholiſchen Kartoffelbauern. Ich
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4
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blieb in der Niagaraſtadt vor einem der zahlloſen Laden ſtehen, die mit MM
„Indianer⸗Curios“ und Poſtkarten handeln, und ſah mir den billigen, für
die Sonntagstouriſten in Fabriken hergeſtellten Schmarrn an. Dann ging
ich in den Laden und frug nach dem Preis der Dante-Büſte aus Gips, 4
die inmitten der Mokaſſins, bemalten Häute, kleinen Holzkanoes und ge⸗
fiederten Kopfbedeckungen im Fenſter hecumſtand. So nebenher erkundigte
ich mich bei dem Ladenbeſitzer, was die Bis Denn vorſtelle? (Es war eine
Verkleinerung der bekannten Dantebüſte der Renaiffance aus dem Muſeum
650
zu Neapel.) „Das ift der große Häuptling Rote Wolke,“ ſagte mir der
Herr des Ladens
Und wirklich, wollte man die Blasphemie begehen, die Büſte, ſo wie ſie
iſt, zinnoberrot anzuſtreichen und rechts und links von den Schläfen hinunter
zum Kinn drei gelbe Zickzacklinien drüber zu malen, was für ein feiner
Indianerkopf!
Das andre Mal aber habe ich mich blamiert. ö aga, am rechten
Ufer des St. Lawrence, gegenüber von Montreal gelegen, iſt eine Reſervation
von Irokeſen⸗Indianern. Die ebenfalls katholiſch und zahm gewordenen
Bewohner ernähren ſich durch Arbeiten an den Damme und Elektrizitäts-
5 3 ſchlecht, recht und kümmerlich, jedenfalls ebenſo elend wie die elend⸗
4 der Proletarier. Ihre Frauen ſitzen bei den Fenſtern und machen graus-
e blaue Tuchtauben, alle dieſelbe Taube, der, niemand weiß warum, drei
rote Tuchkirſchen aus dem Schnabel baumelen. Damit es nur ganz klar
N erſi tlich ſei, was das Ganze vorſtellt, ſo ſticken ſie den Ausgeburten ihrer
= liſchen Phantaſie noch das Wort: BIRD auf den Bauch — ich fah
ſofort ein, hier war für mich nichts zu holen. Gelangweilt ſtarrte ich in all
die offenen Fenſter | hinein. Da waren Männer und Frauen, die kein Wort
ngliſch oder Franzöſi ſch verſtanden, in einem unbekannten Idiom ſich
miteinander unterhielten, alle hatten unter ihren, beim Trödler gekauften
ſchmutzigen Lumpen das katholiſche Duckmäuſergeſicht vom jenſeitigen
Ufer ſitzen.
Endlich — vor einem Häuschen am Rand des Dorfes, ſtockten meine
Schritte. Was ich dort vor dem Häuschen ſah, vor dem Tor, mitten vor
dem Eingang, ſo wie es die Tradition wollte, war ein roh bemalter Pflock —
eine Säule von Holz, nicht mit Tierköpfen bemalt, wer hätte das auch von
dieſen armſeligen Caughnawagern erwartet, aber immerhin ein geſchnitzter,
roh bemalter Holzpflock — der erſte leibhaftige Totempflock, der mir auf
meiner Reiſe begegnete!
Im Häuschen war niemand, es war zugeſperrt, aber der Pflock hatte
mir Mut und Intereſſe wiedergegeben und ich frug mich im Dorf bis zum
Hauſe des Maire durch.
Un es raſch heraus zuſagen, der Maire, ein Halbblut-Irokeſe, wußte
nichts von einem Totempflock in ſeinem Dorfe. Ich erklärte ihm, wo die
Hütte ſtehe, vor dem ich den Pflock geſehen habe. Es war die Hütte des
Blarbiers, und der Totempflock war der bemalte Stock, den die amerifani=
ſchen Barbiere vor ihren Läden haben, nun, reden wir weiter nicht darüber ...
Es wäre ganz überflüſſig geweſen, mit dem Maire über die romantiſchen
1 bee 0 die ſich ein Europaer über die erſte wirkliche Indianerreſerva⸗
tion macht, die ihm begegnet, zu diskurieren. Der Maire wußte mir über
2 die Gebräuche und Sitten der Irokeſen dahier weiter nichts zu berichten,
1 651
5
als daß fie fleißige und tüchtige Arbeiter find, ſich ſchlecht und recht durchs
Leben ſchlagen und alle Sonntage brav in ihre Kirche gehn. Dann fing er,
natürlich, an, mich über die Möglichkeit eines Krieges zwiſchen Deutſchland
und England auszufragen. Worauf ich dieſelbe Antwort gab, die ich in
Klubs und General-Stores und allen möglichen Lokalen Kanadas ge⸗
geben habe.
Der Maire ſaß da, in ſeinem Holzhaus, in ſeinem Salon, der wie eine
gute Stube in Berlin-W. eingerichtet war, rechts ein Rokokoſeſſel, links ein
gotiſches Buffet, Axminſterteppich und Kelim-Portiere, ein Neunzigpfennig⸗
gobelin mit einer Watteauſzene über der Tür, auf einem Vertikow falſches
Meißner Porzellan und an der Wand ein Oldruck des Königs Eduard.
Er ſaß da, dieſer Irokeſe, auf der Höhe der Ziviliſatio ſaß er da und hatte
Angſt vor der deutſchen Armee. a
Es viele Wochen ſpäter, im Innern Kanadas, bin ich der erſten wirk⸗
lichen Rothaut begegnet, auf der Station Hobbema zwiſchen Edmonton
und Calgary. Es war ein prächtiger alter Kerl vom Stamme der Bob—
tails, wie ein altes roſtiges Stück Eiſen anzuſehen, mit kleinen ſchwarzen
Zöpfchen bezottelt, mit Muſchelohrringen und einem Perlenhalsband ge-
ſchmückt. Der Zug hielt nur eine Minute, aber für dieſe eine Minute
hätte ich ihm am liebſten einen Dollar geſchenkt, ſo ein feiner alter “er
war es.
Ich bin in vielen verſchiedenen Reſerven geweſen, bei den Sarcees in
Alberta, bei den Stoneys in dem Felſengebirge, in der Squamifh-Referve,
in Nord-Vancouver, die intereſſanteſte aber war die der Sarcees bei
Calgary.
In Ottawa, im Miniſterium des Innern, hatte ich einen Empfehlungs⸗
brief an die ſämtlichen Indianer-Agenten in den Reſerven Kanadas mit⸗
bekommen, aber der Zugang zu den Reſerven iſt auch ſo, wenn man den
Rothäuten mit einem „Greenback“ winkt, die leichteſte Sache der Welt.
Wir fuhren, ein junger Norweger, der mit Grammophon, Kinematographen⸗
kaſten, Leinwandzelt und Schießgewehr die Gegend heimſuchte, eine Amazone
aus Calgary und ich, eine ganze Weile, zwiſchen dem Gebüſch, das die Reſerve
der Sarcees bedeckt, herum, die wunderbar klare, friſchbeſchneite Kette der
Rockies vor den Augen, ehe wir eine menſchliche Niederlaſſung zu ſehen
bekamen. Ein paar alte Sarcees fuhren mit Holz auf ihren Leiterwagen
und mit ihren fetten Squaws auf dem Holz in die Stadt. Des Norwegers
Begrüßung: „Miasin-Kisiko!“ das heißt „How-do-you-do?“ konnten fie
nur mit einem blöden Blick des Kannitverſtan erwidern. Die Worte
gehören der Cree-Sprache an, die Sarcees ſprechen ihre eigene.
Wenn die Indianer ausgeſtorben ſein werden, ſo werden ein paar hundert
—
PPP
— en — — ee — —
652
Sprachen — und Gott weiß wie viele wunderſchöne Legenden! — mit
ihnen aus der Welt ſein, denn ſo etwas wie ſchriftliche Aufzeichnungen
haben ſie nicht.
In Vancouver habe ich mir ein amüſantes Büchlein angeſchafft, ein
Wörterbuch des Chinook-Jargons, der von den Fellhändlern bei den Alaska—
Indianern zuſammengeſtellt worden iſt. Aber ſchon tiefer, an der Küſte des
Atlantic, in Vancouver, verſteht kein Indianer mehr den Jargon der nörd—
lichen Brüder; meine Verſuche, mich durch das Wörterbuch mit den
Squamiſhs zu verſtändigen, ſchlugen ganz und gar fehl. Dieſe Vielfaltig—
keit ihrer Sprache, durch die Diſtanzen der Wohnorte und die Feindſeligkeit
der Stämme hervorgerufen, iſt auch der Grund, weshalb mir in der Bibel—
ellſchaft, die doch das Neue Teſtament in faſt alle Sprachen der Welt
überſetzt hat, geſagt wurde, es gäbe keine Indianerbibel. Erſt jetzt, fo hörte
* ich, wird ſie von einem Miſſionar ins Chinookiſche überſetzt. Amen und all
er. tight haben dieſelbe Überfegung — kloshe kaakwa!
| ir fahren alfo durch das Gebüſch in der Reſerve herum und ſchauen
nach menſchlichen Niederlaſſungen aus, in der weiten, von einem Drahtzaun
umgebenen Einöde. Im Süden ſteigt Rauch zwiſchen den Büſchen auf,
und da ſehen wir auch ſchon eine Gruppe von Zelten ſtehn.
Drei, vier Zelte ſtehen in einer kleinen Rodung da, die Bewohner des
einen ſind gerade dabei, ihr Zelt abzubrechen und auf einen Karren zu laden.
Eins — zwei — drei, iſt die Leinwand von den Stäben herabgewickelt, die
Stäbe aus der Erde geriſſen, Bettzeug, Ofen, Kind und Kegel auf den
Karren geladen. Das Pferd zieht an und eine Stunde ſpäter ſteht das
Zelt, die Tepeeh, eine Meile weit weg im Feld aufgerichtet. Was am alten
Wohnplatz zurückblieb, iſt ein Haufen von Knochen, Unflat, namenloſem
Schmutz und Gerüchen. Immer, wenn ſie einen Ort bis zur Unmöglich—
keit verunreinigt hat, zieht die Familie mit ihrer Tepeeh davon und die Er—
innerung an ſie fault in dem Sonnenlicht.
Raſch kaufen wir, was zu kaufen wert iſt, die Indianer verkaufen uns
ihre Halsketten, Gürtel, geſtickten Schuhe und Gamaſchen warm von ihrem
Leib herunter, ſie ſind daran gewöhnt, eigentlich leben ſie davon.
Das iſt ein armes und armſeliges Volk und zur Arbeit zu faul und zu
entnervt. Der Staat zahlt ihnen, einmal im Jahr, durch die Indianer—
Agenten, eine lächerliche Summe aus, nicht mehr als vier Dollar für jeden
Erwachſenen, einen fürs papoose, den Säugling.
Mit ihren Stickereien, mit allerhand Schauſtellungen, Tänzen und der—
gleichen betteln ſie ſich in den Städten und auf dem Lande von den Leuten,
die zu ihnen kommen, die Groſchen zuſammen, die ſie vor dem abſoluten
Verhungern bewahren. (Natürlich gibts Reſerven, in denen die Indianer ſich
ſelbſt erhalten, durch Arbeit auf dem Feld, in Werken, wie ich das in
653
Caughnavaga ſah, durch Abholzen ihrer Reſerven, Fiſchfang und Jagd.
Die Regierung fördert ſie bei dieſer Arbeit, wie ſie kann, durch die Agenturen.)
An einem Stock in der Tepeeh hängt ein Fetzen rotes Fleiſch, es iſt der
aufgeriſſene Leib eines Feldhamſters, eines Golfers; davon leben ſie. Eine
Blechbüchſe mit Brot, Zucker und Tee ſteht in einer Ecke, ein Kind auf
dem Boden hat den Kopf ganz in eine verroſtete Konſervenbüchſe vergraben.
Daß man ihnen keinen Schnaps verkauft, iſt ihr großer Schmerz.
In den Bars der weſtlichen Städte, in deren Nähe Indianer ihre Reſerven
haben, kann man auf Tafeln leſen:
„Verboten
iſt es, Getränke zu verkaufen: an Minderjährige, Betrunkene und Indianer.“
Das Geſetz beſtraft den Weißen, der dem Indianer einen Fingerhut voll
Alkohol verkauft, mit ungewöhnlich hohen Strafen. In der Geschichte 4
Amerikas findet man ja den langwierigen Krieg gegen die Liquor-traders,
die profeſſionellen Händler, die die Indianer mit Alkohol für ihre Räu⸗
bereien gefügig machten. Hie und da verſchaffen ſich die Rothäute natür⸗ 4
lich doch eine Flaſche oder ein paar. Dann heben große Orgien an, mit
Unzucht, Mord und Totſchlag, Brandſtiftung und Amoklaufen. Der
Indianeragent hat ſich bei ſolchen Gelegenheiten ſeiner Haut zu wehren,
ſein ohnehin nicht ſehr beneidenswerter Beruf wird ziemlich ungemütlich,
wenn Alkohol in der Nähe iſt.
Seit der Kodak erfunden wurde, gehts ihnen ein bißchen beſſer. Sie
laſſen ſich, wie die Mohammedaner, nicht gern photographieren. Im
Anfang werden fie ſich wohl auch ein bißchen vor der Höllenmaſchine ge⸗
ängſtigt haben. Aber für wenige Cents verkaufen ſie ihre Angſt und ihr
Vorurteil. Jetzt, da wir unſeren Apparat auf ſie richten, rennen ſie durch
die Heide davon und ſchreien auf der Flucht zurück:
„How much!“
Einer ift da unter den Sarcees, mit dem wir uns verſtändigen können.
Es iſt ein hübſcher Burſche von 15 Jahren, offenbar Halbblut, Krähen⸗
kind mit Namen, Bertie Crowchild. Wie er auf Indianiſch heißt, vermag
er uns nicht zu ſagen. Er weiß nur zu berichten, daß er ſeinen Namen
ändern wird, wenn er mal heiratet. Dann wird er ſelber einer vom Stamm der
Krähen werden, Bertie Crow bis dahin iſt er das Kind eines vom Krähenſtamm.
Bertie ift Methodiſt. In dem blauen Buch, das ich in Ottawa mit⸗
bekam, ſteht zu leſen, daß von den 211 Indianern der Sarcee⸗Reſerve noch
133 Heiden find. Eine Stunde weit von Calgary, einer der größten Städte
Kanadas, hauſen noch 133 Indianer in den Gebüſchen, die den alten
Glauben an den großen Häuptling und die vier Löcher im Himmel bewahrt haben.
Wie wir da ſtehen und mit den Leuten unterhandeln, kommt eine ſonder⸗
bare Gruppe durch das Buſchwerk zu uns herbei.
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Ein alter Mann mit langen weißen Haaren. Er hat auf dem Kopf
einen alten löchrigen Hut mit einem Kranz von rötlichem Feldgras rund—
herum. An ſeinem linken Arm iſt mit einem Streifen Fuchsfell eine
große, runde, ganz verroſtete Eiſenplatte befeſtigt, in der Platte find fünf
Buckel und zwei Löcher. Der Alte iſt blind und ein kleines Mädchen führt
ihn an einem langen Stab, deſſen Ende es in ſeinen Händchen hält. Am
andern Ende des Stabes folgt ihm der alte Mann durch die Heide.
Dies iſt Natschuka der Medizin⸗Mann. Da kommt er durch die Büſche
her mit ſeiner Medizintaſche um die Schulter, das cauſendfach verrunzelte
Geſicht mit den erloſchenen Augen iſt zur Herbſtſonne in die Höhe gekehrt.
Er iſt der Alteſte des Stammes. Als wir ihn fragen, Bertie iſt Dolmetſch,
wie alt? antwortet er mit Schütteln der Hände. Wir zählen 66, aber er
iiſt mindeſtens 90 alt, hat wohl mit 66 aufgehört, weiterzuzählen.
Gegen das Pholographiertwoerden hat er nichts. Wir verſprechen ihm
Geeld und da ſteht nun der Alteſte feines Stammes, der Mann der großen
132 der Mann, der die vier Löcher ins Firmament geſchnitten hat kraft
ſeeiner Zaubergewalt über die Elemente. Mit feinem Hut auf dem Boden
hinter ſich, ſteht er da, zwiſchen einer Real-Eſtate-Tochter und einem her⸗
gelaufenen Schreibergeſellen und läßt ſich von dem Polarforſcher füt Geld photo⸗
graphieren. Aus den Tepees blinzeln ſchmutzige Squaws zur Sonne her⸗
aus, eine hat ihr Papooſe im Arm, das Wurm iſt mit Tüchern an ein Brett
gebunden, es iſt ein ganz hellhäutiges Wurm.
Wo iſt unſer Bertie hin? Er ſollte doch mit aufs Bild kommen? Wir
ſuchen überall nach dem Krähenkind, ergehen uns in allerlei Vermutungen.
Hat wer ihn beleidigt? Oder iſt es wegen des Geldes? Vielleicht hat er
ſeine Bedenken gegen das Photographiertwerden?
Endlich, wie der Chauffeur ſchon die Kurbel andreht, erſcheint Krähen—
kind vor einer Tepee. Was gabs?
Das Sprechen, das Zuhören hat ihn angeſtrengt. Er hat ſich eine halbe
Stunde lang in ſeiner Tepee auf die Matratze legen müſſen, war ſehr krank.
Und wir haben doch ſo leiſe wie möglich mit ihm und den anderen ge—
ſprochen. Man kann ſich überhaupt ſchwer einen Begriff davon machen, wie
fein und höflich und leiſe dieſe „Wilden“ miteinander reden und verkehren!
Wo iſt dieſem müden, erſchöpften, in weniger als hundert Jahren rui—
nierten Volk zu helfen?
Im Blaubuch, das man mir m Ottawa mitgab, ſteht die Geſamtzahl
der kanadiſchen Indianer, einſchſießlich der Eskimos in den nordweſtlichen
Territorien und dem Yukon vom März 19 10 mit rund ıı1 000 Seelen
verzeichnet. Die Zahl iſt im letzten Jahr um rund 500 Seelen zurück—
gegangen. (Tuberkuloſis iſt die Krankheit des Indianers.)
655
Hie und da wird eine Reſerve „aufgemacht“, d. h. die Einwohner haben
ſie entweder aufgegeben, oder ſie ſind weggezogen oder ausgeſtorben. Dann
kommt, wenn ſich die Reſerve in guten, ertragreichen Gegenden befand, das
jungfräuliche Land in die Hände des weißen Farmers. Es iſt ein großes
Ereignis im Lande — zur Zeit meiner Reiſe wurde eine ſolche Reſerve in
Wisconſin aufgemacht und die Zeitungen brachten ſpaltenlange Berichte
über den Beneidenswerten, auf den bei der Verloſung des Bodens das ſaf—
tigſte Stück gefallen war.
Ein ganzes Heer von Staatsbeamten verwaltet auf den Hunderten von
Reſerven und in Ottawa die Angelegenheiten des ausſterbenden Volkes.
Schulen, Hoſpitäler, Kirchen für die Indianer beſchäftigen ein weiteres
Heer von Weißen, die Geſamtſumme der Gehälter dieſer Heere betrö
viele Hunderttauſende von Dollars. ;
Wie ſchon berichtet, gibts in den getreide-, holz- und jagdreichen G
den viele Tauſende von Indianern, die ſich felbft erhalten, self-supporters.
Dieſe braucht der Staat natürlich nicht zu unterſtützen, und dadurch ergibt 9
ſich die amüſante Tatſache, daß der Staat die Drohnen mit feinen Kopf
prämien füttert. 3
Ein Herr im Nelſon-Klub, Britiſch-Kolumbien, ehemaliger Beſitzer der A
altberühmten Cockton⸗-Ranch, die 1oo000 Acker groß, am Rande von
Alberta und den Süßgras-Bergen Montanas gelegen war (ein ehemaliger
Cowboy, jetzt Stütze der Chriſtian Science) hat mir ſehr merkwürdige Dinge
von ſeinen Erfahrungen mit dem wilden Stamm der Bloods erzählt.
Dieſer Stamm lebte an den Grenzen ſeiner Ranch, als die Miſſionäre
grade begonnen hatten mit der Rettung der Ungläubigen.
Ehe die Weißen kamen, war der Indianer Gentleman. Er wärs gewiß
heute noch, wären die Weißen nur auch Gentlemen geweſen. Die Bloods
waren von jeher eine der gefürchtetſten, kriegeriſchſten Raſſen, aber ſolang
der Weiße ſie in Ruhe auf ihre Büffel jagen ließ, taten ſie dem Weißen
nichts. Sie waren verläßlich, in Ehrenſachen, Geleit- und Geldſachen
konnte man ſich auf fie verlaſſen. 50 Meilen kam einer herangeritten, um
ein paar Dollars zurück zu bezahlen, die ihm geliehen waren. Ihre Ge—
bräuche glichen denen der Ritter im Mittelalter, mit Ausnahme des Frauen
kultes. Kein Indianer hätte ſich herabgelaſſen, ſein Pferd ſelber zu
zäumen, Kriegsſchmuck oder Jagdkleid ſelber anzulegen, kein Junge, ſein
Schildknappe war dazu da. Wenn der Büffel erlegt war, mußte die Frau
heran, ihm das Fell abzuziehen, das Fleiſch für die Nahrung zu bereiten.
Der Indianer rührte keinen Finger weiter, nachdem der Pfeil feine Schuldig⸗
keit getan hatte.
Erſt als die Weißen mit ihrem foul play Jagd auf Leib und Seele des
Indianers machten, mit Hinterliſt, Lügen und Schlichen und furchtbarfter
656
Grauſamkeit niedermetzelten, was ihnen mit der Friedens pfeife und reinlichen
Abſichten entgegentrat, da wurden die Gentlemen im Handumdrehen zu
Beſtien. Nach ihrer Unterwerfung verdarben die Miſſionäre an ihnen,
was noch zu verderben war, und heute iſt die Rothaut im Verkehr mit dem
Weißen ein Bettler oder Duckmäuſer und gewitzigter Betrüger.
Das Blaubuch führt als chriſtliche Glaubensbekenntniſſe unter den In—
dianern das anglikaniſche, presbyterianiſche, methodiſtiſche, kongregationa—
liſtiſche, baptiſtiſche und römiſch-katholiſche auf. Außerdem gibts unter
ihnen Mennoniten und Mormonen. In Wahrheit ſind ſie aber alle Heiden
geblieben. (Von den 1149 Bloods ſind 849 als ſolche angeführt.) Als
der Cockton⸗Rancher einen katholiſchen Geiſtlichen in ſeinem Kreis fragte,
wie viel Indianer er während der acht Jahre, die er für ſeinen Glauben
arbeitete, wirklich zum Christentum bekehrt habe — nicht die offizielle Zahl,
Menden die wahrhafte, innere, die Gewiſſenszahl — da antwortete der
Prieſter: er glaube, einen! Dieſer Prieſter hat in den acht Jahren wenig—
ſtens das Lügen nicht erlernt!
Bei den Stoneys im Felſengebirge habe ich dann einen Indianeragenten
kennen gelernt, ihn und ſeine Familie mir angeſehen, dieſe Menſchen, die
einen der merkwürdigſten Berufe ſich erwählt haben in unſrer heutigen Zeit.
Draußen, übers Feld, jagten ein paar Indianerfamilien vorbei, Mann,
Frau mit Papooſe auf dem Rücken, und ein kleines, ſiebenjähriges Mädchen,
alle auf einem Pferd ſitzend, durch den Herbſtregen aus den Gebüſchen gegen
die Berge zu. Mein Indianer, Moſes Wesley, kutſchierte mich in ſeiner
Rig auf der Reſerve herum. Der Häuptling, mit dem feinen Namen
Jonas Two-Youngmen, war nicht in feiner Tepee, ſondern beim Heuen,
das war ſchade, denn was übrig blieb, ſtreckte allerhand geſtickte und ge—
ſchnitzte Sachen zum Verkauf hin und war in anderen Angelegenheiten
nicht zu ſprechen. Wir fuhren alſo bald ins Haus des Agenten, am Fuß
eines Berges hin. —
Die Frau des Agenten hat in den 25 Jahren, die die Familie nun unter
den Indianern, in allen Teilen der Dominion, verlebt hat, eine der ſchönſten
Kollektionen von allerhand Perlenarbeiten, Steinäxten, Kriegsſchmuck, be—
maltem Leder und Medizinbüchſen zuſammengebracht.
In ihrem warmen, behaglichen Haus, das voll iſt mit altem, guten
engliſchen Hausgerät und Silberzeug, wie man es in den Büchern der
Brontés und Jane Auſten beſchrieben finden kann, wartet fie auf einen
Käufer für ihr indianiſches Muſeum. Mit den Indianern hat die Familie
während dieſer 25 Jahre nicht anders als durch die großen Bücher drüben
im Bureauhaus verkehrt. Daß es Menſchen ſind, die da draußen um das
Haus herum wohnen, die die zum Teil wunderherrlichen Kunſtwerke aus
Leder, Stein und Perlen hergeſtellt haben — das kann ich aus den Ge—
657
ſprächen der ſchottiſchen Familie nicht herausfinden. Am beſten gefallen
ihnen ein paar Stickereien, die die Indianerweiber von ſchlechten modernen
Chintzes und Kattunbettdecken herunterkopiert haben. Die guten traditio⸗
nellen Zeichnungen der alten Kunſt zeigen zickzackförmige, mäanderförmige,
parallellinige Muſter in den aparteſten Farbenzuſammenſtellungen: dunkel⸗
rot, ſchwarz und gelb; weiß, lila und ultramarin; hellgrau, ſchwarz, grün
und weiß. Dieſe neuen Zeichnungen aber, von denen die Schotten dahier ſo
entzückt ſind, ſtellen bunte, ordinäre Roſen auf Stengeln, plump und ohne
jedes Farbgefühl, ſklaviſch kopiert und ſchlecht zuſanmengenäht dar. Seit
25 Jahren wohnt die Familie des Agenten mit den Indianern beiſammen
und verſteht doch nicht das Geringſte von dem Indianer. j
Wahltag in Sheepereek
n dem verhängnisvollen Tage, an dem es ſich entſcheiden ſoll, ob Kanada
für oder gegen die Reziprozität mit der Union iſt, bin ich oben in den
Bergen, in einem Goldminenlager an der Grenze von Britiſch⸗-Kolumbien
und der Staaten Waſhington und Idaho, meilenweit weg von der
Eiſenbahn. .
Daß es fo wild und wüſt ausfehen wird, hier oben in Sheepereek, das
hätte ich mir denn doch nicht gedacht. In den Zeitungen bin ich wiederholt
ganzen Seiten mit Ankündigungen der „Townsite Sheepcreek“ begegnet.
Wie ich jetzt ſehe, ein glatter Betrug. Die Townsite Sheepcreek beſteht aus
einer Bretterbude mitten im Urwald, ich weiß nicht wie viele tauſend Fuß
hoch über dem Meeresſpiegel, aber ich weiß, vier wohldurchrüttelte Auto-
mobilſtunden Weges von der Station fort, die ſelber ſchon in beträchtlichen
Diſtanz hinter dem Rücken Gottes ſich befindet. 4
Herr Buckley, der Manager der „Queen“-Goldmine, löſt mir das Rätſel
der „Townsite“. Der Eigentümer der Bretterbude iſt der General- mer⸗
chant des Ortes und möchte gern eine Schanklizenz erhalten. Andrerſeits
aber iſt ein ähnlicher Schwindel mit Grundſtücken in Orten, die gar nicht
exiſtieren, hierzulande gang und gäbe. Als man hier in den Bergen Gold
fand, als der erſte Claim von einem Herrn, der jetzt als reiche Mann in
Nelſon ſitzt, in dem harten Boden abgeſteckt worden war, da kamen ſo⸗
fort die „Boom“ -Witterer, die hier fo etwas wie ein Cripple-Creek oder
Klondyke in Szene ſetzen wollten, kauften das wertloſe Land für einen Topf
Bohnen zuſammen und möchten es jetzt, da ſich ihre Spekulation als nicht
fo ſehr glänzend erweiſt, auf dieſe unſollde Art wieder losſchlagen.
Herr Buckley iſt ein perſönlicher Gegner des Saloon-Projekts hier oben
in den wilden Bergen, er weiß wohl warum. Che er auf feinen iſolierten
und unbehaglichen Poſten hierher als Uufjeher der Goldgräber kam, war er
unten in Wisconſin Sheriff geweſen und kennt das Volk der Abenteurer
*
e
658
auf Bergpfaden und Landſtraßen genau. Schnaps hier oben, unter dieſem
Goldgräbervolk, das fern von allen Vergnügungen, von Weibern, von der
Eiſenbahn, zwiſchen den Gefahren des Innern der Erde und den Auf-
regungen des Kartenſpiels, feine Tage und Nächte zubringt, Schnaps in
Sheepereek bedeutet Schießerei, Disziplinloſigkeit, Ärgernis. Rundherum
auf den Bergeskuppen in ſtundenweitem Umkreis ſitzen ein paar hundert
verdurſtete Goldgräber auf der Nugget-Mine, der Motherlode, ein Saloon
hier mitten im Urwald gäbe eine nette Beſcherung.
Aber es läßt ſich nicht vorausſagen, wer am Ende gewinnen wird. Gehen
die leichtgläubigen Toren auf den Leim, oder bemächtigen ſich die leichtfer⸗
tigen Spekulanten Sheepereeks — wer wird denn perſönlich herkommen
ind ſich von der Wahrheit der Annonce überzeugen? ſolche Geſchäfte werden
blindlings beim Real Eſtate⸗Mann abgeſchloſſen! — dann können hier
8 wirklich noch ein paar Bretterbuden mehr aufſpringen und Alkohol und
Mord und Totſchlag dazu.
Gegenwärtig hält die Verwaltung ihre Leute ſtreng und wenn der Chauffeur
oder ein Holzkutſcher von der Station eine Flaſche Schnaps heraufſchmug—
geln, ſo fliegen ſie kopfüber aus ihrem Job heraus. Die Verwaltung macht
ſich dadurch bei ihrer Arbeiterſchaft nicht ſehr beliebt, aber die Mine zahlt
beſſere Dividenden.
KOch habe die Schaftſtiefel, die Bluſe und die Overalls des Präſidenten
x) angezogen und folge Herrn Buckley durch die Gänge der Mine. Der
Präſident ſcheint zum Glück ein Herr von angenehmer Körperfülle zu ſein,
ſonſt müßte ich mir meine eigenen Kleider ſchmutzig machen. Siebenhundert—
fünfzig Fuß unter dem Gebirgsbach, deſſen Namen die Gegend trägt,
dröhnt die Erde von dem Bohrer, den zwei graue, bleiche Männer, über
und über naß von umherſpritzendem Geſtein, bedienen.
„How dye do?“
Ein Querſchacht wird angebohrt. Ganz deutlich kann man, wenn man
die Kerze über den Kopf hält, die glitzernde neidgelbe Ader im Geſtein
laufen ſehen. Es iſt ein ergiebiger Schacht, der da aufgetan worden iſt.
Nicht alle ſind es.
Zuweilen wird ein Steingang drin im Berg abgeklopft und der Berg
äfft den Menſchen und wenn der Menſch ſich im Schweiße feines Ange-
ſichts abgemüht hat, da merkt er: der Berg hatte ihn zum beſten.
An ſolch einem tauben, augebohrten Croſſcut kommen wir vorbei auf
unſerm Weg durch die Mine Ein ſchwarzer Sack liegt vor feinem Eingang.
auf dem Boden. Herr Buckley leuchtet mit ſeiner Kerze hin und ſpricht:
Hier iſt er geſtorben.“
Ich weiß von der Gefchichte. Beſtern früh hab ich fie im „Daily Star“
« 659
gelefen. Sie ftand in unmittelbarer Nachbarfchaft der wichtigen Nachricht:
Der populäre deutſche Autor Herr So und So gedenke ſich nach dem
Goldlager bei Sheepereek zu begeben, um Lokalkolorit für weſtliche Er—
zählungen zu holen. Der tote Richard Heskett und der populäre Herr So
und So waren für einen Tag im Blättchen Nachbarn geworden, morgen
ſind wir beide vergeſſen.
Da ſtehe ich mit Buckley vor dem Sack. Ich habe meine Mütze vom
Kopf genommen, aber es iſt mir nicht gegeben, durch ein Zeichen, ein Kreuz
über Stirn und Bruſt die Ehrfurcht vor dem Tode auszudrücken. Da
ſtehe ich vor dem Sack, auf dem der Erſtickte gelegen hat, und denke an
meinen Schreibtiſch in Berlin. Ich fühle, grauſam wie es nur ein Menſch
fühlen kann, was das für ein Gewerbe iſt, das unſereiner treibt. Blut klebt
an meiner Neugierde, die mich durch den fremden Erdteil jagt und zu⸗
rück zu meinen Schreibtiſch jagen wird. Dasſelbe Blut, das andere füt 3
die harte Not ihres Lebens in Bergwerksgängen und auf Bahnſchienen
ruhmlos verſpritzen, klebt an meiner Neugierde, auf Schritt und Tritt, wo⸗
hin ich kommen mag. |
Der Kreuzſchnitt hat nicht gar weit ins Innere geführt. Als die Sprengung
vorüber war, und der Rauch, der Richard Heskett umgebracht hat, ſich vers
zogen hatte, da war der Irrtum klar, der Tod ſchaute aus dem Loch heraus,
ſonſt ſchaute dort nichts heraus. —
Eine Stunde lang marſchieren wir beide unten in den Gängen des
Goldes herum, ſteigen dann zur Sonne hinauf und gehen in die Mühle,
wo Mr. Buckley mir die ſchütternden waſſerüberſtrömten Tafeln zeigt, auf
denen das Steingeröll von den ſchwereren Goldkörnern geſpült und das
Gold rein gewaſchen wird. Im Retortenhaus nehmen wir drei ſchwere
ſilberne Apfel mit, es ſind Queckſilber⸗Apfel, die in ihrem Innern für Achte
hundert Dollars Gold eingeſchmolzen tragen. Dann gehen wir ins Block—
haus des Managers zurück, in dem ich heute und morgen als ſein Gaſt
wohnen werde.
m Blockhaus iſt Beſuch. Zwei ernſte Leute, wie Handwerker im Sonn⸗
tagsſtaat anzuſehen, warten auf den Manager. Es ſind die beiden
Brüder des toten Mannes Heskett.
Geſtern haben ſie die Leiche ihres Bruders in der Kreisſtadt beſucht,
heute ſind ſie hergekommen, um ſeine Habſeligkeiten an ſich zu nehmen. um
Nachmittag wollen ſie wieder weiter. 4
Mr. Buckley zeigt in eine Ecke. Dortliegt der Handkoffer, die Arbeitskleidung
und der Bettſack des Toten, eine blanke Spitzhacke lehnt daneben an der Wand.
Der eine Bruder durchſucht mit weinenden Augen den Koffer, findet
das Arbeitsbuch mit Verſicherungsmarken, eine kleine rote Kravatte, den
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Raſierſpiegel, die Bibel, eine Photographie. Der andere Bruder ſtarrt
wie hypnotiſiert auf die Goldwage, die unter ihrem Glasſturz auf dem
Zahltiſch ſteht.
ö „Wie ift das geſchehen?“
* „Er iſt zu früh ins Loch zurück, um zu ſehen, wie das Dynamit gearbeitet hat.
ö „Er hat hier in Sheepereek ſeine „Chance“ geſucht.“
„Schade, er war ein netter, ſauberer Junge, er war beliebt bei all den
anderen.“
„Wie hat man ihn gefunden?“
4 Herr Buckley taucht den Kamm ins Lavoir und zieht ſich vor dem
“ Spiegel einen Scheitel. „Er war noch ein bischen warm, wie man ihn ge—
funden hat.“
„Wie heißt der Coroner, der die Unterſuchung führen wird?“ fragt der
Bruder, der mit dem Handkoffer fertig geworden iſt.
„Dr. Packer, ein kleiner, dicker Raſierter.“
„Ich kenn ihn“, ſagt der Bruder.
Dann gehen wir ins Logierhaus zu den Bergleuten hinüber eſſen.
ei Tiſch iſt die Stimmung gedrückt. Ich ſitze zwiſchen Buckley und
den Brüdern und werde für einen Freund der trauernden Familie
gehalten. Erſt, wie die Brüder mit dem Wagen fort ſind, klärt ſich der
Irrtum auf. Die Stimmung wird etwas lebhafter, die Geſpräche gehen
durcheinander. Einer iſt da, der lacht und ſcherzt unentwegt und iſt guter
Dinge. Es iſt ein junger Menſch mit einem Mädchengeſicht, Mädchen—
bewegungen, der Gehilfe des Kochs. Als er hört, ich ſei aus Berlin, fängt
er an, von den Linden und der Friedrichſtraße zu ſchwärmen. Er hat ſich
zweimal rund um den ganzen Erdball gearbeitet in ſeinem jungen Leben.
„Wo hats Ihnen am beſten gefallen? In der alten Heimat?“ (Er iſt
Schotte, aus Glasgow.)
„Ach nein, in Frisco!“
Frisco — ein Seufzen, Ausrufen, zärtliches Hinflüſtern des magiſchen
Namens geht über alle dieſe Geſellen hinweg, hier rundherum an dem langen
Tiſch, Frisco — das Paradies der Leute, die ihr ſauer Erworbenes raſch und
fidel von ſich ſchmeißen, in die Gäßchen mit den roten Lichtern hinein, auf
die Spieltiſche hinten in den Chineſenläden, auf den Tanzboden, wo die
Freuden des Texas Tommy herumſpringen.
Draußen pfeifts in der Mühle zur Schicht und ein paar von den Männern
ſtehn auf, wiſchen ſich den Mund und gehen an die Arbeit. Einer, ein
ſchwarzbärtiger Bär, pufft den Kochsjungen beim Hinausgehen in den
Rücken, der Junge biegt ſeinen Kopf auf die Schulter nieder und blickt den
Bären mit ſeinen hellgrauen, lachenden Augen an. —
661
Oben im Saal des Logierhaufes, wo die Betten ſtehen, iſt ein Tiſch in
die Mitte gerückt. Der Vertrauensmann aus der Kreisſtadt iſt angekommen,
und die kanadiſchen Staatsangehörigen geben ihre Stimmen für den
liberalen Dr. King ab, der heut abend ſchon durchgefallen fein wird. g
Ein Mann hebt zwei Schwurfinger in die Höhe. Ein Zettel fliegt in
eine Blechbüchſe. Drin in der Blechbüchſe rumoren die Geſchicke der Nation:
Reziprozität oder nicht?
Nebenan, an dem Tiſch beim Fenſter gehen indes wichtigere Dinge vor.
Einer hält die Bank, zwölf ſtehn im Kreis um den Tiſch herum, ſtecken
die Hände in die Taſchen ihrer harten Hoſen und holen zerknüllte und
ſchmutzige Dollarſcheine hervor. j
Twobits ift der niedrigſte Einſatz — ein Vierfelöollar. Die Scheine
fliegen auf den Tiſch. Was iſt's für ein Spiel? Black Jack, erwidert man
mir. Ich ſehe näher hin, es iſt das bewußte Einundzwanzig. Ein großer
dicker Schwede ſetzt nie weniger als zwei Dollars. Seine rote haarige
Pranke zittert ein wenig, wie er über den Tiſch nach den Dollars langt, die er
gewonnen hat. Nach einer Weile zieht er blank ab, wirft ſich auf eines dern
Betten und holt unter den alten Kleidungsſtücken ein Zeitungspapier her⸗
vor; auf dem zuſammengefalteten Blatt leſe ich „Skandinavisk .. *
Die notgedrungenen Abſtinenzler entſchädigen ſich beim Kartenspiel für
all anderen unterdrückten Leidenſchaften. Achtſtündige Arbeit wird ihnen
mit vierthalb Dollars bezahlt. Davon wird ihnen einer für Koſt und
Logis abgezogen. Manche bleiben monatelang, andere halten es an einem
Ort nicht länger als vier oder ſechs Tage aus. Sie ziehen von Mine zu
Mine. Daß ein Grubenarbeiter feinen Beruf wechſelt, gehört zu den Seltenheiten.
„Once a miner, always a miner!“ erklärte mir der junge Campbell, der
Sohn des Vorarbeiters. Er träumt von einer Bergwerkſchule in Dortmund,
er will an die Bergwerkakademie nach Sachſen. Er ſteht unten beim Auf⸗
zug im Schacht, ſein Vater verdient fünfzig Dollars die Woche, aber der
Sohn hat höhere Pläne, Ingenieur⸗Studium, Deutſchland!
„Ich will Sie jetzt mit dem andern Mann bekannt machen,“ ſagt er, und
wir gehen in eine hintere Stube des Logierhauſes.
Ein junger rothaariger Menſch ſitzt dort auf einem Bett und drei Männer
ſtehen um ihn herum. Er iſt der Gefährte des toten Heskett und bei einem
Haar läge er dort, wo jener liegt. 3
„Dick war vier Tage lang nicht in der Grube geweſen,“ ſagt einer, „und 4 5
war nicht an die Luft gewöhnt. Wärſt du auf Urlaub geweſen vorher, fi ſo 2
hätte auch dich der Teufel geholt.“ 3
„Tommy rot“ ſchreit der Rothaarige. „Die Luftpumpe taugt nichts 9
daran wäre ich krepiert!“ Er iſt totenblaß der arme Kerl, und die Augen
ſtehen ihm wie Glaskugeln aus dem Kopf hervor. Eine Kognakflaſche ſteht
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662
unter feinem Bett — die Verwaltung hat diesmal Gnade vor Recht ergehen
llaſſen. „Der Coroner ... ſagt er und ballt drohend die Fauſt.
Draußen beruhigt der Manager die Leute, die danach fragen. „Er hat
feinen Job geliebt, das iſt der Grund. Er hat's nicht erwarten können, zu
ſehn, wie der Sprengſtoff im Croſſcut gewirkt hat. Der Gang war noch
voll von Gaſen. Andere legen ſich draußen ſchlafen derweil. Er hat ſeinen
Job geliebt, das iſt der Grund.“
Armer toter Heskett. Armes totes Rindvieh! Er hat es nicht erwarten
können, er mußte raſch ſehen, ob die Aktionäre dieſes Jahr eine beſſere Di—
vidende erhalten werden, als die vorjährige war, Friede mit ihm.
Mächſten Tag, gegen Abend, fahre ich durch den Urwald zur Station
zurück. Seit vier Tagen hats geregnet und die Straße iſt bodenlos.
Siebzehn Dagos marſchieren, ihr klatſchnaſſes Bettzeug auf den Rücken
geſchnallt, bis über die Knöchel in Kot watend, mit knietiefen Schritten,
fluchend durch den Wald zur Station zurück.
Ein paar Glücklichere, die geſtern mit ihnen von der Station heraufge-
kommen waren, ſitzen warm in den verſtreuten Holzfäller-Blockhäuſern am
Weg uno vertreiben ſich die Zeit mit Kartenſpiel, bis der Regen aufhört.
Sie lachen die kotigen, fluchenden Dagos aus, die von einer Seite des
Weges auf die andere nach einer trockneren Scholle hupfen, zwiſchen den
roten Zederſtrunken und den blauſchwarzen vom Dynamit zerriſſenen und
verkohlten Stämmen das Waldes. Oben in der Queen, im Nugget war
keine Stelle frei. Motherlode iſt im Umbau. Da ziehen ſie durch den Wald
zurück den Weg, den ſie geſtern kamen, die ſiebzehn.
Zehn Meilen zu Fuß, bergauf bergab, durch bodenloſen Kot, das ſchwere
mit Waſſer vollgeſogne Bettzeug auf dem Buckel — und wieder zehn
Meilen zurück, weils keine Arbeit gab dort oben — das iſt kein Spaß.
Unſer Automobil hüpft halbe Meter hoch durch die Pfützen. Es iſt bitter—
kalt. Wir ziehen unfre Köpfe zwiſchen die Schultern und ziehen unſere
Mützen tief herab über die blau gefrorenen Ohren.
. Zauber der Städte Britiſch-Kolumbiens
Nr wie ein Reiſender, der zu ſeinem Vergnügen daherzieht, will ich über
die Städte an der Bucht des Pazific ſchreiben, nicht anders.
über manches wäre zu berichten. Über das merkwürdige Syſtem der
Single tax, der einfachen Grund rentenbeſteuerung, die alle weiteren Steuern
aufhebt und in ſich ſchließt — dieſes Syſtem iſt in Britiſch-Kolumbien und
im benachbarten Oregon von den für Henry George ſchwärmenden Stadt—
vätern eingeführt. Über die märchenyafte Bautätigkeit, die die Stadt Van⸗
couver, in der ſich dieſes Syſtem ſeit Jahren bewährt, hinauf in die vorderſte
8 663
Front der neuen Städte Kanadas geſchoben hat. über die fabelhafte Lage
dieſes einzigen Hafenplatzes müßte ich berichten, der, zwiſchen den beiden
werdenden Hauptfaktoren der Pazifiſchen Küſte, Alaska und Panama, den
Handel der Küſte mit San Francisco teilen wird in kurzen Jahren. Vom
Reichtum des Fabellandes Britiſch-Kolumbien wäre zu berichten, von dieſem
Holz, Erz, Wild und Fiſchland vor allen anderen der Dominion. Von
einer intereſſanten Bekanntſchaft in Vancouver, einem preußiſchen Ariſto—
kraten, Herrn von Alvensleben, der zur rechten Zeit hierher gekommen iſt
und auf einem Stück Papier eine anſchaulich und verwegen in die Höhe ge—
bogene Kurve aufzeichnet, die die Wertſteigerung aller in Britiſch-Kolumbien
inveſtierten Kapitalien vorſtellen ſoll. Daran knüpfend wäre vielleicht ein
Wort über die angenehme Wertſteigerungskurve zu verlieren, die die Arbeit
im freien Land der Single tax im Junkertum der Welt bewirken kann, wenn
dieſes ſich zur rechten Zeit von der Armee, den Pferden und ähnlichen Be⸗
ſchäftigungen zu den Ländern des Erdbodens und der vorbeiziehenden Schiffe
wendet. Und den Beſchluß des „Zaubers“ könnte dann ein Satirſpiel machen,
in dem die verſpäteten Nachzügler aus jenen Gefilden des Junkertums kläglich
aufmarſchierten, die die Legende von dem Glück, das einer der Ihren in
Britiſch-Kolumbien gemacht hat, in hellen Scharen an den Stillen Ozean
herbeilockt, beſtändig und crescendo .. ö
Aber wie geſagt, nur wie ein Reiſender, der ſeinem Vergnügen nachjagt,
will ich von den Städten an der kanadiſchen Bucht des Stillen Ozeans
berichten, über die ſozuſagen penetrante Atmoſphäre, die das Völkergewühl
hier im äußerſten Weſten über die phantaſtiſchen Städte Vancouver, Weſt⸗
minſter, Viktoria ausbreitet.
Hier iſt auf einmal ein neues Element in das ſchon im Oſten erſtaunlich
wirkende Gemiſch gedrungen. Zu den Völkern aus allen Teilen Europas
und allen Ländern um das Mittelmeer herum, die über Kanada verſtreut
find, ſchlägt ſich in Britiſch-Kolumbien die Maſſe der chineſiſchen, japanifchen
und der Hindu-Einwanderung und tönt das Bunte noch mit gelben und
braunen Nüancen.
Wie die Südſtaaten der Union ihre Negerfrage und die Oſtſtaaten ihre
Judenfrage haben, fo fängt der kanadiſche Weſten an, feine Chineſenfrage
zu bekommen. (Die Union hat bekanntlich die Einwanderung aus Japan
und China vor einigen Jahren i in kategoriſcher Weiſe geregelt.) i
Die Chineſen ſind, wie ich auf Farmen und Fabriken im Weſten hörte, 4
die anſtändigſten, ſolideſten und auch geſuchteſten Arbeiter. Die Hindus, die
meiſt in den niedrigſten Berufen, in Sägemühlen, beim Bahnbau verwendet
werden, gelten als langſame, apathiſche und darum trotz ihrer Gewiſſen-
haftigkeit und Ehrlichkeit wertloſe Arbeitskraft. Die auch danach entlohnt
wird! Die Japs ſind unbeliebt. Sie verrichten ihre Arbeit tüchtig und
664
flink, gelten aber als Spione und der weiße Farmer und Arbeitgeber ift froh,
wenn er den Japaner los iſt. Die Chineſen aber ſind die Muſterarbeiter.
Obzwar ſie ſich mit allen Jobs zufrieden geben, die ſich ihnen bieten, ſind ſie
in ihren Lohnforderungen gar nicht anſpruchslos und verderben darum den
Arbeitsmarkt durch Unterbietung nicht auf die Weiſe, wie es im Oſten die
Italiener, Syrer und Slovaken tun. Für ihren guten Durchſchnittslohn
leiſten ſie viel ſauberere und reichlichere Arbeit als welcher Weiße immer.
Langſam ſickern ſie in das Städtebild Britiſch-Kolumbiens als ein weſent—
liches Element ein, in manchen proſperierenden Städten, dem hübſchen
Viktoria zum Beiſpiel, haben ſie ſich ſogar ſchon im beſten Geſchäftsviertel
der Stadt dauernd und ertenſiv niedergelaſſen.
Meine lieben Reiſe- und Hotelgefährten, ein junges kanadiſches Ehepaar,
das ich von Banff bis Seattle an jedem Ort meines Aufenthaltes wieder
geſehen und genoſſen habe, zitieren mir in Vancouver Kiplings Vers:
„O East is East and West is West,
— „And never the twain shall meet!“
den Vancouver fo gründlich widerlegt durch das Wefensgemengefeiner Bevölke—
rung. Und wirklich, das Leben in einer dieſer Städte an der Meerenge von
Georgia und San Juan de Fuca, an einem Feierabend, wenn die Maſſen ins
Freie ſtrömen, bietet ein bewegtes Bild, das man lange nicht vergeſſen kann!
Aus den Urwäldern im Norden, aus den lebenden Kathedralen der
Douglas-Zedern, der Hemlocks, Föhren und Tannen find große, wilde
Menſchen hergekommen, wie von der Mimikry riſſig und zottelbärtig gelb—
gefärbt, Holzfäller in braunen Hemden und Schaftſtiefeln, an die die Eiſen—
ſtacheln geſchnallt ſind, die ihnen beim Indiehöheklettern dienen. Feine Lords
eilen mit ihren Ladies durch die Straßen, vom Hotel in die Theater, wo
Lieblinge Londons und Neuyorks Stücke vom Strand und vom Broadway
aufführen. Eine Gruppe von Hindus geht, ganz langſam, mit verſchleierten
Augen und ſchweigenden, langbärtigen Geſichtern durch die haſtende Menge.
Sie ſind ganz europäiſch gekleidet, dieſe Leute, aber unter dem roſa oder hell—
grünen Seidenturban ſitzt der blau eintätowierte Stern ihrer Kaſte zwiſchen
den Augenbrauen. Ein tolles Abenteurergemiſch von konfiszierten Berliner,
Wiener, Pariſer und Budapeſter Geſtalten ſchiebt ſich und geſtikuliert an
den Straßenecken, vor den Agenturen der Bahnen und den kleinen Winkel—
bureaus, wo die Börſenkurſe in den Fenſtern hängen, hin und wieder; die
Pools, die Billardſäle, öffnen ſich weit auf die Straße und verflüchtigen ſich
in dunklen Hinterhäuſern zu gefährlichen Spielzimmern, Wett- und Würfel—
verließen. Die Heilsarmee zieht mit Donner und Gloria, es iſt Samstag,
durch die Gaſſen, ihre Geſänge, Trommeln und Verzückung begegnen an
der Ecke der großen Handelsſtraße einem Wagenzug der Suffragettes, aus
dem Zettel in die Menge, auf die Hüte der Leute und die Trommeln der
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Gottesſchar fliegen. Alle Rechte der Erde und des Jenſeits wirbeln an der
Ecke vor dem Bahnhof in einem betäubenden Höllenſpektakel zuſammen, die
Automobilhupen der raſch dahinfahrenden und raſch reichgewordenen Spe⸗
kulanten bellen ihr reales Gebell mitten in den Trubel hinein.
Aber hinten, wo das Meer zwiſchen den kleinen abſchüſſigen Gaſſen in
der Tiefe durchſchimmert, dort wo das nächtliche Feuer der verkohlenden
Abfälle von der großen Lachsfiſcherei ſchwelend zum Himmel aufſteigt, dort
iſt eine viel ftillere, leiſene Welt, eine lichtſcheue, ſanft auf Filzſocken dahin⸗
huſchende, liſpelnde, unergründlich unheimliche Welt von dünnen, ſeidenen,
übelriechenden Weſen. In geſtickten Röcken und mit Zöpfen huſchen Männer
vorüber, ihre geſchlitzten Frauenaugen funkeln tückiſch durch die Finſternis.
Aus engen, ſchmutzigen Treppenhäuſern huſchen und huſchen ſie auf die
Gaſſen heraus, ſtill und heimlich wie Ratten des Ninnſteins, huſchen auf
ihren Filzpantoffeln in verhängte, ſcharfriechende Spezereiläden, wo unter
reichvergoldeten Schnitzereien, die die Wände ſchmücken, Tonnen mit aller⸗
hand ekelerregenden Leckerbiſſen ſtehen: Hammeleingeweide, Seepferde, Wal⸗
fiſchfloſſen, Quallen, Honigkuchen und andere Unſagbarkeiten. Zwiſchen den
Tonnen ſitzen an langen Pfeifen lutſchende Kerle um einen Tiſch herum und
ſpielen ein wildes Glücksſpiel, mit Triktrakſteinen und Würfeln, das berüchtigte
Fon Hong, auf das eine hohe Strafe in den Geſetzbüchern des Landes ſteht.
Aufgequollene Chineſenweiber watſcheln in flatternden Seidenhoſen und hellen,
reich mit dunklen Ornamenten verzierten Seidenbluſen herum, entſetzliche,
eingeölte Pagoden, die Brüſte dreimal ſo breit als die Beine lang, hinter ſich
ziehen ſie liebliche und aparte Miniaturhöschen und Zöpfchen und Blüschen
her, in denen kleine gelbe Chineſenkinder ſtecken.
Aus einem Haus mit einem großen, chineſiſchen, aus elektriſchen Lichtern
gebildeten Buchſtaben tönt ein ſchriller Lärm heraus, ſynkopierte Töne, Ge⸗
kreiſch und Geklopf, Holz- und Menſchenlaut und Horngetute. Dies iſt das
chineſiſche Theater.
Ein kleines Orcheſter ſitzt hinten auf der Bühne, die keine Kuliſſen hat,
ſondern ein Podium mit allerhand herumſtehenden Möbelſtücken, koſtümierten
und nichtkoſtümierten, ſchwätzenden, agierenden, rauchenden, ſpuckenden und ges
ſtikulierenden Menſchen iſt. Die Muſikanten ſchlagen mit Holzklöppeln auf Holz⸗
tonnen los; ein Schalmeibläſer tutet, daß einem die Zähne davon wehtun; ein
Kerl mit einer Kniegeige zwiſchen den Beinen fiebelt auf einem einzigen Schafs⸗
darm eine Melodie daher, die eine fünftauſend Jahr alte Tradition hinter ſicgh
hat. Der Kerl iſt ſchon ganz blödſinnig von ſeinem eigenen Gefiedel und ſein Ye
Kopf fliegt, wie vom Veitstanz gefchütielt, auf feinem dürren Hals herum. .
Der Rhythmus iſt ungefähr: tattata-tih- titti-tatta-tohtohtohh! Ich
werde das, wenn ich in Berlin ankomme, einem kompetenten Muſiker vorſpielen.
Das Parkett iſt voll von ſchwatzenden entſetzlich ſtinkenden Kulis. Sie
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ſchieben ſich Kürbiskerne zwiſchen die ſchwarzen Zähne, rauchen Knaſter und
kommen und gehen während der Vorſtellung. In einer Loge ſitzt eine Dame,
eine Engländerin. Ihren Schleier hat ſie längſt nicht mehr umgebunden,
jedermann weiß, weswegen ſie im Theater ſitzt. Alle die Abende, die ich im
Theater bin, ſehe ich ſie in ihrer Loge ſitzen. Sie iſt wegen des jungen Schau—
ſpielers da, der eine der Frauenrollen ſpielt. Er ſtelzt mit graziöſen Bes
wegungen, Getue und Genicke, mit wundervollem Spreizen und Aufſchnellen—
alllaſſen feiner langen weißen Hände auf der Bühne hin und her. Mit hoher
Fiſtelſtimme ſingt oder ſpricht oder gurgelt er eine endloſe Melopöe zum
Takt der Muſik. Er iſt ganz weiß geſchminkt, hat lange weiße und hellgelb
ornamentierte Seidangewänber und eine ſchwarze Weiberperücke, mit einem
8 Diamanten vorn auf der Stirn. Der alte Vater, ein würdiger Mandarin
in herrlichem Schwocz und Lila⸗Goldbrokat, erſcheint mit Gefolge. Er ſtreicht
über ſeinen ellenlangen weißen Bart, deſſen Enden er als Begrüßung und
Zeichen der Ehrecbterung mit beiden Händen dem Publikum entgegen⸗
hält. Ein Diaſog im ſelben ſynkopierten Rhythmus folgt, mit fragend
2 kadenzierten Takten, die die Fiſtelſtimmen, ohne Leidenſchaften zu verraten,
4 vortragen, die Handbewegungen ſind edel, und das Ganze iſt, um die Wände
in die Höhe zu klettern. Herrliche und aberherrliche Gewänder erſcheinen,
mit kadenzierten Fiſtelſtimmen drin. Die Stücke find der Geſchichte ent-
nommen, haben fo gut wie gar keine Handlung, dauern fieben Wochen lang
und alles in ihnen geht inwendig, in ſpitzfindigen und langweiligen Dialogen
vor, auf die kein Menſch unten im Parkett hört. Nur, wenn der Komiker,
ein zerfetzter Kerl mit einem weißen Strich über die Naſe, der immer Haue
kriegt, erſcheint, horchen die Kulis eine Weile hin und ſchwätzen dann weiter,
wenns oben wieder ernſt und edel geworden iſt.
Draußen vor der Stadt, dort wo ſich der Meeresarm um den Stanley⸗
Park herum nach Falſe-Creek zu herumbiegt, wartet eine Gruppe von Indi⸗
anern auf das Schiff, das fie hinüber nach ihrer Reſervatlon bringen foll.
Männer, Frauen und Kinder liegen, ſchlafend und leiſe mit einander ſchwatzend,
auf dem nackten Boden, in ihren ſchmutzigen bunten Trödlerkleidern ſehen
ſie von ferne aus wie unſere europäiſchen Zigeuner. Sieht man ſich aber die
* Leute aus der Nähe an, ſo ſind es Mongolen. Das ſind nicht mehr die herr—
lichen ſcharfgeſchnittenen Köpfe und kühnen Augen des Prärieindianers;
ni olivenfarbige Backenknochen ſitzen in den ockerfarbigen Geſichtern, beſtialiſche
Stupfnaſen unter triefenden Schweinsaugen. Japaner und Mandſchus
ſcheinen dieſe Raſſe zuſammengemanſcht zu haben.
IJgn einer ſtillen Nebenſtraße der Stadt aber ſteht, wie ich auf meinen
Schleichwegen vorüberkomme, eine dunkle Menſchenmaſſe, unbeweglich an
eine Mauer gepreßt, beiſammen. Es ift eine große Familie, ein ganzer
Indianer⸗tribe, der da in der düſteren Dämmerung bei der Mauer ſteht.
667
Auf der anderen Seite der Straße ift die Polizeiſtation, und hinter einem
der vergitterten Fenſter im erſten Stock ſitzt, in heller Jacke und mit einer
Haube auf dem Kopf, eine vom Stamme da drüben.
Männer, Weiber, Kinder, Greiſe und Greiſinnen flüſtern leiſe und be—
klommen miteinander bei der Mauer, ſchauen zu dem vergitterten Fenſter
im erſten Stock hinauf und flüſtern dann weiter, leiſe und beklommen. Ihre
ſchmutzigen Geſichter, die die Laterne drüben vor der Polizeiſtation beſcheint,
ſind ganz verzerrt von Traurigkeit.
Ein paar rohe Straßenbengel, Weiße, gehen vorüber und johlen etwas
Unanſtändiges zum Fenſter hinauf. Die Gefangene rührt ſich nicht. Das
Geſicht auf die Hand geſtützt, ſitzt ſie da beim Fenſterbrett und ſchaut auf
den tribe hinunter, zu dem ſie nicht hinunter darf, weil ſie etwas zuviel von
dem verbotenen Feuerwaſſer ſich unter ihre Stupsnaſe gegoſſen hat.
Vn dem Hafen aber — o dem Hafen von Vancouver, iſt Leben zur Tages⸗
ER wie zur nächtlichen Stunde. Ein großes graues Schiff hat ſchon dreimal
gerufen, jetzt gleitet es, mit Lichtern in allen Kabinenluken, mit roten und
grünen Lichtern auf Maſt, Back und Kommandobrücke, langſam und ernſt
vom Pier weg und in den Hafen hinaus. Es iſt der Alaskadampfer, da
fährt er davon, hinauf nach den Inſeln des Yukon, nach den Hafenplätzen
Alaskas, nach dem Arktiſchen Meer hinauf. Keiner aus der tücherſchwenken⸗
den Menge hier unten, wo ich ſtehe, keiner aus der kleinen Menſchengruppe
dort oben auf dem Achter denkt an das Schiff, das da davonfährt, jeder, jeder
hat einen, der davonfährt, einen, der dableibt, im Sinne. Nur ich denke an
das Schiff. Mit verſagendem Atem ſchaue ich dem Dampfer nach und
meine Sehnſucht nach den Ländern dort oben zieht noch eine Furche ins
Waſſer hinter dem Dampfer her, der davonfährt.
Ich taſte meinen Paletot ab nach dem Büchlein, das ich in einer Taſche
mit mir trage, nach meinem Reiſebrevier, das mich ſeit Toronto begleitet hat,
die ganze weite Strecke her bis nach dem Meer im Weſten. Es ſind die
„Songs of a Sourdough“ des kanadiſchen Dichters Robert Service. Ich
brauche das Büchlein nicht aufzuſchlagen, ich könnte die Worte im Dunkeln
nicht leſen, ich weiß ſie ja längſt auswendig:
„There's a land, where the mountains are nameless
And the rivers all run, God knows where;
There are lives, that are erring and aimless
And deaths, that just hang by a hair;
There are hardships, that nobody reckons;
There are valleys, unpeopled and still;
There's a land — oh it beckons and beckons,
And I want to go back — and I will.“
668
*
€
—
Henkersmahl der Liebe
Novelle von Guſtav Biberich
I.
s war die letzte Tennispartie vor Jutta Haidens Hochzeit und ihr
letzter jungfräulicher Sonntag. Die Bäume des alten vergeſſenen
Parks da draußen legten ihre Schatten über den Platz und in denen
wasn es fo ſtill, daß ſich die vier jungen Stimmen davon abhoben wie das
rote Band vom Haare Maries, das noch ſchwärzer ſchien als das ihres
Mitſpielers Stefan, der Juttas Bräutigam war. Es war ein ungleiches
Spiel, und nur weil Jutta ſich darauf geſteift hatte, dieſe letzte Partie mit
| Klaus, dem beften Spieler, zuſammen zu fpielen, war dieſe Verteilung ge-
duldet worden. So flog der Ball gewöhnlich flach und wie geſchoſſen von
den zwei großen Blonden hinüber zu den zwei kurzen Schwarzen und
kehrte, wenn überhaupt, meiſt in zögerndem Bogen zurück, um nun vom
lauernden Schläger leicht und ſicher auf die unmöglichſten Punkte gerichtet
zu werden.
„Bravo — famos!“ rief Klaus Macholt, als Juttas Schlag eben an
ſeiner am Netz ſpielenden Schweſter vorüber in jene Ecke pfiff, in die ihr
Bräutigam von der anderen Seite her nur einen ſehnſüchtig verzweifelnden
Blick werfen konnte. Es war der ſiegbringende Ball. Klaus ſalutierte den
Gegnern triumphierend mit dem Schläger und Jutta verneigte ſich ſpöttiſch.
Marie kehrte ſich zu ihrem Partner:
„Eine Schmach, was? Sechs zu Null und nie über dreißig hinaus!“
Stefan Hromatka zuckte gutmütig die Schultern:
„Jutta hat fo gewollt.“ Er ſagte das S und mit der deutlich ſlaviſchen
Färbung, an der Jutta ſo viel Argernis nahm. Aber er vertröſtete ſie jedes—
mal auf den ehelichen Sprachunterricht.
„Hör auf“, pflegte ſie zu ſagen, „die Sprache iſt dir nur ein Sport und
zwar ein ſo miſerabler wie dein Tennis.“
Die Vier ſaßen noch ein paar Minuten zur Abkühlung auf den zwei
Zuſchauerbänken. Niemand war ſonſt da. Der wolkenloſe Sonntag hatte
wohl alles in den Wiener Wald gezogen. Durch die Stämme gegenüber
ſchaute der aufglühende Himmel und die juniſchlaffen Blätter erfriſchten
ſſich am Abendwind.
Klaus wunderte ſich, wie ſtill Jutta auf einmal geworden war. Sie
dehnte die Arme über die Rückenlehne der Bank, daß der Oberkörper ſich
in ſeiner ganzen ſchlanken Kraft ſpannen konnte, warf den Kopf zurück und
ſah mit großen Augen in das Spiel der Lindenkrone. Klaus dachte an das
Gerede der Leute von der „guten Partie“ Juttas mit dem reichen Regie—
669
rungsbeamten, der ein Parteiſchützling fei, von dem Enapp „ftandesgemäßen‘‘
Leben im Witwenhauſe Haiden. Die Verliebtheit des Bräutigams konnte
jedermann leicht ſehen; wie es aber um Jutta ſtand, das wollte niemand
ſicher raten. Denn bei ihrem herben Weſen mußte die wenig zärtliche Be⸗
handlung die Stefan erfuhr, durchaus nichts bedeuten.
Marie erhob ſich mit Stefan:
„Ich glaub', wir müſſen uns ſchon anziehen, ſonſt ſpazieren wir im
Dunkeln nach Hauſe. Kommen Sie, Fräul'n Jutta?“
„Sofort“, ſagte dieſe, ohne ihre Haltung zu ändern; „Herr Macholt
kann mich ja zur Garderobe begleiten.“ 1
„Sehr liebenswürdig, wie immer“, meinte Stefan und verbeugte ſich
mit einer Miene, deren Argerlichkeit dem Bevorzugten nur zur Hälfte ge
ſpielt vorkam. Jutta antwortete gar nicht und blieb unbeweglich in ihrer
Haltung.
Als Marie mit ihrem Partner hinter dem Gebüſch verſchwunden war,
das den Ankleideraum vom Platze trennte, wartete Klaus ſtumm. Juttas
Ernſt ſchien ihm nicht geheuer. Und er wäre nicht überraſcht geweſen, wenn 4
2 5
fie nun auf einmal in das wildeſte Gelächter ausgebrochen ware. Aber fie
hielt noch eine Meile aus, warf dann plötzlich den Oberkörper nach vorn,
einen Augenblick zuckte es wetterleuchtend um ihren Mund.
„Herr Macholt, ich muß Sie heute noch ſprechen. Allein. Können Sie?“
Sie ſtieß es ſo raſch hervor, als fürchtete ſie, ſie brächte es nur in ſolcher
Exploſion ganz heraus. Sie ſah den überraſchten Klaus nicht an, aber er
merkte, wie ihr Tränen in die Augen traten.
„Aber Fräulein, was iſt Ihnen?“
Er fühlte ſich verſucht, die ſchnell Aufſtehende zu ſtützen. Sie drückte
flüchtig die Hand auf die Lider und ſtampfte mit dem Fuß auf:
„Abſcheuliches Gewäſſer. Aber laſſen Sie. Es ſind nur die nervöſen
Augen. Alſo können Sie?“
„Selbſtverſtändlich, Fräulein.“ |
„Um halb neun vor dem Tor des Schönbornparks in der Florianigaſſe.
Iſt's recht? Iſt's Ihnen nicht unangenehm?“
„Mein Gott“, ſagte Klaus und er wollte ſcherzend hinzufügen: „Ein
Rendezvous mit einer ſo ſchönen Dame“ aber da blickte er in Augen, in
die der Schmerz gekrallt war wie mit Klammern. Er brach ernſthaft ab:
„Ich komme“. a
Sie ſuchte noch eine Sekunde in feinem Geſicht, dann reichte fie ihm die
Hand: 99
„Ich dank' Ihnen. Und bringen Sie Ihre ganze Freiheit mit. Ich halte
Sie für was.“ 2
Er war ſich über das zitternde Wort sicht klar. Sie hatte ſich aber jäh
670
abgewendet und ging eilig voran durch die Bäume. Die Schatten waren
ſchon kalt.
2.
Di Geſchwiſter begleiteten das Brautpaar bis zur Straßenbahn und
gingen dann das kleine Stück nach Hauſe zu Fuß.
„Dieſe Jucta!“ ſagte Marie kopfſchüttelnd, „wenn ich der Bräutigam
wäre — —!“
„Du würdeſt ſie wahrſcheinlich auch nicht heirat en wollen,“ meinte
Klaus.
W Wenn fie ein Mann wäre, warum nicht? Aber als Frau iſt fie zu
herriſch.“
„Herriſch?“ Klaus war aufrichtig erſtaunt.
. „Na hörſt du, Klaus, wenn du das nicht ſiehſt! Sie hat doch immer
die Peitſche über ihm!“
„Über ihm, ja. Sie gibt ihm eben, was er braucht.“
„Er iſt ſo ein guter Kerl.“
98 „Ach was! Hündiſch iſt er.“
„Na, wer weiß, wie du dich an ſeiner Stelle benähmſt!“
„Ich vertrag' mich doch mit Jutta ausgezeichnet.“
„Hm! Freilich! Eiferſüchtig iſt der Hromatka genug auf dich.“
„Er kennt eben Jutta nicht, der Eſel.“
„Früher war er ein Hund. Mir ſcheint, du biſt verliebt in ſie.“
Klaus lachte.
„Wär' mir gar nicht unangenehm.“
„Und ihr, mir ſcheint, auch nicht.“
„Na, Mizzi, du haft eine geſunde Phantaſie. Gott geſegne dir's!“
Intime Geſpräche waren nicht die Sache der Geſchwiſter und Marie
erwiderte daher nichts mehr. Klaus war deſſen froh. Ihm ſchien nach der
letzten Szene eine ſolche Behandlung des Gegenſtandes zu roh und luſtig
und er mußte beſorgen, daß ihm das die hellhörige Schweſter anmerken
könnte. Er wollte lieber Ruhe zum Beſinnen deſſen haben, was in ihm noch
unfertig und ungeordnet durcheinanderſchwamm, wie Froſchlaich, deſſen
Schnüre und Klumpen von zielloſen Wellen getrieben werden.
Als ſie faſt beim Haustor waren, blieb Klaus plötzlich ſtehn:
. „Du, mir fällt grad ein, ich muß doch noch in die Stadt fahren. Ich
hab' dem Oberrat angeboten, ich hol mir den Akt noch heute zum Studium
aus ſeiner Wohnung. Sag der Mama, ſie ſoll mich nicht zum Nachtmahl
erwarten. Denn der Alte wird mich wieder nicht loslaſſen.“
„Na, die Mama wird ſich freun über das Telegramm!“
„Sag' ihr nur, die Verhandlung iſt ſchon übermorgen und es muß
ſein.“ ä
*
*
v
.
671
„Da wird fie aber glücklich fein! Mit deinen Akten, das ift wirklich ſchon
ekelhaft. Die Herrn Gauner können doch warten!“
„Im Gegenteil! Man muß fie möglichſt bald wieder auf die Herrn Mo-
raliſchen loslaſſen! Sonſt werden die bequem.“
„Und man hat fürs Wirtshaus keinen Scoff, ja, ja. Servus!“
Klaus ſah auf die Uhr. Jutta hatte ihm eigentlich nicht viel Zeit ge-
laſſen und er hätte gerne noch recht viel Ruhe gehabt, um ſich halbwegs
ins Klare zu bringen. Er beſchloß, erft nach der Unterredung zu nacht
mahlen, kaufte eine Düte Kirſchen, ſetzte ſich in die Straßenbahn und fuhr |
bis zum Burgtheater. Von dort ſchlenderte er nachdenklich in den Rathaus⸗
park, achtete aber nicht einmal auf die wenigen Liebespaare, die ihn ſonſt ſo
ſehr intereffierten, und ließ ſich auf einer leeren Bank nieder. Da ſaß er
nun und wandte kein Auge von dem weiten Raſen, aus dem die dunklen
Stämme ſelten und ſchwarz emporſtiegen wie aus einem grünen Über-
ſchwemmungswaſſer, das abgetobt hat und zu dem keine Luftwelle mehr
ihren Weg ſucht. Denn das Gras ſtand ſo rein und eben, daß das Ganze
die Ruhe einer viel weiteren Fläche bekam und bewirkte. Von der ſchwang
es wie ein langſames, tiefes, lautloſes Aus- und Einatmen, warm und
kindertraumhaft, das in dem Beſchauer nicht das kleinſte Gefühl zum
Spiele trieb, ſondern nur klar und frei ſtandhielt als ein Spiegel jeder
hereinblickenden Empfindung. Klaus ſchien es, als ob die wenigen Worte
Juttas auf der Raſenoberfläche tanzten, als ob eins oder das andre lebhafter
aufblitzte und als ob in tieferem Grunde auftauche und vorüberflöſſe, was
je in dem vergangenen Jahre zwiſchen ihnen geſprochen oder verſchwiegen
worden. Aber er lugte vergebens nach einem emporquellenden Bilde, das
ihm etwa eine unverhüllbare Spur ſicherer Erkenntnis gezeigt hätte. Was
für eine Sorge konnte das ſein, die Jutta dieſen ſeltſamen Schritt abgepreßt
hatte? Und warum gerade trieb es ſie zu ihm, wo ſie doch in ihrer Ver—
wandtſchaft und unter den Bekannten gewiß ältere Freunde haben mußte?
Daß ſie Stefan ihr Schweres nicht anvertrauen mochte, das war Klaus
ſchon aus ſeiner geringen Schätzung des Bräutigams ohne weiteres begreif—
lich. Und einiges Nachdenken machte ihn auch gewiß, warum Jutta ſich
an keiner weiblichen Seele entlaſten mochte. Die hätte zu wenig gefaßt
— ene. eee
und für dieſe Wucht und Kraft vielleicht zu wenig Raum gehabt. Wenig
ſtens konnte ſich Klaus eine intime Freundin Juttas überhaupt nicht gut
vorſtellen.
Er mühte ſich ab, etwas herauszubekommen. In dem Raſen gab es
einen etwas dunkleren Fleck, vielleicht von fremdem Erdreich, und aus dem
lockerte ſich immer wieder mit leiſem Heben derſelbe Gedanke hervor, der
aber doch ſo unklar war, daß er nicht in geſchloſſener Geſtalt ans Freie ſtieß,
ſondern kaum von der Luft berührt ſich jedesmal nur mit ſchwächſter Fär-
672
bung wie ein ſehr leicht lösliches Mittel über die ganze Oberfläche ver—
breitete, ohne ſie merklich und dauernd abzutönen. Das war die Klaus
immer weniger abweisbare Vorſtellung, es müſſe ſich dabei um Liebe oder
Ehe handeln, vielleicht um einen, für den Jutta ſeiner ſelbſt als Mittler
bedurfte. Stefan Hromatka war das natürlich nicht. Wer aber ſonſt? Wer
war dieſer Unbekannte? Klaus bemerkte nicht ohne einiges Erſtaunen, daß
ihm der Gedanke an eine ſolche Rolle, die ihm doch nur aus großem Ver⸗
trauen zu ſeiner Feinheit und Klugheit erwachſen konnte, merkwürdig pein—
lich war. Und doch vermochte er ſich keineswegs eines Liebesgefühls zu
Jutta bewußt zu werden. Dafür ſorgte ſchon die Erinnerung an die klare
und feſte Haltung, die ihm Jutta die ganzen Monate hindurch bei aller
Freundlichkeit und offenen Achtung bewieſen hatte, eine Haltung, die freilich
in jedem Falle durch ihr äußeres Weſen und ihre Brautſchaft in gleicher
Weiſe ſelbſtverſtändlich wurde. Klaus war es freilich klar, daß er bei aller
bunten Liebesvergangenheit doch durchaus nicht als ein Menſch angeſehen
werden konnte, der „nahm, was er nur bekommen konnte“. Nie wäre es
ihm auch nur eingefallen, in ein ſo unverbrüchliches Verhältnis, als welches
das Juttas zu Stefan erſchien, mit berechnender Sinnenwerbung Unruhe
zu tragen, noch dazu auf die ſichere Gefahr, ſich zu beſchämen.
Klaus war über ſeine Ratloſigkeit recht eigentlich geärgert. Sollte das
die ſeelenkundige Findigkeit fein, deren er ſich ſelbſt ruͤhmte, wenn er das
Lob ſeiner Vorgeſetzten und Freunde im ſtillen beſtätigte? — Er packte die
wenigen Kirſchen, die noch da waren, zuſammen. Auf dem Turm ſchlug es
Viertel. Klaus ging langſam über die dunkelnden Gänge der Parkgrenze zu
und hörte nur unwillig auf das Gezwitſcher der im Geäſt einſchlafenden Vögel.
Bevor er zum Tor des Schönbornparks einbog, ſah er Jutta ſchon vom
oberſten Teil der Gaſſe kommen. Sie erblickte ihn offenbar und ſo trat
Klaus in den Park ein, umging langſam das erſte Rondeau, um ſo gerade
wieder vor dem Tore anzulangen, wenn Jutta darin erſchiene. Derart
konnte er ihr vielleicht Peinlichkeit oder Tratſch erſparen und die Begegnung
und Begrüßung von der abgeſchmackten Form der Verabredung befreien.
Es waren allerdings keine zehn Leute mehr im ganzen Park.
Jutta verſchmähte die angebotene Beſchönigung und reichte Klaus die
Hand wie einem Erwarteten:
| „Kommen Sie, bitte. Ich hab mir ſchon in Gedanken einen Platz aus—
geſucht.“ Sie ſprach leiſe, aber feſt, ſie war mit ſich im Reinen.
Um den Springbrunnen, an dem fie vorbeigingen, war es ſchon ſtill und
nur das fallende Waſſer erzählte wie aus der Erinnerung. Das Kinder—
lachen aber, das doch darin ſein mußte, war für die beiden nicht mehr zu
hören. Dunkeltönig fiel das Naß und nur manchmal rauſchten erregte
Tropfen auf den ſteinernen Rand.
673
Jutta führte ſtumm vorbei zu dem großen Rundbeet vor der Rückſeite
des altgräflichen Hauſes, das den Park abſchließt und ihn noch immer ver⸗
traut anblickt, obwohl der Herr ſchon lange nicht mehr aus den Fenſtern
lehnt. Niemand ſaß auf den Bänken und ungenoſſen ſtieg der Duft der
blütenvollen Roſenſtöcke in den Spätabendhimmel.
Jutta ſah forſchend und nickte, als hätte ſie die Übereinſtimmung der
Wirklichkeit mit der Vorſtellung von dem gewählten Platze beſtätigen
wollen. Und indem fie ſich langſam ſetzte, beobachtete Klaus, wie eine fele
ſam zitternde Entſchloſſenheit aus dieſen Augen in die Roſen ſchaute. Er
wollte ihr helfen. =
„Bitte, Fräulein, ſeien Sie getroſt. Sie können zu mir reden wie zu ö
dem Kies da.“
„Wenn ich das könnte! Aber zu dem kann ich ſtumm reden und zu
Ihnen muß ich Worte machen. Und die find fo ſchwer.“ Sie verſchlang
ihre Finger mit aller Kraft über dem Schirmgriff, um nicht weicher zu
werden, als ſie wollte. Dann ſenkte ſie den Kopf auf die Hände. er. E
Wangen bebten: —
„Ich hab' eine fürchterliche Schmach vor mir. Sie müſſen mir einen
Teil, den ärgſten, abnehmen.“ Aus den faſt tonloſen Worten ſchrie die 4
Scham des Selbſtverrats. Klaus war ergriffen von Bild und Klang: A
„Was ich tun kann, Fräulein — — —“ f
„Nein, nein,“ unterbrach ſie faſt wild, „Sie müſſen, Herr Macholt,
Sie müffen. Oder ich gehe zugrunde. Sie müſſen, hören Sie!“ Sie
preßte das Kinn auf die Hände und machte die Lider zu. 4
„Aber Fräulein, ich weiß doch von nichts. Ich tue gewiß, was ich als
der Menſch, der ich nun einmal bin, tun kann.“
„Dann iſts ſchon gut.“
„Kennen Sie mich ſo genau?“
„Ich weiß nicht, aber Sie ſind für mich doch nur, wie ich Sie mir
denke! Und dann — nein, nein, Sie müſſen, Herr Macholt, Sie
müſſen! Geben Sie mir Ihre Hand darauf!“ Sie preßte es heiß heraus,
indem ſie den Kopf hob, und Macholt drückte raſch die leidenſchaftlich hin⸗ 5
Y
N
gehaltene Hand. Um feine Ehre, das wußte er, brauchte er hier nicht be⸗
ſorgt zu ſein. so
Jutta ſchwieg und ſtieß mit der Schirmſpitze in den Sand. Klaus a
wartete. *
Endlich raffte ſich Jutta zuſammen und es kam wie aus einem fremden za
Munde, ohne Klarheit, ohne normalen Satztakt: 1
„Ich muß mich verkaufen, wiſſen Sie. — Dieſen Menſchen! Ach über⸗
haupt kein Menſch — ein Quallenweſen, eine Formel! Hätſcheln ſoll ich
ich mich laſſen, ſchön tun — p—-h—“ — fie ſchauerte auf und ſtieß den
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Atem im Ekel durch die Lippen. „Die Hölle wird er haben, das weiß ich,
And ich werd' ihn treten. Aber er kann doch nichts dafür. Er braucht einen
ſamtenen Lappen, eine leere Figur, einen ordinären Fettklumpen — —,
mich, mich, gerade mich hat er treffen müſſen. Eine Gans kann er nicht
brauchen zum Staat. Denn er ſelbſt iſt doch nichts. Und das iſt das
einzige Geſcheite, was er weiß. Denn er glaubt nicht, daß er ins Feuer
greift. Es wird ſich alles geben, ſagt er und die Mama ſagt's auch. Und
Mama kann nicht mehr warten. Wir haben ſcheußliche Schulden und
konnen nichts als Pflanz machen. Und drinnen iſt man aufgefreſſen und
ſchäbig. Wenn Papa das wüßte! Es iſt ſo fürchterlich — verſtehn Sie
das, ſo fürchterlich!“ Sie ſah ihn kurz mit aufgeriſſenen Augen an und
ſchlug ihre Stirne in die Hände. In Klaus zitterte es mit.
„Was kann ich für Sie tun, Fräulein, bitte, ſagen Sie!“
Jutta verbarg ihr Geſicht noch eine Weile, dann zog ſie langſam die
8 3 von den feſtgeſchloſſenen Augen:
= „Ich will meinen Körper nicht infam verſchachern laſſen, mich nicht für
g Mädchentum bezahlen laſſen. Ich will frei fein, wenn ich ſchenke.
875 bin keine Dirne für den Meiſtbietenden. Erſparen Sie mir dieſe
e Sie ſenkte den Kopf wieder in die Hände.
Klaus überlegte: Was wollte ſie von ihm? Sollte er geheime Liebeswege
vermitteln? Oder Geſtändniſſe? Oder ſollte er nur raten? Oder gar ihr
einen Selbſtmord mit ſeiner Hand abnehmen? Er begriff dieſen Krampf
des Stolzes wohl, aber wie ſollte der geſchützt werden? Ihr Schmerz hieß
ihn reden, in aller offenen Wärme reden, ihre Scham gebot ihm die ſorg—
ſamſte Schonung und Vorſicht. Dies wirbelte ihm durch den Kopf. Aber
er konnte ſie nicht lange ſo ſchweigen laſſen.
„Fräulein, ich begreife, wie Sie ſich quälen. Und von ganzem Herzen
tue ich, was Sie wünſchen. Ich bin ja ſo ſtolz und froh, daß Sie gerade
mich ausgeſucht haben. Es iſt ſo leicht, Ihnen gefällig zu ſein.“
„Gefällig zu ſein? Um Gottes willen, Sie ſpotten doch nicht mit mir!“
Sie ſah ihn an. Ratlos und erſchrocken ſagte er:
„Fräulein, ſagen Sie doch gradaus, wie ich Ihnen helfen ſoll. Ich ver—
ſtehe Sie wahrhaftig nicht. Wie könnte ich ſpotten, Sie ſind mir ja ſo un—
antaſtbar!“
Sie ſeufzte auf und ſank abgewendet auf die Banklehne. Ihre Schul⸗
tern zuckten:
EV„éFSehn Sie, wie viel ſchwerer das iſt, als zum Kies reden.“ Und noch
einmal ſetzte fie an und ſprach, faſt als ob fie leiſe vor ſich hinrebete:
„„Sie ſollen das nehmen, was ich nur freiwillig geben will; ich weiß
keinen, der — — — und ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Dieſe
letzten Wochen — —! Niemand füßlt das nach!“
675
Klaus war erſchrocken aufgeſtanden und hatte auf fie hingeſehen. Es
war, als riffe plötzlich knapp vor feinen Augen der Schleier der Dinge und
zeige ein ungeheures, menſchenfremdes Bild; Lichter und Farben wandelten
ſich ihm und aus der Weite ſchlug ein Getöſe auf ſeine beſtürzten Sinne
ein, für das er keinen Namen hatte. Langſam ſuchte er ſich zu faſſen:
„Seil, laſſen Sie mir, bitte, eine Minute Zeit. Sie find fo wunder⸗
Ich wollte, ich wäre robuſter als ich bin, daß Sie meine Ergriffenheit
10 mißverſtehen. Sie ſind ſo wunderbar. Und eine ſolche Seele verſteht
ſich ſchwer. Aber bitte, halten Sie mich einſtweilen nicht für ſimpel. Laſſen Rn
Sie mich nur dieſe Schönheit langſam begreifen.“ 5 feßte ſich und kopf⸗
ſchüttelnd wiederholte er noch einmal:
„Es iſt ſo wunderbar.“
Jutta hob ſich nicht, aber ihre Schultern zuckten nicht mehr. Von den
Roſenſtöcken leuchteten nur noch die Blüten, rot und gelb, als hingen ſie
frei in der Luft. Denn die Nacht war auf dem Wege.
Die Überraſchung fiel von Klaus nicht ab, aber fie hatte keinen Schrecken
mehr, wenn er ſich vorſtellte, wie alles gekommen ſein mußte. Eigentlich
erſchien da kein neuer Zug an Juttas geiſtigem Geſicht. Die mußte, das
war gewiß. Nur, wie ſtand fie zu ihm? Wußte er ſchon alles oder ver⸗
ſchloß ſie ihm noch eine letzte Zuflucht ihres Stolzes?
„Liebes Fräulein,“ ſagte er ruhig, „Ich will Ihre Seele gewiß nicht mit
Neugier durchſtöbern. Aber —“ er ſuchte vergebens nach einer geſchickteren
Wendung, „wie denken Sie ſich zu mir?“
Sie verſtand ſofort, ſie hatte die Frage offenbar erwartet. Sie richtete
ſich auf ſtreifte ihn mit einem ruhigen, von der Erregung müden Blick:
„Ich weiß es nicht,“ antwortete ſie frei. „Manchmal, wenn Sie ſo
unter den Bäumen am Tennisplatz recht fröhlich waren und geſcheit, Sie
wiſſen, beſonders da —“ fie deutete auf das Herz — „da hab ich geglaubt,
Sie find mir etwas mehr als bloß Kamerad. Aber ich bin mir nie gewiß ge—
worden. Und der neue Gedanke,“ ſie ſprach leiſer, „daß ich nur Sie zu meinem
Schutze habe, hat mich dabei vielleicht mit in die Irre geführt. Sicherlich
aber war mir der Gedanke an Sie nie anders als lieb und freundlich.“
Sie ſah ihn ernſt an und er ſpürte, wie ſie dies nun freier und aufm
ſamer tun konnte als je zuvor, da ſie nichts mehr vor ihm verborgen trug.
Er ſah tief in dieſes klare Auge, und begriff zum erſtenmal ſo recht, aus 45 5
welchen Quellen der ſeltſame Glanz darin emporſtieg. „Liebes Fräulein“,
ſagte er, „ich verehre Sie nun gewiß noch viel mehr als vor dieſer Stunde.
Daß ich vorher nicht Liebe wagen durfte und daß ich ſie noch jetzt nicht
wage, wird Ihnen Ihre Selbſteinſchätzung verſtändlich machen. Laſſen
Sie mich Ihre Hand küſſen, daß ich mich ein wenig zu Ihnen hinauf
gewöhne. Mein Troſt ift, ich wüßte keinen, der Sie verdiente.“ Und er |
676
8
drückte feinen Mund auf die warmen Finger, daß fie fühlen mußte, darin
lag nichts, dem ſie ihre Reinheit nicht ergeben durfte. Freude und Dank—
barkeit klang Klaus Macholt zu, als ſie ſagte:
„Ich hab gewußt, wer Sie ſind; aber ich glaub, mich überſchätzen Sie.
Es iſt ja doch ein böſer Weg und ſtatt der Not von ein paar furchtbaren
Stunden, die ich nicht über mich ergehen laſſen will, tauſch ich was
Schleichendes. Das weiß ich genau. Aber vielleicht, weiß Gott, kann ich
dagegen ſtumpf werden und mich fügen.“
Ja müſſen Sie denn dieſe Heirat eingehn? Aber freilich, Sie müſſen
wohl. Sonſt täten Sie das alles nicht. Sie nicht!“
„Nicht wahr, Sie vermuten keinen Leichtſinn dabei. Auch nicht den
geringſten.“ Sie behauptete es mehr, als ſie es fragte, und die Frage be—
ſtand eher im Anblicken. Klaus ſchüttelte ſtumm den Kopf.
„Ich müßte mich fonft ſchämen,“ ſetzte fie leiſer hinzu.
Klaus fühlte, wie ihre vorſichtige Feinheit ſie zwiſchen aller Gefahr ſicher
geführt hatte. Da war keine Wendung geweſen, die angeſtoßen hätte, kein
Ton, der zu laut, kein Wort, das zimperlich geweſen wäre. Er überdachte,
mit welch unerhörter Kühnheit hier das geſchliffenſte und dünnſte Operations—
meſſer zwiſchen zarten Muskeln und Sehnen hindurchgezogen wurde, die
nicht verletzt werden durften, und er bewunderte die entſchloſſene Kunſt, die
eine tödliche Entzündung verhütet hatte. Er ſah nachdenklich auf den Boden.
Jutta ſaß aufrecht und blickte in das Geſträuch. Über den Silhouetten
ſchien die Luft zu wellen, als drängte der Roſenduft, der nun viel ſtärker
ſchien, wie ein kalter, feuchter Dampf zur Höhe.
Jutta nahm das Geſpräch wieder auf:
„Warum ſind Sie nicht mein Bräutigam? Warum haben Sie nicht
einen blöden Titel oder wenigſtens Geld! Mama ſagt immer: Geld iſt für
die Ehe alles, wenn man über die erſte Zeit hinweg ift.“ Kommt aber doch
ganz darauf an, wie einer zu Geld und Brot und Körper ſteht. Ob einer
die Seele vom Leib aus ernährt oder eines durch das andere. Eins durchs
andre in der Höhe hält. Ich mein', die Menſchen würden überhaupt nicht
ſo tieriſch leben, beſonders die Männer, wenn dieſer Glaube an die Zwei—
teilung jedes Einzelnen nicht ſchon das ganze menſchliche Bewußtſein ver—
dürbe. Aber jeder glaubt, mit dem Körper ſo niederträchtig ſein zu dürfen,
a weil er ja, ſo in den nebelhaften A was Extrafeines aufgehoben hat,
das über dem Gemeinen ſchwebt wie die heilige Taube über dem Schlamm
des Jordan. Und deswegen halten die Leute das Geld ſo wert und den
Magen. Die gute Mama nennt das romantiſche Phraſen und will's nicht
hören. Wills ja um meinetwillen nicht hören. Sie glaubt, ich würde
nach meiner Erziehung eine armſelige, geldarmſelige Zukunft nicht ertragen.
Und ich glaub wieder, Mama könnte das nicht, ſie ſtürbe daran. — —
677
Und Stefan freut ſich ſchon auf die Flitterwochen! Flitterwochen — können
Sie ſich was Abſcheulicheres vorſtellen als Flitterwochen? Heißt das nicht
etwas Natürliches aus der geſunden, ſchönen Reihe ſeiner Entwicklung
hinauswerfen in den Schmutz?“
Klaus nickte: .
„Wie viel Schmerz, armes Fräulein, muß Ihnen Ihre Zukunft
ſchon gemacht haben, daß Sie ſo viel und ſo wahrhaftig darüber gegrübelt
haben. Ich glaub', wir Männer machen uns nicht fo viel Gedanken davon.“ 1
„Vielleicht find die Männer darin geſünder. Aber wir haben fonft fo
wenig. Sie verſtehn mich doch! Stefan würde das nie verſtehn. Ich
käme mir wie ein pathetiſcher Schönprediger vor, wenn ich mich jemals an⸗
ſchickte, ihm fo etwas zu ſagen. Gott, warum find Sie nicht mein Braͤu⸗
tigam!“ Sie ſah Klaus wie hilfeſuchend an. Dann, ehe er tröſten konnte,
ſchien ſie ſich ſelbſt zu befreien: „Aber ſind Sie es nicht eigentlich? Muß
man dazu das elende Verlobungsfeſt haben und —“ fie ſah auf den Fingen
— „den toten Stein und das goldene Geſchnörkel? Sind Sie nicht wirk⸗ A
lich mein Bräutigam?“ Und ſie lächelte ſchmerzlich, indem ſie hinzufügte:
„Den ich mir mühſam hab' ſuchen müſſen. Auf alle Fälle, ich will denken,
Sie ſinds! Dann iſt mir, was ſpäter folgt, trivial und vielleicht gleichgültig.
Seien Sie mein Bräutigam, ja?“ Sie reichte ihm mit weit geſtrecktem Arm
die Hand. Und er küßte ſie ſchon mehr dem Mädchen als dem Menſchen.
„Sie ſind reizend, liebes Fräulein. Mir iſt alles noch ein Traum.“
„Run, aus dem will ich Sie gleich reißen,“ ſagte Jutta ſchnell und
ernſt und fie ſchien froh, wieder eine Anknüpfung an das Unmittelbare ge
funden zu haben; „Sie müſſen dafür ſorgen, Herr Macholt, daß Sie ſich
für mich frei machen. Ich kann Sie nur an dem einen Tag treffen. Erſt
Mittwoch nachmittag.“ Sie machte eine Pauſe. „Da haben Sie wenig⸗
ſtens Zeit — zum Verlieben.“ Sie lächelte, bekam aber naſſe Augen von
dem blutenden Scherz. 1
„Ich fürchte,“ erwiderte Klaus mit Ernſt und blickte fie an, als erkenne 4
er zum erſtenmal ihre Schönheit, „ich fürchte, das iſt nur allzu leicht. Und
meine Gefahr, Fräulein?“ f
„Ach gehn Sie!“ Sie ſtrich ihm mit der Hand vor dem Geſicht her⸗
unter, wie um die Frage als ein Nichts i in die Luft zu ſchlagen. Dann cz
fie fort und trachtete zu fprechen wie von etwas Gleichgültigem: 1 |
„Alſo übermorgen muß ich bei einer Tante Abſchied nehmen in St.
Pölten; bis Mittwoch nachmittag bleib ich dort.“ Sie zögerte — „Ma x
ſoll glauben — bis Donnerstag früh.“ Sie ſtockte wieder — „Machen
Sie ſich frei bis dahin. Und — nicht wahr, Sie ſorgen für alles?
Seien Sie mein Bräutigam! Wir wollen es uns ſo ſchön machen und rein,
als es nur möglich iſt! Nicht wahr, dazu haben Sie mich gern genug?“
7
— r ee Fu —
678
Klaus hörte wie auf ein Lied. Ihm wurde warm.
„Fräulein,“ ſagte er, „liebes Fräulein, ich träume nun erſt recht. Und
ich glaube, das ſchönſte für Sie iſt, Sie werden mich überhaupt nicht aus
dem Traum herausbringen, fo lange ich bei Ihnen bin. Auch nicht am
Mittwoch. Es wird mir ſo leicht werden, Sie zu ſchützen. Ich will tapfer
ſein und ſtolz und empfindlich, als hütete ich die Krone ſelbſt.“
| Jutta hatte mit geöffneten Lippen zugehört und die Worte getrunken zu—
gleich mit der ſüßen Luft, die von den Roſen ſtrich. Nun ſenkte ſie das
Haupt und war heiter. Klaus fühlte es gut; kaum aber ließ die ſterndunkle
Nacht eine Miene noch erkennen. Minutenlang ſprachen nun beide kein
Wort. Klaus dachte über die Anſtalten nach, die er zu treffen hatte. Es
4 war wohl heikel. Ab. da er von vornherein jedes ſtädtiſche Hotelweſen aus
ſeinen Gedanken wies, fand er bald, was er ſuchte.
„Wann kommen Sie am Mittwoch zurück, Fräulein?“
„Ich weiß es nicht ganz genau. Aber ſo um ſechs ungefähr muß der
Zug in Wien ſein. Es iſt nur ein Fernzug um dieſe Zeit.“
„Nun, da werd' ich leicht etwas finden. Bitte, fahren Sie aber nicht bis Wien
zurück, ſondern ſteigen Sie bei der Halteſtelle Tullnerbach⸗Preßbaum aus, ja?“
„O, wie lieb Sie ſind! Ich wollte Sie ohnehin bitten, am Abend noch
einen Spaziergang mit mir zu machen!“
„Ich werde Sie erwarten, Fräulein. Ich weiß nicht weit von dort gutes
Quartier.“
„Sie find fo gut und klug. Ich dank’ Ihnen ſchön. Wenn ich — —“
„Schluß, meine Herrſchaften,“ tönte eine rauhe Stimme von der andern
Seite des Beetes herüber, „es wird g'ſperrt.“
8 Die beiden erhoben ſich nicht gern.
V„5„ Schade,“ ſagte Jutta, „da war's fo ſchön.“
Sie gingen ſtill im tiefen Dunkel zum Ausgang. Durchs Gitter ſah
6. man ſchon die Menſchen auf der Straße.
j „Adam und Eva aus dem Paradies,“ ſagte Jutta lächelnd, als ſie durchs
Tor traten.
Zum Abſchied küßte ihr Macholt die Hand. Sie reichte ihm auch noch
die andere hin, unbekümmert um die Leute.
Er ging zum nächſten Gaſthaus, das er kannte. Er ging ſchwer und
4 N ez denn er trug das Gepäck ſeines übervollen Traums.
ai
O und lag ſchon eine Stunde oben am Waldrand, ganz nah bei der ver—
einbarten Station. Er beobachtete die Züge, die einfuhren und abdampften.
Tauſendfaches Schickſal wurde ba vorübergetragen. Menſchen mit Elopfen-
679
den Herzen und einer Sehnſucht für die nächſten Stunden, ſchläfrige ver⸗
blichene Häupter, die an den offenen Wagenfenſtern nickten, Kinderköpfe,
gerötet vom Wind und mit Augen, die nur das Nahe erfüllte: Wieſe und
Baum oder ein Schmetterling und an der Geleiſebiegung das Spiel des
weiß⸗flüchtigen Dampfs der Maſchine, den die Bläue des Himmels langſam
zu verſchlucken ſchien. Manchmal ſah Klaus einem Fenſter länger nach, etwa
wenn ein junges Paar darin ungeniert im Kuß erſchien, weil das Wagen⸗
abteil leer und der, der da draußen feſtgehalten im Grünen lag, ſo ungefährlich
und höchſtens durch ſeinen Neid luſtig war. 3
Aber Klaus war nicht neidig, ſondern überlegen und faſt ſpöttiſch. Dieſe
drei Tage hatten ihn mit wundervollem Frieden beſeligt. Faſt zu raſch waren
ſie vergangen. Ihn erwartete ein Erlebnis, von dem er nicht wußte, 5 4
nicht beklemmende Leere oder Sehnſucht oder gar Hoffnungsloſigkeit in ihm
zurücklaſſen werde. Er freute ſich Stunde um Stunde, wie ein Kind auf
Abend, wenn Mutter das verſprochene Märchen erzählen wird, nach welchem
man dann nicht ſchlafen gehen will.
Klaus war ſich genau bewußt: der Wert dieſer huldvollen Nacht die
er empfangen ſollte, lag nicht in dem Geſchlechtsgenuß eines Mädchen⸗
körpers, deſſen Pracht gewiß ſelten war. Wohl ſpielten ihm ſeine Sinne
während dieſer Tage der Erwartung mehr als einmal Juttas Nacktheit
vor, aber die war umfloſſen von einem merkwürdig lächelnden Schein,
der von Juttas Augen ausging und keinen Umriß feſt und fleiſchlich
werden ließ. Er ſah fie unverhüllt und doch fo vor feiner Sinnengier ger
ſichert, wie manche Maler den nackteſten Körper durch den Ton der Haut,
durch die Federweichheit des darüberſpielenden Lichtes vor ungemäßer Be⸗
trachtung zu ſchützen wiſſen, ohne das unmittelbar Lebendige zu verſäumen.
Mancherlei Frauen ſchon hatte Klaus nackt geſehn, die ſchutzlos ſeinen
Gedanken preisgegeben waren, noch bevor er ſie vielleicht in Wirklichkeit um⸗
armte. Dieſer Körper aber war nicht nackt, ſondern frei. Und was ſich ſeltſam
in Klaus gebildet hatte und immer ſtärker wurde, das war vielleicht nicht
Liebe, aber es lockte ihn höchſtens zu einem Kuß auf den Mund. Es kamen
Augenblicke, da er ſich faſt fürchtete, das gebotene Geſchenk in aller Körper⸗
lichkeit zu nehmen. Aber jedesmal dann ſagte er ſich bald: hier konnte er nie
einen bloßen Körper empfangen. Dieſer unberührte Leib Juttas war unberühr⸗
bar. Er ſchien durchſetzt und umgoſſen von Seeliſchem wie die Blüte von ihren 70
Geruch, und wer die pflückte, der mußte ſie mitſamt ihrem Dufte davontragen.
Und die Not Juttas ſchien ihm, je länger er darüber nachdachte, deſto
barer jeder Empfindlichkeit, deſto wahrhaftiger begründet in Juttas tief⸗
gewiſſem Selbſtgefühl. Freilich auch deſto unentrinnbarer und qualvoller,
da Jutta von ſich nichts zu geben vermochte, ohne Schleierzartes und Ader⸗
warmes, das damit verbunden war, freudig oder ſchmerzlich mitzuſchenken.
3
55
680
Klaus Macholts ſüßer Rauſch betäubte fein Gefühl mit einem einzigen Aroma,
das auf alle Teile ſeines Ichs ununterſcheidbar eine und dieſelbe Wirkung
hatte. Wie denn der Betrunkene Zuſammenhang und Trennung der Glieder
ſeines Organismus verliert. Es war, als wenn etwas von Juttas Geſchloſſen—
heit, die er nun ſo klar empfand, auch auf ihn ſich mächtig erſtreckt hätte.
Klaus lag in ſolchem Sinnen, bis er den Zug, der Jutta bringen ſollte,
in der Ferne lärmen hörte. Dann ging er zur Station. Hier wartete nur
eine Geſellſchaft von Sommerfriſchlern zum Empfang und ein paar Bauern,
die abfahren wollten. Wenig Leute zeigten ſich in den Fenſtern der Wagen.
Dier Beſuch der Sommerfrifchler, ein älteres Paar, wurde mit dem üblichen
llauten Freudengetue empfangen und ſofort davongeführt. Hinter zwei Bäu-
rinnen, die mit ſchweren Körben ſeitlings die Stufen eines nahen Wagens
bherunterſtöhnten, erſchien Jutta hoch und leicht. Die Reiſetaſche beherbergte
. wohl nicht allzuviel. Jutta reichte Klaus die Hand und drückte die ſeine:
| „Guten Tag, Herr Macholt.“ Aus ihren Augen ſah keine Spur von
Verlegenheit, aber Klaus bildete ſich ein, ſie ſeien nicht ganz klar.
er nahm Jutta die Taſche ab. Als fie außerhalb der Station die erſten
Schritte in den noch blatthellen Laubwald taten, fragte Jutta ruhig:
„Haben Sie ſchon Quartier?“ „Sehr hübſches und gemütliches Quartier;
zwanzig Minuten von hier den Wald hinauf. Das iſt Ihnen hoffentlich
nicht zu weit?“ Klaus ſagte alles mit der größten Vorſicht, die er ſich für
Inhalt und Ton vorgenommen hatte. Er wollte es ihr überlaſſen, das ganze
Begebnis zu ſtimmen, gerade ſo, wie ihr zumute war. „Mir zu weit?
Mein Gott, ich wollte, wir könnten uns ganz, ganz wo anders treffen.
Dort in Tibet irgendwo, es dürfte kahl ſein und kalt — oder frei draußen
auf der See, allein in einem Segelboot, wo man ſeiner Einſamkeit ſicher
wäre —“ Sie blieb ſtehn und fingerte an der Rinde einer dünnen
2 Buche — „Die Möwen könnten ſchrein und man wüßte nicht, wo einen
* die Flut hintrüge — ins Fremde oder ins Grenzenloſe oder auf ein
Riff — über Nacht. So aus einem Schlaf in den andern.“ Sie ließ den
Gedanken ausklingen. Dann ging ſie wieder weiter, ohne Klaus anzuſehn,
das helle Haupt in die Waldtiefe gerichtet.
Nach einer Weile ſagte Klaus:
„Einſamkeit haben Sie genug da oben, Fräulein. Es iſt zufällig nur die
* N Wirtsfrau da und man ſieht über die Waldkuppen ins Freie. Aber von Wien
ſieht man nichts. Gerade daran habe ich wohl gedacht. Ich hab' verſucht,
<
mir Ihre Wünſche vorzuftellen, fo gut es eben gelingen wollte.“
8 Sie legte die Hand auf ſeinen Arm und drückte ihn. Klaus freute ſich
über den Dank, küßte aber die Hand nicht, wie er gern gemocht hätte.
* Es ging ſteiler den warmen Berg hinauf. Vielleicht deshalb ſprach Jutta
lange nichts und riß nur manchmal ein Blatt ſpielend von den Bäumen.
