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NvyK   Review 

A  Journal  of  Germanic  Studies 


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Vol.  23 :  2008 


CALL  FOR  PAPERS 

Volume  24,  2009 


Since  1985,  the  New  Gem/an  Review  has  been  a  medium  for  graduate 
students  to  share  their  ideas  with  the  academic  community  worldwide. 
We  publish  articles  on  German,  Scandinavian  and  Dutch  literature, 
but  we  strongly  encourage  contributions  within  the  broader  field  of 
Germanic  studies,  including  history,  culture,  philosophy  and  linguistics. 
Book  reviews,  new  translations,  and  interviews  also  form  an  essential 
part  of  our  publication.  The  Xew  German  Review  is  peer-reviewed 
and  edited  by  graduate  students  in  the  Department  of  Germanic 
Languages  at  UCLA.  All  contribudons  will  be  listed  in  the  MLA 
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Submissions  must  comply  with  MLA  conventions,  with  endnotes 
and  works  cited.  Articles  should  be  between  15  and  25  pages,  and 
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New  German  Review 

Department  of  Germanic  Languages 

212  Royce  Hall 

Box  951539 

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CA  90095-1539 

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New  German 
Review 


A  Journal  of  Germanic  Studies 


Volunne  23 
2008 


New  German 
Review 


Volume  23,  2008 


Editors 

Ivett  Rita  Guntersdorfer 
Andre  Schiitze 
Brenna  Reinhart 


Editorial  Board 

Kye  Terrasi    Karina  Marie  Ash 

Jennifer  Gully     Barbara  Hui 

Jonathan  Jones    Jennifer  Tsai 

Vic  Fusilero   Lin  Lin 

Katharina  Leduc 

Cover  Art 

Matthias  Kebeimann 

New  German  Review  is  published  by  graduate  students  of  the  Department  of  Ger- 
manic Languages  at  UCLA.  Views  expressed  in  the  journal  are  not  necessarily  those  of 
the  Editors,  the  Department  of  Germanic  Languages,  or  the  Regents  of  the  Univer- 
sity of  California.  Subscription  rates  are  $9.00  for  individuals.  SI 5.00  for  institutions. 
Please  make  checks  payable  to  New  Gennan  Review.  Manuscripts  should  be  prepared 
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including  documentation.  Please  direct  inquiries  regarding  orders,  subscriptions,  sub- 
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New  German  Review 

Department  of  Germanic  Languages 

212  Royce  Hall,  Box  951539 

University  of  California,  Los  Angeles 

CA  90095-1539 

ngr@humnt't.iicla.eclii 

Printed    by  DeHART  Printing  Services,  3265  Scott  Blvd,  Santa  Clara.  CA  95054 
Funding  pro\  ided  by  the  UCLA  Graduate  Students'  Association  and  the  UCLA  Depart- 
ment of  Germanic  Languages 
ISSN  0889-0145 

Copyright  (c)  2008  by  the  Regents  of  the  University  of  California. 
All  rights  resened. 


Table  of  Contents 


I 


Articles 

Hugo  von  Hofmannsthals  spates  Drama  Der  Turm  -  Ringen  um 
Eriosung  von  der  „bosartigen  Unwirklichkeif  Modeme 
Katharin A  Maria  Herrmann 7 

„Beinahe  zu  Hause":  Heterotopic  und  dezentrale  Subjektivitat 

bei  Kracauer 

DamdVVachter 27 

Ernst  Junger  and  Ishivvara  Kanji: 

A  Comparative  Examination  of  the  Concept  of  Total 

Mobilization  for  Germany  and  Japan 

Andrew  Mills 47 

Die  Kunst  ohne  Aura.  Bourdicus  Habitusthcorie  und  Benjamins 

Aufsatz  Das  Kunshverk  ini  Zeitalter  seiner  technischen 

Reproduzierbavkeit 

Andre  SciRfETZE 65 

Der  Dichter  als  Miillsammler:  Zu  ciner  poctologischcn 
Figuration  der  Mittclaltcr-Rczcption  in  Tankred  Dorsts  Merlin 
oder  Das  wiiste  Land  und  Die  Legende  vom  armen  Heinrich 
BentGebert 83 

Unerbittlich  zicllos?  Messianische  Zeit  in  Katharina  Hackers 

Die  Habenichtse 

Franz  Fromholzer 99 

Walking  at  the  Abyss:  Writing  in  Crisis  and  the  Imagery  of 
Walking  in  Wolfgang  Borchert's  Draufien  vorder  Tiir  and 
Inge  Miiller's  Poetry 

SoNJA  Wandelt 1  17 


Jenseits  des  Organischen.  Schleiermachers  religiose  Geselligkeit 

zwischen  ,^aturlicher  Verbindung"  und  Institutionalitat 

THO^us  BauiViler 127 

Tradition  und  Dekonstruktion  in  Elfriede  Jelineks  Bwgtheater 

und  Prasident  Ahendwind 

ViKTORiA  Helper 141 

Das  Verblassen  des  Unsichtbaren:  Schillers  asthetische  Briefe 

nach  den  Verwirrungen  von  TorleB  und  dem  beschadigten 

LebenAdomos 

Manuel  Clemens 157 

Interview 

Ein  Interview  mit  Marc  Rothemund 

Katharina  Ledlc 181 

Reviews 

Koch,  Lars  (Hg.)  Modernisierung  als  Amerikanisienmg? 
Entwicklungslinien  der  westdeiitschen  Kiiltiir  1945-1960. 
(2007). 

R\NS  JORG  ScH\nDT 189 

Ehlich,  Konrad.  Sprache  und sprachliches  Handeln: 
Band  1-3.(2001). 

ElKE  MONTANARI 193 

PreuBer,  Ulrike.  Aufbnich  aus  dem  beschadigten  Lehen.  Die 
Venvendung  von  Phraseologismen  im  literarischen  Text  am 
Beispiel  vonArno  Schmidts  Nobodaddy's  Kinder.  (2007). 
Nils  Bernstein 195 

Contributors 199 

About  THE  Artist 201 


Hugo  von  Hofmannsthah 
spates  Drama  Der  Turm  - 

Kingefi  urn  Hrlosung  von  der  „bbsaiiigen  Umi'irk/ichkeit" 

Moderne 


Katharina  Maria  Herrmann 


Zusammenfassung 

Mit  seinem  ,Turm-Projekt',  einer  fiir  Hofmannsthal  „uber  die  Begriffe 
sch\vere[n]  Arbeit"',  rang  der  Dichter  von  Sommer  1 920  bis  Spatherbst  1927. 
Ergebnis  dieses  zahen  und  langwierigen  Denk-  und  Schreibprozesses  sind 
drei  zum  Teil  stark  divergierende  Fassungen  des  Dramas,  das  der 
literaturwissenscliaftlichen  Forschung  seit  jeher  betriichdiche  Schwierigkeiten 
bereitet,  weil  immanente  W'iderspriiche  und  Inkonsequenzen  in  der 
handlungslogischen  und  psychologischen  Motivation  wie  in  der 
Figurenkonzeption  die  allem  \'erstehen  zu  Grunde  liegenden 
Koharenzerwartungen  unterlaufen.  Der  im  Rahmen  meines 
Dissertationsprojektes  Fliehendes  Begreifen.  Hugo  von  Hofmannsthah 
Auseinanderseti^iaigmitderModemeentsx^ndcne  Aufsatz  eroffnet  den  Horizont 
einer  Deutungsperspektive,  in  der  sich  diese  Widerspriiche,  wenn  nicht 
auflosen,  so  doch  verstiindlich  machen  lassen:  Ms  Resultat  von  Ambivalenzen 
namlich,  die  aus  Hofmannsthals  Ringen  mit  Modernisierungserfahrungen 
hervorgehen.  Die  T/z/'w-Dramen,  so  die  Grundannahme,  spiegeln  wesentliche 
Aspekte  der  Gegenwartsdiagnose  des  Autors  und  sind  Zeugnis  von  dessen 
ebenso  umfassender  wie  unabgeschlossener  Suche  nach  einer  angemessenen 
Daseins-  und  Gesellschaftsform  in  der  aus  seiner  Sicht  ,chaotisch-verkehrten' 
modernen  \Xelt. 

1.  Analyse  und  Flucht 

Die  Gegenwartsanalyse  weitester  Tcile  der  Intelligenz  des  ausgehenden  19. 
und  beginnenden  20.  Jahrhunderts  steht  bekarmtlich  im  Zeichen  einer  Semantik 
des  Verlusts  und  der  umfassenden  Krise.  ,MassengeseIlschaft', 
,Uniformierung',  ,Entseelung',  ,\  erdinglichung',  ,Technisierung', 
,Materialisierung',  ,Mammonismus'  oder  ,Profitgier'  bezeichncn  nur  eine 


geringe  Auswahl  kursierender  Topoi  der  langlebigen  Modernekritik.  Die 
einschneidenden  Erfahrungen  essentieller  soziostruktureller  Veranderungen 
fuhren  zur  Generalreserve  gegen  die  eigene  Zeit.  Man  nimmt  Frontstellung 
ein  gegen  die  als  hoch  dehzitiir  anahsierte  Modernewirklichkeit;  Dissoziadons- 
und  Differenzerfahrungen  nahren  Modernisierungsangste  -  und  generieren 
Fluchnersuche  unter dem  Banner  massi\'er  Kulmrkritik, die  sich beispielsweise 
in  einer  allgemeinen  „Tendenz  zur  Projektion  von  Zukunftsennviirfen,  von 
Utopien  sozialer  Harmonie  und  Stabilitat,  von  in  die  Zukunft  verlagerten 
Gegenbildern  zu  der  Erfahrung  der  gegenwartigen  Ordnung"-  niederschlagt. 
Die  luzide  Reflexion  des  zwanzigjahrigen  Hotmannsthal  in  dessen 
d'Annunzio-Aufsatz:  „[h]eute  scheinen  z\vei  Dinge  modern  zu  sein:  die  j\nalyse 
des  Lebens  und  die  Flucht  aus  dem  Leben"\  ist  durchaus  in  diesem  Kontext 
zu  verorten/ 

Was  Hotmannsthal  selbstbeschreibend,  d.h.  aus  seiner 
zeitgenossischen  Perspektive  des  Modernitiits-  und  Krisendiskurses  der 
asthetischen  Modeme,  als  ,modern'  wahrnimmt,  erscheint  dem  heutigen  Leser, 
angenommen  er  versteht  sich  als  Teil  einer  modernen,  offenen,  primiir 
funktional  differenzierten  GeselJschaft,  alles  andere  als  ,modern'.  Nun  besteht 
dariiber,  dass  Hofmannsthals  \Xerk  vor  dem  Hintergrund  der  ,Moderne'  zu 
interpretieren  ist,  kein  Zweifel.  Mit  vielerlei  terminologischen  -  und  in  der 
Folge  interpretatorischen  —  Unklarheiten  verbunden  ist  allerdings  im 
Forschungsdiskurs  immer  noch  diese  ,Moderne'  selbst.  Um  Hofmannsthals 
Texte  aus  adaquater  analydsch-kritischer  Distanz  betrachten  und  die  Turm- 
Dramen  mittels  eines  metasprachlichen  Begriffsinstrumentariums 
kommentieren  zu  konnen,  liegt  vorliegender  Untersuchung  in  Anlehnung  an 
Lohmeier^  ein  aus  philosophischen,geschichts-  und  sozialwissenschaftlichen 
Forschungen  gewonnenes  Moderne-Verstandnis  zu  Grande,  welches  es 
ermoglicht,  asthetische  bzw.  literarische  Moderne  und  gesellschafdiche  Moderne 
systematisch  zueinander  in  Bezug  zu  setzen.  Die  T//r///-Dramen  werden  hier 
also  als  Reaktion  auf  Hofmannsthals  Analyse  dergesellschaftlichen  Moderne 
gelesen  und  als  (versuchte)  i\nt\vort(en)  auf  Fragen  verstanden,  wie  sie  sich  ob 
der  einschneidenden  gesellschafdichen  \'eranderungen  fiir  Hofmannsthal 
stellen.  Auch  Hofmannsthal  hat  „die  humanen,  demokratischen  und 
emanzipativen  Potenzen  des  Modernisierungsprozesses  unterschatzt"  und 
„reagiert  mit  etnem  Modernisietoingsschock,  bildet  zu  dessen  Bewaltigung  die 
Semantiken  des  ,Ganzen',  des  ,Eschatologischen'  und  des  ,Individuellen'  aus"; 
auch  bei  Hofmannsthal  steht  „gegen  die  Pluralitiit  der  Meinungen  und  Werte 
die  Suche  nach  einer  integrativen  Idee,  die  die  ,letzten  Fragen'  klart, 
gesellschaftliche  Ordnung  begriindet  und  das  individuelle  Handeln  leitet.'""  - 
Also  auch  Flofmannsthal  ergreift  die  , Flucht  aus  dem  Leben'  der 
gesellschaftlichen  Moderne.  Merdings  scheint  ihn  seine  Flucht  -  so  suggerieren 
es  zumindest  die  Fassungen  des  Thwj  -  an  keinen  festen  Standpunkt  zu 

8 


fiihren;  vielmehr  positioniert  sie  ihn  als  Suchenden  zwischen  Moderne-Revision 
und  Akzeptanz  der  Irreversibilitat  des  Modernisierungsprozesses. 

2.  jBosartige  Unwirklichkeit':  Die  gesellschaftspolitische  Situation  im 
Turm 

In  seinen  T/<';7;ADramen  thematisiert  Hofmannsthal  die  Frage  nach  einer 
verbindlichen  Grundlage  seiner  zeitgenossischen  Gesellschaft,  der  es  in  seiner 
Perspekdve  massiv  an  gemeinsamer  geistiger  Orientierung  mangelt.  Die  vom 
Dichter  auch  in  seinen  Essays  vielfach  aufgeworfene  Frage  nach  der  Moglichkeit 
einer  ideellen  Integradon  der  ausdifferenzierten  und  pluralisierten  modernen 
Gesellschaft  durch  Formen  geistiger  Fiihrerschaft  weitet  sich  hier  zu  der  Frage 
nach  der  Legitimation  politischer  Herrschaft  iiberhaupt  aus.^  Die 
Ausgangssituation,  auf  deren  Basis  im  Turn/  die  Problematik  der  Begriindung 
von  Herrschaft  und  Autoritat  zwecks  Einrichtung  einer  neuen  Ordnung  und 
normativen  Grundlage  der  Gesellschaft  behandelt  wird,  ist  die  des  totalen 
Chaos  und  der  tiefen  Existenzkrise  einer  von  Profitgier,  rationaUstisch- 
materiellem  Denken  und  Gewalt  beherrschten,  dissoziierten  und 
desintegrierten  Nachkriegsgesellschaft,  die  herkommlicher 
Orienrierungsinstanzen  und  metaphysischer  Sicherheit  verlustiggegangen  ist. 
Im  Turm  versagt  der  Konig  in  seiner  Funktion  als  Sicherheit,  Ordnung  und 
Einheit  stiftender  Souverjin  -  die  traditionaHstischen  Herrschaftsstrukturen 
haben  ihre  notw^endige  integrative  Kraft  eingebiiBt:  „Alle  gehen  gegen  alle"", 
skizziert  Olivier  die  Gesamtsituation  im  ersten  Auftritt  des  ersten  Aufzugs. 

2.1  Basilius:  Souveranitatsloses  Herrschertum 

Fiir  Basilius'  Souveranitatsverlust  lassen  sich  im  T/o'w  verschiedene  (allerdings 
wenig  trennscharfe)  Bedingungsfaktoren  ausmachen.  Dass,wie  Basilius  selbst 
formuliert,  die  „Weh  [. . .]  auBer  Rand  und  Band""'  ist,  begriindet  sich  nicht 
aUein  aus  der  Tatsache  heraus,  dass  „die  konigliche  Macht  als  das  siikularisierte 
Gottesrecht  [. . .]  nicht  mehr  sicher""  ist.  \^ielmehr  fehlt  es  dem  Konig offenbar 
ganz  grundsatzUch  an  der  notwendigen  ,geistigen  Basis'  fiir  eine  umfassende 
Neuintegration  der  Gesellschaft.  Das  verdeutlichen  insbesondere  die  Repliken 
des  Grossalmoseniers  auf  den  um  Hilfe  bettelnden,  sich  impbzit  selbst  als 
abhangig  und  verantwortungsunfahig  charakterisierenden  Basilius: 

„\\"o  war  deine  Menschheit?  [. . .]  Denn  ein  Mensch  fangt  dort  an, 
wo  ein  viehisch  geliistender  Leib  iiberwaltigt  ist  und  unter  die  Fiifie 
gebracht  von  NX'esenheit.  Das  war  nicht  deine  Sache.  Dein  WbUen 
sitzt  unter  dem  Nabel  und  dein  Unvermogen  in  der  Herzgrube; 
unter  deinen  Haaren  war  die  Bosheit  und  der  stinkende  Hochmut 
ist  dir  durch  die  Nase  gegangen:  so  warst  du  ein  Leib  und  hast 
gewuchert  mit  deinem  Leib  und  an  deinem  Leib  wirst  du  gepackt 
werden."'^ 


In  den  Ausfiihmngen  des  Grossalmoseniers  kommen  die  aus  Hofmannsthals 
fundamentaler  Modernekritik  eru'achsenden  antinomischen  Denkstrukturen 
eines  Leib-Seele  bzw.  Materie-Geist-Dualismus  zum  Tragen,  die  Basilius  als 
Reprasentanten  einer  modernen,  selbstentfremdeten  und  veraul3erlichten 
Personlichkeit  erkennen  lassen,  in  der  das  Ich  keinen  Zugang  zum  Essen tiellen 
der  menschlichen  Existenz  hat,  ja  keine  geisdge  Substanz  besitzt,  weil  es  sich 
an  den  materiellen,  kapitalistischen  und  rationalistischen  Maximen  der 
modernen  Welt  -  in  Mofmannsthals  \^okabular:  an  der  Oberflache  des 
,Werdens'  statt  am  ,Sein'  -  orientiert.  Basilius  kann  als  negatives  Sinnbild  der 
Hofmannsthalschen  Yorstellung  einer  ganzheitlichen  und  autonomen 
Personlichkeit  gedeutet  werden,  die  der  Dichter  in  seinen  Anj^ekhnungen  ^ 
Kede>i  in  Skandinavien  folgendermaBen  expliziert: 

„[\\]o  das  Ich  Personlichkeit  wird,  wird  es  selbst  Gesetz  und 

unterliegt  nicht  mehr  dem  Schrecken  des  Seins  und  der  mechanischen 

Unfreiheit.  [. . .]  Der  Wille  ist  der  Personlichkeit  tiefster  Grund,  ist 

[. ..]  der  eigentliche  Beginn  der  iaberderischen  geistigen  Tat.  [...] 

Darum  hat  der  hohere  Mensch  das  Kausalreich  niedergerungen,  sein 

Leben  ist  beherrscht  durch  das  Schicksalsgesetz  seiner  persordichen 

Sendung,  die  er  verwirklichen  soil.  [...]  Wird  das  Gesetz  ins 

Individuum,  das  Individuum  ins  Gesetz  hineingenommen,  so  ist 

wahrhaft  das  Kausalreich  iiberwunden  und  eine  neue  Bindung  lost 

den  contrat  social  ab,  denn  es  ist  kein  Kontrast  zwischen  Individuum 

und  Gesamtheit.  Der  gelauterte  Freiheitsbegriff:  in  der  Nadon: 

Ordnung,  -  im  Individuum:  Gesetz,  Karma."'' 

Insgesamt  kann  die  Unfahigkeit  des  Konigs  zum  autonomen  und  souveranen 

Handeln  sowohl  als  das  Resultat  von  Selbst\'edust  und  fehlender  Ich-Idendtat 

des  ,modernen'  Individuums  gedeutet  als  auch  als  Folge  von  Basilius'  fehlender 

Einsicht  in  die  Tatsache  aufgefasst  werden,  dass  die  Berufung  der  Macht  auf 

metaphysische       Instanzen       eine       ijberkommene       Form       der 

Herrschaftslegidmation  ist.  Inwieweit  im  Einzelnen  die  ,gesellschaftspolidsche' 

Situadon  als  Folge  von  Basilius'  ,oberflachlicher'  -  und  d.i.  fijr  Hofmannsthal 

,moderner'  -  Daseins-  und  Ich-Auftassung  zu  werten,  ob  diese  Welt-  und 

Wertorienderung  als  personliche  Schuld  oder  als  logische  Konsequenz  der 

modernen  Lebensbedingungen  aufzufassen  ist  und  mwiefern  das  herrschende 

Chaos  als  Folge  nicht  welter  definierter  revolutionarer  Bewegungen  oder 

vielmehr  insgesamt  als  Resultat  unbeeintlussbarer,  (modernisierungs)- 

geschichtlicher  Prozesse  zu  deuten  ist,  bleibt  offen.  Basilius  ist  ein  gemischter 

Charakter,  der  „trotz  seiner  Untahigkcit  [. . .  j  nicht  ohne  Sympathie  gestaltet'"'' 

ist.  Das  Geschehen  erfahrt  eine  mehrfache  Modvierung,  lasst  sich  also  nicht 

aus  einem  kausallogischen  Bedingungsgefiige  heraus  erkliiren  und  ist 

entsprechend  schwach  handlungslogisch  und  ps\'chologisch  begriindet. 


10 


2.2  Der  Grossalmosenier:  Weltfliichtiger  Kirchenfiirst 
Das  zeigt  sich  auch  anhand  der  Figur  des  Grossalmoseniers;  die  Frage  nach  der 
konkreten  handlungslogischen  Funktion  der  Figur  bleibt  hier  genauso  offen 
wie  die  Frage  nach  ihrer  Bewertung:  Inwieweit  und  inwiefern  der 
Grossalmosenier  die  kritische  Norm  des  Autors  spiegelt,  ist  anhand  des 
Dramentextes  nicht  im  Einzelnen  festzumachen.  Die  Figur  fungiert  sowohl 
als  W'iderpart  und  Reflektorfigur  des  Konigs  als  auch  als  Reprasentant  einer 
moglichen  Handlungsoption  angesichts  des  aufgezeigten  gesellschaftlichen 
Chaos'.  Der  Geistliche  vertritt  im  Tumj  die  Position  des  resignierten  Nihilisten, 
der  sich  miide  von  der  Weh  abgekehrt  und  als  Monch  in  ein  Kloster 
zuriickgezogen  hat.  Seine  Haltung  wird  dabei  mehrfach,  summa  summarum 
aber  unter  Anfiihrungganz  ahnlicher  Griinde  motiviert.  Zum  einen  wird  das 
\X  eltgeschehen  hier  in  der  Tradition  der  antiken  Tragodie  immer  wieder  durch 
den  mahnenden  Chor  kommentiert,  der  drohend  die  Prophezeiung  der 
Zerstorung  Babels  nach  Jeremia  rezitiert.  Zum  anderen  fordert  der  greise 
Grossalmosenier  -  in  der  Funktion  des  Sehers  ebenfalls  in  der  Tradition  des 
antiken  Theaters  stehend  -  einen  ,jungen  Bruder'  fortwahrend  dazu  auf,  aus 
dem  ,Bi-ich  des  Guevara'  zu  lesen,  welches  Hofmannsthal  laut  Kommentar 
der  Kritischen  Ausgabe  nach  Grimmelshausens  Simplicissimus  zitiert.  Die 
W'eltflucht  des  Monches  erklart  sich  demnach  einerseits  aus  dem  Vanitas- 
Gedanken  des  Barock  heraus  und  wird  andererseits  im  Riickgriff  auf  den 
alttestamentarischen  Mythos  der  \'ernichtung  Babylons  motiviert.  Die  Zitate 
aus  dem  ,Buch  des  Guevara'  machen  deutlich,  dass  der  Monch  die  Welt  als 
eitel,  nichtig,  vordergriindig  und  scheinhaft  interpretiert  und  die  Umkehrung 
aller  grundlegenden  XX'erte  menschlichen  Zusammenlebens,  eine 
nietzscheanische  ,Umwertung  aller  \X  erte'  konstatiert: 

„Fahr  hin  Welt,  denn  auf  dich  ist  kein  Verlass,  dir  ist  nicht  zu  trauen; 
[...]  und  in  hundert  Jahren  schenkst  du  uns  kaum  eine  Stunde 
wahrhaftigen  Lebens." 

„Fahr  hin  Welt  -  in  deinem  Palast  dient  man  ohne  Bezahlung,  man 

liebkost,  um  zu  toten,  man  erhoht,  um  zu  sturzen,  man  ehrt,  um 

zu  schanden,  man  entiehnt,  um  nicht  wiederzugeben,  man  straft 

ohne  Verzeihen.  [. . .]  [D]a  wird  um  Macht  geschachert  und  um  Gunst 

gebuhlt;  da  werden  die  Klugen  gestiirzt,  die  Unwiirdigen  werden 

hervorgezogen." '  ^ 

Und  die  Verweise  des  Chors  auf  die  Untergangsdrohungen  des  Propheten 

suggerieren,  dass  das  Weltgeschehen  hier  als  Rache  Gottes  an  der  Gotdosigkeit 

der  Menschen,  an  ihrer  Orientierung  an  Gotzen,  an  materiellen  Werten  wie 

Reichtum  und  Wohlstand  gedeutet  wird.  Diese  Deutungsmuster  sind  sicherHch 

nicht  im  Einzelnen  mit  der  Weltsicht  des  Autors  in  eins  zu  setzen;  sie 

transportieren  und  untermauern  aber  in  der  Gesamtsicht  doch  Hofmannsthals 

Kntik  an  der  materiaUstischen  und  kapitalistischen  Moderne,  seine  Auffassung, 

11 


in  einer  entseelten  und  entmoralisierten  Wirldichkeit  zu  Icben. 

Wie  Basilius  ist  auch  der  Grossalmosenier  als  hochst  ambivalente 
Figur  aufzufassen,  die  unter  anderem  als  Spiegel  der  Kritik  Hofmannsthals  an 
seiner  zeitgenossischen  Gesellschatt  und  am  ,fehlgeleiteten'  Individuum 
fungiert,  vor  der  auch  Kirche  und  Geistlichkeit  nicht  gefeit  sind.  Denn  weiterhin 
repriisentiert  die  Welthaltung  des  Monches  eine  mogliche  Herrschaftsform, 
die  dieselben  egoistischen  Machtinteressen  bedient,  welche  der  Grossalmosenier 
dem  Konig  zum  Vorwurf  macht:  Die  Selbstinszenierung  des 
Grossalmoseniers  als  Untergangsprophet  und  Almosenverteiler,  dem  die 
Monchsbrijder  allergeben  sind,  sind  dem  Geistlichen,  der  seine  eitle 
Herrschsucht  einst  iiber  Basilius  befriedigen  konnte,  die  letzte  Moglichkeit, 
iiberhaupt  noch  Macht  auszuiiben.  SchlieBlich  kann  der  Riickzug  des 
Grossalmoseniers  aus  der  Politik  auch  insgesamt  als  Sinnbild  fiir  den 
Sakularisierungsprozess  gelesen  werden. 