44 > 681
Als es wieder faft eben ging, ſtand Jutta vor einer kleinen Lichtung ſtill, die
hereinleuchtete wie ein Bild aus fernem Reiſeland, das man durch Gläſer
betrachtet: „Noch eins möcht' ich gern wiſſen. Ich hätt' Sie freilich ſchon
früher darum fragen ſollen. Aber vorher müſſen Sie mir verſprechen, daß
Sie die Wahrheit ſagen werden.“ 9
Klaus dachte eine Sekunde nach. Aber er wußte nichts, was er, efma
ihr zuliebe, hätte verſchweigen müſſen. „Ich verſpreche es, Fräulein.“ 24
„Aber Sie dürfen ſich nicht beleidigen. Es ift nur eine, fo, fo eine —
Pedanterie.“ „Bitte fragen Sie nur.“ 1
„Sagen Sie: fteht Ihnen zur Zeit ein Mädchen nahe, haben Sie eins lieb? ?
„Nein, Fräulein. Das wäre abſcheulich für mich. Ich weiß genau: das
hätt' ich Ihnen nie antun dürfen. Eher hätt' ich ſchmählich auskneifen
müſſen. Aber Sie kennen, ſcheint mir, Ihre Vorzüge nicht allzu gut. f
Denn Sie hätten das ſchon geſpürt und Ihr Gefühl hätte Sie davor geſchützt,
gerade mich armſeligen Teufel zu wählen. Sie hätten es beſtimmt geſpürt.“
„Faſt glaub' ich das jetzt ſelbſt,“ ſagte Jutta und atmete auf; „ich wüßte
ſonſt keine Entſchuldigung dafür, daß ich mich nicht ſchon am Sonntag und
vor allem andern darum gekümmert habe. Aber es iſt doch ein Glück, ein
großes Glück für mich. Ich glaub', ich hätte ſonſt von dieſer Stelle um—
kehren müſſen. Gottſeidank.“
„Ich glaube, liebes Fräulein, Sie brauchen in ſolchen Fällen nie viel
nachzudenken und zu grübeln. Ihre Seele geht im Dunkelſten auf jeder
Höhe über einen Faden. Wagen Sie nur! Sie wagen nichts.“
Jutta hörte zuerſt geſpannt zu, dann befreite ſie ſich mit einem Scherz:
„Wie genau Sie ſich gemerkt haben, bis wohin Sie mir Wahrhaftigkeit
verſprochen haben! Es iſt ein Glück, daß Sie das ſo deutlich machen!“
Klaus ſtimmte in ihr helles Lachen nicht ein: 8
„Sehen Sie, wie ſicher Sie gehen!“ ſagte er ernſt und mit derselben N
Herzlichkeit, „wer findet fo raſch ſolche Wege! Dazu muß man Ihre Kraft
haben und Ihren — Klaus kam nicht weiter, denn Jutta ſchnitt ihm das
Wort mit der Hand ab, die ſie ihm raſch auf den Mund legte. Er griff a
nach der Hand, um ſie in einem Kuſſe feſtzuhalten, aber Jutta, die es merkte, 1
öffnete die Finger über feinem Mund und mit einer Bewegung, die leicht
und geſchwind war wie ein Schwalbenflügel, fing ſie den Kuß mit ihrem
eigenen Munde ab, und ließ ihn, als Klaus ihren Kopf umfaßte, feſt und 1
warm auf den uberraſchten Lippen ruhen, ſolange als fie Zeit brauchten, um
ſich zu faſſen und die unverhoffte Liebkoſung zu fühlen und mit aller Leiden
ſchaft der vertrauten Stunde zu erwidern. Dann machte fie ſich los: Bi
a überhaupt ſchon von mir küſſen and
682
Und während fie den rechten Arm noch auf feiner Schulter liegen ließ,
ſagte ſie, und ihre Augen lachten:
„Übrigens, hören Sie einmal, lieber Freund, ich hab' Sie da noch etwas
zu fragen vergeſſen. Wie ſteht's denn eigentlich mit Ihrer Selbſterziehung
zur Liebe? Haben Sie ſich dieſe letzten Tage viel geplagt, um mich ein biſſel
gern zu kriegen? Und ſind Sie damit überhaupt vorwärtsgekommen? Oder
hab' ich das arme Opfer noch zu früh und zu ſchmerzhaft geküßt?“
Sie ſprudelte das raſch und beinahe keck heraus, mit einer Sicherheit, von
der Klaus meinte, ſie müßte wohl ſelbſt ein wenig ſchmerzlich ſein. Er ſah
Jutta groß an und dachte, daß ſie wohl kaum überlege, wie ſehr fie den Lieb-
haber in ihm mit ſolchem Übermute reize. Er blickte auf die hellen Sterne
unter dem reichgewellten Haar, in dem die Sonne mit leichten Lichtern wühlte.
* und er nahm ſich vor, bei nächſter Gelegenheit Augen und Haar zu küſſen.
Diooch da öffneten ſich ſchon wieder die vollen, aber feſt geſchnittenen Lippen,
die beim Sprechen fo ſchön waren und bei allem Wechſelaus Ruhe und Erregung
nie ihre rein geſchwungenen Linien verloren, und er beſorgte, er würde auf dem
Wege zu Aug und Haar an dieſem Munde vorläufig kaum vorüberkönnen.
„Nun?“ fragte Jutta und machte ein mitleidiges Geſicht, „noch gar kein
pädagogiſcher Erfolg? O, Sie Armer!“ Und ſie ſtreichelte ihm mit der
warmen Hand die Wange. Klaus ſah künſtlich betrübt drein:
„Bitte, mit beiden Händen und beide Wangen. Ich brauche viel Teilnahme.“
Jutta erfüllte den Wunſch. Da faßte ſie Klaus bei den Handgelenken:
„Machen Sie gern hübſche Kunſtſtücke?“
3 „O ja!“ ſagte Jutta, zögerte aber doch ein bißchen bei der bedenklichen
Frage und fügte hinzu: „Wenn ſie fein ſind.“
8 „O ſehr fein!“ verſicherte Klaus und hielt noch immer ihre Hände auf
den Wangen; „es iſt aber nicht leicht!“ „Nur zu!“
. „Alſo bitte, verſuchen Sie, ob Sie jetzt Ihren Kopf zwiſchen Ihre Hände
1 legen können!“ Jutta war geiſtes gegenwärtig:
„Ich glaub', das wird nicht gehn, das iſt doch gegen das Undurchdring—
lichkeitsgeſetz!“ „Bitte, verſuchen Sie es doch!“
Jutta neigte ihr Geſicht, aber ſie hielt ſeinen drängenden Kopf feſt, daß
es nur langſam ging, und ſah Klaus dabei tief in die Augen. Sie lächelte
immer froher, je näher ſie kam, als finde ſie bei jeder kleinſten Ver—
ringerung der Entfernung immer deutlicher, daß aus dieſen etwas in ſich
geſchloſſenen Augen der Abglanz einer kaum verhaltenen Hingebung zitterte,
die nicht bloß ihrem Körper galt. Und fie küßte ihn, bis er ſich ſattgetrunken
hatte.
| Dann faßte fie ihn bei der Hand und ſagte: „Aber jetzt nach Haufe, Liebſter.“
Und ſie wanderten durch den aufrauſchenden Wald dem Ziele zu.
(Schluß folgt)
683
Gens und die Revolution
von Siegmund Feldmann
ein ſehr gewöhnlicher Mann geweſen, vermerkt Voltaire in den
„Apropos“ ſeines philoſophiſchen Diktionairs; „Cäſar hätte ſich
zur Zeit des Scipio Africanus nie Rom unterjocht, und wenn heute Ma⸗
homed wiederkäme, brächte er es beſtenfalls zum Stadtoberſten von Mekka“.
Hier bläht ſich ein Gemeinplatz unſeres Urteils in der Hülſe eines Para
dorons. Voltaire formuliert dieſen Gemeinplatz auch: „Apropos fait tout 1
dans les grandes affaires, dans les revolutions des stats.“ Dabei ahn e
noch nichts von der gründlichſten aller Umwälzungen, die herandämme
und in der Geſtalt Bonapartes die ungeheuerſte, unglaubwürdigſte, v
blüffendſte Verkörperung des apropos hervorbringen follte.
An keiner Kurve der Weltbewegung verknüpft ſich die unerbittliche Ver⸗
nunftmäßigkeit politiſcher Abſichten ſo ſeltſam mit der Romantik der Über⸗
raſchungen. Aus der glühenden Lava der franzöſiſchen Revolution erblühen
Wunder des Schickſals. Napoleon iſt das blendendſte, aber vielleicht nicht
einmal das größte dieſer Wunder. Denn nicht die Lebenden, die Toten regieren
die Erde, und nachdem die Revolution das Unerhörte vollführt und die Toten
getötet hatte, ſtand er nur noch den Lebenden gegenüber, und da war der Sieg
für ihn, den Stärkſten, nur eine Frage der Überlegenheit. Aber die andern, N
die nichts vom Geheimnis feiner dämoniſchen Kraft, ſondern bloß ein bißchen N!
Waghalſigkeit, Geſchicklichkeit und Glück beſaßen; die Mitläufer, die Pro⸗ 1
fitierer, die Zugreifer, die vor, mit und zumal durch ihn aufſtiegen; die 5
Figuren zweiter und dritter Ordnung die das Eiſen zu ſchmieden wußten, N
das er in die Eſſen der Geſchichte gelegt hatte! Hier ift ein buntes Ge⸗
wimmel von Strebern und Erlebern, die ihr angeborenes Helotengerippe in 4
einen raſch zuſammengerafften Purpur hüllen und aus den dunkeln Spalten
der geborſtenen Welt oft zu Gipfeln emporklimmen, die — man denke an
1 e an Murat, an Bernadotte! — jenſeit aller Vorbeſtimmung
Ather des Märchens zu baden ſcheinen.
Diese Emporkömmlinge wachſen nicht nur auf dem Boden Frankreichs.
Wir finden fie ſowohl im Lager der Revolution und ihrer Nutznießer, w
auf der andern Seite, dort, wo man ſich mit ergrimmtem Schrecken k
neuen Geſtaltung entgegenſtemmt und man als Höfling des Haſſes feine
Weg macht. Auf dieſer andern Seite überſtrahlt Friedrich von Gentz alle:
andern Erſcheinungen. Allein wer auch ihn den Emporkömmlingen der
Revolution zuzählen möchte, verſündeze ich an ihm und ſchätzt ihn tief
unter ſeinem intellektuellen Wert ein. Sons iſt ein ſchlechtes Exempel für:
U: der Regierung der Eliſabeth oder Karls II. wäre Cromwell
*
684
das Gedankenſpiel Boltaives. „Der befte Kopf Deutſchlands“, wie Frau
von Stael ihn kennzeichnete, hätte ſich unter allen „Apropos“ und zu allen
Zeiten zu Anſehen, Einfluß, Glanz und Genuß hinaufgearbeitet. Schon in
den früheſten Anfängen ſeiner beginnenden Beamtenlaufbahn hören wir
in ihm einen ungeſtümen Lebenshunger rumoren, der nach allen Möglich—
keiten ſpäht, aus dem Schatten in die Sonne zu gelangen und an der Tafel
der Bevorzugten mitzuſchmauſen. Das berühmte Sendſchreiben, das er,
irrtümlich Morgenluft witternd, 1797 bei deſſen Thronbeſteigung an Fried-
rich Wilhelm III. richtete („dieſe liberalſte Zudringlichkeit“, hat Goethe ge—
ſagt), wurde ihm damals von vielen als ein Akt männlicher Beherztheit hoch
angekreidet. Heute verdächtigt man ihn wohl nicht zu unrecht, wenn man
auch darin einen zehn Jahre nach der Geburt des Marquis Poſa nicht ein-
ſehr originellen Verſuch erblickt, ſich mit einem Satz in den Sattel zu
ſchwingen. Gentz wagte wenig mit dieſem ſubmiſſeſten Vortrag auf dem
wohltemperierten Klavier der Freiheit: ſonſt wäre er gewiß nicht länger
königlich preußiſcher Kriegsrat geblieben. Und ich zweifle nicht, daß er ſchließ⸗
lich ſelbſt zum königlich preußiſchen Miniſter aufgerückt wäre, hätte ſeine Un⸗
1 geduld ihn nicht nach Wien gejagt. Er brauchte alſo die Revolution zu ſeinem
} perſönlichen Glücke nicht. Aber vielleicht hätten ſich ohne die Anregungen,
die ſie ihm bot, ohne das Problem, das ſie vor ihn hinſtellte, und ohne die
Notwendigkeit, ſich täglich und ſtündlich damit auseinanderzuſetzen, ſeine dialek—
tiſchen und polemiſchen Fähigkeiten nicht ſo glänzend entwickeln, ſo wirkſam
t betätigen können. Geiſtig hat ſie ihn unbedingt gefördert. Und inſofern — nur
inſofern — dürfte man ihn den Emporkömmlingen der Revolution beigeſellen.
Vor kurzem erſchienen die erſten zwei Bände einer auf den doppelten
Umfang angelegten Sammlung „Briefe von und an Friedrich von
Gentzz' die zu einem guten Teil noch unveröffentlichtes Material und darunter
Stücke enthält, die den Anſpruch erheben können, den feſſelndſten Doku—
7 menten der Zeit angereiht zu werden. Zumal die Briefe von Gentz (glück—
licherweiſe die weitaus überwiegende Mehrzahl) ſprühen von Lichtern, die
in die Winkel der Geſchichte leuchten, die er, als echter Künſtler, durch
fein Temperament anſieht. Dieſes Temperament iſt hinreißend, trotzdem es
immer in der Gewalt eines Verſtandes ſteht, der an Fülle, Schärfe,
5 Schmiegſamkeit und Behendigkeit ſeinesgleichen ſucht. Freilich, an dem
< SE des Schreibers verändern dieſe Briefe nichts. Was Varn—
hagen, Schleſier, Prokeſch⸗Oſten und andere uns von ſeinen Bekenntniſſen
und Verſchleierungen bereits mitgeteilt haben, iſt ſo reichhaltig und zugleich
ſo beſtimmt, daß neue Beiträge höchſtens einen Umriß nachziehen, eine Ver—
* „Auf Veranlaſſung und mit Unterſtützung der Wedekind⸗Stiftung zu Göttingen
herausgegeben von Friedrich Carl 1 7 Verlag von R. Oldenbourg, München
vnd Berlin.
685
blaſſung auffriſchen, einen Punkt betonen können. Allein dieſe neuen Bei⸗
träge haben immerhin den großen Vorzug, daß ſie uns in den Stand ſetzen,
Gentz auf den Schleichwegen ſeines Gewiſſens noch beſſer nachzuſpüren.
Dieſes Gewiſſen iſt merkwürdig. Es iſt das Gewiſſen eines Aretin, heim⸗
geſucht durch das Geſpenſt des kategoriſchen Imperativs. Begleitet hat ihn
dieſes Geſpenſt, ohne daß er es immer merkte, bis an ſein Ende; allein er⸗
ſchreckt hat es ihn nur in den erſten Jahren, in den Anfängen ſeiner „Bekehrung“.
Damals verſuchte er ſich über dieſen Zwieſpalt hinwegzuhelfen, indem er den
kategoriſchen Imperativ mit der „Staatsräſon“ identifizierte, bis er ſchließlich,
den Unfug einer ſolchen Taſchenſpielerei erkennend, entſchloſſen den „bürger⸗
lichen Gehorſam“ (ein Ausdruck Chriſtian Garves) an deſſen Stelle ſetzt.
Auch ſein Verhältnis zur franzöſiſchen Revolution ſchält ſich aus dieſem
urſprünglichen Zwieſpalt heraus. Ihm als eine hohe Tugend zu buchen,
daß er zu Beginn leidenſchaftlich mit ihr ging, wäre übertrieben. Man geht
nicht mit, wenn man von einem Sturme fortgeriſſen wird; man unterliegt
einer Naturgewalt. Alle, die von der Zukunft noch etwas zu erhoffen hatten,
horchten in jenen großen Tagen mit dem Herzen nach Paris. Das Freuden-
feuer, das, von ſeinen Freunden Hölderlin und Schelling unterſtützt, der
Kandidat der Theologie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Hegel!) im Tü—
Dinger Stiftsgarten abbrannte, als die Nachricht eintraf, daß am 25. Sep⸗
tember 1792 die „eine und unteilbare Republik“ proklamiert worden war,
flammte für die ganze deutſche Jugend. Wie hätte da Gentz abſeits ſtehen
ſollen, der ſchon 1789, nach dem Fall der Baſtille, in einem Briefe an
Garve „unſere glücklichen Zeiten“ grüßte, in der ſich die „Anmaßungen der
Throne der ſtrengen Prüfung einer raſtloſen Vernunft, die ſich nicht halb
befriedigen läßt, unterwerfen müſſen.“ Dieſes Hochgefühl ſteigert ſich mit
jedem Tag und gießt ſeine Glut in alle Briefe aus. Gleichzeitig ächzt ſein
Schreibtiſch unter der Laſt der Manufkripte zum Preiſe der franzöſiſchen
Befreier. Er hadert „als ſtrenger Kantianer“ mit Juſtus Moeſer, der eine
„hiſtoriſche Unterſuchung bei Feſtſtellung der Menſchenrechte“ anſtellen—
möchte, die als Naturrecht indiskutabel ſeien. „Der Tod Mirabeaus,“
ſchreibt er im April an Garve, „hat hier keine Senſation gemacht: ſchlechte
Ehre für Berlin. Ich habe ihn tief betrauert“, und in dieſer Ergriffenheit
verſendet er feine Schrift „Uber den Urſprung und die oberſten Prinzipien
des Rechts“, eine Apologie der Revolution, die er aus dem aprioriſtiſchen
Rechtsbegriffe Kants heraus als einen Triumph des Geiſtes und des Fort-
ſchritts feiert. Zwei Jahre darauf jedoch iſt dieſer ſtrenge Kantianer mit
der praktiſchen Anwendung der Theorien feines Meiſters gar nicht mehr
einverſtanden. Die Menſchenrechte ſcheinen ihm eine Verirrung, und er = |
donnert ingrimmig gegen die „hochtönende und nichtsbedeutende Deklaration
der großſprecheriſchen Geſetzgeber Frankreichs, welche die leidende Menſchheit
686
mit einem Traum von Geneſung äffen“. Was ihm eben noch als ein Triumph
des Geiſtes und des Fortſchritts galt, brandmarkt er jetzt als eine Pöbeltyrannei,
durch welche die Blüten der Kultur in Barbarei verwandelt zu werden drohen“.
Wie war dieſer Umſchwung ſo raſch und ſo gründlich gekommen? Ganz
einfach: eines Tages las Gentz Edmund Burkes „Reflections on the revo-
lution in France“, und die Schuppen fielen ihm von den Augen. Unter
dem Eindrucke dieſes Buches wandelte er ſich auf der Stelle aus einem
Bekenner zu einen Bekämpfer der Revolution und machte ſich, dampfend
von Apoſtateneifer, an die Überſetzung. Die meiſten, die über Gentz ge—
ſchrieben haben, geben ſich mit dieſer Erklärung zufrieden, auch wenn ſie
ihm ſonſt nicht über den Weg trauen, und einige finden ſogar in dem Abfall
von ſeinen Idealen und in Burkes Abfall vom Whiggismus eine deutliche
Analogie heraus. Aber Burke war gar nicht abgefallen; er hatte nur keine
Ar Geduld und war durch die Plötzlichkeit der Ereigniſſe überrumpelt, die ihn
verhinderte, in der franzöſiſchen Revolution die gleichen Antriebe und Ele—
mente zu entdecken wie in den amerikaniſchen Freiheitskriegen, für die er ſich
begeiſtert und bloßgeſtellt hatte. Immerhin waren die „Reflections“ ein fo
gedankenſchweres, geiſtreiches und ſtellenweiſe entzückend feines Buch, daß
ein Mann wie Gentz ſich davon mächtig angezogen fühlen mußte, und ſelbſt
wenn er ſich ihm einwandlos gefangen gegeben hätte, wäre dies noch ein In—
tellektsprozeß geweſen, den man gelten laſſen dürfte. Allein ganz ſo recht—
ſchaffen ſtellte ſich dieſe Erleuchtung nicht ein. Gentz ahnte eben nicht, daß
man einmal ſeine Briefe ſammeln würde. Und in einem, wiederum an
Garve, drückt er zwar ſein hohes äſthetiſches Wohlgefallen an Burkes Werk
aus, nennt ihn aber einen „Gegner meiner Lieblingsmeinung“ und erklärt
ſich auf das entſchiedenſte „gegen die Grundſätze und gegen die Reſultate“
des Engländers. Das war am 19. April ı 791. Gentz verſpritzte darauf
noch viele Monate lang eine Menge Tinte „in tyrannos“ und erſt in der
zweiten Hälfte des Jahres 1792 begann er die Überſetzung des Buches, die
15793 zur Ausgabe kam.
*
*
II.
E waren mithin wohl Gedanken und Einflüſſe ganz anderer Art, die
den verlorenen Sohn wieder in das Vaterhaus der Reaktion zurück—
führten, allwo man ihm zu Ehren ein fettes Rind ſchlachtete. Wahrſchein⸗
lich lockte ihn der Duft dieſes Bratens an; draußen in der Wildnis, in der
Be er ſich bisher umhergetrieben hatte, gab es keine ſo leckere Koſt. Leider folgten
un. bald viele Tauſend, Männer und Jünglinge, nach, denen es dabei nicht
5 um den eigenen Vorteil zu tun war. Nicht nur Leute wie Hegel, deren Ge—
. Bien durch Theologie verſeucht war; nicht nur die Erſchrockenen, die hinter—
drein ihr bißchen Aufwallung als Jugendeſelei beſchönigten; nicht nur die
Leiſetreter, die es anders gemeint hatten. Auch tüchtigen, ehrlichen, über—
687
zeugten Seelen, die der großen Bewegung im Nachbarlande ihre freudige
Zuſtimmung geweiht hatten, wurde der Atem kurz, und ſie blieben ſtehen
oder kehrten um, bevor die Revolution noch ihren heroiſch-kragiſchen Gipfel
überſchritten hatte. Die Geiſter erſchlafften vor der Zeit, um ſich erſt ein
Menſchenalter ſpäter gegen die unerträgliche Knebelung durch die heilige
Allianz wieder zum Widerſtand zu ſpannen.
Man kann im deutſchen Schrifttum den Einſchnitt genau wahrnehmen,
an dem ſich die Schwenkung vollzog. Sie wurde durch die „Gräuel“ der
Revolution veranlaßt. Dabei wartete man nicht einmal die Terreur ab,
deren im Paroxysmus der Notwehr, unter der Drohung des vechändeten 4
Auslands und angefichts der Invaſion verübte Gräuel, beiläufig bemerkt,
in vierzehn Monaten nicht fo viele Opfer häuften, als in unſern & Tage ‚bi 9
ruſſiſche Autokratie in einem einzigen Monat hinwürgt. Die Waſſerſche EM
wo die deutſchen Geſinnungen wieder ins Bett der „Ordnung“ zur
zulaufen beginnen, markiert ſich bereits am 2 1. Januar 1793, dem Darum
des „Königsmordes“. Und wer, das Für und das Wider bedachtſam
wägend, dem erſchütternden Eindruck dieſes Ereigniſſes noch ſtandhielt, dem
krallte ſich bei der Hinrichtung der „unſchuldigen“ Marie Antoinette der
Abſcheu vor der „ſinnlos mordenden Volkswut“ ſo tief ins Fleiſch, daß er
umfiel. Der deutſche Philiſter war mit der Revolution „fertig“.
Über die franzöſiſche Revolution iſt noch alles zu ſagen. Was auch dar⸗
über ſchon gedruckt wurde, ihre Ätiologie und Pſychologie find uns frend
geblieben, und wir überliefern uns Legenden, als läge ſie nicht an der Schwelle
der Gegenwart, ſondern im vorgeſchichtlichen Dunkel der Jahrtauſende. er
Die zähefte dieſer Legenden ift auf die Abſicht einer ſentimentalen oder fer
vilen Geſchichtſchreibung zurückzuführen, Ludwig XVI. und Marie Anto⸗
niette als die ſchuldloſen Opfer ihrer Vorfahren, als die Sündenböcke des
ancien régime darzuſtellen. Seltſam genug, zu ihrer Zeit hielt von den
wenigen, die ſicher unterrichtet waren, kein einziger das Königspaar für"
ſchuldlos, ſelbſt deſſen nächſte Angehörige nicht, die doch in derſelben Luft-
ſchicht des unumſchränkten Gottesgnadentums atmeten. Oder gibt es eine
beredtere Anklage als den Brief, worin Joſef II. ſchon 1775 feiner Schweſter
in den heftigſten Ausdrücken ihren Leichtſinn, ihre Verſchwendung, Günſt⸗
lings wirtſchaft und vor allem ihre verderbliche Eiumiſchung i in die Staats⸗
geſchäfte vorwirft, „die das Unglück ihres Lebens“ heraufbeſchwören müßt
Und bald darauf, 1776 — ſiebzehn Jahre vor der Hinrichtung! — ſchrieb
Kaiſerin Maria Thereſia an ihre Tochter: „Ich möchte Dich vor dem?
grund retten, in den Du hineinrennſt.“ Prophetiſchere Worte wurden nie
mals geſprochen. Trotzdem wuchſen Ludwig XVI. und ſeine Gemahlin dank
der Legende faſt als Märtyrer in das Bewußtſein der Nachwelt hinein.
Die Wahrheit iſt, daß auch heute welches Tribunal welchen Landes immer
688
vor die Wahl geſtellt wäre: entweder dasfelbe Verdikt zu fällen wie der
Konvent, oder den Gedanken des Staates, der Unverletzbarkeit des Terri—
toriums und der nationalen Zuſammengehörigkeit vollſtändig preiszugeben.
Denn der Konvent verurteilte den König nicht wegen ſeiner Wortbrüchig—
keit und ſeiner Sünden im Innern, ſondern wegen Landesverrats, und des
gleichen Verbrechens ward Marie Antoinette angeklagt. Und darüber können
jetzt unmöglich noch Zweifel obwalten. Aus den Briefen Ferſens an den
König von Schweden, Marie Antoinettes an Katharina die Große, an Ferſen
. * den Grafen Merch d' Argenteau, Ludwigs XVI. an den Baron de
8 mäßigen S Quellen wiſſen wir genau, daß die Anklage vollauf begründet war,
daß der König wirklich den Einbruch der Verbündeten mit vorbereitet
md ſich ſogar bereit erklärt hatte, dem zögernden England franzöſiſche Ge—
detsteile abzutreten, falls es ſich der Koalition anſchließen wollte.
Es iſt richtig: von dieſen Dokumenten lag dem Konvent damals kein ein-
ziges vor. Er urteilte in freier Beweiswürdigung nach Indizien. Doch dieſe
Indizien waren fo maſſenhaft, ſo ſchlagend, ſo lückenlos, ſo unwiderleglich,
Ah daß man unmöglich eine andere Rechtsüberzeugung daraus ſchöpfen konnte.
Und wenn man ſie mit der nicht minder belaſtenden Haltung Ludwigs XVI.
zuſammenhielt, der mit unbegreiflichem Starrſinn alles, abſolut alles leug⸗
nete: das Wichtigſte und das Gleichgültigſte, die unumſtößlichſten Tatſachen,
die Urkunden, ſeine Handſchrift, ſeine Schloſſerarbeiten, Ausgaben, die durch
bie vorhandenen Quittungen belegt waren, Worte, die er vor hundert Zeugen
geſprochen hatte — dann konnte der Konvent zu gar keinem anderen Schluſſe
gelangen, als daß „Ludwig Capet“ ſeinen Kopf verwirkt hatte.
Die deutſchen Regierungen ließen es ſich angelegen ſein, den beſchränkten
Untertanenverſtand mit dieſer Einſicht in die Dinge zu verfchonen. Die
Zenſur arbeitete mit hundert Armen, und die Skribenten der hohen Obrig—
* die beauftragten wie die freiwilligen, hatten nicht einmal viele Mühe,
die Haſenherzen und Gummihirne ringsum mit Furcht und Schrecken vor
der von Gentz geprägten „Pöbeltyrannei“ zu laden. Daß der Nationalkon-
vent ſittlich und geiſtig nicht qualifiziert war, um über den Mangel eines
ehernen materiellen Schuldbeweiſes hinweg zu einem Todesurteil zu ſchreiten,
N war damals nicht nur öffentliche Meinung; auch ſonſt ziemlich genießbare
Leu e, die nicht gleich von der erſten Behauptung umgeblaſen wurden, ent—
üſteten 10 über den von Feigbeif Haß und Verblendung een
* chen Berufen. Ben ihren 750 Digliden 1 708 an ber
age. Von dieſen 708 wum waren: einer ein königlicher Prinz Philipp
689
Egalite), 15 Profefforen, 20 Schriftfteller, 40 Offiziere, 41 Ärzte, 48 Prie-
fter, 192 Richter und Staatsanwälte und 211 Advokaten. Die beiden
letzten Gruppen machen zuſammen 403 Stimmen aus, bilden alſo allein
ſchon eine Mehrheit rechtskundiger, für den Juſtizdienſt vorgebildeter Per-
ſonen, und mit Hinzurechnung der übrigen oben angeführten Gruppen finden
wir uns einer Maſſe von 562 Abgeordneten gegenüber — 562 von 708
— deren Meinung gewiß als der Ausdruck der franzöſiſchen Intelligenz,
als der gut bürgerliche Durchſchnitt angeſehen werden kann, dem Tollheiten
niemals und nirgends behagen. Der König und die Königin wurden von der
Bourgeoiſie aufs Schafott geſchickt: von der Bourgeoiſie in der verdächtigen?
den Bedeutung, die das Wort in den ſozialpolitiſchen Kämpfen unſeren
Tage gewonnen hat. Wie denn überhaupt die franzöſiſche Revolution immer
eine reine Bourgeois-Erhebung war, deren Geſichts feld blos den tiers eta
einſchloß und keinen vorausgeworfenen Schatten der großen Ereigniſſe auffin 1
die ſich mit dem Auftreten des vierten Standes in unſer Weltbild einzeichnen.
Wir ſind mithin ſehr weit von der Horde raſender, ſtinkender, zähne
fletſchender, blutgieriger Sansculotten und Fiſchweiber, deren mordenden—
Maſſentritt durch die Darſtellungen einer leichtfertigen oder unterwürfigen
Hofhiſtoriographie hallt. Dieſe ohnmächtigen Komparſen einer unabwend-
baren, von den Ideen längſt vorbereiteten und beſchloſſenen Kataſtrophe
konnten ſich in unſerer Vorſtellung ſehr leicht vordrängen, weil ihre Führer
und Bändiger ihnen fälſchlich aſſimiliert wurden; weil die innern Zuſammen—
hänge meiſt verborgen waren und die Phantaſie ſich darum um ſo lieber an
die demonſtrativen theatraliſchen Zuſpitzungen hielt. Wie hätte man ſich
auch außerhalb Frankreichs einen annähernd zutreffenden Begriff von den
Vorgängen bilden ſollen? Ein Zeitungsweſen, eine Berichterſtattung in der
modernen Ausgeſtaltung gab es nicht; man hörte nichts als den wilden
Schrei der „Pöbeltyrannei“. Aber Gentz, der dieſes Wort zum erſten Male
niederſchrieb, hörte viel mehr. Er begnügte ſich nicht mit zugetragenen Ge⸗
rüchten, mit Belehrungen aus dritter Hand, denn er wußte, daß (Brief n
Garve) „Deutſchland die meiſten franzöſiſchen Neuigkeiten von Leuten er—
hält, die der Revolution nicht wohlwollen, und daß die, welche dieſe Neuig—
keiten uns vortragen, aus Furcht vor ihren Obrigkeiten faſt durchgängig ge=
nötigt ſind, das wahrhaft Große und Schöne, was ſie noch etwa zu ſagen 4
hätten, zu unterdrücken und uns Poſſen und Schlacken hinzuwerfen.“ 0
Dieſer Brief iſt vom 5. Dezember 1790. Schon damals las er d
Courier de Provence mit gleicher Aufmerksamkeit und hielt überdies 00
Journal Encyclopedique, das einen abgekürzten, „aber ſehr zuverläſſigen
690
Procès verbal der Nationalverſammlung, um nicht bloß die Reden der
Deputierten, ſondern auch die „voluminöſen Akten“, ſowie die „Rapports
der verſchiedenen Komitees“ zu ſtudieren. Anfang 1791 ſchafft er ſich dazu
„zwei der beſten franzöſiſchen Zeitſchriften: das Journal de Paris und den
Moniteur“, und ſpäter noch drei weitere: den „Redacteur, den Conservateur
und den Ami des Lois“ an. Kein Opfer an Geld und Zeit dünkt ihm zu
hoch, um ſich zu einer ganz ſelbſtändigen Anſchauung der Umwälzung im
Nachbarlande durchzuringen. Noch Ende 1795 bittet er Böttiger in Weimar,
ihm womöglich noch Material für ſeine Geſchichte der Revolution auf—
ziutreiben, obſchon „ich keineswegs ganz arm bin, denn ich habe (außer den
vielen Zeitungen) alles geleſen, was Necker, Lally-Tollendal, Mounier,
Nicolas Bergaſſe und andere geſchrieben haben.“ Er iſt unerſättlich und
von einer erſtaunlichen Gewiſſenhaftigkeit. Es gab auch wohl damals keinen
\ inzigen Menſchen in Deutſchland, der über die Revolution fo gründliche,
genaue, vielſeitige Kenntniſſe aus allen zugänglichen Quellen beſaß. Er
hatte nicht nötig, ſich eine der beliebten Antinomien ſeines Lehrers auf—
zubauen, die, je nach dem Standpunkt, den Satz und deſſen Gegenteil gleich
richtig erſcheinen laſſen. Er hatte ſich ein begründetes Urteil erwirtſchaftet
und wußte, was er zu denken hatte. Er ließ ſich nicht mit Gerüchten,
Stimmungen, Entſtellungen und telepathiſchen Eindrücken abſpeiſen. Er
kannte die wahren Akteure der Revolution, ihre wahren Triebfedern, ihre
wahren Verwurze ungen und Verkettungen, und darum war niemand
weniger als er berechtigt, von einer Pöbeltyrannei zu ſprechen. Das Wort
glitt ihm auch bloß aus der Kehle, nicht aus der Seele. „Ich verabſcheue“,
ſchreibt er im März 1799 an A. Hennings, „als ſtrenger Syſtematiker
die franzöſiſche Revolution nicht etwa ihrer zufälligen Greuel wegen.“
Bei dieſer Ehrlichkeit ſchlug ihm wieder einmal das Geſpenſt des kategoriſchen
Imperativs in den Nacken. Er macht ſie jedoch ſofort durch eine Unehrlichkeit
zut, indem er hinzufügt, daß er die Revolution bloß wegen ihrer „Unrechtmäßig—
7 keit“ verabſcheuen gelernt habe. 5
D. Geſchichte der Revolution, an der, wie ſeinem Briefwechsel zu ent⸗
nehmen iſt, Gentz andauernd und eifrig gearbeitet hat, iſt nie erſchienen.
Das jedenfalls ſehr weit geförderte Werk zu Ende zu bringen, wäre ſeinem
AR: Ameiſenfleiß um ſo leichter gefallen, als in jenen Tagen, trotzdem die eng—
5 ichen Zuſchüſſe bereits reichlich floſſen, die Geldnot als ſpornende Muſe
a Su dem Schreibtiſche des Ledemannes ſtand, der am grünen Tuch der
N Ben und auf den weißen Laken gaftlicher Schlafzimmer feinen ſozialen
| dane ſchwelgeriſch auszukoſten begann. Es mögen daher andere als
Aber Gründe geweſen ſein, die ihn verhinderten, mit dem Buche hervor—
> zutreten. Einer dieſer Gründe lag vielleicht in der Schwierigkeit, einen
691
Bruch zwiſchen dem Stoff und dem Darfteller zu überbrücken. Man ſtak 1
noch mitten in der Revolution, fo daß die zu einer geſchichtlichen, das ft
möglichſt unperſönlichen Betrachtung erforderliche Diſtanz in keiner Weiſe
zu gewinnen war, und mit feiner ſubjektiven Betrachtung konnte Gentz
damals gerade dieſem Objekt am wenigſten beikommen. Denn damals
hatte er ſich virtuos auf den engliſchen Konſtitutionalismus eingeſpielt, durch
deſſen Mittel er alle hiſtoriſchen Entwicklungen und politiſchen Verhältniſſe
anſah, und auf dieſen Grundton ließ ſich die franzöſiſche Revolution, man
mochte ſie nehmen wie immer, unmöglich ſtimmen. Mit dieſem Prüften 3
der Kritik war ſie weder zu verhimmeln, noch zu verdammen. 9
Und ſie zu verdammen, hatte er ſich, als er den 1 an Hennings
ſchrieb, bereits zur Hauptaufgabe ſeines Lebens ger: etzt. Immer heftiger,
immer lauter, immer grimmiger entluden ſich ſeine? Flüche gegen die
zoſen, die (Brief an Adam Müller, Oktober 1802) „ein für allemal, und
jetzt wie vor fünf Jahren, hors de la nature et au dela du crime“ find.
Mit von Wut entzündeten Augen ſtarrt er fiebernd auf das große Drama,
das in Paris abrollt, und ordnet ihm alle Geſichte, Beziehungen und Vor⸗
gänge der Welt ein. Menſchen, Dinge und Taten wertet er nur nach ihrem
Verhältnis zur Revolution, und fo wie dieſes Verhältnis ſich ändert, ſpringt
auch fein Urteil ſofort um. Am 3. März 1799 ſchreibt er an Böttiger in A
Weimar: „Was dagegen Bonaparte betrifft, fo bin ich feft überzeugt, daß M
W.“ feinen Fähigkeiten als Staatsmann viel zu viel Ehre antut. Gehen
Sie alle Proben, die dieſer General von feinen politiſchen Talenten abgelegt 7
hat (von ſeinen erſten Beſchlüſſen in Italien an bis zu ſeinem letzten Divan
in Kairo), durch, und ich glaube, Sie werden ziemlich mit mir überein⸗ ö
kommen, daß Bonaparte wohl allenfalls die Kunſt verſteht, Revolutionen A
anzufangen, nicht aber die viel ſchwerere, fie zu beendigen.“ Als aber 2
neun Monate darauf Bonaparte ſeine Kanonen gegen den Palais Bourbon *
auffahren läßt, begrüßt Gentz (im Dezemberheft ſeines „Hiſtoriſchen de, %
nal“) begeiſtert den achtzehnten Brumaire und feiert den „genialen General“
als den „uneigennützigſten Retter Frankreichs“.
Er beharrt nicht lange bei dieſer günſtigen Anſicht, die freilich in der
Folge durch die Uneigennützigkeit Bonapartes nicht ſonderlich beſtärkt wurde; 4
und er entſchädigt ſich für dieſe Entgleiſung bald durch immer wildere? 1
griffe gegen das „Ungeheuer“, bis ſich ſein Haß nach der Kaiſerproklam.
zu wahren Tobſuchtsanfällen ſteigert. „Nun fagen Sie mir nur,“ ft
er am 17. Juni 1804 den ſchwediſchen Diplomaten und deutſchen Si
geift Karl Guſtav von Brinkmann, „was dünkt Ihnen denn zu dem ne
Kaiſertum? Haben Sie denn noch Worte, um dieſes letzte aller Bubenſtücke
auszudrücken? . Und auch diefer odenloſen Infamie werden ſich die
Gemeint iſt Wieland.
4 h
692. s
Fürſten Europas unterwerfen? ... Und die bluttriefende Beſtie hofft
wirklich, ihre gebrandmarkte Familie und die Natternbrut, die ſie der Welt
vermachen will, auf ewige Zeiten an ſeinem Frevel teilnehmen zu laſſen?“
Dieſer Haß, den Gentz einmal als „das große Intereſſe, für welches ich
atme, denke und lebe“, bezeichnet, wirkt gerade durch ſeine Übertreibungen
echt und könnte uns durch feine vulkaniſchen Ausbrüche imponieren. Wenn
nur dieſes heilige Feuer nicht durch engliſches und vielleicht auch anderes Geld
(denn er nahm es, woher es kam) geſpeiſt worden wäre! Wenn wir nur
nicht wüßten, daß fein Pathos mitunter mit ſich handeln ließ! Wenn uns
nur ſein Zorn gerade wegen ſeiner Unbedingtheit nicht verdächtig würde!
* Denn ſchließlich war der ſchärfſte Vorwurf, den er gegen Bonaparte erhoben
daß er eine Revolution nicht zu beendigen verſtehe, von dem Tag
kräfte, da dieſer die Republik vernichtet und über deren Trümmern
feinen Autokratenthron aufgerichtet hatte. Napoleons Macht ſchien damals
unerſchütterlich: warum wartete Gentz nicht wenigſtens eine Weile lang ab,
woas für Gebrauch er davon machen würde? Den neuen Kaiſer als Bringer
des Friedens anzujubeln, wäre eine Lächerlichkeit geweſen. Allein, einmal
am Ziele, hat er — Arthur Levy hat dies in ſeinem prachtvollen Buche
„Napoleon et la Paix“ fonnenflar dargetan — nie den Krieg um des
Krieges willen geführt. Er hätte ſicherlich vorgezogen, ſeine blutig errungene
Herrlichkeit geruhſam zu genießen, anſtatt fie Tag um Tag, für den Aus—
gang bangend, mit der Schneide des Schwertes zu verteidigen. Die Grenzen
der Verantwortlichkeit ſind hier ſchwer zu ziehen. Den Fluch der böſen Tat:
„daß fie fortzeugend Böſes muß gebären“, konnte man mit logiſchen Er⸗
waägungen nicht mehr bannen. Sonſt hätten die Fürſten Europas zu dem
| . Schluſſe gelangen müſſen, daß Bonaparte der beſte und ſtärkſte Bundes-
genoſſe in ihrem Kampfe gegen den Drachen der Revolution ſei, der den
Schlaf ihrer Nächte fraß; ſonſt hätten ſie ihn ſeinen Raub nicht nur un—
N. geſtört verdauen laſſen, ſie hätten ihn ſogar ſchützen müſſen, wenn er dabei
auf innere Hemmungen geſtoßen wäre. Dann wäre er der Grand-Con—
netcable der Reaktion geworden, mit deſſen Hilfe fie den Kontinent um ein
Jahrhundert zurückgeſchraubt hätten.
. Doch ſo tief drang glücklicherweiſe ihr Blick nicht. Sie brachten es nicht
über: Herz, ihn ohne Hinterhältigkeit anzuerkennen, ihn als Gleichen unter
ichen in ihre Reihe aufzunehmen. Sie brachten es nicht übers Herz,
5 Er begründet war; as er, ohne ana und Höllen⸗
1 . die Kirche nach ſeiner Pfeife tanzen hieß, weil er als Realiſt lachend
6593
über alle feudalen Ideale hinwegſchritt, den alten Adel auf den Kehricht
warf und ſich einen neuen ſchuf und ſelber die Vermeſſenheit hatte, ſein
eigener Ahne zu ſein. Das ertrugen die Fürſten nicht, trotzdem der Apparat,
mit dem er ſich umgab, ihnen verriet, daß er nichts anderes ſein und bleiben
wollte, wie ſie ſelbſt. Mit dem Beſieger hätten ſie ſich verſöhnt, das lag in
der Linie ritterlicher Überlieferung. Dem Länderdieb hätten ſie verziehen,
denn das Mehren des Reiches gehörte von jeher zu ihrem Beruf. Aber
dem „Uſurpator“ hatten ſie den Untergang geſchworen. 4
Auch Gens, obſchon er kein Fürſt war, ſondern ſich bloß, 1803 in Lon— 4 1
don, den ihm noch nicht verliehenen Adel anmaßte (Je ne suis plus autre 1
chose que Msr. de Gentz, sans titre; c'est sous cette adresse que vous
m’ecrirez“, belehrt er Adam Müller), geriet in dieſe Enge des Denke
Seine nationale Empfindlichkeit (deren er fähig war) und ſein poli
Ideenzug verſtummten in der Empörung, mit der er den „Uſurpator
folgte. Durch Bildung, Erfahrung und ein ſouveränes Talent ausgerüſtet,
in freier Vogelſchau über den Zuſtänden zu ſchweben, betrachtet er fie lieber
durch die Schießſcharte einer mittelalterlichen Burg, die ihm nur einen kleinen
Ausſchnitt zeigt. Aber in dieſer Burg hauſt eine gar fürnehme Geſellſchaft
glatter Männer und geputzter Frauen, Leute mit feinen Manieren, präch-
tigem Tafelgeſchirr und einer diskret lächelnden Tonleiter der Erregungen,
in deren Mitte Gentz, vor Wonne ſchwitzend, das wattierte Daſein nützt,
das fie nicht nur dem Verfechter ihrer Vorrechte und Vorteile, ſondern
auch dem glänzenden und unterrichteten Plauderer gern gewähren. Der
„beſte Kopf Deutſchlands iſt auch ſein beſter Snob geworden. Die An-
lage dazu brachte er mit. In ſeinen Tagebüchern findet ſich noch aus ſeiner
Berliner Zeit, von 1801, eine Stelle, wo Gens felbftgefällig bemerkt, daß
er beginnt „a figurer sur la scene du monde“, und die hohe Geſellſchaft
wird „un des principaux objets de mes occupations, de mes etudes et de
mes puissances“. Dieſe Anlage konnte ſich erſt auf dem viel breitem,
üppigern Boden Wiens voll entfalten. Hier iſt er in ſeinem Element. Hier
wimmelt es von Prinzen und von Grafen, von Chotecks, Harrachs, Liechten⸗
ſteins, Fürſtenbergs, Wilczecks, Thurn und Taxis, de Ligne, und mit den
Herren iſt er immer ſehr liiert“, die Frauen find ihm immer „ſehr ge⸗ 1
wogen“. Je 45 55 einer im Gotha notiert, deſto ſtärker und raſcher
wickelt ſich die Intimität. Ludwig Philipp von Orleans wird nach ein
Begegnungen in England ſein „beſter Freund“. In den jetzt zum er
mal veröffentlichten Briefen an Brinckmann dringt dieſe Eitelkeit auf;
Seite in komiſcher Weiſe durch, gerade weil ſie ſich durch den Akzent der
Selbſtverſtändlichkeit zu verſchleiern ſucht, als ob es nicht anders ſein könnte, N.
als ob es nie anders geweſen wäre. Einen Theaterbeſuch meldet er: „Ich
ſaß in der Loge der Fürſtin Eſterhazy,“ und wenn er nach Dornbach aufs
694
Land fährt, befindet er ſich „im Wagen mit dem Fürſten Schwarzenberg“.
Dabei verführt ihn nicht nur die gefällige Anmut eines von der Erziehung
geſchliffenen Verkehrs, ſondern auch deſſen grob materielle Befriedigungen
haben es ihm angetan. „Hier bleibe ich,“ ſchreibt er im Sommer 1803
wieder an Brinckmann aus Karlsbad, „ſo lange als Raſumowski, ſeine
drei Köche und ſeine zwanzig Pferde bleiben — dann ſuche ich die Küche
des Grafen Choteck, des Fürſten Lobkowitz auf.“ Und in demſelben Briefe
bekennt er, daß die gute Geſellſchaft und die gute Küche (la bonne cheère)
H die conditio sine qua non meiner Exiſtenz geworden find“. Er war
damals noch nicht vierzig Jahre alt!
{ Gentz mußte ſich dieſe Genugtuungen nicht erſt verdienen und erdienen.
Mit dieſer Annahme würde man ihn verringern. Sein Einfluß, das Ge—
ER wicht ſeines Amtes, ſeine internationalen Verbindungen, ſeine feſſelnde Per—
ſönlichkeit ſtellten ihm den Paſſierſchein in das Paradies der Ariſtokratie
aus. Er hatte nicht nötig, durch ein Opfer des Intellekts um ihre Gunſt
zu buhlen. Um ſo bedauerlicher iſt es, daß er dieſes Opfer, ohne es zu
wollen und zu gewahren, gebracht hat; daß die lakaienhaften Sehnſüchte
ſeiner Preußenſeele ihn gar ſo empfänglich für den Zauber der Herab—
laſſungen und der Höhergeſtelltheiten ſtimmten, und daß er im Rauſche
dieſer Berührungen jede Widerſtandskraft verlor. In Berlin war er immer
| noch ein Mann der Ideen, mit denen man ſich auseinanderfegen konnte; in
| Wien wird er ein Mann des Dogmas. Bei den Gaſtereien feiner „Koterie“
*
(das Wort iſt von ihm) ſaugt er ſich mit den Vorurteilen, Befangenheiten
und Rückſtändigkeiten dieſer Marodeure des ancien régime voll. Sehr
raſch gleitet der Kantjünger auf der ſchiefen Ebene der faſhionablen Ver—
gnüglichkeit in die geiſtigen Niederungen ſeiner eleganten Welt herab und
erfüllt ſich ſelbſt, obſchon ohne jedes religiöſe Bedürfnis, mit ihrem blinden
Kirchenglauben, ihrer dumpfen Unduldſamkeit. Freilich, fo tief ſank er nie
wie der ekelhafteſte und haſſenswerteſte aller Konvertiten, wie Adam Müller,
der ſich aus einem früheren lutheriſchen Theologen zum feiſten Wiener
Backhändl⸗Hofrat gemauſert hatte und ſich (an Gentz 1825) beklagte, daß
auf Ketzerei nicht mehr die Todesſtrafe geſetzt ſei. Allein erſchrocken iſt
Gentz über dieſen Stoßſeufzer kaum, er dachte nicht viel anders. „Katholiſch
geworden bin ich nicht. Ich war aber, wenn ich mich nicht ſehr irre, ſchon
zu der Zeit, wo wir voneinander ſchieden, fo durchaus katholiſch geſinnt,
daß ich in den darauffolgenden Jahren nur der freien Entwicklung meiner
Gedanken Lauf laſſen durfte, um dem Proteſtantismus (und zwar im
weiteſten Umfange) aus innerfter Seele gram zu werden.“ Dieſer Brief iſt
} Brom November 1824. Damals brachte 7 5 an feine Bill 5
695
gegen deſſen Aufhebung der Kornzölle, er tobte gegen jede Reform der Lon⸗
doner Regierung. Er wollte überhaupt keine Reform, gar keine und nirgends,
auch die harmloſeſte nicht. Er kämpft nicht mehr gegen die Revolution, er
ſtemmt ſich auch gegen alle Evolution. Dieſer unbeugſame Feind alles
Fortſchritts fordert nur noch die gänzliche Unterwerfung entrechteter Sklaven
unter den unbeſchränkten Willen unverantwortlicher Machthaber. Er iſt
ſchon lange auf diefem Wege. Schon 1803 erinnert ihn die „Hoſpitalität“
des Fürſten Lobkowitz an jene „gute Zeit, wo das Volk noch weiter nichts
mit den Geſetzen zu tun hatte, als ihnen zu gehorchen.“ Und daß jene gute
Zeit wiederkehre, dafür hat er darauf noch ein Menſchenalter lang mit une
erbittlicher Zähigkeit gewirkt. 4
Das iſt ſchade. Dieſe Unerbittlichkeit zerſtört uns den äſthetiſchen Ein
druck ſeines Bildes. Wie es ſchöne Raubtiere gibt und ſchöne Mörder, ſo 1
kann es auch Geſinnungslumpen geben, an denen man, wenn ſie einmal in
der hiſtoriſchen Perſpektive ſtehen, ſeine Freude haben mag. Gentz läßt dieſe N
Freude nicht aufkeimen, fo reich an beſtrickenden Gaben er war. Man hat
ihn immer einen Epikuräer genannt. Das iſt eine Falſchmeldung. Gentzens
Eudämonie ermangelte der Tugend, die der Grieche fordert, der nicht die
Luſt des Augenblicks, ſondern die Luſt an der Weisheit preiſt. Er iſt ein
rückſichtsloſer Raffer des Genuſſes, dem er ſein beſtes Teil geopfert hat, ein
von allen Kulturen geſättigter Geiſt, der die Kultur verleugnet hat. Denn
Kultur iſt Liebe, Kultur iſt Maß. Und nichts war dieſem Eiferer, Hetzer
und Haſſer fremder als das Maß. Es kam eine Stunde vor ſeinem Ende,
wo auch ihn dieſer Fehler bedrückte. In einer älteren Sammlung feiner
Briefe findet ſich einer, worin Gentz feiner ehemaligen Braut Amalie m⸗
hof geſteht, daß er das Syſtem der Ordnung in dem Bewußtſein verteidigt
habe, für eine verlorene Sache zu kämpfen, und daß „der Zeitgeiſt“ alle |
reaktionären Beſtrebungen zuſchanden machen werde.
Verſpätete Einkehr! Verſpätete Reue! Sie quillt aus einem Magen,
der die bonne chere nicht mehr bewältigen kann. Alt und müde geworden,
will Aretin ſeinen Frieden mit dem kategoriſchen Imperativ ſchließen. Ein
fauler Friede. Denn wenn dann Fanny Elßler hereinhüpft und die Morgen- .
röte ihres Kinderlächelns über ſeine welken Züge breitet, hat er das Geſpenſt
aus Königsberg ſofort vergeſſen. Das war ſo bis zum letzten Tag; das 4
war fein Schickſal — Evoe! Darum mußte dieſer Verſtand erſten Range f
in Taten zweiten Ranges verſanden. Mit dem Thyrſos ſchlägt man kein |
Schlachten. Und darum auch hätte Voltaire feinen Witz vergeblich an ih n 0
geübt. Gentz wäre, vielleicht an andrer Stelle, vielleicht mit anderen Titel. 55
und Orden behängt, unter allen Apropos geblieben, was er geworden (ie 1 5
ein Paraſit der Weltgeſchichte. N
696
Der Betrieb der Großſtadt
von Hermann Bahr
ine beliebte Redensart iſt: Man kann heute nur in der Großſtadt leben.
E Nicht minder iſt aber auch die Redensart beliebt: Man kann in der Groß⸗
ſtadt nicht leben. Und dieſe zwei typiſchen Redensarten drücken nicht
etwa das Verhältnis verſchiedener Menſchen zur Großſtadt aus, ſondern das
abwechſelnde Verhältnis derſelben Menſchen. Dieſelben Menſchen finden,
daß man heute nur in der Großſtadt leben kann, und finden, daß man in der
Großſtadt nicht leben kann. Jenes bezeugen die Leutenot auf dem Lande, die
Wohnungsnot in der Stadt, der Zug vom Land zur Stadt, aus der Klein-
es t nach der Großſtadt, die, geheimnisvoll alles anziehend und aufſaugend,
kcnaeß wächſt und ſchwillt. Dieſes bezeugt der Fluchtverſuch, in dem
er Großſtädter beſtändig lebt; aus den drei Wochen, die er ſonſt zur heißen
55 5 Zelt „in die Bäder“ „ging, ſi ind jetzt zwei, ja meiſtens ſchon drei Monate,
. id es iſt überdies Sitte geworden, ſich auch noch im Winter auf vier, auf
ſechs Wochen nach Sankt Moritz oder an die Riviera zu abſentieren; nimmt
man dazu die großen Auswanderungen zu Weihnachten, Oſtern und Pfingſten,
ſowie den ſich immer mehr eindeutſchenden engliſchen Brauch, Weekend zu
machen und jede Woche für die Zeit von Sonnabend Mittag bis Montag
Nachmittag der Großſtadt zu entfliehen, ſo ergibt ſich, daß der richtige
N Großſtädter, der nur in der Großſtadt leben kann, immer mehr nicht in der
Großſtadt lebt.
og Was meint denn nun einer damit, daß man nur in der Großſtadt leben
könne? Er meint es zunächſt wirtſchaftlich: er kann ſich dort beſſer ver—
werten, ſeine Fähigkeit bringt ihm dort mehr ein, dieſelbe Tätigkeit trägt
1 dem Advokaten wie dem Kaufmann, dem Arzt wie dem Künſtler in der
Großſtadt mehr. Und noch etwas: Die Fähigkeit lohnt ſich dort nicht bloß
5 beſſer, ſondern ſie ſteigert ſich auch, es wird nicht bloß dieſelbe Leiſtung des
5 5 Advokaten wie des Kaufmanns, des Arztes wie des Künſtlers in der Groß—
ſtadt beſſer entlohnt, ſondern er leiſtet auch mehr, er kommt dort nicht bloß
“ außerlich, er kommt durch alle die Hilfsmittel und Bildungsmittel, durch
den Wetteifer und die Reibung an Mitſtrebenden, durch die mächtig auf—
enden und antreibenden Impulſe der Großſtadt auch innerlich weiter, er
ı feine Leiſtung nicht bloß beſſer verwenden, ſondern fühlt ſeine Leiſtung,
e Kraft, ja den ganzen Menſchen angeſpannt, ausgedehnt und empor—
eſtreckt, nicht bloß ſein Pe auch fein innerer Wert nimmt zu.
Was meint er denn dann aber dau, daß man in der Großſtadt nicht
Nen könne? Er ſpricht damit ein unheſtimmtes beklommenes Gefühl aus,
deſſen ſich in der Großſtadt kein enz erwehren kann, nämlich das Gefühl,
45 697
dabei irgend etwas zu verſäumen, und zwar irgend etwas für ihn Weſent⸗
liches, ja vielleicht gerade das, was eigentlich ſein Leben ausmacht. Er ſpricht
damit das Gefühl aus, daß er zu teuer bezahlt, was ihn die Großſtadt
gewinnen läßt, daß dieſer Gewinn mit Verluſt und auf Koſten und um
einen zu hohen Preis geſchieht. Was verliert er? Auf Koften wovon?
Um welchen Preis? Er empfindet, daß er dabei ſchließlich ſich ſelbſt ab⸗
handen kommt. Er empfindet, daß er in der Großſtadt nicht ſeine Tat tut,
nicht ſein Leid leidet, ſich nicht ſeiner Freuden freut und niemals ſein eigenes
Leben lebt, ſondern immer in ein fremdes eingeſpannt iſt. Er empfindet,
daß er nicht für ſich, ſondern als Mittel für fremde Zwecke gebraucht und
verbraucht wird. Und ſo ſtellt er an ſich die bange Großſtädter Frage: Was |
hat das alles mit mir zu tun, und da es gar nichts mit mir zu Vo 3
wozu das alles?
Man kann heute nur in der Großſtadt leben, weil jede Fähigkeit, jede
Tätigkeit ſich dort nicht bloß beſſer lohnt, ſondern auch noch geſteigert wird. 4
Und man kann heute in der Großſtadt nicht leben, weil dieſe Steigerung
jeder Fähigkeit, jeder Tätigkeit, ja der ganzen Perſönlichke it irgendwie mit Rt
einer Bedrohung und Gefährdung der Perſönlichkeit, mit ihrer Verarmung,
Erniedrigung und Verwüſtung, ja mit ihrem völligen Verluſt verbunden
ſcheint. Das iſt die geiſtige Situation des Großſtädters.
Wie geſchieht denn das aber? Was nimmt denn eigentlich die Groß—
ſtadt mit einem vor, der in ſie kommt? Wodurch geſchieht es, daß er in
der Großſtadt feine Leiſtung nicht bloß beſſer verwerten, ſondern auch noch
die Leiſtung ſelbſt ſteigern kann? Dadurch, daß er dort ſogleich an den
Betrieb angeſchloſſen, in den großſtädtiſchen Betrieb eingefügt und von 5
dieſem unabläffig rotierenden Betrieb feſtgehalten wird; er iſt nun ein Teil as
des Betriebs geworden. Was iſt dies aber, der großſtädtiſche Betrieb? 9 ö
Eine vor unſerer Zeit durchaus unbekannte Verbindung, Verſchmelzung,
Verwachſung des Handels mit der Produktion. Große Städte hat es
ſchon im Altertum gegeben. Eine große Stadt kann ein politiſches Zentrum
ſein, oder ein Zentrum des Handels, oder ein Zentrum der Produktion.
Aber eine große Stadt iſt noch keine Großſtadt. Was wir jetzt Großſtadt ;
nennen, entſteht erſt, feit der Handel ins Innere der Produktion eingedrungen
iſt. Die Großſtadt entſteht erſt durch die Kom merzialiſierung der Indu
ja der geſamten Produktion, ja unſeres ganzen Lebens.
In alter Zeit ſteht der Produzent dem Konſumenten unmittelbar g
über. Das Bedürfnis, nach Art und Umfang bekannt, beſtimmt die Art
und den Umfang der Produktion. Allmählich ſchiebt ſich der Handel ein,
zunächſt bloß zur räumlichen Vermittlung. Hier ſind die Konſumenten,
dort ſind die Produzenten, zwiſchen beiden geht der Händler hin und her 1
und erſpart ihnen den Weg; er nimmt dem Produzenten das Produkt ab
698
und bringt es dem Kunden zu. Nun fällt es einmal einem Händler ein,
er möchte mehr verdienen. Alſo: ſeinen Abſatz vergrößern. Alſo: den
Kundenkreis vergrößern. Am einfachſten, indem er einem anderen Händler
die Kunden wegnimmt: Kundenfang, durch Unterbieten im Preis, durch
Reklame, durch allerhand perſönliche liſtige Geſchicklichkeit. Oder aber in—
dem er Kunden geradezu ſchafft, indem er es verſteht, ein Bedürfnis nach
ſeinen Waren in Menſchen aufzuregen, die bisher dieſes Bedürfnis über—
haupt noch nicht hatten. Und dann begibt es ſich, daß das Beiſpiel des
Händlers auch den Produzenten anſteckt, auch der will jetzt mehr verdienen.
N Alſo: feinen a Br Alfo: den ee ‚vergrößern. Der
5 r dem anderen die Kunden e en ſucht: im 9 8 iſt
der Handelsgeiſt erwacht. Der Produzent, dem es bisher genügte, ein
möglichſt gutes Produkt herzuſtellen, denkt alſo nun ſchon bei feiner Pro—
duktion daran, dieſes möglichſt gute Produkt ſo herzuſtellen, daß der Händler
gezwungen wird, es ebenſoguten Produkten anderer Produzenten vorzuziehen.
4 Das Produkt muß ſo ſein, daß der Konſument vom Händler gerade dieſes
i verlangt und dieſes Produkt dieſes Produzenten lieber hat als ein
ebenſogutes Produkt eines anderen Produzenten. Es muß alſo dieſem
Produkt zu ſeiner vollkommenen Qualität noch irgendein beſonderer Reiz
hinzugefügt werden. Daß das Produkt irgendein Bedürfnis vollkommen
befriedigt, die Qualität alſo, genügt nun nicht mehr, das Produkt muß nun
Zu ſeiner Qualität noch irgend etwas anderes haben, das es ſtärker anziehend
maacht als andere Produkte derſelben Qualität, das es fähig macht, anderen
Produkten derſelben Qualität die Kunden wegzunehmen, das es von anderen
Produkten derſelben Qualität zu feinem Vorteil im Wettbewerb unter-
5 ſcheidet: der Handelsſinn drückt ſich jetzt dem Produkte ſelbſt auf. Ja, der
| e inn drückt ſich allgemach der ganzen Produktion auf, die nun nicht
bloß das Produkt, ſondern mit dem Produkt gleich auch das Bedürfnis
| 8 nach dieſem Produkt zu produzieren hat. Es genügt nun nicht mehr, daß
ein Produkt ein Bedürfnis vollkommen befriedigt, ſondern das Produkt
n Br nun auch noch etwas url, wodurch es fähig wird, andere Produkte,
un d > ihnen die Käufer en, Das Produkt muß zu feiner Qualität
noc einen Zuſchuß von anwerbender Kraft haben, wodurch es ſozuſagen
aggreſſiv wird: die Produktion hat nun nicht bloß Waren herzuſtellen,
ſondern auch gleich den Waren Kauer beizuſtellen. Der Handel, der ſich
früher der Produktion anſchloß, dringt in die Produktion ſelbſt ein, der
Handel wird ein Teil der Produktion, und bald der größere.
In alter Zeit hat einer auf ſeinem Gut Käſe gemacht. Den nahm ihm
699
der Händler ab, der feine feſten Kunden hatte. Irgendein ehrgeiziger
Händler verſucht nun zu ſeinen Kunden neue zu gewinnen. Um ſie zu
beſtimmen, denſelben Käſe, den ſie bisher bei anderen gekauft haben, nun
bei ihm zu kaufen, muß er ihnen einreden, daß ihnen dies einen Vorteil
bringe. Dies geſchieht auf Märkten durch die perſönliche Geſchicklichkeit
und Beredſamkeit des Ausrufers oder, in kleinen Städten, eines bei Haus—
frauen und Köchinnen beſonders beliebten, in der pſychiſchen Behandlung
von Hausfrauen und Köchinnen beſonders erfahrenen Kommis. Aber bald
beſorgt, was bisher der geſchmeidige Kommis im kleinen beſorgt hat, ein
weithin glänzendes, die Neugier anlockendes Schaufenſter im großen. Oder
der Händler tritt nun auch mit feiner Perſon für das Geſchäft ein: er
macht ſich um das Wohl der Stadt verdient, man ſieht ihn überall, kennt
den braven Mann und lernt ihn ſchätzen, er wird ſtadtberühmt und jedem m
ſchmeichelt es, ſich feinen Käſe zum Nachtmahl bei ſolcher Zelebrität zu
holen. Nun Ar wird der, der den Käſe macht, aufmerkſam. Das kann
er doch auch! Er ahmt alſo den Händler nach. Zuerſt im kleinen, inden
er ſeinen Käſe beſonders zu verpacken weiß, bald im großen, indem er ſeinen 7
Betrieb auffällig macht, durch prächtige Bauten, neue Methoden, **
Muſterwirtſchaft, die er in allen Zeitungen abbilden und ruhmvoll be—
ſchreiben läßt. Und zuletzt tritt auch er mit ſeiner Perſon ein und ver—
wendet jetzt feine Perſon als Plakat fürs Geſchäft: er macht ſich als Wohl—
täter der Armen, bei den Wahlen als Patriot bekannt, er kriegt Orden, er
lebt auf großem Fuß, er hat ein Verhältnis mit einer Schauſpielerin, er
hält einen Rennſtall, er tut ſich in jedem Sport hervor, er kauft Bilder, er
wird Mäzen: er wird auf alle Art ſichtbar. Das Käſegeſchäft wird nun
gar nicht mehr durch die Qualität des Käſes gemacht, ſondern durch den
Reiz, den der Apparat des Käſehandels, den die Perſon, den das Faszi—
nierende des ganzen Betriebs auf den bewundernden Käufer ausübt. Wenn
mit demſelben Apparat morgen in den Betrieb ſtatt Käſe Kognak eingeſetzt
wird, bleibt das Geſchäft dasſelbe. Denn nicht mehr die Leiſtung, ſondern |
der Apparat, der Betrieb macht jetzt das Geſchäft: der Betrieb iſt ſouser N
geworden. iR
In alter Zeit gab es Leute, die Bücher ſchrieben, und es gab Leute, die
Bücher laſen, und zwiſchen jenen und dieſen ſtand der Buchhändler, der 9
das Buch vom Gelehrten empfing und es dem Leſer darbot. Und nun
entwickelt ſich auch hier zunächſt der Wettbewerb zwiſchen den Händlern
mit Reklame, Aufmachung und allen Mitteln des Kundenfangs, bis fchließ-
lich auch hier der Handelsſinn vom Händler auf den Produzenten felbf |
überfpringt, auf den Gelehrten: der Gelehrte legt nun ſchon feine wiſſens
ſchaftliche Leiſtung, das Buch, gleich darauf an, beſonders aufzufallen und
den Käufer anzureizen, um ſo im Wettbewerb andere zu ſchlagen, und bald
.
—
700
tritt auch dieſer Produzent, der Gelehrte, jetzt mit feiner Perſon neben, ja
vor die Ware, ſein Buch; er zieht im Lande herum, hält Vorträge, zeigt
ſich auf Banketten oder bei Begräbniſſen, verſteht es, immer und überall
genannt zu werden, ift bei jeder Gelegenheit in effigie zu ſehen und erreicht
es, daß es ſchließlich „dazugehört“, daß es Mode wird, von ihm zu beziehen,
daß er geiſtig ſozuſagen Hoflieferant wird. Iſt er ſo weit, dann kommt es
allmählich auf ſein Werk, auf den inneren Wert des Buchs gar nicht mehr
an. Iſt er erſt einmal einer von denen, bei denen zu kaufen dazu gehört, ſo
kann er auch ein Bild malen, ſtatt ein neues Buch zu ſchreiben, wie jener
das Geſchäft ebenſo mit Kognak macht wie mit Käſe. Er darf nur nicht
aufhören zu produzieren, er muß immer wieder etwas liefern, auf jeden
Weihnachtsmarkt ein neues Buch, Material für den Betrieb. Die Leiſtung
5 * ſich nichts mehr, die Leiſtung iſt nur noch Rohmaterial für den
Betrieb, der Betrieb iſt alles. Und der einzige Sinn des Betriebs iſt, den
5 Betrieb in Tätigkeit zu halten. Der einzige Zweck der merkantiliſierten
Produktion iſt, in Bewegung zu bleiben. Nicht auf die Leiſtung kommt's
aan, fondern darauf, daß ununterbrochen geleiſtet wird, nicht auf das Werk,
das aus einer Tätigkeit entſteht, ſondern darauf, daß aus jeder Tätigkeit
eich wieder eine neue Tätigkeit entſteht. Weshalb auch heute längſt keine
Induſtrie mehr vom Techniker geleitet wird, ſondern jede vom Unternehmer.
Denn die Begabung, die jede Induſtrie heute braucht, iſt nicht eine Be—
gabung für die beſondere Art dieſer einen Induſtrie, nicht ein perſönliches
inneres Verhältnis zum beſonderen Tun dieſer Induſtrie, ſondern es iſt die
Begabung für die Erhaltung von Tätigkeit, für die Verwandlung jeder
Tätigkeit in neue Tätigkeit, für den Betrieb. Tätigkeit ohne Ende, die
g keinen Augenblick ſtocken darf, und kein anderer Zweck dieſer unendlichen
. Tätigkeit als gleich immer wieder neue Tätigkeit zu bedingen. Jede Tätig—
N keit, ſobald fie zur Leiftung, zum Werk wird, ſchon wieder entwertet und
das Werk, die Leiſtung nur ſoviel wert, als ſie wieder neue Tätigkeit ent—
bindet. Der ganze Betrieb mit keinem andern Sinn und Zweck als: in
Betrieb zu bleiben. Daß „Bewegung alles ſei, das Ziel nichts“, in dieſem
echt großſtädtiſchen Satz iſt das Weſen des Betriebs enthalten und aus
dieſem Weſen ergeben ſich alle geiſtigen Merkmale des Großſtädters.
| Unbedingte Tätigkeit, Tätigkeit um der Tätigkeit willen, Tätigkeit, die
nur immer neue Tätigkeit erregen ſoll. Daher das Merkmal des Groß—
5 ſtädters: die Ruheloſigkeit, ja das Bedürfnis, ruhelos zu ſein. Die groß—
ſtädtiſche Nervoſität beſteht nicht ſo ſehr in Sehnſucht nach Ruhe, als viel—
mehr in Angſt vor Ruhe. Die Lebensfrage des Großſtädters iſt: Was
nun? Indem er eine Arbeit unter der Hand hat, denkt er ſchon an die
nächte. Wenn Berliner zur Erholung in einem Lokal ſitzen, beraten fie
gleich, in welches Lokal ſie zunächſt gehen werden; die Unterhaltung beſteht
701
darin, das Lokal zu wechfeln, das Vergnügen beſteht darin, ein Vergnügen
zu ſuchen. Großſtädtiſch iſt das Unvermögen, ſich des Tags zu freuen, die
Stunde feſtzuhalten, Gegenwart zu haben. Der Großſtädter lebt immer
in Erwartung; was er hat, achtet er gering, es macht ihn ungeduldig, es
kann immer noch nicht das Richtige fein, das Richtige ſoll immer erſt noch
kommen. Was Zukunft hat, faſziniert ihn; ſobald es aber anfängt, aus
Zukunft Gegenwart zu werden, erliſcht es. Dies beſtimmt auch ſein Ver⸗
hältnis zur Kunſt. Er ſchätzt ein Kunſtwerk nur, inſofern es ihm ein
anderes zu verheißen ſcheint, auf das es hindeutet, infofern es, was bisher
für Kunſt galt, überwinden hilft und infofern es durch feine Folgen felbft
wieder überwunden zu werden verſpricht. Er ſchätzt alles nur, inſofern es
zur fortwährenden Bewegung, zur Rotation des Betriebs, Wirefehaftbetrieb,
Lebensbetriebs, beiträgt. So verbringt er fein Leben damit, das Leben um
geduldig wegzubringen. Er kann nirgends verweilen. Er kann nichts
beſitzen. Beſitz empfindet er faſt als eine Gefahr; jedenfalls als eine Mae
nung, den Beſitz gleich wieder in neuen Erwerb umzuſetzen. So beſitzt er e.
auch ſich ſelbſt nicht: was er iſt, gilt ihm ſo wenig als was er hat, u 8
ihm nur, was er aus ſich machen wird, Morgen gilt ihm mehr als He =
Heute nur als Vorſchuß auf Morgen, die Tätigkeit mehr als die Tat. Wes⸗
halb er am höchſten die Begabung ſchätzt, mehr aus ſich zu machen als
man iſt. Die großen ſachlichen Begabungen, die dieſen Handels ſinn nicht
haben, weil ſie ihn nicht zu brauchen meinen, ſind ihm eher verdächtig. Die
irgendwie defekten, aber ſich dieſes Defekts bewußten und darum äußerer
Nachhilfe befliſſenen Begabungen ſind die richtigen für die Großſtadt; und
dies um fo mehr, je mehr fie deshalb auf andere bedacht, auf andere an-
gewieſen ſind und alſo verſprechen, nicht bloß ſich ſelbſt, ſondern auch andere
in Tätigkeit zu ſetzen. Tätigkeit iſt alles und ſie gilt ſo viel, als ſie ſich
wieder in Tätigkeit umſetzt, in immer neue Tätigkeit, eigene und fremde.
Daher auch die merkwürdige Gleichgültigkeit des Großſtädters gegen die
eigene Leiſtung, ſobald ſie vollbracht iſt, weil ja das Vollbrachte nichts gilt,
ſondern nur das Vollbringen, die Tat nichts, nur das Tun; er muß immer
wieder weiter. Daher die furchtbaren Ermüdungen des Großſtädters, der
ja niemals ein Ziel ſieht; er muß immer wieder weiter. Daher, wenn er
ſich doch einmal beſinnt und ſich rings von dieſer ungeheueren Sinnloſigkei
eingeſchloſſen ſieht, die heilloſen Angſtanfälle des Großſtädters, und di
Fluchtverſuche. 8
Auf einer ſolchen Flucht kam ich einſt nach Maria Plain, unweit von
Salzburg. An der Kirche ſteht dort ein Kreuz, groß und ſchwer. Darauf
iſt geſchrieben: Rette deine Seele. Es ſchrie mich an. Abendſtille rings,
Sonnenabſchied auf den Fernen. Und dieſer Adlerſchrei. Seele? Wie
das entwohnte Wort einem Großſtädter ſeltſam klingt! Iſt es mehr als ein
„ ES 8
702
von kindlichen Erinnerungen aufbewahrter Schall? Was ift Seele? Wer
hat Seele? Wer hat Zeit, Seele zu haben? Und iſt es denn überhaupt
philoſophiſch noch erlaubt? Aber er fühlt doch die Macht des wunderlichen
Worts. Es nennt ihm irgend etwas, was doch in ihm noch lebendig ſein
muß. Und er erinnert ſich, daß er ſich zuweilen freut, ſei es einer Tat, ſei
es einer Luft, und daß er ſich dann immer ſagt: Hier iſt etwas getan, was,
ſo wie es hier getan wurde, nur du tun konnteſt, dieſe Tat iſt dein Eigen-
tum; oder: Das empfindeſt nur du fo, dieſe Luft iſt dein Eigentum, das
nur dir allein gehört! Und deshalb freut er ſich, aus dieſem Gefühl, etwas
flür ſich allein, ein inneres Eigentum zu haben. Dem verdankt er es, wenn
er ſich noch zuweilen einmal freut. Es muß alſo irgend etwas in uns vor⸗
handen ſein, das ſich der Welt einzeichnen, das ſich der Welt aufprägen,
das ſich die Welt aneignen will. Dieſes Verlangen erwacht in ihm wieder,
bei dem Wort Seele. Das Verlangen, en darzutun, ji er auf der
fer Beſonderheit, nur er ift, Ana kein anderer. Und jetzt verſteht er auch
erſt, was ihn oft in ſolcher Angſt aus der Großſtadt verjagt: dieſes Ver⸗
langen wird dort niemals erhört, die Seele hat dort keinen Platz. Denn
es iſt die ungeheure, an ſich als Phänomen bewundernswerte, in der Ge⸗
ſchichte der Menſchheit ganz einzige Leiſtung des großſtädtiſchen Betriebs,
daß dieſer Betrieb, ein Werk des Menſchen, den Menſchen zu ſeinem In—
ſtrument macht. „Kann wohl der Menſch dazu beſtimmt ſein, über irgend
einen Zweck ſich ſelbſt zu verſäumen?“ hat Schiller gefragt. Dem Menſchen
dies wider ſeine Natur aufzudrängen, iſt der unmenſchliche Verſuch der
Großſtadt. Und der Trieb der geiſtigen Selbſterhaltung empört ſich da—
gegen. Das eigentliche Lebensthema des Menſchen, nämlich Ich und Welt
K auszugleichen, wird ihm im großſtädtiſchen Betrieb unterſchlagen, in dem
ess keine Perſönlichkeit gibt, ſondern nur noch Typen, nur noch einen Typus,
den des Händlers, in dem keiner mehr ſein Leben führt, ſondern jedem das
f en fertig ins Haus nn Er in dem der Menſch durchaus zum
hr er Menſch jez 1 8
. Das empfindet auch die Nation, draußen im Land. Sie ſtaunt vor der
Großſtadt wie vor einem Wunder, aber einem lebloſen Wunder, das an
ihr nicht wirkt. Oft haben mir Franzoſen, die mir ſchilderten, wie jetzt ihre
Nation um eine neue Lebensart, einen tieferen Lebensſinn, einen höheren
Lebenswert, um eine neue geistige Form, um eine neue Religion ringe,
lächelnd geſagt: Ja, Sie wundern ſich, weil Sie nur Paris kennen, und in
703
Paris ſpürt man das freilich nicht, in Paris erfährt man ja von Frankreich
nichts, denn Paris weiß von unſerer Nation nichts, ihr geiſtiges Schickſal
wird fern von Paris erfüllt! Ebenſo bin ich gewahr worden, daß in London
nichts von der geiſtigen Zukunft Englands zu finden iſt. Und es könnte
ſein, daß überhaupt nirgends die Zukunft der Nation auf den großſtädtiſchen
Markt gebracht wird.
Aber nun muß ich mich verwahren. Mich verfolgt nämlich ein Miß-
verſtändnis durchs Leben. Während ich immer bloß, was rings um mich
iſt und wird, wahrzunehmen, auszuſprechen, darzuſtellen trachte und weiter
nichts als es ſammeln und ordnen will, meint man, es ſei mir um ein Urteil
zu tun. Wenn ein Neuer und etwas Neues in irgendeiner Kunſt erſcheint,
will ich erkennen, wer und was es iſt, vielleicht auch noch, was daraus zu
werden ſcheint, ohne je zu fragen, ob es mir auch recht ſei, und ich kann
nicht verſtehen, daß man mich nun deshalb, weil ich etwas aufzufinde
trachte, ſtets felbft dafür verantwortlich, ja gleich ſozuſagen zum Mitſchul-
digen macht. Zuweilen geht es mir auch umgekehrt: ich ſchildere bloß und
es wirkt, als ob ich angeklagt hätte. So ſagt man mir nach, daß ich ein
Ankläger öſterreichiſcher Zuſtände ſei. Das bin ich gar nicht. Ich bin kein ,
Ankläger, ich bin ein Erzähler Öfterreihs. So ſagt man mir nach, ich
hätte in der Gelben Nachtigall das heutige Theaterweſen verſpottet. Nein.
Ich habe mich nicht darüber luſtig gemacht, ſondern es luſtig gefunden und
dieſe Luſtigkeit darzuſtellen verſucht. Und ich habe nicht, wie man jetzt
wieder meinem „Tänzchen“ nachſagt, die Politik „ſatiriſch“, „launig“ oder
„gallig“ in eitel Dunſt aufgelöſt, ſondern ich glaube wahrzunehmen, daß
ſich die Politik, daß ſich das, was man heute Politik nennt, in eitel Dunſt
auflöſt; und was ich wahrzunehmen glaube, reizt es mich darzuſtellen. Ich
bin weder ein Anwalt noch ein Kläger noch ein Spötter, ich bin der Zeiger,
der Nenner. Und ſo muß ich mich denn auch ausdrücklich verwahren: ich
klage die Großſtadt nicht an, ich bin nicht gegen die Großſtadt, ſo wenig als
für ſie; beides käm mir gleich abſurd vor. Die Großſtadt iſt ein notwen—
diges Ergebnis der vom Handelsſinn durchdrungenen Produktion und fie
iſt ihr größtes Phänomen. Es liegt in ihrem Weſen, daß fie den Menſchen
durchaus zum Werkzeug machen muß. Und es liegt im Weſen des Menſchen,
daß er nicht durchaus zum Werkzeug werden kann. Es liegt alſo im Weſen
der Großſtadt, den Kampf mit dem Weſen des Menſchen aufzunehmen.
In der Großſtadt erhebt ſich ſein eigenes Werk gegen den Menſchen und
will ihn unterjochen. Mitten in dieſem Kampf des Menſchen mit feinem
Werk um ſich ſelbſt leben wir, dies iſt der Inhalt der Großſtadt. 9
Ich glaube, daß jeder geſchichtliche Prozeß durchgemacht werden muß.
Ich glaube nicht, daß man ſich da wie bei Unwetter in ein Haustor unter—
ſtellen kann, um abzuwarten, bis es wieder vorüber ſein wird. Ich glaube
704
darum auch an die Verſuche nicht recht, zur Rettung vor der Großſtadt
ſozuſagen Inſeln oder Klöſter zu bilden, als welche die Gartenſtädte gemeint
ſind. Gartenſtädte können uns gegen den Bodenwucher helfen, ſie nützen
hygieniſch, ihre Entwicklung iſt aus vielen Gründen zu wünſchen. Wenn
man aber hofft, allmählich werde der deutſche Geiſt in die Gartenſtädte
ziehen, um hier von der Großſtadt aufzuatmen — das weiß ich nicht.
Vielen Intellektuellen wird die Gartenſtadt willkommen fein zur Löſung
ihres eigenen perſönlichen Problems. Das allgemeine Problem des deutſchen
A aber wird ſi ſie 5 löſen. Es ift durch Überfi iedlung nicht zu löſen.
derung nachleſen, was daraus geworden iſt: ein Muſeum. Nein, das 3555
ſtädtiſche Problem kann nur in der Großſtadt ſelbſt gelöſt, der geiſtige
705
Rund ſch a u
Evolution des Kapitals
von Daniel Ricardo
8
das Geld mehr nach ſeiner Subſtanz oder nach ſeinen Funktionen
beurteilt werden muß. Da es in beſtimmten Grundformen (Metall
oder Papier) erſcheint, die ſich nur nach der „Aufmachung“ unterſcheiden,
ſo iſt die Abhängigkeit der Definition vom Stoff erklärlich. Und beim Gold
tritt dieſer Zuſammenhang beſonders deutlich in die Erſcheinung; dem das
gelbe Metall übt als ſolches einen ſtarken Einfluß auf die wirtſchaftlichen
Beziehungen aus. Gold iſt das vornehmſte Währungsmetall. Kein Wi 13 85
der, daß Gold und Geld oft identifiziert werden. Aber die Theorie it mit .
fo groben Merkmalen nicht zufrieden. Sie ſucht die Lebensäußerungen des
Geldes in ein Syſtem zu bringen, um die wirtſchaftliche und rechtliche Seite
des Falles zu beleuchten. Die jüngſte und originellſte Analyſe des Geldes
ſtammt von Georg Friedrich Knapp, der als weſentliche Kennzeichen „valu⸗
tariſche“ und „akzeſſoriſche“ Eigenſchaften aufſtellt. Jene haften an den
Geldarten, die der Staat bei feinen Zahlungen anwendet und die als ſolche
akzeptiert werden müſſen; dieſe finden ſich bei allen übrigen Geldſorten. Der
Staat iſt alſo die höchſte Inſtanz über das Geld. Seine Hoheit iſt wich?
tiger als alle Gebräuche und Anſprüche der Volkswirtſchaft. Eine derartig
ſtraffe Methodiſierung wird zweifellos den Erforderniſſen der beſten Wäh—⸗
rung gerecht; denn die beſte iſt, die den kleinſten Spielraum für theoretiſche
Unterſuchungen läßt. Was nützt alle Theorie, wenn jeder Hauch des pra
tiſchen Lebens die kunſtvollſten Gedankenbauten über den Haufen wirft. Der
Straßburger Wirtſchaftsforſcher mag mit ſeiner Definition nicht in jede
Falte der Beziehungen des Geldes reichen; ſicher iſt, daß er vom greifbarſten
Fundament in die Höhe baute. Es kommt letzten Endes darauf an, daß
die Volkswirtſchaft über möglichſt große Mengen valutariſchen Geldes ve
fügt, oder ſich die höchſte Fähigkeit zur Srgänzung ihrer Geldvorräte erhält.
So lautet das Dogma von heute, das dem Veſetz von vorgeſtern nicht ähnelt.
Die wirtſchaftliche Kultur (man deckt mit Diefem Begriff fo vieles; warum
nicht auch die Summe der Leiſtungen des Wirtſchaftskörpers!) hatte mit
De Theoretiker der Nationalökonomie ſtreiten noch immer darüber, ob 4
706
dem Begriff des Geldes aufgeräumt und an feine Stelle die höhere Stufe,
das Kapital, gefest. Kapital iſt der größere Bereich, in dem das Geld nur
eine Unterart darſtellt. Gleichzeitig aber bildet es das Mittel, um die Ent—
ſtehung von Kapital zu ermöglichen. Dieſes iſt die Geſamtheit der Güter,
die einen Vermögenswert repräſentieren. Daß ſie produktiv ſind, iſt nicht
nötig. Es genügt, wenn ſie die Eigenſchaft beſitzen, in Geld umgeſetzt
werden zu können. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird zwiſchen Geld
und Kapital kein Unterſchied gemacht. Grundſtücke oder Kunſtwerke gelten
nicht als Kapital, obwohl ſie es im volkswirtſchaftlichen Sinne ſind. Mit
der Entwicklung der zkonomiſchen Leiſtungen hat das Kapital immer mehr
das Geld auf das Niveau der Hilfskraft heruntergedrückt. Und als die
boöchſte techniſche Exrungenſchaft der kapitaliſtiſchen Wirtſchaft geſchaffen
war — der Kredit — da ſank das Geld noch tiefer in der wirtſchaftlichen
Wertung. „Mit Geld kann man nichts, mit Kredit alles erreichen.“ In
dieſem Satz fand das Bewußtſein der Überlegenheit einer Kultur über einen
primitiven Begriff den hochmütigſten Ausdruck.
m. Jede Kultur trägt den Keim der Vernichtung in ſich. Iſt es mit der
. tſchaft auch ſchon ſo weit, daß die Quittung, die die Zukunft für die
Schulden der Vergangenheit präſentiert, eingelöft werden muß? Die ſtolze
Sicherheit der Kulturmenſchen hat einen Stoß erlitten. Ein Warner er—
ſchien, der behauptete, in der Überwindung des Geldes ſei man zu weit ge—
gangen. Man müſſe zurückſchrauben, um dem Gelde zu ermöglichen, den
Vorſprung, den das Kapital gewonnen hat, wieder einzuholen. Im Bau
des Wirtſchaftskörpers ſind wichtige Träger: Kredit, Berechnung, Kom—
bination, Phantaſie, Intelligenz. Der kapitaliſtiſchen Entwicklung waren die
beſten Qualitäten von Geiſt und Willen gerade gut genug. Hätte die Wirt—
ſchaft ſich ſo geſtaltet, wie die Tendenz des Geldes gewollt oder ermöglicht
hätte, was wäre geworden! Eine Hilfskraft konnte niemals ſchöpferiſche
Eigenſchaften entwickeln. Die gediehen erſt unter der Herrſchaft des Kapi—
als. Glaubt jemand, daß Deutſchland in Handel und Induſtrie bis nahe
aan den erſten Platz auf dem Erdball gerückt wäre, wenn jede Leiſtung mit
barem Geld hätte bezahlt werden müſſen? „Kein Kredit; alles gegen bar!“
Dieſes Prinzip des Maſſenumſatzes im Kleinverkehr konnte niemals Geſetz
einer internationalen Wirtſchaftsgroßmacht fein. Wer zweifelt daran! Und
d ch reagierte die Urteilskraft auf den erſten Ausdruck der Skepſis gegen-
über der Haltbarkeit der Kreditſtützen. Die Welt iſt auf den Kopf geſtellt;
die Vernunft liegt alſo, nach Hegel, auf dem Boden. Das Geld im Strumpf
erſcheint als wünſchenswerte Garantie für die Sicherheit der Nation. Die
Philoſophie des Heraklit ſoll auf vie Wirtſchaft übertragen werden. Die
Anſchauung, daß alles fließt, deckt ſich mit den Wünſchen der wirtſchaftlichen
Kontrollinſtanzen. Liquidität iſt das Schlagwort; flüſſiges Geld das Ideal.
707
Steht man vor einem Rückfall in veraltete Lebensprinzipien oder vor einer
Revolution? Sonderbar, daß der Robespierre dieſes Umſturzes der ges
borene Ordnungsmann ift. Ein Reichsbankpräſident hat mit dem Jakobiner⸗
häuptling von 1794 kaum eine Ahnlichkeit. Wenn er an einen Neubau
des Staates denkt, will er nicht die Grundmauern zerſtören, höchſtens die
Faſſade ändern. Nur fragt ſich, ob der Wirtſchaftskörper ſelbſt eine ſo
äußerliche Veränderung verträgt. Den Banken wird geſagt: „Ihr ſollt
weniger Kredit geben und mehr darauf ſehen, daß eure Kaſſen gefüllt ſind.“
Die Finanz erwidert: „Das kann ich nicht, ohne die Geſamtwirtſchaft zu
ſchädigen; denn die iſt auf den Kredit, den ich ihr gebe, angewieſen.“ Man
könnte meinen, daß zwei Weltanſchauungen ſich befehden. Aber die Reich
bank iſt nicht nur Hüterin des „valutariſchen“ Geldes, fondern auch Ver⸗
mittlerin zwiſchen dem verfügbaren Geld und dem Bedarf der Volkswirt
ſchaft. Die Banken üben keine andere Funktion aus wie dieſe; ein Unter⸗
ſchied in der Diſtanz zum Leben könnte alſo nur durch das „Erwerbsinter⸗ =
eſſe“ bedingt fein. In dieſer Beziehung deckt ſich die Politik der reinen
Kreditinſtitute allerdings nicht völlig mit der Auffaſſung der Notenbank.
Die Differenz iſt jedoch nicht ſo groß, wie man vielleicht meint; denn die
Reichsbank iſt auch keine Wohltätigkeitsanſtalt. Sie zahlt Dividenden an
Aktionäre und einen Überſchuß an die Reichskaſſe. Zuletzt geht ſie den
gleichen Weg wie die zur Ordnung gerufene Bankwelt. Warum alſo die
ſtrenge Geſte? Steckt wirkliche Furcht vor ſchlimmen Folgen dahinter, oder
handelt es ſich nur um den Verſuch der Übertragbarkeit theoretiſcher Me⸗
thoden auf praktiſche Zuſammenhänge? Der Gegenſatz iſt begründet in dem
Verhältnis beider Faktoren zu Geld und Kapital. Die Reichsbank iſt die
Hüterin des Geldes; die Großfinanz die Trägerin des Kapitals. Jene ſorgt
ſich um den glatten Lauf des Geldſtromes; dieſe mißt ihre Kräfte im Auf—
bau des Kapitalismus. Die Reichsbank ſitzt auf der Tradition; die Groß—
banken berufen ſich auf die Kultur. Der Stärkere hat recht; aber das Geld
iſt doch nur ſcheinbar der überlegene Teil. Ohne die Beziehungen, die ihm
das Kapital bietet, würde es keine Produktivität beſitzen und nur noch Tauſch⸗
mittel fein. Das Geld als Träger des Verkehrs, als Hilfskraft im inter
nationalen Handel iſt ohne das Milieu der kapitaliſtiſchen Wirtſchaft nicht a
denkbar. Schließlich aber ſagt man: „Was nützt uns die Maffe der probug 1
zierten Werte, wenn ſie nicht fähig ſind, neue Werte hervorzubringen.“
Irgendwann hört einmal die Bewunderung vor der Kulturwelt des Kapita 4
lismus auf, und es ertönt der brutale Schrei nach Geld. Nach barem Geld, br
das man getroſt in den Kaſten legen darf, um es jederzeit zur Verfügung 1
zu haben. Im Grunde iſt dieſer ataviſtiſche Rückfall in primitive Anſchau⸗
ungen kein ſchmeichelhaftes Zeugnis für eine Nation, die ſich mit ihren
wirtſchaftlichen Leiſtungen ſehen laſſen darf. Aber die Not bricht den Stolz,
708
Rund zur Entſchuldigung des Drängens nach liquiden Mitteln wird das
Vorhandenſein eines Notſtandes angeführt.
Von kleinlichen Sorgen abgeſehen, handelt es ſich um die Frage, ob
Deutſchland reich genug iſt, feinen Verpflichtungen im Frieden und im Kriege
nachzukommen. Der Zug nach der Liquidität iſt zuerſt im Bereich der
deutſchen Wirtſchaft ſichtbar geworden. Hier hat ſich der Kontraſt zwiſchen
Kapital und Geld am deutlichſten ausgeprägt, ſo daß man von einem
N typiſchen Fall ſprechen darf. Und das Ausland ſcheint den Zuſammenhang
auch in dieſem Sinne aufzufaſſen; denn es läßt keinen Anlaß vorübergehen,
ohne ſich mit der angeblichen Finanzkriſis in Deutſchland zu beſchäftigen.
Daß die Auseinanderſetzung über die Liquidität zu ſolchen Konſequenzen
* geführt hat, iſt die Schuld bedauerlicher Übertreibung, die die Kritik im
eigenen Haus begeht. Es ſcheint, als verrücke das Geld jeden Schwer—
punkt. Beſonders wenn das Gleichgewicht durch Kriegsgeſchrei ohnehin
erſchüttert wird. Aber der deutſche Nationalreichtum, der 350 Milliarden
ausmacht und die Fähigkeit beſitzt, jedes Jahr 9 bis 10 Milliarden neu
anzuſctzen, ſollte jeden Zweifel an der Solvenz des Volkes ins Lächerliche
ziehen. Das Ausland weiß, daß der Deutſche niemals nötig hatte, fremde
Geldmärkte für ſeine Renten in Anſpruch zu nehmen. Wer das von ſich
ſagen kann, darf das Urteil ſchadenfroher Nachbarn ins Kurioſitätenkabinett
ſtellen.
Wie iſt es nun mit dem Ruf nach Geld, der im Inland laut wurde?
Er entſprang der Sorge, daß die Kreditſchicht zu dick wird und dem Wirt—
ſchaftskörper die Beweglichkeit rauben könnte. Das allein wäre nicht gefähr—
lich, wenn mit Sicherheit auf einen ungeſtörten Verdauungsprozeß gerechnet
werden darf. Aber es entſtehen plötzlich Wallungen in der Volksſeele, die
ſich zu einem Sturm auf die Sammelbehälter des Geldes auswachſen.
Eine Maſſenfurcht treibt das Volk, ſich ſein Geld, das in Banken, Spar—
keaſſen, Genoſſenſchaften arbeitet, zurückzufordern. Iſt es möglich, einem fo
ckelementaren Andrang mit Gleichmut zu begegnen? Wären die Kaſſen
der Finanzinſtitute mit barem Geld gefüllt, ſo könnte niemals eine Ver⸗
legenheit entſtehen. Aber die verfügbaren Mittel ſtecken in Wertpapieren,
induſtriellen Unternehmungen, Grundbeſitz, Hypotheken, kurz in Beziehungen,
die oft nicht von kurzer Dauer ſind. Ein Kunde genießt den Kredit einer
Bank gegen Sicherheiten. Die beſtehen in Grundſtücken und Hypotheken.
Schließlich wächſt die Schuld ins Ungemeſſene und die Bank kündigt den
redit. Der Klient kann nicht zahlen, das Inſtitut muß ſich alſo an die
Unterlagen halten. Die ſind ſchwer verwertbar: die baren Millionen, die
der Kunde erhalten hat, bleiben alſo dem Betrieb der Bank entzogen, ob—
wohl ſie durch die Pfänder vor Verluſten geſchützt iſt. Nun braucht nur
ein Run der Depoſitengläubiger zu entſtehen, der auf zahlreiche ſchwer
709
1
realiſierbare Engagements trifft: dann ſitzt die Bank in der Klemme. Sie
beſitzt genügendes Vermögen, um ſolvent ſein zu können, iſt es aber nicht,
weil ihr Geld in unbeweglichem Kapital ſteckt. Das iſt der Konflikt auf
die einfachſte Formel gebracht. In der Wirklichkeit wird mit einer ſolchen
Maſſenkündigung fremder Gelder nicht zu rechnen ſein, weil nur ein
Teil der Depoſiten unbefriſtet gegeben iſt. Bei acht Berliner Großbanken
waren am 29. Februar 1912 von 4789 Millionen Mark fremder Gelder
2319 Millionen innerhalb ſieben Tagen fällig. Daß dieſe Summe mit
einem Male gekündigt werden wird, iſt ausgeſchloſſen. Selbſt die ärgſten 4
Skeptiker rechnen nicht mit einer ſo extremen Möglichkeit, da ſie als f
genügende Garantie das Vorhandenſein von zwanzig Prozent der alas 3
fälligen Einlagen in barem Geld anſehen. 2
Die erwähnten acht Inſtitute hätten alſo 463 Millionen in ihren Ka ſe
haben müſſen. Tatſächlich waren nur 108 Millionen ausgewieſen, zu denen
75 Millionen Guthaben bei Abrechnungsbanken kamen. Statt 463 nur 183
Millionen; und die Welt geht nicht unter. Warum? Weil alle Sicherheit nur
relativ iſt. Sie beſteht ſo lange, wie man an ſie glaubt. Sie hört auf, wenn
man ſich ihrer Bedeutung bewußt wird. Tolſtoj ſagt: „Alles Unglück! 4
vom Denken.“ Man muß ſich eine gewiſſe Naivität bewahren. Beſonders
in Fragen der Finanz. Wird man erſt einmal klug, ſo wird man leicht zu
klug und klügelt dann Dinge aus, die nur in einer Phantaſiewelt ſein können.
Die Banken ſind keine Sparkaſſen. Wer ſie als ſolche anſieht, tut es auf
eigene Gefahr. Man nennt ſie Kreditanſtalten. Sie ſollen zwiſchen dem
baren Geld und dem Wirtſchaftskörper vermitteln. Durch die Verbindungs⸗
gänge, die ſie hergeſtellt haben, fließt das unproduktive Geld in die Umformer,
die aus ihm ergiebiges Kapital machen. Bei ſolcher Tätigkeit, zu deren
Ausübung die Banken nicht nur berechtigt, ſondern verpflichtet ſind, bleibt
natürlich nicht viel unverwendbares Geld übrig. Was in den Kaſſen iſt,
dient dem Bedarf des Tages. Nun wird verlangt, die Finanz ſoll die
Liquidität nicht auf den Tag, ſondern auf die Zukunft einſtellen. Sie ſoll
jederzeit kriegsbereit fein. Wie wird es werden, wenn die Kriegsdrommeten
ſchallen? Daß man ſich um dieſe letzte Konſequenz des Völkerdaſeins ſorgt,
iſt verſtändlich. Daß man aber aus Vergleichen mit den Erfahrungen
anderer Nationen keine Beruhigung ſchöpft, iſt unbegreiflich. England hat
den Burenkrieg geführt, der zweieinhalb Jahre dauerte und die engliſch
Partei 4308 Millionen Mark koſtete. Mie hat Großbritannien die Koſte
aufgebracht? Eineinhalb Milliarden 10 Steuern, drei Milliarden dur
die Ausgabe von Schatzwechſeln und Anleihen. Die geſamten Kriegskoſten
des ruſſiſch⸗japaniſchen Krieges Derr 5300 Millionen Mark. Der
Krieg dauerte 18 Monate. Haben Rußland oder Japan Mängel an finan⸗
zieller Bereitſchaft gezeigt? Man hat ſich Mühe gegeben, auszurechnen,
710
was Deutſchland zur Deckung der direkten Ausgaben im Kriege braucht.
Das Reſultat war: Sechseinhalb Milliarden Mark jährlich. Ohne Steuern
und Anleihen wäre dieſe Summe nicht zu erlangen. Kriegsanleihen werden
nicht gern genommen. Der Patriotismus hält nicht immer Wort. Aber
bei geſchickter Inſzenierung iſt jede Emiſſion unterzubringen. Die Banken
werden viel bares Geld zur Verfügung haben müſſen, da in der erſten
Angſt gekündigt wird, was irgend erreichbar iſt. Die Reichsbank aber ift
der unerſchütterliche Fels im Sturm. Sie wird die Möglichkeit, das Drei⸗
Be: des Metallvorrats in Noten auszugeben, bis zur äußerſten Grenze aus—
n Im Durchſchnitt des Jahres 1911 war der Mecallbeſtand
ſo vf el darf die er an Papiergeld lem alfo 3747 Millionen. Der
Ö uchfhnittliche Notenumlauf 1911 hat 1663 Millionen betragen. Die
Zentralbank hätte mithin, bei Ausbruch eines Krieges, über zwei Milliarden
mehr, als im normalen Verkehr gebraucht werden, zur Verfügung. An—
ge ommen, die Banken hätten an einem Tage eine Milliarde bar auszu—
zahlen n (die ängſtlichſten Schätzungen bleiben hinter dieſer Ziffer zurück), ſo
Fennte die Reichsbank ihnen die notwendigen Mittel zur Verfügung ſtellen
und Nie felbft noch genug, um für etwa zwei Monate die Kriegs—
ausgaben zu beſtreiten. Selbſtverſtändlich muß die Notenbank ihren Metall—
vorrat ſchützen, damit, nach Beendigung des Krieges, die für die Noten
erforderliche Deckung vorhanden iſt. Als Schutzmittel dient der Zwangs—
kurs (geſetzliche Zahlungsmittel ſind die Reichsbanknoten ſowieſo ſchon),
der die Bank vorübergehend von der Notwendigkeit entbindet, ihre Scheine
bei Präſentation in kursfähigem deutſchen Geld einzulöſen.
Daß ein Krieg die Bedürfniſſe der Wirtſchaft verändert und den Kredit
abgrenzt, verſteht ſich am Rande. Die Induſtrie arbeitet mit nur halbem
Dampf; der Handel ſtockt; die Märkte veröden. Es wird weniger Geld
produziert; aber auch weniger verbraucht. Der Krieg ſchlägt nicht nur
Wunden; er ſaniert auch. Daß die deutſche Wirtſchaft ihn zu fürchten
Um Bismarck und Disraeli
von Samuel Saenger
1
in junger Dichter mit ſtarker Neigung zur Seelenanalyſe hat über das
Get: Thema Bismarck ein Buch geſchrieben, das er ſtolz⸗
befcheiden einen pfychologiſchen Verſuch nennt. Das Buch hat binnen
kurzem viele aufmerkſame und dankbare Leſer gefunden. (S. Fiſcher 5 Be
es verlegt.)
Der junge Dichter heißt Emil Ludwig.
Ein paar dramatiſche Skizzen und ein Roman haben, wie man ſo ſagt,
bei der literariſchen Kritik Beachtung gefunden. Ich kenne ſie nicht; aber
nach feinem ‚Bismarc und einem in dieſen Blättern veröffentlichten Effai
über Laſſalle und Byron‘ möchte ich glauben, daß fein pſychologiſierender 3
Hang, die Luſt, Seeliſches zu zerfaſern, die Jagd auf die vermeintlich *
letzten unteilbaren pſychiſchen Elemente und Urtriebe in Weſen und Charak-
ter; der Mut, an dem ‚Sinn‘ und den objektiven Zwecken fo eines Helden 2
lebens einfach vorbeizuſehen, als ob fie nicht exiſtierten und ſich nicht in den
überindividuellen Zuſammenhang der Geſchichte einordneten; die Fähigkeit,
der Bewunderung und dem heißen inbrünſtigen Jaſagen den Mund zu
ſchließen und den kalten erkenntnisſüchtigen Strahl des Seelenerforſchers
auf ein großes Menſchtum zu richten, als ob es eine Kraftzentrale mit Lei- he
tungen (ſtatt Leiſtungen) wäre: ich möchte meinen, daß das Fieber des
Analytikers dem ſpontanen Bautrieb des Dichters verhängnisvoll werden
könnte. Hier ſind Talente und Eigenſchaften, die unvermeidlich ins Gebiet
des Eſſayiſten, des Kritikers, des produktiven Begleiters und Genießers der
großen Schöpfermenſchen münden; ſie ſind in ihrer Art ſtark, weit aus— 1
greifend und, bei aller Elaſtizität, fo feſt im Zügel gehalten, daß fie um
ihrer Spezifizität willen auffallen müſſen. Das wäre viel, wenn es dem
Inhaber — genug wäre und der Ehrgeiz des jungen Mannes in die
Bahn feiner Begabung glitte. Darf ich hoffen, daß der Verfaſſer des pſycho— 7
logiſchen Verſuchs Bismarck verſteht — verſtehen will, auf welches hohe
Poſtament ich ihn ftellen möchte? Wir in Deutſchland find arm an ganz echten
Begabungen dieſer Art; wir müſſen immer wieder mit Schmerz ſehen, was 1
die paar, die auftauchen und durch ihre erſten Talentproben die Modalität 1
ihres Geiſtes verraten, durch falſchen Ehrgeiz und durch Mißverſtehen der 1
ihnen zufallenden Miſſion auf falſche Geleiſe geraten. Da haben wir einen
früh erſchloſſenen Kulturſinn, ein unmittelbares Sichverwandtfühlen mit 9
den höchſten Weistümern und Reichtümern alter und neuer Zeit; und die
ſüße Frucht ſolchen Altgeborenſeins — die freilich in Momenten ſelbſt—
712
quäleriſcher Wertorientierung bitter ſchmeckt, wie nach Schuld und Ohn—
macht — iſt der Geſchmack. Da haben wir eine wollüſtige Sehnſucht nach
dem großen Zeitloſen, das der Schutt der Zeiten erdrücken, das Gift des
Neides ſchwärzen, die Stumpfheit der Mittleren oder die Angſtlichkeit der
Herkömmlichen in Verbrechen oder in Narrheit fälſchen möchte. Da haben
wir das unintereſſierte Helfertum, welches das Verwiſchen der Unterſchiede
empört und das die unüberbrückbaren Diſtanzen ein für allemal feſtſetzen und
feſthalten möchte. Das find die Ingredienzien der Eſſaykunſt, die in einem
monumentalen Kopfe die Handſchrift Hippolyte Taines ſchreibt. Von allem
* dem hat Emil Ludwig, und das gibt, zierlich gerundet und pointiert, ſeinem
u
*
13 den Reiz und Rang.