Das  gesellschattliche  Chaos  erweist  sich  im  Turm  also  weniger  als 
spezifisch  politisches  Problem.  Vielmehr  resultiert  dieser  Zustand  nach 
MaBgabe  Hofmannsthalscher  Beschreibungs-  und  Bewertungskategorien  von 
Moderne  aus  dem  vom  Dichter  verbuchten  generellen  Verlust  des  ,wahren 
Seins'  in  einer  sozialstrukturell  veranderten  Modernewirklichkeit,  die  er  als 
„bosartige[  ...]  Unwirklichkeit"''^'  interpretiert.  Die  T/zr/W-Gesellschaft 
transportiert  die  konservativ-kulturkritische  Modernediagnose  eines  Autors, 
dem  seine  zeitgenossische  Gesellschaft  wie  vielen  seiner  intellektuellen 
Wegbegleiter  „generell  als  Medium  der  Auflosung  der  personalen  Ganzheit, 
der  Unmittelbarkeit  zwischenmenschlicher  Beziehungen  und  des  substantiell 
begriindeten  Zusammenhangs  der  Gesellschaft"'"  erscheint.  ,Politischer"** 
Diskurs  und  Identitiitsdiskurs  durchdringen  sich  im  Tz/rw  wechselseitig:  Der 
souveranitatslose  Basilius,  der  weltfliichtige  Kirchenfiirst,  der  intrigante  Julian 
und  in  der  Kinderkonig-Fassung  auch  der  charismatische  Sigismund  scheitern 
als  Reprasentanten  einer  modernen,  veriiuBerlichten  Existenz,  die  keinen 
Zugang  zum  Essentiellen  des  Daseins  hat  und  ihre  geistige  Substanz  verliert, 
sobald  sie  sich  in  egoistisch-eitler  Herrschsucht  an  den  materiellen  und 
rationalistischen  Maximen  der  modernen  Lebenswelt  orientiert.  Die  Fragen 
nach  der  Legitimation  von  Macht  und  danach,  ob  eine  Restitution  bzw. 
Veranderung  der  Monarchic,  ob  der  resignierte  Riickzug  aus  der  Welt  oder 
revolutionare  Bewegungen,  ob  autoritare  Strukturen  iiberhaupt  oder  ob  gar 
eine  demokratische  Ordnung  Gesellschaftskonzepte  zur  Losung  der 
diagnostizierten  Probleme  darstellen  konnen,  versinken  in  Hofmannsthals 
Gesamtnegation  einer  pluralisierten,  dissoziierten  und  als  giinzlich  entseelt 
dargestellten  Wirklichkeit,  unter  deren  Konditionen  der  Dichter  nach  MaBgabe 
seiner  kritischen  Norm  eines  vormodernen  Einheitsmvthos  nur  noch  den 
Verlust  eines  als  ehemals  existent  angenommenen  ,\\'esentlichen'  und 
,Wirklichen'  konstatiert. 

12 


2.3  Olivier:  Das  Drohende  der  Materie 

Hofmannsthals  Angst  vor  einem  aus  den  Bedingungen  der  gesellschaftlichen 
Moderne  resultierenden  Zustand  absoluter  Anarchic,  Willkiir-  und 
Gewaltherrschaft  driickt  sich  paradigmatisch  in  der  Olivier-Figur  aus:  Der 
ehemalige  Gefreite  personifiziert  den  Endpunkt  des  vom  Dichter  in  seinen 
Essays  befiirchteten  Prozesses  der  „Deshumanisation",  verkorpert  das 
„Drohende  der  Materie",  das  das  Dasein  „iiberflutet"'''.  In  der  dritten  Fassung 
des  Dramas  erhebt  sich  Olivier  quasi  selber  zur  Allegoric  fur  die  sich  in 
Hofmannsthals  Augen  gefahrlich  verselbststiindigenden  Prinzipien  der 
Modernewirklichkcit: 

„Siehst  du  dieses  ciserne  Ding  da  in  meiner  1  land?  So  wie  dies  in 
mcincr  Hand  ist  und  schlagt,  so  bin  ich  selbst  in  der  Hand  der 
Fatalitat.  |...|  Was  du  bis  jetzt  gekannt  hast,  waren  jesuitische 
Praktiken  und  Hokuspokus.  Was  aber  jetzt  dasteht,  das  ist  die 
Wirklichkeit."^" 
Indem  Hofmannsthal  Welt  gcdanklich  auf  den  Dualismus  von  Materie  und 
Geist,  Leib  und  Seele  reduziert,  setzt  er  die  in  seiner  Sicht  geistlose  ReaUtat  (vor 
aUcm  in  der  dritten  Fassung  des  Turm)  mit  der  Materie  und  das  in  der  Olivier- 
Figur  absolut  gesetzte  Prinzip  der  Materie  mit  der  Entwicklung  hin  zu 
Faschismus  und  totalitarer  PoUtik  gleich.  Aus  heutiger  Sicht  beinhaltet  der 
Text  folgendes  Paradoxon:  Totalitare  politische  Strukturen,  die  dem  Menschen 
Selbstbestimmungsfahigkeit  und  Freiheitsrecht  absprechen,  werden  hier  gemaB 
I  lofmannsthals  Gegenwartsdiagnose  als  Konsequenz  einer  an  den  Prinzipien 
der  Moderne  orientierten  Daseinsauffassung  gedeutet,  wahrend  es  aus 
modernisierungsgeschichtlichcr  Perspektive  aber  gerade  die  \'er\veigerung  der 
der  modernen  Gesellschaft  inharenten  Leitideen,  ja  die  auch  in  Hofmannsthals 
Werk  eklatant  ausgedriickte  Totalitiitssehnsucht  infolge  des  erkannten 
Modernisierungsprozesses  ist,  welche  totalitaren  politischen  Konzepten 
Vorschub  leisten  konnte.  Ob  von  Hofmannsthal  intendiert  oder  nicht  -  die 
kritische  Norm  bzw.  der  Grad  der  kritischen  Distanz  des  Autors  bleibt  hier 
wie  im  gesamten  Drama  unklar  -  fijhrt  die  Olivier-Figur  vor  Augen,  dass  die 
von  Hofmannsthal  und  dessen  Zeitgenossen  als  Chaos  empfundenen 
gesellschaftlichen  Umbriiche  „,gute  Zeiten  fiir  Propheten,  Gurus"  und  „Erl6ser" 
darstellen  konnten,  „die  durch  einfache  Wahrheiten  Ordnung  in  das  Chaos 
bringen  zu  konnen  beanspruch[t]en."-' 

3.  Sigismund:  Kein  Ausweg  aus  dem  Chaos 

Sigismund  und  der  Kindcrkonig  sind  einerseits  evidenter  Ausdruck  der  — 
epochentypischen  -  „\'ision  eines  umfassenden  spirituellen  ,Ganzen',  eines 
,Bleibenden'  in  und  hinter  allem  geschichtlichen  Wandel"",  die  fijr 
Hofmannsthal  vergesellschaftende  Funktion  hat.  Andererscits  aber  stellt  der 
Text  die  Moglichkeitgesellschaftlicher  Retotalisierung  (und  damit  die  kritische 

13 


Norm  des  Dichters)  -  in  der  dritten  noch  starker  als  in  der  zweiten  Fassung  - 
in  Frage. 

Stark  verkUrzt  formuliert  transportiert  Hofmannsthal  liber  die 
Sigismund-Figur  folgende  (Ein-)Sicht:  Die  Erfahrung  von  Ganzheitlichkeit 
und  Einheit  der  Welt  und  die  Annahme  metaphysischen  Sinns  bleiben  in  den 
,Turm  der  Innerlichkeit'  verwiesen.  Der  Konigssohn  formuliert  dies  selbst, 
wenn  er  feststellt,  er  sei  „Herr  und  Konig  auf  immer  in  diesem  festen  Turm", 
sei  „unzuganglich"  und  wisse  seinen  „Platz"'\  der  aber  nicht  dort  sei,  wohin 
Julian  ihn  haben  wolle  -  namlich  in  der  praktischen  Politik.  Und  wenn  ja 
„ausser  der  Rede  zwischen  Geist  und  Geist"  alles  eiteP  ist,  sind  Geist  und 
materielle  VC'irklichkeit  grundsatzlich  nicht  vereinbar.  Das  ,Geistige'  ist  von  der 
in  Hofmannsthals  Sicht  hoch  defizitaren,  materiellen  und  rationalen 
Wirklichkeit  ausgeschlossen;  eine  irgend  geartete  TotalitJit  ist  als  —  im 
gesellschaftspolitischen  Sinn  -  Einheit  und  Ordnung  stiftende  Instanz  der 
Modernewirklichkeit  nicht  zu  integrieren.  Sigismunds  Versuch,  den 
zentrifugalen  Kraften  als  allgemeine  Orientierung,  geistige  Einheit  und 
metaphysischen  Sinn  stiftende  Kraft  die  Stirn  zu  bieten,  scheitert  -  das  wird  in 
der  dritten  Fassung  besonders  deutlich  -  an  Olivier,  jener  sich 
verselbststiindigenden,  gegenlautigen  Kraft,  die  die  Modcrnisierungsangste 
des  Autors  in  aller  Scharfe  widerspiegelt.  Innerhalb  der  Modernewirklichkeit 
ist  ein  Sigismund  lediglich  als  gedanklich-nonnatives  Konstrukt  prasent,  findet 
nur  noch  Platz  in  der  Allegorie,  im  Mythos,  in  der  U topic.  „Gebet  Zeugnis, 
ich  war  da,  wenngleich  mich  niemand  gekannt  hat"""*,  ist  in  der  dritten  Fassung 
das  letzte  Erbe  eines  Sigismund,  der  keinen  Platz  in  der  modernen  Gesellschaft 
finden  konnte. 

Im  letzten  Aufzug  der  Kinderkonig-Fassung  steht  Sigismund  nicht 
mehr  als  Allegorie  des  Geist-  und  Totalitiitsprinzips  iiber  der  Wirklichkeit, 
sondern  fiihlt  sich  als  weldiche  Herrschertlgur  iiber  die  Wirklichkeit  erhaben 
und  hat  sich  -  gleich  seincm  ehemaligen  Lehrer  Julian  -  in  die  Gefilde  der 
politischen  Realitat  begeben,  um  als  geistige  Autoritat  seine  Ideen  eines 
umfassenden  gesellschaftlichen  Wandels  durchzusetzen.  Hofmannsthal 
rekurriert  mit  der  von  Sigismund  repriisentierten  Herrschaftsform  auf  das  in 
den  politischen  Debatten  des  20.  Jahrhundcrts  vielfach  favorisierte  Modell  der 
charismatischen  1  lerrschaft;  Sigismunds  Rollc  als  neuer  Souveran  basiert  auf 
einer  ubernatiirlichen  Fuhrerqualitat,  die  ihn  bei  seinen  Anhangern  als 
gottgesandt,  gottbegnadet  erscheinen  lasst:  „Du  hast  uns  gezeigt:  Gewalt, 
unwiderstehlichc,  und  iiber  der  Gewalt  ein  Hoheres,  davon  wir  den  Namen 
nicht  wissen,  und  so  bist  du  unser  Herr  geworden,  der  Eine,  der  Einzige,  ein 
Heiligtum,  unzuganglich."^''  Sigismunds  Vorhaben,  „zu  ordnen  und  aus  der 
alten  Ordnung  herauszutreten"- ,  stellt  ein  zu  Hofmannsthals  Zeit 
prominentes  Konzept  der  Reprasentanten  der  ,konservativen  Revolution' 
dar,  welche  in  dem  Bewusstsein,  dass  die  alte  Ord-nung  als  solche  nicht  wieder 

14 


herstellbar  ist,  fiir  Individuum  und  Gesellschaft  doch  aber  eine  Ordnung  mit 
vergleichbar  festen  Strukturen  reklamieren;  Strukturen,  die  den 
gesellschaftspolitischen  Ennvicklungen  scharf  zuwider  laufen.  Vor  diesem 
Hintergrund  ware  Hofmannsthal  folglich  ohne  Weiteres  im  Kreis  der 
konservativen  Rcvolutionare  zu  verorten  -  wenn  der  Dichter  seine  Sigismund- 
Figur  nicht  scheitern  lieBe.  Hofmannsthals  Gegenwartsdiagnose  ist  zu 
hellsichtig,  als  dass  man  ihn  schlicht  unter  epochenupischen  Deutungsmustern 
wie  ct\va  ,konservative  Revolution'  subsumieren  konnte.  Der  Dichter  niimlich 
weiB  ja  um  die  „Unm6glichkeit"  der  „Existenz"  seines  Helden  „unter  den 
aktiven  Menschen"-^:  Der  Versuch  gesellschaftlicher  Rezentrierung  durch  die 
charismatische  Kraft  des  genialcn  Kriegshelden  Sigismund  scheitert. 

Sigismund  agiert  im  funften  Aufzug  der  zweiten  Fassung  als 
strategischer  Staatsmann  und  politischer  Befehlshaber^'',  der  -  zwar  selbst 
„unge\vaffnet"'*"  -  Gewalt  doch  als  legitimes  Mittel  der  gesellschafdichen 
Neuordnung  auffasst"  und  iiber  ein  Feldlager  herrscht,  in  welchem  das 
Oliviersche  Prinzip  allgegenwartig  ist.  Sigismund  aber  macht  seine  Rechnung 
ohne  dieses  ihm  gegenliiufige  Prinzip  und  lasst  der  von  Olivier  gesandten 
Zigeunerin,  indem  er  „mit  dem  Fuss  die  aufgehauften  Dinge"  „streift",  die 
Stricke  mit  der  Begriindung  abnehmen:  „Durch  zweierlei  iibt  das  Oliviersche 
in  der  Welt  seine  satanische  Gewalt  aus,  durch  die  Ixiber  und  durch  die  Sachen."^^ 
Und  eben  jene  Einstellung  bringt  den  Melden  zu  Fall,  denn  um  in  der 
Gesellschaft  W'irkung  zu  zeigcn  und  in  sein  Recht  gesetzt  zu  werden,  bediirfte 
ja  auch  Sigismunds  ,Geist'  der  W'irklichkeit,  und  das  heiBt  bei  Hofmannsthal 
der  ,Materie',  des  ,Stofflichen'.  Uber  die  Zigeunerin,  die  schlieBlich  seinen  Tod 
herbeifiihrt,  fiihlt  er  sich  aber  erhaben,  „lacht"  iiber  deren  in  seinen  Augen 
nicht  ernst  zu  nehmende  Prophezeiungen,  wiihnt  seinen  Gegenspieler  Olivier 
iiberwaltigt  und  verkiindet  iiberhelilich:  „Ich  bin  gefeit  gegen  euch.  Erde  auf 
euch!"  „Freunde,  ich  bin  Herr  im  eigenen  I  laus."  „Es  sieht  aus,  als  ob  wir  zu 
hoheren  Dingen  bestimmt  wiiren."" 

Sigismund  verkorpert  zum  einen  in  der  Nachfolge  des  eigenen  Vaters 
und  in  der  Nachfolge  Julians  nun  selber  das  dissoziierte  moderne  Individuum, 
in  welchem  „Herz  und  Him"  nicht  mehr  „eins"^"'  sind  und  welches  -  die 
„Rede  zwischen  Geist  und  Geist"^'  ist  durchbrochen  -  als  eitel,  egoistisch  und 
iiberheblich  charakterisiert  wird.  Zum  anderen  ist  Sigismunds  Scheitern  als 
Scheitern  des  TotaUtats-Prinzips  insgesamt  Zeichen  ftir  den  Grundzustand 
der  Welt  als  den  der  Dissoziadon  von  Geist  und  Materie,  Seele  und  Leib, 
Individuum  und  Gesellschaft.  Was  Hofmannsthal  hier  aufzeigt,  ist  die 
grundlegende  Unvereinbarkeit  der  -  im  Turn/  von  Olivier  und  Sigismund 
jeweils  absolut  gesetzten  -  Prinzipien,  die  aber  erst  in  ihrem  urspriingUchen, 
harmonischen  Einklang,  in  der  angenommenen  ,All-l:i,inheit'  die  Totalitat 
und  das  Absolute  der  Welt,  das  ,Wahrhaftige'  und  ,Wesentliche'  menschlichen 
Daseins  erkennen  lassen.  Die  Dissoziation  ist  in  Hofmannsthals  Weltsicht  der 

15 


modernen  Wirklichkeit  genauso  inharent  und  unaufliebbar  wie  das  den 
Konditionen  dieser  Wirklichkeit  gegenlaufige  Bediirfnis  des  Menschen  nach 
gesellschattlicher  Syn these.  Vor  dem  Hintergrund  dieser  Denkvoraussetzungen 
aber  ist  Idar:  Die  Fragen,  welche  „Ihthung"  innerhalb  der  modernen, 
pluralisierten  gesellschaftspolitischen  Realitiit  „noch  moglich  sei'"'',  ja  wie  auf 
diesen  Grundzustand  der  Dissoziation  adiiquat  zu  reagieren  sei  und  wie  eine 
den  gesellschaftspolitischen  Ennvicklungen  angemessene  Herrschaftsform 
wieder  ein  „sittiiche[s]  Fundament"'  gewahrleisten  konne,  bleiben  im  Turw 
unbeantwortet,  miissen  aufgrund  des  Festhaltens  Hofmannsthals  an  der 
kridschen  Norm  eines  pramodernen  Einheitsmythos  und  aufgrund  seiner 
Pramisse,  dass  das  ,Volk'  nicht  selbstbesdmmungs-  und  freiheitsfiihig  sei, 
offen  bleiben.  jAIs  von  Grund  auf  dissoziierte  stellt  die  ,gesellschaftspolidsche' 
Wirklichkeit  im  T/z/wnach  MaBgabe  der  Hofmannsthalschen  Denkstrukturen 
keinerlei  Moglichkeiten  einer  tatsachlichen  Neuordnung,  weder  der 
individuellen  noch  der  gesellschaftlichen  Daseinsfiihrung,  bereit.  Dem 
modernen  Individuum  kann  konsequenterweise  nur  die  Erschaffung  einer 
gedanklichen  Gegen-  und  also  Idealwelt  helfen,  welche  die  kritische  Norm  des 
,wahrhaftigen'  Daseins  und  des  ,reinen'  Menschen  hoch  halt. 

Sigismunds  Position  verandert  sich  mit  dem  Auftreten  des 
Kinderkonigs  und  mit  seinem  Wissen  um  den  nahen  Tod  abermals.  Nun 
erscheint  wieder  sein  „G6ttliche[s]".  Indem  Sigismund  sich  von  den 
Kondidonen  der  Wirklichkeit  lost,  steht  er  erneut  als  Allegoric  fiir  das  Absolute 
iiber  dem  Geschehen,  „lachelt""*  dem  Kinderkonig,  dem  er  zunachst  hochst 
kritisch  gegeniiberstand,  nun  briiderlich  zu  und  erkennt,  dass  fur  ihn  selbst 
„kein  Platz  in  der  Zeit  ist.'"''  Entsprechend  andert  sich  auch  Sigismunds 
Wirkung  auf  das  Volk,  das  erst  jetzt  wieder  geschlossen  auftritt*^,  wahrend  es 
unter  der  charismatisch-geisdgen  Fiihrerschaft  eines  verauBerlichten,  dem 
,Wesentlichen'  seines  Ich  entfremdeten  Sigismund  nicht  zur  Einheit  tlnden 
konnte.'*'  Als  von  Hofmannsthal  so  bezeichneter  „wiedergeborener 
Sigismund'"*^  iibernimmt  der  Kinderkonig  am  Schluss  der  zweiten  Fassung 
die  Allegorie-Funkdon  fiir  das  aus  der  modernen  Wirklichkeit  verbannte 
Absolute,  dessen  „Wohnsitz"  unbedingt  zu  „heiligen"  ist,  das  nicht  ,,in  der 
Zeit"  zu  messen  ist,  aber  „wie  ein  Sternbild""*^  iiber  den  historischen  und 
gesellschaftlichen  Enrwicklungen  steht,  und  an  dessen  Existenz  der  Mensch 
notwendig  glauben  muss,  um  seine  Modernisierungserfahrungen  verwinden 
und  sich  wieder  als  Teil  einer  umfassenden  Ganzheit  erfahren  zu  konnen.  Der 
Kinderkonig  kann  als  die  personifizierte  Forderungdes  Dichters  nach  einem 
„Wiedererwachen  des  religiosen  Geistes",  nach  dem  „geistigen  Sinn"^  der 
Gesellschaft  gelesen  werden.  Nur  der  Glaube  an  iiberindividuelle  Bindungen, 
an  eine  Essenz  menschlichen  Daseins  kann,  so  die  Aussage  der  Kinderkonig- 
Fassung,  der  Modernewirklichkeit  entgegen  gehalten  werden.  „\'orwarts  und 
folget  mit  mir  diesem  Toten""*'  -  dieser  die  zweite  Fassung  des  Dramas 

16 


beschlieBende,  nachgerade  ironische  Ausspruch  des  Kinderkonigs  macht  die 
ganze  Paradoxic  evident:  Der  Tumi  impliziert  einerseits  die  Erkenntnis  der 
Hin-falligkeit  metaphvsischer  Orientierungsinstanzen,  zeigt  auf,  dass  modeme 
GeseUschaft  und  Totalitat  sich  ausschlieBen,  beschwort  aber  andererseits 
gleichzeitig  —  alJerdings  unter  Aufgabe  des  Anspruchs  auf  TeiJhabe  an  der 
gesellschaftspolitischen  Diskus-sion  um  eine  der  Modemewirklichkeit  adaquate 
Herrschafts-  und  Gesellschaftsform  -  die  Notwendigkeit  des  Willens  zum 
Glauben  an  Metaplivsik  und  Totalitat  in  einer  sakularisierten,  materiellen  und 
geistlosen  W'irklichkeit.  Es  stehen  sich  -  und  als  solche  erkannt  bzw.  kenntlich 
gemacht  -  Ideal  und  W'irklichkeit  kontrastiv  gegeniiber,  so  dass  das  Drama 
den  Rezipienten  mit  einer  Reihe  aufgeworfener  aber  unbeannvorteter  Fragen 
zuriick  liisst. 

4.  Der  Turm:  Hofmannsthals  Ringen  um  (Er-)L6sung 

Es  liegt  nahe  zu  vermuten,  dass  Hofmannsthal  sich  mit  der  Problematik 
konfrondert  sah,  dass  ihm  seine  Bewusstseinslage  bei  seinen  Fragen  beziiglich 
einer  den  gegenwiirtigen  EntwickJungen  adiiquaten  Haltung  selbst  im  XX'ege 
stand.  „[A]lles  dient  nur,  um  cin  iiberwaltigend  Gegenwartiges  zu  bewaltigen 
und  ihm  Gestalt  zu  geben."*  So  hatte  Hofmannsthal  1923  sein  ,Turm-Projekt' 
in  einem  Brief  an  Alfred  Freiherrn  von  W'interstein  beschrieben.  Gegeniiber 
Leopold  Freiherrn  von  Andrian  bekennt  er  aber:  „[M]ir  [ist]  als  hatte  ich  gar 
nicht  die  Krafte  des  Gemiites  und  des  Geistes  in  mir,  um  dies  wirkJich  zu 
bewiiltigen.  Zuweilen  scheint  es  mir,  als  lage  in  manchen  Aufgaben  die  ich  mir 
gestellt  habe,  Cberhebung,  die  gestraft  werden  muB.""*"  Hofmannsthals 
\X brtwahl  erinnert  hier  stark  an  dessen  j\lter  ego  Lord  Chandos,  welcher  seine 
an  der  idealen  X'orstellung  einer  arkadischen  All-Einheit  orientierten 
schriftsteilerischen  Plane  als  „aufgesch\vollene  AnmaBung"'**  bezeichnet,  weil 
er  die  Ideen  individueller  Weltmachtigkeit  und  allgemein  giiltiger,  iiberzeidicher 
W'ahrheiten,  sein  Bediirfnis  nach  Orientierungsinstanzen  auBerhalb  des  eigenen 
Ich  und  seine  Sehnsucht  nach  der  Autlosung  des  Individuationsprinzips  als 
der  Zeit  nicht  liinger  angemessene  erkennt  und  —  ganz  im  Gegensatz  zum 
spaten  Dramatiker  Hofmannsthal  —  als  gegebene  Strukturen  akzeptiert.  Dieses 
im  Chandos-Brief  formulierte  Problembewusstsein  konnte  ein  Grund  dafiir 
sein,  warum  Hofmannsthal  im  Besonderen  mit  dem  fiintten  Akt  der  zweiten 
Fassung  so  gerungen  und  den  ,Kinderkonig-Schluss'  in  der  dritten  Fassung 
getilgt,  es  also  letztHch  bei  seiner  (ausweglosen)  Gegenwartsdiagnose  (und  - 
flucht)  belassen  hat,  ohne  ,Erlosung'  von  der  Moderne-Krise  zu  erfahren. 
Ottonie  Griifin  Degenfeld  teilt  er  hinsichtlich  des  letzten  Aktes  der  ,Kinderk6nig- 
Fassung'  mit:  „Fls  sinti  keine  unubenvindlichcn  Schwierigkeiten,  wenn  gleich 
groBe:  sie  sind  mehr  allgemein  geistiger  als  eigentlich  kiinstlerischer  Art."'*' 
Dass  Hofmannsthal  seine  eigenen  Positionierungen  und  ,Losungsansatze' 
zeitweise  fraglich  erschienen,  verdeutlichen  zahlreiche  relativierende, 

17 


selbstreflexive  Aussagen.  So  spricht  er  beispielsweise  von  dem  „Wagnis,  ins 
Mythische  2u  gehen";  weiB,  dass  „[d]as  Mythische"  ja  „uber  der  Zeit"  steht, 
und  fragt  sich:  „Haben  wir  denn  nichts  Unvergangliches?"^" 

Summa  summarum  konnen  die  7///w-Dramen  als  Zeugnis  von 
Hofmannsthals  gedanklichem  Ringen  mit  Phanomenen  der  gesellschafdichen 
Moderne  und  als  gescheiterter  Versuch  der  ,Moderne-Be\valtigung'  gelesen 
werden.  Die  hochst  problematische  Entstehungsgeschichte  und  die 
gestalterischen  Prinzipien  des  Tiirm  dokumentieren  das  Drama  des  spaten 
Hofmannsthal,  der  laufend  zwischen  Moderne-Revision  und  akzeptierender 
Bewaltigung  oszilliert.  So  rekurriert  der  Dichter  zwar  auf  diverse  antimoderne 
Gesellschaftskonzepte  seiner  intellektuellen  Zeitgenossen;  konsequent 
anschlieBen  kann  er  sich  diesen  ,einfachen'  Losungsmodellen  ob  seines  hohen 
Problembewusstseins  aber  nicht.  So  steht  Der  Titrm  unter  dem  Zeichen  der 
Motivation,  der  pluralisierten  Moderne  in  einem  ,totalen'  Drama 
beizukommen,  obwohl  Hofmannsthal  eigentlich  weiB,  dass  niemand 
„geistesmachtig,  niemand  scharfsinnig genug  [ist],  sich  iiber  das  zu  erheben, 
was  alle  und  alles  umstrickt"'';  und  so  greift  [iofmannsthal  im  Titrw  auf 
verschiedenste  Traditionen  zuriick,  obwohl  er  sich  im  Grunde  doch  bewusst 
ist,  dass  sich  „das  letzte  des  Traditionsgeistes  [. . .]  verfliichtigt  hat."^^ 

Ob  sich  Hofmannsthal  seiner  individuellen  Weltmachtigkeit  mit 
seinem  ,T//w/-Projekt'  noch  einmal  versichern  konnte?  —  Davon,  dass  es  ihm 
schwer  gefallen  sein  muss,  seinem  Universalitiitsanspruch  inteUektueller 
Weltdeutunggerecht  zu  werden,  zeugt  nicht  zuletzt  sein  unablassiges  Ringen 
mit  dieser  -  verstandlicherweise  -  „uber  die  Begriffe  schwere[n]  Arbeit"". 
Sicher  ist,  dass  Hofmannsthals  spates  Drama,  dem  denn  auch  der  Erfolg  auf 
der  Biihne  versagt  blieb,  das  Scheitern  dieses  in  Anbetracht  der  Moderne 
obsoleten  Vorhabens  illustriert.  Ergebnis  ist  niimlich  ein  asthetisch  wenig 
ansprechender,  iiuBerst  heterogener  und  schwer  zuganglicherText,  als  dessen 
Hauptstrukturmerkmale  sich  Ambivalenz  sowie  Offenheit  und  zuletzt  auch 
Vagheit  in  Folge  allzu  groBer  KomplexitJit^^  und  einer  kaum  mehr 
aufzuzeigenden  Intertextualitat  benennen  lassen.  Mit  diesen  —  gerade  die 
spezifischen  Bedingungen  der  Moderne  spiegelnden  -  gestalterischen 
jPrinzipien'  enthiilt  der  Text  das  implizite  Eingestandnis,  dass  das  komplexe 
Gefiige  der  den  Modernisierungsprozess  kc^nstituierenden  Bedingungsfaktoren 
fur  Hofmannsthal  nicht  ganzheitlich  und  kausallogisch  zu  erfassen  sein  kann'^; 
eine  synthetisierende,  totalisierende  Weltdeutung,  der  Versuch  individueller 
Weltmachtigkeit  und  totalen  Weltzugangs  in  Anbetracht  der  gesellschafdichen 
Ausdifferenziemng,  der  subjektiven  Diversifizierung,  ja  der  Unterschiedlichkeit 
der  Wert-  und  Weltorientierungen,  kf^mmt  tatsachlich  einer  Chandos'schen 
jAnmaBung'  gleich. 


18 


Endnotes 

'  Der  Turm.  Erste  Fassung.  IvA  X\T.l,  S.  494  (Zeugnisse). 

^  Nolle,  Paul:  Gesellschaftstheorie  und  Gesellschaftsgeschichte,  S.  287. 

'  Hugo  von  Hofmannsthal:  Gabriele  d'Annunzio.  GW,  RuA  I,  S.  176.  [Anmerkungen:  Die 

Werke  Hugo  von  Hofmannsthals  werden  in  den  FuBnoten  durch  Kursivschrift 

gekennzeichnet;  zu  den  in  den  FuBnoten  verwendeten  Siglen:  vgl.  Literaturverzeichnis.] 

''  Besonders  eindriickliches  Zeugnis  von  Hofmannsthals  Auseinandersetzung  mit 

Modernisierungsprozessen  legt  der  Chandos-Brief  an.  Vgl.  dazu  Lohmeier,  Anke-Marie: 

Der  Gott  in  der  GieBkanne.  Hofmannsthal  und  die  Moderne. 

'  Vgl.  Lohmeier,  Anke-Marie:  Was  ist  eigentlich  modern? 

''  Thome,  Horst:  Modernitiit  und  Bewaisstseinswandel  in  der  Zeit  des  Naturalismus  und 

des  Fin  de  siecle,  S.  26. 

Die  erste  Fassung  des  Turm  erschien  1923  (erster  und  zweiter  Aufzug)  und  1925 
(dritter  bis  fiinfter  Aufzug)  in  den  Neuen  Deutschen  Beitragen.  Die  zweite,  stark  gekiirzte 
Fassung,  die  fiir  Hofmannsthal  offenbar  eine  Verbesserung  darstellte,  da  er  sie  konsequent 
als  die  erste  Fassung  des  Stiicks  bezeichnete,  erschien  1925  in  einem  Sonderdruck  der 
Bremer  Presse.  Die  dritte,  von  Hofmannsthal  foiglich  als  ,z\veite'  bezeichnete  Fassung, 
in  welcher  er  tief  greifende  Veriinderungen  vorgenommen  hat,  erschien  als  zweite 
Buchausgabe  1927/28.  Hofmannsthal  hat  mehrfach  die  Gleichwertigkeit  der 
unterschiedlichen  Fassungen  betont;  so  kommentiert  er  seine  ,z\veite'  Turm-Fassung  in 
einem  Brief  an  Felix  Braun:  „Ich  meine  nicht,  dass  die  erste  Fassung  [...]  zuriickgenommen 
erscheinen  soil.  Sie  konnen  ruhig  nebeneinander  bestehen."  \'gl.  Der  Turm.  Zweite 
und  dritte  Fassung.  KA  X\T.2,  S.  449  (Zeugnisse). 

Ich  beriicksichtige  hier  grundsatzlich  sowohl  die  zweite,  sog.  ,I<inderk6nig  Fassung',  als 
auch  die  dritte  Fassung  des  Stiicks.  Als  Textgrundlage  dient  zunachst  die  zweite  Fassung; 
der  Zugriff  auf  die  veriinderte  dritte  Fassung  erfolgt  bei  entsprechender  inhaltlicher 
Relevanz. 

*"  Anliisslich  der  Urauffiihrung  des  Dramas  am  Deutschen  Schauspielhaus  Hamburg 
kommentiert  Hofmannsthal:  „In  dem  Trauerspiel  ,Der  Turm'  geht  es  um  das  Problem 
der  Herrschaft,  der  Fiihrerschaft,  das  in  fiinf  Gestalten  abgewandelt  wird,  dem  Monarchen, 
dem  zur  Nachfolge  berufenen  Sohn,  dem  Kardinal-Minister,  dem  weltlichen  Politiker, 
dem  Revolutionsfiihrer."  Vgl.  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  IO\  X\1..2,  S.  471 
(Zeugnisse). 

'  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  KA  X\T.2,  zweite  Fassung,  S.  11. 
'"  Ebd.,  S.  65. 

"  Sakurai,  Yoriko:  Mythos  und  Gewali,  S.  20. 

'■^  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  I<A  X\T.2,  zweite  Fassung,  S.  43.  [Anmerkung: 
In  der  dritten  Fassung  fehlt  diese  erste  ausfiihrliche  Replik  des  Grossalmoseniers,  so 
dass  die  Zusammenhange  fiir  den  Rezipienten  schwieriger  zu  erschlieBen  sind.  Dass 
Basilius'  fehlende  Ich  Identitiit  und  einseitige  Ich-Auffassung  als  wesentliche  Griinde 
fiir  seine  falsche  Gottglaubigkeit  und  Abhangigkeit,  also  fiir  seine  Unfahigkeit  zur 
Souveranitat,  aufzufassen  sind,  kann  der  Rezipient  in  der  dritten  Fassung  aber  folgenden 
VC'orten  des  Grossalmoseniers  entnehmen:  „Gott!  Gott!  Nimmst  du  das  Wort  in  deinen 
nassen  Mund?  Ich  werde  dich  lehren,  was  das  ist,  Gott!  [...]  Ein  Etwas  spricht  mit 
meinem  Mund,  aber  aus  dir  selbst  heraus,  auf  dich  selber  zielend  [...].  Du  kannst  nichts 
mehr,  ermachst  nichts  mehr,  zergehend  und  zugleich  Stein;  in  nackter  Not  doch  nicht 
frei.  Aber  da  ist  noch  etwas!  Du  schreist:  es  ist  hinter  deinem  Schrei  und  [...]  heiBt  dich 
deinen  Schrei  horen,  deinen  Leib  spiiren  [...].  Es  verzweifelt  hinter  deiner  Verzweiflung, 
durchgraust  dich  hinter  deinem  Grausen  und  entlaBt  dich  nicht  dir  selber,  denn  es 
kennt  dich  und  will  dich  strafen:  das  ist  Gott."  Vgl.  Der  Turm.  Zweite  und  dritte 
Fassung.  I<A  X\T.2,  zweite  Fassung,  S.  46;  dritte  Fassung,  S.  157f] 

19 


'^  Aufzeichnungen  zu  Reden  in  Skandinavien.  GW,  RuA  II,  S.  39-40. 

'''  Ute  Nicolaus:  Souveran  und  Maityrer,  S.  218. 

'^  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  KA  XM.2,  zweite  Fassung,  S.  40 

"^  Die  Briefe  des  Zuruckgekehrten.  KA  XXXI,  S.  167. 

"  Hermann  Rudolph:  Kulturkritik  und  konservative  Revolution,  S.  55. 

"  Dass  Hofmannsthals  Oberlegungen  zur  Bewaltigung  der  konstatierten  gesellschaftlichen 

Krise  generell  keine  genuin  politischen  sein  konnen,  da  Hofmannsthal  uniibervvindbare 

\'orbehalte  gegeniiber  jeglicher  Form  eines  ,contrat  social'  hegt,  zeigt  Clemes  Pornschlegel: 

Bildungsindividualismus  und  Reichsidee.  Zur  Kritik  der  politischen  Moderne  bei  Hugo 

von  Hofmannsthal. 

"  Vermachtnis  der  Antike.  G\X;  RuA  III,  S.  14. 

^^  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  K.\  XM.2,  dritte  Fassung,  S.  215. 

^'  Stefan  Breuer:  Asthetischer  Fundamentalismus,  S.  12. 

^  Hermann  Rutlolph:  Kulturkritik  und  konservative  Revolution,  S.  234. 

"  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  KA  X\'1.2,  zweite  Fassung,  S.  88. 

^'  Ebd.,  S.  85,  86,  88. 

^  Ebd.,  dritte  Fassung,  S.  220. 

^  Ebd.,  zA^-eite  Fassung,  S.  116. 

^  Ebd. 

^*  Aufzeichnungen  aus  dem  Nachlass.  GW,  RuA  III,  S.  590. 

^'  Vgl.  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  KA  X\T.2,  zweite  Fassung,  S.  110  u.  S.  113- 

114:  „Ich  bin  ein  General  in  seinem  Zelt  und  muss  nach  zwei  Fronten  schlagen."  Und: 

„Wir  mussen  unsere  Geschafte  erledigen  und  konnen  vorlaufig  die  Stunde  nicht  wahlen. 

[...]  Die  Grafen  wollen  eintreten.  \X'ir  konnen  diesen  zweideutigcn  Grossen  jetzt  mit 

freierem  Blut  entgegentreten  ais  vor  einer  Stunde.  Es  gibt  keine  Oliviersche  Armee 

mehr,  die  mir  entgegenstiinde,  und  sie  sind  nicht  mehr  das  Ziinglein  an  der  Wage,  das 

sie  sich  zu  sein  diinken.  Vorwiirts  —  aber  halt  sie  im  Ungewissen  iiber  den  Empfang,  den 

ich  ihnen  bereiten  werde.  Und  wart  nochl  lass  ihncn  ihre  Schwerter  zuriickgeben:  sie 

soUen  nicht  wie  Koche  und  Stallmeister  vor  mich  treten." 

»Ebd.,  S.  103. 

^'  Vgl.  ebd.,  S.  104:  „Sigismund  beim  Tisch,  ohne  auf^sehen.  Die  Tataren  soUen  sich  in  acht 

nehmen.  VCenn  ich  wieder  einen  roten  Himmel  sehe,  lasse  ich  ihrer  Dutzend  hangen. 

Da  er  den  Blick  des  Aretes  atif  sich  ruben  fiihlt.  W'undert  Ihr  Euch,  dass  ich  schnell  die  Sprache 

der  Welt  gelernt  habe?  -  Guter  Freund,  mein  Ort  ist  ein  schreckenvoiler  Ort  [...]."  Und: 

„[...]  Und  was  ist  dort  der  grosse  steigende  Brand?  Hangt  die  Tataren,  dass  sie  wieder 

diesen  Turm  angeziindet  haben." 

52  Ebd.,  S.  107. 

"Ebd.,  S.  108,109,  112. 

^  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  K.\  X\T.2,  zweite  Fassung,  S.  29. 

«  Ebd.,  S.  85. 

^  Brief  an  einen  Gleichaltngen.  KA,  XXXI,  S.  213. 

5'  Aufzeichnungen  zu  Reden  in  Skandinavien.  GW',  RuA  II,  S.  32-33. 

'*  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  ¥JK  X\T.2,  zweite  Fassung,  S.  122. 

2'  Ebd. 

'"'  Vgl.  ebd.,  S.  123:  „Das  \'olk:  Verlasse  uns  nicht!  Harre  aus  bei  uns!" 

■"  Im  Text  finden  sich  deutliche  Hinweise  darauf,  dass  es  unter  Sigismunds  weltlicher 

Herrschaft  zu  keiner  gesellschaftlichen  Einheit  kommt,  sondern  auch  unter  seiner 

Autoritat  verschiedene  Einzelinteressen  aufeinander  stoBen:  Als  die  Bannherren 

Sigismund  als  legitimen  Nachfolger  der  Monarchic  durch  den  Grossalmosenier  kronen 

lassen  wollen,  emport  sich  Indrik:  „Keinen  Bund  zwischen  ihm  und  euch!"  Und 

wahrenddessen  steht  „[d]rauBen  [...]  das  \'olk,  viele  gewaffnet."  Vgl.  ebd.,  S.  117  u.   118. 

*^  \'gl.  Der  Turm.  F>ste  Fassung.  KA  XM.l,  S.  504  (Zeugnisse). 

20 


'"  Der  Turm.  Zweite  unci  dritte  Fassung.  K.-\  XM.2,  zweite  Fassung,  S.  123. 

^  Krieg  und  Kultur.  GW,  RuA  II,  S.  419. 

*^  Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  Kj\  XM.2,  zvveite  Fassung,  S.  123. 

"<>  Der  Turm.  Erste  Fassung.  KA  X\1.\,  S.  490  (Zeugnisse). 

"'  Ebd.,  S.  488  (Zeugnisse). 

"8  Ein  Brief.  KA  XXXI,  S.  48. 

"'  Der  Turm.  Erste  Fassung.  KA  XM.l,  S.  493  (Zeugnisse). 

'"  Aufzeichnungen  aus  dem  Nachlass.  GW,  RuA  III,  S.  588  u.  589. 

5'  Vermachtnis  der  Antii<e.  GW,  RuA  III,  S.  13. 

'^  Brief  an  einen  Gleichaltrigen.  KA  XXXI,  S.  214. 

"  Der  Turm.  Erste  Fassung.  K.\  XM.l,  S.  494  (Zeugnisse) 

^  So  bewegt  sich  das  Stiick  auf  verschiedenen  Aussageebenen  und  konglomeriert  (real- 

)politische,  soziologische,  (geistes-)geschichtliche  und  (geschichts-)philosophische 

Aspekte.  Ein  Biick  in  Hofmannsthais  Korrespondenz  iegt  nahe,  dass  sich  der  Dichter 

selbst  unschiiissig  war,  auf  welcher  Ebene  er  seine  Daseinsdiagnose  ansiedeln  sollte 

und  konnte.  In  einem  Brief  an  Josef  Redlich  bezeichnet  er  den  Turm  ais  einen  „Versuch, 

der  sich  der  Geschichte  (imaginarer  Geschichte),  der  sich  der  Politik  (der  Philosophic 

der  Politik)"  niihert  [  Hugo  von  Hofmannsthal  -  Josef  Redlich:  Briefsvechsel,  hrsg.  von 

Helga  FuBgiinger.  Frankfurt  a.M.  1971,  S.  58.];  Helene  Thimig  bestatigt  er,  das  Stiick  habe 

„mit  der  Zeit  (ich  meine  mit  der  Gegenwart,  der  Krise  in  der  wir  sind)  euvas  zu  tun"  [ 

Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  KA  XM.2,  S.  426  (Zeugnisse).];  Erika  Brecht  mochte 

er  „das  zwischen  einer  \'ergangenheit  und  einer  Gegenwart  Schwebende"  des  Dramas 

fasslich  machen    Der  Tunn.  Zweite  und  dritte  Fassung.  KA  XM.2,  S.  468  (Zeugnisse).] 

:\uch  die  mit  der  Gestaltung  der  gescllschaftspolitischen  Situation  unmittelbar 
zusammenhangende  Frage  nach  Konzeption  und  Grad  der  Allegorisierung  der  Figuren 
im  Turm  erweist  sich  nicht  allein  aus  der  Rezeptionsperspektive  heraus  als  diffizil.  Die 
Frage,  welche  (politischen)  Konzepte  die  Figuren  formulieren  und  auf  welcher 
Bedeutungsebene  diese  anzusiedeln  sind,  stellt  sich  dem  Dichter  anscheinend  selbst.  In 
einem  Brief  an  einen  Schulfreund  des  Sohnes  heiBt  es  diesbeziiglich:  „Der  eine  sieht 
eine  Gruppe  schicksalsverbundener  Gestalten  vor  sich,  der  andere  glaubt  in  diesen 
Figuren  Ideen  verkorpert  zu  sehen;  wohl  politische  Ideen,  aber  nicht  solche,  die  sich 
genau  mit  Namen  nennen  lieBen.  Vielleicht  liegt  eben  darin  das  Dichterische,  daB  sich 
beide  Moglichkeiten  durchkreuzen.  Es  fiihrt  mich  dies  in  einen  Bereich,  iiber  das  [sic!] 
Auskunft  zu  geben  mir  selbst  schwer  wird."  [Der  Turm.  Zweite  und  dritte  Fassung.  K_.\ 
X\T.2,  S.  503  (Zeugnisse).] 

"Das  Stiick  zeigt  eine  Vielzahl  von  Ivrisenfaktoren  fiir  das  Chaos  auf,  stellt  erne  Pluralitat 
von  Perspektiven  auf  das  Geschehen  dar,  ja  vereint  verschiedenste  Stimmen  und 
Reaktionen  auf  Welt  -  bereits  die  Auflistung  des  Personals  spiegelt  die  Fiille  der  im  Turm 
zu  Wort  kommenden  Stimmen  und  Einzelinteressen.  Der  Interpret  sieht  sich  vor  allem 
vor  die  Schwierigkeit  gestellt,  dass  die  kritische  Norm  des  Autors  nicht  an  bestimmte 
dramatis  personae  gebunden,  ja  am  Text  ohne  Wissen  um  spezifisch  hofmannsthalsche 
Denkstrukturen,  die  den  Dichter  das  eigens  aufgezeigte,  komplexe  ,Chaos'  schlieBhch 
auf  seine  antinomischen  Beschreibungs-  und  Bewertungsmuster  reduzieren  lassen, 
kaum  festzumachen  ist.  Die  Figuren  reprasentieren  erst  im  Gesamtgefiige 
hofmannsthalsches  Denken,  konnen  im  Einzelnen  der  kritischen  Norm  des  Autors 
gleichzeitig  entsprechen  und  ihr  wieder  ganz  entgegen  gesetzt  sein.  Dieses  Nebeneinander 
von  Sichtweisen  sowie  zahlreiche  Mehrfachmotivierungen  konnten  die  \'ermutung 
nahe  legen,  dass  Hofmannsthal  in  seinem  ,T^;7/;-Projekt'  selbst  um  eben  eine  solche  zu 
Grunde  zu  legende  Norm  gerungen  haben  konnte,  was  dann  -  unter  vielem  anderen  - 
auch  sein  langjiihriges  Arbeiten  am  Turm  und  vor  allem  das  unablassige  Umarbeiten 
erklaren  wiirde. 

Die  Problematik  der  Bestimmung  der  kritischen  Norm  des  Autors  wird 

21 


zusatzlich  dadurch  verschartt,  dass  der  Dichter  versucht,  sehr  verschiedene 
(zeitgenossische)  Diskurse  zusammenzutuhren  und  aiif  inhaltlicher  wie  auf 
dramenasthetischer  Ebene  eine  Vielzahl  von  Traditionen  zu  integrieren.  Es  finden  sich 
beispielsweise  Beziige  zur  griechischen  Tragodie,  zum  Barock,  zum  Alten  und  zum 
Neuen  Testament.  Und  vor  allem  dem  zeitgenossischen  Intellektuellen  diirften  die 
Beziige  zu  Pannvvitz'  Die  Krisis  der  europdischen  Kultur  (1917)  und  Spenglers  Untergang  des 
Abendlandes  (1918)  so  wenig  entgangen  sein  wie  der  Bezug  auf  Schnutts  Souveranitatslehre 
insbesondere  im  dritten  Aufzug  der  dritten  Fassung.  Damit  nicht  genug:  Mit  Olivier 
wird  auf  den  Faschismus,  mit  dem  Arzt  auf  den  Idealismus  und  mit  dem  Sigismund  der 
zweiten  Fassung  auf  den  Charisma-Diskurs  und  andere  Zeittendenzen  angespielt.  -  In 
ihrer  Ganze  rekurriert  Hofmannsthal  damit  aber  auf  Traditionen  und  Diskurse,  die  - 
einfach  formuliert  —  der  Moderne  gegeniaufig  sind.  Die  Liste  ware  fast  beliebig 
fortzufiihren,  die  Intertextualitat  des  Dramas  ist  enorm.  Weeks  spricht  beispielsweise 
von  „Anklange[n|  an  viele  Mythen  —  Christus  und  Parzival,  Moses  und  Odipus,  Kaspar 
Hauser  und  andere."  Vgl.  Charles  Andrew  Weeks:  Hofmannsthal,  Pannwitz  und  ,Der 
Turm',  S.  346.  Nicolaus  hat  erstmals  den  Versuch  unternommen,  diese  Uberfiiile  an 
Beziigen  in  Hofmannsthals  spater  Trauerspieldichtung  moglichst  vollstandig  aufzuzeigen. 
Vgl.  Ute  Nicolaus:  Souveran  und  Martyrer. 


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25 


26 


„Beinahe  zii  Hause": 

Heterotopie  und  de^entrale  Subjektivitdt  bei  Kracauer 

David  Wachter 


Siegfried  Kracauers  ,modernistische  Miniaturen''  kreisen  um  eine 
Wahrnehmung  dezentraler  Raume  auf  der  Schwelle  zwischen  Zentrum  und 
Peripherie.^  Ihre  literarische  Aufmerksamkeit  gilt  Bahnhofen,  lahrmarkten 
oder  Passagen  als  beweglichen  Topographien  des  (Jbergangs,  deren 
Raumstrukturen  nicht  hierarchisch  fixiert  sind.  Denn  anders  als  die  anonyme 
Architektur  der  urbanen  Zentren,  die  Kracauer  immer  wieder  als  fremde  Orte 
eines  geometrischen  Grauens  perhorresziert,  ermoglichen  historische  oder 
geographische  Schwellen  eine  ,andere'  Raumwahrnehmung,  die  der  Autor 
literarisch  zu  erfassen  sucht,  zugleich  aber  auch  als  utopische  Alternativen  zu 
den  defizitiiren  Raumkrisen  der  Moderne  ausdeutet.  Derm  die  ,anderen  Raume', 
die  hier  in  /Wehnung  an  Michel  Foucault  als  „Heterotopien"  bezeichnet  werden 
soUen,'  werden  in  Kracauers  literarischer  Imagination  von  ,anderen  Subjekten' 
bewohnt,  die  sich  in  einer  ,aisthetischen'  Entgrenzung  an  die  Dingwelt  den 
Imperativen  individueller  Selbsterhaltung  entziehen  und  -  so  jedenfalls 
Kracauers  emphatisches  Postulat  -  die  entfremdete  Existenz  der 
GroBstadtbewohner  auf  eine  neue  Humanitat  hin  offnen.  Am  Beispiel  des 
Tramps  Charlie  aus  Chaplins  Filmen,  aber  auch  dem  Protagonisten  seines 
eigenen  Romans  Ginster  (1928)  wertet  Kracauer  den  dysfunktionalen 
AuBenseiter  zu  einer  Marchenfigur  auf,  die  eine  zentrale 
geschichtsphilosophische  Bedeutung  erhalt. 