13 Tismarck: der Haß verſtummt, nicht nur der blinden Genieverächter,
ie Oo ſondern auch der fruchtbaren Ordner und Anführer mächtig ſchwellen—
der Gegenkräfte; die eifertolle Parteigängerſchaft hat kein reales Programm
mehr, das in den Wirrniſſen der Stunde ganz beſtimmte Baſtionen zeigt,
die zu erobern ſind, — bis auf eines, das mit der Aſche nationaler Phraſen
4 eut iſt; und die ſtumpfe Heroenanbetung wuchert wie immer in jenen
Sehen, die menſchliche Größe erſt post festum erkennen und anerkennen.
Immer heller ſtrahlt die Glorie des Genius, der ſeinen Willen im Großen
wirkte (Carlyle: a hero is a man who works his will), faft ſchon flattert
der Name ohne Parteifarbe als Symbol des nationalen Willens zum Leben
5 in Größe, Einheit, Eintracht und Freiheit. Faſt ſchon. Der Zwang, Bismarcks
Werk teilweiſe auszubauen und umzubauen, zu verhüten, daß aus der Ein—
maligkeit feines Wirkens falſche Schlüſſe gezogen und ihre hiſtoriſchen Be—
8 dingtheiten aufgehoben werden, er hindert nicht, dieſes Symbol anzuerkennen.
Noch Erlebnis und doch ſchon Geſchichte; die Grenzen und Engen der Zeit—
lichkeit find verſunken, und vor unſeren Augen vollzieht ſich, im goldenen
Leichte einer großen Erinnerung, die Transſubſtantiation der Geſtalt .. Man
vergeſſe nicht, daß Bismarcks Hauptwerk in acht Jahren, zwiſchen 62 und
70, getan wird, und daß er in dem letzten Jahrzehnt feiner Herrſchaft wie
eein Rieſe aus fremder Raſſe und ferner Zeit auf die kapitaliſtiſch und prole—
0 5 tariſch verzwergte Umwelt blickte. „Ich langweile mich, die großen Dinge
ſind getan. Das Reich iſt aufgerichtet, es iſt anerkannt und b bei
mächtigen Eber zu erlegen, dann würde ich mir noch einmal etwas zu—
muten.“ Iſt das nicht Napoleon, der an der Bagatelle Europa ſich ſatt
regiert hat? .. Noch kämpfen wir gegen manche von ihm gepflanzten Ge—
. wohnheiten und Einrichtungen, die ſo zeitwidrig ſind, weil ſie ohne das
Genie ihres Schöpfers verweſende Kadaver auf der Straße der Entwick—
46 713
lung bilden; aber unberührt von unſerm politiſchen Willen lebt ſchon das
Gefühl für das Legendenhafte, das Mythiſche und die inkommenſurable
Urkraft ſeiner Perſönlichkeit. Das rein Politiſche iſt für Bismarck längſt
kein Maß mehr, und Betrachtungen, die darüber nicht hinaus können (Hans
Blum; Klein-Hattingen), wirken unſympathiſch; man ſehnt ſich nach der
Kritik eines überlegenen Geiſtes, der die Politik in weitem Bogen überſpannt
und zu ihren letzten unterirdiſchen Quellen vordringt. Wer das nicht kann,
wird uns in ſeinen Bemühungen um Bismarck das letzte ſchuldig bleiben;
und darum iſt, bis zu der Ankunft des großen Hiſtorikers, die Beſcheidung
des grundſätzlich Unpolitiſchen willkommen. In der Zwiſchenzeit mögen ſich alſo
die Entdecker von Bismarcks Seele tummeln; doch weiß ich nicht, ob die Me⸗
thode des reinen Analytikers aͤ la Ludwig zum Ziel führt, des Pſychologen, der
auf ein Präparat ausgeht, das das Geäder der letzten Triebe, Wünſche, Ge⸗ 4
danken, das Spiel und Gegenſpiel der wirkenden Kräfte und Urmotive der
Handlungen bloßlegt und nackt macht. Aus dem Anekdotiſchen, dem Bios
graphiſchen, den Notizbüchern, den Briefen, Reden, den Gedanken und
Erinnerungen‘, den Memoiren der Intimen werden die abertauſend dee
zuſammengetragen und extrahiert, die den Problematiker, den Melancholi liker,
den Ironiker, den Satiriker, den gigantiſchen Machtmenſchen, den Ariſto—
kraten, den Royaliſten, den Diplomaten, den Autodidakten, den Sachdenker,
den natürlichen Sinnenmenſchen, — die das ſtets exploſionsbereite Rieſen-
temperament, die Reizbarkeit und die blitzſchnelle Aſſoziationskraft des Be
Genies, die Beſonnenheit und das Maßhalten des Realiſten, die Werkliebe
des Künſtlers ... und dann wieder den Adelsſtolz, das warme Patriarchen⸗
tum und all die Eckchen voll zarter Seelenhaftigkeit und Sehnſucht nach
der Idylle charakteriſieren ſollen; dazwiſchen laufen tauſend kleine Brückchen
hin und her, über die uns der Analytiker als Verdeutlicher und Erheller
geleitet, mit Taſchen voll kluger Worte, Zitate, Reminiſzenzen, Einfälle
(zuweilen auch kindhafter Entgleiſungen und melodramatiſcher Gebärden).
Und wie bei den vielen Pünktchen und Tupfen der Neo-Impreſſioniſten ſoll
ſich die Syntheſe in unſerem Auge vollziehen. Aber ſie vollzieht ſich nicht
oder nur langſam und ſchwer, der Urmotor im Syſtem Bismarck, feine
idée maitresse wird von Schlinggewächs überwuchert, es entſteht kein fimul-
tanes Bild: das einzelne wirkt ſinnlich, das Ganze iſt unſinnlich und unan⸗
ſchaulich. Eine Perlenſchnur bleibt (nicht wahr, Herr Ludwig?) eine Schnur
und verläuft linear. Das kommt daher, daß hier grundſätzlich auf Chrono⸗
logie, auf Entwicklung, auf ruhige Darlegung der familienhaften, raſſen⸗
haften, geſchichtlichen und geographiſchen Bedingtheiten je an ihrem Orte 5
verzichtet wird. Nach einem mageren Vorſpiel „Chaos“ hebt die Analyfe
der Seele an, die als ſtarrer Behälter unveränderlicher Kräfte und Säfte
dargereicht wird. Nicht ſucht der Held ſeinen Weg zwiſchen den Wider—
x
eh >
714
ſtänden, die ihn fruchtbar und flügge machen; wir ſehen nicht, wie er ſich
kennen lernt, ſein Niveau entdeckt, ſich findet, das Bewußtſein ſeiner Kräfte
gewinnt, das Gefühl ſeiner Miſſion in dem Zwielicht der entſcheidenden
erſten Zufälle und Begegnungen ihn als Geſchenk der Gnade beglückt. Das
tragiſch ergreifendſte Schauſpiel, das ein Heldenleben bieten kann, der
Anblick des Wandelns zwiſchen Fatum und Freiheitsilluſion aufwärts zur
Höhe und wieder abwärts, wenn die Kräfte zerfallen und die Individuali—
tät, verlöſchend, in das große Geheimnis zurückgeſogen wird: ach, keine
Seeelenentdeckung dieſer Art kann es uns aufrollen. Nur die hiſtoriſche
7 Darſtellung kann den Gegenſtand fo packen, daß die Pſpychologie die
Anſchauung erhöht und verlebendigt, daß der Pſychologe den Künſtler nicht
erſtickt; der Biograph (der echte) verſchluckt den Analytiker, nicht umgekehrt.
Herr Emil Ludwig ſcheint jeden Hiſtoriker für einen Tendenzbären zu halten;
natürlich, der echte iſt ſelten, er wird meiſt von der Tendenz oder der Ma—
terie aufgefreſſen; aber darum bleibt das Ideal feiner Kunſt der ſchönſten
abſtrakten Seelenanalytik doch überlegen. Immerhin dürfen wir Herrn
Ludwig für ſeinen ſo geiſt- und anregungsreichen Verſuch ehrlich dankbar
fein. Er ſchlägt ganze Schränke akademiſcher Materialienhiſtorik aus dem
Felde.
II
Vb Otto von Bismarck, dem treuen deutſchen Diener Wilhelms I., bis
zu Benjamin Disraeli, dem treuen Diener ſeines Genies und ſeines
Willens zur Geltung, find ein paar Schritte, der Weg läuft durch Genie⸗
land, auf dem Sattel eines Hochgebirges entlang. Von Emil Ludwig, dem
Bismarck⸗Analytiker, zu Oskar A. H. Schmitz, dem Verehrer des Künſtler—
politikers Disraeli, liegen, was Methode und Zweck ihrer Heldenbetrachtung
anlangt, unaus füllbare Klüfte.
Schmitz nennt fein Buch: Die Kunſt der Politik (bei Meyer & Jeſſen,
Berlin, 1911). Das iſt auf der weißen Pergamentimitation des Rückens,
auf dem gemaſerten Grau des Vorderdeckels und dem weißen Titelblatt
drinnen zu leſen. Aber gleich dahinter auf der zweiten Buchſeite prangt es
in ſtolzen Lettern: Lord Beaconsfield (Benjamin Disraeli). Das führt
doch einigermaßen irre, für mich wenigſtens begann die Lektüre des wert—
vollen Buches mit dem Verſchlucken einer Geſchmackswidrigkeit. Denn das
Leben und Lebenswerk des faszinierenden anglo-italieniſchen Juden iſt das große
Hauptſtück und der Weg führt folgerichtig von den Elementen der Seele, ihrer
ethnographiſchen Struktur, ihrem Wachstum, durch den Blumengarten ſeiner
literariſchen Erſtlinge und das Geſtrüpp feiner problematiſchen Publiziſtik
hinauf ins Parlament, hinein in die Laufbahn des lenkenden Staats mannes
eines Weltreiches. Nicht pſychologiſche Neugier und der Einfühlungsdrang
des Aſtheten in eine ihm fremde Welt hat hier die Wahl des Themas
715
beſtimmt, ſondern die Überzeugung: daß dieſer große Jude, gefangen in dem
Blutkreis feiner Raſſe und des Raſſengeiſtes, aber im perſönlichen Schick⸗
ſal unauflöslich verknüpft mit dem Schickſal eines die Erdkultur mit⸗
beſtimmenden Volkes, ein europäiſches Ereignis geweſen iſt und als ſolches
begriffen, als ſolches gewertet, als ſolches für die gegenwär tige Kriſis der
deutſchen Geſchichte nutzbar gemacht werden ſoll. Das iſt ein durchaus
legitimer Wunſch und eine legitime Abſicht; aber war es nötig, die Tendenz Be:
fo geſchwollen aufzutragen und ein dickes Buch über Disraeli von über vierhun⸗
dert Seiten Großoktav als Umweg für ein dürres fabnla docet gleich auf der
Etikett zu bezeichnen? Herr Schmitz iſt ſeit einigen Jahren der Fürſprecher
deffen, was er mit Bismarck, Roon, Curt Breyſig und den anderen Ideologen
des roten Tags „konſervativen Fortſchritt“ nennt, und er möchte dieſem die
Zauberkräfte von Disraelis toryiſtiſchem Radikalis raus zuführen; er hält inn
für die Panazee gegen das Gift der Revolution, die er im Anzuge wittert
und die ihn aus wachen Träumen ſchreckt. Nun hat freilich Disraeli das
Torytum, als es in der Epoche der Liberaliſierung des engliſchen Staats⸗
weſens zerſchmettert am Boden lag, mit neuem Geiſte zu erfüllen geſtrebt, *
es ſozial und liberal gemacht, es moderniſiert, es von dem Moder trotzig nen
fagenden Kaſtendünkels geſäubert; er hat den adelsſtolzen Landmonopoliſten |
und ſtarren Traditionsanbetern zugerufen: Seid ihr die Erneuerer, die
Jakobiner von oben, nehmt den verkrämerten Bourgeois und Mittelſtändlern,
den dürren Utilitätsmoraliſten und den Phariſäern mit dem Kleineleut -
geruch den Wind aus den Segeln, damit rettet ihr euch und die Romantik
des Staatslebens und die imperiale Herrlichkeit; — ja, das hat der funkelnde
Jude für fein trübes Old England getan und Herr Schmitz will das Gleiche
tun für fein auch nicht überluſtiges junges Deutſchland. Die Wahl dees
Vorbilds iſt gut, ich gratuliere. Herr Schmitz will wirken, er hat ſich die
Notiz zu Herzen genommen, die Jung-Ben früh in fein Tagebuch ſchrieb:
I wish to act what I write. Alles das iſt, wie geſagt, legitim; aber wäre
die Tendenz nicht unendlich wirkſamer, wenn ſie mit der Kunſt des An⸗
deutens zwiſchen den Zeilen geübt wäre? Dort, zwiſchen den Zeilen, ſtecken
die Engelszungen, die überzeugen. So liegen in der dicken Aufdringlichkeit
der Tendenz und beſonders in dem billigen Moral-Dilettantismus des an⸗
gehängten Kapitelchens „Pro patria“ die ſtumpfeſten Waffen, mit denen
Herr Schmitz ficht. Was aber die Sache ſelbſt betrifft, ſo glaube ich nicht
an das chassez-croisez von konſervativ und liberal bei uns, an die Mögliche
keit einer ſittlichen Einkehr und eines freiwilligen Verzichts auf Vor⸗Herr
ſchaft unſerer Kaſtenregenten (fie haben die Blindheit der ſtarken Einäugigen),
an die wörtliche Brauchbarkeit hiſtoriſcher Analogien. Ich laſſe mich hier nicht 9
in einen geſchichts⸗philoſophiſchen Ce erlocken; ich weiß nur, daß ſolche
analogiſche Betrachtungen höchſt ar egend und ſubjektiv befruchtend fein
716
können, daß aber Geſchichte nie durch übertragung von Rezepten oder Anwen—
dung von Regeln gemacht wird, ſondern in jedem Augenblick neue, unvergleich—
bare, nie dageweſene, nie wiederkehrende Konſtellationen da find, dienur aus dem
Sinn und dem Zwang und mit den Mitteln des Augenblicks umgeſchaffen
und umgeboren werden — von den Menſchen, die die Intuition und Kon—
genialität dieſes Sinnes und Zwanges haben. Sie werden mir Recht
geben, Herr Schmitz, da Sie ja von der Politik als Kunſt ſprechen und Dis⸗
= nei und Bismarck als die großen Künſtlerpolitiker anſprechen. Jeder
Künſtler ſpricht ſeine eigene Sprache, das Kliſchee iſt wirkungslos.
Aoer was bleibt von dem Buche? Viel Gutes und Schönes und An—
ergendes, nämlich das Werk über Benjamin Disraeli, ſein Herzſtück, das
über vierhundert Seiten Großoktav füllt. Es weiß den unendlichen Reiz des
mas einzufangen, auch im Biographiſchen. Der Jude, der Künſtler,
der Mann der Tat, der Kämpfer, der eine feindliche Welt und nicht nur die
; kompakte Mehrheit, ſondern erſt recht die Erleſenen überwinden und bezwingen
muß, der Menſch, der die Narben dieſes Kampfes trägt und den Duft ſeiner
R verzweifelten Mittel von ſeinen Heiligtümern abzuwehren hatte, der Werk⸗
meiſter, der wohl ſchon zu verausgabt und ein wenig verblutet das Steuer zur
Macht ergreift, zuletzt der Greis, der, entamtet, milde und verklärt auf die
Tragik einer nur halb verbrachten Arbeit zurückblickt und ſich in die Einſam⸗
keit ſeines immergrünen Parks und ſeiner immer blühenden Phantaſie
zurückzieht: das tritt plaſtiſch hervor und der romantiſche Kreislauf dieſes
Lebens, das ſich vom Sonnenuntergang zum Licht des Oſtens zurückwendet,
um im Weſten als Symbol eines großen Myſteriums und eines nagenden
Problems zu verglimmen, wird in dieſer Darſtellung durch die Wärme des
ulͤberzeugten wohltuend durchweht. Der Vergleich zwiſchen Bismarck und
Disraeli am Schluß des Buches fällt durch das menſchliche Augenmaß
beſonders auf. Wäre das Buch nicht durch eine graue und ohnmächtige
Tendenz beſchwert, fo wäre die Freude an ihm weſentlich größer.
Neue Epik
von Jakob Schaffner
* Von der Kritik
= — klagte ſeinerzeit über die Verrohung der Kritik. Sie iſt nicht
verroht, fie iſt verſüßlicht, verſchwärmt, degeneriert, fie weiß nicht mehr,
worauf es ankommt. Ernſthaften Kunſtverſuchen gegenüber ſpielt ſie
ein grämlich ſchulmeiſterliches Kunſtrichtertum; vor jeder glücklichen Mittel⸗
717
mäßigkeit ſtreckt fie die Waffen und liebt. Das geht bis hoch hinauf.
Produktive Schriftſteller findet man unbedenklich auf dem Weg der Gefühls⸗
kritik; ich ſelbſt bin zu einem Teil dieſem Fehler verfallen. Nur⸗Kritiker,
die keine perſönliche Kunſterfahrung haben können, ſieht man in ihrer Klauſe
ſitzen und ſich da ein Wahrſcheinlichkeitsbild des Autors zurecht ſpinnen,
das nachher für Wirklichkeit ausgegeben wird. Niemand unter den Dichtern
iſt es paſſiert, daß fo ein Magier zu ihm kam und ihn fragte: „Sagen Sie
mal, ich bin bloß ein Kritiker; ich weiß nichts: wie verhält ſich nun dies
Stück zu Ihrem Leben?“ Die Kritik iſt das einzige Feld, wo ſich den
Mann noch ungeſcheut der Mutmaßlichkeit hingibt und wo er Urteile fällt ER
ohne fie wiſſenſchaftlich zu begründen. 9
Ich ſpreche nicht von dem Heer der Rezenſenten; man weiß, aus weſchen |
Niederungen es ſich rekrutiert. Es ift nicht möglich, daß jede Provinz. 5
zeitung einen erleuchteten Kritiker hat, zumal die Kritik ein Talent voraus⸗
ſetzt. Aber die Kritiker von Ruf müſſen entſchieden tiefer zu graben ver-
ſuchen. Sie müſſen ſich anſtrengen, dem Künſtler und der Kunſt ernſter
und beſchwerlicher zu dienen, als ſie es tun. Wenn es möglich wäre, müßten
einige Dichter, die die Begabung und das Wohlwollen dazu beſitzen, die
Kritik ſelber in die Hand nehmen. Es iſt dem Dichter nicht damit ger
holfen, daß ein Buch von ihm paraphraſiert, und der Raum, der zur Be
gründung des Urteils dienen müßte, von der Empfehlung einer netten
Mittelmäßigkeit eingenommen wird. Nur die Grundſätzlichkeit kann das
moderne Kritikweſen regenerieren. Man muß wiſſen und es zeigen, daß
ein halbgeglückter ernſthafter Kunſtverſuch wichtiger iſt, als eine gelungene 2 9
Landläufigkeit, und die Schätzung muß ſich auch im Raum ausdrücken, 1
den man der Auseinanderſetzung zumißt. Man kann es anders machen
und dann wird der Künſtler mit Recht ſagen: „Was heißt mir eine ſolche |
Kritik!“ So groß und wichtig ift heute kein Kritiker, daß er mit Recht
ſich über die Unzulänglichkeiten gegenwärtiger Kunſtverſuche erhaben dünken
könnte. Sind die Künſtler ſchwachherzig und muͤſſen ſich erſt wieder er—
heben, fo iſt die Kritik einflußlos, unbedeutend, und muß auf die Funda—
mente zurück. Mit pſychologiſchen Impreſſionen iſt's nicht getan. Eine
Dichtung kritiſch feuilletoniſtiſch nachzuſchaffen, iſt ſo ſchwer nicht; ein
dichteriſches Halbtalent vermag das ſchon. Weſſen Grundſtimmung nicht 9
in der Grundſtimmung der Dinge wurzelt, iſt nicht zum Kritiker berufen.
Der Wind wird fein Wort verwehen, nachdem es kaum ausgeſprochen iſt.
Chineſiſche Geiſter- und Liebesgeſchichten =
I) Buber läßt bei Rütten und Loening fechzehn von ihm gefammelte
chineſiſche Geſchichten erſcheinen, die zum Teil zu einer letzten Aus
wahl der Weltliteratur gehören. Sie ſind Endprodukte einer langen Reihe
718
von Veredelungsverfahren, die nicht weiter fortgeſetzt werden könnten, ohne
ſchließlich die gewonnene Reinform wieder zu vernichten. Fragen wir uns:
was iſt das Abweſende, das herausgeſchmolzen nun nicht mehr ſtört? ſo
finden wir erfreut: Die Perſönlichkeit. Das Kunſtwort dafür heißt
Subjektivität. Die Geſchichten ſind einfach, wahr und kühl erzählt, wie
Weltleute erzählen, die viel erlebt und geſehen haben. Wenn wir einmal
an unſrer Perſönlichkeit verzweifelt ſind und den Hergang mit dem Leben
überſtehen, werden wir auch fo erzählen. Dieſen großen und wilden Schmerz
muß aber unſre Eitelkeit vorher erleiden. Wahr ſein, heißt fertig ſein.
Wer ſich nicht, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Spieß in die Bruſt
kann treiben laffen, wird keine gute Geſchichte erzählen. Schließlich handelt
es ſich bei einer Erzählung nicht um die Ausbreitung eines ſubjektiven
uenſchwanzes, ſondern darum, Zeit zum Erlebnis zu bringen, nämlich
je Zeit, während deren man erzählt. Am Ende hat man ſich gut unter—
Neten oder man hat ſich gelangweilt. Alles muß dieſem Zweck dienen,
Geiſt, Seele, Phantaſie, Ethos, Sinnlichkeit. Das ſollte beſcheiden machen.
Man teilt eine halbe Stunde durch einen Ruf in der Mitte in zwei
Teeile; fie ift gegliedert. Man wiederholt den Ruf und erhält drei Zeit—
glieder, die durch ihre Länge und Rufbetonung aufeinander wirken; außer—
dem wirken die beiden Rufe ſelber aufeinander durch den Unterſchied in
Stärke, Länge, Tonhöhe und Klang. Man geht nun gelockt und geſpannt
weiter, verhundertfacht den Ruf, variiert ihn, ſetzt Pauſen ein, entwickelt
iühn durch den reinen Ton muſikaliſch, oder durch das Gefühls- und Sinn—
wort poetiſch, und ſteht ſchon mitten in der Kunſtwirkung. Man merkt,
daß gewiſſe Lautgruppen auf das Gefühl und andere auf die Anſchauung
wirken, repetiert den Vorgang, ſondert die Arten und hat die Lyrik von der
Epik geſchieden. Die Lyrik iſt in ihren Fundamenten auch ſchon fertig;
eine gewiſſe Anzahl von Gefühlen, die ſich durch das Wort erregen laſſen,
iſt da und unvermehrbar; Liebe, Haß, Todesfurcht, Schwermut, Sehnſucht
ſind uns angeborene Empfindungen; man kann ſie verfeinern, aber nicht den
Kreis ſprengen. Die Epik zieht indeſſen auf die Welteroberung aus, die
ſie nie vollenden wird. Sie wächſt an ihrer Aufgabe, den Lebensvorgang
im letzten Sinn zu erfaſſen und darzuſtellen. Der Entdeckungsvorgang
ſpielt ſich immer in ferneren Zonen ab. Der Anſchauungsvorgang wird
ſtets weltmänniſcher und wertvoller. Aber da die Welt und das Leben end—
MR los ift, muß auch die Entdeckung unbegrenzt bleiben, und die Darftellung
4 ird in der höchſten Virtuoſität beſtenfalls eine Wahrſcheinlichkeit ſein. Je
ehrlicher ſie dieſe Natur bekennt, deſto beſſer ſieht es um ihren Beſtand aus,
und das ſcheint ſeltſam.
Aber es iſt natürlich. Sobald die Eitelkeit des Individuums es unter—
nimmt, perſönlich für die Autorität ſeiner Darſtellung einzutreten, alſo
719
fobald der unverbindliche gute Stil zur verbindlichen fubjeftiven Manier
wird, ſieht ſich das Individuum ſamt ſeiner Beſchränktheit auf dem Fleck
feſtgenagelt, und die Erkenntnis geht ihren Weg an ihm vorbei weiter.
Das iſt das Geheimnis der ewigen Jugend und des Alterns in der Kunſt.
Die Perſönlichkeit ſtirbt und reißt das perſönliche Werk mit in ihre un-
rühmliche Vergeſſenheit hinab. Welcher Künſtler es fertig bringt, bei
lebendigem Leib zu ſterben, ſichert ſeinem Werk die Ewigkeit. Es iſt ganz
der gleiche Hergang, den wir bei der Selßbſtheiligung des Frommen beob⸗
achten: er vernichtet ſeine Perſönlichkeit, um ſeine Seele zu retten.
Künſtlers Seele iſt ſein Werk. Allerdings wäre es ein neuer Selbſtbetru 5
nun meinen zu wollen, man könne der Perſönlichkeit wirklich entrinnen.
Wir brauchen ſie vielmehr durchaus nötig, erſtens um ſie zu erdroſſeln,
und zweitens, um fie trotzdem zur Tätigkeit zu zwingen. Im Sterb 0
muß ſie uns jene Gegenſtände und Vorgänge heraufbringen, die ihr
jetzt und nachher und endlich in den 1 Zügen noch wichtig ſi 10 1
und das wird dann unſre Ausleſe ſein. Die Perſönlichkeit des großen
Künſtlers erkennt man an den verlaſſenen Stühlen; beim Dilettanten ſitzen
alle Zimmer voll. * *
Aber Erzählen heißt im letzten Grund: Zeit zum Erlebnis bringen, und
alle Reinigung, Selbſtaufopferung und-Verleugnung wird nur zu dieſem
einen und letzten Zweck unternommen. Man lieſt die Geſchichte: „Die
Blumenfrauen“ in einer halben Stunde. Wie iſt dieſe halbe Stunde ge⸗
teilt, neu verbunden, wieder geteilt und am Ende zum Anfang in Be⸗
ziehung geſetzt? Wir wollen einen Haupteinſchnitt Fermate und eine
Nebenteilung Cäſur nennen. Einem chineſiſchen Gelehrten erſcheint im
Kloſtergarten ein junges Mädchen in Weiß und verſchwindet wieder. Caſur.
Schon iſt in die Zeit eingeführt die Neugier des Gelehrten, das Geheimnis
des Mädchens und ſeine Sehnſucht, es wieder zu ſehen. Das Mädchen
tritt wieder auf und bringt eine Freundin mit. Das ſelbe Spiel mit
doppelter Beſetzung. Zweites Verſchwinden. Cäſur. Es iſt große Weis⸗
.
— 8
heit, daß der Erzähler nicht ſofort mit beiden Mädchen anfing. Aber jetzt
trifft er auch den richtigen Zeitpunkt, nach dem zweiten Verſchwinden Huangs
Wunſch (und unſern) zu erfüllen: dieſer lernt die Schöne kennen, ſpricht
mit ihr und wird ſie wieder ſehen. Dritte Cäſur; wir leſen noch nicht zehn
Minuten lang, noch nicht fünf. Aber nun hat Huang erſt das weiße
Mädchen; das rote ſah er noch nicht wieder. Wir möchten mit ihm Bi
die Freundin kennen lernen. Vorher kommt jedoch ein Hamea
das weiße Mädchen ſtirbt. Erfte Fair 5
Huang erkennt, daß ſein Mädchen eine Blumenfrau war, die in einer
weißen Päonie wohnte. Er beein Fe und begegnet nun dem zweite 2
Mädchen, das in Rot gekleidet iſt. Auch fie trauert. Sie machen Freund⸗
720
ſchaft, aber fie wird nicht feine Geliebte: „Tag und Nacht liebkoſt zu werden,
könnte ich freilich nicht ertragen“. Das Motiv iſt bereits variiert. Cäſur.
Es kommt eine zweite, noch entſchiedenere Beugung. In einer Nacht macht
Huaong Verſe auf die Tote, und lieſt fie laut beim offenen Fenſter. Seine
neue Freundin erſcheint und vollendet das Gedicht. Er will ſie an ſich
ziehen. Antwort: „Muß die Freude des Beieinanderſeins immer dieſes
meinen?“ Die Freundſchaft ſcheint geſichert, und zugleich das Andenken
Br der weißen Geliebten. Statt einer zweiten Cäſur ein Zwiſchenſpiel: Welche
Blume im Garten iſt Tſchiang, die Freundin? Huang führt ſie hin, aber
* fe legt nur die Hand auf den Mund und lacht. Die zweite Fermate liegt
nun ſchon in der Luft. Huang muß in die Heimat. Dort träumt er,
7 s ſei in Lebensgefahr und rufe ihn. Sofort kehrt er zurück. Die
Prieſter ſind dabei, das Kloſter zu vergrößern und wollen eine Kamelie
niederhauen. Huang rettet ſie. Die zweite Fermate fällt; am Freundſchafts—
oer des Gegenthemas iſt nun kein Zweifel mehr. Außerdem iſt ſicher,
daß das Schickſal der weißen Geliebten noch nicht entſchieden ſein kann, da
die Fermate im Verhältnis Huangs zu Tſchiang keinen neuen Gedanken
ſchließt. Alſo zurück zum erſten Thema.
Nun wird es Ernſt mit der Geſchichte. Eines Abends erſcheint Tſchiang
und bringt die Botfchaft, daß der Blumengott, gerührt durch Huangs
Liebe, der weißen Freundin die Rückkehr ins Leben geſtattete. Statt einer
Cäſur kommt wieder ein Zwiſchenſpiel, Liebesgeplänkel, in deſſen Verlauf
das erſte Thema durchaus überraſchend auftritt. Plötzlich erſcheint Hfiang-yü
und kommt leiſe auf die beiden Spielenden zu. Huang ſteht auf und erfaßt
weinend ihre Hand. Dieſe Wiedereinführung iſt ungeheuer in der Wirkung.
x Aber noch ift Hſiang⸗yü ein zarter, kühler Geiſt, keine Wirklichkeit, fondern
eeine Erſcheinung. Tſchiang nimmt nun Abſchied: „Dein Gatte begann mir
4 eben läftig zu werden“. Cäſur. Nun handelt es fid darum, der Er-
ſcheinung Wirklichkeit zu verleihen, die Päonie wieder ins Leben zurückzu—
ſchmeicheln. Es wird ein Jahr darüber hingehen; Tſchiang muß die
Wartezeit teilen; ſie wird zurückgezwungen. Fortan ſind alle drei bei—
ſammen. Cäſur. Die Päonie gedeiht; Huang erhält feine Gattin wieder.
So oft er die beiden ſtarken blühenden Pflanzen im Garten ſieht, ſagt er:
u „Einſt wird mein Geiſt an eurer Seite fein‘. Sofort ſpringt die Skepſis
8 ein und lenkt unſre Aufmerkſamkeit auf dieſen Ausſpruch. „Vergiß es nur
. nicht, “lachen die Mädchen. Letzte Formate.
* Huang wird gefährlich krank. Erſtiebt A Wesheie Ich n
der Kamelie und der Päonie aus dem Boden. Die Prieſter ſind betroffen und
chm ihn mit Waſſer. Nach drei Jahren iſt er ſchon einige Fuß hoch. Da
ſtirbt der alte Prieſter; die jungen wiſſen nichts und hauen den Schößling ab,
721
weil er keine Blüte hat. Die weiße Päonie welkt und ſtirbt; bald ift auch die
Kamelie tot.
Die halbe Stunde iſt geteilt durch drei Fermaten in vier Zeitglieder;
jedes Zeitglied hat drei oder vier Cäſuren. Die Fermate ſtellt ſich dar als
Begebnispauſe nach einem Hauptgeſchehen; die Cäſuren ſind Unterperioden
und werden manchmal in Zwiſchenſpiele verwandelt, nämlich immer dann,
wenn es dem Erzähler darauf ankommt, durch eine Unerwartetheit zu über⸗
raſchen. Man ſieht, es iſt nicht fo einfach, eine Novelle zu ſchreiben; auch ſie
hat mechaniſche Geſetze. Auf dieſe Weiſe läßt ſich jede wohlgebaute Erzählung |
zerlegen und kennen lernen. Vielleicht ſchreckt die Einſicht eine Anza
Dilettanten ab, und verhilft einem jungen Dichter zur notwendigen kunſt⸗
techniſchen Erkenntnis. Jedoch er muß eben nicht weniger ſein, als ein
Dichter. Technik allein tuts nicht, ſie ſchafft nur Geſtalt, wo Leben iſt; 0
aber auch Gefühl und Phantafie allein tuns nicht; gerade unſere Generation
hat techniſche Klarheiten höchſt nötig. Das wird gleich das nächfte Novellen⸗
buch erweiſen. |
Die Unterſuchung gibt zugleich den Charakter aller Gefchichten dieſes
köſtlichen chineſiſchen Buches; ſie ſpielen ſich alle über die Grenzen der reinen
menſchlichen Exiſtenz hinüber. Und es iſt wunderbar, wie ſie auch zugleich
die menſchliche Exiſtenz mit hinüberſpielen.
Stille Häuſer. Novellen von Hans Reiſiger
ies Buch iſt im Jahre 1910 bei Rütten und Loening erſchienen.
Inzwiſchen brachte Reifiger bei S. Fiſcher einen Roman heraus, und
es ſcheint nun ſchlecht angebracht, nachträglich über ſo viel ältere Arbeiten
zu ſprechen. Aber erſtens hat jede künſtleriſche Unternehmung ihr grundfäß
liches Intereſſe, und zweitens ſind Novellen keine Romane. Die wahre,
innerliche Muſikalität eines Komponiſten kommt erſt in feiner Kammermufit
ganz zu Gehör; ein Muſiker ohne bedeutende Kammerwerke iſt eine unvollns
kommene Erſcheinung, der ich mißtraue. Ebenſo verhält es ſich mit der
Novelle und dem Dichter. In der Novelle erſcheint die dichteriſche Kraft
und Innerlichkeit in der letzten Konzentration, da, wo eine Seele mit dem
Tod zuſammenhängt. Das Bild iſt leuchtender, das Gefühl ſüßer, der
Schreck unvermittelter, die Erkenntnis hellſehend. Ich ſchränke mein Ver⸗
trauen einem Dichter gegenüber ein, der nicht ſchöne Novellen ſchreibt. |
Reiſigers „Stille Häuſer“ find ihrer vier, und alle vier umſchließen une 7
gewöhnliche Schönheiten. Es gibt heute nur noch zwei oder drei Dichter
von dieſer erdenſchweren Süße, von dieſem animaliſch-geiſtigen Jung⸗
männerduft, in dem ſich keuſch und halb verwirrt eine Mannheit von
ſchwerſtem Wert auspuppt. Aber es ſind Leute, die Zeit brauchen, und
man muß ihnen Weile laſſen. Es iſt ein Zufall, wie ſie anfangen. ks
722
könnte glücklicher geſchehen, als es geſchieht. Sie fangen damit an, ſich
wegzuſchenken. Sie ſind ſo ungeheuer reich, daß ſie jetzt einmal zuerſt mit
Überfluß aufräumen und Gefühl los werden müſſen. Die Form macht
ihnen fürchterlich zu ſchaffen. Ich ſehe, daß alle Schriftſteller und Durch—
ſchnittsbegabungen geſchickt debutieren, und daß die wahren Dichter mit
tauſend Torheiten, Kinderfehlern, Formloſigkeiten und Entwicklungskrank—
heiten anfangen. Von Reiſigers vier holden Novellen iſt keine einzige fertig;
8 iſt in der letzten Vorſpannung vor der Weihnachtstür kichernd oder
weinend eingeſchlafen. Er wird das inzwiſchen ſelber erkannt haben; in der
Are ſeiner Unfertigkeit kündigt ſich auch ſchon die Fähigkeit, zu lernen, an.
. Reiſiger macht alle Fehler, die ein Novelliſt machen kann. Er verliert
Er A ch im verliebten Geſtrüpp der lockendſten Vorerzählung, beſchreibt einen
— wundervollen Herbſt ſeitenlang, unfähig, ſich loszureißen, und flattert dann
x plötzlich, ohne etwas mit dieſem ſchönen Herbſt gemacht zu haben, wo
anders bin, wo es eben fo ſchön ift, und wo ebenſowenig paffiert. Das ift
ein beliebter Fehler. Ich zähle ihn auf, nicht um Reiſiger zu tadeln, der es
jetzt beſſer macht und deſſen Geſchichten man trotzdem leſen muß, ſondern
um irgendeinen noch Jüngern den Weg abzukürzen und einem oder zwei
Kunſtfreunden einen Sachverhalt aufzudecken. Der zweite Fehler iſt die
liebe Pſychologie, und der führt direkt in den Wortreichtum. Die Novelle
„Der Gaſt“ erzählt ſich mit einem überfließenden Aufwand von Ausdrücken
und von Stimmung; Dinge, die der Leſer auf zwanzig Seiten voraus
ſchon weg hat, berichtet der Erzähler, wenn ſie dran kommen, umſtändlich
und eingehend, und das Selbſtverſtändlichſte wird noch erklärt. Mit der
Zeit merkt dann ſo ein Begeiſterter von ſelber, daß alles ſelbſtverſtändlich
iſt, daß die Dinge und Vorgänge bekannte Eigentümlichkeiten haben, die
alle Leute kennen und die man nur mit einem Wort anzureden braucht, ſo
dichtet jeder Leſer kenntnisreich und dankbar nach. Natürlich geht unter
dieſem allzu beſtrebten Beſtreben die Handlung freundlich unter, und die
Pointe verliert ſich in ahnungsreichem Verſtummen. Auch der Landſchafts—
beſchreibung wird fleißig gefrönt — ein weiterer Kunſtfehler; er ſteht
ſehr in Anſehen! — und der überfühlvolle Dichter errötet und erbleicht
dreimal, ehe endlich das Wort in der Handlung fällt. Nichts iſt für
eeinen dtalentloſen Schreiberkerl leichter, als hinter Naturſchilderungen
zu verbergen, daß er keine rechte Geſtalt machen und keine Handlung er—
finden kann, daß ihm nichts einfällt. Aber wenn ſo ein junger Dichter
über die gandſchaft kommt, ſo gibt es zwar auch immer noch keine Novelle,
u aber es gibt eine Inbrunſt, eine Seligkeit Es iſt für das Leſepublikum ein
ſchlechtes Zeugnis, daß die Bücher ſolcher jungen Männer immer liegen
bleiben, während jeder Eintagskitſch, jede talentloſe Senſations ſchmiererei
vom Tag fünfzig Auflagen macht. Sagt man mir, man wolle reife Kunſt
723
von Form und Geiſt, fo frage ich, warum lieſt man dann nicht Hermann
Stehrs zwei große Romane. „Hermann Stehr? Wer iſt das? Was hat
er denn geſchrieben?“ Nicht wahr? Wir wiſſen doch Beſcheid. Und
warum hat Kellers „Grüner Heinrich“ heute noch weniger Auflagen, als
„Die Briefe“, die ihn nicht erreichten? Wem iſt es nun ernſt um Kunſt,
Form und Geiſt? Geduld? Zum Teufel, nein, wir wollen keine Geduld
mehr haben. Unſer Leben iſt zu kurz, als daß wir unſre Gegenwart an die
Kunſtſchlamperei des Publikums ruhig verlieren mögen, zumal di 8
Schlamperei gegen die jungen Dichter immer als Arroganz auftritt.
davon ſpäter einmal genauer. Was Reiſiger angeht, ſo hat er in fein:
Geſchichtenband die wunderſamſten, ſchönſten und lockendſten Frauen,
man ſich wünſchen mag, und die träumeriſchſten und lebensgeheimſten u
zugleich ⸗offenbarſten Männer, die mit einem Hund, einer Reitpeitſc 1
einem ſtruppigen Kopf oder einer kurzen Samtjacke durch den Tag ſolcher
Frauen gehen können. Dazu hat er das Talent der Generalbetrachtung; er
weiß, welche heilſame Rolle an der Geſtalt eine kleine Torheit, eine leiſe
Lächerlichkeit ſpielen kann, und wendet die Wiſſenſchaft diskret, aber be⸗
ſtimmt an. A
Es gibt einen guten Grund, weshalb ſich ausgedehnte Naturſchilderungen
in der Epik verbieten. Sie iſt eine Kunſt, die mit der Zeit arbeitet, nicht
mit dem Raum. Das Wort kann keinen Raum machen; ſo ſoll es auch
keine Landſchaft bauen wollen. Es genügt, zu ſagen: „Berge, Ebene, Fluß,
Wald“, fo hat man, was man braucht, um die Handlung davon ihre Farbe
bekommen zu laſſen. Schilderung iſt Aufenthalt im Zeitfluß, der nur
durch Konflikte angehalten werden darf, denn nur ſie gehören in die Zeit,
in welcher fie wirken, und welche fie zu Begriff bringen. So falſch die Er
zählung im Gemälde, ſo unrichtig iſt das Gemälde in der Erzählung, weil
an beiden Orten Zeit mit Raum verwechſelt wird. Den Maler macht die
Farbe, die Linie, die zweidimenſionale Energie, den Dichter die Fabel, die
Handlung, das Geſchehen, die zeitliche Bewegtheit der Geſtalt. Er ſoll beiſpiels-
weiſe auch die Geſtalt nicht räumlich durch Beſchreibung geben wollen, ſondern
durch ihre Bewegung ſich ſelber rekonſtruieren laſſen dieſe Rekonſtruktion
beſorgt ſich im Kopf des Leſers mit Luſt; aber weitläufige Beſchreibungen
akzeptiert er mit Widerſtreben, weil ſie ihn verwirrt. Dasſelbe gilt von
der Pfychologie. Dasfelbe von der Stimmung und vom Milieu. Von 1
alldem ſoll nur das Stichwort in der Erzählung ſtehen; der Leſer ſpricht
die ganze Rolle ſofort weiter; er kennt ja das alles. Die Philologen all a
Zeiten rühmens zwar und halten es für das Hauptkriterium des Epikers, 7
wenn er recht breit in der Schilder ing daher kommt; aber wir find eben 1
keine Philologen mehr. Es gibe auch hierin Unterſchiede. Was für einen
Schild Achill hat, intereſſiert mich nur allgemein, denn er hat ihn nicht
*
724
felber gemacht; ich bin zufrieden, zu hören, daß er groß und ſchwer iſt; das
kennzeichnet den Helden. Die eingehende Beſchreibung der Bilder und Buckel
darauf gehören in den Raum und haben mit der zeitlichen Entwicklung nichts
zu tun. Etwas anderes iſt es mit den Schätzen des Züs Bünzlinz ſie hat ſie
geſammelt, ſie veranſchaulichen ihre Vorgeſchichte und ſind ihre Seele, ob⸗
wohl auch dort noch Gelegenheit zu Beſchränkung wäre. Ein Kunſtgriff,
= deen zeitlich einzuſchmuggeln, ſieht ſo aus: „Er ſah das
Gebirge dunkelbrohend vorbei ziehen. Der Himmel erſchien ihm ungeheuer
d traurig. Das Lied der Vögel kam ihm ſinnlos vor und beleidigte ihn“.
nein, hier ſind ſchon entſchiedene Zeitelemente vorhanden, und das
fühl hat ſtark gemodelt. Wir müſſen es fo anfaſſen: „Er ſah das Ge⸗
je prächtig vorbeiziehen. Vor ſeinen entzückten Augen rauſchten tauſend
Bäche und Quellen herab. Der Orgelton der Waſſerfälle erfreute fein
waches Ohr. Das Blau des Himmels ſpiegelte ſich regenbogenfarbig auf
feiner Iris wider“ uſw. Man merkt den doppelten Betrug: das Räum⸗
liche erſcheint im unbewegten Individuum zeitlich, und das Gefühl gibt
vor, den Raum zu bewegen. Natürlich geht es dann noch zwei Seiten
ſo weiter. „Seine“ Organe werden der Reihe nach alle daran kommen,
und ſämtliche Erſcheinungen des Tages „reden eine deutliche Sprache“
zu ihm. Aber die Handlung bleibt ſtehen; in der Zeit hält der Chineſe
bei der erſten Fermate. Nichts ift entwickelt, als ein Wortſchwall und eine
epiſche Unfähigkeit, ein künſtleriſcher Umſchweif.
| Gideon, der Arzt. Roman von Joh. Höffner
3 E⸗ werden in unſrer Zeit viele lesbare Romane geſchrieben, die, ohne ſich
4 durch befondere Kraft auszuzeichnen, doch fo gut find, daß man im
5 allgemeinen ſagen kann, der moderne Roman hat ein hohes Niveau. Eine
härtere Zeit ließe fie nicht aufkommen. Man lernte fie nie kennen, wenn
. nicht die Wege zur Offentlichkeit ſo leicht gangbar wären. In jedem glimmt
eein Funke echte Dichtung; an jedem hängt ein großer Fetzen nur bedrucktes
82 Ne Unſre Bildung ſteht ſo hoch an allen Pegeln, unſre Sprache iſt
ſo entwickelt, daß man nur den nötigen Geſchmack haben muß, fo kann
einem kein Roman mißlingen. Man ſieht auch, daß dieſe Werke einwand—
=: frei gebaut find. Es wird mit großer Sicherheit am richtigen Punkt einge-
ſetzt und am richtigen Punkt aufgehört. Der Leſer ſtößt nirgends auf Ge—
v lltſamkeiten. Er wird nicht durch geniale Zwangsvorſtellungen verängſtigt.
Er bewegt ſich durchaus in guter Geſellſchaft.
| 75 Auf derſelben Seite des Höffnerſchen Romans finden ſich die beiden
a folgenden Sätze: „Das junge Mädchen gab einen Ton von ſich, der irgend
etwas ausdrückte“, und: „Ihre Augen liefen die Zeilen entlang (im Buch),
wie Kinder durch die Gaſſen, wenn irgendwo in der Ferne eine Melodie
725
lockt“. Sie war abweſend. Der erfte Satz iſt eine reine, gewohnheits⸗
mäßige Gedankenloſigkeit, der zweite ein dichteriſches Bild, von dem ich
nicht weiß, ob ich mich dadurch für jene entſchädiget fühlen kann, ſo freund⸗
lich es iſt. Dann haben wir gleich noch eine Verhinderung auf dem Weg
ins Himmelreich: die Affenliebe. Sie iſt eine liebenswürdigere Ausgabe
der Perſonaleitelkeit, aber der Ewigkeit nicht weniger feindlich, als dieſe.
Der Schützenzug kommt. „Bumm! — Bumm! — khr 7 *
Die Tanzgeige ſingt: „Didelidehlihdli dihdli dihdi, didelidelihdli dihdli
dih“, folgt ein zweiter Vers. Die Soldaten rücken an: „Tſchingdera!
Tſchingdera!“ Welch ein Dichter: er gibt feine Seele der Pauke, der
Geige, den Becken hin; er läßt ſich dazu herbei, ſie wie ein Kind nachzu⸗
ahmen, und er ſoll wohlwiſſend von ihnen ſprechen. Aber in die Sprache
gebracht lautet es: „Man hörte die Pauke in der Ferne dröhnen.
Geige ſang in füßen, blödfinnigen Figuren. Die Becken ſchrillten.“ Man
muß den Stil einer Gattung reſpektieren. In der Epik geht es darum, mis ö
Worten artikuliert auszuſprechen, was iſt und wie es iſt. Wer am
artikulierteſten ausdrückt, iſt der beſte Schriftſteller und der größte Dichter.
Tolſtois Überlegenheit beruht in dieſem Geheimnis, das keines ſein ſollte;
er hat überall die klare, weltmänniſche Form, wo das Ding im Geiſt er-
ſcheint.
Unartikuliertheit, um noch ein prinzipielles Wort darüber zu ſprechen, iſt
eine Folge von ſchlechter literariſcher Erziehung, und es iſt ſicher, daß ſie
dem guten Geſchmack widerſpricht. Wenn zum Beiſpiel ein ganzes Buch
hindurch Möven- und Seeſchwalbenſtimmen nachgeahmt werden, ſo tönt
das kreaturerfahren, naturvertraut und urwüchſig. Es ſteckt aber nichts da⸗
hinter, als daß man den Geiſt an den Ungeiſt proſtituiert. Man kann ein
Tier ſehr anſchaulich darſtellen und einen Begriff von ſeinem Schrei geben, 9 |
ohne diefen auf dem Papier nachzuahmen, von dem ihn doch jeder anders 4 N
ablieſt. Wir leben im Zeitalter der Naturwiſſenſchaft; das iſt richtig. Das
Tier und das letzte tote Ding ſtehen mitten im Brennpunkt unſrer gewinn⸗
ſüchtigen Intereſſen; trotzdem wiſſen wir vom Pferd nicht mehr, als man
vor hundert Jahren und in den Zeiten der Griechen wußte. Aber weil wir
uns in der Schuld der Kreatur wiſſen, tun wir vertraut mit ihr und laſſen
ſie in unſerm Bett ſchlafen. Es iſt im letzten Grund unſer ſchlechtes 9 Be
wiſſen, das uns zur Proſtitution treibt; wir belügen uns und fagen: , i
ift die Naturliebe“. Be
Höffners Roman ſtellt Erſcheinungen aus der Raſſenfrage dar. Wir
haben links den edlen alten Juden, den ſtrebſamen jungen Juden, und den
ſprichwörtlichen Juden, rechts den übel wirtſchaftenden Arier, das ungetreue
Germanenmädchen, den ariſchen Gewalttäter und den germaniſchen Drauf
gänger. Sofort begegnet uns die deutſche Schwäche, Kliſchees zu machen,
u, re Be a ia
726
ſtatt Perſonen. Der edle Jude ift nur edel, der wüſte Arier nur wüſt, uſw.
Die Hauptgeftalten find unwahr, fie ſcheiden ſofort aus unſrer Betrachtung
aus, und Höffner kommt um ſeinen Lohn. Wir wollen ſehen, wie Tolſtoi
das gemacht hätte. Er hätte dem edlen Juden eine Beſchränktheit gegeben;
er hatte ſeine Vorzüge durch Fehler glaubhaft gemacht. Der ariſche Wüſt—
ling wäre bei ihm durch eine Zärtlichkeit mit der Menſchheit verbunden;
erer hat doch einen Sohn! Höffner muß mit uns allen lernen, daß das
Lieben nicht fo oder fo iſt, ſondern daß es fo und fo iſt. Wir beſtehen alle
* aus Miſchungen, auch die größten und entwickeltſten Individuen. Ohne
* eine Spur Lächerlichkeit iſt kein heiliger Franziskus darzuſtellen; wir werden
. hn nicht glauben, weil wir beſſer wiſſen. Bismarck war vielfach beſchränkt
und ungewöhnlich befähigt. Friedrich der Große war auf einem Auge
id, und Goethe auf einem Ohr taub. Unſre Menſchendarſtellung iſt fo
kindiſch und ungeheuerlich, ſobald wir etwas damit beweiſen wollen, daß
wir notgedrungen unſre Lebensehrlichkeit revidieren müſſen.
So blaß die Idealgeſtalten Höffners ſind, ſo prächtig, wahr und
ſicher ſtehen feine Mittelfiguren, die untergeordneten Träger und Objekte,
daz ſie zeugen für ſeine Dichterſchaft. Sein Moſes Manaſſe iſt ein Kerl
voll Leben, ein Schuft, aber voll Angſt, ein Wucherer, aber voll hamſter—
licher Liebe zu ſeiner weichen Roſa. Mit dieſem Stil muß Höffner weiter
arbeiten; der idealiſtiſche iſt zu nichts nütze. Der ſpitzbübiſche Kopf des
Moſes Manaſſe ſteckt zudem voll grotesker Lebensweisheit. Man hat Ein—
quartierung. Die Geſchütze ſtehen auf dem Markt, mit den Mündungen
gegen Manaſſes Haus. Er dreht ſich in ſeinem Rock: „Seh nich hin,
Roſa. As men ſchießt, macht nen poj. Und as Gott will, ſchießt en
Beſenſtiel“. In dieſer menſchlichen Totalität liegt es, daß der Leſer mit
muß, wie der Sohn des germaniſchen Wüſtlings den Juden um die Ecke
bringt. Da ſpringt das tragiſche Auge auf, nicht, wo Höffner wollte, im
Duell zwiſchen dem Mörder des gemeinen Juden und dem Sohn des
edlen Juden. Ich erkenne, daß die ſozuſagen lebenstopographiſche Anlage
des Romans nicht ohne großen Willen und Blick für wirkſame Verhält—
niſſe gemacht iſt; die Möglichkeiten ſind da; es fehlt den gegen den Tod
vorgeſchobenen Formationen blos an der menſchlichen Beſiedlung, am zeu—
genden und wühlenden Blut. Dergleichen wächſt bei uns, die wir an der
Idee groß zu werden pflegen, mit dem Alter nach.
Diann iſt da noch ein Geſetz, gegen welches Höffner lehrreich verſtößt.
0 ine Perſon muß im Roman an der Krankheit ſterben, die man ihm in
die Bruſt gepackt hat; man iſt das ſeinem Geſchöpf und dem Leſer, den
man darauf einſpannt, ſchuldig. Man darf vor allen Dingen nicht eine
Perſon, wenn man nichts mehr mit ihr zu machen weiß, plötzlich unterm
Eis verſchwinden laſſen, wie Höffner tut. Walter Thebeſius iſt krank an
DER = 7% 7
|
727
jedem unwahren, weil unbegründeten, deutſchen Optimismus, an jener
germaniſchen Unbekümmertheit, die Kraft ſcheinen will, und Haltloſigkeit
iſt. Daran mußte er vor unſern Augen eindringlich und urſächlich zu⸗
grunde gehen, und zwar eng in den Konflikt verbiſſen, notwendigerweiſe.
Der Einbruch auf dem Eis iſt willkürlich und beweiſt nichts, als daß dem
Verfaſſer ein Verſehen widerſuhr: eben eine Figur fiel ihm ins Waſſer. Da⸗
gegen muß er noch einen beſondern Dank haben für die liebe kleine Geſtalt des Be
Mariechen Saiß, die ihm fo rund aus der Hand rollte; fie wird ihn üb ber Pr"
feine Berufung tröſten, wenn die frucht- und furchtbaren Zweifel wen auf
den Hals kommen. Glück zu. Et
4
Stiefſchweſter Wien
von Norbert Jacques
un liegt uns tagein tagaus ſtreng, keuſch und tief wieder die nord ⸗
Noba Ebene in den Augen. Das ungeſtüme Zielbewußtſein einer
wachſenden deutſchen Stadt richtet ſich mit kaltem Willen rund herum
uns auf. Und vom Kontraſt gelockt, ſteigt der vergangene Sommer in
Wien mit doppelter Kraft in die Phantaſie. Wir wohnten ja nicht in der Bi
Stadt felber, fondern draußen im Süden, wo der Wiener Wald kräftig
gegen die ungariſche Tiefebene abſetzt: Eine kleine Zugſtunde vom Süd⸗
bahnhof und in einem verzweigten Tal, in dem ſich immer die üppige Leib
lichkeit der grünen Berge um uns erhob. Wo lag da Wien? Nur die letzten
Wellen der Stadt ſetzten bei uns ab, die Wellen, die bloß mehr das Wefent-
liche des Lebens der Stadt kühl herantrugen. Aber ſelbſt bei dieſem Verkehr 14
verſtanden wir uns nicht recht. |
Doch einmal wurde das herrliche Wien der Nacht entdeckt. Wir kamen =“
auf einem Abendgange aus einem Dorf heraus auf die freie Höhe und
plötzlich hielt die Nacht uns Wien entgegen als ein Lichterfeſt von ver
ſchlungenen Roſetten, von ſteifen und reichen langhinlaufenden Perlenketten, Br
von hochgehobenen feurigen Blumenſträußen, matt glühenden Gewölben von
rotem Dunſt in ſchwarzem Samt. So war die ganze heimliche Struktur
des Stadtſkelettes mit glühenden Bällen nachgezeichnet ein geheimer Za
der eine neue Erkenntnis Wiens zu bringen ſchien. Im Meer der finſtern
Ebene ſchwommen mit blaſſem Funkeln kleine Städtchen fernher wie erhellte
Schiffe. Sie ſtrebten alle Wien zu. Die ganze weite dunkele Ebene war wie
von einer Lichterſehnſucht nach Wien erfaßt, und die Stadt lag dorten breit und
nachtromantiſch wie ein beſeligter Hafen von tauſend nächtlichen Feſtlichkeiten.
728
Aber tagsüber kamen ihre Menſchen ſchimpfend zu uns aufs Land. Sie
ſagten, Wien ſei eine unleidliche Beſtie, und prieſen immer von neuem, daß
das Land ſie von der Stadt befreit habe. Kaum jedoch rann im ſcheidenden
Sommer der erſte Regen nieder, ſo ſchlichen ſie haſtig und ſcheu zu ihr zurück.
Sie waren ja ſchon lange ſehnſüchtig geweſen nach den weichen Gewohnheiten
und dem laſterhaften Allerhand dieſer Stadt.
Sie war wie eine Stiefſchweſter deutſcher Städte. Es war ein illegitimes
bichtfertiges Tröpflein ſüdlichen Blutes in ſie gekommen. Das Gefüge war
hon gut: alt, heimatſtark und frohen Sinns. Aber es flatterte von Tand
und Unzuverläſſigkeit um fie. Zigeunerhaft ſah es aus. Ging man durch
| e Straßen, von der Augenweide an ſeinen alten Häuſern, von dem Schweren
Launiſchen feiner alten Viertel dahingelockt, fo ſah man ja auch den
1 orientalifchen Schimmer über dieſer Stadt glitzern, ſah in ihren Men—
ſchen das buntere Dunkel fremd an. Die ſchöne illegitime Stiefſchweſter.
Die unzuverläſſige! Sie batte nun ihre wunderbare Stadt und pries mit
ö ben Lippen ihre konſervative Gemütlichkeit, ihre alte Kultur und
benahm ſich doch nicht ſo. Sie buddelte ſich auf in einer parvenühaften,
modern ſein wollenden Unternehmungskraft. Sie riß ihre alten Häuſer ein
und ſetzte neue auf, und man ſah nicht recht den Zwang einer Notwendigkeit.
Es ſchaute ſo aus, als unternähme ſie's nur, um es den Schweſtern in
Dieutſchland, den ernſt wachſenden, legitimen Kindern Mutter Germanias
gleichzutun. O, fie verleugnete all ihren Geſchmack, auf den fie fo ſtolz war,
N wie eine Pariſer Verkäuferin auf den ihrigen. Man konnte in Wut kommen.
Sie beſitzt ihren wunderbaren Platz „Am Hof“ mit dem ſo wohlig gefügten
Palaſt des Kriegsminiſteriums. Daneben kommt eine etwas enge Gaſſe her,
und unter dem Vorwand dieſe Gaſſe zu verbreitern, wurde beſchloſſen, den
ganzen alten Barockpalaſt abzureißen. Seid ihr denn nie des Nachts über
dieſen Platz gegangen, wenn ſich der Obſt- und Gemüſemarkt mit nachttoll
heimlichen Farben und üppigen Bewegungen wie ein Feſt zwiſchen dieſen
alten Steingedichten feierte, in denen die Muſik eines wunderbaren Geſchmacks
m beruhigten Verzückungen ſingt? Nein, es wird abgeriſſen! Wien wird
dieſe Tat eines Halbwilden vollführen. Der Tropfen Blut arbeitet, den der
fremde Strolch, der rohe Hund, der die Schöpferin dieſer Stadt ver—
gewaltigte, in Wien ließ.
8 Wie ewig gewordener Schönheit dieſer fatale Mangel inneren Bewußt—
bens und äußerer Geſchmackskultur zerſtörend begegnet, ſo wendet ſich das
Wien von heute, ach, ein anderes Wien als das Fiſchers von Erlach und
Ku Bildebrants, mit temperamentvollen Strohfeuern gegen jeden Verſuch wieder
4 zu ſchöpferiſchem Geſchmack zu kommen. Der lächerliche Spott der Urania
hat kein Widerſprüchlein aufgeblaſen; die Flut von Stuckornament und
llücgenhafter Hiſtorie wurde mit Wonnen empfangen. Aber die neue Eigenart
47 729
Wagners, wie ſie imPoſtſparkaſſengebäudekraftvoll erſtand, hat dieſe Geſchmack⸗
vollen wild gemacht. Und Loos hat mit ſeinem Gebäude am Kohlmarkt
gar ſo viel humorvolles Temperament bei der Gemeindeverwaltung gefunden,
daß ſie beſchloß, ſein Haus mit Staatsgewalt zu „ſchmücken“.
Wenn wir die kunſtgeſchichtlichen Demonſtrationen der berühmten Ring⸗
ſtraße überſchritten haben, ſo dringen wir bald in die verwirrten Viertel der
Proletarier ein, wo das niedrige, alte öſterreichiſche Landhaus, das mit ſeiner
Verſchloſſenheit gegen die Straße aus dem Orient gekommen ſein mag, noch
manchmal kleinmütig zu den Zinsburgen des zwanzigſten Jahrhunde
aufblickt. Die hier wohnen, fahren nicht mit dem berühmten Fiaker
dem man nie erfahren kann, was man ſchuldig iſt, ſondern der Hunger
ſie, wie das auch andern Orts der Brauch iſt. Dann ſchwindet die Wie
Gemütlichkeit. Als nun die Leute, die nicht nötig haben, einen Fiaker na
ſeiner Taxe zu fragen, die Lebensmittelpreiſe ſo in die Höhe trieben, daß
den Küchen dieſer Leute Fleiſch fo ſelten wurde, wie die Kultur des Geſchmacks
in Wien, da lehnten ſich die Getroffenen auf. Sie zogen in mächtigen Maſſen
proteſtierend durch die Straßen, und einige bewarfen ſogar ihre geliebten
Deutſchmeiſter mit Steinen. Sie wurden alsbald ſchwer beſtraft. Aber
unter ihnen war ein Mann, der hatte wohl den Anlauf zur Empörung ge⸗
funden, aber da der Affekt ausging, brach er zuſammen und nahm ſich vor
ſeiner Verurteilung das Leben, weil er Angſt vor der Strafe des Richters
hatte. So iſt in Wien immer ein Negatives hinter einem Poſitiven auf der
Lauer. Jeder Aufſchwung kehrt ſich unverſehens in einen Rückſchlag. Die
ſchöne Stiefſchweſter mit dem unverläßlichen Blut des Fremden!
Aber wie geſagt: wir wohnten draußen in dem ſchönen Wiener Wald, der
wie ein Tanz, ſinnlich und heiter, um einen geht. Wien kam nur wie ein
Ausklang bis zu uns heran. Die paar direkten Berührungen waren nicht
erhebend, aber auch nicht heftig. Es lebte, wie es lebte, mit objektiver Optik
beſchaut: deutſch und orientaliſch, humorvoll und brutal, echt und baftard-
blütig. Doch da fuhren wir einmal abends hinein und gingen ins Burg⸗
theater, den Medardus von Schnitzler zu ſchauen. Und das wurde auf einmal
der zuſammenſchmelzende Kriſtall dieſer zerflatterten Wiener Eindrücke. Da
lebte die Farbigkeit ſeiner Volksſeele auf und tummelte ſich in einer Flut von
Geſchehniſſen, die eine erregte Zeit brachte. Hier ſtand das Poſitive, das
ſchwanger an ſeiner eigenen e war. Es war blumicht dichteriſch
dieſes Volkes fließen. Biebensmwürbig traurig und verſagend in ſeiner Maſſe, N
erhob es ſich in melancholiſchem und verhängnisvollem Glanz in einem
einzelnen Schickſal bis zum lociſchen Aufbegehren heimlicher Seelenkraft, i
die an der Wirklichkeit abſprang. Si. ſchlug den Dolch in das ſüße neben-
ſächliche Gift, das ein Weiberher; enehielt, während für den Tyrannen, dem
730
das ganze Heldentum zugedacht war, nur der negative unſchädliche Trotz
blieb. Ein Anlauf, der in die Luft verſchlug.
Aber die Wiener kamen und verſtanden, überlegen wie ein auskultiviertes
Volk, in der Biſſigkeit dieſer Dichtung ihren ſymboliſchen Ernſt und ihre
erkennende Wahrheit. Und merkwürdig, fie zeigten die Überlegenheit ihres
Fehlers. Sie ſchimpften, aber liebten das Theaterſtück. Sie machten die
Tragödie von jenes „Kriegs letztem und ſeltſamſtem Se fozufagen zum
Bie in ihrem Alltag, ſo erging es auch bei dieſer feierlichen Gelegenheit.
das positiv Dichteriſche der Schickſalsgeſtaltung ihres Landmauns Me-
us ſchlang ſich in Liebe das Negative des ſchönen ſtrohfeuerflammigen
18 der pikanten Ba - der deutſchen Städte.
Chronit: Aus Junius Tagebuch
om gegenwärtigen Kanzler des Deutſchen Reiches ſprechen, heißt:
ſeine Zeit mit der Kritik des Unfruchtbaren töten. Dieſes Geſchäft
überlaſſen wir neidlos der Tagespreſſe; die kann ja nicht umhin, die
Unzulänglichkeiten des deutſchen Geſchäftsführers zu buchen, und darf nicht
müde werden, ſolche täglich anſchwellende Schädlichkeit bloßzuſtellen. Man
muß aber feſtſtellen, daß die Schwäche des Mannes anfängt ein Talent
zu werden. Lindequiſt, der nicht in den Kongoſumpf ſteigen wollte (der,
um nutzbar zu werden, mehrere Hundertmillionen verſchlingen wird), wird
beſeitigt; Wermut, der ſchon gerühmt werden mußte, weil er den Reichs—
haushalt nach den elementarſten kaufmänniſchen Regeln verwaltete und die
Deckung der neuen Wehrlaſten nicht auf ſchwankende Überfchüffe gründen
wollte: Wermut muß fort. Beide werden brüsk und in allen Formen der
ur habe entlaſſen. Die Nation ſieht dieſe charaktervollen Männer in die
| Anonymität unterfauchen, in die, nach deutſchem Mißbrauch, vorher Bülow,
Poſadowsky, Dernburg gedrängt wurden, und ihre Stellen an ältliche Be—
amte vergeben, denen von den Offiziöſen eine unbemakelte Bureaufraten-
tüchtigkeit nachgerühmt wird. Als ob er, der wächferne, der eiſerne Kanzler
väre, deſſen Herrſcherwille nur Werkzeuge brauchen, keine Mitarbeiter
5 a den konnte. In dem Bundesrat rührt ſich die Oppoſition gegen
Preußens Führung, beſonders ſeit der kluge Freiherr von Hertling das
katholiſch Bayern auf ſehr katholiſche Weiſe vertritt. Er will die erweiterte
Eibbſchaftsſteuer nicht, weil das Zentrum ſie nicht will. Nun mag auch der
Kanzler fie nicht mehr, die er kurz vorher als Beitrag zur Deckung der
731
neuen Wehrlaſten vorgeſchlagen hatte; er läßt offiziös die Einſtimmigkeit
im Bundesrat preiſen; aber da kommen aus einzelnen Parlamenten der
Bundesſtaaten Gegenerklärungen leitender Miniſter und der Regierungs—
preffe, die beſagen, daß ihre Vertreter für die Erbſchaftsbeſteuerung ein⸗
getreten ſeien. Dieſe ſeltſame Bekundung feines Autoritätsſchwundes läßt
der Kanzler über ſich ergehen, als ob dergleichen zu den normalen Bürden
des Amtes gehörte. Grenzt ſolche Schwäche nicht ſchon an Charakter?... Es
heißt, die Tage des Kanzlers ſeien gezählt; der Kaiſer gönne dem Kanzler
die Genugtuung, mit dem Triumph der durchgebrachten Wehrvorlage Be.
zu verabfchieden. Dem Mann, dem zum Staatsmann alles, aber
alles fehlt bis auf die gute Abſicht, der keine Initiative, keine Ideen,
Suggeſtionskraft beſitzt, der am liebſten nach des ſeligen Walpole e
non movere‘ regieren, der die Furcht vor dem Volk (pour le corrom
on le peint corrompu) zur oberſten Staatsmaxime zu erheben und nicht
einmal den guten Politikertrick anzuwenden verſteht, die allzu drängende
Unruhe der Neuerer durch Eingehen auf Illuſionen zu dämpfen und abzu⸗
lenken: ſolchem Manne iſt zum Abſchied jede Genugtuung zu gönnen.
Aber was dann? Dann beginnt das neue Experimentieren mit Männern,
die der Monarch aus der Handvoll der ihm tauglich Erſcheinenden wählt;
die, als Neulinge, unerprobt, aus dem Dunkel „nachgeordneter“ Ämter
tretend, die ungeheure Aufgabe übernehmen, die Geſamtpolitik eines
Rieſenſtaates verantwortungsvoll zu leiten, nach innen und nach außen; die,
nach den Regeln der Uberparteilichkeit, das Schacherfpiel mit den Parteien
von neuem beginnen und ein paar Jahre von der Hand in den Mund
leben. Wozu der Wechſel? Plus ga change, plus ga reste la mème chose.
Das vorſintflutliche, antiſelektive Verfahren, den beſten Mann zu finden,
bleibt in Geltung. Gewünſcht wird eine Reform des Ausleſeverfahrens,
ein neuer Weg, dem König die Ausübung der Initiative bei der Wahl
ſeiner verantwortlichen Gehilfen zu erleichtern. Die Perſonalkritik wird
unter ſolchen Umſtänden ein müßiger Sport, auf die Dauer genau fo läftig,
und unwürdig wie das Wühlen in Perſonalklatſch und das Breittreten
des Höflingsgeredes, das ſich mit dem Erraten der Männer beſchäftigt,
denen die Sonne des Herrn ſich zuwendet. (Eben ſcheinen der Großadmiral.
von Tirpitz und Marſchall von Bieberſtein, der alternde und faſt ſchon ver⸗
brauchte orientkundige Botſchafter in Konſtantinopel, Favoriten). Seit de
Novemberſtürmen und den Agadirentrüſtungen find wir keinen Schr
vorwärts gekommen; und es war doch leicht genug, ihren Sinn zu errate
Ber jenen Stürmen taten ſich die Nationalliberalen innerhalb und außer⸗ 1
halb der Parlamente tüchtig hervor. Sie hatten Anfälle von Mut⸗
haftigkeit. Sie verlangten — vielleicht in der Hoffnung, man könne im
732
Getöſe einzelne Stimmen nicht unterſcheiden — innigeren Kontakt zwiſchen
Kaiſertum und Demokratie, Erweiterung des Kreiſes der Regierungsfähigen
und was man ſo unter Moderniſierung des Verwaltungsapparates und der
politiſchen Maſchine zu verſtehen pflegt. Hinterher erſchraken die Herren,
wenn man ihnen Tendenz zur Parlamentariſierung unterſchob. Unter vier
Augen ſagten ſie: ja; es hilft nicht; das iſt das Ziel. Ein Baſſermann,
Junck, Weber, Naumann, Hertling, Bachem, Frank, Vollmar und
Männer ähnlichen Kalibers in der Regierung: die Vorſtellung iſt ohne
8. Schwierigkeit vollziehbar; den Hokuspokus des Amtierens lernten die bald,
und die Konſtruktion drängender Wünſche, die zu erfüllen fie ins Parla-
8 ment geſchickt worden, würde die üblen Gewohnheiten der Kritik und der
draſenhaftigkeit ſchnell verſcheuchen. Das ſagten ſie, unter vier Augen;
und fo wurde das Brauſen des Sturmwindes verſtanden überall, wo man
das as perfönliche Regiment, aber noch viel mehr den Geiſt und das Regiment
der oſtelbiſchen Oligarchie als ſchädlich und unzeitgemäß empfand. Auch
zahme Bürgersleute, auch die ſaftig Erwerbenden, die fett Beſitzenden, die
ſchmarutzenden Intellektuellen, die mit hiſtoriſcher Bildung Behafteten: ſie
alle entrüſteten ſich mit und halfen den Jungen die Nationalliberalen nach
links treiben, in die Richtung einer unvermeidlichen Entwicklung. Das Natio—
nale verſtand ſich von ſelbſt — das Liberale, die Liberaliſierung (oder Angli—
ſierung) der politiſchen Maſchine wurde der Kriegsruf, der durch alle Wahl—
6 krämpfe hallte. Nun iſt, mit der Ernüchterung nach dem Rauſche, der
2 Riß da, die Partei bröckelt, die Philifter, die Byzantiner recken das Haupt;
es iſt ein Wahn, zu glauben, der Induſtriefeudalismus, der Beamten—
liberalismus, der proletarierfeindliche Großkommerz und die kompakte mittel
er. parteiliche Feigheit, die nichts will als die Ruhe des Erwerbs und des
Genuſſes, — ſie hätten politiſch die gleichen Ziele wie die Politiker, die eine
kongeniale Vertretung des Maſchinenvolkes ſuchen. Je eher die Illuſion der
Zuſammengehörigkeit zerſtört wird, deſto beſſer. Die große deutſche Linke
wird nicht eher geboren, als bis der Schutt ſolcher Zaghaftigkeit aus dem
Wege geräumt iſt.
lbert Träger, der Greis mit dem goldenen Jünglingsgemüt, iſt geſtorben
und wird von ſeinen Freunden noch lange vermißt werden. Er ver—
. bare, ein poſthumer Achtundvierziger, den alten politiſchen Bürger—
. Optimismus, durch Rot und Blau und Schwarz ſah er den Liberalismus
der Zukunft in allen Farben ſtrahlen, ſein Glaube an den Fortſchritt, an
* den Fortſchritt ſchlechthin, an den Fortſchritt sans phrase konnte Berge ver—
ſetzen. Er iſt ſonſt ausgeſtorbenen unter beträchtlicheren Menſchen; unter
den älteren Mitgliedern der liberalen Bürgervereine mag er noch exiſtieren, in
ſeiner zeitfremden und lyriſchen Simplizität aber iſt er dem jungen Geſchlecht
733
fern und fremd. Darum war es ein unbegreiflicher Fehler, den Tod dieſes
liebenswerten, unproblematiſchen und parteitreuen Mannes und Geſinnungs⸗
genoſſen als den Heimgang eines Helden des Liberalismus zu betrachten.
Welche Optik! Iſt der Liberalismus wirklich ſo arm geworden an ſchöpfe⸗
riſchen Menſchen, daß man es nötig hätte, Albert Träger unter ſeine Größen
zu reihen? Selbſt der Schmerz der Scheideſtunde — von einem Meyſchen,
dem das Leben ein Freudenquell geweſen war und der von dem Talent ver⸗
ſchont blieb, ſich an ſeiner Problematik, dieſe ſelbſt eng politiſch genomn
die Zähne auszubeißen — er rechtfertigt nicht jede Übertreibung.
reich war dagegen Theodor Barths Entwicklung; wie gründlich hat
als Sozialiſtenfeind in die Schranken getreten, umlernen müſſen; velch
tragiſche Stunden hat der Eigenbrödler bis zuletzt durchkoſten müſſen, da
er enttäuſcht und wehbeladen in die Grube fuhr. Seine Leidens ze
ſpiegelt die Leidenszeit des echten Liberalismus, der ſich vom Ausdruck 0
beweglichen Beſitzes und des großſtädtiſchen Bildungsphiliſteriums zum
Symbol des ſtrebenden Arbeitsvolkes durchringen mußte, des Volkes, das
neben Freiheiten auch Sicherungen braucht. Die große ſchwere Arbeit, ſich
mit dem Nationalismus auf der einen, mit dem Sozialismus auf der anderen
Seite auseinanderzuſetzen und die Ideale der neuen Demokratie zu prägen
— wir wiſſen, wer ſie geleiſtet hat und daß dieſen Männern (die zum
Glück noch unter uns weilen) das Verdienſt gebührt, den Liberalismus, der
ſchon Leichenduft ausſtrömte, verjüngt und zukunftsträchtig gemacht zu
haben. Albert Träger war ein Veteran des liberalen Glaubens, ein Auf⸗
rechter, ein Biedermann; er iſt darob zu Lebzeiten gebührend gefeiert worden.
Aber er hat nicht das Maß, hiſtoriſch und ins Heldiſche gereckt zu werden.
Weh Miſſion hatte die Reiſe des engliſchen Kriegsminiſters Haldane
in Berlin? Er wies bündig nach, daß England nie daran gedacht
habe, Deutſchland während des Marokkoſommers zu überfallen; daß die
ſcheinbare Drohrede von Lloyd George auf der (mißverſtändlichen) Voraus⸗
ſetzung beruhte, Deutſchland ſchiebe das größte Kolonialreich der Erde als
quantite negligeable zur Seite; daß das offizielle und das demokratiſche 1
England, von der Zeiten Not zu ſozialen Reformen gedrängt, ſich mit dem
Expanſionsbedürfnis Germaniens längſt abgefunden habe und bereit ſei, U ch
über die Baſis eines friedlichen Nebeneinanders geſchäftlich und ein
allemal zu verſtändigen. Man hat das Gefühl, daß ſolche Darlegung
aufrichtig ſind; aus ihnen ſpricht die wahre Stimme Englands: die Jingo
bellen aus Verdruß und Enttäuſchung, Außere und innere SO
machen dem Lande das Leben fayiver. Überall fühlt ſich das Imperium von
wachſenden Weltreichen bedroht, deengt: in Perſien, an Indiens Grenze von
Rußland, in China und dem Stillen Ozean von den Vereinigten Staaten
734
und den Japanern; im lateiniſchen Amerika, wohin durch den Panama—
kanal die Union ihre ſilbernen Fühlhörner ſtreckt und das dem engliſchen
Kapital (in Argentinien und Braftlien zumal) bis vor kurzem die glänzendſten
An’agefelder bot, im Mittelmeer, in dem Franzoſen, Italiener und Oſter—
reicher ſich ausbreiten; und an tauſend Punkten der Erde. Mit Deutſchland,
dem von Joſeph Chamberlain an ich weiß nicht wie oft Verſtändigungen
und Friedensbünde angeboten wurden und deſſen Sprödigkeit das am ganzen
Leibe empfindliche Weltreich auf die Gegenſeite getrieben hat: mit einem
von ſo erſtaunlich feſter induſtrieller und militäriſcher Struktur zur
kann Britannien aufatmen und ſich der Organiſation ſeiner Demo—
e widmen. Denn das iſt — wer ſähe es nicht — feine nächſte Auf⸗
z und je mehr es darin durch imperialiſtiſche Schmerzen und Sorgen
alten wird, deſto ungeduldiger und ungebärdiger wird die Maſſe.
(Davon, und von Irland, wo ſich ein wundervoller Sieg liberaler Regierungs-
methoden vorbereitet, ſpreche ich nächſtens.) Das iſt die Lage; die Reden
von Sir Edward Grey, Winſton Churchill und Lloyd George ſpiegeln ſie
und ſind klar und von bekenntnisgleicher Aufrichtigkeit. Sie haben den
Mut — nicht der Verzweiflung, wohl aber der letzten Entſchloſſenheit. Sie
wollen und erſehnen die Verſtändigung, darüber iſt kein Zweifel; die finan⸗
ziellen und moraliſchen Reſerven ſind groß; was die Finanzen betrifft (die
letzte, goldklare Budgetrede Lloyd Georges hats von neuem bewieſen), ſind
ſie uns überlegen. Aber bei uns regt ſich in den höchſten Regionen kein
1 Lüftchen, das deutſche Mißtrauen, bisher eine Kraft, wird ſelbſt zum Hemm—
ſchuh. Glücklich, wer noch hoffen kann, Herr von Bethmann werde ihn aus
dem Wege ſchleudern.
n vierzehn Gouvernements im Innern Rußlands hungern zwanzig
N Millionen Menſchen. Auf einem Drittel der Geſamtfläche der Hunger—
bezirke hat man das Wintergetreide nicht beſtellen können; und in Tſchel—
| jabinsk haben die Bauern den Biſchof Dionyſius gebeten, für fie Toten—
meſſen zu leſen, da fie aus Mangel an Nahrung ſterben müſſen. Und
& während dieſe Millionen ſich zum Sterben rüſten, feiert der Ritualmord—
wahn, der von der Nowoje Wremja und den Echtruſſiſchen mit teufliſchen
* Mitteln genährte, zu Oſtern ſeine Auferſtehung. Von Weſteuropäern aber
wird dieſem ſiechen Leib die Geſundung bezeugt: die Induſtrie erſtarke, die
Anmerkungen
Max Burckhard
A Mann, fo gerade und hell wie die⸗
fer, mußte im Dämmerunſerer Miſch—
lingswelt als ein Problem erſcheinen. Ganz
Oſterreicher und ganz Europäer: rätfelhaftes
Zuviel der Vollkommenheiten; demokrati⸗
ſcher Hofrat, argloſer Theaterdirektor, ge—
lehrter Journaliſt, Künſtler ohne ſtiliſtiſche
Abſicht: Widerſpruch über Widerſpruch;
und dabei auf jedem Gebiet in voller
Geltung — nicht nur angeſehen, fondern
auch angehört, — tätig, erfolgreich und
dennoch beliebt: wahrhaftig ein Problem!
Die Löſung iſt: er hat die Sache über
die Form geſtellt. So rückſichtslos, daß
er ſich nicht einmal herbeiließ, gegebene
Formen aufzulöſen oder umzuprägen. Sie
mochten paſſen oder nicht; er verließ ſich
auf die Kraft des Weſentlichen und lebte
nur ſeiner Aufrichtigkeit. Verachtung der
Form aus leidenſchaftlicher Luft am Gegen⸗
ſtand: das iſt der wahre Urſprung ſeiner
Abſonderlichkeit und ſcheinbaren Proble—
matik. Im übrigen war er ein Mann von
ungewöhnlichen geiſtigen und ſittlichen
Energien; daher mächtig im Wiſſen, ſtark
im Wollen, aufrecht im Handeln, uner⸗
müdlich und unbefriedigt, ohne Illuſion
und ohne Verzagtheit. Der typiſche Reprä-
ſentant der Kultur, die allein unſerer Ge⸗
genwart zu Recht gehört: derjenigen näm⸗
lich, die ihre Sehnſucht in Arbeit umſetzt.
Und alſo, genauer beſehen, eine im Grunde
ſehr begreifliche Erſcheinung; auffallend
vielleicht nur darin, daß er die Umriſſe des
Typus mit einer ſolchen Kraft auspragte.
Freilich, wie dieſe tüchtige und feſte Sach⸗
lichkeit der Natur eines wieneriſchen
Menſchen eingeboren ſein konnte, das wird
736
wohl nie ganz aufzuklären ſein. Ii a
auch völlig belanglos, fobald der fehärfer
eingeftellte Blick das unwichtige lokale
Beiwerk von den Hauptlinien einer werte
vollen europäiſchen Menſchlichkeit reinlid
ablöſt. Ein Zufall hat es ſo gewollt, und
damit gut. Denn ich glaube es nich
dieſer Mann für unſer Oſterreich, v
iſt und wie es werden ſoll, befonders ch
rakteriſtiſch geweſen ſei. Das neue Sſter⸗
reich ſehe ich nirgends; und weiß, daß noch
kein ſterblicher Menſch darüber ſtichhaltige
Auskunft geben kann; und vermute ſehr,
daß es erſt inmitten eines neuen Europa
beſtehen wird — oder niemals. Wir leiden
an den europäiſchen Notwendigkeiten, wie
dieſe an uns. Die Kräfte unſerer Völker
ſind die Krankheiten unſeres Staates.
Seine gefährlichſte und intereſſanteſte: daß
Patriotismus und Nationalismus hier
keineswegs dasſelbe bedeuten; darin ſind
wir ſo ziemlich einzig. Aber gerade darum
könnte es derzeit etwa unſere Aufgabe ſein,
der Zukunft Europas den politiſchen Men⸗
ſchen vorzubereiten, der, in der Kritik jener
beiden Begriffe erwachſen, ihre ungeheure
Bedeutung ehrfürchtig fühlt, ihre jetzige bru⸗
tale Enge aber nicht mehr erträgt. Allent⸗
halben erſcheint jetzt unter den beſten Män⸗
nern unſerer Völkerſchaften auch dieſer
neuartige politiſche Charakter (der nur mit
dem weſenloſen Kosmopolitismus entwur⸗
zelter Literaten ja nicht verwechſelt werden
darf!) Dieſe Menſchen der befreienden
Sachlichkeit mögen allem Formalen
gegenüber ſo ſouverän ſein, daß ſie auch
ein Habitus von überliefertem öſterreichis
ſchen Gepräge nicht weiter ſtört. Ja,
vielleicht war es gar ein ſchützender In⸗
ſtinkt der Selbſtbewahrung, der Burckhard
drängte, fein wertvoll neues Wefen hinter
der chargierten Bonvivant-Maske des
feſchen Hofrates in Sicherheit zu bringen.
1 Und diefe Art von unfreiwilliger Komödie
wäre wohl für unſer altes Oſterreich fehr
gharakteriſtiſch. Aber die Bedeutung des
Mannes ſelbſt und ſeiner Geiſtigkeit zielt
über unſere Grenzen weit ins Weite.
Darum ift es von minderem Gewicht,
ob er auch in jedem einzelnen, das er ge—
w oollt, verſucht, geleiſtet hat, der unbedingte
RN Reifter iwar, den man der lokalpatrioti⸗
ſchen Hypnoſe zuletzt ſchon eingeredet
3 hatte. Ich meine, daß er ein ſehr mittel⸗
12 er Direktor des Burgtheaters ge:
we eſen it und dem künſtleriſchen Leben
dort im ganzen kaum mehr zugebracht
hat, als ſeine vielbeſchimpften Nachfolger.
Wo wäre es denn auch hingekommen?
Oder glaubt man, daß es — in dieſem Hauſe
der Traditionen! — mit ihm ſofort wieder
hätte verſchwinden können? Er hat The—
ater und Komödie im Innerſten ebenſo
gründlich verachtet, wie nach ihm Paul
Schlenther. Gibt es einen ſchwerern, irre:
parablern Fehler für den Leiter eines
Schauſpiels? Das brachte ſie, den einen
nach dem andern, dazu, die notwendige Zer—
ſetzung des alten Burgtheaterſtiles plan—
los zu beſchleunigen; das hinderte fie, die
rechte Handhabe für den Aufbau eines
neuen Stiles zu finden. Und darauf allein
wäre es in jener Zeit des Überganges an—
gekommen. Aber was hatte Max Burck—
hard damit zu ſchaffen? Er war nicht für
die Formen neuer Künſte da, ſondern für
die Tatſachen eines neuen Menſchentumes.
Er verließ ſich auf die Kraft des Weſent—
lichen und lebte nur ſeiner Aufrichtigkeit.
Ei öpfer in ausgreifenden Gedanken,
kein Mitempfinder oder Vorempfinder
los ſchöner Gebilde. Und alſo auch
rechtſchaffener Kritiker. Was er über
auſpiele und Schauſpielerei geſchrie—
be hat, läßt kaum je das Ziel einer äſthe—
> iſchen Sehnſucht, niemals inbrünftige
1
nur vielgelehrten Geiſt und einen kühnen
Willen zur Freiheit und zu geradem Sinn.
Damit brachte er feine ſcharfſichtigen Stu—
dien über den Zuſammenhang dichteriſcher
Motive, damit auch feine hinkenden Ana-
lyſen und exploſiven Irrtümer zuwege.
Selbſt ſeine herzliche Zuſtimmung konnte
den Künſtler arg verfehlen, weil ſie zu ſehr
zum Menſchen hingelenkt war. Beweis:
fein (leider verfchollenes) kleines Buch
über Mitterwurzer. Da verſchwindet hinter
dem ſtarken, gütigen, gläubig⸗-tätigen,
wehrhaften und wahrhaften Mann, den
Burckhards Liebe in frommer Pietät auf:
erſtehen läßt, der unvergleichliche Schau—
ſpieler völlig; an ihm verfagt die Dar:
ſtellung des Buches ganz, weil ſie ihre
lebendige Wärme weit abſeits vom Schau—
ſpieleriſchen ganz verbraucht. Burckhard
war kein Kritiker.
Ein Künſtler etwa? In dem Sinne
wohl, daß er große bildneriſche Kräfte
hatte und darauf aus war, die Bewegung
in ſeiner Bruſt der ganzen Welt weiter—
zugeben. Man muß nur ſeine Kunſt nicht
in ſeiner Sprache ſuchen; denn er hat ja
die Form verachtet und nur die Sache
geliebt. Sein Gebilde war der neue Menſch,
des neuen Menſchen Logik und Rechtfer—
tigung; das geſtaltete er, unbekümmert
und feinem Triebe getreu, in feinen No—
vellen und Romanen, in feinen wieneri⸗
ſchen, geſellſchaftlichen, juriſtiſchen oder
hofrätlichen Theaterſtücken. Aller Witz und
ſcharfe Sinn iſt da am Ende doch nur Diener
eines mächtigen Gefühles, das ſich in Vi—
ſionen verkünden will. Und ſeiner geiſtig—
ſittlichen Leidenſchaft iſt die Gewalt ge—
geben, uns dieſe Viſionen ſehen, ſpüren,
erleben zu laſſen — ſeiner Proſa zum
Trotz, die weder die rhythmiſchen noch die
plaſtiſchen Gaben ſolcher Schöpferwirkung
hatte. Dennoch iſt es durchaus künſtleriſch,
wie er in dieſen Büchern aus lichten und
beweglichen Gedanken die neue Atmo—
ſphäre für ſeine neuen Menſchen ſchafft.
Selbſt in ſeinen Entwürfen und Aktionen
zur Verbeſſerung unſerer Geſetze wird
dieſe Art von Künſtlertum noch offenbar;
737
da äußert fie ſich in der Schönheit des
Zweckmäßigen und in der Beherrſchung
des Materials. (Könnten doch unſere kunſt⸗
freudig feinen Geiſter, — denen die Schön—
heit ſtählerner Maſchinen eben aufdämmert,
— auch erſt die Schönheit von Geſetz—
entwürfen und Parteiprogrammen gründ⸗
lich ſchätzen: dann hätten wir ja die poli- >
tiſchen Intellektuellen, nach denen dieſe
troſtloſe Gegenwart ſeufzt!)
Als das reinſte künſtleriſche Werk Max
Burckhards, und in einer tieferen Bedeu⸗
tung auch als ſein dauerndſtes mag aber
der Auf bau und die Führung ſeines Lebens
gelten. Das war von einem beſonderen
Willen und Geſchmack in Form gebracht S
und nach den Geſetzen ſeiner inneren Not⸗
wendigkeit durchaus frei geſtaltet. Es hatte
perſönlichſten Stil, war impulſiv heftig
und wieder ſtreng verſchloſſen, ganz einſam
und doch der großen Menſchheit zuge:
wandt, der vollſte und zwingendſte Ausdruck
des Gefühles, das dieſer Mann von ſich
ſelber hatte. Im Anſchauen eines ſolchen
Lebens, das ein bewußtes und gewolltes
Werk ſchöpferiſchen Geiſtes war, mag
künftigen Generationen mancher geheime
Sinn der heutigen Entwicklungszeiten
aufgehen. Mir iſt unzweifelhaft, daß dieſes
lebendige Denkmal der Freiheit und der
Sachlichkeit nicht aus der typiſch öſter—
reichiſchen Form, ſondern trotz ihr erſchaffen
worden ift. Und nur zu lehrreicher Gegen:
wirkung mag er ſie — die ihm nichts mehr
anhaben konnte — noch beibehalten haben.
Willi Handl
Die freiſtudentiſche Bewegung
. iſt kein Zweifel, daß in den letzten
zwanzig Jahren an unſeren Hochſchulen
Strömungen lebendig geworden ſind, von
denen wir nicht nur eine Aufruttelung der
deutſchen Studentenſchaft, ſondern dar⸗
über hinaus eine Einwirkung auf die Welt:
anſchauung der akademiſch gebildeten
Klaſſen überhaupt erhoffen dürfen. Die
738
Freien
wichtigſte, weil umfaſſendſte, iſt die freie 7
ſtudentiſche Bewegung. j
War auch der unmittelbare Anlaß zu
ihrer Entſtehung das Erwachen des Wil⸗
lens der nichtinkorporierten Stud aten,
fich gegen Übergriffe der Verbindun. ngen zu
wehren, ſo verbanden ſich mit dieſem
auf Umgeftaltung des akademiſchen e
im Sinne eines hiloſophiſchen S
een Die Freie Studer i
zu a des Volkes befähigt fi fi nd #
weil nen eine freie Hochſchule ſolche Män⸗
ner erziehen kann, fo tritt fie ein für Lehr g
und Lernfreiheit, für gleiches Recht aller
akademiſchen Bürger, will ſie, daß die
Hochſchuſe, jedem Wiſſensdurſtigen in
gleicher Weiſe offen ſtehe. Sie faßt die
civitas academica nicht auf als einen von
Natur aus bevorrechteten Stand, ſondern
als eine Gemeinſchaft, deren Glieder nur
deshalb beſondere Rechte vor andern Staats⸗
bürgern genießen, weil ſie nur dadurch zur
Erfüllung ihrer ſozialen Aufgaben befähigt
werden. Das Perſbnlichkeitsideal und der
Gleichberechtigungsgedanke find die philo⸗
ſophiſchen Grundlagen dieſes Kulturpro⸗
gramms. Zn ſeiner Durchführung wurde
eine ausgezeichnete Organiſation geſchaffen,
deren unmittelbarer Zweck die Darbietung
von Bildungsmöglichkeiten (Vorträge, Dis⸗
kuſſionsabende, Sport, ſoziale Arbeit) u
die Beſſerung der materiellen La
ders der minderbemittelten Stud
(Arbeits-, Vergünſtigungs⸗, W
ämter). 0
Dieſes Programm war und if
lich nicht allen nichtinkorporierten S
ten ſympathiſch. Bald erhob ſich he
Oppoſition, am ſtärkſten von konſervatw⸗
alldeutfcher Seite. Daß Ausländer, Frau⸗
en, Sozialdemokraten und Juden in der
Studentenſchaft gleichberechtigt
waren — eine notwendige Konſequenz der
programmatiſchen Forderungen — war
dieſen Herrn ein Dorn im Auge. Leider
wu den ihre Angriffe begünſtigt durch die
unglückliche Organiſationsform der Freien
Studentenſchaften.
An der Spitze der einzelnen Organi⸗
ationen ſteht nämlich ein Ausſchuß oder
Pr a aan: auf einer allgemeinen
u. 1 50 zur ee 1
I: nten, die zu feiner Rowssestton in
0 ziellen Verhältnis ſtanden. Man
k ei leugnen, daß zwiſchen fem
5 „Vertretungsprinzip“ und der Festlegung
auf ein beſtimmtes Programm ein logi⸗
ſcher Widerſpruch beſteht; denn eine Or⸗
ganiſation, die auf Grund auteritativer
Genehmigung — die Hoch ſchulbehörden
hatten zumeiſt die Freiſtudentenſchaften
Actſächlich als Nichtinkorporiertenvertretun⸗
gen anerkannt — einen beſtimmten Per⸗
ſonenkreis zwangsweiſe vertritt, nach Ana—
logie etwa einer Handelskammer, darf ſich
lediglich nach dem Willen der Mehrheit
N ihrer Mitglieder richten, aber ſich nicht an
die Verfechtung beftimmter Tendenzen
binden. Nun iſt aber freilich das Pro:
gramm eine Lebensbedingung der freiſtu—
dentiſchen Bewegung; denn wenn man
nicht das Verbindungsweſen grundſätzlich
bekämpft, wenn man nicht ſeiner falſchen,
e Romantik neue, lebenskräftige,
erne Ideale entgegenſetzt, dann darf
Ba nicht hoffen, die Freiftudenten
m Kampfe um die Gleichberechtigung
e appellieren, und dies
erſt dann lebenskräftig, wenn der
har den iſt. Es wäre das Me: weit
chtiger geweſen, die Zugehörigkeit im ju—
riſtiſchen Sinne auf die bewußten Nicht⸗
in . en zu bef chränken, auf diejenigen,
Programms aus das Korporationsweſen
und überhaupt jede kulturfeindliche Bewe—
gung unter den Studenten bekämpfen.
Allein man glaubte, der Bewegung dadurch
die Stoßkraft zu nehmen, und fürchtete
von dem Verlaſſen des Prinzips der Ge—
meinſchaftsorganiſation eine Entartung der
Freien Studentenſchaft, eine Erlahmung
des Willens für alle Studenten zu arbeiten.
Das war natürlich falſch: Durch eine faſt
nur formelle Anderung der Verfaſſung
- (praktiſch hatte ſich immer nur ein Teil
der Nichtinkorporierten an der Organiſation
beteiligt), kann doch nicht der Geiſt der
Bewegung ertötet werden.
Die nationaliſtiſchen Nichtinkorporier⸗
ten proteſtierten bei den Rektoraten gegen
das Vertretungsprinzip, indem ſie erklärten,
ſich durch die Freie Studentenſchaft mit
ihrem kosmopolitiſch⸗kulturellen Programm
in keiner Weiſe vertreten zu laſſen und ſie
erzielten dabei ſehr große Erfolge, wenig⸗
ſtens in Preußen. Wann wären Königlich
preußiſche Behörden ſchon einmal einer
freiheitlichen Bewegung ſympathiſch gegen⸗
über geſtanden! In der rigoroſeſten Weiſe
ging man vor. An den meiſten Univerſi⸗
täten kam es zu Konflikten, die in manchen
Fällen mit der Auflöſung der freiſtuden⸗
tiſchen Organiſationen endeten.
Unterdeſſen ſah man auch auf freiſtu⸗
dentiſcher Seite mehr und mehr die Un—
haltbarkeit des Vertretungsprinzips ein.
Die Umwandlung von der Ausſchußform
in die Parteiform iſt an manchen Hoch:
ſchulen ſchon vollzogen und fie wird neuer⸗
dings unterſtützt durch die Entſtehung all—
gemeiner Studentenausſchüſſe, die dem
Bedürfnis nach einer Gemeinſchaftsorga—
niſation Rechnung tragen; ob dieſe Um—
wandlung freilich den Frieden mit den Be—
hörden bringen wird, iſt ſehr zweifelhaft.
Denn es iſt im höchſten Grade wahrſchein—
lich, daß der Kampf um die Organiſations—
form nur der Vorwand war, den man be—
nützte, um eine unbequeme Richtung zu
unterdrücken. Um ſo notwendiger iſt es,
daß die öffentliche Meinung des fortſchritt⸗
739
lichen Deutfchlands gefchloffen hinter den
freiftudentifchen Organiſationen ſteht und
alle Angriffe auf ſie erkennt als Verſuche,
den freien Geiſt von unſeren Hochſchulen
zu vertreiben, zugunſten des korporativ
organiſierten Standes dünkels und der natio⸗
naliſtiſchen Reaktion, die unter dem Deck⸗
mantel völkiſcher Geſinnung der Lehr- und
Lernfreiheit den Garaus machen möchte.
Karl Landauer
Victor Hadwigers Vermächtnis
Ki Werk auf anderer Baſis als die
meiſten der Romane, die uns von der
kaum noch halbverzehrten Mahlzeit des
Lebens wie in einer Tiſchpauſe erzählen,
hat der im Oktober als Zweiunddreißig—
jähriger verftorbene Victor Hadwiger
hinterlaſſen: den Roman von „Abra ham
Abt“, dem Narren des Gefühls, deſſen
Herz voll iſt ſeiner Jugendtage und dem
alle Traurigkeit zum Gedicht geworden.“
Es ſcheint ja ſo leicht hinterher zu reimen
und zu verknüpfen: aber in dieſem Roman
iſt wirklich ein vielfach abgeblendetes Licht,
ein Schein als wie auf Asphodeloswieſen,
und dem halbſelig, halbſchmerzlich, unter:
drückten Jubel, als ſei man hinübergelangt,
antwortet zuletzt kein deutlicher Gruß mehr
der Niederung. Abraham Abt hat zu
lange nach den Sternen aufgeſchaut, aber
das macht die Füße fo ſchwer und ver:
ſtrickt ſie ſo leicht auf ſtruppigem Hügel.
Eine trunkene, trunkene Jugend iſt ganz
und gar in Rauch und Flamme aufge⸗
gangen; aber nicht ein doppelt gefeſteter
Mut erſcheint als männlicher Erbe, kein
Greiſentum in ſeiner wahren Koprophagie
der Weisheit als Horizont und Perſpektive:
ſondern himmliſch wird faſt auf den Tod
bereitet.. „Ich glaube durch den Tod
werden wir mündig und dann iſt es aus
mit dem Notieren — —.“
5 * Gefchienen im Verlag A. R. Meyer,
Berlin⸗Wilmersdorf.
740
In Victor Hadwiger hat die neuroman⸗
tiſche Bewegung (oder beſſer: Beharrung)
ihre typiſchſte Erſcheinung gehabt, in
dieſem Romane vielleicht einen ihrer Gip-
fel erklommen (oder beſſer: emaniert.)
Was dem Leben an häßlichen che,
an unbeſchwichtigter Trivialität noch ge⸗
nommen werden konnte, hier iſt es ge⸗
ſchehn. Wieder wandelt ein Zarathuſtra,
wieder ſeine geliebteſten Jünger durch die *
Seiten eines Buches; aber ‚jener erite
war noch prophetifch, fo zukünft
hier ſind abermals retroſpektiv, a
hat das Leben ſelbſt unter neueſten!
nichts Irdiſch⸗Haltbareres hervor
als einen Haufen Geſänge, 2 | A
Bettler: und Dichtergewand überdauert
das heldiſche und im übrigen iſt wohl nur
Nirwana noch weiſer und ſtärker als Alles.
O wie raſch iſt doch dem Übermenſchen,
ſoweit wir bisher ſchauen, gerade der müde,
der müdeſte der Menſchen gefolgt! Abra⸗
ham Abt berührt nur Träume, vor Er⸗
lebniſſen fürchtet er ſich; der Marquis,
ſein Lehrer, hat ſich mit den erſtorbenen
Formen früherer Schickſale umgeben, und
nur während er ſich mit deren künſtlicher
Galvaniſierung unterhält, fühlt er er⸗
ſchrocken und höhniſch zugleich, daß er
ſelbſt noch lebt. Iſt das Zarathuſtras
Widerlegung? Der kennt die Polarität
des Weltweſens ſchlecht! Wie dort das
Leben auf ſteilſten Höhen, ſo iſt hier das
Rätſel der ſchweigſamſten Tiefen ange:
faßt und gedeutet, aber Oben und Unten
rinnen zuſammen. Zwar iſt in dieſem
Roman von „Abraham Abt“ keine eigent⸗
liche Zukunft, kein Darüberhinaus gewieſen, 55
aber je inniger man den Standort des
Todes ſelber wählt, deſto ſtärker lichtet
ſich ſtygiſches Dunkel, fühlt man d
phodeloswieſen faſt erhellt. Ja, dies B
iſt mit Sinnen geſchrieben, die durch
verwirrende Buntheit der Erſcheinungen
unmittelbar hindurchgedrungen find. M
Victor Hadwiger hat während feines
kurzen Lebens fo ftarfe Wirkungen nicht
auszuüben vermocht, zu viele der äußerlich
Lebendigeren ftanden da entgegen. Die
Menſchen lieben es meift, auch in den
Werken der Dichter nur die Reſte der
eigenen Mahlzeit wieder und wieder auf—
getiſcht zu bekommen, alles Fremde ver—
ur ſacht ihnen Abſcheu; und dieſer hatte
die Erfahrungen ſorgfältig abgetönt und
vergeſſen, bis ſie in rein desilluſioniſtiſcher
Sphäre kaum ein Echo noch widerhallten.
Mit den Zeitgenoſſen verband den Ver—
ſtorbenen ſchließlich nur heftiger Groll,
dem er hie und da in ziſeliert romantiſcher
Satire Luft machte, dem die Angegriffenen
das Ewigkeitspathos natürlich nicht zu⸗
gaben; aber dies Pathos rechtfertigt zur
Genüge ſchon dieſer Roman, und mehrere
andere Nachlaßwerke, die die Freunde
herauszugeben gedenken, werden es nach
ihrem Zeugnis verſtärken. —
0 Anselm Ruest
Tubutſch
J ubutſch““*, das Erſtlingswerk eines
2 neuen Autors: Albert Ehrenſtein.
Nicht etwa der ſympathiſche Anfang
irgendeiner jungen Begabung, kein frühes
Buch. Sondern ein altes Buch, eine
Sonderlingsphyſiognomie, ein Produkt
aus mehr Erfahrung, als man einem
Kinde Gottes wünſchen ſollte. Nur Sa—
tans Lieblinge kommen damit zurecht.
Ich ſpiele natürlich nicht auf das ſchreiben—
de Individuum an, Herrn Doktor Ehren—
| ftein. Ich meine den imaginären Men—
ſchen hinter dem Buch. Es gibt Leute,
die viele Generationen alt zur Welt kom⸗
{ men, Kinder, denen die Erfahrenheit von
) Sue i iſt. Dieſes Buch hat
13 et, bevor es geſchrieben wurde. Ich
pu klang den Paſſionsweg des Juden—⸗
tums mitgemacht hat. Als Titel könnte
5 arüber ſtehen: Ahasver. Welch eine grau—
Mit Zeichnungen von Oskar Kokoſch—
ka. Jahoda und Siegel, Wien, Leipzig.
ſame Schärfe, welch eine bösartige Präg—
nanz — modernſter Form — hat hier der
alte Ruheloſe zu äußern! Er iſt ja in
unſerer Zeit vielfach ſehr umgänglich ge—
worden, beweglicher Journalift, anſchmieg⸗
ſamer Äfthet, gefälliger Agitator für allerlei.
Aber das Buch Ehrenſteins iſt kein Aſſimi—
lant, es trotzt und verzweifelt und überhebt
fich mit altteftamentarifcher Ungemütlich—
keit. Sein Räſonnement hat unerbittliche
Krallen. Seine Worte ätzen ſich ein. Ahas—
veriſche Lyrik, dieſes „Wanderers Lied“:
„ . . Ich kenne die Zähne der Hunde, in
der Wind-ins-Geſicht-Gaſſe wohne ich,
ein Sieb-Dach iſt über meinem Haupte,
Schimmel freut ſich an den Wänden,
gute Ritzen find für den Regen da. — ‚Zöte
dich! ſpricht mein Meſſer zu mir ...“
Das iſt feine Salon⸗Sentimentalität & la
Heine. Sondern ein wilder Ton aus der
Hölle des Ghettos. — „Ritter Johann
des Todes“, der Held einer Ballade glei—
chen Namens, wird geradezu ein Urenkel
Ahasvers genannt. Welch eine gottes—
läſterlich gelächterhafte Bewältigung des
Motivs iſt dieſe Karikatur einer Ballade,
hinter deren beinahe widerlichem, alle Bal—
ladenromantik draſtiſch und phantaſtiſch
verulkendem Hohn ein Ernſt droht, deſſen
Troſtloſigkeit einen kalt machen könnte.
Ritter Johann des Todes, dem die großen
Abenteuer jammernd nachlaufen, während
er, aller Wunder Himmels und der Erde
herzlichſt ſatt, in einer wahren Inbrunſt
der Langeweile dem Tode nachläuft. —
Ein fratzenhafter Grenzfall der Form.