Andere  Raume:  Dystopie  vs.  Heterotopie 

Kracauers  positive  Besetzung  von  geographischer  Feme  (Marseille),  Reise- 
und  Transitorten  (Bahnhof)  sowie  Schwellenraumen  (Passagen)  steht  in 
grundsatzlicher  Spannung  zu  den  urbanen  Raumkrisen,  die  er  in  den 
atmosphiirischen  Angst-Raumen  und  architektonischen  Ordnungsvisionen 
der  urbanen  Zentren  beobachtet.  So  bcschreiben  die  Denkbilder  "Erinnerung 
an  eine  Pariser  StraBe"  (1930)  und  "Schreie  auf  der  StraBe"  (1930)  eine 
existenzielle  "Angst""*  des  Passanten  vor  offentlichen  Riiumen,  die  sich  als 
Gefiilil  einer  atmosphiirischen  Beklemmung  und  „unertraglichc|n]  Spannung" 
(\^.2,  206)  zum  Ausdruck  bringt  und  weniger  einer  konkreten  Bedrohung  als 
einer  "metaphysischen  Leere"  (\^.2,  207)  entspringt.  Diese  Leere  pragt  nach 

27 


Kracauer  nicht  allcin  die  als  krisenhatt  -  also  dystopisch  —  wahrgenommenen 
Verkehrszentren  und  tristen  ArbeitersiedJungen,  sondern  auch  die  Flaniermeilen 
der  Boulevards,  die  sich  —  ihrer  prachrv'ollen  Erscheinung  zum  Trotz  —  dem 
Passanten  als  substanzlos  aufpragen  und  von  den  eine  in  "panische[m] 
Schrecken"  (\^.2,  205)  wahrgenommene  Bedrohung  ausgeht.  In  Kracauers 
Psvchopadiologie  der  urbanen  Moderne  erscheint  das  manische  Grauen  als 
Kehrseite  der  Faszination  im  "StraBenrausch".''  Es  entsteht  aus  der 
Wahrnehmung  des  Kontrasts  zwischen  der  groBbiirgerlichen  Architektur  des 
19.  Jahrhunderts  und  der  chaotischen  Anonymitat  des  modernen 
StraBenverkehrs,  der  mit  seiner  Reiziiberflutung  durch  elektrisierte  Reklame- 
Oberflachen  aus  Kracauers  Sichr  zu  einer  Uberlastung  des 
Wahrnehmungsapparats  fiihrt.  Hinzu  kommt  in  Texten  wie  "Zwei  Flachen" 
(1926),  "Proletarische  Schnellbahn"  (1930)  und  "Die  UnterfUhrung"  (1932) 
eine  Kritik  architektonischer  Machtstrukturen:  Die  durchkonstruierten  Zentren 
bilden  fur  Kracauer  normierte  Ordnungsraume,  die  mit  ihrer  unerbittlichen 
Geometric  jede  Spur  menschlicher  Lebensverhaltnisse  zu  tilgen  drohen.^ 
Besonders  offensichtlich  wird  diese  dystopische  Rationalisierung  des 
offentlichen  Raums  in  dem  Abschnitt  "Das  Karree"  aus  "Zwei  Flachen".  Das 
architektonische  Quadrat  eines  durchorganisierten  Platzes  in  Marseille,  "das 
mit  einer  Riesenform  in  das  Geschlinge  gcstanzt  worden  ist"  (V.l,  379), 
unterbricht  dort  das  archaisch-ungeplante  "Labyrinth"  (ebd.),  die  verwickelten 
Gassen  und  difRisen  Irrwege  der  traditionellen  Umgebung.  Mit  seiner  "Gewalt 
des  Quadrats"  (ebd.)  bildet  der  Platz  einen  panoptischen  Ordnungsraum:  ein 
Zentrum,  das  von  den  umliegenden  Hausern  beobachtet  werden  kann,  welche 
sich  ihrerseits  der  Transparenz  des  Blicks  verweigern.  In  diesem  Regime  der 
Sichtbarkeit,  deren  literarische  Darstellung  die  machanalytischen  Studien 
Foucaults  in  Uberwachen  und  Strafen  vorwegnimmt,  entziehen  sich  die 
Zentren  der  Macht  in  die  Verborgenheit:  "Ohne  daB  die  Beobachter  zu  sehen 
wiiren,  dnngen  ihre  Blickstrahlen  durch  die  Fensterliiden,  durch  die  Mauern." 
(ebd.).**  Dementsprechend  agiert  der  Passant  im  Machtbereich  des  Platzes  nicht 
mehr  als  Subjekt,  sondern  als  Objekt  einer  anonymen  Getangennahme  -  eine 
Verscliiebung  der  I  landlungsmachtigkeit,  die  Kracauer  durch  eine  syntaktische 
Umkehrung  von  Subjekt  und  Objekt  ausdriickt:  "Nicht  gesucht  hat  den  Platz, 
wen  er  fmdet."  (\' 2,  379)' 

Wie  das  Denkbild  "Proletarische  Schnellbahn"  verdeutlicht,  weitet 
sich  diese  dystopische  Ordnungsmacht  in  den  avancierten  Zentren  der 
Moderne,  maBgeblich  Berlin,  fur  Kracauer  zu  einer  homogenen 
Rationalisierung  des  offentlichen  Raums  aus,  die  auch  in  der  Sauberkeit  und 
Ordnung  neuer  U-Bahnhofe,  in  deren  liickenlcjser  Organisation  und 
hygienischen  Anonymitat,  ein  djimonisches  "Unbehagen"  (V.2,  180)  auslost. 
In  diesem  durchrationalisierten  Raum  ist  die  architektonische  Rationalisierung 
aus  Kracauers  Sicht  in  eine  mythische  Naturverfallenheit  umgeschlagen,  da  sie 

28 


die  konstruktiven  Moglichkeiten  fortgeschrittener  Rationalitiit  in  den  Regimen 
geometrischer  Riiume  eliminiert:  "Es  ist  wohl  der  Gegensatz  zwischen  dem 
geschlossenen,  unerschiitterlichen  Konstruktionssystem  und  dem 
zerrinnenden  menschlichen  Durcheinander,  der  das  Grauen  erzeugt."  (V.3, 
41)'°  Dystopisch  erscheint  fiir  Kracauer  nicht  ailein  der  radonalisierte 
Ordnungsraum  der  Zentren,  sondern  auch  die  stillgestellte  und  der 
"Vergessenheit"  (V.2,  22)  anheimgegebene  Banlieue  der  trostlosen 
Arbeitersiedlungen,  die  er  in  "La  Ville  des  Malakoff"  (1927)  literarisch 
ausgestaltet.  Von  "Verlassenheit"  (ebd.)  und  "Vereinzelung"  (ebd.) 
gekennzeichnet,  bilden  deren  Miethausblocke  einen  melancholisch-depressiven 
Raum  vollstandiger  sozialer  Marginalisierung,  der  architektonische  Gewalt  und 
soziale  Hoffnungslosigkeit  in  einer  "Alpdruckvision"  (V.2, 24)  verbindet. 

Gegen  die  dystopischen  Zentren  setzt  Kracauer  die  Peripherie 
heterotopischer  Rand-,  Zwischen-  und  Gegenraume  an  den  Randern  der 
Gesellschaft."  In  seiner  Faszination  fiir  historische  und  geographische 
SchwelJen  werden  Bahnhofe,  Gassenlabyrinthe,  jahrmarkte  und  Passagen  zu 
experimentellcn  Riiumen  einer  produktiven  Phantasie,  die  den  Dystopien  der 
Zentren  das  offene  Chaos  der  Peripherie  entgegensetzen  will.''  Kracauers 
literarischer  Blick  umkreist  dabei  mehrere  mit  einander  verbundene  Formen 
der  Heterotopic,  die  im  Folgenden  herausgearbeitet  werden  sollen: 
geographische  Feme  (Reise);  Transitraum;  urbane  Peripherie;  und  zeitliche 
sowie  raumliche  Schwelle. 

In  seinen  Reisebeschreibungen  zeigt  sich  Kracauer  fasziniert  von 
mediterranen  Stadten  wie  San  Gimigniano,  Nizza  oder  Marseille,  die  sich  als 
dezentrale  und  labyrinthische  Raume  der  topographischen  Fixierung 
entziehen.''  In  "Zwei  Flachen"  (1926)  arbeitet  Kracauer  den  Gegensatz 
zwischen  dystopischer  und  heterotopischer  Raumordnung  paradigmatisch 
heraus.''' Wahrend  das  "Karree"  einen  geometrischen  Ordnungsraum  darstellt, 
bildet  die  „Bai"  eine  labyrinthische  Traumlandschaft  als  "Kaleidoskop"  (V.l, 
378)  vernetzter  Raumphanomene.  Den  unterschiedlichen  Raumstrukturen 
entsprechen  dabei  aus  Kracauers  Optik  unterschiedliche 
Wahrnehmungsformen:  Die  geometrisch-abstrakte  \X  ahrnehmung  im  Karree 
wird  durch  die  synasthedsche  Wahrnehmung  der  "menschliche[n]  Fauna" 
(ebd.)  unterlaufen.  Es,  entsteht  eine  Asthetik  labyrinthischer  Vernetzungen, 
die  sich  als  unverfiigbar  und  ungeplant  herausstellen  und  daher  nur  im  zieUosen 
Schlendern  erfahren  werden  konnen.  Als  experimenteUer  Raum  fiir  nomadische 
Lebensformen  des  Aufbruchs  erscheint  die  mediterrane  Kleinstadt  in  "Stehbars 
im  Siiden"  (1 926).  Dort  bilden  die  iiber  die  Stadt  verstreuten  Stehbars  „winzige 
Hafen,  aus  denen  man  abfahren  kann"  (V.l,  383)  und  in  denen  die  Besucher 
zu  "unstetefn]  Nomaden"  (V.l,  382)  werden.  Die  exterritoriale  Existenz,  die 
auch  Kracauers  eigenen  l>ebensweg  seit  der  Emigration  nach  Frankreich  1933 
und  in  die  USA  1938  bestimmt  hat,''  wird  von  den  "Abbruchstellen"  (V.l, 

29 


382)  und  "Sprunge[n]"  (ebd.)  in  der  mediterranen  Stadt  angezogen.  Die 
Diskontinuitat  des  Raums  wird  hier  von  Kracauer  als  Eriosung  von  der  falschen 
Homogenitiit  rationidisierter  Metxopolen  imaginiert:  "Das  Ganze  ist  zerstiickelt, 
und  ein  Verdacht  richtet  sich  wider  seine  Einlieit."  (\U,  382)  Diese  nomadische 
Existenz  wird  insofern  utopisch  aufgeladen,  als  sie  ein  Ethos  der  konstruktiven 
Phantasie  als  Lebensentwurt  ermoglichen  soil:  "So  verliert  der  aus  dem  Hafen 
Scheidende  den  Sinn  fiir  die  MaBe  des  Lebens,  das  hinterilim  liegt.  Es  zerfallt 
ihm  in  lauter  einzelne  Telle,  aus  denen  er  die  Bruchstiicke  eines  anderen  Lebens 
improvisieren  mag"  (V.l,  383).  In  Kracauers  exterritorialer  Faszination  fiir 
mediterrane  Improvisationsraume  kehrt  damit  zugleich  seine  Filmasthedk 
der  Montage  wieder,  die  ihrerseits  improvisatorische  Konstrukdonen  und 
spielerische  Entwiirfe  gegeniiber  festen  Ordnungen  favorisiert."" 

Das  Prinzip  des  Nomadischen  zeigt  sich  auch  an  Kracauers  Interesse 
fiir  Transitorte.  In  "Die  Eisenbahn"  (1930)  erscheinen  dem  Flaneur  die 
Bahnhofe  als  "Oasen  der  Improvisadon"  (V.2,  175),  die  zugleich  in  einer 
bestimmten  Stadt  nnd  an  der  Schwelle  zum  Aufbruch  lokalisiert  sind.  An 
diesen  Ausgangspunkten  von  Abreise  und  Riickkehr  wird  Befreiung  aus 
Kracauers  Sicht  als  kosmopoHtische  Offnung  erfahrbar,  die  auch  provtnziellen 
Orten  ein  Internationales  Flair  verleiht.  Diese  Horizonterweitemngdurchbricht, 
so  lassen  sich  seine  Oberlegungen  ausdeuten,  die  Schranken  sowohl  der 
erstarrten  biirgerlichen  Tradition  wie  der  berutlichen  Fixierung  in  der 
arbeitsteiligen  Gesellschaft  und  ermoglichen,  zumindest  temporar,  ein 
modernes  Nomadentum  als  moglichkeitsoffene  Lebensform.  Der  Text 
entwirft  dabei  ein  Ethos  exterritorialer  Existenz  auf  Reisen.  Techniken  der 
Wiederherstellung  eines  "kiinstlichefn]  Zuhause[s]"  (V.2, 177),  wie  Kracauer 
sie  im  Zug  an  den  Proviantkorben  einer  hnnischen  Familie  erkennt,  werden 
abgelehnt,  denn  "die  gewohnten  vier  W'iinde  miissen  fallen,  wenn  das 
BewuBtsein  der  Fahrt  erstehen  soil."  (ebd.)  Auf  Reisen  erfiihrt  der  Erzahler 
die  Exterritorialitat  seiner  Bewegung  als  Befreiung  und  als  Freude  iiber  die 
Reise  selbst  wie  iiber  die  imaginare  Dynamik  seiner  Phantasie,  die  ihn  in  ein 
"Reich  der  Wachtraume"  (W.l,  177)  fiihrt. 

Heterotopische  Raumstrukturen  finden  sich  in  Kracauers 
Denkbildern  zudem  bevorzugt  an  einer  inneren  oder  auBeren  Peripherie  der 
Stadte.'"  Deren  labyrinthische  \'erschlungenheit  steht,  so  die  "Analyse  eines 
Stadtplans"  (1 926),  gegen  die  modernistische  Dynamik  der  Zentren.  Kracauer 
wendet  seine  Aufmerksamkeit  von  der  triumphierenden  "Oberwelt  der 
Boulevards"  (\'.l,  401)  ab  und  den  Pariser  Faubourgs  zu,  die  als  historische 
Obergangsraume  vom  Yerschwinden  bcdrcjht  sind  und  doch  die  "Riesenasyle 
der  kleinen  Leute"  (\'.l ,  400)  bilden.  Indem  Kracauer  diese  SchweUenriiume  als 
"gefLilltes  Dasein  im  Zeichen  des  Abbruchs"  (y.  1 ,  401)  apostropliiert,  artikuliert 
die  "Analyse  eines  Stadtplans"  wie  viele  andere  Denkbilder  Kracauers  eine 
nostalgische  Zuneigung  zu  Raumen  des  Obergangs  -  und  konterkariert  somit 

30 


jene  modemisdsche  Leidenschaft,  die  Kracauer  selbst  wiederholt,  paradigmatisch 
im  „Ornament  der  Masse",  an  den  Tag  legt.  Denn  anstelle  eines 
avantgardistischen  Denkgestus  der  potenzierten  Entmythologisierung  liegt 
Kracauers  }  Icjffnung  nun  auf  jenen  Schwellenraumen,  die  der  Rarionalisierung 
der  Zentren  wenigstens  temporar  entzogen  bleiben  -  und  die  es  vor  dem 
\  ergessen  zu  retten  giJt.  Bei  dieser  Auslegung  der  Schwellenraume  verschieben 
sich  die  Koordinaten,  die  Kracauers  theoretischen  Diskurs  bestimmen.  Die 
Archaik  der  Waren  in  den  Liiden  des  Avenuen,  die  in  den  Bezeichnungen 
"Gestriipp"  (cbd.)  und  "Urwaldstamme"  (ebd.)  zum  Ausdruck  kommt, 
erscheint  hier  nicht  wie  im  wenig  spiiter  erschienenen  „Ornament  der  Masse" 
als  mythologischc  Xaturverfallenheit,  sondern  als  positive  "Menschlichkeit" 
(ebd.),  der  utopische  Dimensionen  abzulesen  sind. 

Diese  veriinderten  Konstellationen  finden  sich,  den  "Pariser 
Beobachtungen"  (1927)  zufolge,  nicht  allein  in  den  Faubourgs  als 
geographischen  \'ororten,  sondern  auch  an  der  inneren  Peripherie,  die  Paris 
insgesamt  vom  modernistischeren  Berlin  unterscheidet.'-  Entscheidend  ist 
dafur  die  Semantik  des  Kleinen,  das  als  "Angemessenheit  samtlicher  Gebilde 
an  die  menschlichen  Bediirfnisse  und  Proportionen"  (\'.2, 29)  begriffen  wird 
und  in  einen  oftenen  Gegensatz  zu  der  als  unmenschlich  abgelehnten 
Rationalitat  der  Zentren  eintritt.  An  dieser  inneren  wie  auBeren  Peripherie 
lokalisiert  Kracauer  die  utopischen  Horizonte  einer  integralen  Verbindung 
von  Mensch  und  Natur,  der  allerdings  an  dieser  Stelle  nur  im  Modus  der 
Nostalgie  artikuliert  werden  kann:  "das  Humane  ist  Natur,  die  Natur 
humanisiert."  (\'.2,  29)  In  der  "Analyse  eines  Stadtplans"  tritt  zu  dieser 
nostalgischen  Vision  das  utopische  Bild  einer  ^'ersohnung  von  Mensch  und 
Natur  hinzu,  das  Kracauer  am  Beispiel  eines  kleinen  "Oltriiufelapparats" 
entwickelt.  Eigentlich  ein  gewalttatiger  "Apparat  aus  Glas  und  Metall,  dessen 
spitzer  Stachel  einzig  aus  der  Lust  an  der  Qualerei  geboren  scheint"  (\a,  401), 
verjindert  sich  dieses  Instrument  durch  seinen  Eintritt  in  den  humanen 
Warmestrom:  "Die  Bedurftigkeit  der  Umgebung  hat  ihn  freundlich  gestimmt 
und  aus  einer  mechanischen  Biene  in  einen  harmlosen  Hauskobold  verwandelt, 
der  sich  um  die  Zubereitung  der  Mahlzeiten  bekiimmert  und  den  Kindern 
gut  ist."  (X:  1,402) 

Dieser  utopische  Horizont  einer  I  larmonie  zwischen  Mensch,  Natur 
und  Technik  bestimmt  auch  das  Denkbild  "Das  StraBenvolk  in  Paris"  (1927), 
in  dem  die  Entgrenzung  des  Subjekts  an  die  analogische  "Staddandschaft" 
(\^.2,  39)  mit  der  konstrukdven  Erwartung  eines  "Mosaik[s]"  (\L2,  40) 
verbunden  wird.  Das  Naturhafte  der  "Kleinstadt"  (V.2, 39)  Paris  besteht  dabei 
in  einer  Eingliederung  des  Menschen  in  das  "unauflosliche  Zellengewebe" 
(ebd.)  des  "StraBennetzfes]"  (ebd.),  der  "vermittelnde[n]"  (ebd.)  Kommunion 
mit  "Dingen,  die  sich  ihrer  Verfluchdgung  zu  abstrakten  Gegenstiinden 
erwehren"  (\^.2,  40),  und  einer  daraus  folgenden  "animalische[n]  Warme" 

31 


(ebd.).  Mit  \X'endungen  wie  "\'egetation  der  kleinen  Leute"  (\'.2, 39),  "Humus" 
(ebd.)  oder  "gediingt"  (\^.2,  40)  durchzieht  die  Natursemantik  das  ganze 
Denkbild.  Zugleich  erweist  sich  diese  Stadtnatur  als  Produkt  menschlicher 
Praxis:  "Dieses  Volk  hat  sich  die  Staddandsciiaft  geschaffen  [...]"  (\'.2, 39).  Als 
"diinnste  Konstrukdon"  (V.2,  41)  tritt  in  dieser  Praxis  jedoch  das  Moment 
der  Planung  in  den  Hintergrund  und  gibt  einem  naturhaften  Chaos  von 
heterotopen  Orten  wie  Basaren,  Buden  und  )ahrmarkten  Raum,  in  dem  die 
Dinge  "geistesabwesend  durcheinander[taumeln"  (ebd.)  und  Freiraume  fiir 
niedere  Bediirfnisse  und  Wiinsche  des  Menschen  bestehen.  Doch  wird  der 
heterotopische  Stadtraum  in  "Das  StraBenvolk  in  Paris"  nicht  als  gelungene 
Utopie  priisentiert.  Denn  die  chaodsch-naturhaften  Topographien  des  einfachen 
Stadtv'olks  bleiben  jener  „Sinnferne"  verhaftet,  die  Kracauer  aus  theologischer 
Perspekdve  der  Moderne  ganz  grundsatzlich  attestiert:  Es  "strebt  nicht 
himmelwarts"  (\\2,  40),  sondern  "bau[t]  sich  fortwahrend  ab"  (ebd.).  Die 
harmonische  Vision  erscheint  im  Modus  des  "Zerfallfs]"  (ebd.)  und  der 
Unlesbarkeit:  "als  ob  ein  unbekannter  Zwang  [das  Volk]  davon  abhielte,  sich 
zu  einem  lesbaren  Muster  zusammenzusetzen"  (ebd.).  In  dieser  Situadon 
wird  die  nostalgische  Tendenz  der  Paris-Texte  bewuBt  dementiert,  wird  die 
utopische  Atmosphiire  der  BasarstraBen  und  jahrmarkte  in  der  Textbewegung 
selbst  als  illusionar  entlarvt:  "Doch  miissen  die  StraBen  zur  Mitte  begangen 
werden,  denn  ihre  Leere  ist  heute  wirklich."  (\'.l ,  403). 

Auch  die  Passage  als  historischer  und  topographischer  Schwellenraum, 
den  Kracauer  in  "Abschied  von  der  Lindenpassage"  (1 930)  entwirft,  ist  vom 
Verschwinden  bedroht.  Schwellenraum  ist  sie  als  "Bazar"  (y.2,  262)  inmitten 
der  biirgerlichen  Welt,  indem  sie  die  durch  biirgerlichen  Konformismus 
verdrangten  Cjegenstiinde  und  sinistrenTriebwiinsche  hortct.  Schwellenraum 
ist  sie  aber  auch  als  topographische  Materialisation  historischer 
L'ngleichzeidgkeit:  Sie  bewahrt  die  dvstunktionalen  und  vom  Vergessen 
bedrohten  Materialien  der  vergangenen  Lebenswelten  aut,  wahrend  sie  selbst 
von  der  Radonalisierung  des  urbanen  Raums  zunehmend  marginalisiert  wird: 
"Die  Zeit  der  Passagen  ist  abgelaufen."  (\'.2, 260)  In  beiden  Funkdonen  noderen 
die  Passagen  die  dunkle  Kehrseite  der  glitzernden  Reklameoberflachen,  indem 
sie  als  "innere[s]  Sibirien"  (\'.2,  264)  die  ausgestoBenen  Gegenstiinde  und 
Begierden  in  ihrer  Materialitiit  priisenderen. 

Mit  ihrer  ausdriicklichen  Zuwendung  zu  "K6rpertriebe[n]"  (V.2, 
262)  und  "AUotria"  (ebd.)  stellen  die  Passagen  fiir  Kracauer  eine  materiale 
Kritik  der  schnellebigen,  konformistischen  und  in  letzter  Instanz  illusionaren 
Vergniigungsindustrie  als  "Fassadenkultur"  (\\2, 264)  dar.  Ihr  heterotopischer 
Ort  wird  als  Gegenraum  und  kritisches  Reversbild  der  "biirgerlichen  Front" 
(y.2,  264)  gedeutet  -  ein  Gegenraum,  der  jedoch  fiir  Kracauer  nicht  nur  die 
"erloschene  Fratze"  (\'.2,  265)  des  Vergessenen  und  Verdrangten  aussteUt, 
sondern  zugleich  ein  rettendes  Eingedenken  an  das  Verlorene  ermoglicht: 

32 


"Aber  wir  entrissen  ihr  auch  das  uns  heute  und  immer  Gehorige,  das  dort 
verkannt  und  entstellt  funkclte."  (V.l,  265)  In  diesem  Sinne  wird  die  Passage 
nicht  aus  sich  allein  heraus  zum  Ort  utopischer  Spuren,  sondern  erst  durch 
den  Gebrauch,  den  der  "rechte  Passant"  (\'.2,  264)  von  ilir  macht:  "(Er,  der  ein 
\\gabundierender  ist,  wird  sich  dereinst  mit  dem  Menschen  der  veriinderten 
GeseUschaft  zusammentlnden.)"  (\\2,  264)  Denn  er  verwandelt,  so  lasst  sich 
Kracauers  utopische  Perspektive  verstehen,  die  heterotopische  Passage  in  den 
utopischen  Raum  einer  anderen  Praxis,  in  der  Mensch  und  Dinge  einander 
nicht  entfremdet  gegeniiberstehen,  sondern  eine  geheime  Beziehung 
zueinander  auhveisen.  Er  verxveist  damit  zugleich  auf  Kracauers  Konzept 
einer  anderen  Subjektivitat,  die  am  Beispiel  Chaplins  theoretisch  erlautert  und 
im  Roman  Ginster  (1928)  Literarisch  ausgefiihrt  wird. 

Andere  Subjekte:  Asthetische  Negathitat  und  mimetisches  Vermogen 

Der  synasthetischen  W'ahrnehmung  und  labvrinthischen  Raumstruktur  von 
Kracauers  Heterotopien  entsprechen  veranderte  Formen  von  Subjektivitat, 
die  gegen  das  rationale  Individuum  Descartes'  wie  gegen  das  im  bi.irgerlichen 
Kapitalismus  herrschende  Prinzip  machtbasierter  Selbsterhaltungopponieren. 
Mit  seinen  Uberlegungen  zu  einer  ,anderen  Subjektivitat'  will  Kracauer  die  in 
der  klassischen  Moderne  inflationiir  thematisierte  Depotenzieaingdes  Subjekts 
in  einer  Bewegung  der  Cberbietung  produktiv  wenden.  Als  "Anti-Subjekte" 
(Giinter)  bilden  Charlie  und  Ginster  tiir  Kracauer  Figuren  der  Entstellung,  die 
eine  AuBenseiterposition  in  der  GeseUschaft  einnehmen  und  zugleich  in  ihrer 
radikalen  Auflosung  der  biirgerlichen  Innerlichkeit  neue  Modi 
entsubstantialisierter  Subjektivitat  zum  Ausdruck  bringen.  Mit  dieser 
dialektischen  Wende,  die  utopische  Spuren  am  Nullpunkt  der  Entfremdung 
zu  entziffern  versucht,  greift  Kracauer  jene  Denkfigur  einer  "produktiven 
Negativitat'""  auf,  die  zahlreiche  zeitgenossische  XX'endungen  gegen  das  Ich  - 
von  Benns  ,Ich-Auflosung'  iiber  Brechts  ,Ummontierung'  Galy  Gays  bis  hin 
zu  Musils  ,Mann  ohne  Eigenschaften'  -  bestimmt.'"  Der  Umschlag  der 
Negativitat  an  den  Leerstellen  zerstorter  Innerlichkeit  bezeichnet  bei  Kracauer 
einen  doppelten  utopischen  Horizont.  Zum  einen  ermoglichen  die 
AuBenseiterf-iguren  einen  konstruktiven  Biick  auf  die  Gegenwart,  welcher 
deren  Grundstrukturen  entziffert,  indem  er  eigene  Erfahrungen  zur 
asthetischen  Erkenntnis  im  "Mosaik"(\l,  2,  32f)  montiert.  Zum  anderen 
bringen  sie  eine  Gliickserfahrung  zum  Ausdruck,  die  gerade  aus  dem  \^erzicht 
auf  autonome  Selbsterhaltung  und  einer  damit  einhergehenden  radikalen 
Entgrenzung  an  die  Dingvvelt  entsteht.  Indem  Kracauer  die  ohnehin  briichig 
gewordenen  Grenzen  zwischen  verdinglichten  Menschen  und 
anthropomorphen  Objekten  voUends  unterminiert,  legt  er  eine  utopische 
Spur  anderer  Menschlichkeit  -  emphatisch  imaginiert  als  ziirtliche 
Kommunikation  mit  den  zu  neuem  Leben  erweckten  Gegenstiinden  des 

33 


Alltagslebens. 

MaBgeblichen  Zugang  zu  dieser  ,anderen  Subjektivitat'  findet 
Kracauer  in  seinen  Uberiegungen  zur  pantomimischen  Kunst  Charlie  Chaplins, 
dessen  FUme  er  im  Feuilleton  der  Frankfurter  Zeitung  bespricht.''  Denn  an 
Chaplins  Tramp  beobachtet  Kracauer  die  Ersetzung  einer  autonomen 
Subjektivitat  der  Selbsterhahung  durch  eine  Leerstelle:  "ihm  ist  das  Ich 
abhanden  gekommen"  (\T.  1 ,  269).  Indem  das  Subjekt  in  Chaplins  Filmen  als 
Hohlraum  erscheint,  erhalt  es  jedoch  aus  Kracauers  Sicht  zugleich  einen 
sprengenden  Impuls:  "Er  ist  ein  Loch,  in  das  alles  herein  fiillt,  das  sonst 
Verbundene  zersplittert  in  seine  Bestandteile,  wenn  es  unten  in  ihm  aufprallt." 
(\1. 1,269)  Indereigentumlichen"Beziehungslosigkeit"  (M.2, 33)  des  Tramps 
gegenijber  seiner  Umwelt  zeigt  sich  zugleich  ein  \'erzicht  auf  Gewaltausiibung, 
die  ihn  gegen  seine  Konkurrenten  im  ProduktionsprozeB  wehrlos  macht. 
Aus  Sicht  der  normalen  Menschen  und  ihres  funktionalen  \'erhaltnisses  zu 
den  Gegenstanden  erscheint  der  Tramp  als  Versager.  Fiir  Kracauer  dagegen 
lasst  sich  seine  existenzielle  Zerstreutheit  als  "z-Mlegorie  der  Geistesabwesenheit" 
(VI.  1,  338)  lesen,  die  der  verkehrten  Welt  einen  Zerrspiegel  vorhalt.  Ihr 
permanentes  AnstoBen  gegen  die  widerstiindigen  Dinge  zeigt  eine  reale 
Enthumanisierung  des  Menschen,  der  der  Gewalt  der  Dinge  ausgesetzt  ist. 
Bei  seiner  verzerrten  Spiegelung  des  Normalzustandes  stellt  Chaplin  aus 
Kracauers  Sicht  die  bestehende  Welt  infrage,  indem  er  seine  Mkmenschen  in 
parodistischer  Mimikry  nachahmt,  sie  "auBerlich  imitiert  und  derart  in  Frage 
stellt"  (\T. 2, 313). 

Aus  Kracauers  Perspektive  weisen  Chaplins  Filmgrotesken  somit  in 
mehrfacher  Hinsicht  utopische  Tendenzen  auf.  Zum  einen  entzieht  sich  der 
Tramp  mit  seiner  naiven  Ungeschicklichkeit  den  Funktionsmechanismen 
gesellschaftlich  integrierter  Indi\iduen  und  eroffnet  im  Scheitern  des  gewohnten 
den  Horizont  eines  veranderten  Lebens.  Indem  Kracauer  dieses  verkehrte 
Subjekt  in  einen  utopischen  Horizont  stellt,  weist  er  Beziige  zu  Benjamins 
Kafka- Aufsatz  auf,  der  seinerseits  in  den  grotesken  Gehilfen  des  i'f/j/o/i'-Romans 
ein  Unterpfand  der  Erlosung  entziffert:  "Fiir  sie  und  ihresgleichen,  die 
Unfertigen  und  Ungeschickten,  ist  die  Hoffnung  da."^^ 

Gleichzeitig  weist  Kracauers  Betonung  des  wechselseitigen  Bezugs, 
in  dem  der  Tramp  zu  den  Dingen  seiner  Lebenswelt  steht,  auf  die  Bestimmung 
des  mimetischen  Vermogens  voraus,  die  Benjamin  zu  Beginn  der  dreiBiger 
Jahre  in  seinen  Arbeiten  "Lehre  vom  AhnUchen"  und  "Uber  das  mimetische 
Vermogen"  herausarbeiten  wird.  Mimetisches  Vermogen  artikuUert  Charlie 
durch  seine  Verbindung  von  Naivitat  und  List,  die  eine  geschickte  Mimikry  an 
die  Stelle  der  Selbsterhaltung  durch  Machtausiibung  setzt  und  die  Dinge  nicht 
unteru'irft,  sondern  ihnen  als  eigenartigen  Subjekten  begegnet.  Dieser  Kontakt 
fiihrt  zwar  nicht  zu  einem  harmonischen  \'erhaltnis,  sondern  zu 
Widerstandigkeit  und  Auseinandersetzung.  Doch  diese  Konfrontationen 

34 


werden  durch  Charlies  Grundliiiltunggelost,  "die  heimtiickischen  Gegenstjinde 
zu  iiberlisten"  (V.2,  285).  Mimetisches  Vermogen  artikuliert  Chaplin  aus 
Kracauers  Sicht  auBerdem  durch  einen  zartlichen  Umgang  mit  den  Dingen, 
welcher  diese  in  den  Bereich  des  Humanen  integriert. 

Zugleich  iiuBert  sich  die  andere  Subjektivitat  in  Chaplins  Filmen  fur 
Kracauer  in  der  physiognomischen  Ausdruckssprache,  die  als  mimische 
"Gebardensprache"  (\'1.2,  All)  Bela  Balazs'  L'topie  einer  neuen  Visualitat  aus 
Der  sichtbare  Mensch  filmisch  umsetzt.  Mit  seinem  "mimische [n] 
Sprachschopfertum"  (\'1.2,  472)  iibersetze  Chaplin  Handlungen  und 
sprachLiche  Kommunikation  in  den  "optischen  Raum"  (\^1.2,  313)  eines 
physiognomischen  Ausdrucks,  der  als  Internationale  Verstandigung  die 
sprachlichen  Grenzen  der  Nationen  iiberschreite.  International  wirkt  Chaplins 
andere  Humanitat  aber  aus  dieser  utopischen  Perspektive  auch  deswegen,  well 
er  als  "heimatloser  N'^agabund"  (A'1.2,  312)  jene  nomadische  Existenz 
verkorpert,  die  auch  Kracauers  literarische  Heterotopien  umkreisen.  Nadonen 
und  Religionen  sind  fiir  ihn  keine  substanziellen  Grenzen  mehr,  da  er  seine 
AuBenseiterposition  in  ein  nomadisches  Nirgendwo  umwandelt.  Mit  dieser 
vermeintlichen  Heimatlosigkeit  besitze  Chaplin,  so  Kracauers  emphatische 
Deutung,  gleichwolil  die  exterritoriale  Heimat  des  Nomaden:  Chaplin  erscheint 
als  "ein  Habenichts,  der  seine  Heimat  nirgends  und  iiberall  hat."  (A''1.2,  493) 
Diese  territoriale  und  subjektive  Dezentralitat  deutet  Kracauer  aus  utopischer 
Perspektive  als  eine  -  wenn  auch  nur  im  Konjunktiv  tbrmuHerbare  -  Erfahrung 
des  Gliicks:  "Es  ist,  als  habe  die  Welt  sich  aus  dem  Spiegelwahnsinn 
zuriackgefunden  und  er  diirfe  sein,  wie  er  ist."  (\^1.2,  34)  Das  entgrenzte  Subjekt 
hat  zwar  nach  Kracauer  mit  den  widerstiindigen  Objekten  zu  kampfen,  wird 
iedf)ch  in  seiner  Strategic  mimetischer  List  von  kontingenten  Ereignissen 
unterstiitzt  und  profitiert  in  seiner  Xaivitat  von  "Zufalle[n],  die  ihm  so  treu 
sind  wie  dem  Bettler  sein  Mund"  (\"1.2,  312).  Bei  dem  "Chaplingeliichter,  das 
wie  ein  Blitzstrahl  Irrsinn  und  Gliick  zusammenschmilzt"  (\'^2, 285),  wird  die 
individuelle  Entstellung  mit  dem  utopischen  Horizont  einer  anderen 
Menschlichkeit  iiberblendet,  die  sich  in  der  versprengten  Figur  des  Tramp 
fragmentarisch  zu  crkennen  gibt:  "Aber  aus  dem  Loch  strahlt  das  reine 
Menschliche  unverbunden  heraus"  (A'l.l,  269f.). 

In  diesem  Zusammenhang  erscheint  auch  die  anthropologische 
Grenze  zwaschen  Mensch  und  Tier  als  instabil,  wenn  nicht  gar  iiberwunden: 
"Dieser  Mensch  Chaplin  ist  gut  und  zartLich  und  hat  Achtung  vor  jeder 
Kreatur."  (\T.2,  34)  /Vis  Effekt  dieser  anderen  Menschlichkeit  sieht  Kracauer 
eine  imaginiire  \  ersohnung  des  PubHkums,  das  durch  Chaplins  I  lumor  eine 
neue  Gemeinsamkeit  erfahrt.  In  diesem  Sinne  nennt  Kracauer  in  seinen  Chaplin- 
Rezensionen  explizit  den  utopischen  Horizont  des  "Miirchens"  (A'^I.l,  270) 
als  den  eigentlichen  Gehalt  der  anderen  Subjektivitat  —  und  bindet  seine 
tilmasthetischen  Uberlegungen    somit  an  jene  utopische  Aufwertung  des 

35 


Marchens  an,  die  er  im  „C)rnament  der  Masse"  und  weiteren  Essays  ab  etwa 
1926  vornimmt.-^*  Denn  im  Horizont  seiner  progressiven 
Geschichtsphilosophie  stellt  das  Miirchen  das  emphatische  Telos  einer 
humanen  Vernunft  dar,  die  ihre  eigene  Verstockung  uberwunden  hat  und  die 
geschichtliche  Bewegung  der  Entmythologisierung  voUendet:  „Vorgetraumt 
ist  [das  Reicli  der  Vernunft]  in  den  echten  Miirchen,  die  keine 
Wundergeschichten  sind,  sondern  die  wunderbare  Ankunft  der  Gerechtigkeit 
meinen.  (V.2,  61)  Chaplins  Mime  bilden  damit  den  utopischen  Vor-Schein 
des  Marchens,  das  jedoch  nicht  als  gelingend  vorgestelJt  wird,  sondern  nur  als 
Verstellung  aufscheinen  kann.  Damit  lassen  sich  Kracauers  Uberlegungen  zu 
Chaplin  in  den  Kontext  seiner  Romantheorie  Kafkas  stellen,  die  er  in  einer 
Rezension  zu  dessen  Roman  Das  .iV/Vo/entwickelt.  Dort  deutet  er  das  Miirchen 
als  "Vortraum  des  vollendeten  Einbruchs  der  Wahrheit  in  die  Welt"  (\U, 
392),  den  Kafkas  Roman  jedoch  nicht  als  verwirkJicht  darstelJen,  sondern  als 
"Matrize  des  Miirchens"  (ebd.)  nur  invertiert  andeuten  konne: 
"Nichtverwirklichungist  seinThema"  (ebd.).  Kafkas  Szenanen  der  Entstellung 
zeugen  somit  nach  Kracauer  von  einer  Angst,  die  zwar  "dem  Miirchengluck 
entgegengesetzt  ist"  (V.l,  393),  jedoch  im  Modus  der  Negation  auf  dieses 
verweisen.  Auch  Chaplins  Filme  lassen  sich  aus  der  Perspektive  der  ScMo/- 
Rezension  als  Zerrspiegel  des  bestehenden  Zustands  deuten,  die  diesen  als 
"Vortraum"  (V.  1 ,  392)  auf  seinen  gemeinten,  aber  nicht  realisierten  utopischen 
Fluchtpunkt  hin  transparent  werden  lassen. 

Hcterotopie  und  Melancholic 

Schwellenriiume  bilden  somit  fur  Kracauer  exterritoriale  Orte,  an  denen 
iisthetische  Negativitiit  in  der  Figur  des  entstellten  Subjekts  utopisch  gewendet 
wird.  Gleichwohl  steht  diesem  emphatischen  Horizont  bei  Kracauer  selbst 
ein  melancholischer  Blick  entgegen,  der  die  EntiiuBerung  des  Subjekts  nicht 
als  konstruktive  Offenheit,  sondern  als  Selbstentfremdung  dargestellt.  An 
kaum  einem  Text  wird  dieser  immanente  Gegensatz  deudicher  als  an  dem 
Roman  Ginsler  (1928),  der  nicht  zuletzt  die  existenzielle  Gespaltenheit  des 
Autors  zwischen  Hoffnung  und  Melancholie  verhandelt.-^  Der  Protagonist 
Ginster  lebt  exterritorial,  entsteDt,  substanzlos.  In  seiner  "Zerstreutheit"-' 
mi(51ingt  ilim  jede  soziale  Eingliederung,  und  er  eriebt  die  \X  elt  als  widerstiindig 
Damit  personifiziert  er  eine  Leerstelle,  die  als  Resultat  einer  Auflosung  des 
burgerlichen  Subjekts  historisch  lesbar  wird.-"  Doch  er  verwandelt  seine 
existenzielle  "Wesenlosigkeit"  (G  131)  in  eine  Strategie  des  Entzugs,  die  ihm 
aus  der  verfremdeten  "Oberfliichenoptik"-'  des  AuBenseiters  eine  asthetische 
Erkenntnis  der  Kriegs-  und  Nachkriegsjahre  ermoglicht.  Die  fragmentierte 
Wirkiichkeit  fugt  sich  dabei  zu"Bruchstucke(n]  eines  gliinzenden  Mosaiks" 
(G  23),  mit  dem  er  den  verborgenen  Gehalt  der  Gegenwart  entziffert:  "unter 
ihnen  lebte  einer,  der  sie  unterirdisch  erforschte:  Ginster."  (G  21)-*  Auf  diese 
36 


Weise  iiberfiihrt  Kracauer  sein  filmasthetisches  Montage-Programm  in  eine 
Romanform,  in  der  die  dysfunktionale  Leerstelle  des  Protagonisten  die 
Konstruktion  des  bestehenden  Gesellschaftszustands  ermoglicht.  Ahnlich 
wie  Chaplin,  der  in  mehrerer  Hinsicht  als  Vorbiki  des  Romans  gedient  hat^^, 
entzieht  sich  Ginster  der  gesellschaftlichen  Selbstbehauptung,  die  er  durch 
eine  Mischung  aus  NaivitJit  und  geschickter  List  ersetzt  -  et\va  wenn  er  durch 
ostentative  Schwiiche  bei  der  Mustemng  einer  Einberufung  entgeht.  Zugleich 
stellt  er  herrschende  Konventionen,  etwa  die  allgemeine  nationale  Begeisterung 
zu  Kriegsbeginn,  durch  iibertriebene  MimiktT  in  ihrer  Lacherlichkeit  bk)B.  AJs 
eigenschaftsloses  Subjekt  imitdert  Ginster  jedoch  nicht  allein  die  konventionelJen 
Verhaltensweisen,  sondern  entwickelt  ein  mimetisches  X'ermogen  gegeniiber 
der  nichtmenschlichen  Umwek,  das  die  Grenze  zwischen  Mensch  und  Ding 
destabilisiert.  Denn  Ginster  pflegt  ein  zartliches  \'erhaknis  zu  Gegenstanden 
wie  seinem  "Holzkistchen"  (G  159)  oder  einem  Gedichtband,  den  er  wie 
einen  Kameraden  behandelt.'"  Ciliick  findet  er  nicht  im  Wiedergewinn  der 
biirgerkch-subjektiven  Innerkchkeit,  sondern  in  der  radikalen  EntauBerung 
an  die  Dinge,  in  einer  "Utopie  der  Ich-Auflosung  und  des  trans-subjektiven 
Erlebens".^' 

Dieses  Gliick  setzt  jedoch  exterritoriale  Improvisationsraume  voraus, 
in  denen  die  entauBerte  Wahrnehmung  nicht  umgehend  wieder  einer 
disziplinatorischen  Zurichtung  unterworfen  wird.  Als  ein  solcher  ,anderer 
Raum'  fungiert  im  letzten  Kapitel  des  Romans  die  Stadt  Marseille,  in  die 
Ginster  fiinf  fahre  nach  Ende  des  Ersten  Weltkrieges  verschlagen  wird."*- 
Ginster,  den  Kracauer  selbst  einmal  als  einen  "laudose[n]  Anarchist[en]" 
bezeichnet  hat,"  erfahrt  dort  eine  Freisetzung  der  Imagination,  die  sich  als 
literarischer  Moglichkeitssinn  und  improvisatorisches  Spiel  mit  sich  selbst  auf 
seine  ganze  Lebenshaltung  auswirkt:  "GewiB  saB  er  noch  an  seinem  Platz, 
aber  zu  gleicher  Zeit  war  er  ein  Eselskarren,  der  Eisbomben  enthielt;  die 
rotbraune  Flache  einer  Markise;  ein  lachelnder  Inder;  das  Damchen,  das  wie  ein 
Knallbonbon  zwischen  den  Taxis  bktzte."  (G  ZSl)^**  Marseille  bildet  so  den 
utopischen  Fluchtpunkt  des  Romans,  an  dem  Ginster  als  wesenloses  Subjekt 
in  einem  reinen  AuBen  existieren  kann,  ohne  disziplinierenden 
Machtdispositiven  unterworfen  zu  werden.''"'  In  diesem  Sinne  werden 
heterotopische  Raume,  etwa  das  Hafenviertel  von  Marseille,  fiir  Ginster  zu 
Orten  einer  unbestimmten  imaginiiren  Bewegung,  in  der  er  sich  "beinahe  zu 
Hause"  (G  238)  fiihlt.  In  den  dezentralen  und  chaotischen  Raumen  abseits 
der  Zentren  erfahrt  er  Momente  eines  euphorischen  Gliicks,  das  an  der 
Begegnung  mit  nicht-funktionalen  Raumen  und  Gegenstanden  entfacht  wird: 
"so  berauscht  war  er  von  den  SchJitzen  die  ihn  umgaben.  Sie  bestanden  aus 
Abfallen,  Waschestiicken  und  Dreck."  (G  234) 

Die  Bewegung  eines  Aufbruchs  in  imaginare  Weiten  osziUiert  dabei 
jedoch  zwischen  Melancholie  und  Euphoric  -  eine  Struktur,  die  das 

37 


Abschlusskapitel  des  Romans  insgesamt  priigt:  "Am  SchitTssteg  [...]  befand 
ich  mich  in  einer  Feme,  zu  der  kein  Schiff  hintragt.  Ein  Mann  verabschiedete 
sich  von  einer  Frau,  die  nicht  einmal  weinte  -  er  war  nicht  mehr  zu  Hause,  er 
vvarnoch  nicht  unter\vegs,erwarunetTeichbar\veit  fort."  (G  233)  Paradigmatisch 
daiiir  ist  Ginsters  Bordellbesuch,  von  dem  er  seiner  zufallig  wiedergetroffenen 
Bekannten  Frau  van  C.  erziihlt.  Diesen  Besuch  erfahrt  Ginster  als  imaginiiren 
Aufbruch  in  eine  unbekannte  Feme.  Gleichzeitig  jedoch  iiberfallt  ihn  bei  der 
Prostituierten  Emmi  das  BewuBtsein  seiner  existenzielJen  Isolation  und 
Einsamkeit.  Waren  auch  seine  friiheren  Hoffnungen  auf  einen  utopischen 
Aufbruch  in  ein  imaginiires  Nirgendwo  von  Erfahrungen  der  Negation  gepragt 
("Myslowitz  gab  es  nicht",  G  10)^",  so  wird  die  Spannung  von  imaginarer 
Freiheit  und  melancholischem  Eingedenken  in  sein  existenzielles  Scheitern 
und  seine  Einsamkeit  im  Schlul5kapitel  des  Romans  zum  Programm,  dessen 
heterotopische  Orte  diese  Doppelstruktur  der  Erfahrung  verraumlichen: 
"Warum  ich  das  eben  erzahle  -  weil  ich  in  diesem  armseiigen  Hafenviertel 
endlich  auf  eine  \X'elt  stoBe,  die  dem  Zustand  entspricht,  in  dem  ich  mich  nach 
dem  Madchen  befand."  (G  237  f.)  Die  heterotopische  Raumerfahrung  im 
SchluBkapitel  des  Romans  realisiert  somit  keinen  utopischen  Zustand  des 
Gelingens,  sondern  ein  fragiles  Gliickserlebnis  im  Modus  der  Negativitat, 
dem  das  eigene  Scheitern  immer  schon  eingeschrieben  ist.^"  Damit  kehrt  im 
SchluBkapitel  eine  melancholische  Tendenz  wieder,  die  in  Ginsters  "Triibsinn" 
(G  1 1)  und  "Trauer"  (G  24)  den  Roman  als  ganzen  strukturiert.  Sie  beruht  auf 
einer  Entfremdungserfahrung,  in  der  die  maschinelle  Verdinglichung  des 
rationalisierten  Menschen  nicht  als  Gliick  der  Entgrenzung,  sondern  als 
schlechte  Entsubjektivierung  erfahren  wird.  Ginsters  melancholische 
Perspektive  registriert  daher  das  leere  Vergehen  der  Zeit  und  persomfiziert  es 
in  durch  den  Roman  verstreuten  allegorischen  Figuren  -  exemplarisch  in  der 
"schwarz  gekleidete[n]  Alte[n]"  (G  241)  aus  dem  SchluBkapitel,  die  mit  der 
"weiBe[n]  Totenlandschaft  ihres  Gesichts"  (ebd.)  die  Dynamik  der  Zeit  in 
einem  ewigen  X'erfall  erstarren  laBt.^^ 

Diese  Spannung  zwischen  utopischer  Spur  und  melancholischem 
Dementi  pragt  zahlreiche  Miniaturen  Kracauers  -  besonders  markant  etu'a  die 
melancholischen  Tableaus  Der  verbotene  Blick  (1925)  und  Erinnemng  an  eine 
PariserStmfa  (1930).  In  ihnen  kommt  die  Ambivalenz  der  Melancholic  zur 
Sprache,  die  nicht  zuletzt  Walter  Benjamin  in  seinem  Tranerspiel-V,uc\\ 
herausgearbeitet  hat  und  auch  in  den  beiden  Texten  Kracauers  zu  erkennen  ist. 
Bekanntlich  erscheint  die  Melancholic  in  den  Trauerspielen  des  Barockzeitalters 
aus  Benjamins  Sicht  als  ein  Arrangement  zerstorter  Triimmer,  die  der  sinnleere 
FluB  der  Zeit  zuriickgelassen  hat.  Zugleich  enthalt  die  Melancholic  fiir  Benjamin 
einen  rettenden  Impuls,  da  ihr  allegorischer  Blick  die  Triimmer  gerade  als 
Isoliertes  vor  dem  X'ergessen  bewahrt:  „ilire  ausdauernde  Versunkenheit  nimmt 
die  toten  Dinge  in  ihre  Kontemplation  auf,  um  sie  zu  retten."^''  Kracauers 

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literarische  Miniaturen  "Der  verbotene  Blick"  und  "Erinneningan  eine  Pariser 
StraBe"  bearbeiten  diese  Spannung  zwischen  Trauer  und  Rettung  als  eine 
melancholische  Dialektik  des  Erwachens.  Sie  basieren  auf  einer  Selbst- 
Entgrenzung  des  beobachtenden  Subjekts  an  die  Dingwelt  und  einem 
mimetischen  Verhalten,  das  sich  an  die  Korrespondenzen  der  Gegenstande 
entJiuBert.  Gleichwohl  wird  diese  transgressive  Bewegung  nicht  als 
Selbstbegegnung  in  der  W'esenlosigkeit,  sondern  als  .-Vlpdruckvision  eines 
geschichtlichen  Zerfalls  erfahren:  Die  versuchte  Rettung  der  Dinge  durch  das 
melancholische  Eingedenken  scheitert  unausweichlich/'  "Der  verbotene  Blick" 
entwirft  dabei  eine  melancholische  Bilderwelt,  in  der 
"Jahrmarktsphotographien"  (A'.l,  296),  ein  "anatomisches  Praparat"  (ebd.) 
und  ein  "unformiges  Gehause"  (\\  1 ,  29"")  in  ihrer  "Leblosigkeit"  (\'.  1 ,  296)  zu 
einem  allegorischen  Tableau  arrangiert  werden/'  Das  unformige  Gehause 
erweist  sich  im  \'erlauf  des  DenkbOdes  als  ein  mechanisches  Orchestrion 
(Pianella),  das  nach  Inbetriebnahme  eine  "glaserne  Phantasmagoric"  (\U,  299) 
eines  imaginaren  Tanzsaals  als  mechanische  Traumwelt  erscheinen  lasst.  "Der 
verbotene  Blick"  entfaltet  daraufliin  die  Dvnamik  eines  Untergehens  in  und 
erneuten  Erwachens  aus  dieser  Phantasmagorie.  Dieses  Erwachen  wird  als 
eine  dialektische  Bewegung  hin  zur  Lesbarkeit  dargestellt:  In  ihm  wird  die 
"glaserne  Phantasmagorie"  als  „Sinnbild"  (ebd.)  der  Reklamewelten  einsichtig, 
die  im  Schein  permanenter  \'eranderungen  doch  nur  das  leere  \  ergehen  der 
Zeit  als  ewige  W'iederkehr  des  Gleichen  wiederholen:  "Alles  Neue  ist  Trug, 
jedes  Wunder  ein  Reflex,  erzeugt  durch  die  Spiegel,  die  das  gleiche  stets  spiegeln." 
(ebd.)  Es  entsteht  ein  melancholisches  Bild  der  verrinnenden  Zeit:  "Die 
gefraBige,  nichtsnutzige  Zeit  entbloBt  sich  dir,  und  du  schauderst  vor  ihrem 
Ergebnis:  dem  Gebrauch  der  erborgten  Moden  und  Embleme,  dem 
Larventanz  durch  die  jahrtausende."  (ebd.)  Diese  Erkenntnis  wird  jedoch 
von  Beginn  an  ihrerseits  als  "Phantom"  (\'.l,  298)  in  einem  Schwellenbereich 
von  Traum  und  Erwachen  dargestellt:  "Eben  noch  zauberisch  verstrickt  in  das 
unachtsame  Gewoge,  erwachst  du  urplotzlich  aus  dem  Traum;  aber  du  erwachst 
nicht  zur  W'irklichkeit,  sondern  eine  Hiille  reiBt,  und  jetzt  erst,  genau  jetzt 
erscheint  das  Phantom."  (ebd.)  Auf  dieser  SchweUe  begegnet  der  Melancholiker 
den  "verstaubten  Mechanismen"  (ebd.)  von  Gegenstiinden,  die  im 
Verschwinden  begritfen  sind,  aber  doch  als  Triimmer  weiter  existieren  und  in 
dieser  Zwischcnposition  eine  damonische  W'irkung  auf  ihn  ausi^iben:  "\X'ie 
du  selber  jenseits  des  Gaukelbereichs  der  Triiume  umherirrst,  ohne  dem 
wirklichen  Dasein  schon  anzugehoren,  so  befinden  auch  sie  sich  unerlost  an 
einem  Zwischenorte,  gestorben  zweifellos,  aber  nicht  durchaus  tot  [...]"  (ebd.). 
Sein  Erwachen  Rihrt  den  j\llegoriker  folglich  nicht  aus  dem  histcmschen  Bereich 
der  Unwirklichkeit  in  den  utopischen  Raum  eines  "wirklichen  Daseins"  liinaus. 
Sie  fiihrt  ihn  einzig  zum  BewuBtsein  der  herrschenden  Entfremdung  und  zur 
melanchoLischen  Erkenntnis,  daB  ein  Ausweg  aus  dem  leeren  FluB  der  Zeit, 