Aber das eigentliche Wunder dieſes
Buches iſt für mich das Mittelſtück,
„Tubutſch“, fünfzig Seiten wahrhaft merk—
würdiger deutſcher Proſa. Keine eigent—
liche Geſchichte, keine Novelle mit Fabel
und regelrechtem Aufbau. Ein wüſt
wucherndes Geſtrüpp von Reflexionen,
Ausbrüchen, Geſtaltungen und talmudiſch
raffinierter Dialektik, dazwiſchen eine Fülle
brennend lebendiger Details. Man könnte
Seiten weglaſſen, ohne eine Einheit zu
zerſtören, mancher Satz müßte um des
——
741
lieben Geſchmackes willen fortbleiben —
aber es wäre ſchade um jedes Wort. —
Karl Tubutſch, ein Menſch, „der in der
Luft ſteht“. Ein armer Teufel, von einem
Dämon beſeſſen, den er Langeweile, innere
Ode nennen könnte. Eine Perſönlichkeit
mit einem Leck, ein Desorientierter, auf dem
Weltmeer der Vorſtellungen, Aſſoziationen,
Perſpektiven treibend. Die Welt iſt Kalei⸗
doſkop geworden, die Dinge ſtehen Kopf,
die Begriffe treiben Allotria. Ahasver
als moderner Menſch, krank nach Un⸗
mittelbarkeit. Aber ein beneidens werter
Reichtum an imaginären Beziehungen
umwuchert den luftleeren Raum, das fref-
ſende Nichts in der Seele. So nährt ſich
das verhungernde Genie in Knut Hamſuns
„Hunger“ mit Phantaſie. Tubutſch iſt
unter anderem zu geſcheit, um elementar,
zu ſchmerzhaft wach, um verflochten fein
zu können. Sein gefährlich ſcharfer Blick
ſpielt grimmig mit dem Illuſoriſchen
aller Geſichte. Es iſt rührend, mit einer
wie komplizierten Methode er des Ein⸗
fachen, der Bejahung, der unwillkürlichen
Exiſtenz habhaft zu werden verſucht. Tu⸗
butſch geht ſpazieren und bettelt, mit großer
Demut, um ein Dazugehören zu den ganz
kleinen Dingen der Trivialität.
witzig wie ein Jude und demütig wie ein
Ruſſe. Er iſt ſelbſtüberhebend wie ein
Genie und, im Grunde, ein zu Zartherziger,
ein Empfindler, ein verprügeltes Kind, ein
fünfmal armer Teufel. — Ein Gezeich⸗
neter. Wahnſinn und Selbſtmord locken
am Ende. Das iſt der reiche Inhalt
dieſes kleinen Werkes: die Gedanken:
flucht, die ſkurrilen Aſſoziationen, die ſpira⸗
lige Logik, die Beobachtungen und Der:
ſpektiven, die Regungen des Herrn
Tubutſch. Sein geheimer Lyrismms, fein
nackter Jammer, ſein Geiſt, ſein Humor.
Seine Superklugheit und Dichtereinfalt.
Das Tagebuch eines Sonderlings, voll
ergreifender Spaßigkeit, geſchrieben in
einem Stil, bald roh wieneriſch, bald
Jargon, und doch iſts Kunſt der deutſchen
Sprache. Ein vielfach perſpektiviſcher
742
Er iſt
‚an
Stil, der in feinen verzwickten Perioden
das Leben in ganz merkwürdigen Ver⸗
kürzungen ſpiegelt. Eine Scheerbartſche
Kosmologie wirkt hier neuartig. Das
Kaleidoſkop miſcht Weltall, minimales
Alltagsdetail, Über- und Untermenſchliches
in fieberhafter Folge. Aber wie die Gal⸗
ligkeiten, Witzchen, Verzweiflungsſymp⸗
tome, verblüffend nah und ſchwindeln?d
fern geſehenen ee ſich ver-
mengen, wird alles Humor. Erſt dieſer
ganz entzückende Humor beweg mir das .
Dichteriſche der Ehrenſtein⸗N ae Sein
Humor iſt neu, kraß und zart, A phanta⸗ |
ſtiſch noch im Erfaſſen des Med ten,
überlegen, köſtlich. Dieſer Humor läßt
die pez None Geiſtigkeit eines Intellet-
tuellen unmittelbar werden. Um dieſes
Sieges willen mußte ſo liebevoll bei einem
ſchmalen Buche verweilt werden, das
manchen erſchrecken, manchen abſtoßen,
manchen verwirren, aber wahlver⸗
wandte Gemüter rühren und entzücken
muß.
—
Berthold Viertel
Apokalypfe
Dem Fremden, der heute London durch
wandert, kann die Apokalypſe zu einem
beſſeren Führer werden als der Bädeker, denn
es gibt Augenblicke, in denen die Viſionen des
Heiligen von Patmos hier zu einer andern
Wirklichkeit werden. Und wer vermochte ra⸗
ſcher durch die Stadt der Städte von heute zu
geleiten als der, der einſt empfunden hat,
wie das Reich des Cäſar und Auguf us
zur Unendlichkeit hinabſank, und der fü 0
wie bie Vorhänge der Vergangenheit
der Welt des Plato und Epik
ſammenſchlugen. Nur der Apoka
ſelbſt verſteht den Sinn der großen Men
zu künden, der Menge aller Länd
Stämme, Völker und Zungen, die den
von Charing Croß her eintretende Freind⸗ Bi!
ling in Trafalgar Square, am Kreuzweg
der Weltſtadt, wie ein brauſendes Meer
vor ſich ſieht. Ein Dee, das in Schweigen
verſinkt, wenn aus der Mitte feiner weiten
Fläche, von dem Dunkel der Baſaltblöcke
des Nelſondenkmals herab ſich Stimmen
erheben, die vor dem Angeſi icht der brü⸗
tenden Menge neue Möglichkeiten ſozialen
Daſeins aufſteigen laſſen. Allein die
Venus Anadyomene einer neuen und
beſſeren Kultur zerfließt bald wieder in
dem gleichen Dunſt und Nebel, der auch
. die Sonne Homers hier in düſterer roter
Glut verbirgt. Die Menge zerftreul ſich
5 und in den wachſenden Schalten? er Däm⸗
merung werden die rieſigen! EG wen des
Denkmols ſelber zu viſionären Jeſchöpfen,
die mit ſtieren Blicken nach Zeiten und
1 Oſten ſchauen, wo die Paläſte von Macht
und Reichtum, wo die Stätten von Liſt
und Elend liegen. Aber im Nebel der
Nacht ſcheinen Beziehungen, die an Tage
Gegenſätze bedeuten mögen, zu Hermonien
zu verfließen. Wohl mochten ſich am Tage
zwiſchen die lichtfarbenen Refticherinnen
der Läden des Luxus in Bouöftreet und
Reegentſtreet ſcheue Geſtalten gedrängt
4 haben, deren Züge der Hunger gemeißelt
und die Kälte gehärtet haben und in deren
Gewand ſich alle Elemente zur Farbe des
Schmutzes zuſammenfanden. Die Däm⸗
5 merung aber wirft ihren Mantel über alle
Kontraſte und im Dunkel der Nacht dünkt
alles Verſöhnung zu ſein. Und im Glanz
des künſtlichen Lichts wird die Stätte, da
der Säufer ſeinen Lüſten fröhnt, zumkriſtall⸗
nen Palaſt nicht minder wie die ſchimmern⸗
den Räume, in denen jumelenbeladene
Frauen in zwei Biſſen verzehren, was
71 Tauſende vertrinken.
—
after und wie eine Apalhefe korin⸗
r Säulen ſtrebt es ringsum zu dem
loſen Hummel empor, an dem 95
n hen. Die Nacht verdeckt mit 150
händen die ſchmalen Eingänge, die zwi⸗
ſchef der Pracht der Säulen hindurch ſich
9 Wirrſal der ſich übereinander⸗
kümmert ſich draußen um dieſe Grotten
des Elends, die ſich hinter Säulenhallen
und Kuppeltürmen verbergen? Kaum einer
weiß von dieſen Schlupfwinkeln, wo der
Arme wie ein giftiges Reptil in Höhlen
hauſt, deren Boden Schlamm, deren
Wände Moder und deren Luft Fäulnis
heißt. Draußen am Kreuzweg der Welt⸗
ſtadt tanzen Abertauſende von Vehikeln
mit Wünſchen und Hoffnungen beladen
unermüdlich ihre ſeltſamen Quadrille und
gleiten lächelnd an den Verſtecken von Not
und Verzweiflung vorbei.
Ganz ferne vielleicht am äußerſten
Winkel dieſes rieſigen Pentagrammes ſich
kreuzender Wege und Straßen ſchmückt
Bernhard Shaw vor anders Geſtimmten
die kahlen Wände irgendeiner Baptiſten⸗
kirche mit den lachenden Bildern ſeiner
ſieghaften Rhetorik. Seine Anklagen gegen
die Bewohner von Park Lane, Belgrave
Square und Pall Mall beginnen wie ju⸗
belnder Spott, wenn er mit ausgebreiteten
Armen ſeine Hörerſchaft auffordert, nach
Monte Carlo zu fahren, um dort zuzu⸗
ſehen, wie der Ertrag ihrer Arbeit dort
am Spieltiſch vergeudet werde. Und unter
all den ſchäbigen Hüten und geknickten
Federn malt ſich das Entzücken eines
großen Triumphs. Ja, mancher vielleicht
fühlt ſich ſchon durch den wollüſtigen Ge⸗
nuß der vagen Möglichkeit, Zeuge des an
der eigenen Armut begangenen Frevels
ſein zu dürfen, reichlich entſchädigt für all
die Summen, die er auf den Altar der
großen Grundbeſitzer werfen mußte. Aber
Shaws Spott wird ſchärfer und ſchnei⸗
dender, er gleicht dem Apokalyptiker
ſelber, der das Paraſitentum derer anklagt,
die in Purpur und Scharlach mit Gold
und Steinen bedeckt im Nichtstun leben.
Jedes Wort reißt die Symphonien in
Blau und Silber auseinander, in welche
1 t und Nebel die en der
tum Wel tftadt leidet ſelbſt an 1
den 0 5eroiffensbiff fen. Immer mehr weicht
der Iaduſtrieſtaat dem Rentnerſtaat und
743
dem Kapitalismus entfliehen die Gründe
der Rechtfertigung, ohne daß die Behaup—
tungen ſeiner Schädlichkeit verſtummen.
Die Zahl derer aber, die ſolche Schädlich—
keit behaupten, iſt im Wachſen. Mögen
Optimiſten heute noch darüber hinweg—
ſehen, indem ſie der Zeiten gedenken, da
der Enkel eines heimatloſen Juden aus
Whitechapel auf die ſcharlachroten Bänke
der Lords zu gelangen vermochte, da noch,
wer in Petty Coat Lane geboren war, in
Park Lane ſterben konnte. Gähnend be—
ginnt ſich die Kluft zu vertiefen zwiſchen
denen, die Rente beziehen und denen, die ihr
Leben in Arbeit und Not verbringen müſſen
und das Geſpenſt ſozialer Kämpfe erwacht
in der Tiefe. Vorſchauend ſucht ſich die
Krone zu ſichern und mächtige Portal—
und Terraſſenbauten verbergen nur müh—
ſam ihren Zweck hinter den Künſten der
Architektur. Und mißtrauiſch blickt die
Plutokratie im Weſten der Weltſtadt nach
den Arbeitervierteln im Oſten. Erſt die
geſchloſſene Zunft wälzt ſich unruhig auf
den Kiſſen ihrer Privilegien. Der Argwohn,
der einſt nur Anwalt des Volkes war,
wird nun zum Ratgeber der Lords, die die
gotiſchen Hallen von St. Stephans mit
den Kaſſandrarufen der Antike füllen.
Ihre Frauen haben längſt den Ritus der
Hochkirche durch den Kultus der Iſis er:
gänzt.
Schlimmer als das Salpetroleuſentum
der Suffragetten iſt die Gynäkokratie in
intellektueller und moraliſcher Hinſicht.
Der alte kapitaliſtiſche Rationalismus er⸗
ſtirbt in der Hellſeherei, die Familie endet
in der von weiblicher Seite ſtipulierten
Sterilität und der Unternehmungsgeiſt
aus der Glanzzeit des Induſtrieſtaates
ſiecht als Spielluſt dahin oder degeneriert
zur Goldgier mythiſcher Zeiten. 4
So werden ſchließlich die Weisſagungen
des Apokalyptikers zum verbindenden Text
im Chaos der Erſcheinungen und die Men⸗
ſchenmengen, die ſich fo oft in düſterem
Schweigen um Trafalgar Square ſammeln,
blicken ſinnend in die rote Glut der nieder:
gehenden Sonne über den hohen Prachtbau⸗
ten des Weſtens, als ſähen ſie aus Dunſt und
Nebel eine neue Zukunft, eine andere
Kultur heraufdämmern.
Fr. Glaser
Verantwortlich für die Redaktion: Prof. Dr. Oskar Bie, Berlin.
Verlag von ©. Fiſcher. Berlin. Druck von W. Drugulin in Leipzig.
c
*
Die Allzuvielen
von Sigurd Ibſen
as Jahr 1910 war in den Ländern rings ein Volkszählungsjahr,
und im Jahre 19 11 find die ſtatiſtiſchen Reſultate gruppiert und
veröffentlicht worden. Unter den mannigfachen Umſtänden, über die
die Zahlenreihen Licht werfen, iſt einer, auf den ſowohl die Sozialwiſſen—
ſchaft wie die Tagespreſſe ganz beſonders ihr Augenmerk gerichtet hat, und
das iſt die abnehmende Geburtenzahl in faſt allen ziviliſierten Staaten.
Was Frankreich anbetrifft, war ja dieſe Erſcheinung ſchon lange wohl—
bekannt; während im Jahre 1820 von jedem Tauſend Einwohner 31 Kin—
der geboren wurden, war die Zahl um 18 50 auf 27 und um 1900 auf 21
geſunken. Aber daß die Tendenz, die ſich hier offenbart, nicht ausſchließlich
franzöſiſch iſt, das erwies ſich bereits in den letzten Jahrzehnten des neun⸗
zehnten Jahrhunderts und iſt ſeit dem Beginn des zwanzigſten noch deut—
licher hervorgetreten. Hier in Europa gehören die ſehr hohen Geburten—
zahlen (etwa 40 pro Mille und darüber) jetzt nur nach der Balkanhalbinſel
und nach Rußland, voran ſteht das Zarenreich mit 48, einer Zahl, die ſich
in ſiebzig Jahren ziemlich unverändert gehalten hat. Im übrigen weiſt die
Nactalität durchweg einen Rückgang auf. Weniger fühlbar iſt dieſer in
Spanien, Portugal, Italien, Oſterreich-Ungarn, Deutſchland und den
Niederlanden, wo das Niveau, obwohl es ſinkt, noch immer 30 pro Mille
überſteigt, während Belgien, die Schweiz und Dänemark dieſe Linie nicht
mehr erreichen. Schweden behauptete fie im Jahre 18 80, England im
Jahre 1890, Norwegen im Jahre 1900, aber im Jahre 19 10 war die
Geburtenzahl in Schweden und England auf weniger als 25 und in Nor—
wegen auf nicht ganz 27 geſunken.
Es könnte naheliegen, die Abnahme der Geburten mit einem vermuteten
Sinken der Anzahl von Ehen in Verbindung zu bringen. Doch die Statiſtik
beweiſt, daß die Heiratsluſt ungeſchwacht iſt. Die Durchſchnitts zahl der
Ehen iſt allerdings in den verſchiedenen Ländern ungleich, aber in jedem
einzelnen Lande iſt fie ziemlich Eonftant, ſie dreht ſich gewöhnlich um die—
ſelbe Durchſchnittszahl, mit ſo geringen Abweichungen, daß ſie in Dezimalen
48 U 745
ausgedrückt werden müſſen. In Norwegen zum Beiſpiel war ſie feinen
Veränderungen unterworfen, die der beſtändig abnehmenden Geburtenzahl
entſprechen. In dieſem Zuſammenhang verdient auch bemerkt zu werden,
daß Frankreich, das die relativ wenigſten Geburten aufweiſt, keineswegs dern
Staat iſt, der die niedrigſte Ehenziffer hat; in dieſer Beziehung übertrifft
es im Gegenteil eine ganze Reihe von Ländern, darunter das verhältnis⸗
mäßig noch kinderreiche Italien. Die verminderte Natalität iſt alſo nur auf
eine Weiſe zu erklären, nämlich als eine Folge freiwilliger Beſchränkung der
Kinderſchar durch die Eheleute. Dieſer Neumalthuſianismus, wie das
wiſſenſchaftliche Kunſtwort lautet, wird nicht nur in Frankreich geübt, das
als die eigentliche Heimſtätte des ſogenannten Zweikinderſyſtems zu be-
trachten man ja gewöhnt iſt. Er wird auch in Nordamerika und Auſtralien,
in Belgien, der Schweiz, Deutſchland und England geübt und ſicherlich
auch in den ſkandinaviſchen Ländern. In keinem ziviliſierten Staat iſt er
völlig unwirkſam, doch macht er ſich je nach dem Milieu und den öfo-
nomiſchen Bedingungen allerdings in größerem oder geringerem Umfang
geltend.
Was vor allem in die Augen fällt, iſt der Unterſchied zwiſchen Stadt
und Land. Die Landbevölkerung pflegt ſich etwas ſpäter zu verheiraten,
aber ihre Ehen find kinderreicher: das iſt das allgemeine Verhältnis in
Europa, und wie aus dem letzten Zenſus hervorgeht, iſt es in den Ver⸗
einigten Staaten auch nicht anders. Die Bevölkerungszunahme der Städte,
beſonders der Großſtädte, iſt namentlich der Einwanderung zu verdanken
und nicht dem natürlichen Zuwachs; Diefer iſt vielmehr dauernd im Rück⸗
gang. So konnte Berlin vor einigen dreißig Jahren noch auf je tauſend
Ehefrauen zweiundeinhalbes Hundert Geburten jährlich rechnen, während
es nun auf nicht viel mehr als hundert zählen kann. Die letzte Zählung
klärt uns darüber auf, daß ein Drittel von den Familien der Reichshaupt⸗
ſtadt nur ein einziges Kind hat, und daß ein zweites Drittel ſich mit zweien
begnügt. Typiſch iſt eine Statiſtik, die bezüglich Bergens vorliegt, indem
ſie in faſt jedem Jahr des vergangenen Dezenniums eine gleichmäßige Ver⸗
ringerung der Geburtenzahl aufweiſt, fo daß dieſe, die im Jahre 1901
2257 betrug, um 191 trotz einer Bevölkerungszunahme von etwa 5200
Individuen auf 18 18 zurückgegangen war. Da bekanntlich die Bevölkerungs⸗
verteilung zwiſchen Land und Stadt gegenwärtig in der Richtung vor ſich
geht, daß die Städte auf Koften der Landbewohner wachſen, iſt es nach
dem vorhergehenden Nachweis klar, daß dieſer Prozeß für die Staaten
überhaupt zu einer weiteren Verringerung der Geburtenzahl beitragen wird.
Fragt man ſich nun nach ber Haupturſache zu dieſem niedrigeren Ge-
burten⸗Prozentſatz der Städte, fo kann dieſe nur in dem Umſtand geſucht
werden, daß die Städte in höherem Grade als die Landgebiete von der
746
modernen Zivilifation mit ihren wachſenden Anſprüchen an die Lebens—
bedingungen durchdrungen ſind. Jeder Soziologe weiß, daß in den ſozialen
Gruppen ein Zuſammenhang beſteht zwiſchen der ökonomiſchen Stellung
und der Zahl der Nachkommenſchaft, aber nicht in der Weiſe, wie der
Logiker vorauszuſetzen geneigt fein ſollte, wohingegen die Sache fich pſycho—
logiſch ſehr leicht erklären läßt. Es iſt hier die Tatſache gemeint, daß im
allgemeinen die Fruchtbarkeit da größer iſt, wo das Einkommen knapper iſt,
und daß ſie umgekehrt geringer wird, je nachdem ſich die Lebenshaltung
hebt. In den wohlhabenden Gegenden von Paris iſt die Kinderzahl nur halb
fo groß wie in den armen Stadtteilen. In den Vereinigten Staaten läßt
ſich konſtatieren, daß die neueingewanderten Frauen durchſchnittlich faſt
doppelt ſo viel Kinder zur Welt bringen, wie die angeſeſſenen, und daß
ferner der Kinderreichtum der Emigranten in der nächſten beſſerſituierten
Generation bereits abnimmt.
Es iſt nicht zu bezweifeln, daß mit den günſtigeren Lebensbedingungen
der Neumalthuſianismus auch bei den breiteren Schichten der Bevölkerung
Eingang findet. Sidney und Beatrice Webb haben nachgewieſen, daß in
den letzten Jahrzehnten in Englands beſſergeſtellten Arbeiterkreiſen eine offen—
bare Einſchränkung der Kinderzahl ſtattgefunden hat. Als ein ſprechendes
Beiſpiel hierfür führen ſie eine Erſcheinung aus einem der größten Selbſt—
hilfsvereine des Landes, „The Hearts of Oak Benefit Society“ an. Dieſer
Verein, der 272 O00 Mitglieder hat und ausſchließlich fachkundige
Arbeiter mit hohem Lohn umfaßt, zählt zu ſeinen Zwecken auch den,
ſeinen Familien im Falle eines Wochenbettes Unterſtützung zu gewähren.
Seit 1866 — 1870 iſt nun die Zahl ſolcher Unterſtützungen im Verhältnis
zur Mitgliederzahl bedeutend zurückgegangen, nämlich von 22,58 Prozent
in den genannten fünf Jahren auf 12,04 Prozent in der Periode von
1901 — 1904. Aber in demſelben Zeitraum iſt die Geburtenzahl in ganz
England und Wales nur von 35,3 auf 28,4 pro Mille geſunken. Was
Deutſchland anbetrifft, ſo hat man dort einen Vergleich angeſtellt zwiſchen
der Anzahl von Geburten und der Zahl von Sparkaſſenbüchern auf tauſend
Einwohner. Der Vergleich erzählt uns, daß bis auf wenige Ausnahmen
die Spartätigkeit am größten iſt in den Diſtrikten, in denen die Geburten—
zahl am niedrigſten iſt. Danach wird es verſtändlich ſein, daß Frankreich,
wo Wohlſtand wie auch Sparſinn allgemeiner verbreitet ſind als irgendwo
ſonſt, gleichzeitig das Land iſt, das ſich vor allen andern durch die geringe
Fruchtbarkeit der Ehen auszeichnet.
Der immer mehr hervortretende Faktor der freiwilligen Kinderbeſchränkung
hat Politiker und andere ſozial Intereſſterce vor die Frage geſtellt, wie weit
ein Kulturphänomen, das von individuellem Geſichtspunkt aus in einer
lobenswerten Vorausſicht wurzelt, in ſozialer Beziehung als eine ſchädliche
747
Erſcheinung betrachtet werden muß. Es fehlt nicht an warnenden Stimmen.
Präſident Rooſevelt hat ein Verdammungsurteil über den Volks ſelbſtmord
gefällt, wie er es nennt, und vor einiger Zeit hielt Profeſſor Fahlbeck in der
raſſehygieniſchen Verſammlung in Dresden einen Vortrag, in dern er mit
Hinweis auf den Untergang des römiſchen Reiches behauptete, daß der Neu⸗
malthuſianismus bekämpft werden müſſe, wenn die Europäer r nicht der
gelben Gefahr zum Opfer fallen follen. In Frankreich iſt das Sinken der
Geburtenzahl ſtehender Gegenſtand einer ehr durch die ſich der
Gedanke an Deutfchland wie ein roter Faden zieht. Deutſchland, heißt es,
erzieht ein heranwachſendes Geſchlecht, aus dem 0 er Jahrgang dem Heere
zwei neue Diviſionen wird zuführen können, während Frankreich Mühe
haben wird, fein Rekrutenkontingent nur auf der jez igen Höhe zu erhalten.
Das Zweikinderſyſtem wird ja auch im Namen der Nora verurteilt: man
ſpricht von Überziviliſation, von Egoismus, von Mangel an Gemeinſinn.
Aber dem Anathema liegt doch immer die Rückſich⸗ aa bas Machtverhält-
nis zugrunde: das Vaterland muß feine Bevölkerung vermehren, um nicht
von den Nebenbuhlern politiſch überflügelt zu werden Allerdings, zu
Kriegs vorbereitungen iſt Mannſchaft erforderlich, und n ganzen genommen
hängt es zum großen Teil von der Volkszahl ab, mit welcher Kraft und
Autorität ein Staat ſich in der Gemeinſchaſt der Nationen geltend zu
machen vermag. Wie die Verhältniſſe ſich bis jetzt geſtalten, hat dieſes
Moment unbeſtreitbar feine Bedeutung, und die Länder, in denen das
Volks wachstum merklich nachläßt, müſſen ſich alſo nit der Ausſicht tröſten,
daß infolge der Umſtände die andern das elbe Schickſal erfahren werden.
Tatſächlich iſt ja dieſe Art Abrüſtung bereits im Gange. Faſt über die
ganze Linie verringert fich die Zahlenſtärke der Bataillone Neugeborener.
Läßt man die militäriſche Seite der Sache und die der äußeren Politik
außer acht, fo vereinfacht ſich die Frage zu ber rein kulturellen, ob eine
ſchnellere Volksvermehrung überhaupt, un Antereſſe des Fortſchritts an ſich
wünſchenswert iſt. Da die Ziviliſation mannigfache Zwecke und eine ver⸗
wickelte Arbeitsteilung in ſich ſchlietzt, iſt es im voraus klar, daß ein Land,
das ſich an der Löſung der Gegenwartsauſgaben beteiligen will, über ein ziem⸗
lich differenziertes Menſchenmaterial verfugen muß. Inſofern ſpricht die
Präſumtion zugunſten der größeren Effektivität der volksreicheren Staaten.
Aber deshalb iſt es noch nicht geſagt, daß die Tüchtigkeit der Geſellſchaft
unbedingt mit der Volksmenge wachſen wird, wie ſie ja auch nicht immer
dieſer proportional iſt. Es kommt offenbar nicht auf die hohe Zahl allein
an. Der Rieſenſtaat Rußland iſt weit davon entfernt, für die allgemeine
Kultur etwas auszurichten, das den Leiſtungen des nur den vierten Teil fo
ſtark bevölkerten Frankreich entſpräche Jeder der Kleinſtaaten Holland und
Belgien ſpielt im internationalen Handelsverkehr eine ungleich wichtigere
748
0
2
er
Br
* —
Rolle als Großmächte wie Italien und Öfterreich-Ungarn. Die drei ffan-
dinaviſchen Länder in eine geiſtige Einheit zuſammengefaßt, wie ſich's ge—
bührt, nehmen aut ihren zehnundemhalb Millionen Einwohnern in der lite—
rariſchen und wiſſenſchaftlichen Welt einen höheren Rang ein, als Spanien
mit feinen zwanzig Millionen. Qualitätsmenſchen hervorzubringen gilt es
vor allem; die Ouantität ſteht in zweiter Reihe. Vor einigen Jahren kamen
bei dem Erdbeben in Meſſina und Calabrien mehr als hunderttauſend Men-
ſchen um. Welches Berluſtgefühl hat wohl dieſe Kataſtrophe hinterlaſſen,
welchen Abbruch hat fie unſerer Ziviliſation getan? Nicht den allergeringſten.
Eines großen Mannes Forcgang iſt ein weit fühlbarerer Verluſt, als das
Verſchwinden dieſer ganzen anonymen Maffe.
Durchgehends gibt es eher zu viele Menſchen als zu wenige. Es ſind
nicht nur gewiſſe Gehiete in 8 Spina und Indien, die an Übervölkerung leiden;
das gleiche iſt wohl in den meiſten europäiſchen Ländern der Fall. Über⸗
völkert nenne ich näralich jedes Land, aus dem eine bedeutende Auswande⸗
rung vor ſich geht oder in dem öfter Arbeitslosigkeit eintritt, ja, ich gehe
weiter und ſage: übervölkert iſt ein Land auch dann, wenn deſſen Subſiſtenz—
mittel nicht ausreichen, um zu verhindern, daß ein Teil der Bevölkerung als
Proletariat lebt. Wer ſich in Großſtädten bewegt und die Maſſen menſch—
lichen Ungeziefers geſehen has, die dort bei Aufläufen und andern Zufammen-
rottungen hervorſchwärmen. der ſollte ein für allemal kuriert fein von dem Aber⸗
glauben der Quentitats politik. Es iſt doch weniger wichtig, daß das Land
fi ich mit Leibern fülſt, als daß die zweibeinigen Weſen, die nun mal exiſtieren,
ein möglichſt menſcher nwürdiges Daſein führen können. Die Allzuvielen ſind
ein Hindernis für den Jortſchritt, und eine minderzählige, aber ausgewähltere
Bevölkerung würde weit vollkommenere Zuſtände verwirklichen können als
unſere jetzige Geſellſchaft, die durch das tote Gewicht der Maſſen be—
ſchwert iſt.
Da die Beſchrankung der Kioderſchar vor allem von den beſſer geſtellten
Klaſſen geübt wird und keine Aussicht vorhanden iſt, dieſe zur Fruchtbarkeit
zu bekehren, könnte die Beſchleunigung des Volkswachstums nur von einem
zunehmenden Geburtenprozentſatz in Den ſozialen Schichten erwartet werden,
die ſowohl materiell wie moraliſch für die Erziehung der Nachkommenſchaft
ſchlechteren Bedingungen unterworfen ſind. Sie wäre mit andern Worten
nur denkbar mit Hilfe eines Prozeſſes, der gleichbedeutend wäre mit einer
Herabſetzung der Durchſchnittstüchtigkeit der Geſellſchaft. Angeſichts einer
ſolchen Konſequenz dürfte wohl kaum eine Veranlaſſung vorliegen, den
Kinderreichtum zu ermutigen. Vielmehr follte die Lebensregel: „Setze nicht
mehr Kinder in die Welt, als du verantworten kannſt“, allen bereits von
den Schultagen an mit der ſuggeſtiven Kraft eingeprägt werden, die das
Geheimnis der Wiederholung iſt.
749
Im Jahre 1878 gaben Charles Bradlaugh und Mrs. Annie Beſant
eine Schrift heraus: „Fruits of Philoſophy“, die auf die Kinderbeſchrän⸗
kung bei den engliſchen Arbeitern, von der ich bereits geſprochen habe, großen
Einfluß geübt haben ſoll. Ich kann in dieſer Regulierung der Geburten
keinen „Volksſelbſtmord“ ſehen; ich deute ſie im Gegenteil als eine erfreu⸗
liche Wirkung der richtigeren Auffaſſung der Eltern von ihren Pflichten
gegen ihre Nachkommenſchaft ſowohl wie gegen ſich ſelbſt. Es iſt zu hoffen,
daß die Arbeiter allmählich Verſtändnis dafür erlangen werden, daß, wenn
ſie ihre ökonomiſche Lebenshaltung, ihr kulturelles Niveau und ihr ſoziales
Anſehen erhöhen wollen, ſie ſich hüten müſſen, das Land mit billigen Men⸗
ſchen zu überſchwemmen. Solche ſind weder für den Arbeiterſtand noch
für die Geſellſchaft überhaupt wünſchenswert, und recht betrachtet dürften
ſie es auch vom Standpunkt des Fabrikanten aus nicht ſein; jedenfalls be⸗
weiſt die Erfahrung, daß in dem induſtriellen Wettkampf die Länder die
Übermacht haben, in denen die Arbeitslöhne am höchften find.
Aber hierzu kommt noch ein anderes Moment. Die techniſchen Erfin⸗
dungen haben zur Folge, daß die eigentliche Körperarbeit immer mehr durch
mechaniſche Motore erſetzt wird. Das Streben der meiſten Großinduſtrien
geht dahin, daß die Anzahl von Pferdekräften in weit ſchnellerer Progreſſion
wächſt, als die Anzahl von Arbeitern. Auch in der Landwirtſchaft werden
in immer weiterem Umfang Maſchinen eingeführt, die den Bedarf an
menſchlicher Arbeitskraft verringern. Alles in allem kann man ſagen, daß
der Aufſchwung des Erwerbslebens, der unſere moderne Zeit kennzeichnet,
keineswegs eine Zunahme von arbeitenden Individuen fordert, die im Ver⸗
hältnis zu der Vermehrung der ökonomiſchen Güter ſteht. Nicht immer
zahlreichere, ſondern beſſer ausgebildete und intelligentere Arbeiter find er-
forderlich.
In der Tradition liegt eine Schwer- und Trägheitskraft, die ſie auch
noch in eine Zeit hinein fortdauern läßt, in der die Bedingungen, die ſie
begründeten, nicht mehr vorhanden ſind. Der Aberglaube der Vielen; die
Auffaſſung, der Kinderreichtum ſei ein Segen für Familie und Staat; das
Gebot der Religion für die Menſchen, fruchtbar zu fein und ſich zu mehren
dieſer ganze Ideenkreis, der in nebelhaften Umriſſen noch immer den Ge 7
mütern vorſchwebt, ſtammt aus einer Periode, in der die Exiſtenz des Se
ſchlechtes in Wirklichkeit von einer fozufagen unbegrenzten Fortpflanzung
abhängig war. Denn nur eine ſolche konnte ein Gegengewicht bilden gegen
die gewaltſamen Breſchen, die Kriege und Seuchen unaufhörlich in den
Perſonalbeſtand der Geſellſchaft ſchlugen. Als die Kultur des Altertums
ſichrere Verhältniſſe herbeigeführt hatte, trat eine Beſchränkung der Kinder-
zahl ein; Polybios klagte darüber im Hinblick auf Griechenland, und in
Rom ſuchte Auguſtus der Sache auf dem Wege der Geſetzgebung abzu—
750
ar
5
5
helfen. Das erwies ſich als vergeblich, und das Schickſal der alten Welt
wird noch heute als abſchreckendes Beiſpiel hingeſtellt für den Untergang,
den die Pflichtverfäumnis gegen die Erhaltung des Geſchlechts zur Folge hat.
Hierbei wird jedoch ein nicht unwichtiger Umſtand überſehen. Es geht
nicht an, die Schlußfolgerung, die für Hellas und das Römerreich gilt,
ohne weiteres auf die reduzierte Geburtenzahl unſerer Tage anzuwenden, aus
dem einfachen Grunde, weil dieſer unſer Sterblichkeitsprozentſatz entgegen—
wirkt, der viel geringer iſt als der des Altertums und zum Unterſchied von
dieſem beſtändig im Abnehmen iſt. Noch im Mittelalter mit feinen ver-
heerenden Epidemien würde eine geringe Fruchtbarkeit zur Entvölkerung ge—
führt haben. So iſt es nicht mehr, ſeit die Entdeckungen der ärztlichen
Wiſſenſchaft und die Fortſchritte der öffentlichen Geſundheitspflege die
Sterblichkeit in einem früher ungeahnten Grade verringert haben. Die jähr⸗
liche Sterbeziffer betrug für ganz Europa in den Jahren von 1801-1820
ungefähr zweiunddreißig auf tauſend Einwohner, war aber in den zehn
Jahren von 1891 — 1900 auf nicht ganz ſechsundzwanzig zurückgegangen,
und ſie ſinkt dauernd und ziemlich ſtark. Im vorigen Jahr betrug fie zum
Beiſpiel in Norwegen nur 13,75, in Schweden 14,03, in England 13,33
pro Mille, und ſolche Zahlen genügen, um zu erklären, daß trotz der ver—
ringerten Kinderſchar noch ein Anwachſen der Bevölkerung erreicht wird.
Es bedarf keiner Maſſenproduktion von Individuen mehr, und daß die
Volksvermehrung allmählich eher auf der Abnahme der Sterblichkeit als
auf der Anzahl der Geburten beruhen wird, braucht beſorgte Seelen nicht
zu ängſtigen. Raſche Generationswechſel verurſachen nämlich Kraftver—
ſchwendung, und die größere Beſtändigkeit, die eine Verlängerung der durch—
ſchnittlichen Lebens dauer in ſich ſchließt, iſt dazu angetan, die Übertragung
der Kultur von dem vorhergehenden Geſchlecht auf das nächſte zu erleichtern
und zu ſichern. Das Ideal wäre nach Herbert Spencer ein Höchſtmaß von
Kultur, verbunden mit möglichſt geringer Perſonenveränderung. Die Stati—
ſtik beweiſt, daß die ziviliſierten Staaten, wenn auch von dieſem Zuſtand
noch weit entfernt, ſich doch jedenfalls in dieſer Richtung bewegen. Aus
den graphiſchen Darſtellungen iſt erſichtlich, daß die Linien, die den National—
keeichtum und die Lebensdauer bezeichnen, aufwärts weiſen, während die
Stcerblichkeits⸗ und Geburtenlinien ſinken. Und es iſt vielleicht nur eine
Zieitfrage, wann dieſe beiden letzteren das gleich niedrige Niveau erreichen,
fo daß der Geburtenüberſchuß völlig aufhört.
701
Der Nackte Mann
Roman von Emil Strauß
(Schluß)
m andern Morgen regnete es nicht. Mächtige graue Wolken zogen
hoch über dem Platze hin; manchmal leuchtet eine, von der verdeckten
Sonne geſtreift, weiß auf, dann wurde es im Marktgewühl heller, und
manch einer blickte in die Höhe und dachte an einen großen Sonnenflecken,
der jetzt irgendwo zauberiſch über die dunkle Waldhöhe glitt.
Der Markt war gut befahren; oftmals hatte Biſſigkummer, einen Kolben
oder Stößel in der Hand, aus dem Hauſe ſtürzen und ſein wohlbekanntes
„Himmelherrgottſakrament“ an die Bauern hinſchreien müſſen, damit fie
mit ihren Wägen nicht jeden Zugang zur Ade 9 verſperrten. 05
Viele ſputeten ſich mit ihren Einkäufen, Andere fanden keine Ruhe und
Luſt dazu, weil die Erwartung der markgräff ichen Botſchaft fie aufregte.
Da tönte vom oberen Brunnen her ein Tiompetenzeichen. Man wußte,
was es zu bedeuten hätte, und drängte ſich hin. Bald waren bei den
Bänken nur noch wenige ganz profitliche Kaufer vorhanden, die fi) des
bequemen Einkaufens freuten oder auf die Ungchtſomkeit der Händler rech⸗
neten. Dieſe ſelbſt hätten gar zu gerne ihre Waren um Stiche gelaſſen,
wenn ſie ſicher geweſen wären, ſie nachher zu finden; mancher gab ſeine 1
Bank dem Nachbar in Obhut, verſprach nur nachzuſehen und gleich zu
Ablöſung wiederzukommen, kam aber nicht wieder. |
Neben dem Markgrafenbrunnen waren über einige Marktböcke Bohlen
gelegt, und auf dieſem niedrigen Gerüſte ſtanden der Hauptmann v. Schorn⸗
ſtetten und der Leutnant Weinſchenk; der Trompeter und einige Kriegs⸗
knechte hinter ihnen auf der Erde. Allerlei kleine Leute, Tagelöhner und
Faulenzer, die ſich bisher wenig nach den Religionshändeln umgefehen
hatten, diesmal vornedran, wußten zu vermuten, was erfolgen würde, und
tauſchten mit dem Trompeter und den Knechten Blicke. 6
Der lange Schornſtetten ſchien ungeduldig zu fein, während der ſtäm⸗
mige Weinſchenk gelaſſen daſtand und mit ſcharfen, klugen Augen die MM
Menge muſterte. Als es leidlich ruhig war, ließ ſich Schornſtetten von dem
Leutnant eine Schrift geben und fing an, die Botſchaft des Maß
vorzuleſen. |
Ausführlich wurde den Bürgern der Widerſtand gegen die fürftlichen E
Befehle und Verordnung vorgehalten, jede einzelne Handlung oder Regung
wurde nach ihrer Sträflichkeit gekennzeichnet, die ganze Stadt als eides⸗
vergeſſen und rebelliſch der härteſten Bußen ſchuldig befunden; dann
ſchloß es:
„Nachdem Wir aber bei Uns erwogen, daß zweifelsohne nicht wenige
77
Bürger unter euch fein werden, die fich zu obiger Konſpiration und brüder—
lichen Verbindung durch Zwang und Drohung der Rädelsführer und ihres
Anhanges, alſo mehr aus Furcht und Einfalt als aus freiem Willen haben
bewegen laſſen, haben Wir Urſach genommen, den ſcharfen und ſtrengen
Weg der peinlichen Halsgerichtsordnung zur Zeit noch nicht zu betreten.
Diejenigen unter der gemeinen Bürgerſchaft wie unter Rat und Gericht,
die wegen ſolcher hochſträflichen Miſſetaten und Verbrechen Gnade und
Verzeihung begehren und fürderhin in allem den Uns ſchuldigen Gehorſam
abſolut und ohne Bedingung zu leiſten und Eid und Pflicht beſſer zu halten
willens find, dieſe ſollen ſich in unſer Schloß hinauf begeben zu unſeren
Abgeordneten Hauptmann v. Schornſtetten und Leutnant Weinſchenk und
ihre Namen aufzeichnen laſſen. Dafür ſind Wir gnädig entſchloſſen, die⸗
ſelben — ausgenommen die Rädelsführer des Aufſtandes, welche billig mit
0 verdienter Strafe angeſehen werden ſollen — wiederum zu Gnade und in
Schutz und Schirm aufzunehmen. Hingegen aber, wenn ſie Unſere
$ angebotene Begnadigung in den Wind ſchlagen und in ihrem rebelliſchen
Ungehorſam wider Uns noch ferner verharren, ſo wird es Uns niemand
verdenken, wenn Wir mit 05 bührenden Strafen, zu welchen Wir vom all⸗
. mächtigen Gott noch gute Mi ietef f haben, mit allem Ernſt und Schärfe nach
5 Würde verfahren. Dein nach wird ſich ein jeder zu richten wiſſen!“
AJ der nun folgenden Stille trat ſofort einer des Ausſchuſſes vor und
bat die Abgeſandten ein wenig zu verziehen, damit beraten und die Antwort
gegeben werden könne. Die zwei Offiziere ſprangen von ihrem Gerüſte
herab und ſetzten ſich. Der Ausſchuß trat unter der Rathaustür zuſammen.
Mährenddeſſen verteilten ſich jene kleinen Leute, Tagelöhner und Gaffer,
die ſich ſonſt mehr beim Krakehl als beim Ernſt hören ließen und die am
Abend vorher vom Trompeter und den Knechten in ihren Schenken bear—
beitet worden waren, und miſchten ſich unter die erregte Menge, ſie erhaſchten
im gelegenen Augenblicke das Wort und betonten mit ſchlauer, wiſſender
Miene, die Botſchaft ſei nicht ſo ohne und der Markgraf ſei gar nicht ſo
letz! Man müſſe ſagen, er habe ein Einſehen, da müſſe man auch ein Ein-
ſehen haben, damit wieder Ruhe werde und die Arbeit nicht notleide. Man
könne nicht leugnen, daß man gegen den Markgrafen geſchworen habe; das
ſei Verſchwörung und auf Verſchwörung ſtehe der Kopf! Nun mache der
| Markgraf, dem der Handel leid ſei, ein Hintertürchen auf, durch das
Alle durchſchlüpfen könnten. Das mit der Ausnahme der Rädelsführer
ſei nicht fo ernſt; es käme ihm nur wegen des Anſehens darauf an, einen
zu kriegen: da könne man ihm ja den Dr. Ebertz laſſen, der überdies kein
Kind der Stadt ſei, ſondern ein Hergelaufener. Viel geſchehen würde ihm
ohnehin nicht; es ſei nur, daß die Sach ein Geſicht kriege und man zu einem
Ende komme.
*
1
Die Leute horchten. Des Handels müde waren alle. Mancher war
bereit, den Nächſten ins Waſſer zu ſtoßen, um ſelbſt trocken davon zu
kommen. Andere hörten verwundert zu, zogen die Naſen hinauf und
ſchwiegen. Andere riefen: „Sauhund!“ und gingen weiter. Es ſprach ſich
ſofort bis zum Ausſchuß herum und wurde als Durchftecherei erkannt.
Der Bürgermeiſter trat nun, der Menge Ruhe gebietend, auf den Haupt⸗
mann v. Schornſtetten zu und verlangte den Text der markgräflichen Bot⸗
ſchaft, da man, um ſich gegen die vielen Irrtümer und Guse zu
verteidigen, den Wortlaut nötig habe.
Schornſtetten verweigerte die Herausgabe der Botſchaft.
„Au letz! da ſtinkts!“ ſchrie einer der Umſtehenden. Die Menge lachte.
Simmerer, vor dem Hauptmann ſtehen bleibend, ſprach nun zur
Bürgerſchaft:
„Mitbürger! Es iſt uns zu Ohren gekommen, daß die Meinung beſteht,
man ſollte nachgeben und die oder einen Rädelsführer ausliefern — — der
Ausſchuß fragt hiermit an, ob er zurücktreten ſoll —“
„Pfui! Pfui!“
„Oder ob er im alten Sinne euer Vertrauen hat und euere Sache
führen ſoll.“
„Gewiß! — Ausſchuß! — Ausſchuß!“ brauſten die Stimmen durch⸗
einander.
„Es ſollen ſich, die den Religionseid mit uns geſchworen haben und nun
abſchwören wollen, mit lauter Stimme melden, damit wir wiſſen, woran
wir ſind.“
Es entſtand zwar ein Gemurmel, aber keiner meldete ſich.
Aichelin rief:
„Aha — jest ſchnauft keiner! — Jetzt wars wieder keiner! — Na —
Nonnenmacher! Wer hat denn vorhin ſo geſcheit geſchwätzt? hm?“
„Ja — ja —“ wurde eine krachige Stimme laut, „ich — ich fürcht
mich noch lang nicht — ich ſags frei heraus — ich — was der Herr da vor⸗
geleſen hat, das iſt gar nicht zu verachten — das iſt gar nicht zu verachten!“
„Alſo gut, der Nonnenmacher!“ rief der Bürgermeiſter. „Wer noch?“
Notgedrungen meldeten ſich noch einige, durch die aber der Ae Mi
nicht geſchwächt wurde.
Der Bürgermeiſter ging ins Rathaus und kehrte bald mit dem ganz
Ausſchuſſe zurück. Schornſtetten und Weinſchenk beſtiegen wieder ihr 1
Gerüſt, und der Schreiber des Ausſchuſſes, neben dem Bürgermeiſter
ſtehend, las mit weittönender Stimme vor:
„Gegenüber den Vorwürfen und Klagen der marfgräflichen Botſchaft
erklärt die durch den Ausſchuß vertretene Bürgerſchaft vorläufig und mit
Vorbehalt eingehender Rechtfertigung:
*
*
774
*
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Hi
1
5
5 9
1
zum erſten, daß fie ihren Huldigungseid nicht verletzt weiß, noch zu ver-
letzen gedenkt; daß es ſich in allem Widerſtand und Vorgehen vielmehr nur
um die Erhaltung der Religion handelt, was die Bürgerſchaft mit einem
Eide zu beteuern erbötig iſt;
zum andern, daß der Religionseid Gott geſchworen iſt, alſo von keinem
Menſchen aufgelöſt werden kann;
zum dritten, daß ſie die Bitte um einen lutheriſchen Superintendenten
und um Verſorgung der Kirchen und Schulen mit lutheriſchen Dienern
dringlich wiederholt;
endlich, daß fie auf Herausgabe des marfgräflicyen Schreibens beſteht,
da allerlei Unrichtiges und Ehrenrühriges verleſen und von fremdem Volke
angehört worden iſt und der Stadt Schande bringen kann.“
a Schornſtetten ſtand ruhig auf ſeinem Gerüſt, ſah über die beifallrufende
Menge hin und wartete Ruhe ab; dann ſprach er mit nachläſſiger Stimme,
indem feine Hand mit der Scheiftrolle eine ablehnende Gebärde machte:
„Ich kann dem Wunſche des Ausſchuſſes nicht entſprechen!“ und Leut⸗
nant Weinſchenk flüſterte ihm zu:
„Die Eſel! Was geht uns der Ausſchuß an!“
* Der Hauptmann nickte lächelnd, und Weinſchenk blickte liſtig auf die
Menge, die Schornſtettens Weigerung mit einem Toſen der Entrüſtung
beantwortete.
Da ſchob ſich der Advokat aus dem Ausſchuß hervor, und der Ruf:
Dr. Ebertz werde reden, verbreitete nach allen Seiten Stille.
„Es iſt in aller Welt Rechtens,“ fing er gelaſſen an, „daß man dem
Betroffenen die Anklage oder Botſchaft abſchriftlich übergibt, zur Belehrung
und zur Rechtfertigung. Wenn der Herr v. Schornſtetten ſich dieſes
Brauches weigert, ſo tut er der Ehrlichkeit der Sache einen ſehr ſchlechten
Dienſt und mag ſich ſeiner Verantwortung bewußt ſein. Es iſt natürlich,
daß die Wahrhaftigkeit der Verleſung eines vorenthaltenen Schriftſtückes
vom Hörer bezweifelt wird; denn es kann vieles ſcheinbar vorgeleſen werden,
woas nicht im Texte ſteht, und vieles ausgelaſſen werden, was drin ſteht.
*. Strotzt nun eine Mitteilung ſo ſehr wie die heutige von Irrtümern, Ent—
8 si felungen und Beleidigungen, fo ift jegliches Mißtrauen gerechtfertigt, und
ie Verweigerung des Textes wird zu einer gefährlichen Aufreizung der
Bürgerſchaft, die ſich von feiten des Fürſten und feiner Räte keines Wohl—
wollens mehr verſehen kann. Dieſes diffamierende Vorgehen, ohne die
Berichte der Stadt je beantwortet, ohne einen Pforzheimer je verhört oder
angehört zu haben, iſt einfach unerhört! —“
Gerade, da er anfing, in Erregung und Schwung zu kommen, ſchnitt
ihm der Schornſtetter das Wort ab, indem er mit nachläſſig ſchleudernder
Handbewegung einwarf:
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„Ich danke dem Advokaten für feine Bemühung — und Belehrung.
Er hat mir keinen geringen Dienſt erwieſen, indem er mich an ſeine Exiſtenz
erinnerte und mir zeigte, wie er hier fo die Rolle des Sauerteiges ſpielt.
Das war mir ſehr intereſſant.“ Er neigte den Kopf etwas nach rechts, riß
den Mund auf und kratzte ſich 15 dem linken Kleinfingernagel an der 1
Backe, bis er näſelnd fortfuhr: „A — m — was wollt ich noch fagen —- ?:
— Ja!“ er nahm einen verfügenden Ton an: „— alfo heute nachmittag
von zwei Uhr an werdet ihr euch im Schloß einfinden und zur Liſte melden!“
Und nun betonte er ſcharf Silbe für Silbe: „Und ich befehle euch im Namen
der Fürſtl. Gnaden des Markgrafen, euch jeden Verkehrs mit dieſem hier
anweſenden Dr. Ebertz, deſſen Advokatenſchliche euch ſchon tief genug in
den Oreck geführt haben, von jetzt an zu enthalten, ihm auch in keiner Weiſe
mehr Beiſtand und Vorſchub zu leiſten!“ Er neigte ſich linkshin zum Leut⸗
nant Weinſchenk und fragte: „Wäre ſonſt noch etwas?“
Ebertz horchte und blickte von Entrüſtung zitternd zu dem Sprecher a
— — da ſtand ſchon die feſte Geſtalt des Bürgermeiſters Simmerer vor !
dem Gerüſt; er gebot dem Volk, aus dem ein Murren und Schelten
heraus ſchwoll, mit kurzen Worten Stille er ſtieg auf das Gerüſt: 1
„Mit Verlaub, ihr Herren!“ Bi
Er griff, breit daſtehend, in die Hoſentaſche und zog feine Bürgermeifter-
kette heraus, er nahm den Hut ab und legte die Kette um den Hals, er
bedeckte ſich wieder, drückte mit der Hand die Henkelmünze auf ſein gewölbte
Bruſt und ſprach laut und langſam, ſo daß man es auf dem ganzen Markte
hören konnte: 7
„Es wird ſich heute nachmittag auf dem Schloſſe einfinden und ein⸗
ſchreiben laſſen, wer Luſt hat. Es iſt in dieſen Wochen des religiöſen Un⸗
friedens niemals ein Mitbürger beredet, gedrungen oder gezwungen worden,
ſich unſerm Widerſtande anzuſchließen: wir haben jeden Andersgeſinnten,
wenn auch mit Bedauern, ſeinen Weg gehen laſſen. Wer anderes behauptet,
redet die Unwahrheit. Wir können alleſamt, auch die man Rädelsführer
nennt, Dr. Ebertz an der Spitze, heute nachmittag im Zug aufs Schloß
ſteigen und uns mit gutem Gewiſſen einzeichnen laſſen; denn wir haben nie
in irgendeiner weltlichen oder politiſchen oder rechtlichen Sache den Fürſtl.
Gnaden des Herrn Markgrafen den Gehorſam verweigert oder zuwide
gehandelt, wir beſtehen nur — verteidigungsweiſe — auf dem im Religions⸗
frieden uns gewährten Rechte unſerer Religion, und darauf bleiben wir 1
beſtehen. Das Anſinnen, einzelne Männer als Rädelsführer und Verhetzer
herausgreifen zu laſſen, oder gar unſern Freund, den Dr. Ebertz als Sünden⸗
bock opfern zu ſollen, ſteht unter der Würde unſerer Sache. Wenn die
Fürſtl. Gnaden des Herrn Markgrafen nach Hetzern und Sündern ſuchen,
dann mögen ſie ihre Räte muſtern!“
1 Hier wurde er von plötzlich ausbrechendem Jubelgeſchrei des Volkes
unterbrochen. Mit ernſtem Blicke erhob er die flache Hand gegen die Menge,
daß fie ſtillſchwieg, und ſprach weiter:
„Dieſer hier anweſende Dr. Ebertz könnte, auch wenn es Rädelsführer
gäbe, nicht unter ſie gerechnet werden, da er ſich gar nicht von Anfang an
beteiligte, ſondern erſt ſpäter im ſchwebenden Streite von uns befragt und
zugezogen worden iſt. Er hat uns treulich mit feinem Rar unterſtützt, er
hat uns vor mancher Übereilung bewahrt, er hat uns, bei aller Ermahnung
ziur Standhaftigkeit, immer den Frieden und die Treue gegen unſern Fürſten
5 gepredigt und zur Vernunft angehalten: wenn wir trotz allen Bedrängungen,
Angſten und Aufregungen wus bis zur Stunde keines Unrechtes und keiner
Untreue gegen unſern Fürsten bewußt find, fo verdanken wir dies dem
Dr. Ebertz. Es wäre eine untilgbare Schande für die Stadt — und für
. ihren Herrn, den Markgrafen! — wenn wir des Doktors uneigennützige
Hingabe mit Verrat hn wollten oder könnten. Ich ſchäme mich der
Nötigung, das auch noch jagen zu müſſen! Wir werden für den
Dr. Ebertz eintreten wie für uns ſelbſt.“
3 Er verneigte ſich leicht gegen die beiden Abgeſandten, blieb aber auf
dem Gerüſte.
8 Die Bürgerſchaft brüllte ihren Beifall. Sie war nicht nur mit dem
Inhalt und der Entſchiedenheit der Rede einverſtanden, fie war zumal gepackt
und ſtolz entflammt von der vielſagenden Gebärde des Mannes, der durch das
Umhängen der Amtskette ſagte, daß er jetzt nicht mehr als anonymes Aus⸗
ſchußmitglied, ſondern als Einzelner und zugleich Verantwortlichſter hinſtehe.
In Wogen ſauſte der Beifallsruf hin und her, bald da, bald dort ſchäumte
in neuen Worten die Begeiſterung auf.
Die beiden Offiziere flüſterten miteinander, um der Kundgebung ihre
Mißachtung auszudrücken.
Der Bürgermeiſter hob wieder die Hand und ſagte, als es ſtill ward, der
Dr. Ebertz wünſche zu ſprechen.
Der Advokat, der ſchon des Verfolgers Hand am Kragen gefühlt hatte,
war im Verlauf der Rede Simmerers wieder ſicher geworden und begann
nun in kühnem Tone:
8 „Die vom Hauptmann v. Schornſtetten verleſene Botſchaft nennt mich
. idesvergeſſen, verbrecheriſch, ehrlos, Rädelsführer und Hetzer, — ich ver—
lange i in Gegenwart der Einheimiſchen wie Auswärtigen, die ſolche Ehren—
kränkung mitangehört haben, mich rechtfertigen zu dürfen. Ich verlange
von den markgräflichen Beauftragten rechtmäßig verhört zu werden —“
„Verhör! — Verhör! —“ wiederholte das Volk.
„ und verlange zu dieſem Verhör Fried und Geleit!“
„Fried und Geleit!“ rief es.
b
Der Bürgermeiſter, der immer noch neben den Offizieren ftand, verbeugte
ſich auffordernd gegen die beiden, die einander anſahen, flüſterten und achfel-
uckten. *
f Das Verhör paßte ihnen eigentlich nicht. Da es ihnen aber gut ſchien,
den Unwillen des Volkes nicht zu reizen, ſo ſagten ſie ſchließlich Fried und
Geleite zu und beſchieden den Advokaten aufs Rathaus, wo er ſich in einer
halben Stunde im Beiſein des Rates verantworten ſollte; die Protokolle |
und fonftigen Papiere des Ausfchuffes follte er mitbringen. \
Da nun die Abgeſandten vom Gerüſte fprangen und im Geſpräche ftehen
blieben, dachten die Marktleute wieder an ihre verlaſſenen Stände und eilten
davon, die übrige Menge ſtand herum und drückte fi ſich herum, ſprach über
das Gehörte und ſtritt über das Kommende. 1
Dr. Eberts, von einem Häuflein Freunde begleitet, ſuchte ſich am Rande
des Marktes hin ſeinen Weg nach Hauſe. u
Seine Frau ſaß im Hausflur, hatte einen Berg Erbſenſchoten vor ſich
auf dem Tiſch und eine rote irdene Schüſſel auf dem Schoß, in der ſich die von
den flinken Händen ausgebrockelten Erbſen ſammelten; das dreijährige Liſele
und ein gleichaltriges Nachbarskind ſpielten um ſie herum und lauerten auf
die abſpringenden Erbſen, die fie haſchten und haſtig in den Mund ſtopften.
Frau Ebertz, von der unlängſt überſtandenen Niederkunft und dem Verluſte
des Kindes noch angegriffen und blaß, wandte ſich den Eintretenden zu und
fragte: 5
„Was gibt's Neues?“
„Verhör —?“ wiederholte ſie nach geſchehener Auskunft, zubig eine
Schote nach der andern leerend. „Nun — auf Verhör mußt du dich ja vers
ſtehen? Wozu biſt du Advokat!“
„Ja — kannſt ganz ruhig fein! Sie haben mir Fried und a zu⸗
geſagt?“
„Geleit —?“ murmelte ſie, mit zuſammengezogenen Brauen aufblickend.
„Geleit —? Alſo iſts nicht ganz ſauber?!! — — Wenn die Handvoll Leut
in unſerer Stadt Geleit geben!“ u
„Verſteh, Frau, wir wollen jede Gewalttat meiden!“ 2 ge
„Aber den andern traut ihr fie zu —? Jedenfalls — jedenfalls kannſt
dem Hauptmann ſagen, wenn ich dich nicht zur Zeit hier PN a 8 i
ſechzig Weibern hinauf — ee foll er ſich vergucken!“ l
„Aber, beruhige dich doch, Martha! es iſt ja gar keine Gesa 4% mit
dieſen Worten ſetzte er ſich zu dem bereitſtehenden Brot und Moſt. 9
„Ich brauch mich gar nicht zu beruhigen! Ich bin ganz ruhig!“ ſagte
die Frau erregt, „ich brockel ruhig meine Erbſen weiter — ich ſag nur —
— Mas gibts denn ſchon wieder?“ fuhr fie ſcharf den gerade eintretenden
RB
un
Fu
Trompeter an, der nun dem Advokaten meldete, der Hauptmann wünfche
auch die Kaſſe des Ausſchuſſes.
„Eine Kaſſe haben wir nicht,“ entgegnete Ebertz.
Als der Trompeter trotz dieſem Beſcheid wartend ſtehen blieb, blickte ihn
die Frau groß an und rief:
„Nun — noch was?“ und als er verneinte, ſetzte ſie rauh hinzu:
„Alſo — adje!“
Der Soldat ſah ſie verduzt an und ging rückwärts; da trat Ebertz zu
ihm und bat ihn, auf die erregte Frau Rückſicht zu nehmen und zu gehen.
Aaichelin — wie auch die andern Kameraden — ſtand dabei, ſchaute die
5 Frau an und nickte manchmal.
>. Bald zog Ebertz wieder mit ihnen ab.
% Bon der Aufregung feiner Frau überwältigt, bedurfte er nicht geringer
5 Überwindungskraft, um in guter Haltung zum Rathaus zu ſchreiten, ſich
von ſeinen Freunden leichthin zu verabſchieden und hinaufzuſteigen. Er
war froh, daß die Treppe durch einen großen Abſatz unterbrochen war: fo
konnte er feine Knie, die auf den Stufen bedenklich gebebt hatten, wieder
fſtrecken und ſtärken für die zweite Hälfte. Das Geländer zu benutzen ver—
ſchmähte er, eben weil er es ſo nötig hatte!
Als er den von der Rathaustür nachſchauenden Freunden entſchwunden
war, drehten dieſe ſich unentſchloſſen nach dem Marktgewühl um, Hans
Aichelin aber blieb ſtehen, ſpuckte auf den Boden und ſagte:
„Ihr Leut —!“ und als ſich die andern zu ihm wandten, hob er die
Hand, drehte ſie ein paarmal zweifleriſch hin und her, machte ein mißtrau—
iſches Geſicht und ſetzte hinzu:
„Ich weiß nicht, ihr Leut — — die Frau hat am End recht! 's iſt
nicht ſauber mit den Herren. — Ich geh jedenfalls heim und hol mir ein
bißle einen Spieß! Man kann gar nicht wiſſen, wozu 8’ gut iſt. Aber —
haltets Maul! Nicht weiterſchwätzen! nicht, daß der ganze Markt wieder
aaufamſelt! Wir, wie wir da find, wir langen ſchon für die paar Soldaten.
. Und wir wollen einzeln zurückkommen, damit es nicht auffällt.“
AR andern waren bereit zu dieſer Abwechſlung, fie ſchlichen im Häuſer—
6 ſchatten — denn die Sonne war ſtechend durchgekommen — kaſch heim,
4 fliegen in den Keller und taten am Moſtfaß einen vorforgenden Trunk.
Diann trotteen fie pfeifend zur Kammer, holten Saufeder, Hellebarde oder
Knacbelſpieß und zogen trällernd wieder ab. Und wenn Frau oder Mutter
oder Nachbar fragte, was los ſei, ſo erwiderten ſie, ſie wollten die Zeit be—
nutzen und ein wenig exerzieren; es ſei heute doch nichts mit dem Geſchäft.
Dr. Ebertz war unterdeſſen mit dem Trompeter in den großen, vom
Markt wie vom Hofe her erleuchteten Ratſaal getreten, wo der Bürger—
meiſter und die meiſten Räte der Stadt auf ihren Bänken im Kreiſe ſaßen,
IR:
7979
während die beiden Abgeſandten neben dem wie ein Bollwerk ins Zimmer
hereinſtoßenden rieſigen Kachelofen ftanden und leiſe mit dem Schloßkellen
Greyß ſprachen. j
Der Hauptmann winkte dem Trompeter ab, worauf dieſer den Saal
verließ.
An Dr. Ebertz kehrte ſich niemand.
Um nicht wie ein armer Sünder dazuſtehen, blätterte er in feinen Papieren;
aber da ihn das nicht beruhigte, ſo ſchritt er auf den Kreis der Ratsherrn J
zu, um ſich dort anzuſchließen. 1
Da trat raſch der Hauptmann von Schornſterten dazwiſchen, wies nach 4
der an der Wand hinlaufenden Bank und ſagte: a
„Bitte, hier!“ und drehte ſich ab, ehe Eberb etwas erwidern konnte.
Wohl oder übel, da er ja doch gerade etwas wie ein Angeklagter war,
ſetzte er ſich, dachte an feine Frau und ihre Worte. Zwar nickte ihm dern
Bürgermeiſter und der und jener Rat aufmunternd zu; aber er fühlte ſich
doch ſehr verlaſſen. Und was mochten die Abgeſandten ſo Wichtiges mit dem 1 i
Schloßkeller tuſcheln? Jetzt lachten fie. Galt des ihm? 7
„Ja, dann verſaufen wir ihn heut abend! ſprach Weinſchenk fo deutlich, 1
daß der Doktor es hören konnte. Was für einen Handel hatten fie zu ver⸗
ſaufen? Der Doktor fühlte und hörte fein Herz klopfen. Da gab er ſich
zornig einen Ruck und kehrte ſich von jenen ab, obſchon gerade der Schoß
keller ſich verbeugte und eilig zur Tür hinaus watſchelte. Ebertz ſah den Dfn
an, auf deſſen Feldern die Taten Simſons gemalt waren: wie er den Löwen
zerriß, wie er mit dem Eſelskinnbacken die Philiſter ſchlug, — und der bee
drängte Mann ſagte zu ſich: nur Mut! ſchau den an! der ließ in der
äußerſten Gefahr den Kopf nicht hängen, da hat ihm Gott geholfen. Bleib
ruhig, damit du deinen Vorteil nicht verſäumſt! 10
Schornſtetten, in das markgräfliche Schreiben ſehend, kam langſam auf
ihn zu, blieb zwiſchen ihm und dem Rat ſtehen und ſagte zu Ebertz:
„Da ich nicht rechtskundig bin und für dieſen Fall auch keine e
habe, fo werd ich Euch zum Verhör nach Durlach ſchicken müſſen —“
Ebertz ſprang vom Sitz auf, wobei ſein Degen an der Bank Elapper
ehe er noch ſprechen konnte, warf Schornſtetten in verweiſendem Tone
„Legt doch Euer Seitengewehr ab!“
Ohne auf dieſe Worte zu achten, antwortete Ebertz: e
„Ich bin auch bereit, zum Verhör nach Durlach zu reiten, nate 5 .
bei freiem Geleit!“ 1
„Legt Euer Seitengewehr ab!“ wiederholte der Hauptmann.
Der Advokat erſchrak. Um aber den Machthaber nicht etwa zu reizen,
auch um zu zeigen, daß er Vertrauen habe und Vertrauen erwarte, ſchnallte
er den Degen los und warf ihn auf die Bank.
1
33
— >
N
760
Herr von Schornſtetten gab ihm keine Antwort; mit nachläſſigen Be—
wegungen trat er wieder zu Weinſchenk und murmelte:
„Verflucht! wie krieg ich den Kerl nach Durlach? Geb ich ihm Geleit,
ſo iſt der Markgraf nicht zufrieden; geb ich ihm keins, ſo geht er nicht!“
„Was?! wir probierens!“ flüſterte Weinſchenk zurück. „Wir ſchicken ihn
einfach fort. Die Bürger, dieſe ſtinkigen Gerber und Wollkämmer —, die
fragt man lang! Überhaupt, wenn er erſt fort iſt, werden fie froh fin, daß
die Sache ein Ende hat.“
Ebertz horcht und verſtand nichts. Die Ratsherren waren ganz ſtill. Er
warf ihnen mahnende und flehende Blicke zu; der und ener nickte; aber
was half ihm das! fie rührten ſich nicht. Die waren im ſtande, ihn dem
Feind zu überlaſſen! Er fühlte ſich ſchon verraten und verkauft. Im ver⸗
1 % zeifelten Umberſuchen erblickte er wieder den Ofen und den Simſon mit
dem geſchwungenen Eſels ki mbacken: da richtete er ſich auf, ſchielte nach dem
Seitengewehr neben auf der Bank, atmete tief und dachte: wie ein raſender
Löwe werd ich mich verteidigen!
Da war dieſer alte runde Schloßkeller Ulrich Greyß wieder eingetreten
und ſtand flüſternd vor ber beiden Kriegsleuten. Sie ſchüttelten den Kopf,
nickten, zuckten die Achſeln, erwiderten, nickten. Greyß eilte nach einer
ſchwerfälligen Verbeugung ſchwer wieder davon. Was die nur Wichtiges
miteinander ausmachten! Am Ende legten ſie ihn, den Doktor, in den
Turm oben im Schloß, bis Antwort von Durlach da war! Wenn nur
wenigſtens der Schloßkeller Greyß nicht mehr käme! der dicke Kerl machte
ihm ganz übel mit ſeinem Dienſteifer.
Und jetzt war es fo ſtill, daß ers nicht mehr ertragen konnte, er legte unauf-
fällig die Hände zuſammen und betete in ſich hinein: „Lieber Gott“ — —
er wußte nicht weiter und beſann ſich — „Lieber Gott hilf mir! — hilf mir!
— hilf mir! Was ſoll denn aus meiner Frau werden! — und aus der Liſele!“
Nun ſchritt Schornſtetten mit Weinſchenk langſam mitten in den Rats—
ring und erklärte mit gelaſſener Stimme, er halte es nach längerer Über⸗
b legung für zwecklos, ſelbſt ein Verhör anzuſtellen, das man in Karlsburg
nicht gelten laſſen werde, da er ja nicht ſachverſtändig ſei; er werde, um
Pen Doktors Wunſch nachzukommen, dieſen noch heute mit ficherer Be—
deckung nach Karlsburg ſchicken.
Die Räte ſchwiegen, ſtirnrunzelnd und überlegend.
„Dr. Ebertz!“ fuhr der Hauptmann fort, ſich mit auffordernder Arm—
bewegung nach ihm umdrehend, „ich bitte —“
Ebertz hatte das Schweigen des Rates zu ſeinen Ungunſten gedeutet und
alle Hoffnung auf Hilfe fahren laſſen: jetzt war er auf ſich allein angewieſen.
Er fühlte ſich verloren, aber wehren wollte er ſich. Auf Schornſtettens
Worte hin fuhr er empor und ſagte unwillkürlich:
TR
49 761
„Ja!“ ging aber, ſtatt zum Hauptmann, keck zur Türe und hinaus.
Der Schornſtetter ſchrie:
„Halt! Hebt ihn!“ warf das markgräfliche Schreiben von ſich und lief
dem Flüchtling nach, auch Leutnant Weinſchenk rannte hinterdrein, während
ſchon der Rat Grieninger aufſtand, die Schrift aufhob und dem Bürger⸗
meiſter gab.
Alle Räte drängten ſich zu den Fenſtern, um den Doktor fortlaufen zu
ſehen und den Schornſtetten womöglich hinterdrein; aber die kamen nicht.
Der Hauptmann mit ſeinen langen Beinen hatte noch auf dem oberen
Treppenteil den Dr. Ebertz beim Arm erwiſcht und war, von ihm mitgeriſſen,
die Stufen bis zum Treppenabſatz hinuntergerumpel, wo Leutnant Wein⸗
ſchenk ſie einholte. Dieſer warf ſofort den Arm über den Nacken des Doktors, f 4
drückte ihn nieder, preßte ihm mit hartem Griff die Gurgel zufammen und
ſtieß ihm die Fauſt in den Mund, damit er nicht ſchreien könnte; zugleich
pfiff er nach ſeinen Soldaten. Aber ehe Weiteres geſchehen konnte, war der
Wollknappe Walter Entlin, der unterm Tor ſtand, mit lautem Geſchrei
auf der Treppe:
„Ihr Herrgottſakramenter! heißt das Fried und Geleit halten!“ und
ſchwang gegen ſie ſein Beil. Da raſſelten von oben Soldaten heran und
wehrten ihn mit Spießen ab. Indeſſen kam ihm Hans Aichelin zu Hilfe
und ſtach mit ſeiner Hellebarde dem Leutnant Weinſchenk ins Geſäß. Und er
hätte nichts Beſſeres tun können; denn als Weinſchenk unwillkürlich zu-
ſammenzuckte, gelang es dem Advokaten, ſich von ihm loszuzerren und mit
einem verzweifelten Satze über den ganzen unteren Treppenteil hinabzuſpringen
bis gegen das Tor, wo er zuſammenbrach und einen ganzen Mund voll
Blut auf die Schwelle ſpie. Er riß ſich aber wieder auf und während noch
andere Bewaffnete ins Rathaus drangen und die Soldaten in den Ratſaal
zurücktrieben, rannte er auf den Platz und:
„Gewalt! — Verrat! Gewalt!“ ſchreiend und Blut aus ſeinem serfeten 4 1
en ‘
Halſe fpeiend eilte er nach Haufe.
Sinnlos vor Scham und Wut kam Schornſtetten und Weinſchenk, der
ſeine Hand auf die wunde Stelle preßte, wieder im Rats ſaal an. Sie fuhren N
auf den Dürgermeifter los, nannten ihn Verräter, der fie in die Falle gelockt
und das Volk gegen fie bewaffnet habe, und brohten mit der Rache de
Fürſten. 0
Der Bürgermeiſter hörte zu und anwortete: |
„Schon möglich, daß ich für euren Unfug büßen muß; aber das bm
erſt ſpäter. Einſtweilen ſeid ihr in meiner Gewalt!“
„Ich verlange ſofort,“ fuhr der Hauptmann auf.
„„Jetzt wird nichts verlangt!“ ſprach Simmerer, die Hand ſchüttelnd.
„Jetzt beſtimmen wir vom Rate, was geſchieht! Ihr habt den Frieden der
762
Stadt gebrochen, habt dem Doktor das Geleit gebrochen, ihr habt ohne
meine Erlaubnis und mein Wiſſen Soldaten im Rathauſe verſteckt, — —
ihr erlaubt mir, mein Hausrecht zu wahren. Hier —!“ Er forderte auf,
zum Fenſter hinauszuſchauen.
Der Hauptmann tat es, ſah ſchon eine bewaffnete Menge ſich ums
Rathaus drängen und hörte ſofort rufen:
1 „Lumpenhund! — Schelm! — Verräter! — Sauhund! — Macht
ihn kalt!“
„Ich glaube,“ fuhr der Bürgermeiſter fort, „ihr werdet mirs noch danken,
wenn ich euch jetzt nicht über den Markt ſchicke, ſondern im Ratsſaal auf-
bewahre. “ Danach wandte er ſich an Hans Aichelin, der mit andern be-
wehrten Bürgern unter der offenen Tür ſtand, und rief, auf die auch in den
Scaal geflüchteten Kriegsknechte deutend:
5 „Dieſe Leute geben ihre Waffen ab und werden unten im Hof be—
wacht!“
* Während dieſe abzogen, fragte Schornſtetten mit verwundertem Tone:
=. „Ich ließ hier ein Schriftſtück — — ich — find es nicht mehr!“
N „Das hab ich an mich genommen!“ erwiderte Simmerer, indem er mit
freundlichem Spotte auf feine Bruſt tippte.
I — — Diebſtahl — geradezu!“ ſchrie der Hauptmann.
„Ich verlange —
„Ja —“ unterbrach ihn der Bürgermeiſter achſelzuckend, „ihr habt den
Frieden gebrochen und dürft euch nicht beklagen, wenn wir drauf antworten.“
Dann drehte er ſich ab, forderte die Ratsherren auf, ihm zu folgen, delle
an jede Tür innen zwei Wachen und verließ den Saal, um ſich auf ſeinem
Geſchäftszimmer mit den andern zu beſprechen.
Es galt der Sicherheit des Dr. Ebertz.
Nach kurzem ging Apotheker Grieninger mit zwei andern Räten zu dem Ad⸗
vokaten. Deſſen Haus war von Menſchen, beſonders von Weibern und Kindern
4 umlagert, die ſich unermüdlich ſein Abenteuer und ſeine Ausſichten hin- und
hererzählten. In der Stube gingen Freunde ab und zu, die neueſten Bericht
beachten, und der Doktor ſaß neben ſeiner Frau auf der Bank hinter dem
Eßtiſch, auf dem ein Körbchen Eier, Weißbrot und ein Krug Wein ſtand.
Er hatte ein naſſes Handtuch um den Hals gewickelt, und ſein bartloſes
Geſicht war noch ſehr blaß; aber ſeine Augen leuchteten lebhaft. Eben
nahm er ein Ei, ſtach es vorſichtig an beiden Enden auf, indem er fügte:
F „So hat der Lutz den Weinſchenk angeſtochen; es war höchſte Zeit! Was
der Leutnant Fäuſte hat! ich hab die Engel im Himmel gehört!“ dann
N ließ er langſam den kühlen Inhalt des Eies durch ſeine brennende Gurgel
laufen.
Die drei Räte begrüßten ihn, drückten das Bedauern der Stadt über
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„Ja!“ ging aber, ftatt zum Hauptmann, keck zur Türe und hinaus. 9
Der Schornſtetter ſchrie: ö
„Halt! Hebt ihn!“ warf das markgräfliche Schreiben von ſich und lief
dem Flüchtling nach, auch Leutnant Weinſchenk rannte hinterdrein, während
ſchon der Rat Grieninger aufſtand, die Schrift aufhob und dem Bürger⸗ 3
meifter gab. 1
Alle Räte drängten ſich zu den Fenſtern, um den Doktor fortlaufen zu 1
ſehen und den Schornſtetten womöglich hinterdrein; aber die kamen nicht. |
Der Hauptmann mit feinen langen Beinen hatte noch auf dem oberen
Treppenteil den Dr. Ebertz beim Arm erwiſcht und war, von ihm mitgeriſſen,
die Stufen bis zum Treppenabſatz hinuntergerumpelt, wo Leutnant Wein⸗
ſchenk fie einholte. Dieſer warf ſofort den Arm über den Nacken des Doktors, 1
drückte ihn nieder, preßte ihm mit hartem Griff die Gurgel zuſammen und 4
ſtieß ihm die Fauſt in den Mund, damit er nicht ſchreien könnte; zugleich 4
pfiff er nach ſeinen Soldaten. Aber ehe Weiteres geſchehen konnte, war de
Wollknappe Walter Entlin, der unterm Tor ſtand, mit lautem Geſchrei N
auf der Treppe: u; |
„Ihr Herrgottſakramenter! heißt das Fried und Geleit halten!“ m
ſchwang gegen ſie ſein Beil. Da raſſelten von oben Soldaten heran und |
wehrten ihn mit Spießen ab. Indeſſen kam ihm Hans Aichelin zu Hilfe u |
und ſtach mit feiner Hellebarde dem Leutnant Weinſchenk ins Gefäß. Und er 1
hätte nichts Beſſeres tun können; denn als Weinſchenk unwillkürlich zu⸗
IE 2 1
ſammenzuckte, gelang es dem Advokaten, ſich von ihm loszuzerren und mit 5
einem verzweifelten Satze über den ganzen unteren Treppenteil hinabzuſpringen 1
bis gegen das Tor, wo er zuſammenbrach und einen ganzen Mund voll
Blut auf die Schwelle ſpie. Er riß ſich aber wieder auf und während nd
andere Bewaffnete ins Rathaus drangen und die Soldaten in den Ratſaal
zurücktrieben, rannte er auf den Platz und: | 4
„Gewalt! — Verrat! Gewalt!“ ſchreiend und Blut aus ſeinem ien
Halſe ſpeiend eilte er nach Hauſe.
Sinnlos vor Scham und Wut kam Schornſtetten und Weinſchenk, der
ſeine Hand auf die wunde Stelle preßte, wieder im Ratsfaal an. Sie fuhren
auf den Bürgermeiſter los, nannten ihn Verräter, der fie in die Falle gelockt
und das Volk gegen ſie bewaffnet habe, und drohten mit der Rache des
Fürſten.
Der Bürgermeiſter hörte zu und anwortete:
„Schon möglich, daß ich für euren Unfug büßen muß; aber das kommt
erſt ſpäter. Einſtweilen ſeid ihr in meiner Gewalt!“
„Ich verlange ſofort,“ fuhr der Hauptmann auf...
„Jetzt wird nichts verlangt!“ ſprach Simmerer, die Hand ſchüttelnd.
„Jetzt beſtimmen wir vom Rate, was geſchieht! Ihr habt den Frieden der
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Stadt gebrochen, habt dem Doktor das Geleit gebrochen, ihr habt ohne
meine Erlaubnis und mein Wiſſen Soldaten im Rathauſe verſteckt, — —
ihr erlaubt mir, mein Hausrecht zu wahren. Hier —!“ Er forderte auf,
zum Fenſter hinaus zuſchauen.
Der Hauptmann tat es, ſah ſchon eine bewaffnete Menge ſich ums
Rathaus drängen und hörte ſofort rufen:
„Lumpenhund! — Schelm! — Verräter! — Sauhund! — Macht
ihn kalt!“
„Ich glaube,“ fuhr der Bürgermeiſter fort, „ihr werdet mirs noch danken,
wenn ich euch jetzt nicht über den Markt ſchicke, ſondern im Ratsſaal auf⸗
bewahre.“ Danach wandte er ſich an Hans Aichelin, der mit andern be-
wehrten Bürgern unter der offenen Tür ſtand, und rief, auf die auch in den
Scal geflüchteten Kriegsknechte deutend:
„ dieſe Leute geben ihre Waffen ab und werden unten im Hof be—
wacht!“
Während dieſe abzogen, fragte Schornſtetten mit verwundertem Tone:
„Ich ließ hier ein Schriftſtück — — ich — find es nicht mehr!“
„Das hab ich an mich genommen!“ erwiderte Simmerer, indem er mit
freundlichem Spotte auf ſeine Bruſt tippte.
„Veruntreuung! — Diebſtahl — geradezu!“ ſchrie der Hauptmann.
„Ich verlange N
, „Ja —“ unterbrach ihn der Bürgermeiſter achſelzuckend, „ihr habt den
Frieden gebrochen und dürft euch nicht beklagen, wenn wir drauf antworten.“
Dann drehte er ſich ab, forderte die Ratsherren auf, ihm zu folgen, ſtellte
an jede Tür innen zwei Wachen und verließ den Saal, um ſich auf ſeinem
Geſchäfts zimmer mit den andern zu beſprechen.
Es galt der Sicherheit des Dr. Ebertz.
Nach kurzem ging Apotheker Grieninger mit zwei andern Räten zu dem Ad—
vokaten. Deſſen Haus war von Menſchen, beſonders von Weibern und Kindern
umlagert, die ſich unermüdlich ſein Abenteuer und ſeine Ausſichten hin- und
bererzählten. In der Stube gingen Freunde ab und zu, die neueſten Bericht
brachten, und der Doktor ſaß neben ſeiner Frau auf der Bank hinter dem
= Eßtiſch auf dem ein Körbchen Eier, Weißbrot und ein Krug Wein ſtand.
Er hatte ein naſſes Handtuch um den Hals gewickelt, und ſein bartloſes
eſicht war noch ſehr blaß; aber ſeine Augen leuchteten lebhaft. Eben
nahm er ein Ei, ſtach es vorſichtig an beiden Enden auf, indem er fagte:
* „So hat der Lutz den Weinſchenk angeſtochen; es war höchſte Zeit! Was
deer Leutnant Fäuſte hat! ich hab die Engel im Himmel gehört!“ dann
ließ er langſam den kühlen Inhalt des Eies durch feine brennende Gurgel
laufen.
Die drei Räte begrüßten ihn, drückten das Bedauern der Stadt über
763
feine Gefährdung und die Freude über fein Entrinnen aus und ſchlugen ihm 0 |
vor, bis nach Beilegung der Streitigkeiten die Stadt zu verlaffen, da er
im ſchlimmen Falle dem Markgrafen gegenüber als Fremder wehrlos ſein
werde. Solange die Bürgerſchaft Herrin ihrer Mauern bleibe, werde ſie ja
für feine Sicherheit bürgen; fie wünſche aber nach dieſer Probe der mark⸗
gräflichen Abſichten, daß er es nicht darauf ankommen laſſe, ſondern ſich
unter ſtädtiſchem Geleite über die Landesgrenze begebe.
Ebertz lehnte ſich zurück, ſchüttelte den Kopf und ſah feine Frau an.
Dieſe atmete tief auf, rief:
„Was?! Davonlaufen?! Ihr gefallt mir] und ſprang empor.
Grieninger legte die Hand auf ihren Arm und ſprach: 45 71
„Du nicht, Martha! Du kannſt mit dem Kind ruhig hierbleiben; aber ; |
dein Mann muß fort! Und du mußt uns dazu helfen!“ No
„Ja — ihr feid mir Männer!“ rief ſie höhniſch. „Habt ihr nicht 75 9
ſchworen: einer für alle, alle für einen!“ 1
„Gewiß! und darum haben wir deinen Mann nicht gefangen b
und abführen laſſen, ſondern die Offiziere gefangen genommen! und drum
wollen wir ihn jetzt in Sicherheit bringen! Oder — ſcheint es dir beſſer, daß
der Markgraf ihn aufhängt, — und die Stadt zugrunde geht?“ Frau
Ebertz ſtand auf und ſagte mit eigenſinnigem Tone: „Ich geh aber mit!“ 1 |
„Freilich gehſt mit!“ rief Grieninger vergnügt. „Kein Menſch in der
Stadt denkt, daß eine reſolute Frau wie du ihren Mann allein ziehen laßt!“
Die Frau ging geſchäftig ins Nebenzimmer. Der Apotheker aber gab
nun dem Advokaten einen Schlag auf die Schulter und ſprach: 1
„Auf! Auf! Eile dich! Keine Zeit verlieren! Man kann nicht wiſſen,
was die Herren noch hinterm Berg haben.“
Ebertz nahm noch einen Schluck, ſtand langſam auf und ſagte:
„Eigentlich gefällt mirs nicht. Eigentlich ſollt ich mit euch aushalten —“
„A ſchwätz!“ warf Grieninger ein. „Wenn es ſchief geht, dann ſagen u &
was hat der Kerl ſich in fremde Sachen zu mifchen! und du baumelt!“
„Jaja —“ brummte Ebertz, „s iſt ja ſchon richtig; aber „„ 0
„Ein Advokat muß natürlich immer noch was wiſſen! aber ich bitte dich,
lade uns nicht noch die Laſt der Verantwortung für dein Leben auf! 4
biſt ein prächtiger Kerl und haſt die Stadt zu großem Dank ver flic
— wir möchten nicht, daß dir ein Leid geſchähe. Und denk auch an
Frau und dein Kind!“ e
„Das ſind allerdings Gründe —“ erwiderte Ebertz und ging an feine 8
Schrank; es tat ihm wohl, daß Grieninger fo auf ihn eindrang. 1
Bald war das Nötigfte zuſam mengerafft und die Pferde vorgeführt. m
„Die Flucht nach Agypten!“ ſagte Ebertz, als er feine Frau in den Sattel
bob und das Kind vor ſie ſetzte.
764
Er wollte unkenherum auf! Nebenwegen zum Altſtädtertor; aber die Frau
rief wild:
„Nichts da! Über den Markt! Arn Rathaus vorbei! Den Kerlen unter
der Naſe durch! Grad! Erſt recht!“
Und ſo ging es denn den Platz hinauf, wo ſich ein großes Freudengeſchrei
erhob.
Sr Offiziere erſchienen am Fenſter des Ratſaales und Schornſtetten
ſchrie wütend herab zum Bürger meiſter, vor dem Ebertz gerade anhielt:
„Bürgermeiſter, ich befehle Euch i im Namen der Fürſtlichen Gnaden des
Herrn Markgrafen, den Advokaten Ebertz an der Flucht zu verhindern!“
. Doktor Ebertz flieht nicht!““ war Simmerers Antwort. „Er verreiſt
nur mit einem ſtädtiſchen Ehrengeleite.“
; Ihr erdet es büßen! ?
3 . 08 llles zu ſeiner Zeit!“ entgegnete der Bürgermeiſter, „und wie Gott es
gibt! Wenn uns der Markgraf für die Treue gegen unſern Gott ſtrafen
. wil, fo mag e er uns auch für die Treue gegen unſern Freund ſtrafen wollen;
1 aber — es ſoll ihm ſauer werden! Sagt es ihm!“
Ce'ebertz ſchämte ſich, als Flüchtling angeſprochen worden zu ſein, wandte
ſich zur Menge und, während ihn ſofort eine Anzahl Männer mit Spießen
umringten, beteuerte er, ſeine Stimme nicht ſchonend, daß er widerwillig
3 fortgehe, gerne für die Stadt Gut und Blut geopfert hätte, aber der Ein—
ſicht und dem Wunſche des Rates nachgeben müſſe. Da er die beiden Herren
noch am Fenſter oben ſah, erzählte er genau, wie man gegen ihn vorgegangen
ſei, und rief am Schluſſe zu ihnen hinauf:
„Wenn ich falſch berichtet habe, auch nur mit einer Silbe, ſo ſtraft mich
1 5 von Schornſtetten!“
oben antworteten mit einem höhniſchen Lachen.
überkam Frau Ebertz wieder der Zorn, ſie ſchalt und drohte zu den
84
4
DOffizi eren hinauf, ſie rief alle Schimpfnamen, die ihr einfielen, und als ſie
kei um ehr fand, griff fie nach den Eiern, die fie als Wegzehrung im Körb—
| g, und warf eines nach dem andern hinauf, bis die Herren ſich zurüd-
3 Da ſchrie einer aus der Menge:
4 „Sagt ein Wort, Doktor Ebertz, und wir ſchlagen ſie tot wie Hunde!“
e d die Wut des Volkes brüllte nach:
5 „Sags! Sags! Wir machen ſie kalt — wir hängen ſie auf! Sags —
* ſags!“ und alle drängten raſſelnd und klirrend auf ihn zu.
Da zuckte ein Schrecken durch ihn, er hob ſich, fo hoch er konnte, in den
Bügeln, fuhr mit dem Arm Ruhe winkend durch die Luft und, als es ſtiller
ward, rief er:
„Wenn ihr je auf mein Wort gehört habt in dieſer bangen Zeit, ſo hört
765
Der Fürſt lachte ftill in längſtvergangene Tage zurück, dann ſagte er:
„Ja — wenn die Buben erſt einmal nicht mehr hinters Obſt gehen —
und hinter die Mädel, — dann iſts gefehlt! — — Was gibts ſonſt Neues
im „Schwanen“?“
„Neues —? Der Reichardt iſt auch gekommen — die Nacht. Es ſoll
wieder hergegangen ſein — in Pforzheim!“
„Der Reichart?“ rief der Markgraf und hob ſich im Stuhl, als wollte er
aufſpringen; blieb aber ſitzen und ſagte nur: „Gieß nach!“
Specht verbuntelte das Gelaß durch feinen Rie enſchatten, indem er vor
das Feuer trat und den ſchweren Gußkeſſel abb dann ließ er Bi
das heiße Waſſer in die Wanne rinnen. 1
Danach ſprach der Fürſt: \
„Nun — ſchieß los! Was ſagt der Reichart?“ 1
„Ja — Fürſtlichen Gnaden, er ſagt eben nichts. Er figt halt drauß un
wartet und ſchläft derweil.“ N 122 N
„Nun, da laß ihn fo lange noch ſchlafen!“ erwiderte der Markgraf und wi
ſchwieg. Er ſchaute in die filberne Helle des Fenſters, in der die gefpiegelten
Kaminflammen erblaßten und einſchwanden, und dachte nach. Hauptmann
von Schornſtetten und Leutnant Weinſchenk waren tüchtige Leute und ließen
nicht mit ſich ſpaßen: hatten fie vielleicht gleich die Rädels führer gepackt und 1
in den Turm gelegt und brauchten nun mehr Leute gegen die rabiate Stadt??
Oder — hatten ſie es falſch gemacht —?“ 72
„Anziehen!“ befahl er, indem er ſich im Seſſel auftichtete.
Specht beeilte ſich und redete kein Wort mehr.
Ernſt Friedrich ſchritt ungeduldig durch die Wohngemächer nach Be
Stube, wo er zu arbeiten pflegte, riß dort das Fenſter auf und atmete erregt
die friſche Morgenluft ein. Dort hinter der Höhe, wo die verzogenen Wolken
ſo rot durchglüht waren, dort hinten lag die widerſpenſtige Stadt! Er
ſchüttelte die Hand nach der Richtung und murmelte: a 1
„Euch krieg ich noch!“ 1 0 1
Er ging zum Tiſche, ſchwang die ſchöne Meſſingglocke und ſtellte ſich dann 8
mit dem Rücken gegen den Ofen.
Der Lakai trat ein und machte einen tiefen Diener.
„Guten Morgen, Reichart! du haft einen Brief —?“
„Keinen Brief, Euer Fürſtlichen Gnaden; der Herr Hauptmann von —
„Mache das Fenſter zu!“
Während der Diener den Befehl ausführte, ſetzte ſich der Markgraf in
den warmen Ofenwinkel, wo über zwei heizbaren Kachelſtufen ein Sitz an-
gebracht war: „Sprich!“
„Pforzheim iſt in hellem Aufruhr! Euer Fürſtlichen Gnaden Abgeſandte
find gefangen! Doktor Ebertz ift ins Württembergiſche geflohen!“
768
„Die Abgeſandten — gefangen?! Wie kommt das?“
„Weil ſie den Advokaten Ebertz, den Fuchs, zum Verhör hierher ſchicken
wollten! — Und er hat doch ſelbſt Verhör verlangt! Aber das war bloß
eine Falle, um die Herren aufs Rathaus zu locken —“
„Halt, Reichart!“ ſagte der Fürſt ruhig. „Merke dir: ich will die Wahr-
heit wiſſen, ganz ſtrikt! — nicht was du darüber denkſt! Wenn es ſich
anders herausſtellt, als du air erzählſt, dann hat der Stockknecht fufzig für
dich im Handgelenk. Alo a"
Nun berichtete der aka den Hergang leidlich genau, obſchon er der Stadt
üßbelwollte. Der Markgraf half durch Fragen nach, bis er ein klares Bild
der Vorgänge zu haben a, Dann ſchickte er den Diener nach dem
Hauptmann Gößlin.
Sobald er allein war, flieg er von feinem Sitze herunter, ging mit feinen
jehemmten Schritten heftig Durchs Zimmer, ſchüttelte die geballte Fauſt
und ſtieß hervor:
* etzt ach ich ein Ende! — Das hört auf, das hört auf! — Der
fel pol mic holen, wenn ich mich auslachen laſſe rechts und links! —
Bin ich der Herr oder bin ichs nicht! — Sind das noch Untertanen —?
— KAufrührer find fie, Rebellen! Verbrecher! Zuſammenſchießen — werd
ſicch ihnen ihr Neſt!“ Er riß die Glocke vom Tiſch und warf fie in die Ecke,
wo ſie wimmernd zu Boden fiel: „Da! — Hängen werd ich euch, einen
neben den andern! — Ja, mein Bürgermeiſter Simmerer, dich werd ich
mir langen! die Haut werd ich dir abziehen laſſen, deine treue ehrliche Haut!
— und der Kuh unter den Schwanz hängen! — Und die Offiziere daneben!
— Sind das Soldaten? — Dummköpfe —! Feiglinge —! Verräter!“
Und als er plötzlich den Hauptmann Gößlin unter der Tür erblickte, warf
er ihm entgegen:
* „Das hab ich dir zu verdanken!“
N Leuprant verneigte ſich und blickte dann den Fürſten fragend und war—
tend an.
„ Die Pforzheimer haben mir den Schornſtetten und den Weinſchenk und
die Soldaten einfach eingeſponnen!“
„Wie iſt das möglich?“ fragte der Hauptmann betroffen und dachte, nun
nichts mehr zu hemmen.
Wie es möglich iſt? Die Herren haben ſich genau ſo tappig angeſtellt,
wie es ihnen kein Menſch zugetraut hätte!“ Der Markgraf erzählte mit
bitteren Worten den Hergang und ſchloß: „Und nicht einmal in den Turm
. haben fi ſie mir den Schornſtetten und Weinſchenk gelegt! Hätten ſie mir ſie
wenigſtens eingetürmt bei Waſſer und Brot — für ihre Dummheit! Nein,
im Gaſthaus, im „Adler“ haben tie fie eingeſperrt! Hahaha —“ er lachte
gell und krampfhaft: „Haft du ſchon eins größere Unverſchämtheit erlebt,
769
einen — einen unverſchämteren Hohn?! Gib acht: fie zahlen ihnen noch
Räuſche! ſie ſpendieren ihnen noch Muſik und Weiber! Und die edlen
Herren fühlens gar nicht! Die trinken Wein und ſpielen Karten und erzählen
ſich Geſchichtchen, als lägen fie auf der Reife feſt! Wer aber wirklich ein-
geſpundet und verhöhnt iſt und nichts zu freſſen kriegt als die eigene Wut
und das eigene Gift, — das bin ich! — — — Das ſind mir Räte und
Soldaten und Helfer! daß Gott erbarm! — — — — Ich kann doch nicht
alles ſelbſt machen! — — — Iſt das Freundſchaft, die nicht für den Freund
einſpringt!“
Das könnte ich auch fragen!“ dachte Gößlin und ſprach: „Dann dürfte
der eine Freund keine andern Ziele haben als der andere!“
„Du haſt oft genug geſagt, das Schlimmſte für ein Land und Volk ſei
Uneinigkeit im Glauben: mag ich an ihr ſchuld fein oder nicht, fie ift einmal h
da, und ich will fie ausrotten! Das ift ein wohlerkanntes, or 1
Ziel — und wir kommen ihm nicht näher!“ 10 N
„Warum willſt du in dieſem Mißlingen nicht Gottes Willen ſehen ie
„Du könnteſt mir ebenſogut raten: hänge dich auf! Haft du nicht ſch on
ſelbſt gepredigt, es ſei gottlos, in allen Dingen und Wendungen Gottes
Finger zu fühlen und ſchon das Nächſte Gott anheimzugeben und in die
Schuhe zu ſchieben?! — und ſoweit der Menſch ſehen und denken könne,
ſei er zu Wille und Tat verpflichtet! — Hier in dieſem Mißlingen fühle ich
nicht die Hand Gottes; ich ſehe immer nur die ungeſchickten Hände meiner
Helfer und muß es drum weiterverſuchen. — — — 7
Wenn ich es dir — befohlen hätte —?!“ a
Leuprant zuckte nur leiſe die Achſeln.
„Was hätteſt du getan?“ fragte der Markgraf kurz.
„Ich weiß es nicht; man kann doch nicht für jede — irre — Möglichkeit
des Lebens eine Entſcheidung bereit haben! Man kann im beſten Falle den
wohlgerüſteten entſchlußkräftigen Menſchen bereit halten, der je nach den
Umſtänden entſcheidet.“ 1
„Setze den Fall!“ fuhr der Fürſt drängend fort. „Wie würde dieſer
entſchlußkräftige Menſch entſcheiden?“ N
„Dafür genügt es nicht, dieſen Fall zu ſetzen,“ entgegnete der Hauptmann
ruhig. „Ich kann mir nicht mit einem gedachten Dolch in die Hand ſtechen
oder an einem gedachten Weine mir einen Rauſch trinken. Ich kann do
nicht mit meinen letzten unberechenbaren Schmerzen und Notwendigkeit
— ein Brettſpiel treiben!“ Er
„Redensarten!“ rief der Markgraf, wandte ſich und ſchritt erregt hin
und her. ‚Der will mich wieder am Gefühl packen! dachte er. Der will
mich wieder weich machen! Aber der Teufel hole die Gefühle und ſchönen
Redensarten! Ja oder Nein will ich haben! Schwarz oder Weiß! Für
779
mich oder wider mich!“ Doch er wollte den Freund nicht durch ſchnelle
Worte kränken und von ſich ſcheuchen: er wollte ihn durch eine wohlbedachte
Probe nötigen und zwingen; darum ſchwieg er.
Aber dieſelbe Schonungsloſigkeit, ja, augenblickliche Feindſeligkeit machte
ſich Luft, als er nun dem entlaſſenden Auftrage, den Fall zu bedenken, noch
hart hinzufügte:
„Und der Jacobea bringe bei, daß ich ihr nicht helfen kann. Sie muß
nach Baden! Ich muß Luft kriegen! Es wird mir zu viel. Ich habe nur
zwei Hände und nur einen Kopf. Sie muß halt in Gottes Namen die Zähne
zuſammenbeißen! Wir ſind keine Seifenſieder.“
Gößlin hätte ſonſt für klug gehalten, zu ſchweigen und die Beruhigung
des Fürſten abzuwarten; nun aber dachte er, ein Widerſpruch könnte vielleicht
raſcher zu der jedenfalls erwünſchten Entſcheidung beitragen, und er Be
„Aber auch Prinzeffinnen find Kinder. Wir wiſſen, daß ; Peingeff n Ja⸗
coben fein erwachſenes Alter erreichen wird, noch ein paar Jahre, wenn es
boch kommt! Es wird hart für fie fein — in fremder Umgebung. Schicke
5 Y enigftens auch mich nach Baden, da du ja doch mit meinen Dienften
unzufrieden biſt!“
Ernſt Friedrich ließ aber nicht leicht los, was er noch nicht hergeben wollte;
in verbindlichem Tone erwiderte er:
„Ich danke dir. Darüber ein anderes Mal!“
Der Hauptmann machte ſeine Verbeugung und verließ das Gemach.
„Das nennt man Freundſchaft, —“ murmelte der Fürſt hinter dem ab—
8 gehenden drein, „wenn der Herr dem Diener nicht zu befehlen wagt! —
5 Den Teufel!“
Gößlin dachte, indem er langſam den ſonntäglich ſtillen Korridor hinſchritt:
Er verzeiht mirs nicht; denn er verſteht es nicht. Eines Tages werden ihm
N dreißig Jahre — — nichts mehr bedeuten gegenüber dem Augenblick, für
N. den ich mich ihm entziehen muß. Und er wird ſich nicht träumen laſſen,
* daß er damit zu mir ſagt: häng dich auf! Aber — dem Kinde macht ers
ja nicht beſſer! Wir haben bei ihm einen Stein im Brett, ſolange wir ein
Stein auf feinem Brette find!‘
Als er im Seitenflügel an die Wendelſtiege kam, die zu feinem Zimmer
emporführte, vernahm er Schritte von Vorausgehenden, und in ſeinem Vor—
zimmer begegnete er einem Lakaien, der ihm meldete, der Apotheker Grieninger
warte drin auf ihn. Der Hauptmann befahl dem Diener, für alle Fälle die
Anweſenheit des Pforzheimers dem Fürſten zu melden, und betrat fein Gemach.
Grieninger ſtand mit geſpreizten Beinen mächtig am Fenſter, ſah hinaus
und biß gerade in einen Apfel; den Eintretenden hörend drehte er ſich um
und ſagte:
„Natürlich! Nicht einmal einen Aofel kann man in dieſem Neſt ruhig
771
eſſen! Zu frühſtücken, wie mans nach dem Weg verdient hat, — nicht die
Möglichkeit vor Fragen und Vermutungen, Beſſerwiſſen und Drohungen
bis ins vierte und fünfte Glied! Ich hab mein ſaures Leberle im Schwanen
dem Knecht geſchenkt und den ſchönen Schoppen hinuntergegoſſen wie f
Brunnenwaſſer und bin durch. Ich hab gedacht, ich will verſuchen, bei dir f
wenigſtens einen vernünftigen Bericht anzubringen. — Inzwiſchen, wie du
ſiehſt, hab ich gleich geſchnüffelt, ob du nichts Eßbares haft —“
„Setze dich! Was führt dich nach Durlach?“
„Eigentlich — — asa foetida — — cynamomum — arsenicum — —
und noch ſo ein paar lateiniſche Namen; aber die hab ich jetzt auf fpäter
verſchoben. — Wenn man ſolches Zeug reden hört, dann vergehen einem
die Gedanken an Arſenik oder Süßholz! — Sag einmal, Gößle, kannſt du
nicht dafür ſorgen, daß ein wenig mehr Vernunft in unſere Sache kommt?!
Man weiß nämlich wirklich nicht mehr, was man denken ſoll! Erſt ſchickt
man uns den Münſter mit feinen Traktätlein und Pſalmen und Simpel⸗
haftigkeiten — nun, das war noch ein Jocus. Aber dann nimmt man uns
die Pfaffen weg, drei Wochen lang: das iſt doch, um Lämmer in reißende >
Tiger zu verwandeln! Die Pforzheimer machen ſich aus ihren Pfaffen nicht
mehr als andere Leute auch; aber haben wollen fie fie ebenſogut. Was fi 99
man auch Sonntags ohne ſie anfangen, ſeitdem die Kalviniſten nur noch die | 50
Langeweile für heilig halten! Da die Pforzheimer nun wirklich wild werden,
gibt man ihnen die Pfaffen wieder; droht aber fortwährend mit Schwert 1
und Brand und Halsgericht und verlangt Rädelsführer heraus, wie wenn
die Pforzheimer angefangen hätten und wie wenn ſie Lumpenhunde wären!
Der Herr Markgraf weiß ja offenbar nicht, mit wem er es zu tun hat: die
Leute laſſen ſich jetzt eher zuſammenſchießen, als daß ſie nachgeben! Und
um was? — um einen Hafenkäs! — um den Bartſchnitt der Pfaffen! —
Heiliger Sankt Veit, weck mich bei Zeit!“
Erſt nach einer Weile ſagte Gößlin:
„Lieber Grieninger, ich kann dir eigentlich gar nicht antworten. Deine
Betrachtungsweiſe iſt mir tief zuwider: durchaus zuwider! — Hafenkäs — N
allerdings! gerade darum handelt es ſich! nämlich, ob die Pforzheimer ein
Hafenkäs ſind, der ſich nach jeder — beliebenden — Richtung breittreten
läßt, oder ob ſie Männer von Blut und Eiſen ſind, für die es einen Punkt
gibt, wo fie nicht anders — wollen, ums Verrecken nicht, wie ihr fo ſchn
ſagt! Darum geht es! — — Gewiß, die wandelbaren vergänglichen Dinge
groß und wichtig nehmen iſt ein Selbſtbetrug. Aber — wie dem Kinde das
Spielzeug und das Spiel, ſo ſind uns dieſe Dinge gegeben, und nur ſie, damit
wir uns an ihnen üben und ſtärken und im Entſcheidungsfalle nicht Quark
ſind, ſondern ganze Menſchen! Das Wichtige iſt wirklich nicht Luther oder
Kalvin oder der Papſt in Rom hinten und ihr Hader: das Wichtige biſt
5
7
772
du, bin ich, iſt der Pforzheimer, jeder einzelne, der eben nur an dieſem höchſt
irdiſchen Stauk und Streit fein eigenes unberührbares, unverwüſtliches
Weſen erkennen und offenbaren kann. Für dieſen Moment leben wir. Er
iſt die Vollendung, die Wiedergeburt, das Weltgericht, die Auferſtehung,
die Vergottung —, wie man es nur immer genannt hat!“
Der Apotheker nickte lächelnd mehrmals mit dem Kopf und ſprach:
„Na — du 57 wieder einen ſchönen Stuß! — aber du biſt ja ſchon
immer ſo ein — Myſtiker geweſen.“
Der e mußte lachen. Dann ſetzte er hinzu:
„Nun — ich wollte alſo ſagen, daß ich dieſen Streit und die Haltung
der Bürger in ihm für wichtig und ernſt halte, daß mir bei ihrer Entſchieden⸗
heit das Herz ſchlägt und jeder Blutstropfen ſtolz iſt; — daß ich mich
demnach auch nicht für die geeignete Perſon halte, beim Markgrafen etwas
auszurichten. ER
Aber jetzt nach dieſen großen Einleitungen lege los und erzähle mir haar⸗
klein, wie es geſtern hergegangen iſt!/
Dazu kam es nicht mehr; ein Lakai trat ein und beſchied den Apotheker
mter zum Fürſten.
erflucht!“ rief Grieninger aufſpringend, „darauf bin ich nun aber
rklich nicht vorbereitet!“
1 „Schwätz nicht, Grieninger!“ entgegnete Gößlin lächelnd, „Leute wie du
ſind immer vorbereitet.“
„Wie ſeh ich denn aus?“ fragte Michel, nach einem Spiegel umbers
ſchauend. 8
„Halt ſchön!“ ſagte Gößlin mit Ausdruck.
Der Apotheker blickte in den Spiegel, ſchob den Hut zurecht, ſtrich den
Bart und ſagte zum Hauptman:
9 „Nun, wir ſehen uns noch!“ dann ging er.
575 Er beeilte ſich nicht, er ſchritt langſam und gemeſſen, er blieb auch einmal
aan einem Fenſter ſtehen und fragte den Lakaien, wie oft das Gras im
N vs Schloßhof geſchnitten werde.
5 Der Markgraf kam ihm im Zimmer entgegen, leicht und frei, reichte ihm
nit dem unbekümmertſten Lächeln die Hand und ſprach:
| „Das iſt ſchön, 3 Wir ſehen uns 4 00 Aber ich denke mit
. Magazin einbrachen, une die Taſchen und Kappen mit Pfefferminzküchlein
und Bärendreck und Süßholz und Johannisbrot füllten. Ich hatte am
andern Tag das Abweichen, fo daß in die Apotheke um ein Tränklein geſchickt
werden mußte; mein Hofmeiſter lehrte mich bei dieſer Gelegenheit das fran—
zöſiſche Sprichwort: ce qui vient de la flüte, retourne au tambour, —
obſchon es wohl nicht genau paßte. Seine Sprichwörter paßten nie recht.
*
el
-
22
Na — das war vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren. Und — wie geht es
der Frau Mutter? Immer noch geſund und vergnügt? — eine prächtige
Frau!“
„Ich danke Euer Fürſtlichen Gnaden, es geht — unbeſchrien — gut!“
erwiderte Grieninger, dem es ganz warm ums Herz wurde, „— immer fo,
daß es noch beſſer ſein könnte.“
„Und — was macht ihr ſonſt für Sachen in Pforzheim?“
„Ja — bei uns iſt jetzt immer was los.“
„Geſtern auch, hör ich. Wie war das denn? — Aber wir ſtehen ja noch.“
Ernſt Friedrich ſetzte ſich mit dem Rücken gegen das Fenſter und wies dem
Apotheker einen Platz gegenüber an. „Wie war das nun eigentlich? Bitte,
keine Rückſichten!“
Und Grieninger erzählte die Ereigniſſe, die eine kleine Probe für ſeine
Mitbürger und eine Demütigung für den Fürſten waren, erzählte ſie mit
leichten vergnügten Worten und ſchloß:
„Es ging eigentlich alles ganz folgerichtig zu. Hätte mir der Hauptmann
von Schornſtetten im einzelnen geſagt, was er vorhabe, ſo hätte ich ihm gan
prophezeien können, was erfolgen würde.“ N 2
„So?!“ warf der Markgraf, dem der überlegene Ton mißfiel, kurz are
„Und wenn ich jetzt zum Beiſpiel den Ratsherrn Grieninger in den Boſler.
turm legte, ſo als Gegenſtück zu meinen Abgeſandten, — was würde denn
darauf erfolgen?“
„Das würde meinen lieben Mitbürgern einen Heidenſpaß machen! Sie
würden ſich ihre Arzeneien halt vom Biſſigkummer geben laſſen und denken:
wenn der Markgraf die ins Loch ſteckt, die ihm das Wort reden, dann brauchen
ſchon wir uns nicht mit ihrem Dreinreden zu plagen! — Die ließen mich
ſitzen bis zum Lämmerlestag! — Ich bin nämlich —“ ſetzte er felbftgefällig
hinzu — „in dieſem Handel etwas anderer Meinung als die meiſten.“
„So —? Es wäre mir intereſſant —!“ ſagte der Fürſt in aufforderndem
Tone.
Grieninger war geſchmeichelt und ſprach:
„Ich habe halt von Anfang an geſagt: Ruhig Blut! Regt euch nicht
auf! nehmt nicht gleich alles auf die Ehre! und ein klein bißchen Humor,
um Gottes willen! ein wenig Geduld! Seht euch die reformierten Predigen
doch erſt einmal an, ehe ihr fie abweiſt! So ſchlimm werden fie nicht fein!
Es wird nichts fo heiß gegeſſen, wie es gekocht iſt, und wenns ein reformierte
Prädikant wäre! Neue Stiefel find nie angenehm; man muß fie erſt aus-
treten! und von alten Schuhen trennt man ſich natürlich nicht gerne, weil
fie ſich fo ſchön nach dem Fuße geformt haben und man fo bequem drin
geht: aber darum kann man doch nicht ewig die alten tragen! Anderwärts
ſind ſie ja auch reformiert und es bringt ſie nicht um, ſie leben und ſind genau
774
fo gut und ſchlecht wie wir. Der Herr von Münſter ift doch auch ein ganz
umgänglicher luſtiger Herr, man muß ihn nur zu nehmen wiſſen, — und
wenn er gelegentlich einmal ungeſchickt zutappt, — das paſſiert nicht nur
den Reformierten! Und unſere eigenen Pfaffen — ſeit ſie ſuspendiert waren,
haben ſie ſich ja muſterhaft korrekt und friedlich gehalten und ſich auch nicht
der heimlichſten Andacht oder der kleinſten geiſtlichen Handreichung ſchuldig
gemacht und der verhängten geiſtlichen Not und Teuerung keinerlei Abbruch
getan, die Schlauberger! — ſonſt aber ſind unſere eigenen Pfarrer doch
gewiß auch keine Engel, ſondern Streithähne! Pfaffen wollen ihren Willen
haben! Da dreh ich in der Wahl die Hand nicht um! Hüben Pfaffen,
drüben Pfaffen! — gehupft wie geſprungen! Und man kann doch nicht ver—
langen — ſag ich immer — daß der Markgraf zwei Seminarien unterhält
und zweierlei Geiſtliche ausbildet, die einander dann in den Haaren liegen!
welch ein Unſinn! Und überhaupt und vor allem geht es zu tief ins Geld!
nichts iſt klarer! Er muß doch verſuchen, alle unter einen Hut zu kriegen!
Und das ginge auch, ganz gut — “ Grieninger wies mit einer Handbewegung
allen Widerſpruch ab — „man müßte nur ein bißchen suaviter in modo
verfahren! Es ginge ſchon! Da ſitz ich geſtern vor acht Tagen im oberen
Bad in meiner Wanne und langweile mich; ruft der Sägmüller vom andern
Ende her den Salzmeſſer an, der neben mir in feiner Wanne liegt: du, Salz—
franz, was iſt das eigentlich, Prädeſtination —? — Ja, ſagt der, wenn ich
das wüßt! — Weiß keiner, was das iſt? ſchreit der Sägmüller. S muß
doch was bedeuten! ſie ſchwätzen doch allfort davon! — da ſag ich: daß es
vorherbeſtimmt iſt, ob du gut oder bös, ob du ein Taugenichts oder tüchtiger
Kerl wirſt und ob du in den Himmel kommſt, — das heißt man Prä—
deſtination, ungefähr. — No — das iſt eine alte Muck! meinte der Säg—
müller. Wenns weiter nichts iſt! ich hab geglaubt, es ſei eine ganz neue
Erfindung. Das iſt doch ſo klar wie Brunnenwaſſer! warum händeln ſie
denn?! — Wahrſcheinlich, weil Händel ſein müſſen, ſag ich. Aber du
weißts jetzt, du kannſt jetzt ruhig hugenottiſch werden und Frieden machen!
— Halt, halt, Alterle! rief er; ich hab zeitlebens nicht anders gedacht und
bin immer gut lutheriſch geweſen. Daran liegts alſo nicht. Sie wollen einen
zu allem zwingen, was einem zuwider iſt! Da iſt noch das Abendmahl
und die Liturgie und die Orgel und was weiß ich! Warum ſoll ich vor Gott
nicht knien, — ich muß doch vor jedem hohen Herrn den Bauch einziehen
und dienern bis auf den Boden?! Warum ſollen in der Kirche keine ſchönen
5 1 frommen Bilder ſein, bei denen einem das Herz aufgeht — und manchmal
auch ein Licht!? Warum ſoll man wie in einer Kalkgrube ſitzen beim Gottes—
dienſt! — Ach, ſag ich, das iſt ja alles nicht ſo ſchlimm gemeint. Wenn
ihr den Markgrafen bittet, ſo läßt er euch eure Orgel; er weiß, daß ihr zur
Orgel nicht tanzt! und eure Bilder läßt er euch auch; er hat ſelbſt gern was
„ A a 6Ane
7.24
Schönes und erbaut ſich dran! Ihr müßt ihn nur ruhig drum bitten; nicht
gleich wüſt tun, als ging es euch an den Kragen! — So ſchwatzte Grieninger
noch eine gute Weile munter drauf los. Wäre das Geſicht des Markgrafen, der
wohlbedacht das Fenſter im Rücken ließ, nicht ſo tief beſchattet geweſen, dem
Apotheker hätte die ſtarre Miene des Fürſten und manchmal ein Zuſammen⸗
preſſen der Kinnladen auffallen müſſen; ſo aber ließ er ſich unbekümmert aus.
Ernſt Friedrich ward von Grund auf erregt. Indem er anhörte, wie
dieſer behäbige Bürger mit breiten vergnügten Worten nicht nur den Glaubens⸗
trotz ſeiner Mitbürger, ſondern auch den brennenden Bekennerwillen, die
Sendung des Fürſten entwertete, da begann es in ihm zu kochen. Was von
geduldigen und milden Gedanken noch in ihm geweſen war, verging, und
alle Leidenſchaft, aller Zorn, alle unnachgiebige Härte rückte zufammen um
das angegriffene Heiligtum ſeines Lebens. Er fühlte ſich ſeiner ſo wenig 3
ſicher, daß er ſchweigen mußte, um Ruhe vortäuſchen zu können. Er hörte
ſchließlich gar nicht mehr auf des Apothekers Worte. War es überhaupt
möglich, daß dieſer glaubte, was er ſprach —? daß er im äußerſten Ernſte
wirklich Bagatelle ſah, Eigenſinn und Mißverſtändniſſe?! Redete er vielleicht
nur ſo, um den Fürſten zu übertölpeln —? — Der Markgraf mußte de
denken, daß auch der Hauptmann Gößlin gelegentlich verſucht hatte, 1
Sache leicht zu nehmen, mit Humor zu behandeln: — auch ein Pforzheimer! 1
freilich eher auf ſeiten der Bürger als dieſes Giftmiſchers da! Nein —
gleichgültig, was ſie verſchiedenes dachten und ſagten: Feinde ſeiner Kraft /
und feines Willens, Gegner feiner Sendung, alle auf einer Linie! Alle
mußte er züchtigen, niederwerfen!
Und während Grieninger ſchwatzte und ſchwatzte und ſich mit dem andäch⸗
tigen Zuhörer ſchmeichelte, ſchoß in Ernſt Friedrichs Kopf der Plan zuſammen,
wie er die widerhaarige Stadt beruhigte und ſicher machte, im gegebenen
Augenblick überfiele und erwürgte — und zugleich feinen Freund zwänge.
Grieninger machte eine Pauſe und weckte dadurch den Fürſten aus ſeinen
Gedanken. 5
„Und dieſer Doktor Ebertz —“ fragte da der Markgraf, um ſeine Un⸗ 85
aufmerkſamkeit zu verdecken, „— was iſt das eigentlich für ein Heiliger?! Mm
„Ebertz —?“ rief der Apotheker lachend, „wirklich ein Heiliger! Der
harmloſeſte Kerl der Welt! — ein Kind! ein Kind! Wenn man ihm fi 10
du biſt der Retter der Stadt, fo glaubt ers! Er hält ſich wirklich für gefä
lich. Ha haha — und war ſo froh, daß wir ihn über die Grenze ſchoben!
Der Markgraf hatte genug. Der Mann da ließ ihm keinen anſtändigen
Gegner. Freilich um ſo dringender not, den Meiſter zu zeigen! 1
Ernſt Friedrich hob ſich langſam und ſchwerfällig aus feinem Seſſel, er
ſcheute ſich diesmal nicht, ſeine Unbeweglichkeit zu zeigen, er übertrieb ſie
ſogar; er richtete ſich auf und ſtreckte ſich ächzend.
776
„Es ift mir ſehr wertvoll, lieber Grieninger, die Sache auch einmal in
anderer Beleuchtung geſehen zu haben, wirklich, äußerſt wertvoll. Ich danke
ſehr. Ich werde der Stadt ſchreiben — ich werde nächſter Tage der Stadt
ſchreiben, daß wir die Mißverſtändniſſe nicht weitertreiben wollen! Wir
wollen die Sache auf ſich beruhen laſſen, bis mir einmal mein körperlicher
Zuſtand, der ſo gegen den Winter hin immer ſehr mangelhaft iſt, — bis
der mir erlaubt, ſelbſt nach Pforzheim zu kommen und die Frage ins reine
zu bringen. Ohne den iöblichen Eifer der Mittelsperſonen irgendwie tadeln
zu wollen, — es ſind verfchiedene Ungeſchicklichkeiten mit untergelaufen,
die böſes Blut gemacht haben, und die ich ſehr, ſehr bedaure. Bei perfönlicher
— Verhandlung wird das — anders fein! Alſo, lieber Grieninger, meinen
Dank! Meinen Gruß an die Frau Mutter! Und der jungen Frau — ich
babe gehört, daß das Junggeſellentum ein gutes Ende gefunden hat —
der jungen Frau meinen Glückwunſch!“
Er reichte dem beglückten and tief dienernden Apotheker die Hand und
entließ ihn mit huldvollem Lacheln. Als er ihn dann das Vorzimmer hatte
verlaſſen hören, überließ er ſich heftigem Hin- und Herſchreiten. Nach und
nach wurde ſein Schritt mäßiger. Schließlich nahm er Notiztafel und Stift
4 nd begann ein verſöhnliches Sendſchreiben an den Pforzheimer Magiſtrat:
„ iebe Getreue! Uns jammert der armen, unverſtändigen und verblen—
deten Leute zu Pforzheim, daß fie dieſen neuen Tumult um des ehr- und
eidvergeſſenen Peter Ebertz willen angefangen — — —“
er Apotheker Grieninger vergaß, noch einmal den Hauptmann Göß—
lin zu beſuchen; aber er ließ ſich nichts entgehen, was ſo ein Sonntag
voll Beſuchen und unerwarteten Begegnungen an Behagen und Freuden
bringen konnte, er gönnte ſich im Wirtshaus einen beſſeren Tropfen als ſonſt
ſchon und griff ungewöhnlich tief in den Beutel, als er dem welſchen Händler,
den er hehlings aufſuchte, einige Endchen Spitze für Frau und Mutter ab—
klaufte; aber er gab ſich heute nicht hin wie ſonſt. Sein Geſchäft machte er
Fi raſch und großartig ab und bei allen Geſprächen und Ereiferungen ſaß er
heiter und gelaſſen dabei, ließ andern das Wort, ſparte mit dem eigenen
e Witze, nicht aber mit freundlicher Anerkennung des fremden, benahm ſich
| ganz wie ein Mann, der fein © e im Trockenen hat, während er die
ndern ſich noch plagen fiebt. Von der Abſicht, in Durlach zu nächtigen,
war er gleich nach dem Befuch auf der Karlsburg wieder abgekommen, die
Freude trieb ihn heim, die höhere Geltung, in der er ſich fühlte, verlangte zu
Hauſe ausgenoſſen zu werden. Er ließ es ſich was koſten, gegen Dämmerung
5 noch ein Geleite auf die Fahrt zu bekommen.
7 Seine Frau dagegen konnte, als er bei Dunkelheit nicht zurückkam, ruhig
annehmen, er werde die Nacht ausbleiben, und nutzte, nachdem fie die Tage
en
90 727
her ungewöhnlich früh herausgemußt hatte, nun die Gelegenheit, ſich zeitig
ſchlafen zu legen. Da ſie bei ſich ſelbſt nicht den Verdacht zulaſſen wollte,
als gäbe ſie etwa in Gedanken nach, ſo begnügte ſie ſich auch diesmal mit
der wohlverbarrikadierten Hälfte des Lagers und ſchlief nach einigem Kopf⸗
ſchütteln und Seufzen über die Männer feſt ein.
Als der Apotheker den Markt herabfahrend am „Adler“ vorbeikam, lockte
ihn die Helle und das Stimmengewirr in der Weinſtube, und er war einen
Augenblick verſucht, hineinzutreten und zu erzählen, wie er dem Markgrafen
auf den richtigen Weg geholfen habe und wie nun die Not ein fanftes Ende
nehmen werde; er dachte aber, das würde ſich morgen, ſo ganz geſchäftsmäßig,
noch beſſer machen, und überdies glaubte er ſeig reude zunächſt ſeiner Frau
und ſeiner Mutter ſchuldig zu ſein.
Das Haus dunkel und nur noch den Gehilfen wach findend, befliß er ſich
größter Stille in feinen Bewegungen, begnügte ſich, da Pela den Speis⸗
kammerſchlüſſel hatte, mit Brot und Obſt und einem Krüglein Wein, das
er mit Biſſigkummer unter Geſprächen über ſeine Beſorgungen und die
Pforzheimer Geſchehniſſe des Tages leerte. N
Rückſichtsvoll zog er die Schuhe ſchon auf dem Gang aus und betrat
ſtrümpfig das Schlafzimmer. Pela wachte nicht auf, er konnte vor ſie hin⸗
treten und beim ſchwachen Schein des Nachtlichtes betrachten, wie fie dalag
und wie die Falten der Decke auf ihrem gleichmäßig atmenden Leibe ſich
bewegten. Er hatte ſie noch nicht ſchlafen ſehen. Der hilfloſe Ernſt ihrer
Züge rührte ihn, aber aufatmend ſchüttelte er den Kopf und dachte: nein,
meine Liebe, dafür bin ich zu alt; es gilt! Er wandte ſich ab und entkleidete ſich.
Als er ſich aber mit der unverftellten Schwere feines Körpers in feiner
Abteilung des Bettes niederließ, da fuhr Pela aus dem Schlaf und ſchrie:
„Was iſt? Was iſt?“
„Verzeih! ich bins bloß.“
„Was willſt du denn! Was iſt denn?“ fragte ſie wieder, immer noch
ganz wirr von ſchwerem Schlafe.
„Ich geh zu Bett, weiter iſt gar nichts. Jaſo —!” ſetzte er, ſich beſmnend⸗g
hinzu: „— einen ſchönen Gruß vom e
„Ach —“ ſeufzte ſie, „die guten Witze immer —! — wenn man ſchlafe
möchte! — Jaſo, du kommſt von Durlach! Ich bin noch gar nicht b
Sinnen. Du wirſt recht hungrig ſein und nichts gefunden haben!“ Sie
ſetzte ſich aufrecht, bereit, ihm noch etwas zu holen. g
„Alles beſorgt! Danke ſchön.“
„Ich habe dich nicht mehr erwartet,“ fing fie zur Entſchuldigung an;
„auch die Mutter meinte, du kämeſt nicht me br. Alles gut gegangen?“
Er berichtete, beſtellte Grüße von Bekannten und Verwandten und ſetzte
hinzu:
10
= x
2
*
778
„Und — wie gejagt — — der Markgraf läßt dich auch ſchön grüßen und
dir Glück wünſchen — zu mir natürlich.“
„Ach, ſchwätz —“ entgegnete fie mit geringſchätzigem Seufzer.
„Ob dus glaubſt oder nicht: er hat mir die Hand geſchüttelt, der Mark—
graf, und hat geſagt: adieu, lieber Grieninger, und einen ſchönen Gruß an
die junge Frau, ich wünſch ihr Glück. Ich erinnere mich noch gut an fie
vom großen Schügenfeft her, da war fie das ſchönſte Mädchen beim Feſt!“
Der Stolz bedrängte ihr den Atem; aber ſie hauchte über die Schulter
und die Zwiſchenwand hinweg:
„Schwindler —:! “ 2
Michel blieb behaglich liegen und brummte:
„Ja, — iſt fo! und er hat ganz recht.“
Vw Wie kommſt denn du — n Markgrafen?!“ fragte ſie, und es ſollte
9. ſehr ungläubig klingen. ER
Vwʃv1V⸗Nun — er hat mich zu ich — gebeten! Iſt denn das ſo was Rieſiges?
A Raſendes? Er iſt doch auch nur ein Menſch wie wir und kann nicht recht
* ge en, wenn er 's Zipperlein hat.“
ie käm er denn dazu! Was ſollt' er denn von dir wollen?“
as — ? — Er wollte über die Pforzheimer Händel einmal die An⸗
| ur eines vernünftigen, ruhigen Menſchen hören. — Na — und die hat
er zu hören gekriegt. Es war übrigens fehr gemütlich, wir ſaßen zuſammen,
wie wean ich mit deinem Vater zuſammenſitze. Er iſt überhaupt ein ſehr
liebenswürdiger Menſch, der die Wahrheit vertragen kann, durchaus nicht
der Hitzkopf und Zornnickel, den fie immer aus ihm machen. Ich hab manch⸗
mal gedacht: jetzt verbrennſt du dir aber die Zunge! — keine Spur! Er
| war ſehr nett. Ich hätte nur manchmal fein Geſicht ſehen mögen; aber s
N war zu dunkel.“ Und ruhig auf dem Rücken liegend gab Michel ſeiner Frau
\ einzelne Proben feiner politiſchen Kunſt und ſchloß: „Und das hat ihm
offenbar eingeleuchtet. Er ſagte wenigſtens, es ſei ihm ſehr wertvoll, mich
gehört zu haben, er ſei mir ſehr dankbar, er glaube nun auch, daß die Sache
Pute anzufaſſen ſei. — Toll, was aa 2 einen Herrn, der im Grunde
*
IE
N
X ja ſchon gemeldet 2 5 4
WW6d Wie denn? icy habe vorhin gar nicht recht zugehört; ich dachte, es fei
Unſinn.“
SGrieninger wiederholte es geduldig und vergaß auch nicht, was er vom
ſchönſten Mädchen hinzugeſchwindelt hatte.
Und das war natürlich für Pela das Süßeſte. Aber auch alles andere
erfreute ſie und machte ſie ſtolz, und ſich aufrichtend ſagte ſie über die
Scheidewand hinab:
*
779
g
ai
„Du bift doch ein ganzer Kerl! Komm, da muß ich dir einen Kuß geben!
Haſt mir überhaupt noch nicht einmal guten Abend geſagt!“
Michel ſetzte ſich aufrecht.
Pela ſtreckte ihre blanken Arme hinüber, umſchlang ſeinen Hals und küßte
ihren Mann zärtlich. Und von der Zwiſchenwand behindert, die hart und
kühl gegen ihre Bruſt drückte, ſagte ſie zwiſchen zwei Küſſen und im Tone
des Verſehens:
„Tu doch das Brett weg!“
Grieninger ergriff es gelaſſen, rüttelte ſachte daran und brummte:
„Ja, ich verſteh mich auf ſo Sachen ni Ich werde morgen den
Schreiner kommen laſſen —“
Ehe er noch ausgeſprochen hatte, erklang die Nachtglocke. Er ſprang auf
und zum Fenſter, ſprach einige Worte hinab, fuhr dann in den Schlafrock
und verließ mit den Worten:
„Es iſt gleich geſchehn!“ die Stube.
Pela ſaß noch da und ihre Arme, denen ſich Michel ſo plötzlich entwunden
hatte, hingen troſtlos über die Scheidewand hinab. Dann zog ſie die Arme
zurück und faßte das Brett mit den Händen —. Kopfſchüttelnd ließ ſie es
wieder los, legte den gebogenen Arm über die Brettkante und den Kopf auf
den Arm —: plötzlich fprang fie haſtig auf, lief um das Bett herum um
legte ſich in Michels Abteilung. 5
Da kam Grieninger auch ſchon wieder und ſagte noch unter der Tür:
„Biſſigkummer iſt noch auf.“
Als er aber auf das Bett zutrat, rief er:
„Ja was iſt denn das!“ und blieb ſtehen.
Sie hatte die Augen zu und lag mäuschenſtill.
Er lachte hinaus; der ſchlaue Einfall gefiel ihm.
„Da bleibt mir ja nichts übrig —!“ ſagte er, hob das Brett aus und
ſtellte es hinter den Schrank.
„Es heißt: der Geſcheiteſte gibt nach,“ brummte er auf dem Rückweg;
„ich glaube, diesmal ſtimmt es nicht.“
Letztes Kapitel 64
. meldete dem Bürgermeiſter und Rat der Stadt die Sinnes⸗
änderung des Markgrafen in beſcheidener Kürze, über ſein eigenes
Verdienſt ſprach er klüglich nur, was ihm zur Begründung unerläßlich
ſchien, und er erntete dafür, wie er doch nicht erwartet hatte, Lächeln und
Achſelzucken. Dann kam der Brief des Fürſten und beſtätigte des Apo⸗
thekers Worte, brachte eine Wendung, die ja aller Wunſch war, vermochte
aber auch nicht, den gewitzigten Leuten jeden Argwohn zu nehmen: es konnte
ja alles ſo gemeint ſein, wie zu leſen ſtand; des Markgrafen angekündigter
780
er
7 A EEGBDERT LT
Beſuch, der erſt im Frühjahr erfolgen follte, blieb immerhin noch abzu—
warten. Als allmählich bekannt wurde, der Fürſt ſcheine gegen ſeine Räte
und Helfer bei dieſem Bekenntnisſtreite ſehr ungnädig geſtimmt zu ſein und
behandle ſie mit auffallend gleichmäßiger Kühle, da wuchs in Pforzheim
doch das Vertrauen in ſeine Abſichten, zumal er der Stadt gegenüber durch—
aus keine übermäßige Nachgiebigkeit zeigte und zum Beiſpiel den Super—
intendenten Ungerer, als den Urſächer des Handels, nicht wieder beſtätigte,
ſondern durch einen neuernannten Superintendenten erſetzte. Man beruhigte
ſich alſo, behielt aber die in den letzten Monaten geübte Wachſamkeit als
wohltätige Gewohnheit bei. Man mochte es nicht glauben, daß ſich der
Nackte Mann für nichts und wieder nichts verzeigt haben ſollte.
Der Markgraf ſelbſt ſprach nicht über den fehlgeſchlagenen Bekehrungs⸗
verſuch und wich jeder Berührung desſelben wie einem ſchlechten Geruche
aus. Das regneriſche Wetter hielt ihn im Zimmer, und da er ſich vorſichtiger
in acht nahm und pflegte, fo verbreitete ſich die Meinung, er ſei dies mal
härter von Schmerzen heimgeſucht als ſonſt. Er beſchäftigte ſich unabläſſig
mit den Angelegenheiten der Maͤrkgrafſchaft Baden-Baden, die infolge der
einſtigen Straßenräubereien des Markgrafen Eduard Fortunatus immer
noch vom auswärtigen Handel und Wandel gemieden wurde und ſich nur
langſam aus der wirtſchaftlichen Zerrüttung erhob. Er las viel in kalviniſchen
Bekenntnisſchriften, doch ohne wie ſonſt ſeine Gelehrten und Geiſtlichen zu
Rate zu ziehen. Häufig, wenn er allein ſaß, rief er ſich die Jacobea ins
Zimmer und ließ ſie bei ſich ihr Weſen treiben. Da er über ihre Zukunft
noch keinen endgültigen Entſchluß kundgegeben hatte, ſo ſah es bald aus, als
wollte er ſie noch beſonders deutlich ſeine Liebe fühlen laſſen und im voraus
für die unvermeidbare Härte entſchädigen, bald auch, als ſei er noch nicht
entſchloſſen und gebe ſo dem Kinde alle Gelegenheit, die politiſchen Gründe
zu entkräften.
Der Verkehr mit Gößlin war ihm ärgerlich, beſchämte und empörte ihn.
Die tiefe Verſchiedenheit der Meinungen hatte ja ſeit des Fürſten Übertritt
zum Kalvinismus beſtanden, war aber kaum je zum Ausdruck gekommen,
und das Schweigen, das ſich Leuprant bei widerſprucherregenden Anläſſen
zur Pflicht gemacht hatte, war vom Markgrafen nur zu oft als Zuſtimmung
aufgefaßt worden. Nun beim Vorgehen gegen die eigene Vaterſtadt konnte
der Hauptmann den Gegenſatz nicht mehr verhehlen, es war ihm nicht ge—
lungen, auszuweichen, und er vermochte nicht einmal den würgenden Zwang,
gegen den er ſich abquälte, dem Fürſten begreiflich und mitfühlbar zu
machen. Der Mackgraf verargte ihm die Weigerung, belud ihn mit der
Schuld an dem beſchämenden Mißlingen des Vorgehens und legte ihm die
Erleichterung, die der Pforzheimer und Lutheraner fühlen mußte, als
Schadenfreude aus. Wenn er ſo im Treiben und Wühlen ſeiner Gedanken
781
auf Gößlin geriet, nahm er ſich wohl vor, ihn bei nächfter Gelegenheit Un⸗
gnade und Mißtrauen fühlen zu laſſen: ſooft er aber mit ihm zuſammen⸗
geweſen war, mußte er nachträglich inne werden, daß er es verſäumt, daß er
nicht daran gedacht, daß er ſich in des alten Freundes Gegenwart heimiſch
und leicht gefühlt, daß er ernſt und heiter, vertraulich und anzüglich mit
ihm geſprochen und in triebhaft freundſchaftlicher Fürſorge alles Störende
im Unbewußten zurückgehalten habe. Das ärgerte ihn erſt und empörte ihn
bei der Wiederholung: er fühlte da eine beſtimmende Macht, die er nicht
anerkennen wollte. Gewiß war ihm Leuprant von jeher lieb und ſchätzbar;
aber dieſe Freundſchaft durfte doch nicht zu einer Feſſel und einem Zwange
für den Fürſten ausarten! nicht in Zeiten des beſten Einverſtändniſſes, erſt
recht nicht im Momente tiefen Mißtrauens. Und doch war es gerade jetzt
nicht zu ändern! Er hatte ſchonungslos die Probe ſchon ausgedacht, die
dem Hauptmann nichts übrig ließ, als ſich bis ins letzte hinein dem Freund
und Fürſten zu eigen zu geben oder in offener Untreue ſich ſelbſt zu richten
und zu zerſtören. Dieſe Probe, nach der ſein verletzter Freundes- und
Herrenſtolz ebenſo gebieteriſch verlangte wie nach der Rache an Pforzheim,
ſie durfte nicht durch eine Ausſprache mit Gößlin aufs Spiel geſetzt werden, 4
und fo ſchwieg Ernſt Friedrich, ertrug die Beleuchtung und Luft und
Wärme einer Freundſchaft, die er verworfen hatte, und ſchluckte die manches⸗
mal aufſtoßende Schande ſeiner Heimlichkeit raſch wieder hinunter. Er
ſchonte auch ſich ſelbſt nicht. 5
Die zweite Woche des Oktobers machte dem naſſen windigen Wetten ein
Ende. Eines Morgens ſchien die Sonne, weither aus der Rheinebene
ſchimmerten die Häufer und Türme; die Halden des Turmberges waren
gelb vom welkenden Reblaub, aus den dunklen Wellen der Wälder tauchten
braune und gelbe Inſeln auf, die Wege des Parkes waren voll gelber Ulmen⸗
und fleckiger Ahornblätter. Und als der Markgraf mit ſeiner Gemahlin
ſich in einen ſonnigen Winkel ſetzte, wo das rote Laub der Rebwand ſich
kniſternd in der Hitze krümmte, da kam die ganze Kinderſchaar des Schloſſes
im Gänſemarſch vorbeiſtolziert, Blätterkränze auf dem Kopf und um den
Hals und die Schoten des Ahorns auf die Naſen geklebt, und machten mit
dieſen Gecksnaſen ſehr ernſthafte Verbeugungen; dann rannten fie davon
und lachten in der Ferne. Der Fürſt ſtreckte die Beine in die Sonne, ließ
ſichs wohlſein und ſah den einſamen ſchneeweißen Wolken zu, die in der
unendlichen Bläue verloren wie bewußte Weſen kühn ihrem Loſe zuflogen.
Das trockene ſtille Sonnenwetter hielt an, dem Markgrafen kam ſeine
Beweglichkeit, er begann Gänge zu machen, er berauſchte ſich an dn
gährenden Düften, die aus den letzten Roſen und Reſeden, aus dem welken
Laub, aus der umgebrochenen Ackererde in die ſonnige Luft drangen, er
fühlte nach der Ofenhockerei eine Vechüngung, es war ihm, als ſei er ge⸗
782
wachſen und ſchreite aufrechter und leichter und höher dahin als je. Und
alsbald überließ er ſich wieder ſeiner Raſtloſigkeit. Wenn die Gemahlin
oder der Arzt warnte, fo erwiderte er, die ſchlechte Zeit ſei ihm nur erträg—
lich, wenn er die gute nicht verloren habe. Er ging und fuhr hin und her,
er wollte überall ſelbſt fein und nachſehen, und wie ein Mann im Segel-
boot, dem nach Srübfeligem Rudern endlich wieder der Wind das Segel
füllt, nun am Steuer ſitzend ſich des Segeldruckes und ſauſenden Dahin—
pflügens freut, fo genoß er die Wonne feiner Unermüdlichkeit.
Und eines Tages fuhr er mit Gemahlin und Nichten und dem nötigen
Hofſtaat, ein ganzer Wagenzug, nach Baden, um die Bäder und die
Wärme des geſchützten Tales zu nutzen, ſolange das Wetter anhielte, zu⸗
gleich um ſelbſt nach dem Rechten zu ſehen und mit den Beamten und
Behörden zu beraten. 2
Ri“. Aber wie er ſich fo in erregender Tätigkeit und Erfriſchtheit des zäh
errungenen ſchönen Beſitzes freute und deſſen Zukunft zu geſtalten ſtrebte,
da drängte ſich ihm um fo peinigender die Erinnerung an das Mißlungene
auf und wollte nicht mehr weichen: hinter jeder Abſicht, jeder Hoffnung,
jeder Freude trat der Gedanke an Pforzheim, an die Niederlage und an die
Aufgabe hervor. Wie ein böſer Geiſt hielt ihn die Vorſtellung der Stadt
beſeſſen.
N Eines Morgens beſichtigte er die Beſatzung Badens, berechnete, was er
auf einige Tage ohne Gefahr wegziehen könnte, und fand, daß es verſtärkt
bdiucch ein Bauernaufgebot und einige Trüpplein aus Mühlberg und Durlach
genügen müßte, um die Stadt Pforzheim zu überrumpeln und dem Trotz
der Wollsämmer und Zeugweber und Flößer ein Ende zu machen.
Warum warten bis zum Frühjahr —? Jetzt gab Gott das ſchöne
Wetter und die Geſundheit! — Was brauchte Ernſt Friedrich mehr, um
ſeine Pflicht zu erkennen?! War er ſicher, daß er das Frühjahr erlebte? —
1 daß Gott den Zögerer nicht als unbrauchbar für die große Aufgabe aus dem
. Amte rief?! Ohne dem Hauptmann Gößlin das Geringſte zu ſagen, traf
2 erer feine Anordnungen, fo daß die Truppen von einem beſtimmten Tage an
wohlverſehen jedem Befehle bereit ſtänden.
a Dann, obſchon die Sonne noch immer das Tal mit untrübbarer Wonne
füllte und wie ein leichter Zauberrauch der Herbſtduft über dem Gold der
Hänge und dem Schwarzgrün der Höhen ſchwebte, nach vierzehn Tagen
befahl der Fürſt ebenſo unerwartet wie die Herreiſe nun die Rückkehr nach
Durlach.
Da betrieb er ſtill ſeine Vorbereitungen weiter.
Gößlin merkte, daß etwas ihm Unbekanntes im Gange ſei; er war aber
zu ſtolz, nachzuſpüren, wo er ſich übergangen fühlte, und wurde darum nicht
wenig überraſcht, als Ernſt Friedrich gegen Allerheiligen zu ihm ſagte:
5 783
„Wir reiten morgen abend nach Pforzheim. Ich muß da endlich reinen
Tiſch machen. Willſt du die morgen hier zuſammenkommenden Truppen
auf ihre Bereitſchaft hin muſtern, zugleich auch deinerſeits die Meinung
verbreiten, es handle ſich dabei um Ablöhnung und Entlaſſung der jetzt
überflüſſigen Mannſchaft!“
Leuprant ſah ſich Soldaten rüſten gegen ſeine Vaterſtadt, Lügen ver⸗
breiten, verhindern, daß die bedrohte gewarnt würde, ſah ſich hinziehen in
nächtlichem Eilmarſche, die Mauern ſtürmen, den Brand in die Gaſſen
der Heimat werfen, ſah ſich gegen Vater, Verwandte und Jugendfreunde
den Arm heben um ihres Glaubens willen, den er ſelbſt im Herzen trug,
— das alles aus Freundſchaft, die der andere in demſelben Momente zer⸗
trat wie eine reife Traube, — aus Treue gegen einen Mann, der aus ſeinem
Freunde einen Schurken zu machen bereit war, nur um ihn in der Hand
zu behalten, — er ſah dies, er fühlte die wohlberechnete Folter der zum
Verrate noch gegebenen Friſt des letzten Tages, er blickte dem Fürſten ins
forſchende Auge, darin ſchon das Licht eines Triumphes flackerte, er ver⸗
neigte ſich und ſprach: „Es ſoll geſchehen!“
Sich zu entziehen, beiſeite zu treten, war längſt nicht mehr die Zeit. Vor
Jahren, als er zum erſten Male empfand und erkannte, daß er mit dem
Freunde nicht mehr ſo weit mitgehen könnte, wie der Fürſt verlange, und
als er es daraufhin doch gewagt hatte, — damals hatte er dieſen jetzigen
Kampf vorbereitet und angenommen. Jetzt hieß es ſtandhalten! Ihm war,
als ſei er wieder der zwölfjährige Knabe, der ſich ſo oft im Scherz und
Ernſte mit dem ſtarken, liſtenreichen und in ſeinem Stolze rückſichtsloſen
Prinzen im Ringen maß.
Er tat, was er dem Fürſten zugeſagt hatte. Er beſichtigte die Mann⸗
ſchaft, er ſorgte für das Kleinſte und verſtand es, dem Ganzen durch gute
Laune, Muſik und Luſtbarkeit ein ſo harmloſes Ausſehen zu geben, daß
niemand auf den Gedanken kam, es handle ſich um geheime Rüſtung. Zu⸗
gleich ſchickte er auf allen Wegen verkleidete Spähwachen nach Pforzheim, um
womöglich jede Meldung des Soldatentreibens abzufangen. Er bemühte ſich
ſeinem Auftrag wie ſeinem militäriſchen Ehrgeiz bis zum letzten genug zutun.
Als der andere Abend aufdunkelte, überraſchte der Markgraf das ganze
Schloß durch plötzlichen Marſchbefehl. BR
Alles lief zuſammen und drängte fi) um den Wagen, der im Schloß
hof auf den Herrn wartete. Ei:
Endlich erſchien er, einen goldſchimmernden Helm auf dem Kopfe, feine
Gemahlin an der Hand führend, begleitet von den Prinzeſſinnen und Herren
und Damen. Vor dem Wagen, im hellen Scheine tropfender Pechfackeln,
wandte er ſich lachenden Auges um und verabſchiedete ſich von den Zurück
bleibenden.
784
Jacobea ſtarrte mit großen entſetzten Blicken den Oheim an, der ſich mit
ungeduldig freudiger Miene zu blutiger Gewalt anſchickte; da runzelte er
flüchtig die Stirne und ſprach zu ihr und ihrer Schweſter:
„Und ihr — macht euch mit dem Gedanken an Baden vertraut! Ihr
wißt jetzt, daß es ſich dort leben läßt. Wenn wir zurück ſind, werd ich euch
hinſchicken müſſen. Aber tröſte dich, Jacobea! ich werde euch deinen Freund
Leuprant mitgeben.“ Er hob ihr das Kinn und ſah ihr nahe in die Augen,
die aber, als ob das Kind gar nicht gehört hätte, desſelben Ausdruckes voll
blieben.
Endlich ergriff er die weiße Hand ſeiner Gemahlin, drückte ſie an die
Lippen und ſchaute ſtill in das geliebte Antlitz. Da preßte ſie heiß ſeine
Hand, legte den Kopf etwas zurück und ſchloß innig lächelnd langſam die
Augen. So voll heimlicher Zärtlichkeit war ihm dieſe Gebärde, daß ſein
Herz zitterte und er plötzlich eine bannende Abſchiedsſchwere fühlte. Einen
Moment ſtand er beſtürzt. Dann riß er ſich zuſammen und ſtieg in die
Kutſche, rief mit der Hand herauswinkend: „Auf Wiederſehen!“ und fuhr
davon, während Gößlin und die andern Begleiter, noch von den Pferden
herab grüßend, nachſprengten
Auf der Straße nach Grötzingen wurde die voranmarſchierte Kriegs ſchar
eingeholt. Schwerfällig drang der Zug vorwärts, der Boden dröhnte und
bebte von Schritten, von Hufen, von Rädern; Waffen raſſelten und blitzten
im Sternenſchein, das dumpfe Gewirr der Stimmen wogte hin und her.
Zufeiten hoben ſich ſchwarze Waldhügel und dehnten ſich Acker und Wieſen,
der Himmel funkelte darüber, der Mond ließ noch auf ſich warten. So ging
es von den Lichtern eines Dorfes zu den Lichtern des andern, und bei jedem,
ſoweit ſie ſchon kalviniſch waren, ſchloß ſich ein Trupp bewaffneter Bauern
an, die durch eine vorausgeſchickte Patrouille zum Amtsfahnen aufgeboten
worden waren.
Dieſelben Dörfer aber, unter dem aufgezwungenen Kalvinismus noch
gut lutheriſch geſinnt, ſandten auch Burſchen ab, die der Patrouille zuvor—
kommend die Alarmnachricht weitertrugen, und einigen gelang es, ſich quer
durch Wald und Felder bis Pforzheim durchzuſchleichen und die Torwachen
anzurufen. Der Bürgermeiſter wurde herbeigeholt, die Burſchen wurden
eingelaſſen und verhört, und wieder raſſelte das Kalbfell, ſchrie das Horn
und gellte die Sturmglocke durch die Stadt, hetzte die Bürger aus dem
Schlafe, in den Harniſch, auf die Gaſſen und Plätze, auf die Türme und
Wehrgänge.
Auch Michel Grieninger ſprang auf und horchte zum Fenſter hinaus,
und als er vernahm, der Markgraf ſei im Anmarſch, da wehrte er ſich wohl
einen Moment gegen die Nachricht und zitterte in der Schwäche der Be—
ſchämtheit; im nächſten Augenblick aber lief er mit heftigen Schritten nach
787
feinem Kriegszeug und waffnete ſich, ohne feiner fragenden Frau auch nur
Antwort zu geben. Da ging auch ſie zum Fenſter und lauſchte hinaus,
dann warf ſie ein Gewand um und rannte ihrem Manne nach. Sie fand
ihn in der Waffenkammer. Wirr von Schlaf und trunken von Schrecken
umklammerte ſie ihn und flehte ihn an, ſie nicht allein zu laſſen, nicht in
den Tod zu gehen. Er riß ſie von ſich los, hielt ſie mit harten Fäuſten von
ſich und ſtarrte ſie zornig an. Er ſagte ihr nicht, daß er den Überfall des
Markgrafen als einen Anſchlag auf feine Ehre empfinde, daß er ſich in den
Augen feiner Mitbürger als Verräter, als eitles Werkzeug der fürftlichen
Tücke fühle, daß ihm in dieſer Nacht kein Wageſtück zu tollkühn und kein
Tod zu früh ſei, wenn er ſich dadurch rein erweiſen könnte, — er ſchüttelte
die Frau, die das nicht in feinen Augen las, ſchüͤttelte fie mit feiner ganzen
erboſten Kraft, ließ ſie dann wie ein Häuflein Jammer zu Boden fallen
und zog ſich weiter an. ji:
Pela riß ſich entſetzt auf und jagte hinab zu feiner Mutter, die auch [bon
aufgeſtanden war. Hilflos fiel fie der alten Frau um den Hals und bettelte
wimmernd, ſie möchte ihren Sohn zurückhalten, er kenne ſich ſelbſt nicht, er
ſei der Freund des Markgrafen, er tue, was ihn reue, er werde nicht zurück⸗
kommen, er werde fie nach fünf Wochen zur Witwe machen — —
Michels Mutter hörte erſtaunt und leiſe kopfſchüttelnd zu und wollte erſt
nicht begreifen, wie die trotzige junge Frau ſo kleinmütig und haltlos ſein
könnte; dann plötzlich beugte ſie ſich von ihr ab und ſah ihr mit verwundert
forſchenden Augen ins Geſicht, dann drückte fie fie an ſich und ſtreichelte fie
beruhigend wie ein Kind. Endlich ſagte ſie:
„Hör einmal, Pele! Ich habe nur dieſen einen Sohn und, wenn ich ihn
verliere, kann ich keinen mehr kriegen, — wie du einen kriegen wirſt, — und
wie man etwa einen zweiten Mann finden kann oder einen dritten; und
doch will ich lieber, daß er heute nacht vom Feinde totgeſchoſſen wird, als
daß morgen ſeine Mitbürger ihm ausweichen! Du doch auch?!“
Die junge Frau blieb eine ganze Weile am Herzen der alten liegen und
rührte ſich nicht und nur ihr banger Herzſchlag zuckte hinüber in den Leib
der Greiſin. Endlich richtete fie ſich auf, blickte die Schwiegermutter bes
ſchämt an und fragte: „Mutter, — was iſt mir denn? Ich verſteh es gar
nicht, ich kenne mich ja gar nicht mehr! Was wird er von mir denken!“
Die Mutter küßte ſie und ſprach:
„Komm, es wird ſchon alles gut werden!“
Auf der Treppe ſchritt ihnen Michel ſchon entgegen.
„Siehſt du mich noch an?“ fragte Pela bittend.
„Wenn auch nur flüchtig, doch mit Vergnügen; denn ich ſehe, daß du
aufgewacht biſt und wieder herzhafte Augen machſt. Gib mir noch einen
Kuß auf den Weg!“
786
Er drückte fie mit der freien Hand an ſich, umarmte noch feine Mutter
und ging klirrend davon.
Er drängte ſich durch die haſtige Menge hindurch zum Bürgermeiſter,
den Ratsverwandlen und adligen Herren, die das Verteidigungswerk leiteten,
und bat, man möchte ihn, der ſich als Überbringer der trügeriſchen Bot—
ſchaft des Markgrafen der Stadt gegenüber ſchuldig fühle, an gefährlichſter
Stelle verwenden.
Alt⸗Peter Gößlin, feiertäglich gekleidet wie immer, die ringgeſchmückte
Hand auf eine langgeſtielte Streitaxt ſtützend, ſprach ſpöttiſch:
„Spiritus, merkſt du was? dem Apothekerle wirds anders! Schickt ihn
auf die Pechnaſe am Helligkreuztor, Pech und DI ſieden! Oder laßt ihn
5 fünfhundert Ellen Pflaſter ſtreichen! die Markgräfiſchen werden's morgen
nötig haben!“
Dtie Andern lachten beluſtigt und ſchadenfroh und nickten.
Dier Bürgermeiſter Simmerer aber ſprach zu dem tapfer ſtandhaltenden
Apotheker:
„Da iſt ihm die Pechnaſe, glaub ich, doch lieber; — obgleich er ſich die
Finger ja ſchon verbrannt hat.“ Und ihm einen freundlichen Schlag auf
die Schulter gebend: „Alſo, recipe ſiedendes Ol und flüſſiges Pech!“
Und Grieninger verfügte ſich gehorſam nach dem Heiligkreuztor, um die
Pechnaſe zu bedienen.
| Feind ſchob ſich mit gleichmäßiger Schwerfälligkeit durch die Nacht
und hatte die Hälfte feines Weges zurückgelegt. Der Markgraf ſaß,
um ſeine Kräfte zu ſchonen, immer noch im Wagen. Er hatte ſich an den
Ausſichten und Möglichkeiten des bevorſtehenden Handſtreiches müde ge-
* dacht, ſchließlich die Augen geſchloſſen und geſchlafen ...
8 Ein Stoß an das Bein und ein ſummender Glockenklang weckte ihn
auf: ſein Helm war gefallen, lehnte am linken Fuß und wie er beim Holpern
des Wagens hin⸗ und herſchwankte, fo floſſen von dem ſchmalen vergoldeten
Rande grelle Lichtwellen in die Höhlung hinein wie in eine unausfüllbare
Tiefe. Erſt ſah der Fürſt ſchlaftrunken zu, dann hob er das Ding auf und
1 9 betrachtete es von ungefähr. Ein Birnhelm, kunſtvoll graviert und reich
vergoldet: auf jeder der beiden Seiten ſtand in einem Arabeskendickicht ein
Herold, der hielt mit der Linken das ſtehende Wappenſchild, mit der Rechten
ſchwang er das Schwert über den verſchlungenen Goldbuchſtaben E. F. M. B.
5 „Erneſtus Fridericus Marchio Badenſis —“ murmelte der Fürſt unbe—
wußt, drehte den Helm um und ſchaute wieder in die von dem Goldring
des Randes umglänzte tiefe Höhlung hinein; aber die Kälte des Erzes
durchſchauerte ihn von den Handflächen aus ſo ſehr, daß er den Helm auf
den Rückſitz legte, wo er nun in ſeiner ganzen Pracht eiſig ſchimmerte.
787
Der Mond, faſt noch voll, war über die Hügelwellen geftiegen, ringsum
war ſchattenreiche Silberhelle, der Raum war weiter geworden und der
Lärm des Zuges aufdringlicher. Der Markgraf lauſchte eine Weile noch
benommen hinaus und nahm Stimmen und Gelächter wahr, Tritte und
Hufklappen, Rumpeln der Räder, ehernes Raſſeln und Klirren, bedrängen⸗
den Staub, Schweißdunſt der Männer und Geſtank der Pferde. Er ſuchte
ſich in der Gegend zurecht und dachte: noch nicht weiter?! Er fühlte großes
Unbehagen und merkte, daß ſeine Beine vor kribbelnder Unruhe fortwährend
den Platz wechſelten, und er fragte ſich, ob das nur vom unbequemen Sitzen
käme oder ob es einen Wetterumſchlag bedeute. Und ſofort waren die Ge—
danken wieder bei dem Überfall der gelingen mußte, und eine große Unruhe
überkam ihn. Er rief einen Junker an den Wagen und gab ihm den Auf-
trag, das Reitpferd zu ſchicken.
Er behelmte ſich, ſtieg auf und trabte am ganzen Zug entlang, vorwärts
und wieder zurück. Wie langſam das ging! Was konnte in den Stunden,
bis man in Pforzheim war, nicht noch alles geſchehen!
Er hielt ſich, um ſeine Gedanken abzulenken, neben einem Soldatentrupp
und hörte zu, wie fie vom Krieg in Frankreich erzählten, von Coligny —
Guiſe — La Rochelle — Blut — Plünderung — Weibern — — und er
ritt weiter. Da ſprachen Offiziere und Herren von den Kämpfen und Blut⸗
ſtrömen in den Niederlanden — — er ſchüttelte es ab und ritt weiter.
Er ſah ſich nach Gößlin um, konnte ihn aber nicht finden. Betroffen
fragte er und erfuhr, der Hauptmann reite vorn an der Spitze.
Er ſetzte ſein Tier in Trab und eilte allein nach vorn, wo er den Geſuchten
bald in einiger Entfernung vor dem Zuge langſam hinreiten ſah. Da zuckte
er zurück und zögerte einen Moment, als gälte es, über das eigene Gewiſſen
wegzuſchreiten; dann lachte er durch die Naſe und trieb ſein Pferd an. Er
fühlte ſchon etwas wie Verachtung für den da vorne.
Auch Leuprants Gedanken eilten voraus und arbeiteten ſich an der Vor—
ſtellung ab, wie er unter den Mauern ſeiner Vaterſtadt die Umklammerung
der vielen Jahre, die er fern geweilt, von ſich ſchütteln und reißen, dem
Fürſten abſagen und ihm gegenübertreten müſſe. Da hörte er Hufſchläge
und ſah ſich vom Markgrafen eingeholt.
„Soweit voraus —?“
Zögernd antwortete der Hauptmann:
„Ja“, und weiter nichts.
Und ſchweigend ritten ſie nebeneinander hin, jeder voll und ſchwer von
ſeinem Willen.
Ernſt Friedrich ſah Pforzheim im Mondlichte liegen und auf ihn warten.
Wie ein Mann, der am Rande eines Baches zurückgeſunken und einge—
ſchlafen iſt, ſo ſchlief die Stadt dort hinter den Wäldern in ihrem Tale
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in der hellen Nacht und fie durfte nicht erwachen, bevor ihr Herr die Hand
an ihrer Kehle hatte; ohne Blut wollte er es machen. Aber — vielleicht
ſtanden die Bürger ſchon auf ihren Mauern und Türmen, und der Tod
rieb fi ſchon die Hände! Nun, — wie Gott will! Der Fürſt hatte nur
auszuführen! Vielleicht war auch ihm ſchon die Kugel gegoſſen! Das Herz
ſchlug ihm plötzlich laut und zuckend, und eine Bangigkeit durchſchreckte ihn,
als habe er keine Zeit mehr und das Beſte und Wichtigſte ſeines Lebens
verſäumt und vergeſſen. Er ſchaute hin und her, konnte ſich aber nicht be—
ſinnen, was das Wichtigſte war.
Was ließ er zurück? Ein aufgeregtes Land, ein unvollendetes Bekehrungs—
werk, Verwirrung, in der er ſich mühe⸗, mühevoll aufrecht gehalten hatte!
Nun — das war höhere Fügung. — Was aber hatte er erreicht und nicht
verſäumt? Schnell! Kinder, die ihm gehörten, ob ſie wollten oder nicht,
die ſein Blut waren, — hatte er nicht. Die Liebe ſeiner Frau — was be—
deutete ſie angeſichts des Todes? War ſie ein ewiger Beſitz? Dieſe Liebe
nahm er nicht mit ſich. Dieſe Frau blieb zurück wie ein koſtbarer Ring, mit
dem ſich bald eine andere Hand ſchmücken wird, wie eine ſüße Laute, die ein
Anderer aufnimmt und wieder ſtimmt. Sie wird nach dem zweiten den
dritten Gemahl lieben und nach dieſem den vierten, — und es muß ſo ſein!
Er ſenkte den Kopf. Sein Bruder — ? Seine fürftlichen Freunde, Waid⸗
und Zechgeſellen? Sie werden ihn feierlich beerdigen und dann werden ſie
ihn verſaufen! Dieſer Mann hier neben, der ſteil auf dem Gaule ſaß und
in unerhörter Treue neben ihm vorwärts ritt? — Dieſen nahm er mit!
Dieſem Leben hatte er Inhalt und Form gegeben bis zu dieſer äußerſten
Probe: dieſem Leben würde er fehlen, dieſes würde einen Teil des Toten
täglich wieder lebendig machen, neben dieſem würde er auch künftig dahin-
reiten und ⸗ſchreiten und in der Dämmerung ſitzen, und erſt wenn dieſer
ſtürbe, würde auch er tot ſein!
Er ſchielte hinüber. Sie ritten durch Wald, der Mond beleuchtete die
rechte Seite und hob die ſilbergrauen Buchenſtämme aus dem Dunkel des
Waldes heraus.
Gößlin ſah geſpannt in die Ferne. Er ſehnte ſich nach dem erlöſenden
Anblick ſeiner Stadt. Er ertrug es nicht, neben dem Markgrafen dahin—
zureiten. Schlief jetzt ſein Vater — oder war die Bürgerſchaft gewarnt
worden? Wie er es als Knabe vom rieſigen Bergfrit des Schloſſes hoch
5 über der Stadt geſehen hatte, ſo ſchob ſich ihm jetzt das Bild vor die weit—
offen in die Mondnacht ſtarrenden Augen: zu ſeinen Füßen floß voll fried—
lichen Sonnenſcheines die Straße den Schloßberg hinab zum ſonnigen
Markt, der vom Handel und Wandel tätigen Lebens wimmelte und lärmte.
Weithin drängten ſich ringsherum die braunen Reihen ſtiller Giebeldächer,
mit kleinen Höfen, dämmerig und tief wie Brunnen. Lange Gaſſen waren
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dazwiſchengekerbt, eng und krumm, voll Schatten und Sonne und Mühe.
Türme langten daraus empor und glänzten im Lichte des Himmels, — —
eine Stadt wie hundert andere, ein Wunderwerk tapferer Arbeit! — —
Und nach ein paar Stunden? — Morgen? — Der Brand darüber weg —
die hohen Dächer verſchwunden — die Häuſer wüſte Klüfte mit geſchwärz⸗
ten Mauern — die Kirchen entweiht — die Bilder init Säbeln zerhackt
und mit Kot beſudelt — der Altar umgeſtürzt, der uralte Goldkelch von
trunkenen Lippen geſchändet, die Orgel mit Hellebardenhieben zerhackt, die
Bürger erſchlagen, ihre Ehre zertreten, alles, womit das Herz des Knaben
genährt, ſein Stolz und feine Mannheit aufgebaut und beſeelt worden war,
zerbrochen, in den Dreck geworfen, verſpien! Und er ritt darauf zu, Seite
an Seite mit dem Verderber! Und er — warten — bis vor die Mauern
der Stadt! — warten noch einen einzigen verfluchten Augenblick!
Er ſah zur Seite nach dem Fürſten in der leuchtenden Rüſtung, deſſen h
Auge unter dem Goldhelm vor ſcharf in die Ferne zielte, und er trieb fein 1
Pferd quer vor das des Markgrafen, das ſich kurz und ſchwer zurückbäumte. |
Mit der Linken das Schwert bei der Scheide erhebend, blickte er dem Fürſten
in die vom Mond beleuchteten überraſchten Züge, riß mit der Rechten das
Schwert halb aus der Scheide und ſagte darüber hinweg mit heftiger Stimm:
„Markgraf, hier beginnt Pforzheim! Es gilt! Wehre dich!“ "ER
Ernſt Friedrich fuhr empor wie von einer Peitſche getroffen, er ſah fremde,
harte Augen, er beugte ſich vor, nach dem Schwertgriff zuckend, aber die 0
Hand irrte jählings ab nach der Bruſt, er bäumte ſich nach Luft ringend
und ſchnappend empor, er ſank ſchwer auf den Hals des Hengſtes nieder,
der Goldhelm fiel ihm vom Haupte und rollte wie eine Glocke klingend am 1
Boden hin.
Gößlin begriff nicht ſofort; dann aber hatte er ſein Schwert zurückgeſtoßen
und den tiefer ſinkenden Körper des Fürſten umfangen. Die Tiere Seite
an Seite drängend und mit Zuſpruch beruhigend, hob er ihn empor und
fand ihn beſinnungslos. Er konnte ihn nicht vom Gaule lüpfen; fo blieb er
ſitzen, preßte mit dem rechten Arm den ſchweren Leib an ſich, während die
Linke mit den aufgeregten Tieren zu tun hatte. Er horchte nach dem fernen
Lärm der Reiſigen, forſchte nach Herzſchlag und Atemzug des Bewußtloſen,
er ſah in das Dunkel und Silberlicht des Waldes, er ſtarrte auf den Helm
der wie eine umgeſtürzte Goldſchale am Boden lag und glänzte.
Es dauerte lange, bis der Zug herankam; ſoweit waren die beiden in
ihrem Gedankentreiben vorausgeritten. Endlich füllten die Reiſigen den
Wald mit ihrem wilden Lärm.
Gößlin rief den Vorderſten aus der Ferne Halt entgegen, und mit vielem
Geſchrei hielten ſie. Er ſchickte, ohne ſich den Ohnmächtigen abnehmen zu
laſſen, nach den Herren des Gefolges und dem Arzte und als dieſe kamen,
790
berichtete er, daß der Fürſt plötzlich nach Atem gerungen habe, auf den Hals
des Pferdes geſunken und ſeitdem bewußtlos ſei.
Der Markgraf wurde vom Gaul gehoben, auf einen Mantel gelegt und
vom Arzt unterſucht. Endlich erhob ſich dieſer wieder und ſprach:
„Ihre fürſtlichen Gnaden ſind an einem Stickfluſſe verſchieden.“
Alle entblößten den Kopf und ſtanden ſtumm im Kreiſe um die Leiche.
Leuprant kniete nieder und ſah den Toten an, deſſen weitoffene Augen im
Lichte des Mondes wie Perlmutter ſchimmerten, und er vergaß ſich und
dachte nicht daran, wieder kufzuſtehen, bis er gemahnt wurde. Da drückte
er dem Toten die Augen zu
Eine Leiter wurde zerſag eine Bahre hergerichtet, und auf Soldaten—
ſchultern wurde die Leiche des Markgrafen weitergetragen, um in der Stadt,
die er hatte überfallen wollen, ſeinen Platz bei den Ahnen in der Schloß⸗
kirche zu finden. Nur die Herren des Gefolges und eine kleine Bedeckung
zog mit; der größere Teil der Schar blieb für die Nacht in Remchingen.
m Mitternacht wurde von der Durlacher Straße her nach Pforzheim ge-
meldet, daß am Klaffnert Lichter geſehen worden ſeien, und jedermann
ſchüttelte den Kopf über die Fackeln in mondheller Nacht und mancher
dachte, am Ende ſei es wieder blinder Lärm geweſen.
Aber die Fackeln kamen näher, langſam die Höhe herunter auf die Stadt
zu, bis plötzlich eintöniges Trommeln einſetzte und den Zug bis nahe vor
die Mauern begleitete, wo Halt gemacht wurde.
Mit einem Trompeter ritt Hauptmann Gößlin bis zum Graben vor dem
Heiligkreuztor und verlangte im Namen des Markgrafen Georg Friedrich
5 Einlaß für die irdiſchen Reſte des weiland Markgrafen Ernſt Friedrich von
Baden und Hochberg, Landgrafen zu Sauſenburg, Herrn zu Rötteln und
Ä Badenweiler.
Die Bürger fürchteten eine Kriegsliſt und ſchickten den Arzt, den Bürger—
meiſter Simmerer und Alt⸗Peter Gößlin hinaus, um ſich vom Tode des
Fuürſten zu überzeugen.
CLeeuprant fah feinen Vater auf ſich zukommen, und von Bewegung über-
mannt, trat er ihm entgegen und begrüßte ihn.
Dier Alte maß ihn kühl und unnachgiebig und fragte mit leiſem Kopfnicken:
„Soſo —? auch hieſig?“
1 . Darauf wußte der Sohn nichts zu erwidern, er hielt den Blick des Vaters
1 aus, biß auf die Zähne und verſuchte feinen ſchweren Atem und Herzſchlag
zu beherrſchen. Dann ſprach er:
„Der Markgraf iſt unterwegs verſchieden.“
„Eben davon wollen wir uns überzeugen!“
„Ihr — traut mir nicht, Vater?“
*
791
Alt⸗Peter Eniff ein Auge zu und ſprach:
„Das wäre zu viel verlangt, Hauptmann!“
Und mit der Linken auf die leichte Streitaxt geſtützt, beugte er ſich nieder,
legte die Rechte auf die Hand des Markgrafen, dann auf deſſen Stirn, er⸗
hob ſich wieder und wie im Zweifel, ob er ſie abwiſchen ſollte, ſeine Hand⸗
fläche betrachtend, ſprach er: „Kalt!“ und ohne ſich weiter an den
Sohn zu kehren, ſah er zu, wie der Doktor Müller die Unterſuchung vor⸗
nahm.
Di Arzt beſtätigte den Tod und ſtand mit dem Bürgermeiſter und Alte
Peter Gößlin eine Weile barhaupt vor dem Toten; dann kehrten die drei in
die Stadt zurück, das Tor ward aufgeſperrt und das Gatter aufgezogen.
Langſam bewegte ſich das Geleite durch die Gaſſe, die hüben und drüben
mit Menſchen beſtanden war. Voran dumpfer, gehackter Paukenklang, dann
Reiter, in der Linken die tropfende Fackel, in der Rechten das blinkende
Schwert, dann die Träger mit dem Leichnam, und wieder Berittene mit
rauchenden Fackeln.
Erleichterten Herzens und neugierig ſtand das Volk unter den Fenſtern
und auf der Straße und ſah, wie der gefürchtete Herr ſich auf den Schul⸗
tern der Träger geduldig rütteln und ſchütteln und von tauſend Geſichtern
begaffen ließ, auf denen die Schadenfreude mit dem Anſtande ſtritt.
Als Hauptmann Gößlin an der Spitze des Zuges gegen den Markt vor⸗
ritt, ſtand da einer am Rande der Menge, die Hellebarde an der Hand, und
ſang unverſöhnlich und trotzig heraus, was in tauſend Herzen jubelte:
„Luſtig, ihr Buben!
Heut iſt der letzt Tag.
S wär mancher gern luſtig,
er liegt ſchon im Grab!
Er liegt in dem Grab
und hat die Augele zu —
und ich ſteh auf der Gaff’
und bin ein luſtiger Bu!“
Dieſes Lied traf den Hauptmann Gößlin ſo tückiſch und tief, daß er in
unwillkürlicher Abwehr ausholend einen Schwertſtreich nach dem ſingenden
Lutz hinüberſchlug; aber der flinke Mann parierte mit der Hellebarde und rief: Nu)
„Ja, Gößle, kommſt morgen wieder her!“ Be
Ein Stück des Schwertes ſprang ab und hinüber ins Gebälk des Amt⸗ TR
hauſes, wo es ſtecken blieb und im wechſelnden Scheine der vorbeigefragenen
Fackeln wie eine aus der Wand herausſtechende Flamme glühte und zuckte.
Den Schwertſtumpen wie einen Feldherrnſtab auf den Schenkel ſtützend,
bog Leuprant zum Schloßberg hinauf und führte den rotqualmenden Zug
zur Schloßkirche, wo er dem Freunde die Totenwacht hielt.
792
Henriette Feuerbach
Briefe an Frau Sophie Kayſer
berg verſtorbenen Tante Frau Sophie Kayſer-Hilger. Frau Henriette
Feuerbach hatte ſeit 1852 ihren Wohnſitz in Heidelberg, und eine
warme Freundſchaft verband nach und nach die Witwe des Archäologen
mit der jüngern Freundin, die kinderlos ebenfalls 1872 ihren Mann, den
Altphilologen Dr. Ludwig Kayſer, verloren hatte. Eine Zeitlang wohnte
Frau Feuerbach in dem Kayſerſchen Haufe. Als fie dann 1876 aus den
verſchiedenſten Gründen Baden verließ, um ſich in Nürnberg niederzulaſſen,
übergab ſie Frau Kayſer ihr Erbe, die Leitung der Abteilung Krankenpflege
des Heidelberger Frauenvereins, den ſie gegründet hatte und dem ſie zeit—
lebens ein warmes Intereſſe bewahrt hat.
Es waren in erſter Linie aber nicht Vereinsintereſſen, die die beiden Frauen
einander fo nahe gebracht hatten, ſondern es war das in ihnen beiden leben—
dige ſelbſtperſtändliche Streben nach allem Schönen, nach „ihrem Idealis—
mus“, wie Frau Feuerbach einmal ſchreibt, „der aus vollem nicht aus
leerem Herzen wächſt“, vor allem die gemeinſame Liebe zur klaſſiſchen Muſik.
Die 180 Briefe, die kurz nach dem Wegzug Frau Feuerbachs die Zeit
von 1876 bis zum Tode Frau Feuerbachs 1892 umfaſſen, ſind keine
Sammlung geiſtreicher Aphorismen; es ſind Freundſchaftsbriefe, wie ſie
geſchrieben werden, wenn man weiß, daß man ſich auf den Empfänger durch—
aus verlaſſen kann und ſich daher gibt, wie man iſt. Möge die nachfolgende
kleine Auswahl dieſer Feuerbachbriefe das Bild der ſeltenen Frau noch heller
hervortreten laſſen. Lina Hilger.
Ne Briefe fanden ſich im Nachlaß meiner 189; zu Heidel—
Meine liebe Sophie! 1. Okt. 76 [Nürnbergl.
Ich habe Dein Brieſchen ſo herzlich empfunden, als erlebte ich ſelber,
was Dich bedrängt und bekümmert. Hoffentlich wirſt Du jetzt befreit aber
leider nicht von den Nachwehen erlöst fein. . . . Ich wollte Du könnteſt zu
mir kommen und ausruhen.
Seit Anſelms Weggang und nachdem die Wintereinrichtung fertig iſt,
8
ſcheint für mich die Welt ſtille zu ſtehen. Eine Ruhe iſt eingezogen, wie
ich ſie in meinem ganzen Leben nicht gekannt habe. Bis jetzt empfinde ich
ſie als etwas Körperlich Angenehmes und Geiſtig wunderſam Träumeriſch
„Verlorenes“, — ich weiß nicht wie ich es nennen ſoll, was halb wohl—
thuend, halb ſchmerzlich iſt und von dem ich nicht weiß ob es heilſam oder
ſchädlich iſt, ob ich darin wieder erſtarke oder ob ich ganz verſinke.
91 793
Meine Wohnung ift, jetzt, wo ich mich in Anfelms Zimmerſeite herüber
gezogen habe eigentlich ſo ſchön bequem und „boetiſch“, wie man hier ſagt,
daß nicht Raum für einen Wunſch in dieſer Beziehung übrig bleibt. Der
Wintergarten iſt reizend und man ſitzt in der weichen Luft unter den Pflanzen.
Für drei Perſonen iſt Platz übrig, mehr nicht. Es iſt lächerlich, wie Alles
unten ſtehen bleibt und verwundert heraufgafft. Ich glaube, ich würde es
auch ſo machen, wenn ich die Pflanzenpracht an einem fremden Haus durch
die Fenſter ſähe.
Die Schweſtern kommen jeden Sonntag, d. h. fie find bis jetzt ge⸗
kommen, im Winter geht Leonore nicht aus. Bei ihnen iſt 5 Uhr Thee⸗
ſtunde und das iſt ganz gemüthlich. Abend iſt man zuhauſe. Conzerte
find 6, das Theater ſoll gut fein. Beides vermeide ich aus Sparſamkeit.
Wollte ich Abends ausgehen, ſo müßte ich fahren oder einen Dienſtmann
zur Begleitung beſtellen da die Promenade Nachts voll Geſindel iſt und
unſer Haus doch ziemlich weit entfernt vom Thore. So habe ich mich auf
die einſamen Abende bereits eingerichtet. Komme ich an's Arbeiten, ſo iſt
Alles gut. Beſſere Zeit und Umgebung als jetzt kann ich nie dazu haben.
Iſt es nichts, dann muß ich mich in Alter oder Krankheit fügen, — nun
und dann iſt es auch gut. Heute tobt Sturm und Regen den ganzen Tag
— Wunderbare Einſamkeit, in der fremden Stadt! — Gott ſei Dank, zu⸗
hauſe bin ich zuhauſe. — Das iſt Alles.
Einige Beſuche mache ich nächſte Woche, oder ich habe ſie vielmehr zu
erwiedern. Soldau, Bürgermeiſter v. Stromer, eine Familie Paraviſo, eine
Frau von Harsdorf und Hammer. Blonde und braune Töchter giebt es
viele, auch ſehr hübſche. Ich glaube mit der Zeit wird die Jugend ein
wenig an mich herankommen, ſo ſcheint es wenigſtens.
Anſelm iſt noch in Venedig. Er war in München in der Ausſt. Die
Bilder hängen haushoch und ſind aller Wirkung beraubt. Über Makart
ſagt er, er ſei erſchrocken wie ein Künſtler, der er doch war, in zwei Jahren
zum ſcheußlichen Sudler herabſinken könne. Unſere Bilder gehen nach
Stuttgardt. Ruſtige nennt das Comite „die bairiſchen Henker“.
Wäre die ewige Sorge um Anſelm nicht, ſo würde ich mich nicht dar—
über grämen, denn es kommt doch Alles zu ſeinem Recht, aber bei uns iſt die
Zeit gemeſſen. Mit der Geſundheit iſt es im Ganzen nach Wunſch gegangen. |
Nun kommt es eben darauf an, wie A. die Sorge für ſich ſelber verträgt.
Durch die Allg. u. den fränkiſchen Kourier erfahre ich, wie es in der
Welt zugeht. — Puh! Der gute Kaiſer Wilhelm, der überall fo außer
ordentlich befriedigt iſt, und inzwiſchen barbiert ihn der Ruſſe ſo hübſch über
den Löffel, wie man zu ſagen pflegt. Ich bin nicht in der Verfaſſung mich
über Krieg und Kriegsgeſchrei ſehr aufzuregen. Es geht ſeinen Gang u.
ich ſehe es von weitem an. D. .
794
. W 4 > „
J
Liebe Sophie! 10. Okt. 76 Mürnberg).
Es war hübſch, daß unſere Gedanken ſich begegnet haben; ich erhielt
Deinen Brief auch denſelben Tag zum Frühſtück und freute mich ſehr,
daß Du Dich wieder aufrappelſt. Auch Dank für die Karte, die ſehr
lieb war.
Das wunderſchöne Wetter iſt bei Euch wohl noch viel ſchöner, weil die
Sonne auf Berg, Wieſe u. Wald ſcheint, was ja Alles hier fehlt. Ich
habe einen Spaziergang gemacht, aber einen ſo unſäglich traurigen Ein—
druck mit nachhauſe gebracht, daß ich es nicht mehr thun, ſondern mich auf
die Stadt beſchränken werde. Dafür iſt meine Wohnung wirklich reizend
und ich habe Ausſicht in eine noch vorhandene aber fein gefärbte Baum—
welt, die ſo gruppiert wie ſie es mit Teich u. Bach an ſich iſt, ein leben⸗
diges Landſchaftsbild im ſtrengſten Sinne bietet. Du wirſt Dich freuen
wenn Du hierherkommſt, auch im Winter.
Ich lebe gegenwärtig etwas zu verwandtſchaftlich, was ſich aber geben
wird, ſo wie ich beſchäftigt bin; leider will dies noch immer nicht zu Stande
kommen. Mein Kopf iſt eben ſchwach, und obwohl ich in der Stille etwas
mehr in Ordnung komme, ſo iſt ein erwärmter Ideenfluß, wie ich ihn früher
hatte, ganz außer meiner Sphäre. Ich fürchte daß ich für immer entſagen
muß. Ich kann mich nicht verſenken, nichts aus der Tiefe holen, der Schacht
iſt verſchüttet.
An eine Heidelberger Reiſe habe ich noch nicht beſtimmt gedacht; ich
konnte auch keinen Zeitpunkt bisher beſtimmen, weil ich zur Aufſtellung der
Bilder nach Stuttgart ſoll. Wann, weiß ich nicht, aber jedenfalls komme
ich dann für einige Tage. Es iſt übrigens ein gefährliches Experiment, doch
hoffe ich es ohne eine neue Auflage von Heimweh zu überſtehen.
Wir haben zu gleicher Zeit gewagnert, ich nehmlich den Siegfried und
ich habe ihn mit tiefer Betrübniß aus der Hand gelegt. Wenn das Kunſt
iſt, d. h. die Kunſt des 19. Jahrh., dann ſollte unſere Welt das zooofte
nicht erleben. Sinnliche Nachahmung ſinnlicher Gegenſtände mit tech—
niſchem Geſchick und vollkommener Geſchmackloſigkeit und mit beſonderer
Vorliebe für das Ungeheuerlich-häßliche, das iſt Alles.
In Hanslicks moderner Oper heißt es (Vorrede) daß der Zeitgeſchmack
des Publikums ſtets berechtigt ſei, und daß es eine unſterbliche Kunſt ab—
| 1 ſolut nicht gäbe. Er giebt einem Kunſtwerk höchſtens 40 — 50 Jahre und
findet daß unſere Gegenwart eigentlich ganz hübſche Fortſchritte gemacht
habe. Dabei vergißt er Homer und die griechiſche Kunſt, Dante, Raphael
Michel Angelo, Paleſtrina, Händel, Bach u. ſ. w. von Mozart u. Beet—
hoven, von Schakespeare u. Goethe nicht zu reden, dabei vergißt er auch
nebenbei, daß der Künſtler da iſt um das Publikum zu bilden und daß es
eine abſolute Schönheit der Kunſt giebt, die wirklich unſterblich iſt, wenn
7
es der Wiener Kritiker auch nicht erlauben will. Was würde es mir ein
Vergnügen machen einen Zerzauſungsverſuch an dieſem Buch oder viel⸗
mehr dieſer Sammlung vom Feuilletonartikeln zu machen, wenn es nicht
zu ſpät wäre.
Du ſiehſt, daß ich ſehr allein bin, da ich jetzt erſt von A. ſpreche. Er ift
noch in Venedig und geht in dieſer Woche nach Rom. Hoffentlich geht es
ihm gut. Was die nächſte Zukunft bringen wird? Ich ſchließe Augen und
Ohren. Was hilft mir's wenn ich mich anſtrenge, ich ſtehe doch vor einem
dunklen Vorhang. Fdl. Gr. v. D. H. F. Grüße aan Alle die an mich denken.
Meine liebe Sophie! 8 Nbg. 23.
Habe herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und nimm freundlich auf,
was ich Dir darauf erwiedern muß. Du haſt ganz recht, wenn du glaubſt,
daß ich bin wo ich nicht hingehöre, und doch — bin ich für mich ſelbſt ge⸗
gangen, und hätte ich unter den gegebenen Verhältniſſen bleiben können wo
ich war? Mich dünkt, wo das Schickſal mit ſanfter oder harter Hand einen
Menſchen hinſtellt, da gehört er hin und muß zurecht kommen wenn es auch
noch ſo ſchwer iſt.
Auch wegen meiner Gemüthsverfaſſung während Deiner Anweſenheit haſt
Du ganz recht, und weil die ſo beſchaffen war, daß ich nicht darüber hinaus
konnte, rieth ich Dir Deine Reiſe zu verſchieben, dis ſie Dir und mir er⸗
ſprießlich ſein konnte. Die Angſt einen gefährlichen Fehler in Beziehung
auf Anſelms Geſundheit gemacht zu haben, mag übertrieben geweſen ſein,
ich gebe dies gern zu, aber mein Leben und meine Natur ſind eben nicht
darnach angethan in einem ſolchen Fall ruhig ſein zu können. Ein befrie⸗
digtes Gewiſſen iſt das Erſte was ich überhaupt zum Leben brauche, ohne
dies bin ich nicht auf der Erde ſondern in der Hölle. Noch Eines — aber
werde mir nicht böſe. — Was es heißt um ein Menſchenkind zu zagen, daß
man vom dritten Jahr an gepflegt und erzogen, wenn es auch nicht das
eigene war, — das weißt Du nicht, das kannſt Du nicht wiſſen. Es iſt
dies kein Vorwurf, ſondern ein einfach natürliches Factum, an dem wir alle
Beide nicht rütteln können. Mein Neffe Eugen hat durch eine ärgerliche
Alteration den erſten Blutſturz bekommen und durch eine zweite den letzten.
Genug — ich bin meiner Sorge entledigt. Die äußerlichen Wirren kann
und will ich anſtändig tragen, und wenn ich ſchrieb, ich wollte Du wärf
jetzt da, fo ift dies die volle Wahrheit, weil ich Ausruhens bedarf und Er⸗ ö
heitrung genießen könnte. Ich fühle mich unwohl, aber im Gemüth ruhiger
und ſo wird das Letztere ſchon dem Erſteren abhelfen. In dieſem Augen⸗
blick nach Heidelberg kommen will ich nicht, weil ich nicht einen aufgeregten
anſtrengenden Aufenthalt brauche, ſonderen Ruhe und Frieden. Die Ent⸗
ſcheidung mit Darmſtadt iſt vor der Thüre, ich habe für das Verbleiben
796
.
—
oder Verſenden der großen Bilder zu forgen, was endloſe Korrespondenzen
nöthig macht, ich muß mich mit den vorräthigen Mitteln genau arrangieren,
ich ſoll in Heidelberg meinen Abſchied nachholen, alle Freunde ſehen und
will es auch, fo wie ich Kraft und Zeit dazu habe, das werde ich aber erſt
dann gewinnen wenn ein Ruhepunkt eingetreten iſt, ſei es im Guten oder
Schlimmen, und wenn ich das Bewußtſein habe, Alles gethan zu haben,
was irgend zu thun war.
Ich komme noch vor dem Frühling, — aber überlaſſe mir die Zeit
zu beſtimmen, ich weiß ganz genau, was mir gut thut und was nicht. Vor⸗
erſt bedarf der Körper Ruhe. Ich liege viel auf dem Sopha und kann die
Ruhe aushalten, was ein großer Fortſchritt iſt. Auch die Nächte ſind beſſer.
Laßt mir Zeit mich zu erholen. — Ihr wißt nicht, wie ich ſeit einem Jahr
gelitten habe! — Niemand weiß es und ich ſelbſt mag es am wenigſten
rekapitulieren, ſpüren muß ich es freilich. Heidelberg iſt ein Lichtpunkt für
mich, den ich mir nicht verderben will mit Sorgen, Geſchäften und An—
ſtrengung, ſondern ich möchte Erholung und geiſtige Erhebung, und fo möge
Gott ſeinen Segen geben. — Amen. Ich kann nicht anders.
Und nun Adieu! Habe Geduld mit mir und bleibe mir gut. Wenn ich
kann, halte ich es für beſſer zu Webers“ zu gehen. Dein Leben iſt mir
zu geſellig, Du haſt Verbindungen, die mir fremd ſind, und ich möchte mich
auf die alten beſchränken, deren gerade genug ſind. Ueber der Brücke ſind
wenigſtens die Morgen und Abende ruhig für uns zwei alte Frauen, und
* dann wird mir der Garten körperlich wohlthätig ſein. Von Herzen
hr D. tr. H. F.
5 Liebe Sophie! 16. April 1878.
* Verzeihe, daß ich Dich ſo lange auf Antwort warten ließ. Die Urſache
war einfach mein eignes Warten auf den Reſt von Anſelms Bild,“ der
dis zur Stunde noch nicht eingetroffen iſt. Ich hoffe aber, daß das Wenige
5 was noch zu erhoffen iſt — im beſten Fall ein klein wenig mehr — doch
1 in dieſer Woche noch eintreffen muß. Behalte für's Erſte die Penſion da
ich außer Stande bin etwas zu ſchicken. Es ift ein eigen Gefühl das gött—
liche Bild anzuſehen, das jetzt aufgeſtellt iſt und dazu an die Sorge für den
N nächſten Tag zu denken. Der Preis des Gemäldes reicht gerade für die
5 Koſten und den beſcheidenſten Lebensunterhalt für die Arbeitszeit. Möge es
Anſelm wenigſtens den Ruhm bringen ſo wie er ihn verdient. Es iſt ein
ſtiller Hauch darin trotz aller Pracht und höchſtem Farbenglanz und Gold—
ſchimmer, der nur raphaeliſch genannt werden darf. Anſelm iſt erſt jetzt in
+ Weber, Gymnaſialdirektor und Hiſtoriker in Heidelberg. Frau Weber, geb
Rietſchel, war eine gute Freundin don Frau Feuerbach.
Das Kaiſer Ludwigbild im Wee erger Juſtizpalaſt.
797
feine Blüthe getreten. Kompoſition in Linie und Styl, Charakteriſtik der
Köpfe, Anmuth der Geſtalten — kurz höchſte Kunſtſchönheit, wie aus dem
Cinque Cento auferſtanden und doch modern! Alles was er bis jetzt ge⸗
macht hat, fällt ab, gegen die Herrlichkeit dieſes Bildes in ſeiner Einfach⸗
heit, Naivität, Wahrheit und Schönheit. — Ich habe mich geſtern 2 Stun⸗
den im Rathhaus einſchließen laſſen um ruhig zu ſehen und aufzunehmen,
und nachdem ich nachher die Erſchütterung ausgeweint hatte, bin ich ruhig
geworden und habe mir den Spruch vorgeſagt, daß die Leiden dieſer Zeit
der ewigen Herrlichkeit nicht werth ſind. Wer dieſen Gedankengang gottlos
findet mag es thun. Ich bezahle ihn mit meinem Leben.
Anſelm iſt wieder beſſer, aber das iſt ſicher, daß in die Länge ein Aufent⸗
halt hier für ihn ſchädlich iſt, trotz der größeren und beſſeren Wohnung.
So werde ich vielleicht 7 Jahr wieder aufpacken — wohin weiß ich
nicht. Es iſt auch einerlei. D. H. F.
Liebe Sophie! 15/10 1878 Nbg.
Ich habe mich gefreut, nach ſo langer Zeit von Dir zu hören, und ſo
viel Gutes und Schönes...
Von mir iſt nicht viel zu ſagen. Ich habe einen ſorgenvollen Sommer
und Herbſt verlebt und war auch oft, aber immer nur wenig unwohl. In
Berlin iſt noch nichts entſchieden. — Ich bin auf eine Summe eingegangen,
die ſo niedrig iſt, daß ich mich ſchäme ſie zu nennen. Abſchluß und Aus⸗
zahlung ſteht zu erwarten hoffentlich noch in dieſem Monat. Anſelm erwarte
ich in den letzten Tagen Okt. oder Anfang Nov. Die Untermalung des
Mittelſtückes iſt bis dahin vollendet. Er nennt ſeine Arbeit einen Sprung
in's Paradies. Das hat mich aufgerichtet. So weiß ich doch wofür ich im
Fegfeuer brate.
Meinen Aufſatz über die Anfänge der chr. Muſik habe ich an Nord
und Süd geſchickt woher ich wohl in dieſen Tagen Antwort über die An-
nahme erhalten werde. Zur Rundſchau fehlte mir der Muth weil Hanslick
die muſikaliſchen Berichte in der Hand hat. — Langweilig und unbedeutend
zwar, aber doch von Hanslick.
Ich leſe auch gründlich die Zeitung —
Aber ich habe Niemand mit dem ich ſprechen könnte, was nicht förderlich 41
iſt. Meine Verwandten ſind leidenſchaftlich demokratiſch, andere Bekannte
heftig conſervativ, beiden Parteien kann ich mich nur fern halten, alſo gehe
ich meinen ſtillen Weg innerlich; nach Außen iſt es ohnehin gleichgültig was
unſer Eins denkt oder fühlt. Und nun will ich Dir aufrichtig ſagen daß
ich über die neuen B. Reden anders denke als Du und als ich ſelbſt wünſche
denken zu können. Ich begreife nicht wie ſich ein ſo großer Mann mit einem
ſolchen Aufwand von Scharfſinn, böſem Humor und gedrechſelter Dialektik
798
VIELE GETRETEN
A.
a
dazu hergeben mag kleine Leute zu zerreißen, oder wenigſtens zu verwunden
und verdächtigen, noch dazu mit ungenügenden Waffen und unvorſichtig
nach den großen Geſichtspunkten aus lauter Luſt am Einzelgefecht. — Ob
ſie es verdienen oder nicht gilt gleichviel.
In einer Noth und Gefahr, wie fie jetzt unſerem Vaterlande droht, denn
wir ſind doch wohl auf dem Weg zu einer ſozialen Revolution, bedarf der—
jenige, welcher helfen und ſchützen will, der tiefſten und opferbereiteſten
Liebes begeiſterung, einer großartigen Geſinnung in der er weit über ſich felbit
hinausdenkt und in der ſchwerſten Aufgabe der Humanität ſicherlich nicht
daran zu denken Zeit hat, perſönlicher Bitterkeit und kleinlicher Rachſucht
Raum zu geben. Die äußere Geſtaltung des Staates, denke ich, kann ſich
durch Gewalt raſch feſtſtellen, die Wohlfahrt des Volkes aber bedarf Pflege,
Duldung, und vor Allem Geduld. Die jetzige Art kommt mir vor, wie
wenn man ein Schloß öffnen wollte, eine Menge Schlüſſel gewaltſam
probirt, ſo lange bis es in Trümmer geht. — Mißlungene Verſuche nach
allen Seiten — kein hoffnungsreicher Gedanke des Troſtes, wenn nicht die
einzige Lichterſcheinung in dieſer Wirrniß, der einfache humane Kron—
prinz. —
Aber er iſt machtlos und wenn er es nicht mehr ſein wird, dann mag es
zu ſpät ſein zum helfen.
Siehſt Du, Liebe, Du kannſt mich jezt — wenn Du Luſt haſt auf
10 Monate Gefängniß bringen. Ich kann aber nicht anders — Gott helfe
mir und gebe, daß ich Unrecht habe. D.
Liebe Sophie! [1879]
Dein Brief hat mich ſehr erquickt und erhoben. Ich freue mich ganz
neidlos Deines ſchönen Lebens und daß mein Weggang Dir ſo reich erſezt
ward. Dein ſtetiges Streben nach dem Guten und Schönen wird immer
mehr belohnt werden, wie das nicht anders ſein kann wenn man Kraft,
Ausdauer und die Geſchicklichkeit hat das Gegebene zu benützen und nicht
nach Unerreichbarem zu ſtreben ...
Mit meinem Studium geht es nicht vorwärts. Das Warum habe ich
bisher aus einer Art Feigheit verſchwiegen. Ich bin augenleidend ſeit Weih—
nachten ungefähr und kann ohne Brille nicht leſen und ſchreiben, Abends
aber gar nicht. Die Sache nimmt ſehr raſch zu, von Woche zu Woche.
Der Arzt, zu dem ich gegangen bin hat nichts Entſcheidendes geſagt,
Einiges verſchrieben — ich ſolle wiederkommen. Er kennt mich eben nicht,
ſonſt wäre er vielleicht aufrichtig geweſen. Es kann ja auch nur Alters—
ſchwäche ſein, die plötzlich eintritt und nachholt, was ſie bis jezt verſäumt
hatte. Ich bin im Ganzen merkwürdig ruhig darüber, und lege damit eine
anſtändige Probe meines geſammelten Willens zuſtandes ab. Schlimmer iſt
799
es mit dem Denken und Gedächtnißvermögen, das habe ich dem ſteten
Ohrenbrauſen zu danken, das andauert ohne daß ich bis jezt ſchwerhörig ge⸗
worden bin. Du ſiehſt, das Alter kommt mit Macht, aber es findet mich
bereit und ergeben.
Wenn Du alſo wirklich das Geld nicht brauchſt, fo ſchicke mir es gleich.
Ich habe den Schweſtern 250 Mark und Lorchen 89 leihen müſſen, da
kannſt Du wohl denken, daß mir die Gefahr auf dem Nacken fizt...
Lorchen* giebt ein Buch heraus, Auszüge aus ihres Vaters Werken. Es
iſt ein Trümmerhaufen prachtvollſten Materials, vom Brand zerſtört, troſt⸗
loſen Anblicks. Uns kann es in dieſer Zeit ſehr ſchaͤdlich werden, das muß u;
man denn auch tragen. Sie hat das Recht und die Überzeugung dazu. 10
Anſelms großes Mittelſtück wird 1. April abgeſchickt und ſoll bis zu den I
Kaiſerfeſtlichkeiten an Ort und Stelle fein. Ich habe es mit Sorge und %
Mühe durchgeſezt, nicht das Fertigwerden, aber das rechtzeitige Ab⸗ 4.
ſchicken. 7 |
Auf Deine mir ſympathiſche Andeutung auf die allgemeinen Zuſtände \
hätte ich viel zu antworten, weil ich in meiner Einſamkeit viel darüber nach⸗ N
denke. Kein Land wird groß außer auf dem Boden der Kultur und mit 5
dem idealen Ziel der Kunſt und Wiſſenſchaft. Wir haben eine Regierung,
die Beides nicht kennt und deshalb verachtet. Der Kaiſer iſt ein alter be⸗
ſchränkter Mann, der auf ſeinen verwundeten Arm weiſt und dadurch jedem
Gedanken Schweigen gebietet. Der Lenker des Staates aber hat ſich längſt
überlebt. Er iſt kein Mann des Friedens, dazu fehlt ihm die Einſicht, die 3
Geduld, die Liebe. Mit Witzen die heiligſten Güter der Menſchen bee 7
handeln iſt ein frivoles Beginnen. Ich denke, es iſt ohne daß man es weiß, 1
ſehr viel Geld verbraucht, das ſoll durch die Zölle auf Koſten der kleinen 1
Leute beigebracht werden. Er ſelbſt hat keinen feſten Boden mehr, und je
weiter er ausgreift um ſich zu halten, deſto tiefer ſinkt er ein und die Wohl⸗
fahrt des Volkes mit ihm. „Niemand iſt groß, der es nicht iſt bis an's
Ende.“ Citat v. Henriette F. Im Großen Allgemeinen iſt eine zwanzig⸗
jährige Calamität eine kleine Sache — die Zeit geht raſch drüber hin und
in der Geſchichte nimmt ſich ſo Etwas verwunderlich klein aus. Die darin W
Lebenden freilich empfinden es anders. Ich fehe nicht ſchwarz in die u⸗
kunft, aber wohl in unſere nächſte, in meine ganz. Ich möchte noch mehrt
ſchreiben, aber es geht nicht, weil ich Alles ganz verblaßt und ſchattengaft
ſehe. Deinen Brief habe ich mir von Babette vorſagen laſſen. Bitte nimm
recht ſchwarze Dinte wenn Du mir ſchreibſt. Wenn Du meine Handſchrift
verändert findeſt, ſo iſt dies aus dem nehmlichen Grunde.
Von Herzen grüßend D. H. F.
Tochter des Philoſophen Ludwig Feuerbach.
800
Liebe Sophie! Nbg. 19 Nov. 79.
Unſere Briefe haben ſich gekreuzt und ich will dem meinigen einen Nach-
trag hinzufügen um Dir zu ſagen, daß ich es hoch anrechne aber als ein
Opfer anſehe, wenn Du den heiteren Chriſtabend bei Deinen Geſchwiſtern
x aufgeben würdeſt um ein dunkles Weihnachten, um meiner Einſamkeit
willen, bei mir zu feiern. Die Idee drückt mich. Falls Du aber von Dir
ſelber aus, wegen mir unbekannten Urſachen lieber hier ſein willſt, ſo biſt
Du mir natürlich von Herzen willkommen. Alſo, bitte, entſcheide ohne
Rückſicht auf mich.
Die Märchen“ — ja a ft Du, das Buch macht mir etwelchen Kummer,
da ich mir ſelbſt nicht recht traue. Die Wahrheit zu ſagen gefällt es mir
ſchlecht. Es erſcheint mir langweilig und ſchwerfällig in den Erläuterungen,
die ſich breit auf die armen duftigen Blüthen niederſetzen. Glücks genug
wenn ſie ſie nicht ganz zerdrücken. Die Entſtehungsnotizen will ich mir,
als lehrhaft, gerne gefallen laſſen; wenn man aber nachher ſagte: Der neue
Paris iſt der Eintritt in das Reich der ſchöpferiſchen Dichterphantaſie mit
der ganzen göttlichen Ungezogenheit des Genieepheben und die Meluſine
verdankt der Göthiſchen Eheſcheu ihr halb verklagendes halb entſchuldigendes
Daſein und dies zwar in kunſtvollendeter, zierlichſter, ergötzlichſter Form,
über die man nicht viel zu denken, ſondern nur ſich gründlich zu freuen
braucht — wenn das kurz ausgeſprochen würde, wäre es nicht genug?
Dteer Verfaſſer ſagt, was Jedermann weiß der ihn liebt, und, in gutem
Glauben, eigentlich mehr als er ſelber weiß. Es iſt ein kurioſes Ding ſich
in die Geiſteswerkſtatt eines großen Dichters zu wagen, wenn man nicht
ſelbſt Einer iſt. Würde Göthe nicht herzlich gelacht haben über die Realitäts⸗
waſſerſpritzen und über den trojaniſchen Krieg mit Achatkugeln oder ſich be—
trübt haben über die Meinung er habe mit ſeiner Zwergin die ſüße Friede—
ricke gemeint? Doch glaubt Herr Meier dies ſelbſt nicht. Daß aber der
Humor wie die logiſche Denkkraft immer allgemein iſt, das wollen
Wenige begreifen.
Laßt nur den Duft der Roſe chemiſch unterſuchen oder etwa an dem
| Liede „über allen Wipfeln iſt Ruh“ nachweiſen ob es Tannen oder Fichten,
Eichen oder Buchen waren und was für Vöglein: Finken oder Meiſen! —
Die Tiefe und Süßigkeit des Geiſtes und der Natur wird ſich vor ſolch
f ungeſchicktem Taſten verſchließen. Seliges Untertauchen und Vergeſſen
giebt die Schönheit allein.
Ich weiß nicht wer Herr Meier von Waldeck, der Freund Deiner Freun—
din und was er iſt. Willſt Du es mir ſagen? Und über die Wanderjahre
ſchreibt er? Schwieriges Unternehmen, wo Mittelpunkt und Hauptſache ſo
Goethes Märchen, herausgegeben von Meier von Waldeck.
801
weit auseinandergehen! Ich würde mich davor fürchten wie vor dem lezten
Märchen, das ich noch nicht geleſen habe. Die Makarie iſt, denke ich mir,
eine Verherrlichung der Herzogin Amalie, aus Mesmerismus und Frei⸗
maurerei gemiſcht. Ich will nun, vielleicht zu meiner Schande, aber ehrlich
geſtehen, daß in den 55 Bändchen meiner Ausgabe mir zwei Frauengeſtalten
ganz widerhaarig ſind; das iſt in den Lehrjahren die Thereſe, in den Wander⸗
jahren Natalie. Heiliger Göthe vergieb mir! Und Du, liebe Sophie, ver-
arge mir's nicht, und laß Dir den Hr. Meier durch mich nicht verderben.
Herzl. Gr. Des
Liebe Sophie! Nbg., 13. Auguſt 80.
Dein Brief hat mir wohl gethan und ich möchte ihn auch gleich beant⸗
worten, aber nur mit wenigen Zeilen und nur der Hauptſache nach.
Ich freue mich Deines Aufenthaltes in Hornberg um ſo mehr als ich
die Szenerie gut kenne von alten Zeiten her. Für mich wäre es nichts; jeder
Schritt ſchmerzvolle Erinnerung.
Du haſt Recht, daß ich dem Leben entfremdet bin. Darin haben ſich
große Wandlungen in mir vollzogen. Ich ſtehe draußen, und ſtrebe
danach mich darüber zu erheben, was aber nur momentan gelingt. Eins
aber iſt mir geblieben oder, wenn Du willſt, Gott hat es mir gelaſſen: Die
Fähigkeit, der Lebensberechtigung derer die ich liebe, mich zu freuen. Dies
iſt für den Reſt meines Alters mein Antheil am Leben. Sonſt habe ich
keinen. Aber er kann mit der Zeit größer werden und ſich erweitern durch
Ideen, die auch dann felbft wieder an dem Leben anknüpfen unmittelbar —
Ob ich ſo lange Zeit habe, weiß ich nicht. Wie dem ſei, ſo iſt es gut und
recht mich theilnehmen zu laſſen an dem was Euch zu kommt in Leid und
Freud; es gehört dies zu meinem „Antheil“.
Den Egoismus der Schmerzen habe ich überwunden. Ich ſehne mich
nach der Verſöhnung im Ganzen und Vollen, werde ſie aber nicht völlig
erringen, weil ich meinen Schmerz als eine perſönliche Erinnerung und als
einzige menſchliche Berechtigung liebe und hege. Aber es iſt hie und da ein
bis zur letzten Grenze dringender verklärender Gedanken vor der Hand ſchon
genug. Man muß nicht zu viel verlangen. Ich war neulich einen Tag in
Grüneberg, dem Stromerſchen Gut an der kleinen Salzach; ein altes Feudal⸗
ſchloß mit ſieben Fuß dicken Mauern, Giebeln runden Scheiben und a
hundertjährige Linden in einer Waldeinſamkeit wie ich noch keine geſehen
habe. Ich blieb die halbe Nacht an meinem Fenſter ſitzen, rings ganz nahe
Waldmauern ein kleines Stück Himmel mit Mond und Sternen, Baum
und Waſſerrauſchen und der heiße Duft von Heliotrop und Roſen aus dem
kleinen Garten. — In dieſer Nacht hatte ich einen ſolchen Verklärungs—
moment, den ſtärkſten den ich bis jetzt empfand. Die Natur hatte mich
802
überwältigt. Die Unendlichkeit in der engften Begrenzung, die Stille, die
mit tauſend Zungen redet, das ewige Leben in Zeit und Tod. In jener
Nacht habe ich meine Seele in aller Wahrheit mit vielen Thränen Gott
hingegeben, und ich fühle, daß dieſe Stunde eine Stufe aufwärts war.
Mit dem erſten Frühjahr gehe ich nach Noer* und dann ſoll das Meer
mir zur zweiten verhelfen.
Dies iſt ein Geburtstagsbrief, liebe Sophie, den Du in Ehren halten
magſt. Man kann nicht immer ſo die Wahrheit ſagen.
Ich ſtecke in unangenehmen Geſchäften, die ich aber heute bei Seite
ſchieben will. Ich weiß nicht haſt Du Dein Depoſitum noch erhalten?
Jedenfalls erwartet es Dich bei Deiner Zurückkunft. Ich bin frei.
Herzl. Gruß D. H. F.
Liebe Sophie! Ansb., 26./1 2. 80.
Im alten Jahre will ich Dir noch einen Gruß ſchicken, wenn auch einen
ſehr kurzen, da mir Zeit und Stimmung zum Schreiben fehlt.
Du haſt wohl Recht mit der Erklärung Deines Schweigens und doch
nicht ganz Recht. Was ſchön und edel iſt, das bleibt es auch für mich,
ſelbſt wenn ich nicht die Kraft des Genießens habe. Das Bewußtſein, daß
Andere richtig genießen iſt dann mein Theil an der Schönheit, mit dem
ich auch zufrieden bin, um ſo mehr als ich mehr und mehr, was man ſo
ſagt, zuſammen gehe, und das ſtille geiſtige Wiſſen deshalb auch immer
mehr dem Mittelpunkt in mir nahe kommt. Deshalb darfſt du Alles
ſchreiben und meines Antheils ſtets verſichert ſein. Für mich kann ich nur
noch das brauchen, was aus der tiefſten ſeeliſchen Empfindung kommt.
Levi hat mir Orgelfuge mit Präludium v. Bach in E moll geſchickt, die
Niemand kennt. Er hat die Partitur verſteckt gefunden und zurecht gemacht.
Das hat gut gethan und iſt ſo wie ich meinte. Das Jugendthema klopft
einfach an, dann öffnet ſich die Pforte, Du trittſt ein, und „die Herrlichkeit
des Herrn geht auf über dir,“ wie es, glaube ich, im Jeſayas heißt....
Alle guten Wünſche ſind mit Dir D. H. F.
Liebe Sophie! Ansbach, 22.) 1. 8 1.
Herzlichen Dank! Deine Sendung hat mich von einer Sorge befreit.
Ich wußte nicht, ob ich mit der Hausmiethe fertig würde. Nun geht es,
ich denke mit dem Übrigen warten zu können, wo nicht, fo helfe ich mir hier
bis die Zahlung erfolgt.
Ich bin in tiefſter Arbeit und habe auf unausgeſprochene Bitte an Frau
Weber die erſten zwei Abſchnitte meiner Arbeit“ geſchickt, die fie auch an
* Herrſchaftlicher Beſitz in der Nähe von Kiel, der Frau F. nahe befreundeten
Gräfl. Noerſchen Familie gehörig.
»Das Vermächtnis.
803
Holzmann ſchicken foll, weil mir an deſſen Urtheil liegt. Sei fo gut Dir
das Heft von Frau Weber für einen halben Tag geben zu laſſen und leſe es
ganz ſtill für Dich. Niemand ſoll mitleſen und Du darfſt es Niemand geben.
Bis zum Moment des Erſcheinens darf Niemand mein Heiligthum ſehen
als die Nächſten. Du folgſt mir, nicht wahr? Anſelm iſt ganz und gar
Autor, es iſt kein fremdes Wort darin, nur die Verarbeitung und die
Anordnung des Materials iſt mein Geſchäft.
In Wien habe ich gar nicht gehandelt, und werde jetzt wieder des Idea⸗
lismus beſchuldigt. Hr. v. Eitelberger war in Nürnberg extra deshalb und
bat mich die Sache durch große Forderungen nicht unmöglich zu machen.
Auf die offizielle Anfrage antwortete ich, ich wolle weder den Plan unmög⸗
lich machen noch meines Sohnes Ehre zu nahe treten, deshalb erklärte ich
mich zum Voraus einverſtanden mit dem was der Oſterreichiſche Staat
mir bewilligen könne und wolle. Der Abſchluß war für die 4 Bilder und
die Umriß⸗Zeichnungen 7000 fl. in vierjährigen Raten zahlbar.
Anſelms Schüler Teuſchert erhält den Auftrag zur Vollendung. Ernſt
und Hynäus werden auf meine Bitte dabei beſchäftigt. Es iſt dies eine
große Errungenſchaft. Gott gebe ſeinen Segen.
Hr. Jordan nimmt zurück, was ich nicht verkaufen kann. Vorderhand
habe ich eine Aufforderung nach Frankfurt und zwar privatim, was mir
das Liebſte iſt. So hat ſich meine Lage etwas ſicherer geſtellt.
Die Allgemeine Miſere kenne ich freilich, und die wenigen die Du aus⸗
nimmſt lügen in ihren Beutel. Ich will auch gar nicht wohlhabend ſein
ſondern nur ſchuldenfrei. Die letzten 4000 an die Erben drücken mich wie
eine Felſenlaſt.
Ich danke Dir für das Album das noch nicht angekommen iſt. Verzeih mir,
daß ich Deinen Scherz nicht würdigen konnte, es war zwei Tage vor dem Todes⸗
tag. Meine Gedanken zogen in die Weite und ſenkten ſich dann nieder auf einen
Punkt. Das Grab war mit Lorbeerkränzen überdeckt wie im vorigen Jahr.
Ich kann überhaupt ſchwer leſen. Mit Intereſſe habe ich im vorigen
Jahr das Amulet von Ferdinand Meyer geleſen, dann eine Abhandlung
von Kopp, die er mir geſchenkt hat: Aurea Catena Homeri, und jetzt leſe
ich Ribbecks 1 Band ſeiner Ritſchlbiographie, die er mir auch geſchickt hat.