39 


der  die  bestehende  Sinnferne  bezeichnet,  nicht  moglich  ist.  In  „Der  verbotene 
Blick"  wird  die  Begegnung  mit  den  Dingen  somit  nicht  als  Traum  der 
Selbstentgrenzung,  sondern  als  allegorische  Frstarrung  erfahren,  in  der  das 
eriebende  Subjekt  sich  als  Objekt  eines  damonischen  Mascliinenblicks  erfahrt, 
der  ihm  seine  Menschlichkeit  nimmt."*' 

Dieses  Gefiihl  einer  "schreckliche|n]  Gewalt"  (\{2,  245)  anonymer 
Beobachtung  priigt  auch  das  Denkbild  „Hrinnerung  an  eine  Pariser  StraBc"."*^ 
Mit  deutlichem  motivischem  Bezug  auf  Durers  Melencolia  I  sitzt  ein  junger 
Mann  in  einem  von  auBen  einsehbaren  Zimmer  inmitten  "angewurzelte[r]" 
(\^.2,  246)  Gegenstiinde,  die  den  beobachtenden  Passanten  anstarren,  und 
bildet  die  Personifikadon  einer  "erstarrten  Unruhe"^^  als  Katastrophe  in 
Permanenz:  "Nichts  ist  fur  ihn  vorhanden,  ganz  allein  sitzt  er  auf  seinem 
Stiihlchen  im  Leeren..  Er  hat  Angst,  die  Angst  ist  es,  die  ihn  so  lahmt  ..." 
(ebd.)  Dieses  melancholische  Bild  dementiert  insofern  einen  utopischen  Impuls 
des  Denkbildes,  als  es  den  „StraBenrausch"  (V.2,  243)  des  Passanten  ebenso 
jah  unterbricht  wie  dessen  Reflexionen  zur  Hieroglyphen-Entzifferung  der 
urbanen  Oberflachen."*^  Es  bewirkt  selbst  ein  dialektisches  Erwachen,  das  jedoch 
nicht  in  befreiender  Erlosung  sondern  in  der  Selbsterkenntnis  resultiert,  daB 
der  vom  allegorischen  Bild  beriihrte  Passant  selbst  eine  melancholische  Existenz 
fiihrt,  die  nur  die  Kehrseite  seines  manischen  StraBenrausches  darstellt. 
Gleichwohl  endet  das  Denkbild  nicht  in  einer  dystopischen  Vision 
katastrophischen  Grauens,  sondern  setzt  das  melancholische  Bild  in  einen 
Horizont  der  eingedenkenden  Rettung  des  Vergangenen,  der  Erwartung  und 
Sinn-Dementi  erneut  im  Pariser  "Schimmer  des  Vergangenen"  (V.2,  247) 
oszLUieren  liisst:  "Wahrend  man  noch  durch  die  leibhaftigen  StraBen  wandelt, 
sind  sie  bereits  entfernt  wie  Erinnerungen,  in  denen  sich  die  Wirklichkeit  mit 
dem  Traum  von  ihr  mischt  und  AbfJille  und  Sternbilder  sich  treffen."  (V.2, 
247f) 

Zusammenfassend  liisst  sich  daher  sagen:  Kracauers  heterotopische 
Raume  und  seine  literarischen  Anti-Subjekte  befinden  sich  in  einem 
ambivalenten  Spannungsfeld  zwischen  utopischem  Horizont  unci  dessen 
melancholischem  Dementi.  Seme  Asthetik  der  Negativitiit  kann  -  und  will  — 
allenfalls  temporiire  Spuren  und  fragile  Andeutungen  einer  ,anderen  RationaUtiit' 
in  der  transgressiven  Vernetzung  von  Subjekt  und  Ding  imaginieren.  Kracauers 
phanomenologische  Obertliichenlektiiren  lassen  sich  nicht  zur  positiven  Utopie 
strecken  -  und  auch  Ginster,  der  literarische  Anti-I  leld,  ist  immer  nur  beinabe 
zu  Hause. 


40 


Endnotes 

'  Der  Begriff  der  „modernist  miniature"  ist  neuerdings  von  Andreas  Huyssen  gepragt 

worden,  um  die  konjiinkturstarken  KJeinformen  feuilletonistischen  Schreibens  in  den 

zwanziger  Jahren  auf  einen  gemeinsamen  Begriff  zu  bringen  und  als  spezifisch  urbane 

Reflexions-  und  Schreibweisen  kenntlich  zu  machen.  Siehe  dazu  Andreas  Huyssen, 

"Modernist  Miniatures:  Literary  Snapshots  of  Urban  Spaces,"  PMLA  122/1  (2007):  27-42. 

Zur  Geschichte  der  ,kleinen  Form'  und  ihrer  Poetologie  besonders  bei  Hessei,  Benjamin 

und  Kxacauer  siehe  Eckhardt  Kohn,  StraBenrausch.  Flanerie  und  kleine  Form.  Versuch 

zur  Literaturgeschichte  des  Flaneurs  bis  1933  (Berlin:  Das  Arsenal,  1989).  Als  Leitbegriff 

poetologischer  Selbstreflexion  dient  die  Bezeichnung  „kleine  Form"  erstmals  in  Alfred 

Polgars  Vorwort  zu  seinem  Orchester  von  oben  (Berlin:  Rowohlt,  1926).  Ernst  Bloch 

reflektiert  die  radikale  Neubeit  der  Miniatur,  die  sich  keinem  etablierten  literarischen 

Genre  zurechnen  lasst  und  gerade  dadurch  eine  experimentelle  Schreibhaltung  darstellt, 

in  einem  Brief  an  Kracauer  vom  6.6.1926:  „Hatte  man  nur  einen  Namen  fiir  die  neue 

Form,  die  keine  ist,  und  die  vor  allem  die  Gewalt  ihres  Gelingens  daran  hat,  keine  zu 

bleiben  [...]."  Siehe  Ernst  Bloch,  Briefe  1903-1975,  Erster  Band,  ed.  Inka  Mulder-Bach 

(Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp  1985)  278.  Vgl.  auch  Dirk  Oschmann,  "Kracauers 

Herausforderung  der  Phanomenologie.  Vom  Essay  zur  ,Arbeit  im  Material',"  Essayismus 

um  1900,  ed.  Wolfgang  Braungart  und  Kai  Kauffmann  (Heidelberg:  Winter,  2006)  201. 

^  Zur  Bedeutung  von  Schwellen  und  Ubergangen  fiir  Kracauers  Raumwahrnehmung 

siehe  auch  Inka  Miilder  Bach,  „History  as  Autobiography: 

The  Last  Things  Before  the  Last,"  New  German  Critique  54  (1991):  146 

'  Vgl.  Michel  Foucault,  „Andere  Raume,"  Aisthesis:  Wahrnehmung  heute  oder 

Perspektiven  einer  anderen  Asthetik,  ed.  Karlheinz  Barck  (Leipzig:  Reclam,  1993):  34-46. 

■*  Siegfried  Kracauer,  Schriften  Band  V.I,  ed.  Inka  Miilder-Bach  (Frankfurt  am  Main: 

Suhrkamp,  1990)  205     [die  Schriften  werden  im  Folgenden  im  Haupttext  in  Klammern 

und  mit  der  Angabe  "Abteilung.Band,  Seite"  zitiert.] 

'  Vgl.  Anthony  Vidler,  "Agoraphobia:  Spatial  Estrangement  in  Georg  Simmel  and  Siegfried 

Kracauer,"  New  German  Critique  54  (1991):  31-45. 

''  V'gl.  Tilmann  HeB,  "Zur  Architektur  in  Kxacauers  Stadtbildern  (mit  einem  Exkurs  zu  Le 

Corbusier),"  Siegfried  Kracauer.  Zum  VC'erk  des  Romanciers,  Feuilletonisten,  Architekten, 

Filmwissenschaftlers  und  Soziologen,    ed.  Andreas  Volk  (Ziirich:  Seismo,  1996)  111-29; 

Helmut  Stalder,  "Hieroglyphen-Entzifferung  und  Traumdeutung  der  GroBstadt.  Zur 

Darstellungsmethode  in  den  ,Stadtebildern'  Siegfried  Kracauers,"  Siegfried  Kracauer. 

Zum  W'erk  des  Romanciers,  Feuilletonisten,  Architekten,  Filmwissenschaftlers  und 

Soziologen,    ed.  Andreas  Volk  (Zurich:  Seismo,  1996)  150-52. 

^  Zum  „Karree"  als  Angst-Raum  siehe  Heinz  Briiggemann, 

Das  andere  Fenster:  Einblicke  in  Hauser  und  Menschen.  Zur  Literaturgeschichte  einer 

urbanen  Wahrnehmungsform  (Frankfurt  am  Main:  Fischer,  1989)  267-294. 

^  Der  panoptische  Eindruck  des  Platzes  wird  durch  die  Bezeichnung  seines  realen 

\'orbilds  verstarkt:  Anhand  des  Briefwechsels  mit  Benjamin  1927  wird  deutlich,  daB  es 

sich  um  die  „Place  de  l'Obser\'ance"  in  Marseille  handelt,  auf  die  Kracauer  und  Benjamin 

bei  einem  gemeinsamen  Besuch  gestoBen  waren.  Vgl.  den  Brief  von  Benjamin  an 

Kracauer  vom  5.  Juni  1927,  in:  Walter  Benjamin, 

Briefe  an  Siegfried  Kracauer:  mit  vier  Briefen  von  Siegfried  Kracauer  an  Walter  Benjamin 

,  ed.  Rolf  Tiedemann  und  Henri  Lonitz  (Marbach:  Dt. 

Schillergesellschaft,  1987)  44;  sowie  Helmut  Stalder, 

Siegfried  Kracauer.  Das  journalistische  Werk  in  der  , Frankfurter  Zeitung'  1921-1933 

(\X  iirzburg:  Kcinigshausen  und  Neumann,  2003)  255. 

''  Siehe  Huyssen  34. 

'"  Die  Raumkrise  der  urbanen  Zentren  verweist  somit  fiir  Kracauer  auf  die  Krise  der 

41 


Rationalisierung,  die  er  in  seinem  geschichtsphilosophischen  Essay  „Das  Ornament  der 

Masse"  (1927)  der  Moderne  iiberhaupt  attestiert. 

Siehe  zu  diesem  kulturtheoretischen  Hintergrund  besonders  Inka  Miilder  Bach,  "Der 

Umschlag      der      Negativitat.       Zur      Verschrankung      von       Phanomenologie, 

Geschichtsphiiosophie  und  Filmasthetik  in  Siegfried  Kracauers  Metaphorik  der 

.Oberflache",  in:  DVjS  61  (1987):  359-373. 

"  Die  Spanniing  zwischen  urbanem  Ordnungsraum  und  Heterotopie  bei  Kracauer  (und 

Heine,  Baudelaire  und  Salten)  thematisiert  Dirk  Niefanger,  „Orte  im  Abseits.  Heterotopien 

im  GroBstadt  Feuilleton  Siegfried  Kracauers  (und  der  „Klassischen  Moderne"), 

Unvollstandig,  krank  und  halb?  Zur  Archiiologie  moderner  Identitat,  ed.  Christoph 

Brecht  und  Wolfgang  Fink  (Bielefeld:  Aisthesis,  1996)  175-93. 

'^  Vgl.  Stalder,  Siegfried  Kracauer  266-271. 

"  Zur  biographischen  Bedeutung  Marseilles  fiir  Kracauer  siehe  Klaus  Michael,  "Vor 

dem  Cafe.  VC'alter  Benjamin  und  Siegfried  Kracauer  in  Marseille," 

Aber  ein  Sturm  weht  vom  Paradiese  her.  Texte  zu  Walter  Benjamin,  ed. 

Michael  Opitz  und  Erdmut  Wizisla  (Leipzig:  Reclam,  1992)  203-16. 

'''  Vg.  Briiggemann  282. 

'^  Vgl.  Martin  Jay,  "The  Extraterritorial  Eife  of  Siegfried  Kracauer,"  Permanent  Exiles. 

Essays  in  the  Intellectual  Migration  from  Germany  to  America  (New  York:  Columbia  UP, 

1986)  152-97. 

'^  Vgl.  Manuela  Giinter,  Anatomie  des  Anti-Subjckts.  Zur  Subversion  autobiographischen 

Schreibens  bei  Siegfried  Kracauer,  Walter  Benjamin  und  Carl  Flinstein  (VCiirzburg: 

Konigshausen&Neumann,  1996)  109. 

"  Zum  Bezug  Kracauers  auf  die  semantische  C^pposition  von  Zentrum  und  Peripherie, 

die  in   den   zwanziger  Jahren   an   Bedeutung  gewinnt,   siehe   Inka   Mulder  Bach, 

„Schlupfl6cher.  Die  Diskontinuitat  des  Kontinuierlichen  im  Werk  Siegfried  Kracauers," 

Siegfried  Kracauer.  Neue  Interpretationen,  ed.  Michael  Kessler  und  Thomas  Y.  Levin 

(Tubingen:  Stauffenburg,  1990)  259. 

'*  Zu  Kracauers  Sicht  auf  Paris  als  heterotopischen  Ertahrungsraum  siehe  Miilder-Bach, 

„History  as  Autobiography"  246  47. 

"  So  die  priignante  Formulierung  Inka  Mulder  Bachs  in  Siegfried  Kracauer 

—  Grenzganger  zwischen  Theorie  und  Literatur.  Seine  triihen  Schritten  1913-1933  (Stuttgart: 

Metzler,  1985)  140.  Vgl.  auch  Gunter  106. 

^^  Zu  den  Beziigen  des  Ginster-Romans  auf  zeitgemissische  Denkfiguren  der  ,Ichlosigkeit' 

siehe  Jorg  Lau,  ,,'Ginsterismus'.  Komik  und  Ichlosigkeit.  Uber  filmische  Komik  in 

Siegfried  Kracauers  erstem  Roman  ,Ginster',"  Siegfried  Kracauer.  Zum  Werk  des 

Romanciers,  Feuilletonisten,  Architekten,  Filmwissenschaftlers  und  Soziologen,  ed. 

Andreas  Volk  (Zurich:  Seismo,  1996)  13  42;  Miilder-Bach,  Siegfried  Ivracauer  141. 

^'  Mit  seiner  geschichtsphilosophisch  gefarbten     Deutung  der  Figur  Charlies  steht 

Kracauer  im  Kontext  jener  Chaplin-Begeisterung,  die  in  den  zwanziger  Jahren  nicht  nur 

das  Internationale  Publikum,  sondern  auch  die  intellektuelle  Offentlichkeit  I'uropas 

von  Bela  Balazs  iiber  Yvan  GoU  bis  bin  zu  Sergej  Eisenstein  in  Bann  gehalten  hat.  Zu 

diesem  Kontext  siehe  Charlie  Chaplin.  Eine  Ikone  der  Moderne,  ed.  Dorothee  Kimmich 

(Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  2003) 

^  Walter  Benjamin,  "Franz  Kafka.  Zur  zehnten  Wiederkehr  seines  Todestages," 

Gesammelte  Schriften  Band  II. 2,  ed.  Rolf  Tiedemann  und  Hermann  Schweppenhiiuser 

(Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1977)  415. 

"  Mit  dieser  utopischen  Ausrichtung  des  Marchens  steht  Kracauer  unter  den  Autoren 

der  klassischen  Moderne  nicht  allein.  Deutliche  Beziige  bestehen  etwa  zu  Ernst  Blochs 

Asthetik  des  Vor-Scheins,  die  im  Miirchen  subjektive  Impulse  als  utopische  Triiume 

entziffert.  Siehe  dazu    exemplarisch  das  Kapitel  "t'ber  Marchen,  Kolportage  und  Sage," 

Erbschaft  dieser  Zeit  (Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,   19'73)   168-86. 

42 


'''  W'ie  deutlich  Kracauer  seine  eigene  Biographic  wie  seine  existenzielie  Haltung  im 

Roman  iibersetzt  findet,  zeigt  sein  Brief  an  Ernst  Bloch  vom  17.  Januar  1928:  „Sie 

werden  es  wissen  -  davon  bin  ich  iiberzeugt  — ,  dafi  ich  in  der  ganzen  Arbeit  nichts 

anderes  getan  habe,  als  mich  selbst  genau  wiederzugeben.  Jedes  Faktum  stimmt."  Siehe 

Ernst  Bloch,  Briefe  1903-1975,  295.  Vgl  Giinter  73. 

''  Siegfried  Kracauer:  Ginsler.  Von  ihm  selbst  geschrieben.  Schriften  Band  7,  ed.  Karsten  \\  iite 

(Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1973)  22.  [im  Folgenden  im  Text  zitiert  mit  der  Sigle  "G"] 

^^  Vgl.  Giinter  64. 

^'  Miilder-Bach,  Sunned  Kracauer  131. 

2«  Vgl.  GOnter  69. 

^^  Vgl.  Miilder-Bach,  Siegfried  Kracauer  140. 

^'  Vgl.  Giinter,  Anatonne  des  Anti-Subjekts  107. 

"  Miilder  Bach,  Siegfned  Kracauer  142. 

'^  Zur  Marseille  als  utopischem  Fluchtpunkt  des  Romans  siehe  Miilder-Bach,  Siegfried 

Kracauer    142-43. 

"  Siehe  den  Brief  an  Bloch  vom  5.  Januar  1928  in  Bneje  1903-1975,  289.  \'gl.  auch  Giinter 

108. 

~"  \gl.  Giinter  107. 

'5  Vgl.  Giinter  83. 

'"  Vgl.  Giinter  84. 

-    So  hat  Kracauer  in  seinem  Brief  an  Bloch  vom  5.  )anuar  1928  selbst  die  Doppelpoligkeit 

des  Romanendes  hervorgehoben:  „Dieses  ganze  genau  ausgedachte  SchluBkapitel  soil 

hell,  leicht  und  schrecklich  strahlen.  Kein  Pazifismus,  kein  Kommunismus,  sondern  die 

gestaltete  Apologie  der  dissoziierten  Welt  im  BewuBtsein  des  Tods."  (Bloch,  Biiefe  1903- 

1975, 289-90) 

'*  Vgl.  Giinter  96-103.  Zur  Funktion  der  .\llegorie  im  Ginster  siehe  auch  Dirk  Oschmann, 

Aus^ug  aus  der  hinerlicbkeit.  Das  literarische  W'erk  Sie^ried  Kracauers  (Heidelberg:  Winter,  1999) 

225-31. 

^'  Walter  Benjamin,  XJrspnmg  des  deutscheti  Trauerspiels,  Gesammelle  Schriften  Band  I.l,  ed.  Rolf 

Tiedemann  und  Hermann  Schweppenhiiuser  (Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1991)  334. 

*'  \'gl.  Briiggemann  276. 

■"  Vgl.  Briiggemann  277. 

^'  Vgl.  Briiggemann  278. 

"^  Vgl.  Stalder,  Siegfried  Kracauer,  246-48. 

^  Walter  Benjamin:  Zentralpark,  Gesammelte  Schriften  Band  1/2,  ed.  Rolf  Tiedemann  und 

Hermann  Schvveppenhauser  (Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1991)  666. 

"'    Auf    Kracauers    phanomenologische    Ausdeutung    der    GroBstadt    und    ihrer 

Oberflachenerscheinungen,  die  seine  Poetik  des  Stadtbilds  durchzieht,  kann  in  diesem 

Zusammenhang  leider  nicht  ausfiihrlicher  eingegangen  werden.  Siehe  zu  dieser  Thematik 

exemplarisch  die  bereits  zitierten  Aufsatze  von  Oschmann  und  Stalder. 

Literatur 

Benjamin,  Walter.  "Franz  Kafka.  Zur  zehnten  W'iederkehr  seine.s  Todestages." 
Gesawwelfe  Schriften  V>'^nd  II. 2.  Rd.  Rolf  Tiedemann  und  Hermann 
Schweppenhauser.  Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1977.  409-38. 

— .  Briefe  an  Sie^ried  Knuaner:  mit  tier  hriefen  von  Sie^ried  Kracauer  an 

Walter  Benjamin.  Ed.  Rolf  Tiedemann  und  Henri  Lonitz.  Marbach: 


43 


Dt.  Scliinergesellschaft,  1987. 

Bloch,  Ernst.  "Uber  Miirchen,  Kolportage  und  Sage."  Erbscbaft  dieser  Zeit. 
Frankfurt  am  Mam:  Suhrkamp,  1973. 168-86. 


— .  Briefe  1903-1975,  Erster  Band.  Ed.  Inka  Mulder-Bach.  Frankfurt  am  Main: 
Suhrkamp,  1985. 

Bruggemann,  Heinz.  Das  andere  Fenster:  Einhlkke  in  Hdnser  utid  Memcheii. 

Zur  LJteraturgeschichte  eitier  iirbanen  \\"ahniehmungsform.  Frankfurt  am 
Main:  Fischer,  1989. 

Charlie  Chaplin.  FJnelkone  derModer/ie.  Ed.  Dorothee  Kimmich.  Frankfurt  am 
Main:  Suhrkamp,  2003. 

Foucault,  Michel.  „Andere  Raume."  Aisthesis:  Wahrnehimmg  heiite  oder 

Perspektiven  einer  anderen  Asthetik.  Ed.  Karlheinz  Barck.  Leipzig: 
Reclam,  1993.  34-46. 

Giinter,  Manuela.  Anatomie  des  Anti-Subjekts.  Zur  Subversion 

autobiographischen  Schreibens  bei  Sie^ried  Kracauer,  W^alter  Benjamin  iind 
Carl  Einstein.  Wurzburg:  Konigshausen&Neumann,  1996. 

I  luyssen,  Andreas.  "Modernist  Miniatures:  Literar\  Snapshots  of  Urban 
Spaces."  PMl^A  MUX  (2007):  27-42. 

]ay,  Martin.  "The  Extraterritorial  Life  of  Siegfried  Kracauer."  Perwanent Exiles. 
Essays  in  the  Intellectual Migation  from  Germany  to  America.  New 
York:  Columbia  UP,  1986.  152-197. 

Kohn,  Eckhardt.  StraJ^enrausch.  Flanerie  und  kleine  Form,  l-^ersuch  ■:iur 

IJteraturgeschichte  des  Flaneurs  bis  1933.  Berlin:  Das  Arsenal,  1989. 

Kracauer,  Siegfried.  Ginster.  Sch/iftenBand  7.  Ed.  Karsten  W'itte.  Frankfurt 
am  Main:  Suhrkamp,  1973. 

— .Aufsdt^e  1915-1926.  Schriften  Band  5.  Ed.  Inka  Mulder-Bach,  Frankfurt 
am  Main:  Suhrkamp,  1990. 

— .  Kleine  Schriften  :(itm  Film.  \Ferke  Band  6.  Ed.  Inka  Miilder-Bach.  Frankfurt 
am  Main:  Suhrkamp,  2004. 


44 


Micliacl,  Klaus.  "X'or  dcm  Catc.  Walter  Benjamin  und  Siegfried  Kracauer  in 
Marseille."  Aber  ein  Sturm  webf  vom  Paradiese  her.  Texte  ^  Walter 
Betijawin.  Ed.  Michael  Opitz  und  Erdmut  W'izisla.  Leipzig:  Reclam, 
1992.203-216. 

Lau,  Jorg.  ,,'Ginsterismus'.  Komik  und  Ichlosigkeit.  Ober  filmische  Komik  in 
Siegfried  Kracauers  erstem  Roman  ,Ginster'."  S leaned  Kracauer. 
Zum  Werk  des  Komanders,  Feuilletonisten,  Architekten, 
Yilmn'issenschaftlers  mid  So:^ologen.  Ed.  Andreas  \'olk.  Zurich: 
Seismo,  1996.  13-42. 

Miilder-Bach,  Inka.  "Der  Umschlagder  Negativitat.  Zur^'erschrankung  von 
Phanomenologie,  Geschichtsphilosophie  und  Filmasthetik  in 
Siegfried  Kracauers  Metaphorik  der  ,Oberflache."  DVjSdX  (1987): 
359-373. 

— .  „Schlupflocher.  Die  Diskontinuitat  des  Kontinuierlichcn  im  Werk  Siegfried 
Kracauers."  Siegf'ned  Kracauer.  Xeue  luterpretationeii.  Ed.  Michael 
Kessler  und  Thomas  Y.  Levin.  Tiibingen:  Stauffenburg,  1990.  249- 
66. 

— .  „Histon'  as  Autobiography:  The  Last  Things  Before  the  Last.'"  Xeiv  Gennan 
CA7A^«e  54  (1991):  139-157. 

Niefanger,  Dirk.  "Orte  im  Abseits.  Heterotopien  im  GroBstadt-Feuilleton 

Siegfried  Kracauers  (und  der  „Klassischen  Moderne".)  Urwollstdndig, 
krank  und  halb?  Zur  Archdologie  modenier  Identitat  Ed.  Christoph 
Brecht  und  Wolfgang  Fink,  Bielefeld:  .\isthesis,  1996.  175-193. 

Oschmann,  Dirk.  "Kracauers  Herausforderung  der  Phanomenologie.  Vom 
Essay  zur  ,Arbeit  im  Material'."  Essayismus  urn  1900.  Ed.  Wolfgang 
Braungart  und  Kai  Kauffmann.  Heidelberg:  Winter,  2006. 193-21 1. 