Treitſchkes 19. Jahrh. wollte ich leſen, konnte aber nicht, weil mir dieſe Akt
von Waffenſeligkeit doch gar zu bedenklich und das wonnnevolle Wühlen in
den Schreckniſſen des Schlachtfeldes für einen Geſchichtsforſcher unwürdig
vorkam und weil die Preußenvergötterung die die ganze Völkerwelt außer⸗
halb mit Ausnahme von Rußland als Korb und Auskehricht behandelt,
mir geradezu ecklig wurde und langweilig, obwohl er in der Hauptſache
großentheils Recht haben mag. Ich heife aber das anne Schimpfen.
Es iſt genug die Wahrheit zu fagen.
804
Ich bin hier zufrieden, fo weit ich dies vermag, doch glaube ich würde es
nicht gut ſein all zulange zu bleiben. Die Umſtände werden es fügen. Die
Menſchen ſind gebildeter hier als in Nürnberg und ich hätte im Hand—
umdrehen einen muſikaliſchen Kreis, der Gutes leiſten kann, aber ich kann
nicht. Ich ſpiele pianiſſimo Bach, damit es ja Niemand hört und faſt
möchte ich ſagen, ich auch nicht.
Ich bin in einen Abgrund geſtürzt, aus dem heraus zu klettern ich bis
an meinen eigenen Jod brauchen werde. Wenn mirs, nur bis dahin gelingen
würde, wäre ich zufrieden. Von Herzen D. H. F.
Liebe Sophie! Ansb. 5/4 8ı.
Ich hatte ſchon ſeit der ganzen vorigen Woche ein rechtes innerliches Be-
dürfniß Dir zu ſchreiben, und benütze heute eine ruhige Stunde dazu, in
der ich die Arbeit bei Seite gelegt habe.
Ich dachte dieſe Tage viel zurück an die äußeren und innern Stürme des
vergangenen Jahres und wundere mich, wie ein Menſch das Alles aus-
halten kann. Nun hat ſich äußerlich Alles zum Guten gewendet; meinen
innerlichen Schmerz, den behalte ich als mein eigneſtes theuerſtes Seelengut
bis an mein Ende; ſo iſt eine Zeit des Abſchluſſes gekommen, in der ich
denen die mir am nächſten ſtehen die Hand geben möchte, um ihnen zu
danken und ſie zu bitten, daß ſie mir gut bleiben ſo lange ich noch lebe.
Meine Arbeit neigt ſich zu Ende, und wühlt ſich mit jedem Schritt
tiefer in die Seele ein. Das Grabmal wird bis Ende dieſes Monats fertig,
mit Relief und Bäumen und meine Nachlaßgeſchäfte ſind vollſtändig zu
Ende. Der ganze Nachlaßreſt wird nach München gebracht, dort in der
Pinakothek aufbewahrt und allmählig in langen Ratenzahlungen erworben;
natürlich für mäßigſte Preiſe und für eine Reihe von Jahren, die ich nicht
erlebe. Doch das thut nichts zur Sache. Das höchſte Intereſſe ſind mir
die Bilder und eine würdige Stätte für ſie. Alles Andere kommt jezt in
zweiter Linie. Ich habe für die Titanenſkizze den Preis der Meyerſchen
Skizzen erhalten, damit ich mich friedlich und ehrenvoll in Berlin löſen
kann. Dies iſt geſchehen und die Amazonenſchlacht unterwegs nach Mün⸗
chen. Die Meyerſche Sammlung iſt mein und darunter die Kreuzabnahme⸗
Skizze, an der meine ganze Seele hing, ſeitdem ich fie in Berlin zum erften-
mal geſehen. Seit geſtern bin ich in deren Beſitz und ich ſpüre Etwas von
den Worten: „Meinen Frieden gebe ich Euch, meinen Frieden laſſe ich Euch.“
Mein Unterhalt iſt in aller Beſcheidenheit gedeckt. Ich habe jetzt ohn—
gefähr 24— 2500 M. was ſich mit der Zeit noch etwas erhöhen wird. Ich
werde bis 1882 ſicher hier bleiben. Sollte ich bis dahin noch leben, fo könnte
eine Veränderung vorgehen, doch weiß ich nicht wohin. . ..
Sei herzlich gegrüßt und ſchreibe bald. D. H. F.
805
Liebe Sophie! 7. Auguſt 81.
Habe Dank für Deinen lieben Brief. Dich jezt zu einer müßigen Reiſe
hierher veranlaffen, wäre ſehr unrecht. Ich freue mich Dich auf einer ſchöͤnen
Reiſe zu wiſſen und was mich betrifft, ſo verſenke ich mich in die Abgründe
der Erinnerung, d. h. ich mache das Vermächtniß druckfertig. Von dem Brüll-
feſt werde ich das Kirchenconcert mitmachen, wenn ich kann. Weiter nichts.
. . . Der Parfival macht aus muſikaliſcher Armuth einen ſceniſchen
Reichtum, der wohl einzig in ſeiner Art iſt, dazu gehört der ſinnliche und
zugleich überirdiſche Klang des Orcheſters. Wagner hat in ihm (P.) er⸗
reicht, was er vermöge ſeiner Talente — nicht ſeines Talents — erreichen
konnte, und das iſt immerhin Etwas Großes. Deine Andeutungen treffen
mit meinem Gefühl zuſammen. Die Zeitmotive ſind mir ganz und voll
antiphatiſch.
Ich habe noch eine Bitte. Es iſt mir im Heidelberger Archäol. Kabinet
ein leidlich erwärmtes Intereſſe aufgeſtiegen, das ich nicht verpuffen möchte.
Kannſt Du mir in Erl. nicht einige Berichte über Olympia u. Pergamon
verſchaffen, nur für einige Tage?
Herzl. Grüße d. Deinigen und Dir D. H. Feuerbach.
Liebe Sophie! A. 1. Jan. 3
Verzeihe, daß ich Dir ſo lange nicht geſchrieben. Es iſt mir viel da⸗
zwiſchen gekommen, beſonders ſeit dem 20. December die traurige Kata⸗
ſtrophe in Noer, die mich vollkommen der Faſſung beraubt hat. Nun iſt
Alles vorüber, der liebe herrliche Menſch bei ſeinen Eltern in der Gruft und
mir iſt als hätte ich einen zweiten Sohn verloren. Am 4. war ich in
Nürnberg. Dies Alles nur zur Entſchuldigung, ich mag ſonſt über das was
mir wehe thut ungerne mehr ſprechen. Es wird zu viel. ...
Wenn Du mir Etwas von Dir ſelbſt über das Vermächtniß hätteſt ſagen
wollen, ſo wäre mir dies lieber geweſen als die Heidelberger Urtheile, die
ich mir an den Fingern abzählen kann. An einzelnen Orten ſchlägt es
durch, an andern weiß man nichts davon. Ich muß mir unſägliche Mühe
geben um das Ganze in Fluß zu bringen. Hätte Pecht nicht ein Loch ins
Eis gehauen, es flöſſe gar nicht.
Briefe habe ich viele und wirklich über alles Erwarten verſtändnisvolle
und faſt begeiſterungsvolle, aber bis ſolche Stimmen ſich nach Außen geltend
machen, das dauert lange oder kommt gar nicht. HR
Sei fo gut und ſchreibe mir was Du davon denkſt ohne gelehrten Hinter-
halt. Ich möchte doch die Geſinnung meiner Nächften kennen.
Dieſe höchſt unvollkommenen Zeilen ſchicke ich nach Heidelberg, weil ich
Dich doch wieder zu hauſe glaube und ich bitte Dich mir über lange
Schreibpauſen nicht zu grollen. Ich bin müde und kann nicht mehr.
806
Von Wien habe ich Nachricht, daß die Nänie v. Brahms von ganz
wunderbarer Wirkung und die ſchönſte ſeiner Compoſitionen überhaupt
wäre. Mir kommt es am Clavier ohngefähr auch ſo vor, doch wagte ich
kein Urtheil, weil bei Brahms doch immer das Orcheſter einen großen Theil
der Wirkung in ſich faßt.
Verzeih den ſchlechten Brief und laſſe bald von Dir hören. Mit allen
guten Wünſchen zum neuen Jahr D. H. F.
Liebe Sophie! [1883].
Herzlichen Dank für Deinen Brief. Wir ſtecken noch immer im tiefften
Schnee; man fragt ſich wie das werden ſoll wenn endlich die Wärme zu—
mal kommt.
Die Bilder ſchicke ich in dieſen Tagen, d. h. noch in dieſer Woche an
Dich ab. Du weißt, daß in Berlin die Roſen und die Landſchaft zu
1000 Mark angeſezt wurden. Ich will nichts daran gewinnen und bin
zufrieden wenn ſie in liebevolle Hände kommen. Ein flüchtiger Studien—
kopf kommt auch mit, der gleichfalls ooo Mark angeſezt war. Es iſt
leere Leinwand darauf, aber er iſt ſo fein in der Farbe daß es kaum zu viel
ſein wird. Falls aber die Unfertigkeit zu ſtark ins Auge fällt ſo gebe ich
ihn auch um 8 oder 600, da ich nicht daran hänge; (doch um 600 nicht
ganz gerne.) Ich überlaſſe Dir dies.
Anders iſt es mit der Skizze „Kreuzabnahme“, von der ich einſtweilen
eine Photographie beilege, die ſpäter Frau Weber übergeben werden ſoll.
Der Hauptreiz der Skizze beſteht in der Farbe. Die Gruppe unter dem
Kreuz iſt ein friedevoller Dämmerſchatten, unendlich harmoniſch, die ab—
ziehenden Knechte ſind grell beleuchtet wie von Abendlichtern die durch Ge—
witterwolken brechen, auch grell und bunt gekleidet — ſie ſtürmen abwärts
in's tiefe Dunkel. Das vollkommen Skizzenhafte, ſeht ihr auch an der Photo—
graphie. Dennoch iſt dieſer Entwurf von höchſtem charakteriſtiſchem künſt—
leriſchen Werthe. Ich kann das Bild verſchenken aber nicht um geringen Preis
verkaufen. Wenn ich mich überhaupt dazu verſtehen würde, ſo iſt es, weil ich
doch nur noch wenige Jahre lebe und nach meinem Tode Niemand da iſt,
der mit Erfahrung und Verſtändniß für dieſe Dinge ſorgen kann. Es taugt
dieſe Kreuzabnahme nicht in einen modernen Salon, in dem man Beſuche
empfängt und Geſellſchaften giebt. Sie bedarf ein kleines ſtilles Kabinet,
wo ſie ihren Frieden ausſtrömen kann. Erlaube mir auch jezt noch keinen
Preis zu nennen, für mich iſt das Bild unſchätzbar, außerdem richtet ſich
der landläufige Preis für mich nach der etwaigen künftigen Heimath des
Bildes und dem Willen und Verhältniſſen des verſtändig empfinden—
den Kunſtfreundes, der es ſich zu eigen machen möchte. Wollte ich es
auf Ausſtellung ſchicken, ſo wäre es am erſten Tag verkauft, aber es iſt
807
ein Heiligthum und ſoll nicht von profanen Augen beguckt und bekrittelt
werden.
In dieſem Sinn bitte ich auch die andern Sachen wohl zu verwahren,
Niemanden zu zeigen als Fräulein M. damit kein Geſchwätz entſteht. Ich
bitte dem Kunſtbeck das Verſprechen des Stillſchweigens abzunehmen. Ich
will keine Ausſtellung ſondern nur eine Privatmittheilung. An Hanfſt. habe
ich bereits wegen der Zeichnung geſchrieben. In Eile. D. tr. H. F.
Liebe Sophie! 15. Dez. [1886]
So lange habe ich nichts von Dir gehört. Verzeihe mir mein Schweigen.
Das Schreiben wird mir etwas ſchwer und meine Freunde müſſen Nachſicht
mit mir haben
Ich war ſeit dem Tod Leonorens wo ich am sten Mai nachhauſe kam
nicht einen Tag aus Ansbach fort. Ich hoffte in dieſem Winter etwas nach
Norden zu kommen, um noch einmal Muſik zu hören und ehe ich blind
werde Anſelms Bilder nochmals zu ſehen. Aber es wird ſchwer angehen,
ich bin oft unwohl, leide an Schmerzen in den Augen und ertrage die Kälte
nicht. Doch habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.
Ein einfacher Lebenslauf, wie Du ſiehſt und ganz paſſend für eine alte
Frau, die noch 6 Jahre zu den Achtzigen hat.
Wenn ich aber auch ſelbſt kein Leben nach Außen mehr habe, ſo nehme
ich doch von ganzem Herzen Ancheil an dem was meine Freunde betrifft, ich
möcht daran nichts verlieren und deshalb bitte ich Dich mir hie und da in
einer müßigen Stunde ein paar Zeilen zu ſchreiben, und falls Du wieder
einmal nach Erlangen reiſeſt nicht an mir vorüber zu fahren. Ich ſelbſt
komme in dieſem Jahre wenigſtens nicht mehr nach Heidelberg. Die unbe-
queme Reiſe iſt nichts für mich, und dann würde die Hetze jezt noch größer
fein als früher....
Die Noerarbeit ift fertig und wird gedruckt. Es wird ein fehr befchei-
denes Büchlein werden und wenig zu reden von ſich machen.
Verzeihe die ſchlechten Zeilen und rechne nicht mit mir.
In alter treuer Liebe und Freundſchaft ſo lange ich denken und fühlen
kann SE
D. H. F. 3
808
Auf Sumatra
von Hermann Heſſe
Überfahrt
on Singapur aus fuhr ich auf einem kleinen holländiſchen Küſten⸗
V dampfer über den Aquator weg nach Südſumatra. Die Sache be—
gann mit Gepäckſchwierigkeiten am Pier und wäre beinahe im erſten
Anfang ſchon verunglückt, denn kaum war das kleine Motorbötchen, das
uns und unſre vielen Kiften an Bord des Brouwer bringen ſollte, vom Pier
abgeſtoßen, ſo fuhr uns ein etwas größeres Boot in eiliger Konkurrenz ſo
wild mitten in der Breitſeite an, daß wir alle übereinander fielen und ſchon ans
Schwimmen dachten. Es war jedoch wider alle Wahrſcheinlichkeit Gerechtig—
keit geſchehen und der Angreifer war der Geſchädigte; mit einem großen
Loch im Bug mußte er abziehen.
Auf dem Brouwer waren wir zu dreien die einzigen Paſſagiere der erſten
Klaſſe und hatten das Schiff für uns wie eine Privatjacht. Das kleine
Hinterdeck ward mit holländiſcher Behaglichkeit für uns hergerichtet, ein
weiß gedeckter Tiſch mit altväteriſchen Lehnſtühlen, daneben vier von den
nicht genug zu lobenden aſiatiſchen Liegeſtühlen mit Holzgeſtellen zum
Hochlegen der Beine, weiter zwei naive biedere Kanapees mit weiß und rot
geſtreiften Bezügen. Die geſamte Bedienung war malayiſch, und alsbald
wurde uns von drei aufmerkſamen, geſchickten, hübſchen Javanen eine erſte
Mahlzeit aufgetragen, ein überaus reichhaltiges, ſolides Reiseſſen, das ich
nach den ſchlimmen Schaubroten der indiſchen Gaſthöfe mit Dankbarkeit
begrüßte. In den Hotels der Straits und Malay States wird man über—
all von chineſiſchen Boys bedient, die faſt ebenſo ſchlecht und lieblos ſervieren
wie europäiſche Kellner in einem Durchſchnitts hotel. Die Javanen hier
waren dagegen um unſer Wohlergehen mit der einſchmeichelnden Treue guter
Krankenſchweſtern bemüht, ſie umkreiſten uns beſtändig mit Aufmerkſamkeit
und kamen jedem kleinſten Bedürfniſſe lächelnd und ohne Haſt zuvor; ſie
trugen uns Speiſen auf, boten das Beſte mit beſcheidener Gebärde lobend
an, ſchenkten jedes Trinkglas nach jedem Schluck wieder ſorglich voll, ver—
teilten den Reſt der gemeinſamen Flaſche mit liebevoller Gerechtigkeit zwiſchen
uns dreien, ſchützten uns vor der Sonne und vor dem Winde, ſtanden augen—
blicks mit brennendem Streichholz bereit, wenn eine Zigarre ausgegangen
war, und alle ihre Mienen und Bewegungen drückten weder widerwilliges
Dienſttun noch feige Sklaverei aus, ſondern eitel freudige Dienerſchaft und
ergebenſtes Wohlwollen.
Mittſchiffs lagen drei Chineſen und fpielten Karten, ohne zu ſprechen,
aber genau mit demſelben leidenſchaftlich hoffenden Auftrumpfen der guten
52 809
und demſelben reſigniert ärgerlichen Hinſchmeißen der ſchlechten Blätter wie
man es bei ſchwäbiſchen Soldaten, bayriſchen Jägern und preußiſchen
Matroſen ſieht. Eine Malayenfamilie aus Tonkal lag auf ihrer Reiſebaſt⸗
matte: ein Großvater, ein Elternpaar, vier Kinder. Die Kinder hatten es
gut, ſahen wohlgehalten aus und trugen Halsketten und fiberne Fußſpangen.
Beim Sonnenuntergang ſuchte ſich der Großvater einen freien Raum, ver⸗
neigte ſich, kniete nieder, erhob ſich wieder und vollzog mit langſamer Würde
die Übungen des abendlichen Gebets. Sein alter Rücken krümmte und
ſtreckte ſich in genauem Gleichtakt, ſein roter Turban und ſein ſpitzer grauer
Bart ſtanden ſcharf in der einbrechenden Dämmerung. Wir ſetzten uns mit
den beiden Offizieren zu einem reellen holländifchen Abendeſſen. Sterne
kamen herauf, das Meer dunkelte tiefſchwarß und die zackigen Silhouetten
der kleinen Berginſeln waren kaum mehr zu erfühlen. Wir waren ſtill
geworden und wären gerne zu Bett gegangen, doch war es allzu heiß, wir
ſaßen alle ruhig und waren naß vom unabkaſſig rieſelnden Schweiß.
Wir beſtellten Whisky und hatten kaum danach gerufen, ſo ſprang ſchon
einer der längſt auf Deck ſchlafenden Jonges auf und lief nach Schnaps
und Sodawaſſer.
An hundert Inſeln vorüber fuhren wir durch die brütende Nacht, manch⸗
mal von Leuchttürmen begrüßt, wir nippten am lauen Getränk, rauchten
hollaͤndiſche Zigarren und atmeten langſam und unwillig unter dem heißen
ſchwarzen Himmel. Wir ſprachen hin und wider ein Wort, über das Schiff
ober über Sumatra, über Krokodile und Malaria, aber es war keinem wichtig,
und manchmal ſtand einer auf, trat an die Reeling, ließ die Aſche feiner
Zigarre ins Waſſer fallen und ſuchte, ob in der Finſternis etwas zu ſehen
wäre. Und wir gingen auseinander und lagen jeder für ſich, an Deck oder
in der Kabine, und der Schweiß rann beſtändig an uns nieder, und für
dieſe Nacht waren wir alle reiſemüde und verſtimmt.
Am Morgen aber fuhren wir, ſchon jenfeits des Aquators, in die breite
kaffeebraune Mündung eines der großen Ströme von Sumatra ein.
Pelagiang
Der Europäer, der mit anderen als geſchäftlichen Abſichten nach dem Fu
malayiſchen Inſeln fährt, hat ſtets, und auch wenn er gar nicht auf €
füllung hofft, als Hintergrund feiner Worſtellungen und Wünſche die Lan
ſchaft und die primitive Paradiesunſchuld einer van Zantenſchen Inſel.
Reine Romantiker werden dieſe Paradieſe gelegentlich auch finden und eine *
Weile, beſtochen von der gutartigen Kindlichkeit der meiſten Malayen, Teil⸗
haber an einem köſtlichen Urzuſtand⸗ zu fein glauben.
Mir iſt der volle Genuß einer ſolchen Selbſttäuſchung nie geworden,
aber einen kleinen weltfernen Kawpeng habe ich doch gefunden, wo ich eine
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Zeitlang im Urwalde zu Gaſt war, wo mir wohl und heimiſch wurde und
der in meiner Erinnerung die ganze Wald- und Stromwelt von Sumatra
| kriſtalliſiert und ausdrückt. Dieſer kleine Kampong mit hundert Einwohnern
heißt Pelaiang und liegt zwei Tagereiſen weit von Djambi flußaufwärts im
Inneren des noch wenig bekannten Djambigebietes, das erſt kürzlich pazi—
fiziert wurde und zum größten Teil aus jungfräulichem Urwald beſteht.
Dort wohnten wir zu vieren ſamt unſrem chineſiſchen Koch Gemok in
einer Hütte aus Bambu, deren Dach und Wände aus Palmblättern ge—
flochten waren und die auf hohen Pfählen ruhte. Da hingen wir in unſrem
gelben, zierlich geflochtenen Käfig zweieinhalb Meter hoch in der Luft und
lebten, wie es uns gefiel. Die beiden Kaufleute taxierten die im Walde
ruhenden Kapitalien an Eiſengolz, der Kunſtmaler ſtieg mit dem Aquarell⸗
kaſten am Ufer herum und ärgerte ſich über die Malayenweiber, von denen
gerade die hübſchen ſich durchaus nicht abzeichnen und nicht einmal gern aus
der Nähe anſchauen ließen. Und ich ließ mich von Tageszeit und Wetter
treiben und lief in der endloſen Waldwelt herum wie in einem fabelhaften
Bilderbuch. Jeder ging ſeinen Weg und wurde auf ſeine Weiſe mit den
Moskiten, mit den wilden Gewittern, mit dem Urwald, mit den Malayen
und mit der ewig laſtenden heißfeuchten Schwüle fertig. Am Abend aber,
der in den Tropen allzu früh einbricht, kamen wir ſtets alle zuſammen und
ſaßen und lagen auf der Veranda beim Tiſch und bei der Lampe. Draußen
brüllte der Gewitterregen oder ſchrie das raſende Inſektenkonzert des Urwalds,
der uns in die Fenſterlöcher ſchaute; wir aber waren dann der Wildnis ſatt,
wir wollten es gut haben und der läſtigen Tropenhygiene vergeſſen, wir wollten
fröhlich fein und nichts von der Weft wiſſen, und fo lagen und ſaßen wir
und ſchöpften aus vier großen Kiſten Flaſchen mit Sodawaſſer und Whisky.
mit Rotwein und Weißwein mit Sherry und mit Bremer Schlüſſelbier,
Und dann ſchliefen wir unterm Mückennetz auf unſeren guten Matratzen am
Boden, jeder mit dem Talisman der wollenen Leibbinde verſehen, oder wir
lagen ſtill und hörten dem Regen zu, wie er in Kübeln herabklatſchte oder
auch zart und ſingend übers Blätterdach lief, bis am frühen Morgen der
Nashornvogel und die vielen unbekannten Singvögel ihr Lied begannen und
Mus Affen mit wahnfinnigeni Geheule den Tag begrüßten.
NR Dann ging ich an den ſechs oder ſieben Hütten vorbei in den Wald, vor
den Blutegeln und Schlangen geſchützt durch dieſelben Lodengamaſchen, die
ich im Winter in Graubünden trage, und alsbald nahm das zähe Dickicht
mich auf und lag zwiſchen mir und der Welt fremder und trennender als
alle Meere. Da liefen ftille ſchöne Eichhörnchen vor mir weg, ſchwarze mit
weißem Bauch und roten Vorderbemen, und große Vögel ſahen mich aus
ſtarren Waldaugen unfreundlich an, und bold erſchienen in zahlreichen Fami—
lien die Affen, rannten im grünen Aſtgeſchlinge, durch das kein Himmel
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blickte, wildfröhlich hinauf und hinab oder hockten hoch im Gezweig und
heulten toll in lang gedehnten ſchmerzlichen Tonleitern. Schaukelnd flog
manchmal einer von den großen ſchillernden Schmetterlingen über mich hin,
ſelig in ſeiner Schönheit, und am Boden tat das kleine Gezücht ſeine Arbeit.
Fußlange Tauſendfüßler rannten in blinder Eile durchs Gedränge, und
überall ſtrebten in dichten dunklen Zügen mächtige Ameiſenvölker, graue,
braune, rote, ſchwarze, geordnet nach gemeinſamen Zielen. Dicke faulende
Baumſtämme liegen umher, tauſendfach überwachſen von formenreichen
Farnen und dünnem zähem Dorngeſchlinge. Hier gärt die Natur ohne
Pauſe in erſchreckender Fruchtbarkeit, in einem raſenden Lebens- und Ver⸗
ſchwendungsfieber, das mich betäubt und beinahe entſetzt, und mit nord—
ländiſchem Gefühl wende ich mich jeder Erſcheinung dankbar zu, die inmitten
des erſtickenden Zeugungstaumels eine einzelne Form beſonders ausgeſtaltet
zeigt. Da ſteht zuweilen, vom dicken Gewirre umgeben und als herrlicher
Sieger darüber empor gebrochen, ein einzelner Rieſenbaum von unwahr⸗
ſcheinlicher Stärke und Höhe, in deſſen Krone tauſend Tiere leben und niſten
können, und aus ſeiner fürſtlichen Höhe hängen ſtill und vornehm ſchnur⸗
gerade, baumdicke Lianenfäden herab.
In dieſem Walde wird ſeit kurzem auch von Menſchen gearbeitet. Die
Djambi⸗Maatſchappji hat in dem noch völlig brach liegenden Lande die erſte
große Waldkonzeſſion erworben und beginnt dort Eiſenholzſtämme zu holen.
Ich ließ mich eines Tages zu einer Stelle führen, wo vor kurzem große
Stämme gekappt und behauen worden waren, und ſah eine Weile der
mühſeligſten Waldarbeit zu. Da wurden Stämme von zwanzig Meter
Länge, ſchwer wie Eiſen, von ſingenden und keuchenden Kuliſcharen mit
Winden und Hebeln, an Tauen und Ketten aus tiefen, urweltlich dammern⸗
den, ſumpfigen Waldſchluchten herauf geſchleppt, auf Holzrollen und auf
primitiven Schlitten, über Sumpf und Dorngeſtrüppe, über Buſch und
fettes feuchtes Gekräut hinweg, Elle für Elle gezerrt, gehalten, unterſtützt
und wieder weiter geſchleppt, jede Stunde ein kleines Stück weiter. Ein
kleiner Aſt von dieſem Holze, den ich ſpielend mit einer Hund aufnehmen
wollte, erwies ſich als ſo ſchwer, daß ich ihn auch mit beiden Armen und
voller Kraft nicht zu heben vermochte. Dieſer Schwere wegen iſt das Holz
unendlich mühſam zu transportieren: Bahnen gibt es im Lande noch nicht,
die einzige Straße iſt der Strom, und das Eiſenholz ſchwimmt nicht.
Es war großartig und merkwürdig zu ſehen, aber es iſt kein Vergnügen E
der Arbeit von Menſchen zuzuſehen, wo fie noch Laſt und Fluch und Knech⸗
tung iſt. Dieſe armen Malayen werden nie, wie es Europäer, Chineſen,
Amerikaner und Japaner tun, als Herren und Unternehmer ſolche Werke
betreiben, ſie werden immer nur Holzfäller und Schlepper und Säger ſein,
und was ſie dabei verdienen, das geht faſt alles für Bier und Tabak, für
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Uhrketten und Sonntagshüte wieder an die ausländiſchen Unternehmer
zurück.
Unberührt von den paar winzigen Feinden, die da an ſeinem Reichtum
zu zapfen verſuchen, ſteht noch immer der Urwald. Am Flußufer ſonnen
ſich die Krokodile, unerſchöpflich glüht in der feuchten Hitze das Wachstum
weiter, und wo die Natives ein Stückchen roden, um Reis darauf zu bauen,
da ſteht in zwei Jahren ſchon wieder hoher Buſch und in ſechs Jahren ſchon
wieder hoher Wald.
Ehe wir abfuhren, verſenkten wir unſre leeren Flaſchen in den braunen
Fluß. Unſre Matratzen wurden in Baſtmatten eingerollt und auf das Boot
gebracht und wir ſahen unfte gelbe Bambuhütte am ſchwarzen Rande des
ewigen Waldes ſtehen und kleiner werden, bis mit der erſten Windung des
Fluſſes alles verſank.
Sozieteit
s war ein großer Kampong oder ein kleines junges Städtchen an einem
der ſchönen breiten Ströme von Südſumatra. Vor drei, vier Jahren
war hier noch Krieg, jetzt liegen nur noch etwa hundert holländiſche Soldaten
im Städtchen und machen hie und da einen dekorativen Streifzug, um
etwaigen rebelliſchen Einwohnern zu zeigen, daß man da iſt und aufpaßt.
Was man von Eingeborenen zu ſehen bekommt, iſt ein kindlich harmloſes
Gemiſch von Urmalayen und Javanen, ſchattiert und gebrochen durch zwanzig
wenig zuträgliche Einflüſſe und Kreuzungen. Man ſieht javaniſche Tage—
löhner das Gras mit Schwertern abmähen, alle Viertelſtunde eine Handvoll,
und das Tragen eines Waſſerkruges über die Gaſſe iſt eine Mannesarbeit
für einen Vormittag. Gearbeitet wird meiſt von den Frauen, und dann von
den Chineſen, die auch hier ſich am kleinſten aufblühenden Ortchen alsbald
einfinden und die genügſamſte Pionierarbeit tun; ſie halten Kaufläden, ſie
treiben Schiffahrt, fie kaufen Gummi und verkaufen Reis, Fiſche und deut—
ſches Bier. Gearbeitet wird auch von den paar Europäern; es gibt eine
Eiſenholzunternehmung, deren Leiter ein überaus landeskundiger Schweizer
iſt, die übrigen Weißen ſind ohne Ausnahme holländiſche Beamte.
Ich beſuchte den Reſidenten und den Kontrolleur, und bekam mit vieler
| 5 Höflichkeit ein großes Papier zugeſtellt, von deſſen Notwendigkeit ich zuvor
gar nichts gewußt hatte und das eine Aufenthaltsbewilligung für Niederländiſch—
Indien darſtellte.
Ich hatte mich viel im Kampf mit Moskitos, Dornen und Sumpfgtas
im Buſch herumgetrieben, als ich nach dem Städtchen zurückkehrte. Alsbald
ward ich eingeladen, mich in der „Sozieteit“ einzufinden, und ging alſo
abends in den Klub, des Kontrolleurs wegen, der ein feiner und zartſinniger
Menſch war, wie ſie ſeit Multatuli je und je da draußen vorkommen.
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Die Baſarſtraße, die Hauptdorfgaſſe, war ſchon dunkel. Die Malayen
lehnten am Zaun und hatten ihre Kinder auf den Armen, die Chineſen
werkelten geräuſchlos im erleuchteten Hintergrund ihrer Kaufläden. Mitten
inne lag ein heftig erleuchtetes Bretterhaus, das war der Klub, und beim
Eintreten fand ich zwei Drittel der hieſigen Europäer verſannmelt. Viere
ſtanden um das Billard, drei ältere Herren und eine Dame ſaßen auf
Schaukelſtühlen vor den Fenſtern nach der Flußſeite, wandten der Sozieteit
den Rücken zu und genoſſen ſchweigend in ruhigen Atemzügen die ſchwach
gekühlte Luft der Abendſtunde. Der Reſt der Geſellſchaft ſaß in der Mitte
des Raumes um einen großen runden Tiſch und ſpielte Karten. Zu ihnen
ſetzte ich mich und wurde mit Munterkeit begrüßt, und nachdem man mit
Enttäuſchung vernommen, daß ich nicht Karten ſpielen könne, lud man
mich zu einem Würfelſpiele ein. Es ging um eine Runde Schnaps und
jeder ließ ſich fein Getränke kommen, Whisky Bitter und Bols, Gin und
Sherry, Vermouth und Anis in den abenkuerlichfien Miſchungen. Das
Würfelſpiel war ſo kompliziert und witzig, wie man es auf Schiffen und
Leuchttürmen anzutreffen pflegt, wo die Leute Zeit haben.
Nun ſaßen wir, etwa zehn Männer und zwei Damen, im grellen Licht
zweler Glühlampen von halb ſieben bis gegen halb zehn Uhr und würfelten
fleißig, immer wieder um eine Runde. Einmal blickte ich empor und im
Raume herum und ſah um die Lampen einen mächtig großen Schmetter⸗
ling flattern, größer als meine flache Hand, mit gelb und grüner Zeichnung
auf ſchwarzem Grunde. Ich beſchloß, ihn ſpäter zu fangen und mitzunehmen,
um doch etwas von dieſem Abend zu haben, und nun fröftefe und erheiterte
es mich, hie und da aus dem Kreis der Raucher und Würfelſpieler heraus
einen Blick nach dem herrlichen Falter zu werfen, der in dieſe rauchende und
trinkende Sozieteit ſo wenig paßte wie dieſe guten Holländer in den Urwald
paſſen.
Die letzte Runde verlor ein armer Leutnant, der höchſtens zweihundert
Gulden im Monat kriegt. Er wurde mächtig ausgelacht, wie überhaupt alle
dieſe langen Stunden hindurch Gelächter und laute Freudigkeit nie aufgehört
hatten, und ich erhob mich zum Abſchiednehmen. Wir ſchüttelten einander
die Hände und man bedauerte ſehr, daß ich ſchon weggehe, eben jetzt wo es
fidel zu werden anfange.
Der Rieſenſchmetterling war mehrmals gegen das Licht geflogen u u
hatte ſich verbrannt. Ich ſuchte eine Weile nach ihm und fand ihn, ſchein⸗
bar wenig verletzt, tot auf dem Fußboden liegen. Als ich ihn aufhob, war
fein Leib ſchon halb verſchwunden und wimmeſte von jenen winzigen grauen
Zwergameiſen, die man hier draußen im Zucker, in den Schuhen und
Strümpfen, in der Zigarrentaſch« und im Bett findet und über deren wilde
Beutegier man geduldig die Achſeln zu.Sen lernt wie über die Grauſamkeit
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der Chineſen, die Verlogenheit der Japaner, das Stehlen der Malayen und
andre große und kleine Übel des Oſtens.
Nacht auf Deck
Sr zweite Abend einer Flußreiſe auf einem kleinen chineſiſchen Rad⸗
dampfer den Bataug Hari hinauf. Ein hübſcher junger Javane, ein
Schneidermeiſter, der den halben Tag fleißig mit ſeiner Singerſchen Näh⸗
maſchine geklappert hatte, war mein Nachbar auf Deck. Er packte ſeine
Maſchine ein und ſeine Matratze aus, nahm langſam und gründlich alle
Übungen ſeines mohammedaniſchen Abendgebetes vor und legte ſich nieder.
Er zog ein arabiſch gedrucktes Erbauungsbüchlein aus dem Gürtel, las darin,
ſang halblaut ein paar Seiten daraus vor ſich hin und ſchlief ein. Noch im
ſchlaffen Einnicken verwahrte er ſorglich das kleine Büchlein wieder im
Gürtel. Hinter ihm, unter der rauchenden Laterne, ſpielten vier Chineſen
Karten, daneben lag eine Malay mit vier Kindern ſchlafend auf der Baſt⸗
matte. Eins von den Kindern lag im ſchwachen roten Licht, ein ſehr ſchönes,
langhaariges Mädchen von neun oder zehn Jahren, ſie trug noch keinen
Ohrſchmuck, aber dicke ſilberne Spangen an den Gelenken der zierlichen
Hände und Füße, und an der zweiten Zehe beider Füße je einen goldenen
Ring. Sonſt überall Schläfer und Halbſchläfer, in den weichen, wohlig
animaliſchen, elaſtiſchen Bewegungen der Naturvölker dem Boden ange
ſchmiegt, einer auch im Sitzen oder Hocken (auf beiden Fußſohlen) ſchlafend,
dazwiſchen eine Männergcuppe leiſe plaudernd. Hinten am Heck rauſchte
das große Rad wie in einer Mühle und draußen war dicke ſchwarze Finſter⸗
% nis, zuweilen durchflogen und noch ſchwärzer gemacht durch einen kurzlebigen
ho Funkenregen aus dem mit Holz geheizten Maſchinenofen.
Eine Stunde blieb ich noch munter, verſuchte beim mageren Lichtſchein
in meinen Notizen zu leſen und mich geiſtig von dem Geſtank zu iſolieren,
der mich umgab. Der Geruch des Kokos- oder Zitronellaöls, mit dem die
Natives kochen und mit dem ſie ſich leider auch den Leib einreiben, iſt von
einer trüben, ekelhaften Zähigkeit, und während meines ganzen Aufenthaltes
im Oſten war dieſer Geruch der einzige Punkt, in welchen meine Menſch—
8 ie ſich von der Menſchlichkeit der Natives ernftlich, ja widerwillig ab-
Be ‚Baur.
Ich ließ meine Matratze am Boden ausbreiten, putzte die Zähne mit
& 5 Sodapoſſe, zog die Taſchenuhr auf, nahm mein tägliches Quantum Chinin
een und verbarg Schlüſſel und Geldbeutel unterm Kopfkiſſen. Dann ſtellte
ich, um nicht nachts etwa auf die Naſe getreten zu werden, zwei Stühle
überm Kopfende der Matratze auf, kleidete mich gemächlich aus, ſchlüpfte ins
Schlafkleid und legte mich nieder Nu, gaben auch die Chineſen ihr Karten—
ſpiel auf und verhängten die Laterne mit einer Leinenjacke, und wir alle
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ruhten beim monotonen Geräuſch der Schiffsmaſchine in einer Dunkelheit,
die beinahe ebenſo dicht und zäh und ſchwer war wie der dicke ſchlimme
Kokosölgeruch. Manchmal lärmten unter uns die Matroſen, manchmal
ließen ſie mitten in der pechfinſtern Wildnis mit Heftigkeit die heiſere
Dampfpfeife ſpielen, und da ich nach zwei Stunden den Schlaf noch nicht
gefunden hatte, ſtand ich auf und ging aufs Vorderdeck, wo in vollkommener
Finſternis der Steuermann ſtand und mit rätſelhafter Sicherheit in die
gleichmäßig ſchwarze, undurchdringliche Nacht hineinſteuerte. Er mußte
Nachtaugen haben wie ein Tiger, und es war beinahe unheimlich, ihn am
Steuer drehen zu ſehen und zu wiſſen, daß wir in der ſchmalen Fahrtrinne
eines Urwaldſtromes mit hundert launiſchen Windungen unterwegs waren,
während ich mit aller Anſtrengung vom Ufer keinen Schimmer noch Schat⸗
ten wahrnehmen konnte. Der Kapitän ſchlief zuſammengekauert nebenan.
Wieder legte ich mich nieder. Es war ſehr heiß und auf meiner Schiffs⸗
ſeite ging kein Luftzug; immer wieder warf ich die Reiſedecke ab, unter der
ich die bloßen Füße geſchützt gehalten hatte, und immer wieder nötigten mich
die Biſſe der Moskitos, ſie von neuem zu bedecken. Und endlich, etwa um
Mitternacht, ſchlief ich doch noch ein, und meinte lang geſchlafen zu haben,
als das oft wiederholte Geheul der Schiffs pfeife mich weckte. Es war aber
erft halb zwei Uhr. Da und dort richteten erſchrockene Schläfer ſich taumelnd
auf, die meiſten ſanken alsbald wieder zurück und blieben ruhig, andre ſtan⸗
den auf und zogen das Tuch von der Laterne, deren Licht ringsum einen
ganzen Knäuel von Schlafenden enthüllte. Die Pfeife ſchrie weiter, die
Maſchine ſtoppte, das Schiff drehte ſich, an die Reeling tretend, ſah ich
plötzlich Land, ein Floß und eine Rohrhütte dicht neben uns, mit einem
kleinen Stoß legten wir an. Wir hatten keine Feuerung mehr und mußten
Holz einnehmen.
Die „Königstreppe“ herab kamen vom hohen Ufer zwei dunkle Männer
mit rauchenden Fackeln geſtiegen, ihre Fackeln waren aus dürren Blättern
gedreht und mit Baumharz getränkt. Auf dem Floß lagen große Haufen
von Holzſcheiten geſtapelt, und nun begann das Holzfaſſen, dem ich zwei
Stunden lang zuſchaute und namentlich zuhörte. Beim Fackellicht ſtanden
die Matroſen und Holzkulis in zwei Ketten, ein Holzſcheit nach dem andern
ging von Hand zu Hand, im ganzen mehrere Tauſend, und Scheit für Scheit 4 1
wurde vom Ablieferer mit lautem Geſange gezählt. Mit ſeiner weichen,
trägen, hübſchen Malayenftimme fang er in freien, wunderlich feierlichen
Melodien mit unaufhörlichen Variationen immerzu die Zahl der gelieferten
Holzſcheite in die ſchwarze Nacht und das Strömen des Fluſſes hinein:
ampat — lima! lima — anam! anam — tujoh! So arbeitete er und
ſang gleichmäßig und gleichtönig zwei Stunden lang, und bei jedem neuen
Hundert tat er einen melodiſchen Freudenſchrei. Dann ſang er weiter, bald
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ſchläfrig und Elagend, bald hoffnungsvoll und tröſtlich, immer diefelbe Grund»
melodie mit kleinen, der Stimmung nachgehenden, kapriziöſen Beugungen
und Variationen. So ſingen die Arbeiter und Landleute hier alle, wenn
ſie abends im kleinen Einbaum unterwegs ſind und die Nacht anbricht; dann
werden fie ängſtlich und unendlich troſtbedürftig, dann fürchten fie das Kro⸗
kodil und die Geiſter der Toten, die nachts überm Fluß unterwegs ſind, und
dann hört man ſie mit Ergebung und mit Inbrunſt, mit Schmerzen und
mit Hoffnung fingen, unbewußt wie der Bambu im Nachtwind ſingt.
Ich lag wieder ſtill und dämmerte ein, während die Maſchine von neuem
zu arbeiten begann. Es regnete jetzt und manchmal ſprühte ein Dutzend
lauer Tropfen zu mir herein; ich wollte mir noch die Decke über die Knie
ziehen, doch war ich ſchon zu müde, und nun ſchlief ich ein.
Als ich wieder die Augen auftat, war ein bleicher kühler Nebelmorgen,
mein Nachtkleid war durchnäßt und ich fror, ſchläfrig griff ich nach der
feuchten Reiſedecke und zog ſie an mich. Als ich dabei den Kopf drehte,
ſah ich jemand über mir ſtehen. Ich ſchaute empor, da ſtand mit den kleinen
braunen, ringgeſchmückten Füßen neben meinem Kopf das hübſche lang-
haarige Malayenkind, hielt die Hände auf dem Rücken und betrachtete mich
aufmerkſam mit ſchönen, ruhigen Augen und ſachlichem Intereſſe, als könne
ſie vielleicht im Schlaf erlauſchen, welcherlei Tier eigentlich der weiße Mann
ſei. Ich hatte dabei genau dasſelbe Gefühl, wie wenn man auf einer Berg-
reiſe im Heu erwacht und die ſchönen neugierigen Augen einer Gais oder
eines Kalbes auf ſich gerichtet findet. Das Mädchen blickte mir noch eine
Weile feſt in die Augen; als ich mich aufrichtete, ging ſie davon und zur
Mutter.
Auf Deck war ſchon Leben, nur wenige ſchliefen noch, einer davon zu—
ſammengerollt und in ſich ſelbſt verkrochen wie ein Hund in kalter Nacht.
Die andern rollten ihre Baſtmatten zuſammen, zogen den Sarong um die
Hüften, banden das Kopftuch oder den Turban auf und blickten blöde und
nüchtern in den feuchten Morgen.
Palembang
4 2 iſt eine Pfahlbauſtadt von etwa fünfundſiebzigtauſend Eine
wohnern im Südoſten von Sumatra, am ſumpfigen Ufer eines großen
ii; Fluſſes gelegen, und hat von oberflächlichen Reiſenden den ſehr unzutreffen⸗
den Namen des malayiſchen Venedig erhalten, womit nichts geſagt iſt, als
daß die Stadt an und auf dem Waſſer liegt und hauptſächlich Waſſerver⸗
kehr hat.
Palembang liegt von Mittag bis Mitternacht im Waſſer, von Mitter—
nacht bis Mittag im Sumpf, in einem grauen zähen Schmutz, der fabel—
haft ſtinkt und deſſen Anblick und Geruch mich eine Woche lang und nach
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der Abreiſe noch bis aufs offene Meer hinaus mit einem leiſen Schleier von
Ekel und Fiebergefühl verfolgte. Dazwiſchen und durch dieſen Schleier hin⸗
durch erlebte ich die ſchöne merkwürdige Stadt wie ein aufregendes Abenteuer.
Der Fluß und die hundert ſtillen, kanalartigen Seitenffüßchen, an deren
Ufern Palembang liegt, fließen am Morgen alle in entgegengeſetzter Rich⸗
tung als am Abend, denn die ganze völlig flache Gegend liegt nur etwa
zwei Meter über dem Meere, das ſiebzig oder achtzig Kilometer weit ent⸗
fernt iſt und deſſen Flut jeden Tag den weiten Weg herauf kommt, die
Strömung umkehrt, die Sümpfe zu Seen, die Schmutzſtadt zu einem herr⸗
lichen Märchenort und das ganze Gebiet überhoupt bewohnbar macht.
Während dieſer Flutzeit, die mit den Tagen wechſelt und während meines
Dortfeins um Mittag begann, ſpiegeln fi die tauſend Pfahlbauten zart
und berückend in dem bräunlichen, ſchwach bewegten Waſſer, auf dem
kleinſten Kanal wimmeln hundert ſchlanke maleriſche Prauwen mit ſtiller
Lebendigkeit und verblüffender Geſchicklichkeit durcheinander, nackte Buben
und verhüllte Frauen baden am Fuß der ſteilen Holztreppen, die von jedem
Haus ins Waſſer führen, und die Laternen der ſchmucken, auf Flößen
ſchwimmenden Chineſenkaufläden reißen wundervolle Ausſchnitte eines
aſiatiſchen Abend⸗ und Waſſerlebens aus der Dunkelheit.
Zur Zeit der Ebbe aber iſt dieſelbe Stadt zur Hälfte eine ſchwarze Goſſe,
die kleinen Hausboote liegen ſchräg im toten Sumpf, braune Menſchen
baden harmlos in einem Brei von Waſſer, Schloram, Marktabfällen und
Miſt, das Ganze ſchaut blind und glanzlos in den undarmherzig heißen
Himmel und ſtinkt unſäglich.
übrigens darf ich den Eingebornen nicht unrecht tun. Sie können nichts
dafür, daß ihr Fluß kein Gefälle und darum kein ſauberes Waſſer hat, daß
der Abfall der Küchen und der Kot der Abtritte um die Häuſer her ſtehen
bleibt und daß die wilde Sonne den Schlamm ſo raſch zur Gärung bringt.
So ſehr es dem Fremden manchmal graut, wenn er hieſige Reinlichkeits⸗
verhältniſſe betrachtet, ſo ſtolz er ſich den Malayen überlegen fühlen mag,
wenn er tagelang aufs Bad verzichtet und ſeine Zähne mit Sodawaſſer
putzt, ſo bleibt doch die Wahrheit beſtehen, daß der Oſtaſiate viel reinlicher
iſt als der Europäer und daß wir unſre ganze moderne europäiſche Rein⸗
1
lichkeit von den Indiern und Malayen gelernt haben. Dieſe moderne *
Reinlichkeit, die mit der Forderung des täglichen Bades beginnt, ſtammt
von England, und ſie kam in England auf unter dem Einfluß der vielen =
Angloindier und heimgekehrter „ und dieſe hatten das Baden,
das häufige Mundſpülen und alle dieſe Nemlichkeitskünſte von den Natives
in Indien, Ceylon und der eie Welt gelernt. Ich ſah einfache
Weiber aus dem Volk nach jeder Mahlzeit die Zähne mit feinen Holz⸗
ſtäbchen und den Mund mit friſcher Walſerſpülung reinigen, was bei uns
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keine fünf oder zehn Prozent der Bevölkerung tun, und in Württemberg
und Baden kenne ich Bauern genug, die allerhöchſtens zwei oder dreimal
im Jahre baden, während die Malayen und Chineſen das mindeſtens ein—
mal im Tage, meiſtens öfter, tun. Und fie tun es ſchon ſehr lange, wenig⸗
ſtens findet man ſchon in uralten chineſiſchen Büchern gelegentlich ſolche
Reinlichkeitsübungen als ſelbſtverſtändlich erwähnt, zum Beiſpiel im „Buch
vom quellenden Urgrund““: „Als er zur Herberge kam und fertig war mit
Waaſchen, Mundausſpülen, Abtrocknen und Kämmen — —“.
i In Palembang, in dieſer fonderbaren Stadt, wird mit Peloton und
NRNubber, mit Baumwolle und Nottang, mit Fiſchen und Elfenbein, mit
Pfeffer, Kaffee, Baumharzen, mit einheimiſchen Geweben und Spitzen ge—
handelt; eingeführt werden imitierte Sarongſtoffe aus England und der
Schweiz, Bier aus München und Bremen, deutſche und engliſche Trikot⸗
waren, ſteriliſierte Milch aus Mecklenburg und Holland, eingemachte Früchte
aus Lenzburg und aus Kalifornien. In der holländiſchen Buchhandlung
find Überſetzungen der übelften Kolportageromane aller Sprachen zu haben,
Multatulis Havelaar aber nicht. Für den Gebrauch der Weißen find die
abgelegteſten Geſchenkartikel aus europäiſchen Kleinſtadtläden da, die Natives
werden durch japaniſche Schundgeſchäfte mit deutſcher und amerikaniſcher
Talmiware verſehen. Tauſend Meter davon entfernt holt ſich der Tiger
Ziegen und wühlt der Elefant die Stangen der Telegraphenleitung zu⸗
ſchanden. Liber dem ſumpfigen, von herrlichen Waſſervögeln, Reihern und
Adlern wimmelnden Lande und unter den Kanälen durch fließt unſichtbar
und ſtill, hunderte von Meilen weit her, immerzu das rohe Petroleum in
Eiſenröhren nach den Raffinerien der Stadt. Einen alten chineſiſchen
Seidenſchal kaufte ich hier für das Anderthalbfache der Summe, die der
Händler für eine Zwölfdutzendſchachtel europäiſcher Stahlfedern verlangte.
Und komiſcherweiſe lebt man in den zollfreien engliſchen Hafenſtädten
Penang und Singapur oder Colombo faſt doppelt fo teuer als hier bei den
überaus hohen holländiſchen Zöllen, die den Handel lahm legen, wie denn
überall der holländiſche Kolonialbetrieb ein wenig den Eindruck einer kurz—
ſichtigen Ausbeutung der Natives macht. Hingegen iſt die niederländiſch—
N indiſche Reistafel zwar nicht immer glänzend, aber fie ift noch im ſchlimm—
ſten Falle ein Paradies im Vergleich mit dem Eſſen, das die Engländer in
1 den teuren Prachthotels ihrer Kolonien ſich vorſetzen laſſen. Schade, die
10 Engländer wären weitaus das erſte Volk der Erde, wenn ihnen nicht zwei
elementare und für ein Kulturvolf kaum zu entbehrende Talente fehlten:
der Sinn für feine Küche und der Sian für Muſik. In dieſen beiden
Punkten erwarte man in engliſchen Holonſen das geringſte; alles andere iſt
erſter Klaſſe.
Das Volk hat hier jene furchſam Eriehende Unterwürfigkeit, die der
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europäifche Beamte und Kaufmann ſchätzt, die unſereinem aber gelegentlich
ſtörend auffällt. Indeſſen iſt der geknechtete Malaye äußerſt flink im Über⸗
nehmen europäiſcher Bequemlichkeiten, Genüſſe und Herrenmanieren. Der
Kuli, den du vor einer Stunde in feiner dienſtbaren Dürftigkeit tief be⸗
dauert haſt, begegnet dir ſtolz im weißen Anzug (der vielleicht dir gehört
und den dein Wäſcher ihm vermietet hat) auf dem gemieteten Zweirad, die
Stunde für zehn Cents und tritt herriſch als Habitus in gelben Schuhen
und mit brennender Zigarette in den Billardſaal. Nachher geht er in ſeine
Hütte zurück, zieht den Sarong wieder an, macht ſichs bequem und putzt
auf der hölzernen Treppe am Ufer ſeine Zähne im Kanalwaſſer genau an
derſelben Stelle, an der er eine Minute zuvor ſeine Notdurft verrichtet hat.
Wa ſſermärchen
5 einer geliebten Frau möchte ich den Weg noch einmal machen, den
ich geſtern von Palembang aus in der kleinen ſchmalen Prauw ge⸗
fahren bin.
Wir fuhren in dem ſchwankenden Börchen, das keine Handbreite Tief⸗
gang hat und darum das kleinſte Rinnſal noch befahren kann, eines der
ſchmalen braunen Seitenflüßchen hinauf, gegen Abend noch mit der Flut.
Da war zwiſchen den Pfahlhütten das gewohnte unſchuldig bewegte Leben,
Netzfiſcherei jeder Art, worin die Malayen wie im Vogelfangen und im
Rudern wahre Meiſter ſind, nacktes ſchreiendes Kindergewimmel, kleine
ſchwimmende Händler mit Sodawaſſer und Syrup, leiſe rufende Ver⸗
käufer von Koranen und winzigen mohammedaniſchen Andachtsbüchlein,
badende Buben. Streitende ſieht man hier ſelten, Betrunkene nie, und der
Reiſende aus dem Weſten ſchämt ſich, daß dies ihm auffällt.
Wir fuhren gemächlich weiter, der Bach ward ſchmal und ſeicht, die
Hütten hörten auf, Sumpf und Buſch umgab uns grün und ſchweigend,
Bäume ſtanden da und dort am Ufer und im Waſſer ſelbſt. Sie wurden
unmerklich zahlreicher, ſtreckten tauſendfältige Wurzelſtelzen nach uns aus,
und über uns hing dichter und dichter ein grünes Netz und Gewölbe von
Laub und Geäſt. Bald war kein Baum mehr einzeln zu erkennen, jeder
hing mit Wurzeln und Luftwurzeln, mit Äften, Zweigen und Schling⸗
pflanzen in die anderen verſtrickt und verwoben, alle von hundert Farren, 6 iv |
Lianen und andren Schmarotzerpflanzen gemeinſam umarmt und verbunden.
In dieſer ſtillen Wildnis flog zuweilen farbenblitzend ein Eisvogel auf,
die hier in Menge niſten, oder grau huſchend eine kleine Schnepfe oder
ſchwarz und weiß wie eine Elſter der fette amſelartige Singvogel des Ur⸗
waldes, ſonſt war kein Laut und kein Leben da als das innige Wachſen,
Atmen und Ineinanderdrängen des dicken Baumgewölbes. Der Bach, oft
kaum noch breiter als unſer Boot, beſchrieb in jeder Minute einen neuen,
820
ba a) —
ex
An
launenhaften Bogen, jedes Gefühl für die Maße und Entfernungen ging
vollſtändig unter, wir fuhren betroffen und ſtill durch eine wirre grüne
Ewigkeit dahin, vom Baumgewirre dicht überwölbt, von großblättrigen
Waſſerpflanzen umdrängt, und jeder ſaß ſtumm und ſtaunte, und keiner
dachte daran, ob und wann und wie dieſer Zauber wieder könnte gebrochen
werden. Ich weiß nicht mehr, ob er eine halbe Stunde, oder eine Stunde,
oder zwei Stunden gedauert hat.
Er wurde unverſehens gebrochen durch ein wildes, vielſtimmiges Gebrüll
über unſeren Köpfen, und durch heftiges Wipfelſchwanken, und alsbald
glotzte eine Familie von großen grauen Affen uns an, beleidigt und geſtört
durch unſer Eindringen. Wir hielten an und blieben regungslos, und die
Tiere begannen wieder zu ſpielen und ſich zu jagen, und eine zweite Familie
kam dazu, und wieder eine, bis über uns das Dickicht von großen, lang—
ſchwänzigen grauen Affen wimmelte. Zuweilen ſchauten ſie wieder erboſt
und mißtrauiſch herunter, ſchnoben zornig und knurrten wie Kettenhunde,
und als wohl über hundert von den Tieren da über uns ſaßen und wieder
zu ſchnauben und aus nächſter Nähe die Zähne zu fletſchen anfingen, da
gab unſer Palembanger Freund uns lautlos ein warnendes Zeichen mit
dem Finger. Wir hielten uns behutſam ſtill und hüteten uns, auch nur an
einen Aſt zu ſtreifen, denn in Buſch und Sumpf eine Stunde von Palem—
bang von einem Affenvolk erwürgt zu werden, hätte jedem von uns ein
vielleicht nicht ſchändliches, doch aber ein unfeines und unrühmliches Ende
geſchienen.
Vorſichtig tauchte unſer Malaye fein kurzes leichtes Ruder ein, und ftill
und geduckt fuhren wir ſorgſam zurück, unter den Affen und unter den
vielen Bäumen durch, an den Hütten und Häuſern vorüber, und als wir
den großen Strom wieder erreicht hatten, war die Sonne ſchon unters
gegangen und aus der raſch einbrechenden Nacht glänzte die zauberhafte
Stadt zu beiden Seiten des gewaltigen Waſſers mit tauſend kleinen,
ſchwachen Lichtern her.
Die Gräber von Palembang
A. jedem ſchönen Vormittag verließ ich die Stadt gleich nach dem Früh⸗
ſtück und blieb zwei, drei Stunden im Freien draußen, um reine Luft
zu atmen, Grün zu ſehen und gelegentlich einen Schmetterling zu fangen.
Alle dieſe Städte, auch das große Singapur, liegen ganz von Dörfern,
Weilern, Höfen und primitivſter Ländlichkeit umgeben und löſen ſich ſtill
und ohne Umriß in die fruchtbare grüne Wildnis auf. Eben erſt warſt du
noch in einer dröhnenden Straße mit Ceſchäftshäuſern, Laſtwagen, auss
rufenden Händlern und zigarettenrauchenden Lausbuben, du biſt in einen
ſtilleren Seitenweg eingebogen, wo helle freundliche Bungalows vereinzelt
821
weitab von der Straße in Gärten ſtehen, und unverſehens fühlft du dich,
wunderlich erwachend, vollkommen auf dem Lande, wirſt von weidenden
Ziegen oder Kühen beſchnobert oder hörft im wilden Gehölz die Sprünge
der Affen rauſchen.
In Palembang führte mein Spazierweg meiſtens am Fiſchmarkt vorbei,
vorüber am grauſigen Anblick lebend umherliegender Fiſche jeder Art und in
Maſſen aufgehäufter abgehauener Fiſchköpfe, und an den Häuſern und
Magazinen der Großhändler hin bis zu einer alten Moſchee, immer parallel
mit dem Fluſſe, und von da rechtwinklig landeinwärts, und ſchon hier
begann die typiſche Miſchung von Dorfleben und Buſchwildnis. Schönes
kleines Rindvieh weidet überall, kreuzt ſorglos die Fahrſtraße und iſt ſehr
zutraulich. Auf der Straße geht zu manchen Stunden ein ſtarker Verkehr,
Fußgänger und Laſtträger, ſehr viele Zweiräder, Ponywagen und auch ſchon
Automobile. Zehn Meter davon, im dichten Buſch, iſt man in voll⸗
kommener Urwildnis, von Eichhörnchen und Vögeln in Menge umſchwärmt,
von Affen beknurrt und gelegentlich durch ungeheure, zum Teile giftige
Tauſendfüßler und Skorpione erſchreckt. Wer ſich auskennt, kann hier auch
häufig Tigerſpuren finden.
Nirgends aber kann man hundert Meter gehen, ohne auf Gräber zu
ſtoßen. Überwachſen und vergeffen liegen überall die Malayen⸗ und Araber⸗
gräber, den unſeren ganz ähnlich, die neueren mit welken Grasbüſcheln
geſchmückt, die von den Mohammedanern am Freitag dort niedergelegt werden.
Manchmal iſt eine kleine Begräbnisſtätte von einer Mauer umgeben, deren
Portal mit edlem Bogen und fein profilierten Pfeilern, von hohen Gräſern
umwachſen und von rieſigen Bäumen überhangen, ſchattig und vereinſamt a
in ſeiner romantiſchen Verwahrloſung ſteht, ſo ſchön und nobel wie nur
irgendein feiner ſtiller Ruinenwinkel in Italien.
Dazwiſchen kommt immer wieder, rieſig und mit großen goldenen Buch⸗
ſtaben an den Pfeilern leuchtend, ein Chineſengrab, eine ummauerte Halb⸗
kreisterraſſe am Abhang von fünf, zehn, zwanzig Metern Durchmeſſer, je
nach Bedeutung und Reichtum des Beerdigten, in der ſchön empor⸗
geſchweiften Mauer blau und golden die Inſchriften, das Ganze koſtbar,
feierlich und ſchön wie alles Chineſenwerk, ein wenig kühl und leer viele
und überall rechts und links darum her und in den Lüften darüber auf-
geſchoſſen dicke Buſch⸗ und Baumwirce. 1
Manche von den mohammedaniſchen Grabanlagen werden früheren Sul⸗
tanen zugeſchrieben, dort ſind einige der Mauerportale ſo ſchön und in ſich
abgewogen wie die allerbeſte Renaiſſance. Man iſt erſtaunt, das auf
Sumatra zu finden, aber man erſtaunt noch mehr, wenn man hört, daß
eine verſchwommene alte Palembanger Sage behauptet, hier liege Alexander
der Große begraben. Bis hierher ſei er gekommen und hier fei er geſtorben.
Bee
822
Mir fiel dabei das Geſpräch ein, das ein Freund von mir in Italien am
Traſimener See mit einem Fiſcher hatte. Der Fiſcher erzählte Ungeheuer⸗
liches von der blutigen Schlacht, die hier vor langen Zeiten der große
General Hannibal geſchlagen habe, und als mein Freund weiter fragte, gegen
wen denn Hannibal damals gefochten habe, wurde der Mann unſicher,
meinte dann aber ziemlich beſtimmt, es werde wohl Garibaldi geweſen ſein.
Bei den Gräbern vor Palembang habe ich ſchöne wunderliche Stunden
hingebracht, allein in dein krauſen grünen Buſch, von den großen Schiller⸗
i faltern umflogen, auf die vielen Rufe der Waldtiere und die wilden, phan⸗
aaſtiſchen Geſänge großer Inſekten horchend. Ich ſaß aus ruhend und von
der Hitze erſchöpft auf den niederen Mauern der Chineſengräber, die ſo groß
und feſt und reich gebaut ſind und doch von wildem Leben und Wachstum
dieſes Bodens alle bald überholt, bezwungen und zugedeckt werden. Ich
wurde von ſchwarzen und weißen Ziegen und von kleinen, ſanften, rot⸗
braunen Kühen beſucht und betrachtet, oder von Raſt haltenden Affen ſtill
beäugt, oder von umherſchwärmenden Malayenkindern mit Scheu und Neu⸗
gierde umringt. Ich kannte nur wenige von den Bäumen und Tieren, die
ich um mich ſah, mit Namen, ich konnte die chineſiſchen Inſchriften nicht
lleſen und konnte mit den Kindern nur zehn Worte reden, aber ich habe mich
nirgendwo in der Fremde ſo unfremd und ſo von der Selbſtverſtändlichkeit
$ und vom klaren Fluß alles Lebens umſchloſſen gefühlt wie hier.
g Mar as
1 er eine Zeitlang in Palembang war und auf der Rückſeite des Hotel
5 Nieukerk nach den ſchwärzlichen Kanälchen hinaus gewohnt hat, vom
Geeſtank und von den Moskitos verfolgt und ohne die Möglichkeit in reinem
Waſſer zu baden, der verfällt ſchließlich einem brennenden Verlangen nach
Alͤibreiſe, einerlei wohin, und beginnt die Stunden bis zum nächſten Schiffs⸗
k termin zu zählen. Seit einem Monat ohne Poſt, fiebernd von Schlaf—
loſigkeit, ermüdet vom Leben der ſonderbaren Stadt, von der Hitze und den
Mangel an Bädern erſchlafft, hatte ich mir einen Platz auf dem chineſiſchen
Dampfer „Maras“ beſtellt, der am Freitag früh ankommen und im Laufe
15 des Sonnabends wieder nach Singapur abgehen ſollte, und nun lag ich
boffend unterm Moskitonetz und wartete den Freitag Morgen ab. Zu leſen
1 hatte ich längſt nichts mehr, meine große Kiſte ſtand in Singapur, die
Nachrichten von Hauſe blieben Woche um Woche aus, ich konnte nichts
tun, als mich täglich in der Stadt herumtreiben, bis ich ermüdet war, und
dann viele Stunden liegen und warten, im Notizbuch blättern und malay—
iſche Vokabeln lernen. Aber nun war ein Schiff in Ausſicht, noch einen
Tag oder zwei, dann würde ich abfohren können, und. bald würde, wie kröſt⸗
liche Erfahrungen uns lehren, alles Widerwärtige dieſer Tage in der
823
Erinnerung einſchrumpfen und vergehen und nur das viele Schöne, Bunte,
freudig Erlebte bleiben.
Allein der Freitag morgen und auch der Nachmittag verging, ohne daß
der „Maras“ kam, auch während der Nacht zum Sonnabend lauſchte ich
vergeblich alle die vielen Stunden lang auf das Pfeifen eines einlaufenden
Schiffes, und der ganze Sonnabend verging ebenſo, und erſt am Sonntag
morgen kam die Nachricht, es ſei nun da und wenn es nicht zu viel regne,
werde man vielleicht morgen abfahren.
Am Sonntag war ich von früh bis abends auf dem Fluſſe unterwegs.
Ich hatte mich einer Krokodiljagd angeſchloſſen und ſaß mit einem ſchweren
alten holländiſchen Militärgewehr auf den Knien, die Augen von der Hitze
und dem Sonnenreflex des Stromes brennend, im kleinen Boot auf der
Lauer. Aber an ſolchen Tagen hat man kein Glück; wir kamen nie zum
Schuß und mußten bei dem viel zu hohen Waſſerſtande froh ſein, daß wir
wenigſtens einige Krokodile zu ſehen befommen hatten.
Einerlei, morgen ging mein Schiff, und dann konnten mir alle Krokodile
von Sumatra —. Bei der Rückkehr nach der Stadt erfuhr ich, der
„Maras“ würde vielleicht morgen früh abfahren, vielleicht auch nachmittags
oder abends, und ich packte meine Koffer mit ſuggeſtiver Gründlichkeit und
Liebe. Der „Maras“, der am Morgen nicht gefahren war, fuhr auch
am Nachmittag nicht, aber es wurde mir mitgeteilt, ich könnte abends an
Bord gehen und müſſe ſpäteſtens um zehn Uhr da ſein, wenn ic mit⸗
reiſen wolle.
An mir ſollte es nicht fehlen, ich fuhr um neun Uhr durch die dicke Nacht
(wir haben ja in Europa gar keine Ahnung von richtiger Nachtfinſternis!)
nach dem Schiff, ſuchte und fand in der laternenloſen Dunkelheit taſtend
über fremde Boote und ſchlafende Ruberkulis hinweg für mich und mein
Gepäck einen Weg zur unbeleuchteten Falltreppe und turnte hoffnungsvoll
empor. Das Schiff war ſtark geladen, die Innenräume alle voll Peloton
und Baumwolle, aber es lagen noch zwanzig und mehr Laſtboote voll Rot⸗
tang beim Schiff, und ſo wurde weiter geladen, hundert Kulis ſchwärmten
auf dem überfüllten dunkeln Deck, wo ich über Kiſten und Balken klettern
mußte, und wenn ſie einer von den wenigen Laternen nahe kamen, glänzten
ihre nackten, gelben, ſchweißbedeckten Körper warm aus dem fins x
Getümmel. a
Es war ein holländiſcher Kapitän da und ich bekam eine Kabine, .
fie war fo heiß wie ein Dampfbad und als ich die Stiefel aus zog, merkte ich
alsbald die Urſache: Der Fußboden wor von den benachbarten Heizräumen
her fo heiß, daß mir die Sohlen ſchmerzten. Die Luke war ein wenig
größer als das Zifferblatt einer Falchenuhr. Dagegen war ein elektriſcher
Ventilator und elektriſches Licht da die aber ſeit Jahren nicht mehr funk⸗
824
tionierten, und der Raum wurde durch eine kleine rußende Erdölampel
erleuchtet.
Von einer Stunde zur andern wurde die Abfahrt erwartet und verheißen,
ich blieb bis nach ein Uhr ſteif vor Müdigkeit auf einem Stuhl am Ober—
deck ſitzen und ſchaute betäubt aus geſchwollenen Augen in das Schiff, ging
dann in die Kabine und legte mich nieder, hörte den Schweiß in ſchweren
Tropfen von meiner herabhängenden Hand zu Boden fallen, ſtand wieder
auf und rauchte eine Zigarre draußen im Regen zwiſchen den Kulis, irrte
im dunkeln Schiff umher, fiel über Schlafende, warf einen Käfig mit leben⸗
den Affen um, ſtieß mich an Kiſtenecken und fand mich bei Tagesanbruch
Zerſtört und erſchöpft an Oberdeck wieder.
Früh um ſechs Uhr hatte ich noch niemals in meinem Leben Bordeaux
getrunken und ſtarke indiſche Zigarren geraucht. Heute tat ich es, und nun
kann ich ſchon wieder faſt ohne Schmerzen und Anſtrengung die Augen
offen halten.
Jetzt, wo ich dieſe Notizen auffchreibe, fährt das Schiff. Es fährt ſeit
einer Stunde, ſeit Mittag, und ich täte gern irgend etwas anderes als
ſchreiben, wenn das nicht eben das einzige wäre, was mir übrig bleibt. Die
Kabine iſt unmöglich, mehr als ein Stuhl ſteht mir an Deck nicht zur Ver⸗
fügung, und höre ich mit Schreiben auf, ſo kommt der Kapitän und will
mich in eine Unterhaltung ziehen. Er iſt ein ſympathiſcher Mann und hat
ſeine Frau mit an Bord. Sie wohnen am Oberdeck in der Kapitänskabine.
Er hat eine ungeheure Briefmarkenſammlung und einen räudigen chineſiſchen
Hund, der leider untreu iſt und ſich zu mir hält, und die Frau hat fünf
junge Katzen und zehn oder elf Singvögel in Käfigen. Außerdem haben
wir vier lebendige Affen (dieſelben, die ich in der Nacht umgeworfen habe)
an Bord, von denen der kleinſte ganz zahm iſt und ſich von mir anfaſſen
und ſtreicheln läßt. Leider ſtinken fie teufliſch.
Wir fahren langſam flußabwärts und werden abends die See erreichen
und vielleicht in etwa 32 Stunden in Singapur fein.
Nachtrag am Abend .... Ich nehme alles zurück. Als ich zu
ſchreiben aufhörte, ward ich von niemand beläſtigt, vielmehr zu einem recht
ben Mittageſſen aufgefordert. Nachher machte mir die Kapitänsfrau
8 am Oberdeck ein Feldbett zurecht, wo ich zwei Stunden ruhen konnte.
9
S
- » 1
Da ſah alles gleich wieder beſſer aus. Der chineſiſche Hund iſt, glaube ich,
nicht räudig; er hat nur, wie ja faſt alle Hunde in den Tropen, den Haar—
ſchwund, wird von hinten her kahl, was ſchaͤde iſt, denn er muß früher, den
Reſten nach zu ſchätzen, ein ganz hübſcher rotblonder Kerl geweſen ſein.
Die Kabinenluke iſt beinahe ſo groß wie das Zifferblatt einer beſcheidenen
Wanduhr; die Taſchenuhr war eine Übertreibung.
Ich habe mich tüchtig eingeſeift und mit Flußwaſſer begoſſen, das erſte
53 825
frifche Bad ſeit zehn Tagen! Nun kann ich wieder ohne Mühe aus den
Augen ſehen. Es iſt abends fünf Uhr und ſchon dämmerig, wir ſind in
der weiten Flußmündung angekommen, vor uns liegt hellgelb das ſeichte
Meer, der Pilot arbeitet am Steuer und kann uns nun bald verlaſſen.
Gegenüber ſteht mit langen hohen Bergketten ſchön und ganz tiefblau die
Inſel Banca.
Nachtrag nachts zehn Uhr . . . . Der Hund iſt doch räudig, die
Berührung mit ihm hat mich zwei von meinen koſtbaren Sublimatpaſtillen
gekoſtet. Außer ihm, den Katzen, Vögeln und Affen ſind noch zwei Gürtel⸗
tiere, ein Stachelſchwein und ein junger ſchöner Jaguar an Bord, alle
lebend. Sie ſind in Käfige geſperrt, aber ſie haben weit mehr Luft als ich
in meiner Kabine. Das Abendeſſen war ſehr geſellig, die Kapitänin beſitzt
ein großes, heftig wirkendes Grammophon, das wurde mir zu Ehren los⸗
gelaſſen, Dollarprinzeſſin und Caruſo. Alle Europäer in den Tropen haben
Grammophone, und ſo bin ich denn ſchon vor der Rückkehr nach Singa⸗
pur wieder von der operettenhaften Atmoſphäre umgeben, die mir ſeit dem
Betreten des Lloydſchiffes in Genua als das Charakteriſtikum des Europäer⸗
lebens im Oſten erſcheint. f
Henkersmahl der Liebe
Novelle von Guſtav Biberich
(Schluß)
4.
as kleine Sommergaſthaus lag frei auf einer Höhe. Der leichte Wind
ſtöberte in den Wieſen nach Duft und trug ihn über den Wald, daß
er ſich mit der feuchten Kühle miſchte, die davon ohne Unterlaß auf⸗
ſtieg. Nur auf der einen Seite des Gebäus war der Wald nahe, daß die
Meiſen faſt in das Fenſter des einzigen Zimmers pfiffen, das dort ſeltenen
Gäften als Unterſchlupf dienen konnte. Denn die Wirtsleute wohnten in
dem niedrigen Küchenhaus auf der andern Seite des ſchmalen Hofs. Am
Rande des Wieſenhangs bauſchten Kaſtanien ihre Kronen über ein paar
Gaſttiſchen. Hier ſetzte ſich Jutta, das Geſicht ins Freie gerichtet, und
wiegte ihren Blick über den Linien der Waldkogel wie auf einem Kahn.
„So rein iſts hier überall und keine Enge und kein ſtarrer Widerſtand.“
Sie ließ den ganzen leiſen Satz in der Höhe ſchweben.
Klaus ſah, wie die Augen groß wurden und geſpannt, faſt unheimlich
geſpannt, als wollten ſie die ganze Weite auf einmal trinken.
„Daß es ſo viel helle Ferne gibt,“ fing Jutta wieder an, „fo viel frohe
Berge und Wolken — lauter Hängebrücken in die Freiheit.“
Ihr verſagte faſt die Stimme, mit ſolcher Anſtrengung erfüllte ſie den
Ton aus dem Innerſten. Es war ein Holen und Schöpfen aus einer
Brunnentiefe, in die noch kein Eimer aus dem Licht geſenkt war.
Die Wirtin kam:
„Kßtiant! J hab' ſcho glaubt, der gnä Herr wär m'r durchbrennt.“
„Ja, meine Frau geht hinauf ein biſſel langſam in der Hitz.“
„Ja, ja, und die ſchware Taſchn! — Was krieg'n m'r denn?“
Es war eine alte magere Frau, deren Augen vor offener Freundlichkeit
ſtrahlten.
„Oder wüll leicht die gnä Frau erſt ins Zimmerl nauf?“
„O nein, danke ſchön, es wird ja alles in Ordnung ſein. Bitte, Lieber,“
— Klaus ſpitzte die Ohren — „gib vielleicht meine Taſche hinauf. Hier iſt's
ſo ſchön. Ich geh nicht weg von da, bevor's dunkel wird.“
Sie beſtellten Getränk und beſprachen das Abendeſſen. Während Klaus
5 die Taſche hinauftrug, plauderte Jutta mit der Alten:
„Ruhe haben Sie da oben! Frieden! Das geht einem ſo bis ins
Herz.“
„Ja freili, des ſcho! Aber Ruh und Fried — 's is manchsmal nur an
anders Wörtl für Langweil. Wann aner ſo ſeine dreiundfufzig Jahr her—
oben ſitzt — ja ſchauns nur, gnä Frau, aber wia i herkommen bin, da war
827
i völli grad fo a jungs Weibsleut wia Sö. Net wahr, dös ſicht ans heut
net mehr, daß m'r die Burſchen a amal nachgſchloffen fein —“
„O das ſieht man ſchon noch ſehr gut! Ihre Augen ſind gewiß damals
auch nicht ſchöner geweſen!“
„Na dös war net ſchlecht, gnä Frau,“ lachte die Alte, „da ſegn's her —“
— fie ſchloß die Augen und deutete mit dem Zeigefinger auf die Lider, daß
man die tiefen Runzeln ſehen konnte — „da hätt mi kaner drauf buſſelt.
Und die warn ganz narriſch. Na aber Eahna derf i nix erzähln. Mir zwa
hättn recht guet zammpaßt. Freili, ſo an Art, was ma ſagt, Konkerrenz
tuat leicht ſchlimm.“
„Wir hätten uns ſchon vertragen!“ lachte Intta und ihr kam in den
Sinn, wie einſam ſie war; und ſie bildete ſich gerne ein, daß ſie mit dem
Mädel vor fünfzig Jahren ſich gut hätte ſtehen müſſen.
Als Klaus herunterkam, entfernte ſich die Alte.
„Wollen Sie wirklich hier ſitzen bleiben?“ fragte er.
„Lieber Herr,“ erwiderte Jutta, „ſag mir du. Wir ſind doch kein
Fürſtenpaar, daß wir uns ſiezen müßten. Und heute ſind wir frei.“
„Ich möchte wirklich, liebes Fräulein,“ miſchte Klaus Ernſt und Spaß,
„bu wärſt es ganz. Aber nur für heute. Damit du wenigſtens auch keinen
andern wählen könnteſt, wenn ich ſchon die bloße Tennisfigur bin.“
„Das warſt du nie. Und was die Freiheit betrifft, die wir heute haben,“
ſie ſenkte den Kopf, „ich glaub', es iſt unſte letzte. Wir erkaufen ſie mit
einer viel höheren, unzerſtörbareren Mauer, als die war, die früher zwiſchen |
uns ſtand.“ 17 25 0
„Wie das? Was willſt du damit ſagen?“ [Rt
Jutta ſah ängſtlich zu ihm auf, fo unvermittelt erſchreckt klang feine
Stimme. Sie legte zärtlich die Hand auf die ſeine:
„Liebſter, du kannſt doch nicht denken, daß ich nach heute noch mit dir
zuſammenſein darf?“
„Darf?“
„Alſo kann! Innerlich nicht kann! Deine Liebe genießen in allem, wenn
ich geſchändet bin und entehrt durch dieſes — dieſes Konkubinat! Ich möchte
dann am liebſten überhaupt niemandem mehr unter die Augen treten, wenn
ſo die Schmach an mir heruntertropft!“ ö
Sie preßte das Taſchentuch auf die Lider. Klaus ſchwieg. 15
„Sei nicht bös, wenn ich auch heut noch von all dem rede! Aber der
Ekel ſchüttelt mich vor dieſer Gemeinheit, die ich auf mich nehmen muß!
Schon der Name! „Jutta Hromatke“ — iſt das nicht ein fürchterliches
Knochengeklapper, als wenn einer dürres Gebein wütend aufeinanderſchlüge?
Da iſt was Totes drin, da iſt was Totes drin!“
Sie warf ſchluchzend Arme und Kopf auf den Tiſch. Klaus ſtand auf,
828
beugte ſich über das zitternde Haupt und küßte das Haar lange. Dann hielt
er nur noch zärtlich die beiden Hände darauf und ſagte:
„Jutta Halden iſt freilich ſchöner! Jutta Haiden‘ — —! Biegſame
Kraft iſt darin und Natur, mächtige, frohe, in die Sonne wachſende Natur!
Deine Natur, du Liebe!“
Und er beugte ſich noch einmal hinunter und küßte eine vom Licht glän⸗
zende Haarwelle auf ihrem Nacken, die ſo dünn war, daß er die Zartheit
der Haut wie durch einen ſeidenen Schleier ſpürte. Sie hob langſam den
Kopf unter der Liebkoſung und wendete ihn, ohne feinen feſt anliegenden
Mund wegzuſtoßen. Sie lächelte unter Tränen, faßte ſein Haupt und führte
den Mund über Hals und Kinn auf ihre wartenden Lippen. —
Es war noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Nachtmahl. Die beiden
beſchloſſen, die paar hundert Schritte bis zum Plateau der Höhe hinaufzu⸗
ſteigen und das Abendlicht zu genießen. Oben ſaßen ſie auf dem Wetter⸗
kragen, den Klaus gebreitet hatte, hielten ſich an der Hand wie Kinder und
ſprachen nicht viel. Die letzten Lerchen ſtiegen, durchs ſchimmernde Gras
kam Gezirp und in regelmäßigen Abſtänden wehte die wohlige Luft aus dem
ferneren Korn den Ruf einer Wachtel her.
„Sie hat eine Staccato⸗Flöte,“ ſagte Jutta; „das iſt kühl und gut wie
die Hand einer Mutter.“
Klaus nickte:
„Der Ruf vom Kuckuck wirkt ganz ähnlich. Nur ein bißchen melan-
choliſcher.“
„Ja, um den Waldſchatten dunkler. Die Wachtel hat mehr Sonne in
der Kehle. Ich hör' die Wachtel lieber. Gar heute. Verſchwiegen iſt ihr
Ruf doch auch.“
Sie ſtrich ſich übers Haar und ſpann den Einfall weiter:
4 „Das Hausgetier der Menſchen ift fo zudringlich im Getön und fo
friedlos. So ein Spatz, oder ein Hahn oder eine Ente. Was fo an die
Menſchen kommt — es wird alles verdorbene Natur. So eine Heckenroſe,
wie zart und luftig ift das! Und im Garten — das ift fo plump geputzt
wie ein käufliches Weib.“
7 Klaus hatte ſich gehütet zu unterbrechen. Aber jetzt fürchtete er, ſie könnte
wieder in Bitternis verfallen.
„Liebe, Gute,“ ſagte er und drückte ihre Hand feſter, „aus dir ſelbſt
ſpricht es wie Wachtelruf der Nature. Faſt als ſtündeſt du dem Schönſten
in der Natur näher als den argen Menſchen.“
Er fügte nichts mehr hinzu. Es ſchien ihm gefährlich für Juttas Emp⸗
findungen. Aber er dachte, es ſei nicht ſcywer vorzuſtellen, daß ſich Juttas
Weſen aus einer einfamen Neige von Lebenden geſondert weiterentwickelt
hätte, nicht langſamer und nicht ſchneller als anderes Geſchopf, aber rein
829
von allem, was nicht unverſtaubte, unbehinderte, unverwachſene Natur war.
Und er maß und genoß ihren Körper mit dem Blick, bis das Licht davon
wich. Sie ließ es unbefangen geſchehn, und erſt als ſie fröſtelte, erhob ſie
ſich, nahm ſeinen Mantel um und ging ſchweigend voran zum Abendtiſch,
der unter den Kaſtanien gedeckt war.
5.
HVutta aß mit gutem Appetit und alle Zukunft, die ferne wie die nächſte,
a5 ſchien ihr wie ausgelöſcht. Die Sicherheit der Befreiung vom Aller-
ärgſten gab ihr Ruhe und Frohmut und ſie ließ kein wehes Wort mehr über die
Lippen kommen. Die Sonne war mit wildem Aufleuchten hinter die Kuppen
geſunken, aber das Licht zögerte und wurde rot vom Sterben. Nur langſam
gewann die Dunkelheit Macht über Land und Himmel. Die Täler ſchwanden,
und was tagsüber hintereinander ſich gewellt hatte und überſchnitten, das
wurde nun eins und ſtieg und dehnte ſich zu Größe und Wucht. Aus dem
finſtern Himmelstuch brannte ein Stern nach dem andern, als ſtieße wer
von der andern Seite glühende Nadelſpitzen durch.
Weit draußen im Tale bellte ein Hund.
„Wie groß iſt das alles!“ ſagte Jutta ſtill; „jetzt iſt die Erde nichts
mehr. Nur noch, was der Himmel aus ihr machen will. Und eines Gottes
Ohren müßten hören, wie unſer ganzer Ball durch das Ewige rauſcht.“
„Hörſt du es nicht? Du müßteſt es doch auch hören.“
„Ach Gott, wir Armen! Wir ſitzen klein da und denken an Dinge, die
keine Verwandtſchaft haben mit ſolchem Schauſtück der Unendlichkeit.“
Und Juttas Stimme war klar und getroſt, als fie fortſetzte:
„Wir denken an heut oder morgen oder übermorgen. Als ob unſer
Schmerzensſchrei und unſer Juchezer etwas andres wäre als unſer Früh—
ſtück oder unſer Taſchentuch oder ein Scheunenbrand oder ein Vereinsfeſt.
Aber nur in ſolcher Einſamkeit der Nacht ſind wir imſtande, das alles zu ver⸗
achten. Schau nur, Liebſter, ſchau nur! Dort neben den Sternen, hinter
den Sternen — zitterſt du nicht, wenn du daran denkſt, daß dort Raum und
Zeit ohne Ruhepunkt und Ende ſchwinden! Mich ſchaudert und die Augen
gehn mir über, ich ſpür' förmlich, wie von dort her ein ungeheurer Atem zu
uns herüberſchlägt, der einen füllt und füllt und füllt — zum Zerſprengen
füllt! — —“ Sie ſchrie es faſt. Klaus wurde bange und er griff feſt nach
ihrer Schulter, um fie aus dieſer Beklommenheit zu bringen, die ihr In—
nerſtes aufzulöſen drohte.
„Liebſte, ſei ſtill, ich bitte dich! Was du ſprichſt, iſt unheimlich ſchön,
aber es iſt unheimlich! Du gehſt in das Ungeheuerſte der Natur, als wäre
es deine Heimat! Aber verſteig dich nicht! Du machſt einem Angſt um
dich, es könnte ſein, daß du einmal nicht mehr zu uns zurückkehrſt.“
830
„Sorg dich nicht. Heut kehr' ich noch gern zurück. Nicht zu euch. Aber
zu dir. Denn heute biſt du mein.“ Und ſie faßte ihn um den Kopf und
preßte ihn an ſich, als wollte ſie ihn nie mehr freigeben.
„Aber du haſt recht,“ fuhr ſie nach einer Weile fort, „ich muß auf der
Erde bleiben. Die wenigen Stunden ſind koſtbar, wo ich dir alle Liebe geben
und die deine genießen will. Gib! Gib! Gib alles, was du für mich haſt.
Ich weiß, daß es nun ſchon ſo viel mehr geworden iſt! Zu viel vielleicht
ſchon für dich und mich! Komm!“ Und mit einem jähen Kuß zog ſie ihn
in das Haus.
Oben im Zimmer war aufgebettet und alles geordnet nach Klaus Macholts
Wunſch. Er zündete eine Kerze an. In einem hohen Waſſerglas ſtand ein
Feldblumenſtrauß, den er am frühen Nachmittage gepflückt und hierher ge>
bracht hatte: gelbſtrahlende Veronika war Hochſtamm und Mitte. Weiße
Taubneſſel und Kornrade, Adonis und Ritterſporn, Wieſenknopf, Akelei,
wilder Mohn und allerlei Gekräut ſchmiegten ſich daran; Tautropfen,
Federgras und langes Windhaar verbanden die Farben wie mit einem
Spinnenſchleier. Das alles ſtreckte ſich aus einem dichten Kelch von grünem
Blattwerk; darunter, ſchon am Glaſe ſelbſt, ſaß ein einfaches Band von
Margueriten.
Der Buſchen war das erſte, was Jutta ſah.
„Für mich? Nicht wahr? Und ſelbſt gepflückt?“
Klaus nickte.
„Ich dank' dir ſchön, Liebſter! Was tät ich vorlaute Perſon jetzt, wenn
das lauter ausgeſuchte Maréchal Niel von Foſſati wären!“
„Die wären ſchon längſt im Ofen und das Glas ſtünde nur mehr für
Waſſer da.“
Jutta ſah ihn bloß dankbar an. Dann ſtreifte ihr Blick den kleinen
Raum.
„Liebſter, bitte, zünde die Lampe an. Das Kerzengeflacker iſt ſo geſpenſtig.
Und ich will nicht heimlich ſein, ſondern frei und froh!“
Klaus ſtaunte über die Freude, die auf dieſe Mädchenhelligkeit ſich breitete,
er ſtaunte über die Unbefangenheit und Reinheit, mit der dieſe unberührte
Natur ihr Geſchlecht zu ſchenken ſich anſchickte. Und er freute ſich, daß nun
die Wirklichkeit zu der Vorempfindung der letzten Tage nichts hinzubrachte,
was nicht von Seeliſchem bis zur feinſten Faſer getränkt war.
Er nahm Jutta den Hut ab.
„Laß mich dir eins ſagen, Liebſte! Vielleicht gibt es dir alle Freiheit, die
du willſt.“ Er ſprach hell und heiter; wartete aber doch vorſichtig.
„Sag's nur, Lieber! Ich fürchte kein Wort von dir!“
Klaus ſah ihr klar in die Augen:
„Ich hab' keine Gier nach dir, Jutta. Mir wird ſein, als ob du keinen
831
Körper und keine Seele hätteſt, nur etwas, was beides ift und keines von
beiden und wofür ich keinen Namen weiß, der genug ſchoͤn und rein wäre.“
Jutta ſah nieder auf den Tiſch.
„Und doch,“ ſetzte er fort, „— ich hab' eine unbekannte, maßloſe Luſt
nach dir!“
„Das iſt gut, Liebſter! Gar zu leicht ſollſt du mich doch auch nicht ver⸗
geſſen!“ Sie ſah ihn wieder an. „Aber dafür,“ ſagte ſie und ſie ſagte es
unter einein Kuſſe, weil ihr die Scham in die Wangen flieg, „dafür, Lieb⸗
ſter, will ich ſchon ſorgen.“
Klaus gab ihre Lippen endlich wieder frei.
„Nun bitte, Freund,“ ſagte Jutta raſch, „nun verlaß mich für ein paar
Minuten, ja?“ 1
Klaus verſtand nicht ganz, verließ aber frohen Augs das Zimmer. Jutta
mußte ihn hören, als er die Holzſtiege hinunterging.
Vor dem Hauſe lag weitaus kühle, verlorene Finſternis. Nur die Linie
der Waldkronen ſtieß hart und klar an den Nachthimmel. Die Sterne
ſtanden getreu; nichts Unholdes mehr war hinter ihnen zu leſen. Ruhiger
Schein floß über alles aus den gütigen Wächterlampen Gottes.
Klaus ſetzte ſich ins Gras und wartete, bis feine Augen Linien aus dem
Dunkel fingen. Zwei Käuze riefen ſich und eine Fledermaus flatterte über
dem Boden in lautloſen Kreiſen. Das Gras tändelte leicht raſchelnd mit
der Luft. Fern, fern ſtampfte ein Zug nach irgendwo. Klaus aber horchte
auf die Gnadenworte der nächtigen Natur. Ihm war, obwohl er Jutta
voll im Bewußtſein hatte, als wäre ſie ein Stück dieſer unmenſchlichen
Huld und flöſſe ihm zuſammen mit Gras und Waldgetier und Sternen.
In ſeiner Bruſt war Stille.
Er wandte ſich. Seitab hinter ihm fiel ein Schein ſanft und gedämpft
in die Föhrenwipfel. Manchmal nur ſtrich ein ungewiſſer Schatten ohne
Haſt darüber. Nun aber ſtand der Schatten ſtill:
Klas! Es rief friedevoll in den Frieden.
„Ja, Liebe!“
„Iſt dir nicht ſchon kalt? Was tuſt du?“ N
„Ich fiß’ im warmen Gras und fat kann ich gar nicht mehr an dich 1
denken, kaum weiß ich mehr, biſt du ein blühender Strauch oder ein E 0
oder meine Jutta!“ 10 5
„Dann iſt's aber höchſte Zeit! Konun, Lieber, daß du dich gewiß machſt!“
Es klang nicht keck, ſondern freudig.
„Ich komme ſchon, Liebſte!“ —
Als Klaus die Tür öffnete, ſtaud Jutta in eine Decke gehüllt vor dem
Bett, ließ ſie aber im ſelben Augenblick zur Erde fallen und war nackt. Sie
ſtand ruhig im Lichte, den Kopf frei erhoben, die Arme gelaſſen herab⸗
832
a
hängend. Es war eine wunderbare Keuſchheit und Hoheit zugleich. Klaus
flogen die Griechengöttinnen mit ihren Menſchengeliebten durch den ergrif⸗
fenen Sinn, aber ſie ſchienen ihm frech gegen dieſes Frauenbild. Er ging
langſam auf Jutta zu und er freute ſich, daß ſie keine Hand zu ihrem
Schutze hob. So ſicher war ſie ihrer ſelbſt. Klaus legte die Hände leicht
auf ihre Schultern und ſah Jutta in die Augen, die nun in ſeinem Schatten
lagen. Lange empfing ſie heiter ſeinen Blick.
„An dir überraſcht mich nichts mehr, du Holde,“ ſagte Klaus; „es iſt ſo
ſelbſtverſtändlich, daß du herrlich biſt.“
„Was weiß ich, wieviel von dieſer Bewunderung nur aus dem Schön⸗
heitsſinn kommt. Küß' mich!“
Aber er küßte ihr die Schulter, die unter ſeiner Hand immer wärmer
geworden war. Sie preßte ihn gegen ſich. Aber bald nahm ſie ſeinen Kopf,
ohne ihn zu ihren Augen zu heben, löſte fi) und ſchlüpfte raſch wie eine
Eidechſe in das Bett und unter die Decke, ſo ſchnell, daß Klaus kaum Zeit
hatte, die Pracht ihrer gemeißelten Rückenbildung zu beſtaunen. Sie blieb
gegen die Mauer gewendet auf der Seite liegen, reichte aber die Hand zurück
nach ihm, ließ ihn ſie küſſen, da er aber mit dem Munde weiter taſtete und
ſchon bis zum Ellbogen kam, rief fie: „O nichts da! Huſch, Liebſter!“
Und als er ſchon faſt entkleidet fein mußte, ſprach fie, halb keck, halb ver-
langend, verſtohlen in den Polſter hinein:
„Biſt du hübſch? — Aber gewiß biſt du hübſch! Die Männer ſind
überhaupt hübſcher als die Frauen.“
er Berg Tu⸗nam ragte in kühle Luft und fröſtelte. Denn noch geſtern
hatte er Schnee gehabt und Sturm von Tibet her. Sven Hedin
machte böſe Witze mit dem Chineſen, der ſeinen langen, dünnen Schnur⸗
bart kreuzweis um das Kinn herumlegte und ſich mit den Spitzen in den
Ohren kitzelte. Dabei ſchickte er ſich an, die Augen mit den Naſenlöchern
zu vertauſchen, denn er wollte ſehen und riechen ganz egal. Der Berg Tu—
nam legte ſeine Waldflanke, die gegen Norden ſah, auf Sven Hedin und
den Chineſen, bedeckte fie und fröſteltc weiter. Aber Buddha ſchlug feine
Fauſt in das Parlamentsgebäude, riß ſich jedoch an den ſcheußlichen Rauch—
ER, fangſäulen blutig und ſchimpfte. Tu⸗nam aber, der Berg, ſpuckte den tibe—
9 1 taniſchen Sandſturm auf ihn, daß er verging, ehe noch der Floh von ſeinem
Knie abgeſtürzt war und ſich die Wirbelſäule gebrochen hatte. Da kam
warme Luft von Indien her; AN die roch. Und fie legte ſich auf die Wange,
weich und ſtreichelnd auf die Wange. Und ſie kam noch einmal und noch
wärmer und legte ſich zwiefach an die Bruſt und preßte ſich an und ſtrei—
chelte weiter die eine Wange. Und fie dars wohlig bis ans Bein und legte
ſich angenehm daran.
Es war noch vor der erſten Morgenfrühe. Klaus erwachte. Jutta ſtrei⸗
chelte noch ſeine Wange und drängte ſich an ſeine Bruſt und küßte ihm die
Augen auf.
„Liebſter,“ ſagte ſie und ſchlang die ſchlafwarmen Glieder um ihn; „Lieb⸗
ſter!“ Und er gab ihrem Verlangen nach. a
Ne nock, nock!“ — War das die Schläfe? Das Blut? Der Hammer
eines neuen Traums? — Aber Klaus hatte keinen mehr. „Nock, nock,
nock!“ — Klaus erwachte endlich. Er hatte die Wirtin gebeten, um neun
Uhr zu klopfen.
„Ja!“ ſagte er verſchlafen. Und die Alte polterte die Stiege hinunter.
Jutta regte ſich, aber Klaus wartete noch ein wenig und richtete ſich dann
vorſichtig an ihrer Seite auf. Sie lag da, die eine Bruſt und den Arm
unbedeckt, das helle Haar in wilder Schönheit um Stirn und Wangenröte
gezauſt. Die Augenlider lagen über dem vollen, tiefen Wimperbogen etwas
abgeſpannt. Die Bruſt hob ſich in unerſchöpfter Rundung. Klaus küßte
das blutwarme bräunliche Rund darauf leiſe und nur wie es im Atmen in
die Höhe kam. Aber es fiel ihm etwas Luſtiges ein. Er mußte über die
Dummheit des Spaßes lachen und küßte nun, von plötzlichem Kitzel ge—
packt, immer feſter auf die Bruſt Juttas, die nun erwachte. Klaus küßte
immer noch die Warze, und als ihre Augen ſchon in aller Wachheit ſtrahlten,
füllte er die Pauſen zwiſchen vier Küſſen:
„— Röslein — auf — der — Haiden.“
Und die beiden lachten übermütig und ſogen die Lippen aneinander.
Es war hell in dem kleinen Zimmer von Morgen und von Hochzeitsluſt.
Klaus tat unwillkürlich alles, um von der Zukunft nichts Schales herein-
dringen zu laſſen. Aber von Jutta war wohl nichts zu befürchten. Aus⸗
gelaſſen lehnten die beiden zum Fenſter hinaus und ſchrien wie die Kinder
nach Frühſtück. — —
Wenige Stunden darauf trugen zwei Züge die beiden nach Hauſe; ein
Fernzug und ein Lokalzug. Aus jedem Stoß der Wagen ſchlug es bang an
ihr Herz. Aber der Fernzug ſtieß ſchneller und heftiger an die Schienen.
6.
laus Macholt ſetzte ſich ſtill an Mamas Seite zum Jauſentiſch.
„Marie muß jeden Augenblick von der Hochzeit kommen,“ ſagte die
alte Frau.
„Sie iſt alſo doch gegangen?“ fragte Klaus; „es iſt eine abſcheuliche
Unſitte“.
„Das Heiraten?“ ſpaßte Frau Macholt.
Aber ihr Sohn ſchien nicht recht aufgelegt und ſie ſagte ernſthaft:
834
ja SE,
„Mein Gott, Klaus, ein junges Mädchen, die felber ſchon fo weit wäre!
Das bißchen Neugier —“
„Und Neid und Klatſchſucht!“
„Ja, weißt du, da ſind die Grenzen ſchwer zu ziehen. Das ſeeliſche
Intereſſe, wenn ich fo fagen darf, bei einer fo jähen Umwandlung des ganzen
Lebens — da ſteht eins gern dabei und ſchaut zu, wie ſich's begibt und was
da etwa mit guten Augen auszuſpionieren iſt. Das iſt doch nicht mehr als
menſchlich und gar nicht ſo ſchlimm. Aber ihr Mannsleute wißt ja wohl
nicht viel von einer ſolchen Umwandlung. Bei euch gibt's das doch gar
nicht. Ihr ſeid nur um etwas reicher oder ein bißchen beengter durch die
Ehe. So ein Mädel aber muß etwas ganz und gar Neues förmlich von
vorn anfangen. Das iſt nicht leicht, aber immer intereſſant.“
„Stimmt wohl nicht ganz, liebe Mama. Ein Mädel, die was iſt, muß
doch dem Mann gerade ſo das Leben verändern wie er ihr.“
„Na, dazu ſind die armen Mädels doch meiſt nicht erzogen worden und
gewöhnlich wohl viel zu jung und ſchwach. Iſt ein armes Geſchlecht.“
Klaus antwortete nicht gleich und löffelte im Kaffee.
„Jutta Haiden iſt nicht arm und ſchwach,“ ſagte er.
„Woher weißt du das? Mir ſcheint, ſie iſt nur nicht biegſam. Ob ſie
ſtark iſt, wird ſich erſt zeigen müſſen.“
„Na, mit dem Schlappſchwanz wird ſie ſchon fertig werden.“
„Was weißt du! So ein Kampf macht mürbe. Gar wenn der Körper
einmal von der Mutterſchaft in Anſpruch genommen iſt.“
„Bei einer ſeeliſch ſtarken Frau darf man das wohl nicht überſchätzen,
mein ich.“
„Ach Gott, liebes Kind, ‚feelifch ſtarke Frau — das find fo Redens—
arten. Nichts erfährt ſich, wenn man alt wird, ſo ſicher und ſo bitter, als
daß wir von unſerm Körper erſchreckend abhängig ſind. Wenn der Körper
gequält und erſchöpft wird, kann die Seele nicht daneben ſtehn und zuſchaun.
Das haben die alten Folterer ſehr gut gewußt, wenn ſie aus einem eine Lüge
heraus ſchrauben wollten.“
„Ja, das iſt doch ein biſſel anders, denn das war doch ſo jäh und jedem
ſo unerhört, daß ſich keine Seele darauf vorbereiten konnte.“
„Und die Schmerzen der erſten Mutterſchaft? Wie ſtellſt du dir da die
Vorbereitung vor? Das iſt doch —“
Marie trat in die Tür.
„Spät kommſt du,“ brach Frau Macholt ab; „nun was war's?“
„Schön war Jutta,“ ſagte Marie, „wirklich ſehr ſchön, obwohl ſie etwas
bleich war. Und ſtill und ernſt wie alle Bräute.“
„Wie alle Bräute,“ ſagte Klaus und trank den Reſt ſeines Kaffees
auf einen Zug; „wie alle Bräute,“ wiederholte er, indem er aufſtand.
835
Und er ſah zu den Fenſtern hinaus wie ins Weite, als er das Zimmer
verließ.
Frau Macholt blickte ihm nach:
„Was hat der heute?“
Marie hatte ſich zum Tiſch geſetzt und fah intereſſiert auf die Bruchſtelle
ihres Kipfels:
„Wahrſcheinlich hat er ſich wieder mit kaltem Bier den Magen ver⸗
dorben, Mama. Oder vielleicht hat er Jutta lieber ſelber haben wollen.“
7
7 as junge Paar blieb ſechs Wochen auf ſemer Hochzeitsreiſe im Norden.
Für Skandinavien hatte Jutta ſich entſchieden, als der Gatte ihr die
Wahl freiſtellte. Kaltes Meer, ernſt ſchweigende Menſchen, harter Gletſcher
und Fels — es hieß, ihm ſei dieſer Geſchmack nicht leicht in den Kopf ge⸗
gangen. Italien, Venedig, Fröhlichkeit, wimmelnde Bewegung, lautes
Treiben in allen Zungen, ſchwüles Bad des Südmeers und heiße Nächte —
warum von dieſen hochzeitlichen Dingen nicht ebenſo naſchen wie alle die
andern jungen Paare, die ſeit Jahrzehnten da unten den erſten Liebeseifer
vertun? —
Klaus Macholt ſah Jutta vor der Abfahrt nicht mehr, ſeit jenem müh⸗
ſam⸗frohen Morgen, da er von ihr Abſchied genommen. Auch nach ihrer
Rückkehr traf er ſie weder in Geſellſchaften noch auf Wegen in der Stadt.
Er trug ſeine Bitternis jeden Tag ebenſo wieder nach Hauſe, wie er ſie
ins Amt gebracht hatte. „Die junge Frau zieht ſich ganz auf ihr glückliches
Heim zurück“, ſagten die Leute. Er konnte es ſchon nicht mehr hören; mit
Anſtrengung hielt er ſich, um den Herrſchaften nicht ins Geſicht zu ſchreien,
daß ſie blöde Augen hätten. Er lechzte nach ein paar Worten mit Jutta.
Aber er wußte: fie wollte ihre Schmach nicht ohne Not auf die Gaſſe
fragen. Und beſonders nicht vor ihn. Nur Marie hatte Jutta zweimal
vormittags in der Stadt bei Einkäufen getroffen. „Während meiner
Bureauſtunden,“ ſagte ſich Klaus. Er war überzeugt, daß es nicht ohne
peinigende Abſicht war, als Marie den Bericht von der Begegnung beide
Male mit genau denſelben Worten ſchloß: *
. fie läßt dich übrigens grüßen. Sie iſt noch immer fo hübſch.“ 1 hi;
Auf dieſe Weiſe war ihm die Möglichkeit abgeſchnitten, nach Näherem
zu fragen. — — —
So verging faſt ein Jahr. Auf das Bewußtſein von jenen Tagen mit
Jutta fiel die Zeit. Sie machte es aber kaum blaſſer; nur peinlicher. Denn
die Gewißheit, die Klaus in den erſten Wochen nie verlaſſen hatte, die Ge⸗
wißheit, daß er Jutta viel meye geworden war als der Liebhaber über eine
Sommernacht, dieſe Gewißheit lockerte ſich langſam in den allzuraſch
836
geſenkten Wurzeln, als feste das Grundwaſſer zweifelnder Vergeſſenheit feinen
Schlamm daran, daß die Erinnerung nun immer haltloſer ſchwankte als
ein Spiel der launiſchen Lüfte des Tags. Und das war Klaus eine neue
Qual. Denn es ſchien ihm wie drohender Schimpf. War, daß Jutta ihm
nun ganz entſagte, wirklich nur ein Opfer? Oder wurde es ihr am Ende
nicht allzuſchwer, ihn wegzuwerfen? Bloßes Werkzeug ſollte er geweſen
ſein? Traute ſie ihm ſo wenig zu wie den andern? Fürchtete ſie, ihm ſei
das alles nur eine pikante Erinnerung? — Nein, ſagte ſein Stolz. Viel⸗
leicht, lächelte ſeine Skepſis. — —
An einem Junimorgen ſaß Klaus an dem Gehweg der Ringſtraße vor
dem Volksgarten. Die Bank war noch kühl vom Tau. Und der Tag hatte
ſeine unerſchöpfte Friſche. In wenigen Minuten mußte Klaus aufbrechen,
denn um neun war die Verhandlung angeſetzt.
„Guten Morgen!“ fagte eine Frauenſtimme auf dem Weg hinter der
Bank; ſein Name war nicht genannt. Und die Stimme war nicht laut,
aber er fuhr doch in die Höhe. Denn es war Jutta. Sie ſtand einige
Schritte von der Bank und wartete, bis er herankam. Marie hatte recht.
Sie war ſo ſchön wie vorher, die Züge noch immer ſo edel und feſt. Sie
reichte Klaus die Hand: „Ich habe überlegt,“ ſagte fie ernſt und mit fo
ſcheuem Ton, daß es Klaus wehtat, „ich habe überlegt, ob ich an Ihnen
vorbeigehn ſoll. Aber ich mußte Sie wenigſtens grüßen.“
„Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen.“
Sie mußte an ſeiner Stimme merken, welche wartende Bangigkeit dieſe
Begegnung in ihm löſte. Und fie fand nicht das Herz, ihn ſofort wieder
zu verabſchieden.