— .  Aus^ug  aus  der  hinerlichkeit.  Das  literansche  Werk  Sie^'ried  Kracauers. 
Heidelberg:  Winter,  1999. 

Polgar,  Alfred:  Orchester  von  oben.  Berlin:  Rowohlt,  1926. 

Stalder,  Helmut.  "Hieroglyphen-Entzifferung  und  Traumdeutung  der 

GroBstadt.  Zur  Darstellungsmethode  in  den  ,Stadtebildern'  Siegfried 
Kracauers."  Sie^'ried Kracauer.  Zum  Werk  des  Komanders,  Feuilletonisten, 
Architekten.  Lilmwissenschaftlers  und  So^iologen.  Ed.  Andreas  \'olk. 

45 


Zurich:  Seismo,  1996.  131-155. 

— .  Siegfried  Kmauier.  Das  journalistische  Werk  in  der , Frankfurter  Zeitung' 
1921-1933.  Wurzburg:  Konigshausen&Neumann,  2003. 

Vidler,  Anthony.  "Agoraphobia:  Spatial  Estrangement  in  Georg  Simmel  and 
Siegfried  Kracauer.  "  New  German  Critique  5A  (1991):  31-45. 


46 


Ernst  Jiinger  and  Ishiwara  Kanji: 

y\  Comparative  Examination  of  the  Concept  of  Total 
Mobilisation  for  Germany  and  Japan 

Andrew  Mills 

This  essay  undertakes  a  comparative  examination  of  the  concept  of  total 
mobilization  in  Germany  and  Japan  during  the  1930s  and  1940s  through  the 
careers  and  thought  of  the  military  officers  Ernst  Jiinger  and  Ishiwara  Kanji. 
Important  conceptual  similarities  and  differences  are  identified  in  the  process 
of  comparing  the  two  men's  theories  of  total  mobilization,  and  the  utter 
demise  of  the  total  mobiiizadon  project  in  each  country'  is  addressed  in  an 
effort  to  ascertain  whether  or  not  Jiinger's  and  Ishiwara 's  goals  were  indeed 
realized.  This  paper  stretches  beyond  a  reading  of  the  two  men's  military 
biographies  in  order  to  provide  a  theoretical  examination  of  two  particular 
concepts  of  total  mobilization,  and  their  possible  consequences  for  German 
and  Japanese  domesdc  and  foreign  policy.  The  essay  is  divided  into  three 
sections,  the  first  of  which  undertakes  a  biographical  comparison  of  Ishiwara 
and  jiinger  before  leading  into  a  literan'-theoretical  analysis  of  their  articulations 
of  total  mobilization.  Finally,  the  theoretical  weaknesses  of  each  theor}-  will  be 
discussed,  and  linked  to  the  authors'  views  on  the  relationship  between  total 
mobilization  and  liberal  democracy. 

Ernst  Jiinger  and  Ishiwara  Kanji:  A  Comparative  Biography 

The  militar\-  and  intellectual  careers  of  Ernst  jiinger  and  Ishiwara  Kanji  are 
certainly  similar  enough  in  achievement  and  scope  to  warrant  comparative 
analysis.  Each  man  enjoyed  a  high-profile  reputation  in  the  1930s  and  1940s  as 
a  successful  and  dynamic  militan'  officer,  liigWy  accomplished  in  military  seryice 
and  intellectual  endeavor.  Each  man  was  an  accomplished  member  of  the 
officer  corps  of  his  nation's  army  and  upheld  a  commitment  to  fundamentally 
politically  conservative  ideals  that  assumed  a  decidedly  anti-liberal,  anti- 
democratic stance.  The  impact  of  the  First  World  War  as  humankind's  initial 
encounter  with  the  all-encompassing  destructiveness  of  industrialized, 
macliinated  combat  provided  Ernst  jiinger  and  Ishiwara  Kanji  with  die  essential 
inspiration  for  the  theories  they  would  both  later  develop  regarding  'total 
mobilization'  as  a  preparation  for  'total  war'.  The  First  World  War  was  clearly 
more  of  a  direct  experience  for  jiinger  (1895-1998),  who  fought  in  each  of  the 
war's  four  years,  beginning  in  1914  as  one  of  the  thousands  of  young 

47 


enthusiasts  who  took  the  advanced  school-leaving  examinations  {Notuhitut) 
so  as  to  be  able  to  volunteer  for  the  army  out  of  grammar  school. 
Jiinger's  combat  experience  started  on  the  western  front  in  December  1 9 1 4,  at 
which  point  Jiinger  began  an  almost  immediate,  steady  ascension  through  the 
ranks  that  was  to  be  punctuated  by  numerous  battle  wounds  and  near-death 
experiences.  By  the  end  of  the  first  year  of  the  war,  Jiinger  had  already  been 
badly  wounded  and  evacuated  from  the  front  and  subsequently  promoted  to 
lieutenant.  By  war's  end,  )unger  had  accumulated  the  German  army's  highest 
honors,  including  the  Iron  Cross,  the  Knight's  Cross,  and  the  Pour  le Merite,  as 
well  as  the  post  of  company  commander  in  his  regiment  (Noack  40,  42). 
When  the  First  World  War  ended,  jiinger  was  residing  in  a  military  hospital  in 
Germany,  recovering  from  a  gunshot  wound  through  his  lung — the  last  of 
seven  grave  war  wounds  (Noack  42). 

jiinger  remained  as  an  officer  in  the  German  anny  until  1923,  during 
which  time  he  was  active  in  revising  the  Keichwehr's  regulation  and  training 
manuals  (Nevin  77).  During  this  early  Weimar  period,  jiinger  began  to  write 
for  publication.  His  first  books  dealt  with  the  question  of  processing  the  war 
experience  on  a  personal  level,  and  can  be  seen  as  attempting  to  account  for  the 
war  in  different  ways  by  means  of  various  genres.  An  account  of  the  war  based 
on  Jiinger's  own  voluminous  diaries  kept  in  the  trenches  is  his  most  famous 
book  (The  Storm  of  Steel,  1 920),  while  a  non-diar\'  work  provides  an  essendalist 
interpretation  of  the  war  as  a  masculine,  inner  experience  (IVaras  InnerExpeiieiice, 
1922).  To  round  out  the  early  collection  of  jiinger's  work  on  war,  the  1923 
short  novel  .SVo/V/'/ represents  the  respected  officer's  first  attempt  at  tiction,  in 
which  the  narrative's  three  main  figures — ;ill  of  whom  are  vanously  accentuated 
composites  of  Jiinger  himself — are  killed  in  a  final  gun  battle  while  resisting 
capture. 

After  leaving  the  army  in  1923,  jiinger  began  a  period  of  flirtation 
with  diverse  right-wing  political  parries,  including  the  Narional  Socialists,  and 
entered  a  time  period  of  prolific  polirical  essay-writing  for  a  large  number  of 
conservarive-nationalist  publications,  including  such  journals  ■a.s  Arminius,  Die 
Standatie,  DerStiirwer,  Der  rolkiscbe  Beobacbter  and  Der  \''or>uarsch  (Nevin  97-98, 
101).  During  this  period  of  jiinger's  writing  he  appears  to  have  embraced  a 
radical,  revolutionary-  nationalism  that  thoroughly  rejected  socialism  and 
communism — as  well  as  any  norion  of  the  return  of  the  emperor — while 
embracing  the  fascist-oriented  Fiihrerpm^ip  in  an  attempt  to  isolate  and  articulate 
the  most  salient  and  promising  path  for  German  renewal.  In  this  embrace  ot 
the  politically  radiciil  right  wing,  Jiinger  began  to  politicize  liis  already  published 
war  experience  books,  recasting  them  in  a  radical,  nationalist  framework. 
Simultaneously,  Jiinger  refrained  from  committing  to  any  one  political  party 
in  the  form  of  formal  membership  or  obligation,  and  rejected  Adolf  1  litlcr's 
offer  of  a  party  seat  in  the  Reichstag  in  1927  (Nevin  99).  Near  the  end  of  the 

48 


\X  eimar  era,  Ernst  [iinger  is  reported  to  have  been  thoroughly  disillusioned 
with  parliamentar}'  part}-  politics.  Though  1932  finds  the  author  officially 
unassociated  with  any  political  party  and  disappointed  in  the  futility  of  his 
previous  calls  for  the  German  ¥rontsoldateu  to  revolutionize  Germany,  Jiinger 
had  anything  but  given  up  on  developing  his  view  of  "total  mobilization" — 
what  he  found  to  be  the  key  to  Germany's  national  resurgence,  jiinger's  total 
mobilization  concept  is  brought  to  the  forefront  of  his  thought  in  the  1936 
essay  "Die  totale  Mobilmachung"  ("Total  Mobilization")  and  in  the  1932 
book  Der  Arbeiter  (The  Worker). 

Ishiwara  Kanji  (1 889-1 949)  entered  the  Japanese  Militar)-  Academy 
in  190^,  at  approximately  the  same  age  that  Ernst  Jiinger  first  experienced 
combat  in  the  First  World  War.  Though  Ishiwara  was  not  an  enlisted  man,  his 
military-  career  is  also  characterized  by  an  extraordinan,"  degree  of  drama  and 
rapid  rise  up  the  military'  ranks  as  a  result  of  natural  talent  and  personal 
ambition.  First  ser\ing  as  a  second  lieutenant  and  infantr\-  platoon  commander 
in  rural  Tohoku  and  the  Korean  peninsula,  Ishiwara  graduated  from  the 
Army  Staff  College  eight  years  later  as  the  second-ranked  graduate  in  his  class, 
placing  him  on  track  to  achieving  the  rank  of  general  at  the  age  of  twent}--nine 
(Peattie  21).  After  an  assignment  to  an  army  garrison  in  China,  a  lectureship  at 
the  Army  Staff  College,  and  three  years  of  %\nd\  in  Germany,  Ishiwara  achieved 
the  rank  of  major  at  age  thirt}--six,  and  was  assigned  to  the  facult}'  of  the  Army 
Staff  College  as  an  instructor  in  militar}-  histor}-  (22).  At  this  juncture  in  1 926 — 
while  Ernst  jiinger  was  retiring  from  official  work  as  a  result  of  his  considerable 
book  royalties  and  supplemental  Army  pension — Ishiwara  began  to  articulate 
his  own  theories  about  modern  warfare  through  a  series  of  lectures  at  the 
Army  Staff  College  (49).  These  lectures  were  delivered  within  the  framework 
of  a  number  of  courses  taught  by  Ishiwara  on  the  histon*  of  European  war, 
in  addition  to  essays  and  lectures  written  by  Ishiwara  afterwards  and  delivered 
to  army  staff  officers  in  Manchuria  and  elsew-here.  Ishiwara  Kanji's  work  at 
this  time  reveals  a  steady  development  of  the  "complex  structure  of  historical, 
mystical,  strategic,  and  political  ideas"  dealing  with  the  "function  and 
development  of  war"  and  "the  relation  of  war  and  human  histon,'"  (51-52). 
These  were  to  gradually  form  Ishiwara 's  theor)-  of  "the  Final  War". 

When  Ishiwara 's  three-year  appointment  to  the  Army  Staff  College 
was  complete,  he  sought  and  received  a  transfer  to  the  Kwantung  Army  staff 
in  Manchuria.  There  Ishiwara's  theories  on  war,  expressed  in  such  earlier  essays 
as  "japan's  Present  and  Future  National  Defense"  from  1927,  had  found  a 
receptive  audience  among  young  officers  of  the  Kwantung  Army,  who  were 
frustrated  by  the  perceived  weakness  of  Japanese  foreign  policy  to  counteract 
the  eroding  effects  of  "imported"  ideologies  such  as  liberalism,  democracy, 
Marxism,  and  pacifism  on  the  military's  abilit}-  to  defend  japan  (53-54,  93). 
Once  in  Manchuria,  Ishiwara  tound  much  opportunity  not  only  to  enhance 

49 


his  theoretical  ideas  about  warfare  and  Japanese  national  securit);  but  to  test 
them  in  the  field  of  militan,'  operations  planning  in  conjunction  with  seasoned, 
sympathetic  colleagues.  This  situation  quickly  led  to  Ishiwara  throwing  his 
considerable  strategic  planning  and  organizational  skills  behind  the  view  that 
Manchuria  must  be  fully  occupied  and  administered  b\'  the  Japanese  army.  The 
subsequent  secret  operational  planning  for  this  venture  was  to  a  great  extent 
influenced  by  Ishiwara,  who  enjoyed  the  support  of  Kwantung  Army  staff 
officers  (105). 

The  planning  reached  its  zenith  in  the  creafion  of  what  became 
known  as  the  1931  "Mukden  Incident",  a  veritable  conspiracy  that  simulated  a 
Chinese  attack  on  the  Japanese-administered  South  Manchuria  Railway,  which 
in  turn  served  as  a  pretext  for  using  the  Kwantung  Army  to  seize  and  occupy 
large  areas  of  southern  and  central  Manchuria  while  circumventing — even 
ignoring — -Japanese  parliamentary  government  protests  (1 13,  122).  As  Mark 
Peattie  writes  in  his  work  on  the  career  and  thought  of  Ishiwara  Kanji,  in  the 
months  following  the  Mukden  Incident  it  was  apparendy  Ishiwara,  "aided  by 
a  first-rate  and  fiercely  loyal  staff"  who  was  the  primary  inspirafion  and  "driving 
force"  behind  the  acdon  (122).  Soon,  hosdlides  between  Japanese  and  Chinese 
troops  spread  to  include  Japanese  attacks  on  other  Manchurian  cities,  as  well  as 
the  involvement  of  the  Japanese  Army  stadoned  in  Korea.  Ishiwara  was 
located  at  the  heart  of  these  developments,  which  had  a  decisive  influence 
upon  the  fate  of  the  Japanese  nation.  Ishiwara's  actions  also  had  a  profound 
effect  upon  other  highly  significant  events,  such  as  the  rebellion  of  the  \ bung 
Officers  in  February  1936,  during  which  Ishiwara  is  described  by  Peattie  as 
being  the  "most  effecdve"  of  all  militar\-  officers  in  suppressing  the  rebellion, 
despite  his  own  pardcular  sympathies  for  a  "Showa  Restoration"  and  the 
overthrow  of  the  parliamentan-democratic  government  (238). 

Though  this  comparative  bi(jgraphv  between  Ernst  Jiinger  and 
Ishiwara  Kanji  must  necessarily  remain  abbreviated,  it  is  clear  that  both  men 
acquired  firsthand  knowledge  and  experience  of  the  militaiy  situations  their 
respective  countries  faced  in  the  first  half  of  the  twentieth  century  The  intellects 
of  both  Jiinger  and  Ishiwara  were  weU-respected  and  formally  in  demand  by 
their  respective  military  institutions.  Today,  Ishiwara  and  Jiinger  enjoy  a 
fonnidable  reputation  for  not  being  describable  by  merely  one  field  of  endeavor, 
denoted  by  such  designations  as  "writer"  or  "officer".  Ishiwara  Kanji  was  at 
once  miUtar)'  historian,  staff  officer,  strategist,  thinker,  plotter,  and  Pan-Asianist 
(vii).  Ernst  Jiinger  can  be  similarly  described  as  foot  soldier  and  combat  officer, 
tactical  theoretician,  entomologist,  successful  novelist,  and  voluminous  writer 
of  various  philosophical  tracts  and  publications. 

A  decisive  aspect  of  the  biographies  of )  Linger  and  Ishiwara  for  the 
purpose  of  this  project,  however,  is  their  theoretical  and  practical  explorations 
of  the  concept  'total  mobilization',  as  influenced  by  the  notion  of 'total  war'. 

50 


Both  of  these  terms  are  products  of  the  modern  era  of  industrialization, 
which  suddenly  allowed  for  drastic  increases  in  the  numbers  and  destructive 
power  of  weaponry,  which  in  turn  increased  the  need  for  large  armies  and  the 
subsequent  necessit}-  of  a  nation's  economy  and  societ}'  to  support  the  material 
demands  of  war.  'Total  mobilization'  commonly  refers  to  a  modern  state's 
attempt  to  mobilize  and  rationalize  all  available  natural  as  well  as  human 
resources  in  order  to  focus  upon  "the  single  end  of  conducdng  war  in  the 
most  efficient,  functional  manner"  (Yamanouchi  3-4).  'Total  war'  naturally 
walks  hand-in-hand  with  the  notion  of  complete  industrial  and  social 
mobilization,  and  as  a  result  was  commonly  understood  in  terms  similar  to 
those  used  by  the  German  general  Erich  Ludendorff,  who  defined  ''dertotale 
Kt7e£  as  no  longer  "a  matter  of  the  fighdng  forces"  as  in  times  past,  but 
direcdy  affecting  "the  life  and  soul  of  each  member  of  the  J'^o/k  that  is  waging 
war"  (Ludendorff  5,  my  translation).  While  Ishiwara  Kanji  was  developing 
and  disseminating  his  theoretical  understanding  of  total  mobilization  via  his 
theor}-  of  the  "Final  War"  from  the  mid-1 920s  into  the  mid-1930s  and  be3'ond, 
Ernst  Jiinger  was  espousing  his  own  concept  of  total  mobilization  for 
Germany  with  the  works  "Total  Mobilization"  and  The  Worker. 

Comparative  Total  Mobilization:  Reading  Ishiwara  Kanji  and  Ernst 
Jiinger 

To  var)ing  degrees,  bodi  Isliiwara  Kanji  and  Ernst  jiinger  based  their  theoretical 
work  on  the  disastrous  German  experience  of  the  First  Wbrld  \X  ar.  The  lessons 
each  man  appears  to  have  garnered  from  the  war  differ  in  interesting  ways,  for 
Ishiwara 's  and  J  linger 's  understanding  of  'total  mobilization'  is  a  reaction  to 
the  perceived  predicament  of  each  writer's  nation.  In  addition,  Ishiwara  and 
Jiinger  sought  to  provide  the  most  effective  theoretical  carrier  for  their  ideas, 
with  the  result  being  in  both  cases  the  seemingly  contradictor)-  mixture  of 
rational-scientific  elements  on  the  one  hand,  and  religious  or  near-mystical 
concepts  on  the  other. 

Beginning  with  the  formidable  body  of  thought  produced  by 
Ishiwara  Kanji,  it  is  important  to  note  that  Ishiwara 's  approach  to  the  topics 
that  occupied  his  career — military  history,  the  theor}'  of  modern  warfare,  and 
the  future  security  of  Japan — is  woven  together  from  four  major  theories  he 
developed  and  rigorously  pursued  until  the  end  of  his  life:  the  National 
Defense  State,  a  Showa  Restoration,  the  notion  of  the  Final  War,  and  the  East 
Asian  League  (Peattie  365).  I  would  like  to  focus  upon  Ishiwara's  concept  of 
"Final  War",  for  not  only  is  this  theory  considered  by  scholars  to  be  the  most 
original  of  Ishiwara's  theoretical  pursuits,  it  also  gives  us  the  most  direct  access 
to  the  idea  of  Japan's  need  for  total  mobilization. 

As  Peattie  points  out  in  his  investigation  of  Ishiwara's  early  military 
career,  most  Japanese  military  observers  came  to  the  conclusion  that  Germany 

51 


had  not  lost  the  First  World  War  as  a  result  of  military  failure,  but  as  a 
consequence  of  lacking  the  massive  production  capacit}-  necessar}-  to  prevail  in 
protracted,  industrialized  warfare  (12-13).  Ishiwara  Kanji  was  a  part  of  the 
"new  Japanese  militar\-  elite"  who  became  familiar  with  the  latest  in  European 
militan,-  doctrine  through  study  tours  in  Europe  that  lasted  multiple  years  (1 8- 
19).  During  his  three-j^ear  stay  in  Germany,  Ishiwara  utilized  the  information 
he  gathered  from  contemporan-  German  debates  on  militan,'  doctrine  to  inspire 
his  own  work  on  japan's  strategic  situation  in  East  Asia.  From  this  early  work 
emerges  a  theory  of  "Final  War"  which  predicts  a  cataclysmic  armed  conflict 
between  Japan  and  the  Western  colonial  powers.  This  war  is  precipitated  by  a 
Japanese  challenge  to  Western  hegemony  in  Asia  for  reasons  of  securing  vital 
natural  resources.  In  Ishiwara's  theory,  the  Japanese  challenge  to  the  United 
States  dominance  of  Asia  was  considered  essential  to  Japan's  survival  in  a 
modern  industrial  world,  in  which  Japan  was  floundering  in  its  efforts  to 
achieve  domestic  self-sufficiencv  due  to  a  chnjnic  lack  of  access  to  raw  materials, 
problems  of  over-population,  and  high  unemployment. 

What  made  "Final  War"  inevitable  in  Ishiwara's  mind  was  the  thought 
that  the  series  of  aggressive  measures  which  Japan  needed  to  carry  out  in  order 
to  gain  access  to  natural  resources — the  acquisition  of  territon'  in  East  Asia, 
most  prevalently  at  the  expense  of  China — were  the  same  steps  that  would 
most  Likelv  lead  Japan  to  war  with  the  Western  colonial  powers.  Thus  the 
measured,  scientific  and  rational  notion  of  'total  mobilization'  enters  Ishiwara's 
theon,-:  in  order  for  japan  to  have  a  chance  at  pre\ailing  in  a  total  industrial  war 
against  Western  powers,  it  would  have  to  consolidate  and  mobilize  the 
resources  of  the  East  Asian  continent  in  such  a  harmonious  and  etficient 
fashion  as  to  effectivelv  counter  the  industrial  weight  of  the  United  States.  The 
admittedly  complicated  and  intricate  operations  necessar}-  to  earn,-  out  such  a 
plan  would  be  directed  by  ajapanese  "National  Defense  State"  that  would  be 
the  moral  anchor  and  spiritual  guide  of  the  "East  Asian  League";  that  is,  an 
Asian  political  and  economic  union  that  would  overthrow  Western  colonial 
oppression  through  armed  struggle  (317, 320).  Finally,  Ishiwara's  understanding 
of  a  "Showa  Restoration"  included  taking  a  "basic  framework  for  domestic 
reform  in  Japan  and  stretch[ingj  it  to  include  the  reform  of  East  Asia" — 
making  it  an  "Asian  restoration,  bringing  together  all  Asian  races"  (319).  These 
three  ideas  fall  into  line  behind  the  flagship  idea  of  the  Final  War,  and  only 
these  concepts  working  in  conjunction  with  one  another  could  allow  the 
inevitable,  prolonged  industrial  war  against  the  West  to  be  won  by  Japan. 

As  it  has  been  described  thus  far,  the  Ishiwarian  theory  of  Final  War, 
like  each  of  the  other  three  theoretical  pursuits  that  made  up  Ishiwara's  life's 
work,  differentiates  itself  little  from  the  professional  opinion  and  personal 
imaginations  of  many  young  Japanese  officers  who  had  traversed  the  same 
militar}'  training  and  educational  landscape.  In  almost  precisely  the  same  time 

52 


period,  for  example,  the  general  army  staff  member  Okawa  Shumei  was 
theorizing  about  the  inentabilit)-  of  a  cataclysmic  world  war  beUveen  the  United 
States  and  Japan  (Chang  27).  It  is  Ishiwara's  linking  of  his  own  highly  respected 
military  analysis  to  a  particular  Japanese  religious  tradition — Nichiren 
Buddhism — that  makes  Ishiwara's  theoretization  unique  (Peattie  52).  Whereas 
without  its  religious  component  Ishiwara's  Final  War  theory  merely  outlines 
the  contours  of  a  geopolitical  economic  struggle  between  two  industrialized 
nations  with  vital  interests  in  the  Pacific,  the  Nichiren  addition  makes  the 
Japanese/American  clash  into  an  apocal}ptic  conflict  in  accordance  with  divine 
will  (57).  The  ensuing  struggle  would  be  a  part  of  the  great  natural  tide  of 
human  civilization  and,  after  the  vanquishing  of  the  United  States,  would 
result  in  a  synthesis  of  human  ideals  that,  in  Ishiwara's  view,  would  be  based 
ultimately  upon  the  Japanese  kokutai,  or  'national  essence'.  In  this  sense  the 
Japanese  militar}'  victor}'  would  be  a  victor)'  for  greater  Asia,  indeed  the  world, 
as  all  would  eventually  become  united  under  a  harmonious  spiritual  hegemony 
of  the  Japanese  Emperor  and  nation. 

Nichiren  Buddhism — based  upon  the  Japanese  Buddhist  priest 
Nichiren's  doctrines  centered  around  Shakyamuni's  final  discourse  before  he 
entered  into  Nirvana  (38-39) — proved  to  be  the  most  suitable  religion  for 
Ishiwara  in  terms  of  how  well  it  appeared  to  mesh  with  his  own  reflections 
upon  Japan's  destiny.  Lacking  a  strong  interest  in  religious  commitment  on  a 
personal  spiritual  level,  Ishiwara  first  rejected  a  private  adherence  to  Christianit)^, 
then  discarded  tradidonal  Shinto  as,  in  Mark  Peatde's  words,  "not  sufficiently 
dynamic"  enough  for  the  troubled  times  of  the  Taisho  democracy  (38).  Ishiwara 
sought  a  'Japanese'  spiritualism  that  would  allow  itself  to  be  integrated  with 
sentiments  of  Japanese  patriotism  that  could  in  turn  be  marshaled  to  strengthen 
the  nation's  own  national  values.  In  his  initial  mining  of  Nichiren  Buddhism's 
pre-Mejii  doctrine,  it  is  clear  that  Ishiwara  found  and  appropriated  three 
elements  of  Nichiren  messianic  thought:  the  linking  of  religious  life  and 
Japanese  patriotism,  the  apocalyptic  prediction  of  an  impending  human  conflict 
of  epic  proportions,  and  the  notion  that  the  subsequent  regeneration  and 
harmonization  of  the  w(3rld  would  originate  geographically  in  Japan  (40-41). 