„Ich möchte Ihrer Ruhe nicht ſchaden — und nicht der meinigen —
ſoviel ich davon habe. Aber bitte — begleiten Sie mich ein Stück — viel⸗
leicht durch den Volksgarten da — bis zum Burgtheater.“
Es riß und zerrte etwas an dieſen Sätzen, daß ſie ſtockten und zuckten.
Eine Weile gingen ſie wortlos dem Eingang des Parkes zu. Wortlos
fragten ſich beide, wortlos antworteten fie: Iſt es dir auch ſo ſchlecht ge⸗
gangen? Ein Jahr iſt lang und jeder Tag iſt gezählt. Und wenn die
Sehnſucht am Abend müde ift, wacht fie am Morgen in hellem Brande
wieder auf. Und jeden Tag häuft ſich die Aſche über der Seele höher,
ſchwerer — zum Erſticken. Nun aber kommt ein Windſtoß und ſchlägt in
die Dumpfheit. Bitterkeit, herrliches Erinnern, Qual der Sehnſucht und
Zwang der Untreu — Flamme — Sonnenwolken — Tau über Tau —
wütender Regen vom Abend zum Morgen — welch ein Giſcht der Liebe!
Und was ſoll nun bleiben — was ſoll nun bleiben?
„Sie ſind ſo ſchön, wie Sie waren.“ ſagie Klaus zitternd, „wenigſtens
ſcheinen Sie mir noch ſchöner als je“
„So ein Körper ift zäh,“ erwiderte fie tonlos; „es wäre beffer, er gäbe
nach. Aber das Ganze iſt wie ein ſtählernes Spinnennetz, in dem die Seele
gefangen liegt und ausgeſogen wird.“
Sie traten in den Park ein. Dort grinſte der verruchte Meergott und
das Waſſer tropfte von ſeinen glänzenden Schultern. Kinder ſchlugen
Reifen und der Parkwächter ſchimpfte. Um die Säulen des Theſeustempels
jagten die Spatzen einander das Futter weg. Auf den Bänken ſchäkerten
Studenten mit verdorbenen Backfiſchen und Konſervatoriſtinnen.
Den beiden tat das Treiben weh. Jutta lenkte in die ftillere Seiten⸗
allee.
„Darf ich frei reden?“ fragte Klaus.
a )
„Ganz frei?“
„Ja. Doch warten Sie — gut; reden Sie ohne Schonung; aber wenn
wir aus dem Park treten, dann halten Sie ein und laſſen Sie mich nach
Hauſe. Ich glaube, mehr werden wir beide nicht ertragen. Seien Sie feſt!
Wollen Sie?“
„Und werden Sie frei antworten?“
„Ja.“
„Gut, Jutta. Aber ich werde nichts wiſſen davon, daß du einem andern
gehörſt. Es muß ſein, als ob du mein geblieben wäreſt.“
Jutta zögerte:
„Gut,“ ſagte ſie dann ſchwer; „aber gehen wir langſamer. Es iſt
viel.“ — —
„Warum warſt du fo ſtreng gegen dich und mich — ein ganzes Jahr?“
„Ich mußte mich ſchützen. Und ich ſchämte mich vor dir.“
„Haft du dich nun ſchon überwunden?“
Sie ſchüttelte den Kopf.
„Du haſt dich alſo noch nicht gewöhnt?“ forſchte er weiter.
„Quäl nicht ſo, Klaus. Du biſt mir nicht anders als damals, wie wir
Abſchied nahmen.“
Abſchied! Glut ſtieg ihm über Schläfen, Stirn und Augen. Schweigen⸗
der Wald dunkelte ſich um ihn und kleine Lichter des Mittags tändelten
auf Blättern und Boden. Zwei Arme preßten und ein Mund. Und dann
verſchwand fie raſch, die helle, hohe Geſtalt, in die Bäume und er lehnte
mit geſchloſſenen Augen an einem Stamm. Ein ſchwarzes Eichhorn raſchelte
und ſchlüpfte plötzlich durch feine Einſumkeit.
„Sprich, Klaus,“ ſagte Jutta. Aber es war unter den Kaſtanien der
Allee, die ihren Blätterſchatten de'? und herriſch auf den Kies warf;
„ſprich, du machſt mir bang
„Du haft mir die Bruſt wieder aufgemacht, Jutta. Ich tue, was du
838
willft. Denn ich fürchtete, daß du vergeſſen gelernt haft in der langen Zeit,
weil du ſo ſtark biſt. Nun fühl' ich mich ſo frei, ſo geſundet. Ich hab' ſo
viel Schmach gefürchtet, ſo viel Schmach erlebt — in Gedanken.“
Sie blieb ſtehn, denn der Ausgang war nahe.
„Wir müſſen Abſchied nehmen, Klaus. Du weißt nun, wie es mir
ums Herz iſt. Aber ich würde dich nicht küſſen, auch wenn wir allein
wären. So wie ich dich küſſen würde, hier vor allen Leuten, wenn ich wollte;
wenn ich noch ein Recht dazu hätte.“
„Ein Recht? Biſt du ſo unfrei geworden?“
„Nein, Klaus. Aber ich habe mich zu ſehr erniedrigt — durch dieſes
Jahr. Ich ſitze in lauter Schande. Ich hab' kein Recht mehr auf dich.“
„Und du willſt mich auch jetzt nicht mehr ſehn und ſprechen? Nur ſehen
und ein paar Worte manchmal?“
„Nein, Klaus — dazu ſind wir nicht mehr ſtark genug. Und als Geliebte
— — dazu bin ich zu wenig feig — oder zu feig, wenn du willſt. Nein.
Dann gäbe ich mich verloren. Leb wohl!“
Sie ſeufzte auf, daß ſich die Schultern hoben im Krampf, und gab ihm
die Hand, die er hielt.
„Vielleicht hätt ich dich laſſen ſollen, Klaus. Wer weiß, wie's nun geht.
Leb wohl!“
Er bewegte nur die Lippen, fing den angſtvollen Blick und ſah ihr nach,
als zerflatterte alle Luſt der Welt durch das Gittertor ins Grenzenloſe.
Klaus kam zu ſpät ins Amt. Der Landesgerichtsrat wartete ſchon wütend
auf ſeinen Schriftführer. Klaus ſprach müde und ohne Akzent ein paar
Worte von „wichtiger Angelegenheit“. Den Alten reizte dieſe erregungsloſe
Ruhe:
„Für einen ſo jungen Mann, mein Lieber, muß das Amt das Wichtigſte
ſein. Für einen ſo jungen Mann gibt es keine wichtigere Angelegenheit!“
„Gerade für einen jungen Mann? Du Seelengerippe!“ Es fehlte
nicht oiel, daß Klaus dies wirklich geſagt hätte.
8.
amilie Macholt ſaß ein paar Wochen nachher beim verſpäteten Mittags-
F tiſch. Im Zimmer war es ſehr heiß, obwohl alles verdunkelt war. Die
beiden Frauen beſtritten das Geſpräch faſt allein. Denn Klaus war müde
vom Amt.
Draußen klingelte es und man hörte ein paar Worte reden. Das Mäd—
chen kam mit einem Brief in offenem Um ſchlag:
„Bitte, gnädige Frau, es iſt Strafporce darauf.“
Marie hatte den Brief ſchon geöffnet, den Inhalt herausgenommen:
„Das mußt du zahlen, mein Lieber,“ wandte fie ſich an Klaus und fie
839
reichte ihm das Blatt und zeigte mit dem Finger auf ein paar gefchriebene
Worte unter der gedruckten Einladung zu einem „Wieſenfeſt“, die an Frau
Macholt „und werte Familie“ gerichtet war. Darunter ſtand geſchrieben:
„Ich bitte beſonders auch Herrn Klaus, ſich der Tänzernot zu erbarmen.
Ich will ihn dafür gern den hübſcheſten von meinen Bekannten vorſtellen.“
Und in der gedruckten Komiteedamen⸗Liſte war der Name „Frau Jutta
Hromatka' ſtatt einer Unterſchrift mit einem feſten Schnörkel umzogen.
Klaus hatte Mühe, ſeine Überraſchung zu verbergen. Die Mutter ſuchte
nach Kleingeld. Aber Marie beobachtete ihn.
„Alte Liebe roſtet nicht,“ ſagte ſie; „aber freilich der arrae Stefan, das
Nilpferdchen, iſt ihr zu plump. Du tanzt wahrſcheinlich beſſer.“
„Ich bitt' dich, zähm' deine böſe Zunge“, erwiderte Klaus, nachdem er
ſich gefaßt hatte, „ſie kann das gar nicht wiſſen. Sie hat mich nie tanzen
geſehen.“
„Behaupt' ich auch gar nicht. Aber daß dr leicht beweglich biſt — körper⸗
lich mein’ ich natürlich, nicht moralifch — das hat fie doch beim Tennis
ſehen können, nicht?“
Klaus empfand Unbehagen und war froh, als die Mama antwortete:
„Na, das iſt doch wirklich nicht dasſelbe, Marie! Ich hab' einen hüb⸗
ſchen Herrn gekannt, der war ein famoſer Turner und noch beſſerer Fels⸗
kletterer, aber beim Tanzen war er ganz unglücklich. Das war euer Papa.“
„Ach, Mama,“ meinte Klaus, „das iſt vielleicht aus andern Gründen
leichter zu verſtehen: weil es ein ſo blödes Gedrehe iſt.“
„Hm, wir werden ja ſehen, Herr Bruder,“ ließ ſich Marie hören, „ob
es dir in der Praxis am nächſten Feiertag beim Wieſenfeſt auch ſo blöd vor⸗
kommt.“
Klaus fand raſch ein Einlenken:
„Da wird es auch nicht ſo blöd ſein, denn da iſt doch friſche Luft und
kein Staub.“
„Aha! Und als angenehme Zugabe liebenswürdige, ſchöne junge Damen;
ein ve wenigſtens, was?“
Klaus hatte eben das Obſtmeſſer weggelegt und ſtand auf:
„Zwei!“ ſagte er ſchlagfertig und verbeugte ſich tief vor feiner blinzelnden
Schweſter.
=, Feſt hatte das befte Wetter und einen ausgeſucht ſchönen Platz:
eine Waldwiefe bei Kritzendorf, deren einzige offene Seite auf die
Donau hinunterſah. Die ſchimmerte von Schaum und Sonne. Die Wellen
in ber Mitte aber waren nur ganz leich“ und tanzten in graziöſen Schritten
alles mit, was von der Muſik unermüdlich hinuntertönte.
Ein paar Schank⸗ und Speiſehütten waren errichtet und da wurde mit
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dem üblichen Aufſchlag von Mädchen und jungen Frauen Eſſen und Trinken
feilgeboten.
Jutta hatte an der Seite ihres Gatten die Familie Macholt freundlich
begrüßt und gleich erzählt, daß fie ſchon den ganzen Vormittag da oben mit
den Arrangements beſchäftigt geweſen. Sie ruhe nun Nachmittag, ſehe nur
ein bißchen zum rechten und helfe hie und da aus.
Klaus konnte in den wenigen Minuten keinen Unterſchied im Verhältnis
der Gatten gegen das der Verlobten bemerken. Das bot ihm jedoch keinerlei
Befriedigung, denn er hatte es nicht anders erwartet. Aber ſeltſam klangen
ihm Juttas Worte im Ohre nach:
„Ich danke Ihnen noch beſonders, Herr Macholt, daß Sie gekommen
ſind.“ — —
Sie iſt noch immer ſo zuwider zu ihm,“ ſagte Marie, als ſie das Paar
wieder verlaſſen hatten. Klaus eat ihr aber nicht den Gefallen, darauf zu
antworten. Und fie fügte mit leiſer Argerlichkeit hinzu:
„Aber von den hübſcheſten Damen, die ſie dir zu Füßen legen will, ha
fie nichts mehr geſagt!“
Klaus überließ Mama und Schweſter bald dem Getriebe und Geräuſch
des Feſtes und ging zum offenen Rande der Wieſe, der etwas abſchüſſig
und windig und daher leer geblieben war. Dort ſtarrte er hinaus über die
leichten Hügel ins ebene Land, dae vor dem Horizont lag. Aber er ſah
nichts. Das ſtrömende Waſſer und die feſtruhende Erdweite, das Buchen⸗
gerauſch und die verlorenen Tönen und Paukenſchläge — es war ihm alles
ein Einziges, ein totes Grau, ein kahler, rieſiger Vorhang, auf dem nur
eine Art wolkige, ſonnenloſe Bewegung zu ſehen war, die ſeine Gedanken
in Verworrenheit hielt. Was ſollte Juctas Einladung? Wozu hatte fie ihn
hergetrieben? Quälen wollte ſie ihn doch nicht. Das mit den „hübſchen
Damen“ war offenbar nur für Mama und Schweſter beſtimmt geweſen.
Wollte fie ihn ſprechen? — Bis fetzt ſchien es nicht fo; denn fie war immer
in Geſellſchaft, und obwohl Stefan mehr als einmal von ihr entfernt
geweſen, hatte fie keine Miene gemacht, na ihm allein zu fein. Und fie
war zu furchtlos, als daß Klaus hätte glauben können, ſie halte ſich zurück,
weil fie Gerede meiden wolle. Hatte fie ihn nur zu ſehen gewünſcht? Mußte
ſie nicht wiſſen, daß das in einer blutenden Wunde bohren hieß? Wollte ſie
ihm ein Stelldichein geben? Das war nach dem letzten Geſpräch im Volks⸗
garten wenig wahrſcheinlich. Oder (Sedankenloſigkeit? —
Ein Hornſignal ſchreckte Klaus auf Es war das Zeichen zum Beginn
des Tanzes. Seine äußern Sinne aten wilder Dienſt: Die Donau zog
gleichgültig vor ihm. Sie ſchien mud. Da wandte er ſich um. Aus dem
Gewirr von zwei- oder dreihundert Y chen fiel ihm ſofort Jutlas dunkel—
blaues Kleid ins Auge. Sie ſtand de, eigner Bude und ſah in der Richtung
2
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zu ihm. Aber ob ihre Augen ihn gefunden hatten, vermochte er nicht zu
erkennen.
Gepeinigt verließ er den Ort, ſchritt in den Wald und kehrte auf einem
ſehr großen Umweg zum Feſtplatze zurück. Dort beobachtete er lange Zeit
das Tanztreiben, indem er ein paar Schritte vom Rande im Waldinnern
ſtehen blieb: Bunte Geſtalten drehen ſich im ruhigen Schritt oder mit der
Hüpfluſt unverbrauchter Kräfte. Leichte Sommerkleider wehen um halb-
wüchſige Mädchengeſtalten, denen das Tanzen nichts iſt als ein fröhliches
Turnen, das nur zufällig mit dem andern Geſchlecht geübt wird. Reife
Schönheit liegt bewußt in den Armen abgelebter, ſpeckwangiger Routiniers
und wehrt kühl oder keck lüſternes Lächeln und taſtende Redensarten ab.
Dort ſtreckt ſich eine Vierzigjährige in den Armen eines halben Knaben, der
ſauerſüß dreinſieht, als müßte er, bei böſer Speiſe zu Gaſt, höflich bis zum
letzten Biſſen eſſen, während die Augen ſeiner Tänzerin ſtrahlen und den
jungen Mädchen zurufen: So tanzte ich vor zwanzig Jahren, ſo tanz' ich
noch heute — macht mirs nach! Und ihre dicken Lenden wackeln nach der
Muſik, daß der Gefangene Mühe mit dem Gleichgewicht hat. Dort wieder
verſucht fröhlich ſchmeichelnd ein feſter Backfiſch einen kapriziöſen Altländler
mit dem Großpapa, deſſen Wangen unter dem vollen, ſchlehweißen Scheitel
in verſpäteter Sonne blühen.
Und die Muſik tut jedem recht; fiedelt den Alten das Herz auf und zähmt
die Sprudelhaſt der Jungen mit gehaltenem Takt. Dahinter die Buden
mit Gläſerklirren und Geſchäker, nickende Köpfe und geſchäftiges Reichen
und Bieten; mancher zahlt delikat und nimmt geſchickt Dank und Lächeln;
mancher ſieht ſcharf und ſpießbürgerlich auf den Tiſch, wo ungeübte Hände
Silber einſtreichen und Nickel und genaues Kupfer heimzählen müſſen,
ſtatt daß die Schönen mit Augenwink und gern gebotenem Körperreiz die
kleinen Differenzen der Hand ausgleichen dürfen — vielleicht aber alles
nur, weil die ſorgliche Gattin dort hinten irgendwo ſteht und über das
moraliſche Heil des Hauſes ein geſtrenges Auge walten läßt.
Am Rande oben hinter der Muſik halten ſich Kinder an den Händen
und wirbeln im Kreiſe oder gucken auf den Paukiſten und das Fingerwunder
des Trommlers, der es ſo viel beſſer kann als man ſelber zu Haus auf dem
letzten Weihnachtsgeſchenk.
Und hinter alldem, was da Farbe macht und Ton, hinter kniſternder
Seide und glühender Haut, hinter alkoholiſchem Schaum im blitzenden Glas
und dem Biß feſter Zähne in Saft und Süßigkeit, hinter dem ganzen
erquickenden Wiegen und Plätſchern der Jugendfreude hebt ſich der ſchatten—
grüne Wald wie eine Kuliſſe und ſchwingt die leuchtenden Wipfel über
allem, was da hineinglänzt und ſchallt, bis es ſich im Schweigen des tiefſten
Gehoͤlzes verſteckt und ſich ſelbſt vergißt.
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Klaus ließ all dieſes Leben, das ihn quälte, unwillig vorüberquirlen und
ſchaute nur nach einer einzigen Geſtalt aus, die ihn für die hundert gleich—
gültigen entſchädigen ſollte. Endlich kam ſie vorüber. Jutta tanzte mit
einem unbekannten Herrn. Sie tanzte bedächtig, faſt vorſichtig. Als ſie
im Kreiſe näherkam, gewahrte Klaus mit Schrecken, wie blaß ſie war und
daß die Augen groß und ſuchend über die Schultern des Partners gegen
den Wald blickten. Er trat heraus ins Freie. Juttas Augen hafteten
eine Sekunde ſtarr auf ihm und ſchloſſen ſich dann. Dann dankte ſie dem
Tänzer und ging zu ihrer Gruppe, wo auch Frau Macholt mit ein paar
ältern Leuten im Geſpräche ſtand.
Eben brachte Stefan Marie wieder zu ihrem Platze, als Klaus hinzutrat.
Jutta ſetzte raſch das Glas Sodawaſſer vom Munde ab:
„Warum tanzen Sie heute nicht, Herr Macholt?“ ſagte ſie faſt ſtreng
und ihre Augen funkelten.
„O ich tanze ſchon, gnädige Frau, aber ich hab' nur den Anfang ver-
ſäumt. Darf ich gleich um einen Walzer bitten?“
Sie ſagte kein Wort, neigte ernſt den Kopf und reichte ihm den Arm.
Als er ſie aus der Gruppe auf den Tanzraſen geführt hatte, fragte er leiſe:
„Hab' ich mit irgend was nicht recht getan?“
„O nein,“ ſagte ſie, „doch gar nicht! Gar nicht! Tanzen Sie nur, bitte,
tanzen Sie, ſolang Sie können!“
Die Muſik ſpielte. Es war ein Walzer aus einer guten alten Operette.
Mehr wußte er nicht. Er hielt die liebe Geſtalt feſt im Arm und führte
ſie im weiteſten Bogen um die Wieſe. Ihm ſchien, als fühle er den Puls
klopfen im Arme, der auf ſeiner rechten Schulter lag. Und von dieſem
hellen Antlitz ſtrahlte Wärme aus und ein drängender Atem kam wie in
wilder Befreiung von der Kraft dieſes Leibes, der ihm gehört hatte, nein,
der nun ihm gehörte und an ihm gefeſſelt war, als wolle er nie wieder von
ihm laſſen. Die Geigen riſſen und ſchrien, Wirbel und Schläge tobten
durch lange Stöße des Flügelhorns und Flötenkadenzen liefen dazwiſchen
herunter wie Schreien verfolgter Vögel. Ein Rauſchen war in der Luft, da
und dort klang ein Auflachen zu ihnen oder ein paar Geſprächsſtimmen
ſchwirrten einträchtig daher und wurden von der Luft verſchlungen. Jutta
tanzte mit aller Kraft und großem Schritt, und ihr leidenſchaftlicher
Schleiftritt drängte immer hart an den Takt der Muſik. Denn der war
ihr zu langſam. Es war heiß und ſchon das dritte Mal umkreiſten ſie die
Wieſe. Die beiden kümmerten ſich um nichts mehr. Beiſammen wollten
fie bleiben, umarmen wollten fie fi, vergehen in der Beſinnungsloſigkeit
dieſer wirbelnden Minuten.
„Liebſter,“ ſagte Jutta, „Liebſter!“
„Warum nimmt uns kein Sturm von da! Warum fliehen wir nicht!“
842
„Tanz, Liebfter, tanz!“
In wütender Leidenſchaft ſtieß ſie es hervor und ſie tanzten über die
Wieſe und hinter ihnen ſtob alles ins Nichts, was nicht ſie war und ihre
Sehnſucht und ihr Schmerz. Was Ehe und was Leute! lind Muſik und
Feſt und Wald! Es gab nur eins und das war ein Rauſch und der durfte
nicht aufhören, der durfte nicht aufhören! Sonſt kam ein ſchauerlicher, gift⸗
feuchter, erſtickender Rachen und fraß alles, was Leben hieß!
„Tanz, Liebſter! Tanz! Wir wollen — —“, mitten im Satz wurde
die Stimme leer, Klaus machte im heißen Schwung noch einen Schritt,
dann blieb er jäh ſtehen; Juttas Kopf war ſchwer zurückgefallen, mit
geſchloſſenen Lidern, ihr Körper hing ohne eigene Kraft in feinem Arm. f
Die Ohnmächtige wurde in die nächſte Schenke getragen. Marie und
die Frauen halfen. Die Männer mußten fort. Klaus war bleich. Mühſam
hatte er ſich aufgerafft aus Rauſch und Sturz. In ihm hämmerte und
zerrte es. Die Muſik ſpielte ihren ſehnſüchtigen Walzer fort. Jeder Geigen⸗
ſtrich ſchnitt ihm in die Bruſt und die Paukenſchläge drohten ſeine Schläfen
zu zerſprengen. Er wollte hineilen zur Muſik, aber da verſtummte ſie
plötzlich, mitten im Takt; eine Klarinette zog nach und riß ab wie erwürgt.
Der Tanz war zerſtört. Leute liefen von der Schenkhütte, ratlos, ſuchend,
angſtvoll. Klaus ſtand in der Nähe an einem Baum allein und ſtierte auf
die Hütte. Stumm war es dort, fürchterlich ſtumm.
Da löſte ſich Marie aus der Gruppe. Sie hatte weite, tief erſchrockene
Augen und nahm nur mechaniſch das Taſchentuch.
„Marie!“ rief Klaus leiſe und ſah ſie bang an.
„Mein Gott!“ ſagte fie aufweinend, „ſie ſtirbt, fie verblutet —“
„Was?“
„Ein Kind hätte es werden ſollen!“ —
Ein paar Leute hatten ſich herangemacht und zugehört.
„Es iſt aber doch ein furchtbarer Leichtſi un,“ ſagte eine alte Frau kopf⸗
ſchüttelnd. Klaus kehrte ſich raſch ab in den Wald und warf ſich auf den
Boden.
„So eine Unvorſichtigkeit!““ hörte er noch einmal. Er bohrte die Stirne
in das kühlende Gras und überließ ſich dem Sturm in feinem Innern.
Und er wurde fi ſich nur langſam ſicher, daß er es beffer wiſſe.
Kultur!
von Julius Meier⸗-Graefe
Dem Andenken Friedrichs des Großen.
orte ſind oft wie Kleider, die eine früher begüterte liebevolle Mutter
für ihren Sprößling machen ließ und die ſie ihm immer wieder
anzieht, auch wenn fie ihm längſt nicht mehr paſſen. Es gibt Worte,
die zu klein werden. Das verſteht jeder in unſerer immer größer werdenden
Zeit. Warum ſollten die Nähte der Worte halten, wo alles, Häufer, Städte,
1 Telephonnetze, Hotelrechnungen ins Rieſenhafte wächſt. Man erfindet neue
Worte, oder behilft ſich mik Zuſätzen, mit klangvollen Attributen, die
zuweilen neben dem alten Worte ſtehen, wie auf holſteiniſchen Gütern die
modernen Wirtſchaftsgebäude neben dem alten gemütlichen Herrenhaus.
Immerhin gibt es auch Worte, die zu groß werden. Man will nicht viel
davon wiſſen. Kultur iſt fo ein Wort. Es gleicht dem Zylinderhute Goethes
im Goethehaus zu Weimar, bekanatlich ein Ungeheuer von Umfang, den
ſich ein flinkes Kerlchen ſcherzweiſe aufſetzt und der ihm bis an den Hals
geht, ſo daß vom Kopf überhaupt nichts mehr übrig bleibt.
Wenn die häufige Verwendung eines Wortes für die Exiſtenz des Be⸗
griffs, den es bezeichnet, ſpräche, wäre unſere Kultur ebenſo rieſig wie unſere
Bahnhöfe. Schon der Mann in Weimar, dem der Hut im Goethehauſe
paßte, hat vor ſolchem Irrtum gewarnt. Das Wort iſt ſo kurant geworden
wie „Guten Morgen“ und „Guten Abend“, und es gibt Leute, die damit
aufſtehen und zu Bette gehen. Eine ſchlimmes Zeichen! Man redet von
ſolchen Dingen immer dann am meiſten, wenn fie nicht mehr da find.
ö Man rechnet zur Kultur gut gedruckte Bücher, die Regulierung des
Straßenverkehrs, D⸗Züge, Reinhardtſche Zirkusaufführungen, moderne
Möbel und Kleider von Poiré. Mit Recht, denn dieſe Dinge ni
zweifellos dazu, und ich will nichts gegen fie fagen. Fragt ſich nur
welchem Verhältnis ſie dazu gehören, ob in einem engeren, ob in 9 5
weiteren Sinn, in welchem Sinne überhaupt; ob nicht etwa ein gegebener
engerer Begriff ihnen angemeſſener wäre. Darauf kommt es an, wenn wir
uns nun ſchon einmal auf ſoſche Wortſpaltereien einlaſſen. Alles, was
wächſt und fortſchreitet, gehört zur Kultur. Schließlich muß man aber auch
die tätowierten Grimaſſen der Fidſchi-Inſuſaner dazu rechnen. Wir müſſen
uns über den Grad von Kultur einigen, von dem an das Wort vernünftiger
Weiſe zu verwenden iſt, wollen wir es nicht mit den üblichen Attributen
bepacken. Und dieſen Grad kann nicht die Gegenwart allein feſtſetzen. Er
kann nur von den in der Welt irgendwo und ⸗wann bereits erfüllten
Anſprüchen beſtimmt werden, von der Überlieferung, der wir ja ohnehin
unſere Worte verdanken.
Es gibt eine Kultur der Dinge und eine Kultur der Menfchen. Die
Definition kann keinen Anſpruch auf philoſophiſche Gültigkeit machen, denn
natürlich gibt es im Grunde nur eine Kultur. Es iſt nur ſehr notwendig,
dieſe ſcheinbare Trennung gelten zu laſſen, denn dieſer Schein beſteht wie
eine Tatſache. Wir erleben hundertmal, daß ſich ein Menſch mit allen
möglichen komfortablen Dingen umgibt und dabei wie der rohſte Barbar
lebt und empfindet. Wir erleben, daß ganze Völker fo zu exiſtiern vermögen.
Folglich haben alle Schlüſſe, die wir aus dem dinghaften Milieu eines
Menſchen auf ſeine Kultur ziehen können, nur bedingte Gültigkeit. Es iſt
ganz leicht möglich, daß der Beſitzer des Hauſes der Vettier in Pompeji ein
vornehmer Mann war, deſſen Geiſt in dem reizenden Hauſe ſeinen natür⸗
lichen Ausdruck fand. Es iſt keineswegs ſicher. Mode und ſein Bedürfnis
zu glänzen könnten ihn allein dazu gebracht haben. Um über ihn ſelbſt
etwas ſagen zu können, müßten wir von ihm wiſſen. Von dem geiſtigen
Leben des Individuum erhalten wir aus ſolchen Gegebenheiten keinen Begriff,
weil fie mehr oder weniger Gemeingut find und ohne jede perfönliche Auf-
bietung ernſthafter Art erworben werden können. Und nicht einmal das
allgemeine Kulturniveau einer Zeit können wir an der Hand ſolcher Angaben
mit Sicherheit ſchätzen. Dazu bedürften wir der Erkenntnis deſſen, was
die Zeit vorfand, was ſie dazu tat, was ſie verſchmähte; ob ſie die Formen,
die wir bewundern mögen, mit eigener Kraft erfüllte oder nur als toten
Ballaſt mit ſich trug.
Die Dinge erhalten ein ganz anderes Geſicht, wenn wir den Menſchen
kennen, der ſich ihrer bediente. Es iſt uns etwas wert, in Potsdam den
typiſchen Rahmen für unſeren größten Fürſten zu beſitzen. Für keinen
von uns, der Friedrich den Großen kennt, ſind die Dinge, die ihn perſönlich
umgaben, die perſönlichen Neutren, die einer Epoche gehören. Sie gehören
ihm. Man muß in Potsdam ſein, um zu erfahren, wie ein Menſch, der
längſt tot iſt, Dinge zu beleben vermag. Ein anderer hätte Potsdam
gemacht haben können, einer der hundert Kleinfürſten unſerer Geſchichte.
Wir würden es deshalb nicht weniger ſchön finden, ja vielleicht das Schöne
noch beſonderer betonen, aber würden uns ganz anders darin fühlen, würden
nie die tiefere Beziehung zu den Dingen finden, würden wie zwiſchen male
riſchen Ruinen wandern, auch wenn die Bauten wohl erhalten wären;
während uns jetzt unſer eigenes Daſein ins Vergangene verlängert erſcheint.
Alles, was wir dort ſehen, kommt von einem einzigen großen Menſchen
her, wurde für ihn geſchaffen, gehört zu ihm. Man ſieht den Alten einſam
in der rieſigen Allee ſpazieren, in der ſich der Denker erging. Er erſchien
noch kleiner an Wuchs neben den hohen Bäumen, noch gewaltiger an Geiſt,
weil all das Hohe ihm zu Dienſten war. Man ſieht ihn in der koſtbaren
Bibliothek über köſtliche Bücher gebeugt, erblickt ihn in der Galerie vor
2
846
einem Lancret und erzittert unter dem Schauer geheimnisvollen Daſeins
beim Anblick des geſchnitzten Pultes, vor dem er ſpielte. Man muß in der
Woche hinausgehen. Es muß ganz leiſe in dem hohen Rundſaal ſein, will
man die Geſpräche Friedrichs mit Voltaire und den anderen belauſchen.
Hat man Glück, ſo ſieht man den Geiſt, der in dem Raum laut wurde, in
ſchimmernden Ornamenten den Marmor bedecken. Drüben winkt die alte
Mühle wie ein leiſes Lachen. Da fand er eine behagliche Probe auf den anderen
Bau, den er in ſeinem Reich errichtete. Das Sichtbare verbindet ſich in
Potsdam mit unzähligen unſichtbaren Dingen. Es nutzt nichts, wir können
Schönheit als geiſtigen Wert nur erkennen, wenn etwas da iſt, was über
das geſchaffene Ding hinausgeht, etwas, das uns das Recht des Beſitzers
als ſchöpferiſchen Willen offenbart, als eine Unendlichkeit im Vergleich zu
den endlichen Dingen. Ob wir dieſes Etwas aus unſerer Erfahrung hinzu—
tun, ob es wie ein Wunder über den geſchaffenen Dingen ſchwebt, iſt einer—
lei. Wir müſſen von den Dingen, und ſeien ſie noch ſo verführeriſch, noch
ſo mächtig, noch ſo vollkommen, abſehen können und zu einem noch Mäch—
tigeren, noch Vollkommneren, zu einem Symbol des Menſchlichen gelangen.
Nur ſo erfaßt man einen würdigen Umfang der Kultur, dieſen Inbegriff
ſchöpferiſcher Schönheit. Weg von dem Ding, von der Materie, hin zum
Geiſte. Dieſes Urprinzip aller Künſte iſt in gleichem Maße höchſte Tendenz
der Kultur.
Was iſt das Beſondere an Friedrich dem Großen? Etwa daß er Potsdam
in ſeiner Weiſe ſchuf? Wie winzig erſcheint dies eine nebem allem anderen,
das bei uns ſeinen Namen trägt? Etwa, daß er ſich franzöſiſch gab, franzöſiſch
ſprach, mit Franzoſen umging! Niemand denkt daran in dem Park von Sans—
ſouci. Unter den Merkwürdigkeiten feiner Art iſt fein Franzoſentum die ges
ringſte, höchſtens die Form für einen unüberſehbaren Inhalt, dem Schloß mit
dem verſchnörkelten Dach vergleichbar, in dem er wohnte. Aber wir können
weiter fragen: Iſt das Merkwürdige an ihm, daß er Schleſien eroberte, daß
er ein kühner Feldherr war? Gewiß vermögen wir uns den großen Friedrich
nicht ohne große Kriegstaten zu denken. Aber ſie gehören zu ihm, er gehört
nicht zu ihnen. Keinem naiven Menſchen, der in Potsdam ſpazieren geht,
wird gerade der große Soldat im Geiſte begegnen. Und nicht anders iſt es
mit dem Philoſophen Friedrich, mit dem Sammler und Muſiker, mit dem
Dichter. Nicht eine dieſer Sonderheiten zeichnet ihn allein, dringt tiefer als eine
andere in unſer Bewußtſein, ſo ſichtbar auch die Unterſchiede ſeiner Leiſtungen
auf dieſen verſchiedenen Gebieten ſein mögen. Selbſt mit dem großen
Staatsmann verknüpft er ſich nicht unlösbar. Der Begriff iſt zu feſt, zu
eng, fo weit wir ihn faffen mögen, um die geſchmeidige Größe unſerer Vor—
ſtellung aufzunehmen; iſt zu ſehr Ding, zu ſehr Materie, im Vergleich zu
dem Umfang ſeines Geiſtes. Es geht uns mit ihm wie mit ſeinem Park
847
von Sansſouci, wenn wir die ſchöne hochragende Treppe zu feinem Lieblings⸗
ſchloß an den gläſernen Orangehäuſern vorbei hinaufſteigen. Der Blick
nimmt immer weitere Gebiete auf, Blicke auf Beete, auf köſtlichen Marmor,
auf Fontänen, auf Bäume. Bis er ſchließlich von oben alles überſieht, eine
reich bewegte Maſſe mit dem Himmel als Hintergrund. Aus den Einzel⸗
heiten find Farben geworden und die Farben bilden eine unteilbare Harmonie.
So erſcheint die in einem Friedrich verkörperte Kultur, eine unteilbare
Vielfältigkeit, ein harmoniſcher Reichtum, den wir fürſtlich nennen würden,
auch wenn ſein Beſitzer nie eine Krone getragen hätte
Ich weiß nur einen Menſchen, den man in Deutſchland an die
Seite Friedrichs ſtellen könnte. Er iſt gewiſſermaßen ſein Nachfolger
geworden: Goethe. Wir begegnen in Goethe einem ähnlichen Komplex
erfüllter Beziehungen zur Welt. Und es geht uns mit ihm gerade fo
und in vielleicht noch erſtaunlicherer Weiſe. Nehmen wir ſeine ſchönſten
Dichtungen, wie wir vorher die Schlachten Friedrichs nahmen: wir erhalten
nicht die erhabene Geſtalt, die uns zum Vorbild geiſtiger Vervollkommenheit
geworden iſt. Ich könnte mir einen begeiſterten Verehrer denken, der nie
mehr ein Buch Goethes in die Hand nimmt. Er las früher die Gedichte,
verſchlang fie, wußte fie auswendig. Jetzt iſt das Bild des Dichters fo
gewaltig in ihm geworden, daß er es zu ſchmälern fürchten würde, wenn er
ſich an einer auch noch ſo bedeutenden Sonderheit des Goetheſchen Kosmos
entflammte. Selbſt der „Fauſt“ erſcheint ihm nur wie eine Geſtalt in
völkecreicher Natur, wie ein einzelnes in einem unüberſehbaren Ganzen.
Er weiß nicht die Verſe mehr, aber beſitzt den Organismus, der ſie entſtehen
ließ. Er lieſt Goethes ungeſchriebene Gedichte, wie er von Friedrichs
ungeſchlagenen Schlachten träumt. Er lebt mit feinem Helden, wandelt in
ſeinem Geiſte und begreift jene immaterialiſierende Macht des Menſchlichen,
die alle Geſchichte überſtrahlt.
Das iſt ein ſicheres Attribut bedeutender Geiſter: Daß wir mit ihnen
weiter leben über ihre Schöpfungen hinaus. Vieles in Friedrich iſt vergäng⸗
lich und zwar gerade das, was dem flüchtigen Blick als beſonders kulturell
gelten mag: Zum Beiſpiel ſeine Dichtungen, auch manches Philoſophiſche
im engeren Sinne, ſogar manches ſeiner Staatskunſt. Und ſo iſt vieles in
Goethe altertümlich geworden und hat ſich überlebt; tauſend Dinge, die
eine übereifrige Verehrung immer wieder hervorkehrt. Aber der Geiſt, der
alles das hervorbrachte, der unendliche Trieb, der keine Seite des Daſeins
unberührt ließ, der vielflächige Kriſtall, der wie ein Leuchtturm in der
Nacht nach allen Richtungen feine Strahlen ſendet, iſt unverletzlich; ein
unſterbliches Wahrzeichen der Größe, bleibt es auch dann noch, wenn wir,
das Volk, aus dem er hervorging, veraeiyen follten.
Der Kulturbegriff dieſer Menſchen iſt uns durchaus geläufig. Er
=
liegt in der Bedeutung des Goetheſchen. Goethe beſaß ihn nicht allein.
Seine Zeit hatte Teil daran. Wir finden dieſelbe Kultur in vielen ſeiner
Zeitgenoſſen mehr oder weniger deutlich realiſiert und, wenn nicht zu dem
klaſſiſchen Ausdruck gelangt wie in einem Goethe, mindeſtens als ein ſicheres
Ideal den Menſchen vorſchwebend. Für Kultur galt die Aufbietung aller
einem Menſchen gegebenen Kräfte zur Durchdringung des Chaos. Kultur
war Ordnung, die aus der Fülle und trotz der Fülle der Beziehungen zum
Kosmos gewonnene und behauptete Harmonie.
Jeder Vergleich dieſer Deutſchen mit irgendeinem ſpäteren erweiſt unweiger⸗
lich die Anderung des Begriffs. Suchen wir den Mann, der heute im Ver⸗
hältnis zu feinem Volk etwa die Stellung eines Friedrich oder Goethe ein⸗
nimmt. Schon daß wir Mühe haben, gleich repräſentative Exempel für unſere
Epoche zu finden, gibt zu denken. Denken wir an den Mann, der nach
Friedrich am meiſten für Deutſchland getan hat: Bismarck. Er ſteht nicht
niedriger in unſerer Schätzung, unſer Gefühl zu ihm iſt ſogar wärmer, eine
perſönliche Dankbarkeit, die ihr Uübermaß mit Wort und Tat erweiſen möchte.
Wir nennen ihn Held und könnten ihn pater patriae nennen. Kein Lorbeer
iſt uns zu gut für ihn. Aber man würde ſich lächerlich machen, wollte man
ihn neben einen der Menſchen ſtellen, die uns wie Kriſtalliſationen der
Kultur erſcheinen. Stellen wir Bismarck neben Friedrich, ſo erleben wir
eine ſonderbare Erfahrung. Die Tat Bismarcks bleibt unberührt, ſie wird
vielleicht noch größer. Der Menſch aber wird kleiner. Gerade unſere Be—
teiligung an den Folgen ſeines Wirkens, das Unmittelbare des Nutzens,
ſcheint feine Bedeutung zu verringern, während der Mangel an ſolchen Be⸗
ziehungen unſer Verhältnis zu Friedrich veredelt. Die Art der Bismard-
ſchen Tat zwingt uns, näher zu treten, näher als der Umfang der Bedeutung
eines Friedrich erlauben würde. Die Weisheit des Politikers, die wir in
Bismarck ohne weiteres als Ankerpunkt ſeiner Art erkennen, iſt ſo groß,
daß alles andere vollſtändig abſorbiert wird. Wir wiſſen kaum von einem
andern. Er wird zu unſerem größten Staatsmann, zu dem genialen Roland
unſerer Monarchie, unſeres Landes, iſt enger mit unſerer Geſchichte ver
bunden, ſo eng, daß er vielleicht mit ihr verſchwinden würde.
Di.ieſe Exempel, die mit Abſicht kraß gewählt ſind, um ohne weiteres
verſtändlich zu werden, find typiſch. Das Ergebnis des Vergleichs eines
Bismarck mit einem Fried lich wiederholt ſich mehr oder weniger deutlich,
ſooft man will. Wir hatten feit Friedrich und Goethe große Leute auf dem
Schlachtfelde, in der Wiſſenſchaft, auf allen möglichen Gebieten. Wir
verdanken ihnen Eroberungen, die ſich neben die größten Taten früherer
Epochen ſtellen laſſen. Sie haben der Zeit ihr charakteriſtiſches Geſicht
gegeben, einen ungeheuren Reichtum au neuen Formen, neuen Gedanken,
neuen Regungen. Wir haben beaca Menſchen, deſſen Umfang an einen
Friedrich, einen Goethe heranreicht, der den Begriff von Kultur, der ſich
mit ihnen verbindet, in gleichem Maße erfüllt, von dem man ſagen könnte,
er habe ſein Menſchentum ſo erfolgreich nach allen Seiten geübt und das
gleiche Bedürfnis empfunden, es zu üben, habe ſich ſeine Welt ſo harmoniſch
ausgebaut, ſei ſo reich an Möglichkeiten geweſen.
Wenn es ſo mit den Individuen ſteht, kann es mit der Maſſe nicht
anders ſein. Goetht iſt nie ſo viel gedruckt worden, als in unſeren Tagen.
Goethes Empfinden iſt den Menſchen nie fremder geweſen. Woher das
kommt, liegt auf der Hand. Delacroix ſagt in einem ſeiner Aufſätze, die
Athener ſeien deshalb ſo gute Kunſtkenner geweſen, weil in Athen derſelbe
Bürger immer vielerlei zugleich geweſen ſei, Advokat, Krieger, Redner,
Inſpektor der öffentlichen Spiele, Volksedil uſw. und weil die auf viele
Berufe gerichtete Erziehung auch die Empfänglichkeit für das Schöne
entwickelt habe. Mit dieſem Hinweis berührt Delacroix nicht nur den
wunden Punkt der Kunſtkennerſchaft, ſondern die Schwäche der ganzen
Kultur unſerer Zeit. Schon er erkannte das Übel in der Arbeitsteilung des
modernen Berufslebens, auf der der ganze Organismus unſerer Zeit beruht,
und der damit unausbleiblich verbundenen Vereinſeitigung der Kräfte. Und
was er vor fünfzig Jahren ſagte als Sohn eines Volkes, deſſen Kultur
damals in größter Blüte ſtand, das gilt heute für uns in viel drohenderem
Maße. Delacroix war der größte Künſtler ſeines Volkes in jenem erhabenen
univerſellen Sinn, in dem Goethe Deutſchlands größter Dichter war. Auch
er hat keinen Nachfolger gefunden. Niemand hat den Rahmen, den er um
ſich baute, je wieder auszufüllen vermocht. Frankreich erlebt in anderen
Maßen dasſelbe wie wir und alle Völker.
Man kann gegen dieſen Hinweis einwenden, der Univerſalismus ſei heute
nicht mehr möglich, weil das Univerſum zu groß geworden ſei. Was war
Politik zu Zeiten Friedrichs des Großen, was in unſeren Tagen? Friedrich
leitete ſein Land wie heute ein Landrat ſeinen Kreis. Es kam ihm nicht
nur ſein ſcharfes Auge, ſein außerordentliches Organiſationsvermögen
zu Hilfe. Die Sache war leichter zu überblicken, leichter zu organiſieren.
Der Fürſt, der ſich heute ſo eingehend um das Vielerlei kümmern wollte,
würde — wir haben Beiſpiele dafür — zum gefährlichen Dilettanten F
werden. 2
Aber der Einwand iſt hinfällig. Univerſalismus iſt Sinn für das Uni⸗
verſum, nicht die alles unternehmende Betriebſamkeit. Vielſeitigkeit des
Geiſtes bedeutet nicht vielerlei Tätigkeit. Und wenn ein Einwand ähnlicher
Art gültig gemacht werden könnte, würde er doch nur einen Zuſtand erklären,
der erſt einmal feſtgeſtellt werden muß. Es gibt hundert Erklärungen und
Entſchuldigungen. Wer bedarf ihrer heute? Wer empfindet unſere Zeit im
Vergleich zu der Goethes als Rückſchritt? Wer lebt nicht gern in der unſeren?
850
Ich frage aufrichtig. Es gehört zu den Zeichen unferer Epoche, daß alle
Geſunden, mag ihre Einſicht in die Schwächen unſerer Zeit auch noch ſo
tief dringen, trotzdem nie mit einer anderen tauſchen, daß alle, die ſich mit
Gedanken und Empfindung in die Vergangenheit zurückverſetzen möchten,
im Grunde ſchwache Menſchen ſind. Dieſe Luſt, heute, nicht geſtern zu
leben, mag ſchon deshalb beſtehen, weil der Reiz der Erkenntnis alle Bitter—
nis übertrifft, weil der Anblick unſerer unerhörten Entwicklungen, lediglich
als Schauſpiel, ſo großartig erſcheint, daß man vergißt, was er bedeutet
und wie eng man ſelbſt init feinem kleinen Ich dabei beteiligt iſt.
Unter den modernen Staaten Europas zeigt keiner die typiſche Entwick—
lung ſo offen wie Deutſchland. Das neue Deutſchland iſt aus ruhmreichen
Kriegen geworden. Kein Wunder, daß es das Mittel ſchätzt und weiter
bildet, dem es ſeine Exiſtenz verdankt. Das Deutſchland Goethes ſtützte
ſich auf geiſtige Kräfte, und Napoleon zeigte ihm, was ſie gegen Soldaten
wert waren. Die glücklichen Kriege brachten Geld ins Land, und man
trachtete, es zu mehren. Mit derſelben Energie, mit der man früher ge—
ſchwärmt hatte, wurde an der Herſtellung greifbarer Güter gearbeitet. Im
Oſten und Weſten wuchs eine mächtige Induſtrie empor. Rheinland und
Weſtfalen verwandelten ſich in rauchende Bezirke, wo man der Erde Erz
und Kohlen abgewann. In Oberſchleſien ſchoſſen die Kamine wie Pilze
aus der Erde. Wälder und Acker verſchwanden unter Hochöfen, unter
Walzwerken, unter rieſigen Hüttenanlagen jeglicher Art. Da machte man
die Schienen für das Eiſenbahnnetz, das bald das ganze Land bedeckte, die
Träger für die Bauten, die Maſchinen für die tauſend Zweige des Gewerbes.
Aus Bauern wurden Arbeiter, aus Arbeitern neue Herren. Neue Berufe
entſtanden. Der Ingenieur, der Hüttenmann, der Chemiker, der Techniker,
erkämpften ſich neben dem Offizier, dem Juriſten, dem Staatsbeamten ihre
Stellung und wurden in den induſtriellen Gebieten mächtiger als alle
anderen. Dieſe Gebiete aber weiteten ſich, ſie dehnten ihre Einflußſphäre
bis nach Berlin aus, dem Zentrum allen Handels und Wandels, der Haupt—
ſtadt des neuen Reiches. Aus der kleinen Kapitale eines Friedrich Wilhelm,
wo in jedem Hauſe ein Philoſoph, ein Dichter, ein Kannegießer ſteckte,
wurde eine wohl organiſierte Arbeitsmetropole. Geſchäftspaläſte von ameri—
kaniſcher Art mit Menſchen, die auf amerikaniſche Art denken und handeln,
verdrängten die ſtillen Häuſer, die ein Schinkel gebaut, ein Schadow, ein
Krüger geſchmückt hatten. Die Stadt nahm blitzſchnell zu, kam immer
näher an das idylliſche Potsdam heran und wurde ihm immer fremder.
Der Reichtum wuchs rapide. Dieſelbe Generation, die noch im Kittel am
Schraubſtock geſtanden hatte, kam zu Geld und Rang und zog in die
Hauptſtadt. Mancher Kaufmann, der als Kommis mit ein paar Groſchen
begann, gehört heute zu den Größen Berlins. Man kann faſt ſagen, alle
851
Leute von produktivem Reichtum find durch eigene Kraft zu ihrer Macht
gelangt, durch ihre Intelligenz, durch ihren Fleiß.
Das iſt etwas ſehr Schönes, das unſerer Zeit allein gehört. Nie ſtand
die Tüchtigkeit höher im Preiſe. Wenn man von Napoleons Soldaten
ſagen durfte, jeder trage den Marſchallſtab im Torniſter, kann von unſeren
Ingenieuren und Kaufleuten gelten, jeder habe den Wechſel auf die Million
in der Taſche. Der Drang nach münzbaren Leiſtungen greift auf alle, auch
die alten Berufe über und teilt ſich ausnahmslos allen Völkern mit. Er
regelt die politiſchen Beziehungen und treibt zu einer genoſſenſchaftlichen
Vereinigung der Völker. Europa beginnt einem wohlverwalteten Bank⸗
inſtitut zu gleichen. Die Könige ſind die Direktoren. Sie machen Ge⸗
ſchäfte. Das Geſchäft gewinnt die Bedeutung einer zündenden Idee und
ſeine internationale Herrſchaft erſetzt die Macht des Chriſtentums, das alle
Völker Europas umſchlang und andere Erdteile eroberte. Das Geſchäft
ſchematiſiert die Länder, hebt ihre Untere auf. Man denkt in Agypten
nicht anders als in Neupork oder in Japan oder in Berlin. Gern würde
man den Unterſchied der Sprachen abſchaffen, eins der letzten Hinderniſſe
des Verkehrs. Und in der Tat iſt kaum noch einzuſehen, welchen Nutzen er
haben könnte, wenn ſich überall die Empfindungen gleichen. Wie die großen
Individuen immer eindeutiger werden, ſich immer mehr in eine Richtung
ausdehnen, die ihr Beruf iſt, ſo die Völker, ſo die ganze Welt, deren Sein
und Wollen ſchließlich von einem einzigen Beruf, dem Gelderwerb, auf—
geſogen wird.
Das Impoſante liegt in der Größe der Maſſen, die in einer Richtung
bewegt werden. Was ſind die Tauſende von Sklaven, die ein römiſcher
Imperator zum Bau ſeines Palaſtes anſpannte, gegen die Millionen von
Intelligenzen, die ein Truſt in Bewegung ſetzt! — Und da es Vernunft
iſt, was den Truſt zuſammenhält, nennt man es Geiſt. Da es die Kriege
hindert und die Völker verbrüdert, nennt man es friedlich, nennt es Kultur.
Da ſich der Begriff nicht mit dem alten deckt, eine neue Kultur.
Es gibt einen böſen Einwand.
Das iſt alles, ob gut und ſchön, jedenfalls notwendig, wie es geworden
iſt. Aber es behält dieſen Sinn des Notwendigen, vor dem wir uns zu
beugen ſchnell genug gelernt haben, die Eigenſchaft des Annehmbaren, das
Preſtige des Impoſanten immer nur von einem Punkte aus. Man muß
mittun und nicht zu viel darüber nachdenken, muß auch Geſchäfte machen
und Geſchäftsmann ſein, muß drin bleiben in dem vielmaſchigen Gewebe,
darf nie heraus, in keine Natur, in keine Geſchichte, in kein Gelände des
Geiſtes.
Wohl iſt das Netz groß und wunderbar organiſiert. Die Maſchine iſt ſo
intelligent erdacht, daß man kaum noch den Mechanismus erkennt und das,
was uns da als Luft, als Nahrung, als Geiſt vorgeſetzt wird, für Wirklich—
keit anſieht. Man muß drin bleiben und mittun. Wehe dem Leichtſinn,
dem es in den Sinn kommt, eines Tages, während die anderen arbeiten,
das Bureau zu ſchwänzen und einmal das Notwendige und Impoſante von
einem anderen Punkte, von draußen anzuſehen; zum Beiſpiel von einem
Potsdam. Erlebt nicht jeder an ſolchen Tagen in ſo einem Potsdam ſo
etwas wie eine Entdeckung, voll Süßen, voll von Bitternis!
Dann mag wan ſich in dieſem neuentdeckten Potsdam mit allen Erſatz—
mitteln der neuen Kultur panzern, um nicht plötzlich vor der alten wie ein
weinender Bettler zu ſtehen.
Es liegt etwas ganz Unerreichbares in ſo einem Potsdam. Das ſtille
Kleinod hart neben dem Monſtrum iſt merkwürdiger als die Rieſenſtadt.
Ein Berliner Haus, und man hat Berlin. Einer von ſeinen Menſchen,
und man hat die Millionen Ein Wort, und man weiß alles was ſie
wollen. Gewiß iſt es eine Maſſenwirkung. Man kann es nicht anders
nennen. Stell hundert ſchwarze Röcke mit Geſichtern darauf, ganz gleich,
welchen Geſichtern, nebeneinander und laß ſie die Beine ſpreizen, ſo gibſt
du den Menſchen von heute beſeligenden Rhythmus. Wiederhole neben-
einander das Formloſe, du gibſt ihnen Form. Laß tauſend Zungen dasſelbe
Wort, einerlei welches, ſprechen, ſie nehmen es für göttliche Klänge.
Nur verlange nichts von der Art der Dinge, die du in ſo einem Potsdam
findeſt, nicht nach jener Maſſenwirkung, die der über die Materie ſiegreiche
Geiſt aus Geringem, aus Kleinſtem erzwingt, verlange keine Harmonie, die
aus freiem Spiel natürlicher Kräfte entſpringt, nichts Menſchliches von
Rechenexempeln. Bleibe bei deinen Geſchäften!
Iſt es nicht manchmal in ſo einem Potsdam inmitten alles Süßen, das
man mit lüſternem Auge eilig ſtiehlt, als ſpräche plotzlich hinter dem ſchlecht
bewehrten Träumer eine Stimme: Bleib bei deinen Geſchäften!
Wie ſchnell haben wir das gelernt, wir, das Volk der Dichter und
Träumer, wir unpraktiſchen Deutſchen mit den vielen Sentiments, wir
armen Michel fonder Arg, wir Überreichen mit den leeren Taſchen!
Wir bleiben bei unſeren Geſchäften, ſelbſt dann, wenn ſie uns nicht viel
einbringen.
Auch unſer letzter, nun glücklich beigelegter Streit mit Frankreich war
nur ſo ein Geſchäft, bei dem es lediglich auf tüchtiges Handeln ankam.
Gegen ſolche Auffaſſung iſt nichts zu ſagen, und dieſe Tribüne wäre am
wenigſten der Ort dazu. Jeder von uns iſt froh, ſeine Ruhe, ſein Behagen
wieder zu haben. Alles in der Ordnung. Nur die Geläufigkeit dieſer höchſt
vernünftigen Auffaſſung gab zu denken. Dem in ſolchen Geſchäften Un—
erfahrenen konnte zuweilen, zumal während der peniblen Stadien dieſer
Angelegenheit die Frage kommen, ob es denn überhaupt noch in unſerer
853
fortgeſchrittenen Zeit außer der Not Dinge gebe, die das Volk ernſthafter
zu erregen vermöchten. Und noch eins, ob es wirklich die Kulturideale
waren, die man vor dem Krieg zu ſchützen vorgab, nicht etwa nur die an
der Börſe gehandelten Dinge, die übrigens auch allen Schutzes wert ſind.
Denn während man im politiſchen Lager das Schwert energiſch in die
Scheide ſtieß, tobte in einem weniger bedeutungsvollen, nicht weniger ge⸗
räuſchvollen Lager ein beinahe kriegeriſcher Sturm gegen denſelben Feind.
Wegen eines Kunſtgeſchäftes irgendwo in Norddeutſchland, wegen des An⸗
kaufs eines franzöſiſchen Bildes durch einen hanſeatiſchen Muſeumsdirektor
ſtanden in Broſchüren und Zeitungen die gewagteſten Angriffe auf Dinge,
die eigentlich auch zu den Kulturidealen gehören. Und es mochte den in
ſolchen Geſchäften Unerfahrenen gar ſeltſam berühren, ſolche Gegenſätze
nebeneinander, womöglich gar in einer Männerbruſt vereint zu ſehen, ſich
vorzuſtellen, daß vielleicht derſelbe Mann am Tage mit kühler Einſicht für
den Frieden mit Frankreichs Politikern ſtimmte und abends beim Glaſe
Bier mit Begeiſterung gegen Frankreichs unangreifbare Güter zu Felde zog.
Es gibt einen böſen Einwand gegen dieſe Herrſchaft der Geſchäfte, gegen
dieſe Kultur der Materie, die uns alles ermöglicht, was den Alten un—
erreichbar blieb, die der Natur alle Geheimniſſe abringt und unferen finn=
lichen Komfort ins Ungeheure ſteigert, die jedes Rätſel in Zahlen auflöſt
und die Welt mit Drähten regiert. Wo bleibt der unmünzbare Gedanke?
Die Leiſtung, die ſich nicht in Geld und Geldeswert umſetzt? Das Unaus⸗
ſprechliche jenſeits des Endlichen, das wir auf tauſend Wegen gewinnen,
das Ungreifbare, das ſich unſerem Drängen widerſetzt und uns erlaubt, mit
unſeren immer größeren Gewinſten ſchließlich einmal genug zu haben?
Die Kultur der Alten brachte Götter hervor und Tempel, in denen ſie
angebetet wurden, die fo göttlich waren, daß ſelbſt der von allem Dogma
erlöſte Glaube hier Erbauung fand. Sie ſchuf Symbole, mit denen ſich
der Menſch zu dem Myſterium bekannte. Dort einte ſich ihm die Welt,
die ſein Erkenntnisdrang zerſtückelte. Dort wurde ihm die vor niedriger
Sucht bewahrte Empfindung für Unendlichkeit.
Wo bleibt die Kunſt in dem Treiben unſerer Tage? Ich meine nicht,
was immer geweißelt und gemalt werden wird. Deſſen bedürfen wir nicht.
Unſere erfinderiſche Zeit findet mühelos Erſatz für die Geſchicklichkeit der
Alten und befriedigt im Handumdrehen alle nur zu erreichbaren Bedürfniſſe
modiſchen Aſthetentums. Ich meine unter Kunſt die hohe Selbſtenteignung,
die andere zu gleichem treibt, das unerbittliche Wollen des Unerreichbaren,
das ſich mit dem Kunſtwerk die Leiter in den Himmel baut.
Dafür gibt es keinen Erſatz. Die Kunſt erſcheint wie der letzte unſerer
Götter, die letzte Möglichkeit, dem Mechanismus zu entrinnen und ein allen
ſichtbares Heldentum zu offenbaren. Und da es dafür keinen Erſatz gibt,
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wird tatſächlich das Nachlaſſen der Kunſt in unferer Zeit zu einem böfen
Symptom des Niedergangs unſerer Geſittung.
Eine ging ſchon, die Architektur, zerrieben, zerſetzt von dem Zwang
unſerer Zeiten. Wer nicht die Stirn hat, unſere Meßgebäude neben die
Paläſte der Alten zu ſtellen, muß mit dem Gedanken rechnen, daß die
Architektur als Kunſt nahezu aufgehört hat. Das rationaliſtiſche Surrogat,
das an ihre Stelle rückt, auf Grund zwingender Entwicklung an ihre Stelle
rücken muß, das auf Nützlichkeit und Materialkenntnis beruht, iſt Additions—
exempel wie alles übrige. Wo fände man heute jenes in jedem Verhältnis
tief überzeugende Maß, das beſſer als aller Prunk den Adel der Menſchen
bezeugt? Wo jene ſtolze Verſchwendung, die ſich nicht mit dem Mate—
riellen genug tat und den Zweck, den ſie erfüllte, tauſendfach überbot, aus
Kirchen Himmelsgewölbe, aus Häuſern lebende Weſen mit ergreifenden
Gebärden ſchuf?
Was wird aus der Plaſtik? Wo fände ſie heute den das Daſein ver—
bürgenden Zweck? Wie gelänge es ihr, die einſt die Bauten ſchmückte,
ſich mit der Sachlichkeit zu verbinden, die unſer großſtädtiſches Daſein be—
ſtimmt? Sie verſperrt die Straßen, belaſtet die Plätze und könnte, ſelbſt
wenn ein Phidias ſie bildete, nicht die Luft erſetzen, die ſie uns raubt.
Und wir haben keine Phidias und können ſie in der gegenwärtigen Ord—
nung der Dinge nie wieder erhalten. Und unter der gegenwärtigen Ord—
nung verſtehe ich nicht — oder nur zum geringſten — die unnatürliche
Situation, die die Kunſt in das Muſeum drängt. Sie iſt nur eine der
vielen Folgen unſeres Mechanismus. Die Menſchen ſind naiv, die ſich ein—
bilden, unſere Kunſtmiſere komme lediglich von mißlichen lokalen Verhält—
niſſen her. Ein Wertheim fchaffe, wenn er es vermag, den einer Akropolis
würdigen Platz. Das iſt zur Not denkbar. Er wird nie den Meiſter aus
der Erde ſtampfen, der dafür die Koloſſalſtatue der Athene zu bilden ver—
mag. Aus dem einfachen Grunde, weil es in unſerer Vorſtellungs welt
keine Athenen mehr gibt, noch Erſatz für ſie, weil der Künſtler nicht mehr
den Drang empfindet, noch empfinden kann, ſolche Geſtalten zu gebären.
Es fehlt die Möglichkeit geiſtiger Art, die Welt in ſolchen oder anderen
Geſtalten zu ſammeln. Denn dazu gehörte für den Künſtler das unbeſieg—
bare Vertrauen auf ſich und die anderen, das ſichere Gefühl der Zugehörig—
keit — nicht zu ſeiner Kunſt, nicht nur zu dem Einzigen, zu dem Ich —
ſondern zu den vielen, zu allen, zu ihren Regungen, ihren Sorgen, ihren
Freuden, zu ihren höchſten Gedanken; jener heute undenkbare Ausgleich
zwiſchen der nach unbegrenzter Aufbietung ringenden Sehnſucht des
Schaffenden und den Forderungen der anderen, der Beſchenkten, die nicht
Zuſchauer, ſondern Beteiligte find.
Wir wiſſen aber, daß das wenige Große, das in unſeren Zeiten entſtand,
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nicht mit Hilfe, ſondern gegen den Willen aller zuſtande kam. Dieſer
Gegenſatz mag zu Zeiten produktive Kräfte entfachen. Aus der Reibung
blitzen Funken. Täuſchen wir uns nicht über den Wert dieſer bitteren Be⸗
fruchtung. Auf die Dauer kann die ſchöpferiſche Seele der Menſchheit von
ſolcher Speiſe nicht leben. Sie geht an der Reibung zugrunde.
Den mangelnden Ausgleich zwiſchen Künſtler und Menſchheit erſetzt
nichts, keine Wiſſenſchaft, keine Bildung und kein Mäcen, keine ſtaatliche
Fürſorge. Er entzieht ſich äußeren Einflüſſen, ſelbſt dem eigenen Willen,
iſt Sache der Empfindungen, der Inſtinkte. Vielleicht wäre der alte
Degas, der heute, verborgen vor der Welt, ſeine Zeit damit verbringt,
winzige Figuren zu modellieren, die er immer wieder vernichtet, der Mann,
ein unfterbliches Werk der Plaſtik zu ſchaffen. Wer weiß? Was dazu fehlt,
iſt vielleicht nur ein bißchen Liebe zu den Menſchen, die Überwindung des
ſchwärenden Mißtrauens, das feiner Beweggründe nur zu ſicher iſt, der
große Anlauf, um ſich an die Bruſt der Menſchheit zu werfen. Mir ſcheint
das Schickſal dieſes halbblinden Haſſers, der ſich für ſeine Einſamkeit allein
mit winzigen Gebilden Momente krankhafter Erbauung ſchafft, von denen
nichts zurückbleibt, typiſch für unſere Zeit. Die Kleinen, die zu Tauſenden
ſind, betrügen ſich und andere mit leerem Handwerk. Die Großen — viel⸗
leicht gibt es welche irgendwo im Nebel — fühlen ihr Künſtlertum mit
Scham und ſuchen es womöglich vor ſich ſelbſt zu verbergen. Am Ende
des dornenreichen Weges ſteht die a zerſtörung.
Kunſt iſt nicht etwas, das vom Talent herkomme, wie Selbſtüberhebung
glauben machen möchte, iſt kein Produkt der Erde, das der liebe Gott auch
ohne unſer Zutun erhält, das e vergehen kann. Sie gleicht am wenig⸗
ſten den Ahren auf dem Felde Sie iſt ein ſelbſtgeſchaffenes Organ der
ande, das ebenſo verſchwinden kann. Was der Einzelne dazu zu tun
vermag, der große Künſtler, das Genie, gleicht der Arbeit des Bergmanns,
der mit ſeiner Hände Arbeit die Ader Bea Erzes entblößt. Die Ader muß
da ſein. Dann finden ſich die Hände
Kunſt iſt das Selbſtbewußkſein der Menſchen, iſt ihre Sammlung. Kunſt
iſt dichten. Die Unfähigkeit, unſere zerſtückelte Welt zu dichten, macht den
Künſtler, ihn, der die Menſchheit führen follte, zum winzigen Teil des
Stückwerks. Auch er wird Berufsmeaſch, Spezialiſt, Muſiker, Bildhauer x
wie irgend etwas anderes, nur weil er zufällig etwas Beſonderes im Gehör,
etwas, das ihm wie ein Beſonderes erſcheint, in den Händen hat.
Wer aber in dieſem Ben uf nicht von der Welt ausgeht, ſondern vom
Beruf, von der Kunſt, wen nicht die Aumacht der Schöpfung, der Rhyth⸗
mus gewordene Gedanke, ſondern ein anderes treibt, Farben, Formen, Töne,
ſei es was es ſei, der mag alle Yorsiges, Tönendes, Geformtes hervor⸗
bringen, nicht das, was in uinſere \.arzenden Zeit den Niedergang aufzu⸗
halten vermag, was wir Erben tauſendjähriger Kulturen mit Recht Kunſt
nennen dürfen.
Was nützt uns das Erbe? Unſere Kunſtkenntnis hat ſich außerordentlich
entwickelt, mit ihr die Möglichkeit, Surrogate zu ſchaffen. Wir haben glän—
zende Muſeen. Wir kennen die Formen auſtraliſcher Urvölker und der
Negerkünſte in Zentralafrika und haben den ſogenannten äſthetiſchen Sinn
dafür. Wir leſen die barbariſchen Zeichen der Götzenbilder und letzen uns
an jedem apokryphen Gebilde, das unſerem überſättigten Auge neu erfcheint.
Wir verſtehen uns allen Erſcheinungen anzupaſſen, mit biegſamer Empfin⸗
dung in alles, auch das Fremdeſte, einzufühlen, weil wir nur oberflächlich,
nur mit der Haut empfinden, weil ſchließlich alles, was unſer Auge erregt,
uns in Schwingung verſetzt.
Und wir verſtehen zu fombiateren. Das hatte keine Zeit uns je voraus.
Wir geben einer Venus die ſtarre Gebärde einer indiſchen Gottheit, um⸗
ranken einen nordiſchen Heldennythus mit Blumen des Orients. Wir
übertragen ehrwürdige Klaſſiker in Berliner Mundart und verwandeln ein
modernes Stadtbild in Hieroglyphen. Wir verſtehen alles, lieben alles,
können alles. Die Technik hat für uns keine Geheimniſſe mehr. Wir wiſſen,
wie es gemacht wird. Und dürfen alles. Nichts iſt uns verſagt. Andere
haben im Kampf mit dem Vorurteil der Väter unſere Freiheit ſauer er⸗
kauft. Daran halten wir feſt, als ob wir fie uns felbft erkampft hatten, und
wachen darüber, wie Kinder über ihr Spielzeug. Wehe dem Frevler, der
die geheiligten Rechte unſerer Perſönlichkeit angreift! Alles darf angetaſtet
werden, nur wir ſelber nicht. Wehe dem Warner! Ihn treibt doch nur die
Ohnmacht des Zurückbleibenden, mangelhaftes Verſtändnis, derſelbe Unver⸗
ſtand, der damals der Früheren Fortſchrite zu hindern ſuchte.
Wie leicht iſt heute der Fortſchritt zu verſtehen! Wie ſchnell durchſchaut
man den Rhychmus unſerer Stiliſten und die Einfalt unſerer Myſtiker.
Wie widerſtandslos ergeben ſich die Hemmmiſſe unſerer Perſönlichkeit! Man
dringt leichter durch die Geſpinſte unſerer Denker, als man von einer Straße
in die andere geht.
Unerreichbar aber, reich wie begnadete Natur, dichten Wäldern vergleich—
bar, durch die der Wind brauſt, rauſchen noch immer die Harmonien der
Rembrandt, Rubens, Delacroik Marees. Hatten fie weniger zu um—
ſpannen? Das Univerſum iſt ungeheuer in ihren Bildern.
Was gelangt denn ſchließlich von unſerer Welt, von ihrem Reichtum an
neuen Formen, neuen Regungen in die Kunſt des Tages? Allenfalls die
Verworrenheit unſeres Daſeins. Wie ſimpel iſt heute das Geſchäft, Bilder
zu machen!
Man fährt nach Paris, un mes zu lernen. Und ſicher, viel iſt in der
ſchönſten aller Städte zu finden. Nirgends iſt die Fiktion einer den ein—
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zelnen und die Menge umſchließenden fördernden Geſittung ſtärker. Noch
ahnt man dort den Unterſchied zwiſchen einem Mechanismus, der die Not⸗
durft vieler addiert und regelt, und einer Weltſtadt von univerſellem Ge⸗
präge. Noch erdrückt den Menſchen nicht der ſtarre Gegenſatz zwiſchen
Stadt und Natur. Ein ſchöpferiſcher froher Sinn ließ die Häuſer und
Straßen entſtehen und die freien Plätze, in die das Licht weit hineinſchaut.
Der Geiſt ſchwebt immer noch darüber. Vor wenigen Jahrzehnten lebten
hier die Menſchen, von denen wir heute zu leben glauben. Wir fühlen noch
ihre Exiſtenz auch außerhalb ihrer Werke, ſowie wir in Potsdam Friedrich
den Großen fühlen; begreifen, daß ſie hier entſtehen konnten, ſehen in ihnen
keine Iſolierte, die der Zufall herbrachte, ſondern den organiſchen Ausdruck
ihrer Raſſe. Noch fließt in Paris die Kultur der Menſchen und der Dinge
zu einem Begriff zuſammen, und — das iſt die Überlegenheit der Stadt
über Rom — noch lebt dieſe Kultur. Wenigſtens kann man ſich einbilden,
es wäre ſo.
Doch iſt man immer zweifelhaft, ob man einem Künſtler raten ſoll, hin⸗
zugehen oder ihn davor warnen. Denn auch dieſes Rom wankt unter
bohrenden, zerſetzenden, wohltätigen und verderblichen Kräften. Eine kahle
Neuheit bringt ihr fremdes Geſicht in gewohnte Umgebung. Und in dem
ſtrahlenden Bau, zu dem die ganze nordiſche Kultur beitrug, macht ſich der
Einfluß des Neuen ſchärfer bemerkbar als in einem Berlin oder Neuyork,
wo nichts Altes entſcheidet. Es wird der Stadt nicht leicht, ſich zu ſchälen.
Sie kämpft mit dem königlichen Geiſte ihrer Mauern und verrät die Kriſis,
die das ganze Land durchwühlt. Die große Aufgabe des heutigen Frank⸗
reichs, die Umwandlung der älteſten Tradition unſerer Zone mit ihren glor⸗
reichen, heute lebensunfähigen Inſtitutionen in ein modernes, durchaus
rationaliſtiſches Regime, die konſequente Befreiung der Nation von allem,
was ſie unter ihren Monarchen feſſelte, was ſie groß machte; der Erſatz per—
ſönlicher Fürſorge, perſönlicher Willkür durch unperſönliche Formen; dieſe
mit nichts vergleichbare Probe auf den inneren Wert einer Kultur geht nicht
ohne ſchwere Einbuße vor ſich. Sie ſtellt an die Lebensfähigkeit des Volkes
den höchſten Anſpruch, abſorbiert die ſtärkſten Energien, die edelſten Kräfte,
hemmt jenen goldenen Spieltrieb, der franzöſiſch iſt. — Der Idealismus 1 0
der Entwicklung ſteht außer Frage. Er ſchreckt nicht vor dem Nußerſten, N
der Gefährdung des Staats, zurück, um fein fteiles Ziel zu erklimmen.
Wird es gelingen? Wer wäre ſo kleinmütig, der kühnen Nation die ſtolze
Hoffnung zu ſchmälern! Und löſt Frankreich nicht das Exempel, ſo fällt es
mit der tragiſchen Glorie des Helden.
Aber dieſe Idee iſt zu groß, zu abſtrakt, um uns immer gegenwärtig zu
fein. Man überſieht immer nur Teile des mit Opfern beſäten Weges und
fühlt nur die Verluſte, kommt zumal nicht über die mittelbaren Opfer hin—
a *
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weg, deren Sinn uns entgeht, eben weil wir nicht immer gleich alle Zu—
ſammenhänge faſſen. Daher ſind wir geneigt, in der gegenwärtigen Phaſe
der franzöſiſchen Kunſt nicht die im Grunde bisher nur kurze Pauſe zu er—
blicken, eine Raſt des Genius, die nach der rieſigen Leiſtung im neunzehnten
Jahrhundert wohl verdient erſcheint, ſondern ſyſtematiſchen Rückgang, den
endgültigen Bruch mit der Tradition des franzöſiſchen Geiſtes, und glauben
auch hier einen Niederſchlag jenes internationalen Materialismus zu erkennen,
der die Welt aller Blüten beraubt.
Wird ſich die einſeitige Herrſchaft materieller Doktrinen, mis der ſich
heute die Pariſer Jugend begnügt, wieder vor dem Geiſt eines Delacroir
beugen? Wird der Genius der Verwirrung Herr werden, die heute von
Paris aus mit der gleichen Macht die anderen Länder ergreift, mit der einſt
franzöſiſche Geſittung die anderen Völker eroberte? Wird er die Anarchie
überwinden? Man ſehnt ſich nach ſtärkeren Antworten als fie der eigene
Optimismus erfindet. Für die franzöſiſche Kunſt erſcheint die gegenwärtige
revolutionäre Bewegung Frankreichs bedenklicher als die Revolution von
1789. Gerade das unkriegeriſche gebärdenloſe Auftreten der Bewegung
wird ihr gefährlich.
Zuweilen möchte man glauben, gerade weil Frankreich jetzt dieſe kritiſche
Phaſe durchmacht, hätte Deutſchland hier eine Aufgabe, könnte den fried—
lichen Eroberer ſpielen, mit ſeiner jüngeren Kraft, ſeinen friſcheren Säften
den ungeheuren in Paris unnütz aufgeſpeicherten künſtleriſchen Fundus nützen
und eine Erbſchaft antreten, könne ſich aller politiſchen Umtriebe zum Trotz
mit der ſchöneren, reicheren, älteren Raſſe vereinen und aus ſolchem Verein
eine neue geſundere, notwendigere Kunſt gebären. van Gogh, deſſen in—
brünſtige Frömmigkeit franzöſiſche Formen mit eigenem Geiſte füllte, der
hier den Mut zu einem in Frankreich einzigen Bekenntnis fand, van Gogh,
der mit ſicherem Griff, ohne je zum Diebe zu werden, aus den Elementen
einer ſich zerſetzenden Kunſt die Bauſteine einer gewaltigen Syntheſe ge—
wann und mitten in Frankreich einen Block germaniſchen Weſens errichtete,
van Gogh iſt kein geringes Beiſpiel, und die Einſicht in dieſe Bedeutung
des Beiſpiels mag immerhin etwas zu der Beliebtheit des Meiſters bei der
deutſchen Jugend beitragen. Wir wollen es als ein gutes Zeichen anſehen
und in dem van Gogh-⸗Kultus nicht lediglich eine Verbilligung, eine Regung
erkennen, die zu einem einfachen Vorbild greift, weil ihr die anderen zu viel
Mühe bereiten.
Doch vermögen auch die größten Veiſpiele nichts, wenn ihr Heroismus
nicht von heroiſchen Menſchen gefühlt wird. Nlus lediglich artiſtiſchem Ein—
fluß ift nie etwas Großes entſtanden. Deutſche, die eine Anſchauung mit
nach Paris bringen, die nicht die Luſt nach verwendbaren Dingen, ſondern
der Drang, ſich mit Paris auseinanderzuſetzen, herfühct, die nichts anderes,
—
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ſondern ſich ſelbſt hier finden, und kämpfend "able reinigen wollen, könnten
Erben werden.
Kommen ſolche Menſchen nach Paris? Werden ſie kommen?
Und ſtellt man ſo die Frage, ſo entfernt man ſich wieder aus dem engeren
Gebiet der Kunſt und wird auf die Geſamtheit der nationalen Regungen
gewieſen, aus der allein die Kunſt hervorwächſt, und erkennt, wie wenig die
Beziehung zwiſchen franzöſiſcher und deutſcher Kunſt mit dem eigentlichen
Problem unſerer Kultur zu tun hat, wie eng die drohende Kunſtdämme⸗
rung mit der Dämmerung des ganzen Volkes zuſammenhängt. Alsdann
mag man ſich fragen: wenn ſchon in Paris gezweifelt werden darf, ob die
Revolution ſtark genug iſt, das Volk zu großen Regungen, die der Sym⸗
bole bedürfen, hinzureißen, wie ſteht es bei uns, wo der verſengende und be⸗
lebende Hauch der Revolutionen weniger geſpürt wird und die verſöhnende
Idee noch abſtrakter, noch ferner erſcheint? Kann wirklich im Schatten der
Anſchauungen, die heute unſer Leben regieren, je eine Zeit kommen, die
uns erlaubt, ohne zu erröten, vor den Manen eines Friedrich, eines Goethe
zu ſtehen?
Es gibt bei uns milde Leute, die behaglich darauf hoffen, und ſtarke
Männer, die ſchon der leiſe Zweifel an ſolcher Ausſicht in den Harniſch
bringt. Die Milden geben allerlei zu, für den Augenblick, wohlverſtanden,
für das gewiſſe Übergangsftadium. Sie meinen: Loßt uns nur erſt einmal
zu Atem kommen. Stört uns nicht bei der Arbeit! Seht ihr nicht, wie
uns heiß wird, wie wir uns abradern? Iſt ſoſche Arbeit etwa ſchändend?
— Seht doch, wie es die anderen machen! Soll uns England, Amerika
oder Japan etwa über werden?
Wir aber wiſſen, was wir tun. Laßt uns nur erſt einmal Soldaten und
Schiffe genug haben und Geld, vor allem Geld. Dann kaufen wir uns 1
Bilder, Statuen, Ideale und eine funkelnagelneue Kultur.
——
W Rd
von Max Dauthendey
Bald werden wir wieder zu den Birken gehen,
Die mit ihren weißen Stämmen biegſam wie junge Menſchen daſtehen.
Bald, wenn die Winde die Wieſen kämmen und am Rain und auf Dämmen
die Grasfahnen wehen,
Dann iſt unſer Herzſchlag nicht mehr zu hemmen und will hurtig wie die
Bachſtrudel fi ſich drehen.
Bald wollen wir unterm Nußbaum wieder liegen, wo die Heupferdchen uns
über die Schultern fliegen,
Wo wir immer Rundſchau hielten, wenn die Sommerwolken am Erdſaum
wie weiße Schiffe in den blauen Raum aufſtiegen.
Wir gaben ihnen als Laſt alles, was wir je gedacht an Gedanken,
Bis dann Schiff und Fracht endlich zergingen in Schaum und verſanken.
Bei dem Dornbuſch der Heckenroſen, wo uns oft Blutstropfen über die
Hände gefloſſen,
Stehen wir bald ſtill und möchten wieder mit den roſa Röslein koſen,
Wenn ſie auch mit kleinen Dolchen alle um ſich ſtoßen.
Denn jede Roſe nur allein, wie die Mägdlein, ihren Willen will;
Leicht hält keine Stolze, fällt's ihr ein, fremden Händen ſtill.
Bald gehen wir zum Steinbruch dann, wo ſich nichts mehr regt, und ent—
decken uralt wie in einem Buch dort Bilder.
Ammonsſchnecken, Schachtelhalme finden wir auf Steine eingeprägt. Denn
die Steine ſind nicht wilder
Als die Menſchen. Und ein Stein, der ſich niemals noch vom Flecke fort—
bewegt, hat doch der Jahrtauſend' lange Srecke
Still zurückgelegt. Erde hält, was fie geliebt, umſchlungen taufend Mens
ſchenalter als Verſteinerungen.
Wenn am Steinbruch uns das Alter quält,
Gehen wir dem weißen Falter nach, der mit ſeiner leichten Sippe überm
Kleefeld ſich bei Flaͤtterfeſten wohl gefällt,
Fliegen mit ihm von den ſteinigen Wüſten zu den Honigküſten, die ihm jede
lila Kleeblüt' ſüß entgegenhält.
Wunderbar iſt's auf der Welt beftelli. Wandelbar iſt fie die Bühne für
des Lebens Launenſchar:
Bald durchs Grüne klingt die Luft im Roggen, bald muß fie in einer feeren
Muſchel raunen, bald fpielt fie nit Kleeduft, bald mit Menſchenlocken.
Nirgends iſt ein Atemſtocken, nirgends eine Endlichkeit je war, nirgends
bleibt das Leben müde hocken.
Bald, ach bald, find du und ich, die wir Kind und Weib und Mann geweſen,
Bloß zwei Gräber nur, darauf Menſchen von dem Grabſtein Namen,
Jahreszahl und Amen leſen.
Wo bleibt da des Lebens Spur? Alle ſchwinden, Berg und Wald,
Aber immer neue Wege hin zum Leben finden alle bald. —
Bald ſtrählſt du die Ahren mit der Hand, wenn die Körner ſich dann täg⸗
lich mehren,
Und die Felder, die ſich tief verneigen, Kornblumen am Rand dir wie tauſend
blaue Augen zeigen.
Gibt es denn ein ſchöneres Lauſchen, als wenn wir, Wang' an Wange,
hören, wie ſich rund die Ahrenfelder bauſchen,
Und der Sperling' Horde in dem Apfelbaum ſich zankt zu der Stunde,
wenn der Tag abdankt,
Und die Abendſonne unterm Wachtelſchlag hinterm Wald fortwankt.
Bald mag unſer Schritt nicht weitergehen, weil wir Nachtrauch vor uns
ſteigen ſehen,
Und wir ſpüren ſüßeren Hauch, als je Blum' und Blüten geben.
Unſer Blut, das ſich aufgemacht, will uns bald ſtatt der Sonne ſeinen Weg
jetzt führen, und die Nacht will uns verweben,
Nacht will dich und mich fortheben, unſer Leib muß unterm Herzſchlag beben.
Denn bald iſt da nur noch eine Macht, die Veracht fühlt gegen Tod und Leben,
Die, geboren, keine Mächte mehr um Rechte fragt,
Die in Allmacht ragt, die für dich das Gute und das Schlechte wagt,
Die dir nichts verſagt. Die fo viel genannt und viel verkannt, bald ver-
göttert, bald verflucht,
Sie, die Licht⸗ und Nachtgeſtalt, die die Menſchen ſtets begeiſtert und ſtets
heimgeſucht,
Sie, die Luſtgewalt, die aus Nichts das All hinmalt:
Liebe, die dies Lied hinſingt. Süß iſt ſie, wenn ſie mit uns ringt, und —
Dem, den ſie beſiegt, den Sieg auch bringt.
Liebſte, bald unterm Giebel, der viel Sterne nächtlich trägt,
Haſt, Geliebte, du, deine Brüſte dicht an meine Bruſt gelegt,
Und die Grille geigt durch die Ruh', als ob ſie Unendliches noch wüßte;
Und der Mond ſteigt auf mit Luft über Acker hin und Hald, er der ſtill
Begrüßte, —
Dann wird mir zu Sinn, als ob nichts mehr ſich verſchweigt, und ich
niemols ſterben müßte.
ch a u
Ein chineſiſcher Spiegel
von Chriſtoph Behm
Chineſen vermittelt, Ku Hung-Ming, der, was er als Politiker und
Beamter an feinem Teile praktiſch verſucht hat, und bis zur Hoffnungs—
loſigkeit vergebens verſucht hat, noch einmal literariſch unternimmt: fein Land
gegen die europäiſche Idee zu verteidigen.“ Der weſtliche Hochmut iſt geneigt,
chineſiſche Bilder auf Seide, Bronzen, und Verſe von Li Tai-Peh mit Mu—
ſeumshabgier einzuſacken, die Menſchen aber, von denen das alles kommt, in
ihrer nach Betragen, Kleidung, Farbe und Geruch unvermittelbaren Fremdheit
nur als Objekt der Betrachtung gelten zu laſſen; es wird ihm von Nutzen ſein,
einmal das umgekehrte Verhältnis zu leiden. Wer die neueſte Berliner Auf—
führung der Turandot ſah, wo Tartaglia feinem kaiſerlichen Herrn kein Buch
oder Schriftſtück überreichte, ohne daß er es ſich vorher über den Hintern ſchlug,
hätte Urſache gehabt, ſich beſchämt zu fühlen, wenn zufällig ein gelaſſener, hoch—
gewachſener, lautlos ſchreitender, blauſtrahlender Mandſchu das Parkett be—
treten hätte; der Spott über das Zeremoniell wäre ihm nicht nur vulgär,
ſondern auch dumm erſchienen, ſobald er die nicht pedantiſche, nicht affektierte
Symbolik der orientaliſchen Haltung daneben geſehen hätte. Ku Hung—
Ming erzählt, voll höflicher Verachtung, eine entſprechende Anekdote: er
zeigte einem Engländer, der ihm „die Ehre gab in ſeinem Hauſe zu ſpeiſen“,
eine Handſchriftprobe eines der größten Kalligraphen von China — der
Leſer erinnere ſich, daß für den Chineſen die Kunſt des Schreibens mit jeder
andern Kunſt rangiert; worauf ihm der offenherzige Engländer die Über—
zeugung nicht verhehlte, daß ſein Hafenagent eine weit beſſere, mindeſtens
eine regelmäßigere Hand ſchreibe. Ku revanchiert ſich in feinem Buche;
er nennt dergleichen „Engländer ohne Gedanken“ Raubtiere; die Europät—
ſierung Chinas bedeutet ihm das Gleiche, wie das „Einſtrömen von Gemein—
heit und Häßlichkeit“; unſere Zivilifation ſcheint ihm durchaus materialiſtiſch
und als ſolche ein „ſchreckliches Ungetüm“; und als Bewunderer des großen
und moraliſchen Stils, malt er neben die ſchreibenden, ſchreienden, zappelnden
Hs Alfons Paquet hat uns die Bekanntſchaft mit dem Buche eines
*Im Verlage von Eugen Diederichs in Jena, 1911.
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und mit der Polizei balgenden Suffragetten von London das Bild der
chineſiſchen und Mandſchufrauen: „ſie proteſtieren nur ſtumm mit ihren
blaſſen Geſichtern, leeren Augen und hohlen Wangen, und wenn ein Fremder
vorübergeht, oder den Verſuch macht, mit ihnen zu ſprechen, ſo wenden ſich
dieſe blaſſen Geſichter, zu müde, um ſtolz zu fein, und zu traurig, um ſchön
zu ſein, in ſtummer Würde ab.“
Ein Chauviniſt, wird man ſagen; ein akademiſcher Chineſe, deſſen drittes
Wort Vornehmheit iſt, weil Vornehmheit eine große Vergangenheit und
ſein Volk das lebendige Alter der kultivierten Erde repräſentiert; ein Ideo⸗
loge, der mit ſchwachen Händen und ſubtilen Bedanken ins Rad der Zeit
greifen wollte und ſeine Hände zerſchlagen, ſeine Gedanken verwirrt beiſeite
trägt. Aber dieſes Bild — auch abgeſehen davon, daß es für uns zuweilen
heilſamer fein kann, den Chauvinismus zu erleiden, als ihn auszuüben — iſt
falſch; Ku iſt ein Eſſayiſt nach beſtem europäiſchem Maß, Überſetzer der
Geſpräche des Konfuzius in ein, wie der Sinotoge Richard Wilhelm bezeugt,“
glänzendes Engliſch, Korreſpondent Leo Tolſtojs, und durchaus mit dem
abendländiſchen Schrifttum vertraut; er zitiert die Bibel und Shakeſpeare,
00 0 und Schiller, Carlyle, Ruskin und Matthew Arnold. Obwohl er
aus dem Gewiſſen einer großen hiſtoriſchen Not ſchreibt, darf er ein Bruder
in dem Geiſte heißen, der über den Völkern und Raſſen iſt: das Beſte,
was er zu ſagen hat, gehört zum Beſten, was wir zu hören haben.
Ku erwartete die Beruhigung Chinas noch von der Reformierung
der Mandſchuariſtokratie, und jetzt iſt dieſe in ihrer oberſten Spitze,
der Dynaſtie, aus dem politiſchen Leben der Nation ausgemerzt. Von
niemandem ſpricht er mit fo großer, bitter feindſeliger Verachtung, als von
einem Parvenü, Plebejer und Plusmacher, wie von Müan Schih-Kai, —
und der iſt heute Präſident der Republik. Alſo iſt Kus Buch durch die
Ereigniſſe überholt; aber kann Wahrheit durch Ereigniſſe widerlegt werden?
Kus Buch iſt voller Wiederholungen und Widerſprüche; nicht weil es
ſeinem Denken an Konzentration fehlte, ſondern weil er minutiös denkt, wie
der chineſiſche Maler die Haare eines Tigers, die Federn einer Wachtel und
die Halme und Knötchen der Halme in einem Beſtand von Schilf ſieht;
minutiös bis zu dem Grade, daß er ſeines Weges im Denken ſo gut und
faſt noch beſſer inne wird, als ſeines Zieles. Hier iſt auf einer kultivierten
Stufe etwas, was man ſonſt bei Naturvölkern findet: mehr Pfychologie des
Denkvorgangs, als Logik der Gedanken Und bei Ku ſind die Wiederholungen
und Widerſprüche obenein die naiven und ehrlichen Zeichen ſowohl der Wahr⸗
heit ſeines Denkens, als auch feiner Reſultatloſigkeit. Es gibt wahre Ge-
TEE zweiten Bande einer Reihe von Originalurkunden aus der Religion und
Philoſophie Chinas, die Wilhelm bei Diederichs herausgibt; — ein Unternehmen,
das die lebhafteſte Aufmerkſamkeit verdient.
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danken An Natur, deren jede Anwendung auf das Beſondere falfch
iſt. Kus Gedanke iſt moraliſch, und darum greift er verzweiflungsvoll ins
Leere, wenn er in die Politik, ltd wohl auch, wenn er in die Geſchichte
greift. Uns aber ſoll er grade darum wert ſein, weil er mit ſeinen zeitlichen
Irrtümern das Übergeitliche erkauft, wodurch er zu uns unmittelbar und
verſtändlich ſpricht; wir haben zu feinen Umriſſen politifcher Typen die
Beiſpiele bis zur Überrafchung genau zur Hand, wenn wir nur wollen.
h Seine Gefhichtskonftiftion für die chineſiſche Tragödie der letzten Zeit
it folgende. Er rechnet erſt von der Eroberung des Landes durch die Mand⸗
ſchus an. Diefe find eine Kriegerkaſte von vornehmem und heroiſchem Cha-
rakter und brachten dem chinefiſchen Volke das Eiſen ins Blut, deſſen es
zu einer nationalen Kultur bedurfte. Kus Ariſtokratismus iſt von einer
reehten demokratiſchen Art; die Ariſtokratie iſt für ihn nicht der große Zweck,
ſondern die große Urſache des kulturellen Lebens; kein Vorrecht, ſondern
eine Funktion und eine Pflicht. Lim es mit einem vielleicht allzu gewöhn—
llichen Gleichnis zu ſagen: der Käſe kommt nur durch Kälbermagen zu—
ſtande, aber er wird nicht aus Kälbermagen gemacht. (Es gibt jetzt freilich
auch künſtlichen Lab.) Solange die Energie und Vornehmheit der herrſchen⸗
den Kaſte ungeſchwächt war, hielt ſie auch die Energie und Umſicht der
Gebilderen, und die Energie und Treue des arbeitenden Volkes lebendig.
Dann aber trat es, infolge einer langen Friedensperiode, ein, daß der Cha⸗
rakter der herrſchenden Klaſſe ſich ſchwächte. Da jede Kriegerkaſte, nach Ku,
außerſtande iſt, ſich 1 Ideen zu regenerieren, fo verloren die herr—
ſchenden Mandſchus ihre Fähigkeit, das Leben der Nation in der notwendigen
Spannung zu erhalten. Dieſes wirkte zuerſt auf die geiſtige Kraft der Ge—
1 bildeten verderblich ein, welchen unſer chineſiſcher Autor die beiden Auf—
gaben ſtellt, das Volk zu erziehen und die Verteilung der Güter zu organi—
ſieren; die Intelligenz des Landes ging in die Breite, ſtatt in die Tiefe,
und wurde grob und gemein. Dadurch wiederum kam es dahin, daß auch
die Kraft des Landes, die an ſich von der ganzen verderblichen Entwicklung
nicht geſchwächt wurde, und wie es ſcheint, niemals und nirgend geſchwächt
werden kann, die Kraft des Fleißes und der harten Arbeit der arbeitenden
Klaſſen, ſchließlich doch von dem Verderben angefreſſen wurde, dadurch,
daß ihr vernünftige Zucht und Ordnung und, vornehmlich, die adelnde
Reinheit des Zweckes verloren ging. Dieſes letztere faßt Ku fo zuſammen,
daß er die wirtſchaftliche Erkrankung, beiläufig nicht nur Chinas, ſondern
der ganzen Erde, nicht einer geſchwächten Produktion, welche vielmehr zu
geil und üppig blühe, ſchuld gibt, ſondern einer unvornehmen und ver—
ſchwenderiſchen Konſumtion.
Hier haben wir den erſten wichtigen Punkt. an dem uns der Chineſe auf
uns ſelbſt führt, mag nun fein Seſchichtsabeiß falſch oder richtig fein. Wenn
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wir mit einem Worte fagen wollen, warum das neunzehnte Jahrhundert,
für das man ja viele Namen gefunden hat, am beſten das häßliche
Jahrhundert heißen wird, ſo iſt es dieſes, daß der Schwerpunkt des Güter⸗
austauſches von der Konſumtion zu weit in die Produktion verrückt iſt.
Nicht das Bedürfnis veranlaßt die Gütererzeugung, ſondern die Güter⸗
erzeugung veranlaßt das Bedürfnis. Ich weiß ſehr wohl, daß das bis zu
einem gewiſſen Grade nicht nur empiriſch immer der Fall war, ſondern
auf der produktiven Natur des Menſchen begründet iſt; aber eben auf den
gewiſſen Grad kommt es an, und heute iſt er überſchritten. In dieſer Prä-
ponderanz des Handels und der Induſtrie ſteckt ein fo überhebliches arifto-
kratiſches Prinzip wie nur irgendeines, und hat, wie nur irgendeines, eine
demokratiſche Hemmung nötig. Es kann einem Händler einfallen, Kattun
mit Automobilen zu bedrucken und nach Afrika zu exportieren, mit dem
Erfolg, daß jede ſchwarze Schöne ſich in ſolchen Kattun wickelt; aber kein
Mädchen von der Küſte bis zum Viktoriaſee hätte auf den Gedanken kommen
können, ſich einen Kattun zu wünſchen, der mit Automobilen bedruckt wäre.
Kein Menſch der Erde hätte ſich jemals eine Metropoltheater-Revue ge⸗
wünſcht; aber man gibt ſie ihm, dann nimmt er ſie, und braucht ſie. Mit
jedem Gelüſt, das man dem Konſum einredet, ſchwächt man feinen Willen.
Ein Volkswort ſagt: was der Menſch braucht, muß er haben; aber die
moderne Wirtſchaft denkt: geben wir ihm lieber, was er nicht braucht. Für
den chineſiſchen Moraliſten iſt, wie für Ruskin, die Okonomie eine ethiſche
Wiſſenſchaft. Wir haben allen Grund, daß ſie es auch für uns ſei, und
wir ſie aus dem Kreiſe der Zahlen in den Kreis des Willens zögen.
Die ſogenannte Realpolitik, die der Bürger, nachdem er ſich lange
gegen ſie gewehrt, jetzt auf ſeine Weiſe, wiſſenſchaftlich maskiert, ange⸗
nommen hat, wird uns höhniſch belehren, daß die Wirtſchaft ſich nach Ge⸗
ſetzen vollziehe, und daß über ſentimentale Regungen dagegen die Geſchichte
ſtolz hinwegfegt. Als ob ſie nicht auch über Völker und Ziviliſationen hin⸗
wegfegte! Ku Hung-Ming iſt ein Chineſe, und das will ungefähr fo viel
ſagen, wie ein Liberaler. Er ſelbſt legt Gewicht darauf, feſtzuſtellen, daß 1
der große Liberalismus, der als ein neues, moraliſches Leben der Freiheit die
alten, auf der Furcht beruhenden Bindungen der europäiſchen Geſellſchaft 1 N
abgelöſt hat, von China ſtamme, als das letzte große Geſchenk des Morgen-
lands an das Abendland. Die Jeſuiten hätten die Kenntnis dern
chineſiſchen moraliſchen Schriftſteller und der chineſiſchen bürgerlichen
Staatsordnung nach Europa gebracht und den Philoſophen des achtzehnten
Jahrhunderts übermittelt. Voſtalre, Diderot und Montesquieu wieſen die
Spuren davon auf. Aber der Liberalismus habe ſich vulgariſiert, in Europa
ſo gut wie in China; und indem Ku zu dem großen Liberalismus ſich nicht
anders als mit Hingebung bekennen kann, gegen den vulgären aber in haß⸗
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r
voller Feindſchaft ſteht, gerät er zwiſchen die Parteien, wie der Samen
eines Baumes zwiſchen zwei ſteinerne Grabplatten, der vielleicht erſtickt
wird, vielleicht aber keimt und die ſcheinbar feſt gefügten Steine aus—
einanderhebt. Dieſe ſeine Situation hat ihresgleichen bei uns, ſie iſt es,
die manchen Mann aus taktiſchen, nicht aus dogmatiſchen Gründen zum
Sozialiſten macht; von der Art, wie er ſie nützt, können wir lernen. Als
eine moraliſche Perſönlichkeit, die er iſt, läßt er ſich weder von der Wiſſen—
ſchaft, noch von der falſchen Schönheit verführen. Unſer Liberalismus
glaubt nicht mehr, daß er Gewalt nötig habe, um die Herrſchaft zu ge—
winnen; unſer Konſervativismus traut ſich nicht Gewalt anzuwenden, um
fie zu ſichern. Der Chineſe, der den Taipingaufſtand und den Boxerkrieg
erlebt hat, nennt den Fanatismus eine „Vornehmheit, die raſend geworden
iſt“. Er beklagt die Raſerei, er hätte es anders machen mögen, aber er be—
leidigt ſie nicht, indem er ſie für überflüſſig erklärte. Er weiß: daß eines
der Elemente der Evolution die Revolution iſt; eines der Elemente der
Kauſalität der Wille; eines der Mittel der Entwicklung der Widerſtand
gegen die Entwicklung. Davon wollen die Vulgärliberalen bei uns nichts
wiſſen; es gibt keine Lüge, die ſie nicht bereit ſind ſich als Geſchichte einreden
zu laſſen. Seit einiger Zeit haben wir nun bei uns äſthetiſche Konſervative;
das find Leute, die zwar nicht mehr an Gott glauben, wie die Konfervativen
alten Schlages, aber es für ſchön und wünſchenswert halten, daß an Gott
geglaubt werde. Ku ſcheint ſie von Shanghai bis Berlin zu durchſchauen:
„Der falſche Idealismus macht auf dem Gebiet der Religion und Moral
Jeſuiten, und auf dem Gebiet der Politik Macchiavelliſten“. Und nun
kommt fein Meiſterſtreich: Jeſuitismus und Macchiavellismus find nach
ſeiner Einſicht ein größeres Übel für das Land, als ſelbſt Gemeinheit und
Korruption; denn ſie halten ſich nicht lange in dem Gehirn, in dem ſie ent—
ſtanden ſind und fruchtbar ſein könnten, ſondern ſinken ſogleich zu den ohne
Genialität gewiſſenloſen Menſchen hinab. Der arme Ku aber iſt gezwungen,
ſich ſcheinbar um ſeine Achſe zu ſchrauben; wohin er auch ſieht, muß er ſich
abwenden. Dort iſt ein Staatsphiloſoph, der die Nation als Ganzes zum
Raubtier von der modernen Faſſung machen will, dem einzelnen Menſchen
aber jede Pflicht konfuzianiſcher Menſchlichkeit auferlegt; dort ein anderer
will den ſittlichen Staat, aber jeder einzelne darf die Sittlichkeit über Bord
werfen und darnach ſtreben, wie er „die Palme ohne den Staub“ bekommen
könne. Wir haben das ſo ungefähr auch, und nicht ſeit geſtern, und wir
hatten auch einen Mann, der ſich wie Ku zwiſchen den Widerſprüchen (der
Anderen) zu drehen ſchien: Lagarde, dem die Zeit kein Schwert gab, und
dem nichts anderes übrig blieb, als „Ahren und Ahrchen zu ſammeln für
Gottes Kinder im Winterſchnee“. Ohne Zweifel, Ku iſt mürber als
Lagarde. Die chineſiſche Moralität füllt feine Seele aus, wie der Löß die
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Wan. 2
Falten des chineſiſchen Urgebirges füllt, der Löß, der keine Wälder, aber
reiche Saaten von Hirſe trägt, der mürbe Löß, aus dem man mit den
Händen Höhlungen ausreiben kann, mürbe wie die chineſiſchen Schweine,
mürbe und taſtſam wie die chineſiſche Sinnlichkeit. Ku iſt mürber als
Lagarde, aber er iſt auch wahrer, weil unhiſtoriſcher und menſchhafter.
Und am meiften um Diefer feiner Humanität willen verdient fein Buch
es, daß wir darin uns ſelbſt anſchauen. Er ſpricht immer von Menſchen,
und um des Menſchen willen. Würden wir etwa den letzten Schluß feiner
Weisheit, Erziehung, annehmen, ſo geſchähe es, weil der Schulmeiſter die
Schlacht bei Königgrätz gewinnt und Asroplane bauen lehrt. Es wird
uns alles zur Inſtitution, die Religion und der Geiſt fo gut, wie die Frei⸗
geiſterei und die Sinnlichkeit. Wir haben nicht die reine, einfache Ver⸗
bindung vom Menſchen zu den Dingen, die er treibt. Was wir ſind, und
was wir tun, dazwiſchen klafft es dunkel und tief. Wir haben nur Fanatiker
der Wahrheit auf Koſten Anderer, ohne Güte und ohne Seele. Edikte, Staats⸗
dokumente, ſelbſt bei halbziviliſierten, orientaliſchen Völkern haben einen Klang
von Unmittelbarkeit, der uns vollſtändig verloren gegangen iſt. Wir ſindüberheb⸗
lich gegen die Dinge und gegen die Menſchen, und drücken das in vielen Formen
aus, zum Beiſpielals Humor; humoriſtiſch, alfo vom zweiten Rang, ſagt Goethe.
Wir erſchweren unſere Koloniſierungsarbeit durch Miſſion, und wenn die
Miſſion angegriffen wird, ſind wir ſo unlogiſch (oder ſo jeſuitiſch), die
Miſſionare zu verteidigen, die aber waren gar nicht angegriffen. Daß in
unſerm Parlament, in dieſem Jahr, der Islam (für Afrika) verunglimpft
wurde, war vielleicht jeſuitiſch, es war ſicher überheblich. Wir verdanken
dem Orient, außer dem Hellenismus und dem Chriſtentum, noch Manches;
wir verdanken der Berührung mit ihm in den Kreuzzügen unſer glänzendes
dreizehntes Jahrhundert, und wahrſcheinlich die Durchſüßung unſerer
Theologie, aus der der einzige bis heute fortroirkende, durch keinen dreißig⸗
jährigen Krieg unterbrochene Strom des nationalen Denkens, von Eckehart
bis Goethe, ſich löſte. In unſerer beſten nationalen Kunſt ſind Orient und
Okzident nicht zu trennen, die goliſchen Dome beweiſen es in den deutſcheſten N
Städten. Dürers Stephan Paumgartner grüßt zu einem chineſiſchen
Porträt hinüber. Rembrandt aber ſah perſiſche Miniaturen und kopierte
ſie, er ſah vielleicht auch japaniſche Holzſchnitte, und der Turban umwindet
das Haupt mancher feiner edelſten Geſtalten; Rembrandt, immer noch den
Künſtler einer Zukunft, weil er fig) nicht überhebt, den Humor nicht kennt,
und nie etwas anderes wac als ein klemer, wirklicher Menſch. Als Europa
das heilige Grab erobern wollte, brochte es ein Stück neues Leben an ſich;
und vielleicht hat uns auch Cine ewas Beſſeres zu erſchließen, als feine
Kohlengruben und Häfen.
. De 9
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ut N
. Dramen⸗Gedächtnis
von Alfred Kerr
I.
er Kritiker iſt am Tage, wo er ſchreibt, abhängig von dem, was an
D dieſem Tage zufällig in der Welt geſchieht; was morgens in Brie—
fen ſtand; ob Droſſelſchmettern vor dem Altan iſt, wie heut, ob
Naovemberpfützen; von dem, was er für übermorgen plant; von der letzten
Begegnung mit IHN (mit welcher?); von Ruhgier oder Sprungmacht
ſeiner heutigen Körperform; son dem Konzert vorigen Freitag. Und fo.
8 Dazu kommen allerdings „Grundſätze“; was aus der Mitte des Weſens,
das ein Lebensalterchen vorhält, die Augen, die man hat (aber hat man
4 bloß ein Paar ?).
Es iſt anſtändig, für jeden Fall mitzuteilen, wie die Stimmung war,
als man ſchrieb.
Ds
enn Dramen entrückt find, befonders. Wenn man drei Monate danach
ſie wiederzurufen unternimmt, weil (Hand aufs Herz) man es einen
Herausgeber verſprochen. Man könnte leben auch ohne das... Es wäre
ſomit recht hundsföttiſch, wenn einer verſchwiege, daß heut, am zehnten Mai,
Krach im Landtag ſehr auf die Verfaſſung eines Schreibenden wirkt. Ein
Scszialiſt Julian Borchardt iſt fortgeſchleppt; ein Gefährte widerrechtlich
vom Platz geboxt; ein Unfähiger (Herr von Erffa) iſt Präſident, der ſich
mittels Glocke ſelber ausſchließen müßte. Dem Schreibenden geht es durch
den Sinn. Alſo durch die Kritik. Weil das Feld ſtaatlichen Unrechts dicht
neben dem Herzen anfängt. Weil man .. zwar nicht Kunſtwerke bloß durch
dieſen Winkel ſieht: nur manchmal dieſen Winkel eher als Kunſtwerke. Wie
umgekehrt einer, der beſſernd gewirkt, ſich nun auf die Schönheit ſchmiſſe.
Lughaft wär' es, weil man fünf Dramen zu beklopfen hat, eine Ein—
leitung zu machen, die einen Generalnenner böte (für fünf Zufallsarbeiten).
Und zu vertuſchen, woran man denkt. Gemein wär' es. Wohl zwingt
man ſich, Vergangenes aufrücken zu laſſen. Mit allem, was im See
an Gleichgültigem, was an Verſuchen, was an Halbſchwindel, glänzender
Abwärtſerei, Lieblingstaten (unter ſchon matterem Beifall) bald von Rech—
nern, bald von Strebenden, bald von Mehlſpeiskochen, verhüllten Nußerlingen,
Tiaingelkräften gemacht worden iſt. Gewiß leuchtet etwa die Menſchenhülle
des wunderſamen Alexander Gitardi hoch hindurch: er tanzt wie ein
*
der an die Wurzeln geht. Noch in Operetten weiß man: hier iſt ein
Kerl, auf den man bauen kann fürs Leben — und verfeint iſt er bis
N * x 869
TA
a
bezaubernd verfchollener Florian, er ſingt mit einem magiſch feſten Ton,
für die letzten Schwingungen auch. (Hier blinkt ein deutſcher Höhe—
punkt.)
III.
eltſam. Als wir in Berlin europäiſch waren (für die Friſt etlicher
Bühnenwinter), wußte davon Europa gar nichts. Jetzt, unſre Ver⸗
wäſſerer, Färblinge, kleineren Tuſchbegabungen werden bald heimiſch in
ganz Europa. Paßt auf, ob es eintrifft. Rings junge Affchen. Alte
Affchen. Europäiſche Affchen. Dennoch Affchen. .. Kritiker iſt nicht, wer
alle Berpuppungen mitmacht, — nur weil fie vor ſich gehn. (Kritiker iſt,
wer verkleidetem Durchſchnitt ins Geſicht haut.)
Es heitert durch mein Gedächtnis ein frumbes Spiel vor Kapitaliſten
im Zirkus. Ein Irrtum, zu glauben, daß Allgemein-Menſchhaftes dahinter
ſtecke; daß wir etwa die gleichen Todesgefühle wie Solche hätten. Es iſt
nicht wahr; wir ſterben anders. Weil wir Andres wiſſen ... Chriſtelndes
und Anachroniſtelndes. Nicht einmal Getreuheit früherer Zeiten, ſondern
gemengtes Gemüſe. Das Heute nicht, das Damals auch nicht. Was dann?
Ein Aischylos, dem die Zähne des inneren Wirkens ausgebrochen ſind.
Ihren ſchaurig-holden Biß fühlte man wahrhaftig tiefer, da Studenten die
Aufführung durchſetzten. . . Kritiker iſt nicht, wer alle Verſandungen mit⸗
macht — nur weil ſie vor ſich gehn.
5 IV.
achher: ein paar ſchlecht gelungene Werke, die kraft irgendeines neuen
Merkmalchens haften blieben. Dabei ausgeſprochener Kitſch (Guſtav
Wied), in Tupfbildern einprägſam; jede Minute fühlt man die kalt ge⸗
machte Wertloſigkeit — es bleibt nach allem, was Bühnenkräfte dazutun,
dennoch ein bildhaftes Erinnern an Sommerluft, Komik, Schädelſtätten,
Glück, Wallungen, Zwiſchenfälle des hieſigen Schauplatzes. Sozuſagen
ein gefingerter Lebensabglanz. (An Lichtern echter, ſpaßtiefer, an Zeichner⸗
kraft flimmriger iſt Karl Sternheim). .. Warum haftet fo ein Wiedſches
Halbwerk? Wegen der Form; weil es kurze Fetzen des Lebens bringt —
wenngleich in platter Auswahl. Weil es Flecke bringt ſtatt Zeichnungen. #4
Weil es Flitzlinien ſchwirren läßt ſtatt fertiger Gruppen. Weil es Nova
der Form bringt. Füllen wird fie ein anderer. .. Heute tauchen aus dieſem
Stück Verſammlungsmenſchen empor. Stünde der Freiherr von Erffa dort
auf dem Pobium, und ihn holte jemand runter. Bravo, Borchardt!
Immer feſte. Auch wenn ihr Unkeecht habt. Größeres Unrecht haben die
Übrigen. Sechs Mann im ganzer. Verloren in der Menge des Hohen
Hauſes. Tapfer jeden Tag. Wenn ein Joachim von Bieſt aus dem
„Tänzchen“ von Hermann Vahr euch in die Falle rennt, ihr laßt ihn
ſchwerlich locker. Bürger tun das — mag ſo ein Burſche zuvor mit dicker
870
Fauſt über ihre Bildungswelt geſchaltet, mag er meinetwegen im Straßen—
krawall Blutſchuld erworben, mag er in Kunſtwerke verbieteriſch getappt,
mag er als peinlicher Poiatz Millionen von Kultivierteren geödet haben.
Die Bürger werden ihn, fliegt er wo hinein, . .. fie werden ihn mehr aus
Angſtlichkeit denn aus Ethik, mehr aus Nichtlachenkönnen denn aus Grund—
ſatz, wieder auf die Füße ſtützen; ihn erſt ſtark machen, daß er, obſchon ge—
knautſcht und abgeſchürft, als Unſchuld fortlebt (und ſich gar in Kleinig—
keiten beſſert). Dies Bürgerpack; ſchielig nach den Händen, die es hauen;
Stützen für die Füße, die es treten; rechtlich und halblaut nach dem Ange—
ſpucktſein; dieſe kultivierte Sch... Schluckerbande, die ich einmal geſchildert:
Leute zwar von innerem Wert, freiheitlich und vernünftig, mit wirklicher Ge—
ſittung durchſetzt; denen aber die Urſprünglichkeit abhanden gekommen iſt;
die Gabe des Rüdigſeins; die Luſt des Loslegens; die Macht des Mittuns;
die Entſchloſſenheit zur Schlacht — ſtatt deſſen haben ſie den horror des
Hervortretens; das Lächeln des nachgebenden Klügeren; die ironiſche Tat—
loſigkeit ... und den Hunger nach Verkehr: dieſe S. .. Sippe zu zeigen,
zu züchtigen, einmal nievergänglich zu zeugen für die Bretter, daß ſie purzeln,
ſamt und ſonders, entblößt in aller geſitteten Feigheit, belacht, beſchrien, be—
ſchmiſſen in dem Erbärmlichen ihres Anſtändigſeins: ... das, Zeitgenoſſen,
wär' ein Stück für den Spottſpieler — aber dies Stück haben in Fetzen, in
Brocken, in Einzellichtern, in Vorläufigkeiten bloß etliche von uns je nach
ihrer Kraft (und je nach eurer Flankenfurcht) verſucht. Hätte Bahr es ver
ſucht; hätte Bahr etwas von ſolchen Seelen wandeln machen; hätte Bahr
die hier gegebenen Dinge gekörpert; hätte Bahr ſie nur mit einem Abend—
blut gefüllt ... Er tat anderes.
Bahr ſelber hat ſcharfe Augen: doch er ſchreibt wie für Blinde. Das iſt es:
er bringt zu große Opfer ſeines Werts. Wie ſchon im Stück von der falſchen
Japanerin, wie ſchon im Stück von Bruder und Schweſter: fo pflanzt er
Kilometerſichtbarkeiten, unmißverſtehbar, daß Mittelköpfe ſelber verſtimmt
werden; kleine Weißbierkritikerchen tadeln ihn wohlwollend, ärgern ſich. Bahr
arbeitet für Wien.
Er arbeite für ſich — dann arbeitet er vielleicht für uns.
Dier Weisheit Schluß iſt wie beim Wied: ein Späterer wird ſchaffen,
was unvollkommen gebahnt iſt (und gebaut werden könnte).
V.
1 einrich Mann. („Schauſpielerin“.) Keine Wirklichkeitsrede. Er will keine
geben. Bahr will eine geben; doch kommt es nur zum Stil der Theater—
wirklichkeit: fo daß Manns blaſſes Gewächs faſt wirklicher iſt — bei fo unwirk—
licher Aufmachung. (Fehler find ſchwieriger nachzuweiſen, weil er vorneweg
äußert: „Ich will ja gar nicht!“ Aber ſchade. daß er nicht will. Willer nicht.. 2)
871
Wenig Profil. Er zeigt an einer Frau ſo ... die Grenze zwiſchen
Machen und Müſſen. Zwiſchen Spiel und Empfinden. Auch zwiſchen
Lügen und Kundtun. (Wenig anteilſam. Dies Bühnenfrauenzimmer mit
ihren Schmerzen — echte hin, falſche her — möge ſie glücklich werden,
hol' ſie der Teufel; ich kann mir nicht wegen der Perſon den, na, Daumen
abbeißen.) Manches hat Schnitzler im „Kakadu“, in den „Letzten Masken“
vorgezeigt. Die Zwiſchendinge bei Mann find nicht fo ſehr Ab-
ſchattungen. wie Verwaſchenheiten. Man ſtaunt. Nicht daß der Schrift-
ſteller ſagt: „Hier iſt Entgleitendes“. Dem Schriftſteller entgleitet was.
Der Tonfall des Ganzen klingt nach mehr, als drin iſt. Was liegt
hinter der anſcheinend gewollten Stumpfheit!
Ein Entſagen: oder ein Verſagen? . Jene Stumpfheit, die für
große Künſtlerſchaften öfters ein Merkmal war: ohne dieſe Künſtlerſchaft.
Gangart von Schmucklos-Abſeitigen: ohne die manchmal damit verbundene
Eigenſtärke. Ein Unterſchied zwiſchen Haltung und Gehalt. Peinlich wird 9
hier ... nicht eine Geberde der Wiederholung: ſondern die Wiederholung
einer Geberde.
VI.
. von Ernſt Hardt. Moderniſierter Geibel. Oder: Heldenlied,
N gartenlaubig umgebogen. Ein Zuſtand. Furchtbar.
Ein junger tüchtiger Pfaffe las mie mal ein Stück vor: Uria. (O Be⸗
arbeitungen!) Darin mußte ... nicht König David jenen Brief ſchreiben:
ſondern der Uria ſelber diktierte den Brief. Uria zwang den David ihn auf
den Tobespoſten zu ſchicken. So werden Vorlagen zertieft. O Bearbei⸗
tungen. Hardt zertieft, indem Gudrun zu dem gehaßten (aber ſchneidigen)
Räuber entbrennt . . . und lieber in den Sarg klettert als zu dem Verlobten.
Die Vorgänge bekommen ihre Wichtigkeit nur durch die Sage; da
giebt Hardt nicht einmal die Sage? Die Leute pumpen alles, was ſie
(nicht) beſitzen. Und ſind hinterdrein undankbar?
VII.
S rrindberg. Tolſtoi ... Ein Haßdrama, „Der Scheiterhaufen“; bei dem
Sguſſen das Gegenſtück: ein Drama des Umfangens. Strindber
zwar gibt als Greis nichts Neuss: doch er gab aufs neue den großen Ein
druck dieſer ſchwarzen Hünenſeele. Seine wuthöhniſche Rechtlichkeit. Die
Berſerkerſchaft eines edlen und großgearteten Stiefkinds — es bleibt kein
andres Wort. Er wies vor dem Sterben raſch noch einmal feinen Grund⸗
zug.
Tolſtoi („Und das Licht ſcheinet in der Finſternis“) wies das Trauer⸗
ſpiel des Beſſernden. Ein Gregers Werſe tut als Familienhaupt, was er
kann, bis er hinbricht. Nun, — er wird ſich raffen.
872
*
Was iſt das? Kein Stück. Aber nicht bloß eine Moral. Sondern
. . . zwar kein Stück; doch ein Kunſtwerk. (Alſo doch ein Stück.) Denn
es atmen darin menſchliche Menſchen. Darum nicht nur ſittliches
Faordern (was leicht iſt), ſondern ein Haufe nachgeſchaffenen Lebens, unver—
geßlich.
Das „Bequeme“ hier ſtammt nicht aus Kunſtmangel, ſondern aus
Ehrlichkeit. Gar keine Freude mehr am ſchönen Schöpferſpielen. Bloß
Anſchauungsfiguren für den Erzieher hat fein Untergehilfe, den Schöpfer,
zu machen. Doch er macht fie (wollend, nichtwollend) fo, daß fie lebten,
auch wenn ihr Ethos falſch würde. Er macht fie fleiſchern und mit Lungen;
dauerwirklich; dennoch bar der Einrenkungen, ſo bisweilen die „Kunſt“ nötig
macht. Das iſt es.
Nicht ein Künſtler wider Willen ſteht hier. Sondern: ein ſilbrig erhabener
Narr, ſtillgeworden und hoch, der einmal das Schaffen erlernt hatte. Wie
den Leuten beim Schiffbruch ein Bootsführer etwas zuruft, der einſtens
Baritoniſt war. Nur ſo. Die Stimme will keine Wirkung mehr, aber es
iſt halt eine gelernte Stimme.
Dieſem ruſſiſchen Bruder von ſechs Krachſchlagern, den Widerſtändlern
Borchardt und Leinert und Liebknecht und Hoffmann, leuchtet in der Finfter-
nis das Licht.
Mir, feſt und unerbittlich betrachtet, liegt alles in Wahrheit umgekehrt: die
Welt leuchtet — und Forderungen verfinftern fie. Wo Tierheit und Torheit
vergällt wird, iſt Anfang der Finſternis. Das Schöne (ſagten, glaub' ich,
die Griechen) iſt ſchwer. Und erſt das Sittlich-Schöne. Na! Hand
aufs Herz. So ſteht man im Grunde dazu.
; Sein aber muß es. Die Finſternis Tolſtois kommt über das Licht mit
Unbehagen. Wie die Finſternis jenes Wüſtenreiſeführers. Wie die Finſter⸗
nis des ans Kreuz gehefteten Reb Joſchua. Sein aber muß es.
S WERE SER
VIII.
KOch blicke nicht ſinnlos ablehnend auf das ratternde Morgengetrieb der
1 as heutigen Herſtellerwelt. Ich mag bloß nicht (wie Schminf-Publiziften
tun) ihre Schöpfer mit ihren Geldgebern verwechſeln.
Der Zolftoi aber läßt ſich im (Grunde) mit dem Herftellergetrieb der Zeit
nicht widerlegen. Denn ohne den Altruismus, ſcheint mir, entſteht Raubbau,
Raubbau verringert die Nutzungsmöglichkeit. Raubbau zwingt zu einem Ab-
tragen der Arbeitshochflächen. Altruismus, ſcheint mir ſohin, iſt nicht bloß
Güte, ſondern Technik. (Nicht bloß ehrenvoll, ſondern auf die Fänge gewinn—
ſteigernd.)
Dieſerlei mag Tolſtoi geahnt beben: zu verkalkt, es zu Ende zu
denken. |
56 873
Was er bot, war (eins ins andre) die innerſte Kraft einer ſonſt leeren
Spielzeit. Seht ernſt auf dieſe Kraft, — nur überſeht nicht ſeine
Schwäche.
. . . Kunſt bändigen; hölliſch-hell fein; hierbei gütig fein: darauf kommt
es an bei dem kurzen Aufenthalt.
Leſſingbriefe
von Artur Bonus
ss iſt nicht viel, wofür ich mich meiner Schule dankbar fühle. Am
(Keinen noch einige Privatlektüre, zu der fie mich anregte. Darunter
war ein Ereignis Leſſing.
Nach manchen Jahren ſtand ich in der herben dünnen Luft des Brenners.
Ich ftand auf einem Holzbrett, das über den Eiſackbach gelegt war und ſah
dem hellen durchſichtigen Waſſer zu, das keinen Kieſel des Grundes ver⸗
barg, aber jeden wie in einem ihm allein eigentümlichen innern Glanz auf
leuchten ließ, als offenbare es ſein Weſen. Mir war, als hätte ich dieſen
Eindruck ſchon einmal in mich eingeſogen, obwohl ich beſtimmt zu wiſſen
glaubte, daß ich ein ähnliches Gewäſſer in Verbindung mit einer ähnlichen
Luftſtimmung noch nie geſehen hatte. Indem ich dieſe Briefe leſe, fällt es
mir plötzlich wieder ein: es war Leſſing.
Wie wehmütig iſt freilich hier in dieſen Briefen alles. Man merkt ſehr
bald, von außen kommt dieſe Klarheit und Dünne der Luft nicht, da iſt
eher dicker Nebel. Es iſt der Mann ſelbſt, der ſo wirkt.
Der Höhepunkt iſt natürlich jener mehr kurze Ausruf als Brief, als ihm
Frau und Kind faſt zugleich ſterben.
Schon Heine hob ihn aus, als er durch ein kurzes authentiſches Wort
das Weſen des Mannes ſchildern wollte. Er wirkt wie ein Epigramm.
Aber wie wirkt er erſt, wenn man lange Briefe hindurch mit gelitten und
dann mit aufgeatmet hat, als ihm die Frau im Haufe iſt und eine Reihe
Briefe voll tiefer Befriedigung folgen. Und dann — — Sn
Ich kann es mir nicht verſagen, den wunderlich krauſen Brief auch hier—
her zu ſetzen, ich werde gleich ſagen, weshalb:
„Mein lieber Eſchenburg,
Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Beſonnenheit
liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Antheil zu danken. Meine Freude war
kurz: Und ich verlor ihn fo ungern, dieſen Sohn! denn er hatte fo viel Ver—
874
ftand! fo viel Verſtand! — Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden
meiner Vaterſchaft mich ſchon zu ſo einem Affen von Vater gemacht haben!
Ich weiß, was ich ſage. — War es nicht Verſtand, daß man ihn mit eiſern
Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er ſobald Unrat merkte? — War
es nicht Verſtand, daß er die erſte Gelegenheit ergriff, ſich wieder davon zu
machen? — Freylich zerrt mir der kleine Ruſchelkopf auch die Mutter mit
fort! — Denn noch iſt wenig Hoffnung, daß ich ſie behalten werde. — Ich
wollte es auch einmal ſo gut haben, wie andere Menſchen. Aber es iſt mir
ſchlecht bekommen. Leſſing.“
mpfindungen auf Papier ausdrücken iſt ſchwer. Der Rat, ſich aus⸗
zudrücken, wie einem der Schnabel gewachſen iſt, hilft nicht viel, —
denn der Schnabel iſt einmal keine Feder, die in Tinte getunkt wird. Soll
man Ah! und Oh! ſchreiben?
Das Problem iſt mit dem verwandt, wie Empfindungen auf der Bühne
zu geben ſind. (Denn eine Art Bühne iſt auch das Briefpapier.) Die
Dichter haben ſich auf ſehr verſchiedene Weiſe geholfen. Die äußerſten
Gegenſätze mögen ſein, ob die Intenſität des Gefühls ſich in der Weite des
Ausgreifens ſpiegelt, mit welcher das erregte Gefühl nach Bildern ſucht, in
denen es ſich auflöſen könne, oder in der Ruheloſigkeit des Reflektierens, mit
der es über ſich ſelbſt herfällt. Die Leſſingſche Art liegt dieſem letzteren nahe.
Er liebt die „Moral“, wie er ſolche Reflexionen in der Dramaturgie nennt.
Doch iſt dies noch nicht die ganze Löſung.
ls Leſſing den unvergeßlichen ſiebzehnten Literaturbrief ſchrieb, in dem
er gegen Gottſcheds Franzöſeln anging und die Behauptung aufſtellte,
„daß wir mehr in den Geſchmack der Engländer als der Franzoſen ein—
ſchlagen; daß wir in unſeren Trauerſpielen mehr ſehen und denken wollen,
als uns das furchtſame franzöſiſche Trauerſpiel zu ſehen und zu denken gibt;
daß das Große, das Schreckliche, das Melancholiſche beſſer auf uns wirkt
als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt
mehr ermüde als die zu große Verwicklung“, gab er zum Schluß auch eine
Probe dafür. Er hatte die Behauptung aufgeſtellt, daß denn auch „unſre
alten Stücke wirklich ſehr viel Engliſches haben“. „Nur das bekannteſte
derſelben zu nennen: Doktor Fauſt hat eine Menge Szenen, die nur ein
Shakeſpeareſches Genie zu denken vermögend geweſen. Und wie verliebt
war Deutſchland, und iſt es zum Teil noch, in ſeinen Doktor Fauſt!“ Und
er gab als Beweis zum Schluß einen Nuftrut aus einem „alten Entiourf
dieſes Trauerſpiels“, den einer ſeiner Freunde in Verwahrung habe, und
der gemeinhin als fein eigenes Werk gilt. Der Auftritt iſt in der Tat in
der Form der alten Volksſpiele vom Doktor Fauſt gehalten, die auch ſchon
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die Frage nach der Schnelligkeit der Teufel mit einigem Witz behandeln,
und erinnert andrerſeits ſtark an den tragiſchen Humor Shakeſpeares.
Die Antwort aus dem andern Lager blieb nicht aus. In den „Briefen,
die Einführung des engliſchen Geſchmacks in Schauſpielen betreffend“, fiel
ein Ungenannter über das Fauſtfragment her, inden er den Witz des Frag⸗
ments zergliederte und es gründlich unnatürlich fand, daß die angebliche
Größe der Szene ſich in Epigramme und Witze zerlegt
Iſt es nun wirklich an dem? Iſt es, pſychologiſch betrachtet, unnatür⸗
lich, die tragiſche Stimmung ſich in Witz zerſetzen zu laſſen?
Der ausgehobene Brief ift die Antwort Leſſings. Auf einem Höhepunkt
des Schmerzgefühls zerſetzt es ſich ihm in epigrammatiſchen Witz. Es kann
das alſo — mindeſtens für beſtimmte Temperamente — nicht unnatür⸗
lich ſein.
Es wäre auch zu verwundern; denn der tragiſche Witz iſt ſehr alten
Datums und ich habe gelegentlich darauf aufmerkſam gemacht, daß er in
der fo realiſtiſchen Proſadichtung der Nordgermanen bereits in ihrer älteſten
Zeit in voller Blüte ſteht (Isländerbuch II, in dem Kapitel vom tragiſchen
Humor).
Ich glaube, man ſtellt die Frage falſch. Wenn es ſich darum handelte,
die trogiſche Stimmung „auszudrücken“, fo wäre gewiß der Witz das
ſchlechteſte Mittel dazu. Aber handelt es ſich denn darum? Spricht der
Menſch überhaupt, um etwas auszudrücken? Das Sprechen des Menſchen
iſt urſprünglich eine Form der Handlung. Für den Künſtler mag das Wort
der Ausdruck ſeiner Idee ſein, inſofern ſeine Tat eben darauf zielt. Aber
nicht für die Perſonen, die er zu dieſem Behufe darſtellt. Dieſe ſprechen
nicht, um ſich auszudrücken, ſondern um ſich zu wehren oder auch anzu⸗
greifen, kurz um zu handeln. Je ſchwerer die Stimmung iſt, der ſie zu er⸗
liegen drohen, deſto ſtärker iſt ihr Verlangen, nicht, ſie auszudrücken, ſondern
ſich über fie zu erheben, ſich ihrer zu erwehren, — fie loszuwerden. Und
für ganz große Künſtler betrachten wir ſeit Goethes Werther ganz allgemein
den Ausdruck der Stimmung als die ihnen und ihrer beſonderen künſtle⸗
riſchen Anlage angemeſſene Art, ſie loszuwerden. Das Kunſtwerk hat
aber nicht die Aufgabe, ſpezifiſch künſtleriſche Menſchen darzuſtellen, ſondern
die, auf eine ſpezifiſch künſtleriſche Weiſe natürliche Menſchen darzuſtellen 3 |
und ihre Art, auf das Schickſal und die Stimmungen, die es verhängt, zu
reagieren.
Prüft man von hier aus unſece Frage nach, fo wird man ſchnell finden,
daß die Naturbedeutung des Witzes eben dieſe iſt, die Schwere der Dinge
loszuwerden, indem man ſie als leicht behandelt, — was denn auf ſehr
vielfach verſchiedene Art geſchehen kann.
Für den Zuhörer, wenn er überhaupt auf dieſem Ohr zu hören verſteht,
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gibt das ein fehr eigentümliches Doppelgefühl. Einerſeits empfindet er die
Schwere der Sache um ſo ſtärker, indem er ſieht, welcher vielleicht vergeb—
lich bleibenden Anſtrengung es im Leidenden bedarf, ſich über fie zu erheben.
Andrerſeits leiſtet der Witz doch auch ihm das, was er dem Leidenden leiften
foll: eine Zerteilung der Aufmerkſamkeit, damit fte ſich nicht allzuſtark auf
den dunklen Punkt konzentriere. Denn auch das naturaliſtiſche Kunſtwerk
hat nicht die Abzweckung, den Zuhörer zu quälen, ſondern ihn (durch welche
Niederdrückungen hindurch auch immer) ſchließlich über das Seſchlinge und
Geflecht des Lebens zu erheben. Und wenn die Aufgabe geſtellt würde, den
Kunſtwert der Ibſenſchen Dramatik in Frage zu ſtellen, ſo müßte man ſie
von hier aus angreifen.
Auch mit dem Drama der Leſſingbriefe und jenem feinem fragifchen
Höhepunkt ſteht es ſo, wie hier vom tragiſchen Witz nachzuweiſen verſucht
worden iſt. —
a wir vom Drama der Leſſingbriefe ſprechen, ſo mag es erlaubt ſein,
darauf hinzuweiſen, daß die Deutung, welche der neueſte Herausgeber
einer ſehr guten Auswahl“ ihm gibt, ſich vor dem Eindruck feiner eigenen
Sammlung nicht hält. Peterſen ſchreibt, der Brief über den Verluſt des
Sohnes gebe „das Grundthema ſeines Lebenskampfes, der mit keckem Wage⸗
mut beginnt, mit beiſpielloſer Zähigkeit und Heiterkeit (?) des Gemüts in
Mißgeſchick und Enttäuſchungen fortgeführt wird und in Bitterkeit und
Seelenvereinſamung endet“.
Dieſe Auffaſſung ſtützt ſich auf ein Wort Leſſings an ſeinen Bruder, ge—
ſchrieben wenige Tage vorm Tode ſeiner Frau, als noch einmal eine kurze
Hoffnung aufſchlug, ihr Leben zu erhalten: „Ich lief Gefahr, meine Frau
zu verlieren, welcher Verluſt mir den Reſt meines Lebens ſehr verbittert
haben würde.“ Ergo, ſagt man, da ſie nun doch ſtarb, ſo hat das ihm den
Reſt ſeines Lebens verbittert.
Welch ein Trugſchluß! Die Briefe jedenfalls ſprechen eine ganz andere
Sprache. Die ſtärkſte Niedergedrücktheit atmen die Briefe vor der Ver—
heiratung. Leſſing wäre nicht der zähe und tapfere Kämpfer geweſen, als
den wir uns gewohnt haben ihn zu betrachten, wenn dieſes Wort von der
Verbitterung, das die Biographen hypnotiſiert hat, wahr geworden wäre
Der unbefangene Leſer der Briefe — und ich habe fie in dieſer Ausgabe zum
erſtenmal geleſen — hat allerdings die Furcht, daß es ſich bewahrheiten
werde. Um ſo freundlicher enttäuſcht ihn, was folgt. Das Sonnenjahr mit
Eva König hat eben doch ſeine Wärme und ſein Licht durch das ſchreckliche
Ende hindurch gerettet. Und daß Leſſing es vermochte, ſich dieſer Nach—
wirkung hinzugeben, beweiſt meinem Verſtändnis nach ſeine Tapferkeit mehr,
»Peterſen, Leſſings Briefe in Auswahl. Leipzig, Inſel-Verlag 1911.
R
ee
als wenn die Verbitterung, die er fürchtete, ſich bewahrheitet hätte. Wer
ſich nicht durch einzelne Worte täuſchen, ſondern wirklich den Ton der Briefe
auf ſich wirken läßt, wird, glaube ich, beſtätigen müſſen, daß dieſe Schluß-
briefe vielmehr einen vergleichsweiſe — dieſes vergleichsweiſe iſt freilich ſehr
ernſt zu nehmen — linderen, freundlicheren, wärmeren Ton haben.
Und das iſt gut fo. Denn es iſt beſſer, daß uns das Bild eines unge⸗
brochenen tapferen Lebenskämpfers erhalten bleibt, als daß einige Aſtheten
um eine peſſimiſtiſche Entzückung reicher werden.
Die Verwirrungen der Malerei
von Oskar Bie
arum hängt die Sezeſſion ſo ſchlecht? Man müßte etwa einen
Saal mit den Führern Liebermann, Corinth, Kalckreuth füllen,
einen anderen mit hiſtoriſchen Rückblicken, van Gogh, Cézanne,
einen dritten mit den Nichtdeutſchen, einen vierten mit dem zivilen Publi⸗
kum der bewährten, pflichttreu arbeitenden Künſtler, einen fünften mit den
Neulingen, die noch Arbeit und Schätzung vor ſich haben, mit denen man
es verſucht — dies würde eine klare Überſicht geben über Ahnen, Beſtand
und Fortſchritt, auch über Unklarheiten, während jetzt alles durcheinander
geht und die herrſchende Verwirrung noch unterſtützt. Die Verwirrung wird
von Jahr zu Jahr größer, und man braucht ſich nur den Saal der Neu⸗
linge ſelbſt zurechtzumachen, um zu ſehen, nach wie vielen Richtungen ſie
laufen. Der eine verſucht es mit dem Neuimpreſſionis mus, den er auf eine
Methode farbiger Pünktchen bringt, der andere mit blauen Schatten und
ſcharfen Konturen à la Cézanne, der dritte mit dem brutalen Strich
van Goghs, der vierte mit dem dekorativen Reiz der Galerietöne, der
fünfte mit Emailfluß, der ſechſte mit der Numerierung der Landſchafts⸗
teile, die Kubiſten und die Futuriſten brechen auch ſchon ein — noch nie
war eine ſolche Ratloſigkeit da, ſo wenig Perſönlichkeit und ſo viel Richtung.
Es iſt höchſte Zeit für den Kritiker, Syſtem hineinzubringen, es ſcheint
wenigſtens dies ſeine einzige Aufgabe heut noch zu ſein. Denn zerfließt er
vor jedem dieſer kunterbunt gemiſchten Malereien in ebenſoviel Anſchau—
ungen, als da vertreten ſind, ſo iſt er ein Schwamm. Und faſelt er über
Thoma, Corinth, Neumann, Ulrich Hübner und Rouſſeau in immer
wieder neuen Ein- und Umſtellungen, ſo macht er die Zerfahrenheit noch
zerfahrner. Es ſcheint, daß man über Malerei ſo viel geſchrieben hat, daß
die Literatur den Malern zu Kopf ſteigt. Man könnte ſich entſchließen,
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4
b
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Pi
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bewußt etwas reaktionärer zu werden. Aus gemalter Literatur und literariſcher
Muſik wird nichts. Das Aſthetiſieren verflaut und verweichlicht. Malen,
Komponieren, Dichten ſind Schöpfungsprozeſſe, nicht bloße Akte des
Willens, des Denkens oder gar des Sehnens. Man ſchielt heut. Das
Chaos „zwiſchen den Künſten“ wird gefährlich. Man möchte eine Aus—
ſtellung, wie die der Sezeſſion, wegfegen, auf den Haufen werfen und nach
ihren unzweifelhaften Qualitäten neu ordnen. Dann könnte man anfangen,
zu reden, kurz und klar, ſcharf und ſachlich. Es iſt widerſinnig, jemandem
zuzumuten, dieſe Dinge nebeneinander aufzunehmen und zu genießen. Es
gibt Märkte, aber nicht für Kunſt. Und es gibt Kunſt, aber nicht für
Märkte. Eine Offenheit, zu der ſich ſo wenig Menſchen bekennen.
Ich möchte heut drei oder vier Peripherien dieſes Chaos abſtecken. Es
ſind, auch zeitlich, die letzten Hilfeſchreie dieſer ſchönen Kunſt, die in ſolche
Angſte geraten iſt.
Das einfachſte iſt der Kubismus, die letzte Methode des Malens, die
das koteriefrohe Paris hervorgebracht hat. Nachdem in der Gegend von
Matiſſe die Malerei aus Reaktion gegen den Impreſſionismus ſich zur
Konſequenz der Fläche bekannt hatte, kam die Reue des Körpers über dieſe
Fläche. Es iſt richtig: die Malerei malt auf Flächen, aber es iſt ebenſo
richtig: ſie malt Körper. Es entſtand, ſagen wir, im Gehirn der Künſtler
das Bedürfnis, die Körper in die Flächen zu ſtiliſieren, die Malerei zu
ſtereometriſieren, man ſpitzte Form, Abſetzung, Kontraſt, Farbe in ſcharf
geſchnittene kubiſche Gebilde zu und der Gegenſtand wurde eine ſyſtematiſche
Kombination kubiſcher Dreiecke, Vierecke und fo fort. Auf der Sezeſſion ſieht
man Herbin, einen noch nicht ganz entſchloſſenen Kubiſten. Er biegt das
Blech ſeiner Körperchen nur ſo ein bißchen und zerſtört nicht ganz durch
eine Pyramidennaſe die Konvention des Geſichts, durch einen Kanten—
zickzack den Duft eines Schleiers. Picaſſo, der Führer der Kubiſten,
glaubt, die Methode radikal durchzuführen. Schadenfroh entdecken wir
ſeine Inkonſequenzen. Da iſt ein Damenbildnis, ganz in kubiſche Eckig—
keiten ſtiliſiert, aber fie hat einen runden Hut auf. Schade um den runden
Hut! Er zerſtört mir den Glauben an eine Theorie, die ich mißbillige,
eben weil ſie eine Theorie iſt. Jedes Syſtem iſt das Ende. Ich verſtehe
den Drang nach Stil, nach Form, ich verſtehe auch die Verachtung der
Realität, aber ein Syſtem, das ein Loch hat, belügt ſich doppelt. Die
Farbe iſt dieſen Kubiſten ſchon ganz gleich. Sie finden Schwärmer, die
ſie für Propheten halten. Ich klammere mich an die Wonnen der Farbe
und die Launen aller Realitäten, um nicht zu früh in dieſes Gefängnis zu
müſſen.
Auf der Ausftellung iſt noch ein anderes Bildchen von Picaſſo, es heißt
Pont neuf und man ſieht darauf Stücke eines Dampfers, Brückenteile,
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Uferſtreifen, alles fo durcheinander geſchüttelt, daß vom Pont neuf, dieſer
wirklichen Brücke voll ſchöner Erinnerungen, nichts mehr übrig bleibt,
ſondern ein neuer Pont neuf herauskommt, der ſeine Beſtandteile nach den
Geſetzen einer gänzlich unkontrollierbaren Phantasie zuſammenwirft. Hier
wird nicht mehr bloß Kubismus getrieben, ſondern Formimpreſſion, Form⸗
viſion, Netzhaut des Gehirns, ſtatt der veralteten Netzhaut des Auges.
Glaube ich es gar, ſo hilft es mir nichts. Denn mit dieſem Gehirn habe
ich, der ich als der phantaſievollſte Menſch verſpottet bin, nichts gemein.
Wir gelangen hiermit auf die Bahnen des Futurismus, der die innere
Vorſtellung gegen die Wirklichkeit ausſpielt. Es gibt verſchämte Futuriſten,
wie Picaſſo und Delaunay, und offne Futuriſten, wie die neueſten Italiener.
Beide bekämpfen ſich, obwohl dieſe von jenen nehmen. Jeder will das
Neuland für ſich pachten. Es hat etwas kleinlich Lächerliches. Delaunay
wirkt mindeſtens ſo weit wie Picaſſo. Delaunays Spezialität iſt das Um⸗
werfen der Häuſer. Er ſagt: ich ſehe von einer Kirche nur Bewegungen
der Pfeiler und Gewölbe, von Häuſern Dächer und Keller, vom Eiffelturm
dies Stück, jenes Stück — was hervortritt, male ich hervor, was zurück⸗
tritt, zurück, den Turm im Zickzack gebrochen, die Häuſer gebogen, ſchief,
erdbebenhaft. Das Gerade iſt ein Blödſinn des rechnenden Verſtandes,
mit dem meine maleriſche Phantaſie nichts zu tun haben will. Häuſer⸗
formen ſind mindeſtens ſo Objekt meiner Verſtellungen, wie Baumſchatten.
Frei ſind wir vom Raume, wie von der Zeit. Ich habe es mit Delaunay
probiert. Ich ſchoß den Blick eine halbe Sekunde lang auf die Bilder und
wieder weg. Das ging. Ich war glücklich: es ging. Aber ich ſagte mir
ſofort: wie ärmlich iſt das. Und dabei wie roh. Und wie falſch: Impondera⸗
bilien mit Ponderabilien zu verwechſeln und Beſtändigkeit des Bildes mit
dem Blitz der Vorſtellung zu verwechſeln. Ich atmete auf, als ich den
Tiergarten betrat. So dumm bin ich.
Der Futurismus sans phrase ſitzt in Italien. Er kündigt 50000
Adheſions an. Er nimmt den Mund fo voll, daß er ihn nicht mehr
ſchließen kann. Gewaltige Manifefte veröffentlicht er, in denen alle Muſeen
dem Erdboden gleich gemacht werden, eine neue Zeitrechnung beginnt und
der Geiſt des Menſchen aus ſeinen Kinderſchuhen geriſſen wird. Schnellig⸗
keit, Linienkräfte, dynamiſche Empfindung ſind die Schlagworte. Es iſt
das Tempo des Auto und der Flug des Aexoplans in dieſen Schriften.
Wie ein Nietzſche, der ins Italieniſche zurück überſetzt iſt — das heißt, ſie
ſchreiben franzöſiſch. Marinetti iſt ihr Führer. Er dichtet Mafarka,
le Futuriste und widmete dieſen afrikaniſchen Roman der letzten Willens⸗
impulſe (der Autor iſt in Agypten geboren) ſeinen Freunden als endliche
Offenbarung. Er ſchrieb La bataille de Tripoli und verherrlichte das
Ubermenſchentum der Italiener gegen die Türken. Er haßt die Türken,
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die Weiber, die Muſeen und allen Widerſpruch, er liebt den Widerſpruch,
die Maſſenmalerei und den Kitſch. Er machte nicht nur feine Freunde, die
Dichter ſo und ſo, auch die Maler dämoniſch und ließ ſie malen: die
dynamiſchen Empfindungen aller äußerſten Vorſtellungen. Sie projizieren
ſechzehn Menſchen aus dem Autobus in die Straßen und ſehen auf der
Wange ihrer Geliebten das Pferd am Ende der Allee. Balkonblicke,
Lokomotivnummern, deprimierte ſenkrechte Linien, Pferde, die ſich in den
Morgen der Stadt auſbäumen, der Lärm der Straße, das Rütteln der
Droſchke, Bahnhöfe, Revolutionswinkel, Tanzlokale, Modiſtinnenraſcheln,
das Schleichen des Monds, die Stimme des Zimmers, die Lektüre von
Pijaoe und alles dieſes wird als Arabeske der Wirklichkeit hitzig erdacht, dann
möglichſt warm zerſtückelt und ſchlecht genug auf die Leinwand gerückt.
Severini macht es, indem er gleichſam Plakate zerſchneidet und falſch zu⸗
ſammenſetzt, Boccioni, indem er ſüßliche Banalitäten vermiſcht und ver-
wiſcht, die andern anders. Ich denke daran, wie es Toorop früher machte
oder wie es Klimt aus dem Dekorativen entwickelt — neu iſt daran gar
nichts, als das Geſchrei, das blöde macht, und das Prinzip, das tötet. Es
wimmelt von Inkonſequenzen: Gelender, weibliche Schenkel, feuchte Augen,
Hüte, Menſchen, in plötzlichem Naturalismus mitten in der unkeuſcheſten
Phantaſie. Man verſteht alles, alle die letzten Zuckungen der verſteckteſten
Gehirnfaſern, gewiß, das iſt ſchon in der Häßlichkeitsapotheoſe von Notre
dame de Paris. Iſt bei allen Viſionären und Emphatikern. Altenberg hat
es auch erfaßt. Aber es iſt Literatur, wenn es Malerei wird. Auf dieſen
Bildern muß ich ſpazieren gehen, um mir die Stücke der Vorſtellungen
zuſammenzuſuchen, und damit iſt die Phantaſie tot. Die Anekdote ſchleicht
auf einem Umwege wieder hinein. Die Malerei ſchämt ſich ihrer Sinnlich⸗
keit und entleibt ſich. Ich kam wieder in den grünen Tiergarten und ging
lieber dort ſpazieren. So faul bin ich.
Aber Buſoni hat ein Futuriſtenbild gekauft: Boccionis Erwachende
Stadt. Von der Muſik her kommen Verwandtſchaftsgefühle zu dieſer va⸗
gierenden, ſymboliſchen, zerebral-polyphonen Kunſt, Buſoni hat Ahnungen
kommender Möglichkeiten. Die Froſchteichſzene in feiner Oper „Brautwahl“,
der Hoffmannesken Oper, iſt auf dieſem Felde: freieſter, maleriſcher Klang
muſikaliſcher Vibrationen. Unter den neueren deutſchen Malern findet er
eher in München Parallelen, als hier im Norden. Zwei Gruppen kann man
unterſcheiden: die Dresden-Berliner Gruppe, ohne viel literariſche und
muſikaliſche Berührung, die Vereinigung „Die Brücke“, Teile der „Neuen
Sezeſſion“ — unter ihnen, die nichts wollen als ihre urſprünglichen maleri—
ſchen Inſtinkte ungebrochen und unbelaſtet in ideale Regionen aufwachſen
laſſen, iſt Pechſtein ſicherlich die ſtärkſte Kraft, beſeelt vom ernſten Willen,
Kind zu ſein, vorausſetzungslos Farbe zu geben, die Welt zu packen, die
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Träume zu ſtiliſieren. Der Mut van Goghs wird in ihm weiter treiben.
Die Münchener Gruppe iſt viel bewußter, intellektueller und äſthetiſcher.
Kandinsky, ihr Führer, fühlt nach Literatur und Muſik, in ſeiner Broſchüre
über „das Geiſtige in der Kunſt“ (bei Piper & Co.) taſtet er über Maeter⸗
linck, Debuſſy, die neuen Ruſſen, Arnold Schönberg und zurück zu
Wagner. Das Farbenhören klingt durch alle Wünſche. In einer Broſchüre
verſchiedener Autoren über Schönberg (im ſelben Verlag) ſchreibt er über
deſſen Bilder. Die Zuſammenhänge fühlt man, ohne ſie aufdecken zu
wollen. Überall iſt ein Wille zur letzten Vorſtellungsfreiheit und wieder eine
Sehnſucht nach dem Geſetz: ein Widerſpiel der anarchiſtiſchen Bewegung
in der Kunſt. Der Maler braucht kein Wort ſo oft als: der innere Klang.
Matiſſe hatte den farblichen inneren Klang, Picaſſo den formellen, der letzte
geiſtige innere Klang, die innere Notwendigkeit, wird die Zukunft ſein. (Sie
war es immer.) Kandinsky konſtruiert Farbtabellen, die von einer ſchreck⸗
lichen Syſtematik ſind: er braucht das Geſetz gegen dieſe Anarchie, er
braucht gegen die Vergeiſtigung des Zwecks die Verzweckung des Geiſtigen.
Zurzeit erſcheint in demſelben Verlage eine große Publikation verſchiedenſter
Maler, Muſiker und Schriftſteller, übrigens mit ſehr ſchönen Reproduktionen,
die ein Dokument der ganzen Bewegung wird, viel monumentaler als fie wirk⸗
lich iſt. Es heißt der „blaue Reiter“ — Mut, Symbolik, Antirealität find
in dem Worte. Schönberg ſchreibt da über Texte: der Text ſolle in der Muſik
nicht abgemalt ſein, er hat deklamatoriſch keinen Zwang. Über Scriabine,
den muſikaliſchen Revolutionär der Jungruſſen, findet ſich eine größere
Studie, die die Ganztonſkala, die Quartenharmonien, die Koloraudition
ſeiner Werke behandelt. Andere Muſiker ſchreiben über die Zukunft der
Vierteltöne, die gänzliche Freiheit der neuen Tonphantaſie — Buſoni dürfte
hier mitarbeiten. Ethnologiſche Liebhabereien gehen durch, und die Liebe zur
Kinderkunſt: alle Stützpunkte der Primitivität. Primitivität, Auflöſung,
Freiheit, Stil, alles wirbelt untereinander, wie in einem futuriſtiſchen Bild.
Der beweglichſte Kopf iſt Kandinsky, aber ſeine Malereien ſind Embryos
ſeines Geiſtes: Kompoſitionen in klingenden Farben, kaum noch gegenſtänd⸗
lich, die ich für die Zerſtörung eines Malers durch den Geiſt halte, der ſeine
Entbindung nicht erwarten kann. Alles, auch alles Gegenſtändliche,
klingt ihm als Form. Er haßt die Uniform, die unſere konventionelle
Malerei zeigt. Der perſönliche Geiſt hat ſie zu vernichten. Jedes Objekt
hat neben ſeinem determinierten Daſein einen formalen Klang, den nach⸗
zuſchaffen, wie wir ihn fühlen, Sinn unſrer Kunſt iſt. Symboliſche Um⸗
ſchaltungen ſpielen dabei in feine Aſthetik mythologiſch hinein. Der weiße
Strahl iſt das Gute, die ſchwarze Hand das Negative. Hier einen ſeiner
Sätze: „Das Verwandeln des neuen Wertes (der Frucht der Freiheit) in
eine verſteinerte Form (Mauer gegen Freiheit) iſt das Werk der ſchwarzen
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Hand.“ Wie dieſer Satz, ſo ſind die antihiſtoriſchen Anſchauungen und
die antirealen Bilder. Zuletzt veröffentlicht Kandinsky eine Art Pantomime
in ſeinem Sinne „Der gelbe Klang“, aus Muſik, Körperbewegung und
Farbe ſich dramatiſch entwickelnd. Abnlches iſt oft geſtammelt worden.
Ich will nicht ungerecht ſein. Was in unſeren Tagen ſich wieder ſtärker
regen will, alles Antimaterielle, Religiöſe, Metaphyſiſche, geiſtig Souveräne,
was in Werken der neuen Philoſophen ſpricht, der neuen Naturforſcher,
der neuen Dichter und der neuen Muſiker, die ungeheure Reaktion gegen die
Herrſchaft des Objekts und der Mechanik, alles das klingt in dieſen Be—
ſtrebungen an, durchleuchtet ſie, wenn man ſie liebevoll anſchaut, beflügelt ſie,
wenn man ihnen glaubt. Aber wenn ſie aus Beſtrebungen Taten werden
wollen, müſſen ſie zunächſt das Gleichgewicht zwiſchen Intellekt und Willen,
Anarchie und Stil finden und dann doch ſich wieder zu der alten großen
Löſung bekennen: dem Genie des Schöpfers. Wie es bei Hodler eintraf. Lachen
und Zweifeln hört dann von ſelbſt auf, auch aller Schwindel. Solange nun
katechiſiert, geſchrien und diskutiert wird, untergraben wir den Glauben.
Chronik: Aus Junius Tagebuch
as große Faktum, an dem ſich in karger Zeit alle deutſchen Herzen
wärmen, iſt die Überſiedlung Marſchalls von Bieberſtein aus Kon—
ſtantinopel nach London.
Man hatte bisher geglaubt, daß der erſte und entſcheidende Schritt zur
Verſöhnung zwiſchen England und Deutſchland die Kontingentierung der
Flottenbeſtände wäre; das war (und iſt) klipp und klar die engliſche For—
derung, die ernſte Preſſe variiert ſeit Jahren dieſes Thema, und die Miniſter
Asquith, Churchill und Lloyd George bekräftigen ſie vor Parlament und öffent—
licher Meinung, mit allem Nachdruck ihrer autoritativen Stellung. Doch
man rüſtet weiter. In England auf der Bafis eines gefunden demokratiſchen,
den Druck der imperialen Laſten nach oben verlegenden Steuerſyſtems; in
Deutſchland nach Bethmanns erkünſtelter Methode, die der verantwortliche
Reichsfinanzminiſter wirr und dilettantiſch findet, und die ihn aus dem
Amte treiben ..
Der erſte Schritt zur Entſpannnung iſt alſo nicht die Kontingentierung
der Flotten, ſondern die Entſendung Marſchalls nach London; eine Perſon
ſtatt einer Sache. Birgt er Zauberkräfte in ſeinem Torniſter? Von ſämt—
lichen Schmöcken der deutſchen Zunge wird er als Heilbringer beweihräuchert.
Es iſt beluftigend zu ſehen, wie die ehemalige Bismarckpreſſe dieſem „Orient—
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* * > a RK 2
diplomaten“ heute Vorſchußlorbeeren ſtreut. Nach des Meiſters Hohnwort
hat ſie ihn als Herberts Nachfolger im Auswärtigen Amt den Staats⸗
anwalt“ genannt, fie hat ihn geläſtert, weil er Caprivi den Draht nach Ruß⸗
land durchſchneiden half, fie hat fein ſtarkes Selbſtbewußtſein belächelt,
feine ungewöhnliche Beredſamkeit als Gabe eines genieloſen Schwätzers zu
entlarven geſucht („die Moltkes der Geſchichte ſind Schweiger“) und im
Tauſchprozeß, als der Miniſter vor den Polizeiſpitzelintrigen der Bismarck⸗
fronde ſich in die Offentlichkeit flüchtete, ihn ſchnöde im Stich gelaſſen.
Heute ſtreut ſie dem Außenſeiter Lorbeeren — dieſem einzigen deutſchen Diplo⸗
maten, dem ſie zutraut, ein Miſſion erfolgreich zu erfüllen. (Das einzige
diplomatiſche Talent größeren Stiles unter fünfundſechzig Millionen Deut⸗
ſcher. Geſegnet ſei das Ausleſeverfahren.)
Nun aber wird an den erfolgreichen Diplomaten eine Aufgabe geſtellt, die
nach einem Staatsmann von bismärckiſchem Augenmaß verlangt. In Kon⸗
ſtantinopel, in der mit Eunuchengeiſt geſchwängerten Atmoſphäre, im Ver⸗
kehr mit ſchlauen Orientalen und im Wetteifer mit politiſch viel ſtärker als
Deutſchland intereſſierten Mächten hat ſich Marſchall als tüchtigen Ge⸗
ſchäfts mann und ſicheren Menſchenkenner bewährt: sec, dru, eri; fo nämlich
hat ſich Stendhal den Händlerdiplomaten der Zukunft vorgeſtellt. Die Aus⸗
einanderſetzung mit England aber iſt eine Auseinanderſetzung über die letzten
Lebensfragen von zwei großen und führenden Hulturnationen: ſie iſt grundſätzlich
zu entſcheiden. Neben und miteinander oder gegeneinander: es gibt kein
Drittes mehr. Das ganze engliſche Imperium mitſamt den rieſenhaft
wachſenden überſeeiſchen Dominions organifieren den Widerſtand auf Leben
und Tod; und man fühlt, wie die Periode des Sichzutoderüſtens auf Koſten
aller höheren Entwicklungsbedürfniſſe ihrem Ende naht. Gott ſei Dank.
Der Zuſammenprall mag durch guten und erleuchteten Willen nicht ver⸗
hindert werden können, er mag auf Urſachen beruhen, ſo elementar wie das
blinde Wüten von Naturgewalten; aber man ſoll ſich nicht, wie bisher, ſagen
müſſen, daß nicht genug guter und nicht genug erleuchteter Wille am Werke
war. Hier hat Marſchall ſeine Chance. Verderben wir ſie ihm nicht von
vornherein; preiſen wir die bloße Ernennung des auf dieſem Gebiete un-
bewieſenen Mannes nicht, mit ſchmockhafter Macbetherinnerung, als happy
prologue to the swelling act ot an imperial theme.
Och zweifle, ob die Sturmſzenen im preußiſchen Abgeordnetenhaus der
as Sozialdemokratie genutzt haben. Sie machten nicht den Eindruck
des ſachlich Notwendigen, ſie entzündeten ſich nicht an einem brutalen Ver⸗
gewaltigungsakt der Mehrheit, nicht an einer ſo vitalen Frage, daß über⸗
ſtrömende politiſche Leidenſchaft Worte, die wie vergiftete Pfeile auf den
verhaßten Gegner niederpraſſeln, erklärlich und entſchuldbar machen. Nichts
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als die ſimple Unbotmäßigkeit eines Sozialdemokraten gegen den Präfidenten
gab den Anſtoß; eines Mannes, dem es bisher nicht befchieden war, feinem
politiſchen Ideal anders als durch die Überzeugungskraft ſeiner Lungen zu
dienen. Überhaupt ſind die ſechs Sozialiſten in der preußiſchen Stände—
kammer keine Ausleſe; ſie geſtikulieren zum Fenſter hinaus und ihres Wort—
führers Liebknecht fade Geſchwätzigkeit empfinden die feineren und geiſt—
begabten Genoſſen mehr als Laſt denn als Stüge .. Anders ſteht es um
die Stürme im Reichstag. Erſt geſtern wurde den Elſaß⸗Lothringern die
Verfaſſung eines ſelbſtändigen Bundesſtaates gegeben; und dieſes, Geſchenk—
war das wohl überlegte Werk von Kaiſer, Bundesrat und Reichstag. Es
war gedacht als Mittel zur Verſöhnung, zur Beſiegung von Franzöfelei
und Separatismus; und es war groß gedacht. Man mußte darauf gefaßt
fein, daß in dem erſten Taumel des Selbſtändigkeitsrauſches Taktſoſigkeiten
würden begangen werden; und fie ſind begangen worden. Wenn morgen Irland,
das lange mißhandelte, ausgebeutete, durch Mißhandlung und Ausbeutung
entvölkerte und degradierte Irland Homerule erhält, werden die Engländer
über etwaige Ungezogenheiten oder? Taktloſi igkeiten der katholiſchen Kelten nicht
ſofort ungeduldig oder gereizt ſein; und die werden nicht ausbleiben. Die
Gefahr nationaliſtiſcher Umtriebe an der franzöſiſchen Grenze mußte vorher
genau berechnet werden; ſie gleich hinterher für ſo groß zu erachten, daß man
mit Verfaſſungsänderung droht, iſt ein ſtarkes Stück unſtaatsmänniſcher
Blindheit .. Die Wunden, die ſeit dem Novemberpakt 1908 verharſcht
ſchienen, brechen langſam wieder auf. Es iſt tragiſch, daß derſelbe Mann,
der die Reichslande von Berlin und Preußen zu emanzipieren riet, um fie
reichsdeutſch zu machen: daß dieſer Mann berufen iſt, den Sturm zu be—
ſchwichtigen, den des Kaiſers zornige Worte gegen die unbotmäßigen Elſaß—
Lothringer hervorrief. Er dankt es der taktloſen und ungerechten Beſudelung
des preußiſchen Namens und der deutſchen Miſſion Preußens durch den
ſozialiſtiſchen Proteſtredner, wenn ihm ſein Rettungswerk diesmal noch gelang.
ie Nationalliberalen haben in Berlin ihren Parteitag gehabt; Alte,
Junge, Mittlere haben ſich feierlich zugeſchworen, daß ſie zueinander
gehören und daß ſie in der Negation — in der Ablehnung der Ultra—
montanen und der Sozialdemokraten — einig find. Wen geht das was an?
Sie tun nichts, um eine Atmoſphäre zu ſchaffen, in der die perſönliche Frei—
heit in weſteuropäiſcher Form gedeihen kann. Mit keiner ihrer Forderungen
weiſt der Liberalismus dieſer Partei um eine halbe Elle über den Alltag
hinaus, mit keiner weiß ſie eine Sehnſucht zu erfüllen; nur durch die Furcht
vor der Maſſe, durch die Furcht vor der Krone, durch die Furcht vor dem
Großkapital, durch die Furcht vor den Jeſuiten, den Polen, den Dänen ſucht
dieſe Partei ihren Willen zur Modernität zu dokumentieren. Vielleicht leidet
885
A
fie heute weniger an Tartüfferie als an Schwäche. Aber dann geht ſie uns
erſt recht nichts an.
u den ſtärkſten Säulen der bröckelnden proteſtantiſchen Ideologie gehört
3 die Jeſuitenfurcht. Das iſt der einzige Punkt, in dem ſich rechter und
linker Flügel, Orthodoxie und Liberalismus, Kirchengläubigkeit und in⸗
differente Freigeiſterei einig find oder einig ſcheinen: fo tief iſt die geſamte
deutſche Bildung, bis in ihre produktiven Spitzen hinauf, in die Vorſtellung
des ſtaatlich zu regulierenden Gewiſſens und des behördlich zu kontrollierenden
Weltanſchauungsbegriffs verſtrickt. Es wird niemanden überraſchen, daß
auf dieſem ungefährlichen Gebiet die Tartuffes der Freiheit, die National⸗
liberalen, es allen voran tun. Als Miniſterpräſident von Hertling, der
bayeriſche Zentrumsführer, von München aus den Verſuch machte, das
Ausnahmegeſetz gegen die Jeſuiten durch die allzeit gefügige Verwaltungs⸗
praxis zu umgehen, ſchlugen ſie zuerſt Alarm, um den proteſtantiſchen Sekten⸗
geiſt und die feigen Bildungsphiliſter zu Entrüſtungen hinzureißen. Dieſe
Bildungs partei par excellence ſpottet ihrer felbft und weiß nicht wie. Bis⸗
marck iſt nach Kanoſſa gegangen und hat ſpäter die Erfahrung gemacht,
daß der Nationalſinn des Zentrums eine kartellfähige Feſtigkeit beſitzt; und
alle ſchönen Apercüs über die therapeutiſche Behandlung der katholiſchen
Kirche in einem weltlichen Reich, über den ultramontanen Staat im
Staate, über das Machtſtreben der römiſchen Geiſtlichkeit, die über diocletia⸗
niſche Verfolgungen klage, wo fie nicht herrſche, können nachträglich den
kläglichen Mißerfolg einer Politik nicht verhüllen, die eine Kulturfrage mit
machtpolitiſchen oder beſſer: poliziſtiſchen Mitteln zu löſen unternahm. Es
gibt nur einen Weg, die Jeſuiten in einem modernen Staate mit konfeſſio⸗
nell gemiſchter Bevölkerung zu bekämpfen, das iſt: die Kirche vom Staate
zu trennen und gegen die Jeſuitenlehre einzuſchreiten, wann und wo fie nach-
weislich ſtaats⸗ und geſellſchafts feindlich wird. Das kann freilich nur ein Staat,
der grundſätzlich auf die Funktion verzichtet, das religiöſe Gewiſſen ſeiner
Bürger zu bevormunden, nicht einer, der auf die Katholiken feine „erhal—
tende“ Politik ſtützt, aber einen Teil ihrer Seelſorger, zum Schutz für den
wie es ſcheint ſuggeſtionsaemen Proteſtantismus, unter Ausnahmegeſetze ſtellt.
Sn einer heftig eifernden Polemik gegen Ludwig Bernhard, dem er die
5 Annahme der Berliner Profeffur gegen den Willen der Fakultät nicht
verzeihen kann, ruft Lujo Brentano aus: „Gewalt ohne innere Heilung
iſt das große Spezifikum aller politiſchen Stümper“. Ein wahres Wort;
aber wie ſo viele andere ähnlichen Klanges wird es in unſerer dick verhängten
Atmoſphäre des Mißtrauens und des kompakten Dünkels ungehört ver—
hallen. Die Aufgabe, den Lohnempfänger, den proletariſch verſchnürten
886
2
Arbeiter aus den Feſſeln ſeiner Sklaveninſtinkte zu befreien und ihn lang—
ſam zum Herrn über ſich und zum Induſtriebürger zu erziehen, wird als
ſittliche Forderung belächelt, als kathederſozialiſtiſche Utopie verhöhnt; Er—
ziehung zum Gehorſam iſt bequemer, als Erziehung zur Freiheit und zum
richtigen Gebrauch der Selbſtbeſtimmung. Es iſt Brentanos Ruhm, ſchon
in jungen Jahren, von ſeinen hiſtoriſch gewordenen „Arbeitergilden der
Gegenwart“ an, dieſem Ideal treu geblieben zu ſein und ſeinen optimiſtiſchen
Glauben an die Verſöhnbarkeit von Arbeit und Kapital vor den Anfech—
tungen der herabſtimmenden engliſchen Erfahrungen der letzten Jahre be—
wahrt zu haben. Ehre dieſem geift und temperamentvollen Manne, der in
unſerer kampferfüllten Kettenſchmiede den müden Aſthetizismus ſo manches
Kollegen als Zynismus verachtet, und der an den Klippen der Bureaukratie,
der Plutokratie, der Demokratie vorbei immer wieder den Weg ins Weite
und Freie ſucht. Ohne eine ſtarke Doſis handfeſten Optimismus’ iſt Politik
ein Banauſenintereſſe, ein Geſchäft oder die Angelegenheit ſubalterner
Köpfe. .. Aber in Sachen Ludwig Bernhards iſt Brentano leider in
den typiſchen Fehler deutſcher Gelehrter verfallen: er ſchiebt dem Gegner
niedrige Motive unter. Das durfte nicht ſein. Bernhard iſt, in einem
Vortrag vor rheiniſchen Induſtriellen, für das Unternehmertum einge-
treten. Iſt's nicht denkbar, die objektiv⸗ſozialen Funktionen des Unter⸗
nehmertums in Deutſchland ſehr ſtark zu empfinden, ohne durch Intereſſe
in ihre Zirkel gelockt oder durch ſnobiſtiſche Neigungen ihm zugeführt zu
ſein? Der junge Profeſſor iſt eines reichen Fabrikanten Sprößling und hat
den Segen der Initiative, der Dreſſur des Willens zu ſchneller Entſcheidung
und zum Auffpüren der Richtung der kleinſten Widerſtände aus der Nähe
beobachten können; die Atmoſphäre, in der er groß wurde, iſt mit geſchaft—
licher Aktivität geladen, mit dem Drange, inmitten von tauſenderlei Verluſt—
quellen Schmied feines Glücks zu fein. Und ringsumher ſah er Krippen—
ſpäher, Amterjäger, wohlmeinende aber unproduktive Bildung oder ängſtliche
Penſionsbefliſſenheit, die Maſſe der zu kleinbürgerlicher Behaglichkeit empor—
ſtrebenden Arbeiterſchaft, endlich, auf den Hochſchulen, Theoretiker, deren
Syſteme ſo oft Faſſaden mit blinden Fenſtern gleichen. Es iſt kein Verbrechen,
das Unternehmertum als konſtruktives Element bes Fortſchritts zu betrachten
und deſſen Wert einmal vom Standpunkt feiner Leiſtungen, ſtatt von dem
warmer ſozialer Gerechtigkeit her, zu wägen. Wenn der junge und zweifellos
begabte Mann, vom Glanze ſo vieler tüchiger Eigenſchaften geblendet, in den
Fehler verfällt, vor den Gefahren der ſcharfmacheriſchen Fabrikbarone und ihrer
Preſſe nicht genügend auf der Hut zu ſein, den Teil für das Ganze und den
Markt für das höchſte Gut zu nehmen: ſo ſoll man hoffen, daß die reifen—
den Jahre ihm die kapitaliſtiſche Befangenheit nehmen werde, aber den Anz
wurf der niedrigen Motive foll man den politiſchen Kloakenreinigern überlaſſen.
887
—
Anmerkungen
Neu⸗Berlin
E⸗ war ein Stück Chaos, aus Millionen
Kehlen atmend und doch ohne Lunge
und Herz, — Millionen Gelenke zugleich
bewegend und doch ohne Kopf und Hirn.
Die deutſche Reichshauptſtadt wuchs in
vier Jahrzehnten von einer zu vier Millionen
heran, ſchluckte den Boden von Dörfern
und Landkreiſen, das Leben von ganzen
Provinzen in ſich hinein und bildete aus
all vielen angehäuften Maſſen doch keine
neue Form. Die einzelnen Gliedmaßen
ſtolperten übereinander und waren ſich zur
Laft, wenn fie nicht gar feindlich überein⸗
ander herfielen und in eigenſüchtigem Weli⸗
ſtreit deim ungeſtalten Ganzen die notwen⸗
digſten Biſſen vom Munde riſſen. Nicht
“=
einmal einen Namen hatte das Ding, denn
kaum die Hälfte der deutſchen Reichshaupt⸗
ſtädter wohnte noch in der alten Stadt
Berlin. Aber während ſich Berliner, Char⸗
lottenburger, Schöneberger, Lichtenderger
Rummelsburger voll kommunalen Selbſt⸗
gefühls läſtige Konkurrenz machten, war
doch der Erforſcher ökonomiſchen und kul⸗
turellen Lebens keinen Augenblick im Zweifel,
daß das alles Glieder eines einzigen, gan;
unteilbaren Leibes ſeien, die derſelbe e
umlauf mit dem Blute der neudeutſche
Volkswirtſchaft ſpeiſt. Es war ein bild⸗
giſches Monſtrum. —
Seit dem 1. April 1912 iſt dieſer Zu⸗
ſtand nun — noch nicht beſeitigt, aber er⸗
ſchüttert. Das Chaos beginnt ſich zu klären.
Die kreiſende Maſſe hat eine Form erhalten,
die für einige der dringendſten Funktionen
Organe ſtellt, den „Zweckverband Groß⸗
Berlin“; und dies halbgeſtalte Lebendige
hat jetzt ſogar einen Namen: ſeit demſelben
4 —
888
1. April führen mit ein paar Ausnahmen
alle reichshaupiſtädtiſchen Wohnplätze das
Wort Berlin wenigstens als Zunamen.
Und das iſt immerhin ein Zeichen jener
Selbſterkenntnis, die der erſte Schritt zur
Beſſerung fein ſoll.
Das Heil freilich kann nicht vom Namen ; ® |
und auch nicht vom formalen Reglement
kommen. Es muß ein Geiſt da ſein, der
ſich den Körper baut. Im ganzen Statut
des neuen Zweckverbandes regiert das ſchöne
aber beängſtigend milde Wort „kann“; der
Verband kann“ große, einheitliche Verkehrs⸗
netze ſchaffen, er „kann den Bebauungsplan
des ganzen wahren Gemeinweſens organi⸗
ſieren, er „kann“ durch ſelbſtändige Er⸗
werbung der Geſamtheit ſeiner Menſchen
koſtbace Freiflächen ſichern — er „kann“,
aber er muß nicht. Wird er wollen? Wird ei
digje Verbandsverſammlung aus Vertretern
er bisher ſcheinſelbſtſtändigen und wider⸗
natürlich eiferſüchtigen Berliner Monaden 1 |
seroilt fein, dem großen einheitlichen ſozialen
Lebeweſen Berlin wahrhaft ans Licht u Ir
elf ren? |
Ein „Ausſchuß für Groß⸗Berlin“ hat
ſich als eine Art freiwilligen Gewiſſensbei⸗
rats gebildet; Miniſter a. D. und amtierende
Bürgermeiſter, liberale Politikerund Sozial⸗
demokraten, Architekten und Nationalbko⸗
nomen von Ruf gehören ihm an. Ihr frei⸗
williges Amt iſt es, den Geiſt wachzurufen,
Sr
der mit den heut gebotenen Mitteln den 41
Körper bauen fol. Auf daß das „Kann“
des Zweckverbandes vor der Seele der Be⸗
vollmächtigten als ein, Soll“ beſtehe. Man
begegnet ihrem Kampf mit all „der gerech⸗
ten Mäßigung und überlegenen Weisheit“,
die für Leute, die keine Bewegung, kein
Leben, ſondern nur die Erhaltung ihrer
herrlich weit gediehenen Güter wollen, fo
leicht, ſo ſpottbillig zu haben ſind. Man
hält ihrem leidenſchaftlichen Appell trium⸗
phierend und entrüſtet vor, daß es nicht
600009, ſondern ,nur“ 300 000 Menfchen
find, die in Groß⸗Berlia Wohnungen inne
haben, in denen jedes Zimmer mit fünf
und mehr Perſonen beſetzt iſt; und der
unfehlbar lebensfeindliche Inſtinkt der rech⸗
ten Reaktionäre wirft ihnen höhniſch ent⸗
gegen, daß man ja länaft ein viel einfacheres
Mittel gegen die Berliner Überoßlkerung
vorgeſchlagen habe als Baugeſetzund Boden⸗
reform, um die diefe Herren ſich benen:
Man braucht ja nur die Freizügigkeit ein
bißchen aufzuheben. (Und die Zahnſchmerzen
kouriert Dr. Eiſenbart durch einen wohl⸗
gezielten Piſtolenſchuß ganz unfehlbar.) —
Von alledem möge ſich der Ausſchuß, an
deſſen Spitze Dernburg und Naumann,
Mutheſius und Südekum, Profeſſor Franke
und Oberbürgermeiſter Dominicus ſtehen,
nicht einſchüchtern laſſen.“ Denn er iſt viel⸗
leicht doch das wichtigſte und wertvollſte
Stück in dieſem ganzen Regencrations⸗
prozeß, der ein neues Berlin ſchaffen will.
Es iſt für das ganze Leben des deutfchen
Volkes wahrhaftig nicht gleichgültig, ob die
große Stadt, die ſeine zentralſten Organe
beherbergt ein klar und geſund geführter
Organismus wird oder ein Haufen dumpfig
geſchichteter Lebensmaſſen bleibt. Das
Bürgertum aber, das hier ſo Bedeutendes
ſchaffen kann, wenn es nur will, ſteht vor
einer fo großen Aufgabe freier Selbſtver⸗
waltung wie ſie ihm ſeit langem nicht
geboten iſt, und ſobald nicht wieder geboten
werden wird. Hier wird es zeigen, ob es
Selbſtgefühl und ſoziales Gewiſſen genug
beſitzt, um furchtlos nach allen Seiten eine
Otrganiſationsaufgabe großen Stils zu be⸗
wältigen — oder ob es weiter mancheſter—
»Eine Schrift des Propogandaausſchuſſes,
den Bericht über die konſtituierende Sitzung
und die erſte Volksverſammlung enthal—
tend, erſchien bei Vita, Deutſches Ver⸗
lagshaus, Charlottenburg. N
57
liches Behagen mit windſchiefer Loyalität
verbrämen und politiſch unreif bleiben wird.
Ob die Männer, die den Geiſt wachrufen
wollen, der allein ein wahrhaftes Neu-Berlin
erbauen kann, Gehör finden — es iſt nichts
Kleines, was ſich mit dieſer Frage ent—
ſcheiden wird.
Julius Bab
Billige Pädagogik
n jedem Semeſterſchluß und an jedem
Semeſteranfang wird die deutſche
Menſchheit durch Schülerſelbſtmorde ge⸗
ſchreckt und die uferloſe pädagogiſche Kritik,
die kaum ein paar Monate geruht hatte, gerät
wieder in Schwung. Zu den vielen Land⸗
plagen unſerer tauſendfältigen Zeit gehört
auch dieſes Bewußtſein der Kompetenz in
allen Fragen der allgemeinen Bildung, Er⸗
ziehung, Schulung; jeder Mißratene, der
it der Sprache eine ungehemumt produk⸗
tive Baſtardehe eingegangen iſt und einen
der vielen Schleichwege zur Preſſe un⸗
verſtopft findet, brüllt ſeine Meinung ins
Weite hinaus; und jeder Weichling, der
organiſch unfähig iſt zu begreifen, daß
Individualität faſt immer mit dem Willen
zur Zucht und zur Überwindung von
Schwierigkeiten identiſch iſt, findet Anlaß,
den Unverſtand der Lehrer zu begackern
und das herrſchende Erziehungsſyſtem aufs
Schuldkonto einer blöden Pädagogik zu
ſetzen. Wann wird das Publikum den Mut
finden, ſich dieſe ebenſo billige wie nutz⸗
loſe Kritik zu verbitten? Es iſt unbillig,
unter den akademiſch gebildeten Lehrern
mehr als tüchtige Spezialiſten zu ſuchen;
und man ſollte dankbar fein, verhältnis:
mäßig oft wohlwollende und idealiſtiſch
gerichtete Menſchen zu finden, die mit
Begeiſterung dem Phantom nachjagen, in
dem Maſſenbetrieb zu individualiſieren.
Die Gefahren des Syſtems liegen heute
längſt nicht mehr nach der Seite über:
triebener Strenge, ſondern in der Richtung
einer charakterloſen Schwäche, die zwiſchen
*
8 89
Begabung und Unbegabung kaum noch
differenziert. Die Maßſtäbe find auf
lächerlich geringe Durchſchnittsleiſtungen
zugeſtutzt, wodurch am beſten der wüſte
Enzyklopädismus der miteinander konkur⸗
rierenden Fächer ad absurdum geführt und
(hoffentlich) bald zum Abſchaffen reif ſein
wird: das iſt die große, zeitgemäße Reform,
der alle Erfahrenen und Erkennenden zu⸗
ſtreben. Aber dieſer Enzyklopädismus,
mit ſeiner Überfütterung durch disparateſte
Vielfältigkeit, mit ſeinem Zerfaſern des
jugendlichen Intereſſes durch oft wider
Luſt und Neigung aufgedrängte Wiſſens⸗
elemente, er iſt durch die Zeitſtrömung in
den Schulbetrieb eingeführt worden, der
kein Zentrum, keine Seele mehr hat. Die
moderne Schule iſt zur Karikatur dieſes
Enzyklopädismus entartet, unſere Jugend
leidet, weil die Zeit noch kein einheitliches
Bildungsideal beſitzt. Soweit es unter
dem Druck dieſer grundfalfchen und ver⸗
hängnisvollen Richtung möglich iſt, ſind,
was Methodik und Behandlung der Schüler
betrifft, Fortſchritte zu verzeichnen. Die
Methoden der Mitteilung find, gegen
früher, weſentlich verfeinert, beſonders in
den Realien; daß der Lehrbeamte in
den Fächern oft enttäuſchen muß, in
welchen Perſönlichkeit die Vorausſetzung
eines erfolgreichen Unterrichtes iſt, alſo im
Deutſchen, in Geſchichte, Religion und
Philoſophie, liegt auf der Hand; darum
ſchlagen kühne Neuerer mit Recht vor,
dieſen eigentlichen Bildungsunterricht in
den oberſten Gymnaſialklaſſen einzuſchrän⸗
ken, wenn kein Mittel gefunden wird, die
berufenen Lehrer dieſer Fächer von den un⸗
berufenen beſſer als bisher zu ſondern. Über⸗
haupt ſtehen ja die wichtigſten, einſchnei⸗
denſten Reformen noch bevor, ein wühlender
Eifer läßt keine Überlieferung ungeprüft,
die Pädagogik ift im Fluß und von faft
hemmungsloſer Empfänglichkeit für jeden
nur irgend erörterungswerten Vorſchlag;
und dahinter ſtehen das Leben und die Le:
benspraxis, die die Schule in die moderne
Atmofphäre einbeziehen und der alters ſchwa⸗
890
chen Weisheit verkalkter Scholarchen zu
Leibe gehen will. Als erſte Etappe auf die⸗
ſem Wege ſind die Kompenſationen bei den
Prüfungen zu betrachten, dadurch wurden
Ventile für Individualitäten geöffnet; aber
freilich ſehr oft macht das Spiel mit ihnen
die Reifeprüfung bereits zur Farce. Die
Behörden zittern, die Lehrer zittern, jeder
Schein von Härte erweckt hinterher hypo⸗
chondriſche Bedenken und führt zu hochnot⸗
peinlichen Unterſuchungen: das gleiche
Recht für alle iſt hier, wo doch nach Ta⸗
lenten und Willens begabungen geſiebt und
ſelektiv verfahren werden ſollte, ein ſchweres
Unrecht für viele tüchtige geworden. Die
werden, ſtatt doppeltes Futter zu bekommen,
mit kümmerlichen Viertelrationen geſpeiſt.
Und trotzdem die Selbſtmorde? Ja,
trotzdem. Und begreiflicherweiſe. Die
höhere Bildungsanſtalt iſt überflutet, immer
ungeſiebter ſtrömen die Maſſen ihr zu:
ſie wird außerdem zum Behälter für jede
Art Abnormität und, Reizſamkeit'; für die
Neuraſtheniker, die Cerebraſtheniker, die
Pathologiſchen, die geiſtig oder ſeeliſch
Über: oder Minderwertigen, für die Lang; ä
ſamen und ſchwer ſich Erſchließenden, für
die durch Unterernährung Zurückgehaltenen ;
oder die durch Überfütterung mit groß⸗
ſtädtiſcher Halbkultur zu früh Geweckten .
Sie gehören ſämtlich nicht aufs Gymna⸗ 9 ö
ſium: aber ſie ſind da und müſſen mit⸗
geſchleppt werden. So ift die ‚höhere‘
Lehranſtalt längſt, nach den Wünſchen
der Demokratie mit Pöbelherrſchaft Ver⸗
wechſelnden, zur Drillanftalt für den
Maſſendurchſchnitt entartet. Es bleibt ihm
— wenn von den Fällen individueller
Lehrerverſchuldung abgeſehen wird, die
nicht verallgemeinert werden dürfen —
nur noch ein Weg gangbar, um Schüler⸗
ſelbſtmorde zu verhüten: der, grundſätzlich
die Schule vom Unterricht zu trennen.
Wir warten auf den Vorſchlag; er kann
nicht ausbleiben.
S. Saenger
u" a ni
UDF
Conradi
1 Conradis geſammelte Werke
werden von Paul Sſymanckund Guſtav
Werner Peters in fünf umfangreichen
Bänden bei Georg Müller in München
herausgegeben. Was bei dieſer Aufgabe
an Arbeitskraft, Hingebung, an willen:
ſchaftlichem Können und Fleiß aufzubieten
war, iſt hier in hohem Maße zur Tat ges
worden, aber es wird ſich dieſes Werk um
ſo mehr als ein tragiſches betrachten laſſen,
je geringer das gewertet werden muß, dem
gedient werden ſollte. In den bisher er⸗
ſchienenen drei Bänden find Conradis Ge:
dichte, Novellen und Eſſays enthalten, ſeine
Romane alſo noch zu erwarten, dennoch
wiegt alles da Verſammelte kaum gegen
die vortreffliche Beſchreibung ſeines Lebens,
die Dr. Paul Sſymanck verfaßt hat und
um deretwillen allein der erſte Band leſens⸗
wert iſt. Dieſes Ergebnis iſt aber auch das
entſcheidende: der Dichter Conradi erweiſt
ſich als eine kaum noch irgendwie bedeutungs⸗
volle, der Menſch hingegen als eine immer⸗
hin intereſſante, wohl betrachtungswürdige,
in ſeinen Hauptzügen für die Zeit, die er
mitlebte, geradezu typiſche Erſcheinung.
In der Einleitung zum dritten Bande
bemerkt Guſtav Werner Peters: „Es iſt
ſchwer, von Conradi dem Künſtler zu
ſprechen; man darf es, wenn man ihn liebt.
Doch dann, wenn man nur fernſtehender
Menſch iſt, ſollte ſich auf alle Fälle etwas
anderes ergeben: gerade das Traurigſte und
Kümmerlichſte, was uns von Conradi über⸗
liefert, das iſt ein Kunſtwerk, ſofern wir
eine Tragödie generell charakteriſierend
„Kunſtwerk“ nennen wollen, — ſein Leben.
Man ſtelle ſich zunächſt ſeine literariſche
Sendung vor: bei dieſen genialen Anlagen
verdammt zu ſein, als Vorkämpfer einer
neuen Generation ſich in die Breſche zu
werfen — ſich zerſtückeln zu laſſen. Und
dann feine Tage ſelbſt, gehetzt von Krank—
heit und Geldnot — Jahrzehnte hindurch
immer das Gleiche.“ Dieſes zugegeben,
wird man doch wohl zögern, das Los
Conradis an ſich ein tragiſches zu nennen.
So wie es hier geſchildert iſt, zeigt es
die allgemeinen Züge eines unabhängigen
Künſtlertums. Wenn man es etwa mit dem
Baudelaires vergleicht, deſſen Weſen und
Dichten dem Conradis auch ſonſt verwandt
war, wird man es ſchärfer erkennen als
das eines nur ſcheinbar ſchrankenloſen,
innerlich unſicheren und dürftigen, mit großen
Plänen glaubenslos und phraſenhaft agie⸗
renden Menſchen. Was bei Baudelaire
Tragik iſt: der Untergang trotz ſtärkſter und
reichſter Gaben, wirkt bei Conradi kaum
noch als Trauer über den Tod. Als er
ſtirbt, iſt es eben ſein Ende; man hatte
nichts zu beklagen, weil er nichts beſaß.
Sein Schickſal war die revolutionäre Sen⸗
dung, wobei ihm aber keineswegs die Fuhrer⸗
ſchaft zufiel; nicht in der Lyrik noch in der
Kritik, ganz zu geſchweigen von ſeiner
erzählenden Proſa. Weder die Sprache
noch ſeine Ideen ſcheint er beherrſcht zu
haben, wofür ihn die Haſt und Pflicht der
Arbeit nicht zu entſchuldigen vermag. Seine
mit Vorliebe gebrauchten rhetoriſchen Frage⸗
wendungen zeigen an, wo er ſich unklar
fühlte, Lyrismen erſetzten ihm Gedanken
und Wiſſenſchaft. Den Verdienſten der
Brüder Hart, Bleibtreus, Holz' und
Schlafs hat er nichts an die Seite zu
ſetzen; daß er für Doſtojewsky, Flaubert,
Zola eintritt, iſt nicht fein alleiniger Ruhm,
wenngleich es Ruhm genug bleibt, an dieſer
Bewegung junger Literaten Anteil genom:
men zu haben, deren Feuer, Leidenſchaft—
lichkeit und Kampfesluſt uns Heutige wohl
mit Sehnſucht erfüllen kann. In der Lyrik
allein kommt Conradi Bedeutung zu, und
ob auch keinem einzigen ſeiner Gedichte
ſchlechthin Vollkommenheit zugeſprochen
werden kann, ſo iſt hier doch eine rhyth—
miſche Gewalt, eine flammenhafte Urkraft,
eine Unmittelbarkeit des Herzens und der
Sinne (was freilich noch nicht mit Wahr—
haftigkeit gleichbedeutend ſein muß), daß
ſchon hiedurch eine ſtarke Wirkung und ein
immerhin beträchtlicher lyriſcher Wert er—
zielt iſt. Wie die meiſten revolutionär ſich
891
1
anmeldenden Dichter, ift auch Conradi im
Grunde konſervativ; ſeine Rebellion iſt
eine äußerliche. Ein ſcharfer kritiſcher Blick
wird ſeine „Lieder eines Sünders“ bald
durchſchaut und erkannt haben, daß ihre
Modernität nur in einer größeren Skrupel⸗
loſigkeit beſteht, daß ihr feelifcher Gehalt
von der älteren, ſo befehdeten Lyrik, etwa
Greifs oder Heyſes, ihr künſtleriſcher
vollends von der des verhaßten Geibel
mühelos übertroffen wird.
Dennoch ſoll dieſem Dichter ſeine Be⸗
deutung nicht aberkannt werden, denn in
ihm fand feine Zeit in ihrer Zerriſſenheit,
ihrer verworrenen Idealität, ihrer Sehnſucht
nach Erneuerung, ihrem Drang nach großen
Forderungen, deutlichſten Ausdruck. Con⸗
radi muß das ſelbſt dunkel gefühlt haben;
die Gegenſätze feiner Epoche „in ihrer ganzen
tragiſchen Wucht und Fülle, in ihren herbſten
Außerungsmilteln zu empfinden“, rühmt
er von ſich als beſondere Kraft. Die letzten
Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts
waren denn auch eine Zeit heftigſter, kriſen⸗
reichſter Umbildungen, deren Prozeß in
feiner Gegenwart gar nicht begriffen wurde.
Als die Forderung nach der „Umwertung
aller Werte“ erhoben und formuliert war,
ſtand ſie bereits mitten in ihrer Erfüllung,
vollzog ſich wie alles Werdende im Un⸗
merklichen. Es war vielleicht nichts Ge⸗
ringeres als eine Umwandlung der menſch⸗
lichen Seele überhaupt; nie war die Kluft
zeoifchen zwei Generationen breiter, auf
allen Gebieten des Wiſſens und Gefühls
ſtürzten die Dominanten zuſammen. Doch
überall faſt — vor allem in der Ethik und
Sozialphiloſophie, der Muſik und den
bildenden Künſten — ſtanden ſchon neue
da. In Frankreich war Lyrik, in Rußland
Epik, das Drama im Norden geſchaffen
worden z einzig inder deutſchen Dichtkunſt —
ſchien es — wollte Literatur nicht zum Werk
werden. Was von den lauteſten unter den
Vorkämpfern an Poſitivem geboten
wurde, hielt nicht ſtand. Es ergab ſich in
dieſen Naturen eine überwiegend deſtruktiv
gebildete Anlage, die jedoch verkannt wurde
892
und, zu lebendigem Wirken gedrängt,
ſcheitern mußte. Dies war nun auch Con⸗
radis Fall, der Schwärmer genug war,
ſich als ſchöpferiſches Ingenium zu ſehen
und an dem Zwieſpalt geringer Gaben mit
höchſten Zielen unterging. Sein Schickſal
vollzieht ſich in tyviſcher Form und mit
dem typiſchen Leiden der Unvermögenden;
ſchwankend zwiſchen maßlofer Bloßſtellung
und Überſchätzung des eigenen Ichs, erhebt
er ſich emmal zu enthuſiaſtiſchem Zu⸗
kunftsglauben, dann wieder ſinkt er zu
furchtbarem blasphemiſchen Peffimismus
über Gott und Welt hinab. Seine eigene
Zerriſſenheit wird ihm zum Symbol alles
Menſchlichen überhaupt, er nennt ſich einen
wahren Sohn der Zeit, deren Wunden er
am eigenen Leibe fühlte, „dem nichts den
Feuerfraß der Schmerzen kühlt, den die
Dämonen kreuz' gen mit dem Kuß“. Ver⸗ |
zweifelnd an ſich und allem, wird er fich
ſeiner Einzigkeit bewußt, fühlt, wie ſich
das Univerſum auf ihn allein bezieht und
gerät immer deutlicher in ein wohl auch
bewußtes Agieren vor ſich ſelbſt. Die
Schmerzlichkeit des vergeblichen Wandels,
die ihn nie tief genug ging, wird zur Pofe,
das Leiden ſelbſt ohne innere Größe, die =
Leidenſchaften — fo zügellos fie ſcheinen —
iin Grunde kleinlich und würdelos. Er
mußte freilich ſchwer um ſein Daſein
kampfen und er war ein feuriger und nicht
unedler Menſch. Aber die Lyrik, die aus
dieſen Erlebniſſen und Erkenntniſſen hervor
wuchs, hatte zu lautes Pathos, um ein⸗
zudringen, und den Urſprung aus dem
Herzen, den ſie immer wieder beteuert,
glaubt man ihr nicht. Als Zeichen ver⸗
gangener Zeit und Beiſpiel beſonderer
Artung mag ſie Wert, als menſchliches
Dokument Reiz behalten; — wo von der
großen Linie deutſcher Lyrik die Rede iſt,
ſcheidet ſie aus und damit iſt ihr Geſchick
beſiegelt.
Im übrigen beſtehen noch heute die
Worte zu Recht, mit denen eine gleichzeitige
Kritik der „Lieder eines Sünders“ in
der „Allgemeinen deutſchen Univerſitäts⸗
7
5
1
EEE
zeitung“ begann: daß „über eine Orginalität
nicht zu rechten“ ſei; „ſie mag uns ſym⸗
pathiſch oder antipathiſch ſein, gleichviel,
fie muß hingenommen werden“. So wird
denn auch dies Buch weder angenommen
noch abgelehnt, ſondern nur das Dichtertum
feines Verfaſſers feſtgeſtellt und feiner Ent:
wicklung hoffnungsvoll entgegengeſehen.
Conradi ahnte nicht, daß der ungeläufige
Name, mit dem dieſe Zeilen gezeichnet
waren, in kurzer Zeit groß erſtrahlen;
daß dieſer junge unbeach tete Menſch es
fein ſollte, in dem ſich die Zeit ſchöpfetiſch
manifeſtierte: es war Gerhart Hauptmann.
Felix Braun
Aucaſſin et Nicolette
Der Verlag Rowohlt, der feine Polh⸗
glotte⸗Tendenzen ſchon durch die edlen
Ausgaben in der Urſprache von Shake⸗
ſpeare⸗Sonetten, den „Vers“ Berlaines,
der Manon Lescaut des Abbé Prevoſt er⸗
wieſen, bringt jetzt eine Veröffentlichung
delikateſter Bibliophilie, den echten alt—
franzöſiſchen Text des leid- und liebesvollen
8 und ſchalkhaft herzlichen Romans von den
beiden Königskindern, die in Freude und
Seligkeit doch noch zuſammenkommen,
Aucaſſin und Nicolette.“
Ahnlich, wie bei den rührſamen Er⸗
zählungen auf Fliegenden Blättern dem
Proſabericht die Variation in Verſen an-
gehängt wird, zur Laute zu ſingen, ſo geht
auch dieſe Geſchichte in doppelter Sputch-
weiſe. Die Berichtform wechſelt mit
Trochäenzeilen, in Noten geſetzt. Sie wie—
derholen manchmal paralleliſierend den
Inhalt eines Kapitels, häufiger aber geben
ſie gleichſam muſikaliſch-ſentimentaliſche
Begleitung und Zwiſchenſpiel, der Art,
daß die ungebundene Rede die Ereigniſſe
vermeldet, und die Verſe dazu den lyriſchen
Gefühlston geben. Und iſt dies ver—
*Erſchienen in 240 numerierten Erem:
plaren.
klungen, dann heißt es jedesmal, gerad
als ob ein Herold den neuen Aktus ver—
kündet: „Or dictent et content et fablent“.
Nun wird geſprochen, berichtet, erzählt,
und das Fabelgarn ſpinnt ſich weiter.
Dieſe Dichtung des dreizehnten Jahr—
hunderts berührt uns tief, mit mehr als
archaiſchem Reiz. Die blühendſten Lieb:
lichkeiten duften darin, und eine ver:
zehrende Minne voll Triſtan⸗Gewalt regt
ſtarke ſchickſalsvolle Flügel voll Untergangs⸗
trotz. Als Aucaſſin mit der Hölle gedroht
wird, wenn er Nicolette, die Sklavin, die
erſt ſpäter als karthagiſche Königstochter
erkannt wird, nehmen will, da fehäumt
fein leidenſchaftlich edles Blut in ſchoner
Vermeſſenheit: „en paradis quai je ä
faire?“ In den Himmel gehen nur die
Prieſter und Krüppel, die Elenden und
Siechen in Lappen, Lumpen und zerriſſenen
Kutten ein. Er aber will lieber in die
Hölle zu den klugen Leuten, tapferen
Rittern, ſchönen Damen, Harfenſpielern
und Sängern und Königen dieſer Welt.
Hier ſpricht etwas von dem lachenden,
kreuzfeindlichen Heidentum, wie es voll
Pracht in Goethes Schwager Kronos pul-
ſiert, in der Vollmonds-Viſion der wilden
Jagd in Heines Atta Troll, in den Pas
rabeln d' Annunzios, denen der Dichter voll
überlegener Dämonie den Kopf ſo umge⸗
dreht, daß der reiche Mann im Höllen—
feuer noch den kümmerlichen armen La⸗
zarus verachtet, der nicht gelebt hat, wenn
er gleich jetzt in Abrahams Schoße ruht.
Und eine Szene ſchwebt in holder
ſchmerzensweher Dämmerung, und dabei
iſt nichts weichlich; ein Maͤeterlinck-Klima
webt darm, eine herbe Süße... wie
Nicolette aus ihrem Kerker flieht, wie ſie
ſich ſchürzt wegen des Taues, der ſchwer
in den Gräſern der Nacht hängt: fie geht
auf fchlanfen weißen Beinen und ihre
Brüſtlein — les mameletes — find ſtraff,
ſo daß ſie das Gewand heben — „aussi
con ce fuissent deux nois gauges—“ als
wären es zwei Nüſſe.
Sie wandelt auf den Gaſſen von Biau—
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„
* *
— hs
2
caire auf der Schattenſeite, da der Mond
hell ſcheint, und kommt zum Turm, in
dem ihr Freund gefangen. Der Turm
iſt mit Säulen beſtellt, und ſie duckt ſich
hinter einem Pfeiler nieder. Sie hüllt
ſich in den Mantel und ſchmiegt ihren
Kopf in die Spalte des Turmes und
hört, wie drinnen ihr Liebſter um ſie klagt.
Draußen aber ziehen die Wächter mit
Spießen und bloßen Degen vorbei und
ſchrecken ſie auf.
Von der Liebe wird geſprochen, von
der Liebe des Mannes und der Frau. Die
Liebe der Frau ſitzt in ihrem Auge oder
höchftens in der Knoſpe ihrer Bruſt (cateron
de sa mamele) oder in der Fußzehe, doch
die Liebe des Mannes ſitzt im Grund des
Herzens und kann von dort nicht ver⸗
gehen.
Nicolette aber liebt nicht ſchwächer als
der Mann. Ihrer beider Liebe iſt ſtark
wie der Tod und ſo erobern ſie das Leben,
und der unbekannte Sänger ſchließt, als
fie nach Irrfahrten vereinigt find, fein
Lied einfach und ſchön: „n'ey fai plus
dire“, „ich hab nichts mehr zu ſagen“,
In einem erleſenen Gewande kehrt
das Buch wieder. Der Text, von A.
Tournaux nach dem Manuſkript der
Bibliotheque nationale ediert ſtelſt ſich für
die Verſe in zierhaft ſpitzenfiligranfeinen
Lettern Plantinſcher Herkunft dar. Die
Proſa in caracteres flamandes. Joh.
Enfchede en Zonen zu Haarlem druckte es,
und der Pergamentband mit der ſchwei⸗
figen ſaftig ſchwarz in weichem Grund
gebetteten Aufſchrift iſt altmeiſterlich, an
den Kanten durchgenäht, und zu feſter
Einheit ſind Rücken und Buchblock ver⸗
bunden.
Ein livre d'heures für Liebende.
Felix Poppenberg
Vergeſſene Seelen
Ein Schiff iſt in die Tiefe geſunken mit
über 1600 Menſchen. Nicht lange
894
darnach ſtieß, im Agäiſchen Meere, ein
gleichfalls harmloſes Schiff auf eine Mine,
und ſchüttete immerhin auch ein paar
hundert Menſchen (nicht ſehr reiche durch⸗
ſchnittlich) ins Waſſer. Es wurde nicht
viel Weſens davon gemacht. Die Arbeit,
die Armut, der Schmutz und die Nähe
des Krieges machten den Tod (für den
Zuſchauer) weniger aufregend als der wohl⸗
gewaſchene Reichtum und Lurus, die mit
Geld erkaufte Sorgloſigkeit des Rieſen⸗
dampfers. Aber zur Zeit des Unglückes
der Titanic gab es eine Woche, daß die
ganze durch Zeitungen erreichbare Menſch⸗
heit ſchauderte. Alle Gedanken waren
in jene faſt 4000 Meter tiefe Gegend
des Weltmeers gerichtet. Schrecken und
Angſt, Wunſch und Lüſternheit umgaben 5
das Schiff, das längſt verſunkene, noch
viele Tage, als ob es immer eben erſt auf
den Eisberg aufliefe, eben erſt die Ge⸗
fahr witterte, eben erſt in die Verzweiflung
ſtürzte. Immer wieder folgten wir denen,
die ſich in den Rettungsboten bargen,
folgten ihnen bis auf das fremde Schiff.
das ſie aufnahm, und blieben doch auch
auf dem ſinkenden Dampfer, ſanken mit,
von 10 Meter zu 10 Meter in die Tiefe,
bis in die ewige Finſternis. Aber ein
Boot gab es mit Schiffbrüchigen, das
von der Stelle des Unglückes etwas weiter
verſchlagen war, ſo daß es von der Hilfe
nicht bemerkt wurde. Und während das
Herz der Menſchheit von der Rettung der
Geretteten und dem Untergang der Zu⸗
grundegegangenen zitterte, trieb allein
jenes eine Boot auf dem Ozean, von
keiner Sorge, keinem Wunſche, von keinem
Gefühl mehr erreicht. Wir fanden uns
ab, wir beruhigten uns, wir vergaßen.
Dann wurde jenes Boot gefunden, ſeine
Inſaſſen waren verhungert. Aber nun
war das nichts weiter mehr als eine
Zeitungsnachricht neben tauſend; die
Wallung war ſchon zerplatzt, wir gingen
nicht mehr in das Schauſpiel zurück.
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Penſion de Famille
In jenem behaglich alten Haus nit
$ der glatten Faſſade, mit den langen
Fenſtern, und dem ſchwerfällig knarrenden
Haustor habe ich gewohnt. Rechts vom
Eingang, wo die ſchmale Türe in den Haus⸗
flur mündet, geht die Stiege hinauf: eine
gemütliche braune Wendeltreppe mit einem
roten Teppichläufer. Eine elektriſche Glüh⸗
birne hängt von der niederen Baluſtrade
des obern Stockwerks herab. Die letzten
Stufen vor dem Eingang ſind von kleinen
glaſierten Blumenkiſten flankiert, in denen
grüne Pflanzen mit ihrer Verſicherung von
Gaſtfreundſchaft und Behagen paradieren.
Um dieſer Verſicherung willen läßt man
ſich's gefallen, daß die Türe erſt nach mehr⸗
maligem Läuten geöffnet wird. Später
weiß man, daß die bonne in der weißen
Schürze, dieſe erſt umbinden mußte, bevor
ſie öffnen kam: denn in der Küche arbeitet
ſie mit einer blauen. Sie führt die Frem⸗
den höflich in den Salon und ſagt, ſie
werde es Madame melden. Wie in jedem
gutbürgerlichen Haus iſt dieſer Salon im
Louis XV-Stil eingerichtet, doch in einem
vom Bon Marche für den täglichen Ge—
brauch akkommodierten Louis XVStil:
die lichten Möbelbezüge ſind aus dauerhaf—
tem Rips, und die Lehnen ſind aus Nutzholz;
der Tiſch hat eine Marmorplatte. An der
Wand oberhalb des Pianos hängt ein rie—
ſengroßer Barometer in Goldrahmen und
ovalem Format, und rechts und links vom
Kamin hängen zwei indifferente Porträts
in Medaillonform. Ein Stich an der
gegenüberliegenden Wand ſtellt zwei halb—
nackte Nymphen vor, und man fragt ſich,
wie die hierhergekommen. Die Zeitungen
auf dem Tiſch verraten die liberale Geſin—
nung. Liberal hat im politiſchen Frankreich
einen dem unſern entgegengeſetzten Sinn:
Es liegen denn auch der Echo de Paris
auf, la Semaine Religieuse und noch etliche
erbauliche Schriften. Doch auch die IIlu—
tration liegt hier allerdings am andern Ende
des Tiſches, hübſch geſondert von den übri—
gen Blättern. Und dieſe zweifache Anre—
gung war bedeutungsvoll, ſozuſagen ſym—
boliſch für die Einrichtungen dieſes Hauſes.
Madame iſt eine hübſche, rundliche Frau
in der Mitte der Vierzig, mit einem ge—
raden, faſt ſtrengen Profil, und einem gro—
ßen Haarſchopf. Sie hält ſich gut, ſpricht
langſam und gewichtig, freut ſich über den
vorteilhaften Eindruck, den ſie hervorruft.
Ihre Bewegungen haben etwas Einladen—
des, wenn ſie durch die Glastüre ins Spei⸗
ſezimmer weiſt, in dem ſpäter gemeinſam
gegeſſen werden ſoll; oder wenn ſie die
Türe eines Zimmers öffnet, das ſie für den
Ankömmling reſerviert hat. Denn man
darf ihr nicht ins Haus fallen; ſie hält dar—
auf, daß ihre Penſion nicht den Charakter
eines Hotels annimmt; einſame Damen,
die aus irgendeinem Schloß in der Pro—
vinz zu mehrwöchentlichem sejour in Paris
auftauchen und von denen eine die andere
herempfohlen hat, bilden den Grund:
ſtock ihrer clientele. Gewöhnlich find diefe
Damen in Trauer, oder ſie ſind ſo alt, daß
ſie keine farbigen Kleider mehr tragen.
Tatſächlich wird es einem ſchwarz vor
den Augen, wenn man zur Dinerſtunde
in den Salon tritt und fie dort verſam—
melt findet. Für ſie liegen der Echo de
Paris und die Semaine Religieuse auf.
Im Speiſeſaal weiß Madame ihre Auf—
merkſamkeit wie eine beſondere Gunſt jedem
einzelnen Gaſt zuzuwenden, und ſie verſteht
es auch, das Geſpräch mit Vorſicht an
allen Klippen vorbeizuführen. Der ſchwarze
Kaffee oder die „tasse de tilleul“ werden
noch bei Tiſch ſerviert; folgt ein kurzer
cercle im Salon. Dann ziehen ſich die
Damen eine nach der andern auf ihre
Zimmer zurück, und Madame ſchließt die
Türe des Bureaus hinter ſich zu. Der
offizielle Teil ihrer Tagesarbeit iſt erledigt.
In dieſes Bureau aber führt uns der
ſcheinbare Umweg über den dritten Stock,
und erſt wenn wir von dieſem kommen,
läßt Madame uns freundlichſt ein.
Im dritten Stock wohnen keine alten
Damen. Die Stiege, die zu ihm führt,
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3
wi
ift fo ſteil wie eine Omnibusſtiege, und
wenn man ſich über das Geländer beugt
und alle drei Stockwerke hinabſehen will,
verliert ſich das Auge in undurchdringlicher
Finſternis. Aber oben iſt es hell, und die
Zimmer mit den groß ausgebauten Dach—⸗
fenſtern und den abgeſchrägten Pfeilern
ſind gemütlich. Am Ende des ſchmalen
Korridors mit den Oberlichten befindet ſich
das Zimmer des Schiffsleutnants; es ſieht
beinahe aus wie die kleine Kajüte des Panzer⸗
ſchiffs, auf welchem er die weiten Reiſen
machte: davon er ſtets dieſelben Geſchichten
erzählt. Dann wohnt hier oben der Haus⸗
herr, der früh ins Geſchäft geht und den
weiten Weg von ſeiner Wohnung bis zur
Place Clichy täglich zu Fuß zurücklegt:
denn er liebt die morgendliche Ruhe in den
Tuilerien. Er hat ſein kleines Gut in
Korſika verkauft, und ſehnt ſich nun heim⸗
lich nach ſteinigen Wäldern und den wilden
Abhängen einer einſamen Landſchaft.
Der Poet wohnt da. Der heiße gequälte
Blick feiner dunklen Augen, die mächtige
Stirn ſeines Dichterſchädels laſſen an ei⸗
nen ſchön gewordenen Dante denken. Weiß
er es? Auf dem Kaminſims feines Zim⸗
mers liegt eine große, franzöſiſche Ausgabe
der „Göttlichen Komödie“. An den Tagen,
an denen die junge Frau zu ihm kam, jene
mit dem Kindergeſicht und den blonden
wirren Locken über der wiſſenden Stirn —
an jenen Tagen laſen ſie wohl nicht weiter.
Doch zwiſchen zwei Umarmungen ſagt
er ihr ſeine eigenen Verſe vor.
Zwei größere Räume gehören einem
jungen Schauſpieler. Er hat ſie mit ſeinen
eigenen Möbeln und nach ſeinem eigenen
Geſchmack eingerichtet. Rot ſind die Wände
in dem einen, über und über mit Bildern
und Photographien bedeckt, oder mit Stoffen
behangen. Das kleine Licht in der Mitte
des Zimmers iſt mit Seidenſtoffen verhängt,
in der Sofaecke hängt eine türkiſche Ampel
mit grünen Gläſern. Die Fenſter ſind
verhängt. Auf dem Kamin ſteht eine alte
Holzfigur, irgendeine verkümmerte Heilige.
Daneben liegen kleine Ketten, Münzen,
Schuhe, ein ciſelierter Dolch, Erinnerungen
an Agypten, oder an Rußland, oder an
Portugal — Länder, die er im Eiſenbahn⸗
waggon der Tournee Rejane durchflogen
hat. Die Wand hinter dem Schreibtiſch
aber iſt mit Bücherregalen verſtellt und es
ſind lauter gute Bücher darin. Das zweite
Zimmer iſt fein Schlafgemach, nichts hängt
dort an den Wänden als das Porträt einer
toten, alten Frau, das er ſelbſt gezeichnet
hat, und das große ſchwarze Kruzifix üben
ſeinem Bett. Die naive Askeſe dieſes
Raums neben der ſpieleriſchen, ſinnlichen
Buntheit des andern wirkt ſo überraſchend,
daß man ihr mißtraut. Aber ich glaube 4
mit Unrecht: es find lauter romaniſche Ele⸗
mente, die ſich hier gut vertragen, und die
Sehnsucht nach dem Kreuz iſt wieder nun
verkappte Sinnlichkeit. Huysmans ſpukftt
allen hier im Blut. &
Eine Malerin wohnt hier oben, eine nicht
ganz junge Ausländerin, welche vor den
Freunden des Schauſpielers gern ein wenig
„das Ytädchen aus der Fremde“ ſpielt.
Für alle dieſe Leute ſorgt Madame in
mütterlicher Weiſe. Wenn ſie von ihnen
ſpricht, ſagt fie nur: „mes artistes du ttoi-
sieme“. Sie find es, die im Bureau zu;:
ſammenkommen, dort heimliche Mahlzeiten
abhalten, mit Madame endloſe Geſpräche
führen, ihre guten Lehren über ſich ergehen
laſſen. Sie hat immer ein wenig den Hang,
Seelen zu retten, Unheil abzuwenden, und
die Verantwortung für das Wohlergehen
aller, die unter ihrem Dache wohnen, läßt
ſie nicht ruhen: ſie packt jeden einzelnen
beim Schopf und rettet ihn. Aber ſtets,
wenn ſie ſo recht im beſten Zug iſt, klopft
es, und die bonne meldet: „Eine Dame
wartet im Salon“. Dann ſeufzt Madame
über ihre unterbrochene Predigt, fährt mit
der Puderquaſte über ihr Geſicht, richtet
ihre Geſtalt auf, und in ergebener Erwar⸗
tung lächelt ſie ihr offizielles Lächeln. So
geht fie zum Empfang; ja, fo iſt ihr Leben!
Nelly Marmorek
Verantwortlich für die Redaktion: Prof. Dr. Oskar Bie, Berlin.
Verlag von S. Fiſcher. Berlin. Druck von W. Drugulin in Leipzig
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N5
1912
Bd. 1
Heft 4-6
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