It  is  important  to  note  that  the  utilization  of  Nichiren  messianic 
doctrine  depicted  thus  far  is  largely  restricted  to  Nichiren  Buddhism  in  its 
traditional  form,  based  on  the  Lotus  Sutra  and  Nichiren's  interpretations  of 
passages  within  it  (38).  Highly  influential  aspects  of  Nichiren  thought  also 
enter  into  Ishiwara's  theories  via  the  transition  of  Nichiren  Buddhism  into 
the  national-religious  ideology  of  "Nichirenism"  in  the  nineteenth  and 
twentieth  centuries,  most  notably  at  the  hands  of  the  Nichiren  revivalist  and 
religious  propagandist  Tanaka  Chigaku  (41).  Under  Tanaka's  recasting  of 
Nichiren  thought,  the  principles  of  Nichiren  are  more  strongly  tied  to  the 
fundamental  characteristics  of  Japanese  national  life.  The  merging  of  these 

53 


two  bodies  of  thought  provides  for  a  Nichiren  world  mission  that  invoh-es 
the  championing  of  the  Japanese  kokutai  in  the  rest  of  the  world  as  the 
ultimate  expression  of  human  ideals  and  values.  A  Nichirenism  that  had 
freshly  cross-pollinated  a  sense  of  religious  destiny  and  world  mission  with  an 
adherence  to  what  were  viewed  as  superior  Japanese  national  values  was  fertile 
soil  in  which  Ishiwara's  tlieory  of  impending  cataclysmic  war  against  the  United 
States  could  take  root.  In  tliis  new  light,  the  widely  unpopular  'foreign'  elements 
of  liberal  democratic  and  capitalistic  ideology  assumed  a  religious  character  as 
threats  to  the  Japanese  divine  mission — as  opposed  to  being  viewed  as  modern 
challenges  to  a  young,  industrializing  nation. 

Ishiwara's  sense  of  historical  determinism  was  reinforced  by  his 
own  reading  of  the  writings  of  the  priest,  Nichiren.  Convinced  that  the  fifth 
five-hundred  year  period  after  the  death  of  Buddha  would  be  one  of  great 
conflict  between  defenders  of  'true'  Buddhism  and  those  who  sought  its 
destruction,  Nichiren  prophesied  a  colossal  global  conflict  that  would  end  in 
world  harmony  under  the  peaceful  hegemony  of  "the  Wonderful  Law"  (46). 
As  it  appeared  clear  to  Ishiwara  that  Nichiren's  global  conflict  was  to  be  between 
Japan  and  the  United  States,  it  followed  logically  for  him  that  there  was  a 
pressing  need  for  a  total  national  mobilization  in  preparation  for  the  Final 
War,  one  that  would  whcjUy  rearrange  the  nation's  national  priorities  (48).  In 
Ishiwara's  mind,  Japan's  national  predicament  necessitated  a  total  mobilization 
that  involved  the  seizure  and  administration  of  vital  natural  resources  in 
greater  East  Asia,  the  spiritual  and  political  unification  of  Asian  peoples  under 
the  Japanese  nation,  and  a  domestic  political  rejuvenation  under  the  auspices 
of  a  Showa  Restoration.  For  Ishiwara  Kanji,  the  path  to  total  mobilization 
was  thus  paved  with  a  mixture  of  religious  prediction  and  technical  military- 
analysis.  The  driving  force  of  Ishiwara's  thought  was  the  theory  of  the  Final 
War,  in  which  the  historical  determinism  of  the  inevitable,  colossal  conflict 
between  East  and  West  was  injected  with  a  strong  dose  of  anti-determinist 
free  choice  of  action  that  theoretically  allowed  Japan  to  prepare  for  the  war  in 
time.  The  action  to  be  chosen  was,  in  Ishiwara's  eyes,  a  total  mobilization  of 
the  nation's  strength;  the  "free  choice"  available  to  Japan's  representative 
government  to  embrace  or  decline  this  action  was  continuously  contested  by 
Ishiwara  and  other  members  of  the  Japanese  officer  corps  throughout 
Ishiwara's  career  until  he  was  eventually  retired  by  the  Army  in  1 941 . 

In  analyzing  Ernst  Jiinger's  theorization  of  the  concept  of  total 
mobilization  for  Germany,  I  wish  to  examine  two  works  by  Jiinger  that  were 
written  in  the  time  period  when  Ishiwara  Kanji  was  actively  enhancing  and 
attempting  to  implement  elements  of  his  own  theories  involving  total 
mobilization.  In  Jiinger's  1930  essay  "Total  Mobilization"  the  author  argues 
for  the  absolute  necessity  of  Germans  to  understand  and  accept  the  concept 
of  total  mobilization  as  essential  to  the  survival  of  the  German  nation. 

54 


Beginning  with  the  nearly  universal  assertion  of  the  time  period  that  the  First 
World  War  was  fundamentally  different  from  any  previous  war  due  to  its 
highly  industrialized,  rationalized  character,  Jiinger  theorizes  about  the 
European  history  of  conflict  prior  to  the  Great  War  as  consisting  of  so-called 
"cabinet  wars"  (1 25-1 26).  In  earlier  times,  these  Kahiriette  Kriege  could  be  waged 
by  a  monarch  using  100,000  of  his  own  subjects  placed  under  "reliable 
leadership",  and  if  a  batde  were  lost  by  the  monarch  "silence  could  be  demanded 
of  the  subject  as  the  subject's  first  line  of  dut}^"  (125-126).'  In  the  era  of 
cabinet  wars,  the  general  populace  felt  themselves  a  part  of  the  conflict  only 
insofar  as  they  were  forced  to  participate  as  combatants,  or  themselves  suffered 
damages  in  propert)-  or  life  as  a  result  of  fighting  in  their  localit)-.  In  both  cases, 
the  number  of  subjects  that  were  direcdy  affected  often  remained  relatively 
low.  The  era  of  cabinet  wars,  Jiinger  argues,  even  stretches  into  the  second  half 
of  the  \9'^  century,  despite  the  introduction  of  military  conscription  (126). 
During  this  time  monarchs  could  still  plan,  conduct,  and  win  "conservative" 
cabinet  wars  toward  which  the  majorit)-  of  the  \'olk  was  apathetic  or  even 
hostile.  Wliile  demanding  considerable  resources,  the  mobilizations  necessary' 
for  such  relatively  limited  cabinet  wars  can  only  be  deemed  "partial"  in  nature. 
At  this  point  a  distinction  emerges  in  jiinger's  assessment  that  is  significant  to 
unlocking  the  logic  of  his  argument: /j^?;//'^/ mobilization  corresponds  to  the 
essence  of  monarchy,  for  according  to  Jiinger,  monarchical  rulers  much  prefer 
the  longer-term,  professional  support  of  mercenaries  in  limited  conflicts,  as 
these  tN-pes  of  military  struggles  pose  litde  chance  of  the  monarch  losing  his 
entire  kingdom  (127).  The  modern  broadening  of  participadon  in  a  country's 
mobilization  process  in  the  late  nineteenth  and  early  twentieth  centuries  to 
include  the  middle  classes  and  "masses"  was  not  embraced  enthusiasticaOy  by 
the  regents,  who  saw  such  a  widening  of  access  to  weaponn-  and  combat 
experience  as  a  threat  to  their  power.  As  a  result  of  the  continual  technical 
modernizadon  of  German  society,  the  prevention  of  ever  wider  participation 
in  national  armament  became  ultimately  impossible,  resulting  in  the  situation 
where  it  is  no  longer  merely  professional  mercenaries  who  defend  the  state, 
but  all  men  who  are  capable  of  bearing  arms  and  being  conscripted  (127-128). 
It  is  at  this  juncture  that  the  critical  figure  of  the  "Worker"  as  well  as 
a  salient  definition  of  'total  mobilization'  enters  jiinger's  text:  just  as  the  rise 
of  industrialized  warfare  made  the  monarchicallv-inspired  age  of  localized 
cabinet  wars  obsolete,  so  too  does  the  need  for  massive  armies  and  supplies 
of  armaments  hark  the  dawn  of  the  age  of  the  Worker — and  the  decline  of 
bourgeois  man  ("Total  Mobilization"  128;  Worker  2?)).  Modern  industrial 
warfare  did  not  simply  signify  an  increase  in  the  phj^sical  capacit}-  for  armies  to 
kill  each  other's  soldiers,  but  more  importandy  a  transformation  of  war  from 
a  mere  armed  encounter  into  an  gigantic  technical  operation  process 
{Arbeitspro^ss)  that  assumes  the  magnitude  of  a  world  historic  event, 

55 


outstripping  even  the  French  Revolution  in  importance  (128-129).  For  nations 
to  unfold  the  energies  that  modern  warfare  demands  of  them,  Jiinger  argues, 
it  no  longer  suffices  to  have  the  state's  "sword  arm"  tltted  and  armed,  but  all 
of  national  life  itself,  even  down  to  its  smallest  nerves  (129).- 

The  realization  of  this  martial  outfitting  of  the  state  is  the  task  of 
liinger's  total  mobilization,  or  "the  act  through  which  the  widely-branched 
and  diversely-veined  power  grid  of  modern  life  is,  by  one  grasp  of  the 
switchboard,  fed  into  the  great  current  of  martial  energy"  (129).  The  dawn  of 
industrial  warfare  therefore  means  at  once  the  simultaneous  rise  of  the  Worker 
as  the  most  essential  figure  of  the  state,  and  the  emergence  oi  totakMohibuachimg 
as  the  means  by  which  a  state  fully  utilizes  the  potential  of  the  Worker  in  every 
aspect  of  his  life.  In  this  setting,  Worker  and  Soldier  become  indistinguishable, 
as  each  plies  his  specialized  trade  in  a  rationalized,  modern  society  that  is  fully 
outfitted  for  conflict. 

It  is  interesting  to  note  that  Jiinger  does  not  consider  total 
mobilization  to  have  yet  been  accomplished  at  the  time  of  his  writing:  the  first 
attempts  during  the  Great  War  to  force  all  of  societ}'  to  serve  the  war  effort 
were  never  as  deep  and  far-reacliing  as  was  tmly  necessar)'  to  satisfy  the  demands 
of  industrialized  warfare.  Furthermore,  the  C^erman  leadership  of  the  time 
was  dominated  by  the  bourgeois  order,  and  thus  prevented  total  mobilization 
from  being  implemented  out  of  the  self-interest  of  its  own  degeneracy  ("Total 
Mobilization"  129;  Worker  40).  More  significant  to  jiinger  than  the  inadequacy 
of  earlier  policies,  however,  was  his  belief  that,  as  terrible  as  the  "material 
battles"  of  the  late  First  World  War  were,  never  had  human  society  reached 
such  a  modern  state  of  being  as  at  the  time  of  Jiinger's  essay.  In  contemporary 
modern  life,  where  ". .  .in  its  merciless  discipline,  with  its  smoking  and  glowing 
estuaries,  the  physics  and  metaphysics  of  its  traffic,  its  motors,  its  aircraft  and 
million-resident  cifies",  there  is  "not  one  atom  that  is  not  at  work"  and  "we 
realize  that  even  we,  to  our  very  core,  are  inextricably  caught  up  in  its  frenzied 
operation"  ("Total  Mobilization"  131). 

In  the  midst  of  this  modernity  as  described  by  the  author,  total 
mobilization  is  "less  achieved  than  it  achieves  itself"  and  is  in  times  of  both 
war  and  peace  the  expression  of  the  "mysterious  and  coercive  demand  to 
which  we  are  subjugated  in  the  age  of  masses  and  machines"  (131-132).  This 
description  adds  a  sense  of  mysficism  and  incalculabilit}'  to  the  concept  of 
total  mobilization  that  appears  to  rob  the  individual,  or  even  the  collective,  of 
its  agency,  thus  opening  the  door  for  a  serious  conceptual  contradiction. 
According  to  Jiinger,  the  "mysterious"  phenomena  of  total  industrialized 
war  and  total  mobilization  affect  each  modern  state  in  the  same  fashion, 
regardless  of  whether  the  nation  is  German  or  non-German,  democratically  or 
monarchically  arranged,  "advanced"  or  underdeveloped,  or  a  victor  or  loser  in 
the  Great  War — total  warfare  tests  the  mettle  of  all  nafions  equally,  as  an 

56 


earthquake  does  the  foundations  of  buildings  (134-135). 

The  mysterious,  determinist  character  of  a  Jiingerian,  self-mobilizing 
total  mobilization  affecting  everyone  equally  conflicts  with  the  author's  call  for 
implementing  total  mobilization  policies  in  order  for  Germany  to  be  in  a 
position  to  wage  industrial  warfare.  )unger's  model  also  appears  to  conflict 
with  the  agency  he  attributes  to  the  "bourgeois  order"  when  he  attacks  them 
for  being  too  decadent  to  implement  total  mobilization  during  the  Great  War. 
Jiinger  argues  that  in  order  for  all  the  possibilities  of  total  mobilization  to  be 
achieved,  the  peacetime  societ}'  must  already  have  molded  its  societal  order  to 
fit  the  precepts  of  total  mobilization  (129-130).  The  author  even  includes 
what  appears  to  be  an  ominous  warning  for  the  ostensibly  German  reader  that 
"in  many  nadon-states  of  the  postwar  period,  we  see  the  new  methods  of 
anTiament  already  being  tailored  to  fit  total  mobilizadon"  (130).  In  rounding 
out  the  tension  between  industrial  determinism  and  a  call  for  the  engagement 
of  all  of  modern  society  to  totally  mobilize  itself,  Jiinger  places  an  emphasis 
on  the  role  of  the  people,  claiming:  "[The]  technical  aspect  of  total  mobilization 
is  not  the  decisive  one,  but  rather  the  willingness  for  mobilization"  (132-133, 
my  emphasis). 

Thus  in  Ernst  jiinger's  fashioning  and  usage  of  the  concept  "total 
mobilization",  one  finds  primarily  an  embrace  of  the  commonly-used  term 
"Worker",  which  jiinger  utilizes  to  signify  the  rise  of  the  modern  member  of 
societ}'  to  strategic  significance.  The  Worker  will  prove  decisive  for  the  survival 
of  all  industrialized  nations — though  the  author  is  of  course  propagating 
this  view  to  Germans  in  particular.  In  [iingers  theoretical  framework,  the 
rational  and  calculable  appear  to  be  integrated  with  the  mysterious  and 
intangible  in  a  fashion  that  is  vaguely  similar  to  Ishiwara  Kanji's  blending  of 
rational  thought  and  calculation  with  traditional  mystical  religious  tradition. 

Theoretical  Weaknesses  and  the  Relationship  between  Total  Mobilization 
and  Democracy 

Both  Ishiwara  Kanji  and  Ernst  jiinger  lived  to  witness  the  cataclysmic  world 
war  that  was  capable  of  proving  or  disproving  their  theories.  Neither  man's 
understanding  of  total  mobilization  was  ever  achieved.  Peattie  points  out  that 
in  Ishiwara 's  case  "the  industrialization  programs  of  the  national  defense  state 
never  got  started,  the  Showa  Restoration  never  took  place,  [the]  dream  of  an 
East  Asian  League  was  never  realized,  and  [the]  vision  of  japan  and  America 
locked  in  a  Final  War  for  the  control  of  the  destiny  of  the  world  was  dispelled 
by  the  realities  of  a  collision  between  the  two  nations  over  the  control  of  the 
Pacific"  (365-366).  A  close  following  of  jiinger's  own  description  of  total 
mobilization  also  results  in  the  conclusion  that  the  goals  of  his  project  were 
not  achieved  in  Ciermany's  case,  either.  If  the  autobiography  of  the  German 
Minister  of  Armaments  Albert  Speer  can  be  trusted  in  this  regard,  Germany's 

57 


attempts  at  wartime  mobilization  were  reported  to  be  rife  with  "labor  problems, 
unsolved  raw  materials  questions,  and  court  intrigues",  as  well  as  the  Allied 
bombing  attacks  on  German  cities  (278).' 

Ludolt  Herbst  confirms  in  his  work,  Dertotale  Kiieg  Hud  die  Ordnung 
der  Wiiischaft  (Total  War  and  the  Orgaiiii^atioii  of  the  Economy),  that  Jiinger's 
precondition  that  total  mobilization  first  be  fully  established  in  peacetime 
societ)- was  never  met.  The  first  serious  official  attempt  at  full  implementation 
of  total  mobilization  came  only  late  in  the  war,  tollowing  the  )uly  1944  attempt 
on  Hider's  life  (343).  At  this  point  Joseph  Goebbels  was  made  "Reich  Authorin,- 
for  the  Total  War  Effort"'*  with  considerable  new  administrative  powers.  But, 
as  Otto  Ohlendorf,  chief  of  the  Interior  Sicherheitsdienst  (SD)  complained  in 
1944:  "We  did  not  enter  this  war  with  a  concrete  foundation.  For  example, 
neither  the  W'ehrwachtnor  the  economy  could  be  newly  conceptualized  according 
to  National  Socialism"  (344-345,  my  translation).  Olilendort  openly  expressed 
regret  that  Germany  had  not  had  the  "possibilit)'"  or  the  "time"  to  proceed  in 
as  total  a  fashion  as  Josef  Stalin  was  able  to  in  the  Soviet  Union  (345).  In 
addidon,  Herbst  also  notes  that  the  acute  labor  problems  mentioned  by  ^Albert 
Speer  were  not  properlv  eased  by  the  available  German  women's  work  force 
that  was  especially  mobilized  for  this  purpose  (119;  123-124). 

Regardless  of  whether  the  total  mobilization  projects  in  Germany 
and  |apan  were  truly  Jiingerian  or  Ishiwarian  in  final  practice,  they  ended  in  the 
shared  disaster  of  widespread  urban  destruction  and  unconditional  surrender. 
In  addition,  they  shared  a  cmel  irony:  each  theor)'  of  total  mobilizadon  discussed 
here  was  developed  by  a  respected,  successflil  military'  intellectual  who  believed 
that,  in  order  for  his  country  to  prevail  in  a  future  global  conflict,  his  countr}- 
would  have  to  implement  an  effective,  totalizing  mobilization,  or  all  was  lost. 
Germany  and  Japan  became  aggressively  active  in  global  conflicts  before 
establishing  total  mobilization  in  the  manner  Junger  and  Ishiwara  claimed  to 
be  necessarv,  however,  and  both  countries  lost  disastrously  as  predicted. 

This  final  section  is  not  intended  to  provide  a  historiographic  review 
of  how  Germany  and  Japan  failed  to  establish  the  necessary'  industrial  output 
to  defeat  the  Allies,  but  to  focus  instead  upon  X\\o  similar  theoretical  weaknesses 
found  in  Jiinger's  and  Ishiwara 's  projects.  Both  theories  contain  contradictions 
that  are  located  in  the  tension  between  their  deterministic  character  and  their 
militant  call  for  the  complete  mobilization  of  societ}-,  lest  the  nation  meet  with 
disaster.  In  the  case  of  Ishiwara's  theoretical  work,  the  path  to  establish  total 
mobilization  in  preparation  for  the  Final  War  leads  Japan  into  the  ruinous 
paradox  of  provoking  the  ver}-  cataclysmic,  far-reaching  war  for  which  Japan 
first  needed  to  establish  total  mobilization  to  have  anv  hope  of  prevailing. 
This  Pacific  War,  essentially  brought  abc^ut  by  Japan's  aggressive  militar}'  policies 
in  China  and  East  Asia  for  the  acquisition  of  needed  naairal  resources,  assured 
the  ultimate  prevention  of  Japanese  total  mobilization.  The  actual  result  was 

58 


a  grueling  war  against  the  United  States  in  which  U.S.  industrial  capacit}-  to 
produce  vast  amounts  of  militan'  hardware  gradually  threw  Japan  back  across 
the  Pacific,  then  buried  it  under  a  merciless  onslaught  ot  conventional  and 
atomic  aerial  bombardment. 

Ernst  liinger's  argument  ior  totak  Wohilmachung  contains  a  similar 
contradiction:  Jiinger  argues  that  total  mobilization  is  a  process  that  creates 
itself  through  the  unstoppable  encroachment  of  modernization  and 
industrialization  upon  human  Uves,  steadily  making  "each  single  Life  more 
into  the  life  of  a  worker"  (132).  jiinger  also  argues,  however,  that  Germany 
must  embrace  and  pursue  total  mobilization  as  a  nation,  and  the  masses 
constituting  the  Volk  must  be  characterized  by  a  complete  "willingness  to 
mobilize",  so  as  to  both  be  able  to  compete  with  other  European  states,  and 
not  find  itself  again  in  the  situation  of  fighting  a  war  with  only  "partial 
mobilization". 

The  theoretical  weakness  of  each  writer's  total  mobilization  project 
can  be  differentiated  from  one  another  bv  identifying  Ishiwara's  mistake  as  a 
performative  contradiction,  where  Isliiwara  finds  himself  theorizing  that  japan 
should  pursue  preciseh-  a  foreign  policy  most  likely  to  draw  itself  into  a 
disastrous,  industrialized  war  it  cannot  win,  in  order  to  be  prepared  for  a 
coming  apocalvpdc  war  which  it  is  not  yet  prepared  to  fight.  In  contrast, 
Jiinger's  description  of  total  mobilization  is  a  conceptual  contradiction,  as  it 
fails  to  remain  consistent  in  outlining  total  mobilization's  nature  as  either 
creadng  itself  out  of  the  industrial-productive  impulses  of  modernit)-,  or 
needing  the  embrace  of  the  German  people  in  order  to  be  properly  achieved. 

The  contradictions  inherent  in  Ishiwara's  and  jiinger's  theories  each 
result  from  the  mixture  of  rational,  scientifically-minded  plannmg  and 
acknowledgement  of  the  spiritual,  prophetic,  or  mysterious  character  of  human 
life.  Ishiwara's  theoretization  is  clearly  much  more  radically  mystical,  if  one 
adheres  to  the  conventional  nodon  that  there  is  no  sciendfic  reUabilit}'  in 
religious  prophecy.  It  must  be  noted  in  this  regard  that  jiinger  is  not  at  all 
reliant  upon  notions  of  prophecy  or  spirituality,  and  instead  finds  a  role  for 
the  non-sciendfic  'mysterious'  in  his  assessment  of  a  bustling,  industrialized 
modernity  that  couples  masses  with  machines.  In  addidon,  Jiinger  refrains 
from  predicdng  the  immediate  inevitability  of  another  Great  \X  ar. 

W  hat  the  two  theories  share  in  regards  to  internal  weaknesses, 
however,  is  the  tendency  to  demand  immediate  implementadon  of  total 
mobilization  at  the  expense  of  the  contemporan'  parUamentar}-  democradc 
system.  Ishiwara's  and  jiinger's  theories  each  assumes  that  the  very  fate  of  the 
nation — in  Ishiwara's  case,  even  the  world — is  at  stake  in  the  question  of 
whether  or  not  each  countn'  could  attain  the  level  of  mobiUzadon  necessar)'  to 
survive  a  future  war.  Given  the  gravity-  of  the  situation  for  the  theorists,  it 
comes  as  little  surprise  that  the  secured  future  survival  of  the  nadon  should  be 

59 


more  highly  valued  than  the  continued  existence  of  a  parliamentarv'  system  for 
which  Ishiwara  and  Jiinger  showed  little  allegiance.  Both  men's  concepts  for 
their  nations'  futures  seem  to  be  necessarily  aversive  to  democracy  in  order  to 
carr\'  out  their  desired  goal.  In  the  case  of  Ernst  jiinger,  one  sees  the  antagonistic 
relationship  between  total  mobilization  and  liberal  democracy  quite  clearly 
whenjiinger  makes  his  case  for  the  conformation  of  peacetime  societ)-  to  the 
precepts  of  complete  mobilization  (130).  In  this  context  Jiinger  singles  out 
liberalism's  ideal  of  individual  liberte  for  elimination: 

At  this  point  actions  can  be  taken  such  as  the  radical  destruction  of 

the  concept  of  'individual  freedom',  which  has  been  surely  fa 

questionable  concept]  from  the  beginning.  We  see  this  attack  [on 

individual  freedom] — ^vvhich  tendenc}-  it  is  to  declare  that  tliere  should 

exist  nothing  that  is  not  a  function  of  the  state — first  in  countries 

such  as  Russia  and  Italy,  then  in  Germany.  It  is  foreseeable  that  all 

countries  that  hold  claims  on  the  world"  will  somehow  earn,-  out 

[this  attack  on  individual  freedom]  in  (jrder  to  be  equal  to  the  task  of 

releasing  new  t}'pes  of  power.  (130) 

In  this  startlingly  frank  excerpt  from  Jiinger 's  1936  essay,  Jiinger  is  claiming 

that  the  National  Socialist  attack  on  individual  freedom  inside  Germany  is  not 

only  cut  from  the  same  wood  as  those  attacks  on  freedom  witnessed  in  the 

Soviet  Union  and  fascist  Italy,  it  represents  a  necessary,  productive  step  in  the 

process  of  effectively  unleashing  the  strengths  of  industrialization  through 

total  mobilization. 

Jiinger  later  connects  utter  state  control  over  total  mobilization  (and 
thus  the  populace)  with  the  ability  to  conduct  warfare  more  effectively  and 
avoid  the  revolutionan,-  situation  Germany  experienced  in  late  1918:  "The 
more  consistendy  and  deeply  the  war  from  the  very  beginning  seizes  the  sum 
of  all  strengths  for  itself,  the  more  secure  and  undeviating  it  will  be  in  its 
course"  (142).  Clearly  the  eradication  of  parliamentar)'  democracy  and  the 
liberalist  interpretation  of  individual  freedom  (also  advocated  in  The  Worker) 
is  not  merely  the  hoped-for  result  of  Jiinger's  total  mobilization,  but  a 
prerequisite  for  its  success.  The  fact  that  this  contention  might  be  the  source  of 
another  contradiction  in  Jiinger's  argument  (recall  that  Jiinger  argues  that  the 
process  of  modernization  and  industrialization  affects  each  state  in  the  same 
way,  regardless  of  whether  it  is  democratically  or  monarchically  organized)  is 
beside  the  point:  The  sum  total  of  Jiinger's  sentiments  treat  liberalism  and  its 
alleged  detrimental  effects  upon  German  society  as  compcMients  of  a  'foreign' 
ideology. 

Ishiwara  Kanji's  stance  on  the  relationship  between  his  idea  oi  a 
Showa  Restoration  and  liberal  democratic  institutions  in  Japan  are  similar  to 
those  of  Ernst  Jiinger  in  their  anti-liberal  sentiment.  Like  Jiinger,  Ishiwara 
saw  the  "foreign",  "imported"  liberal  ideals  of  the  U.S.  and  \X  estern  European 

60 


democracies  as  serious  detriments  to  his  socier\-,  quite  apart  from  the  question 
of  total  mobilization.  When  tlie  life-or-deatli  question  of  total  mobilization 
is  included  in  Ishi\\-ara's  assessment  of  japan's  prosperitA'  and  security;  however, 
the  contours  of  his  anti-liberal  position  become  clearer,  for  the  tenets  of 
liberalism  and  parUamentan  demcjcracv  are  marked  as  hindrances  to  total 
mobilization.  The  manner  in  which  Ishiwara  viewed  liberal  ideals  as  threats  to 
total  mobilization  included  an  interest  in  both  the  livelihood  of  the  nation's 
people  as  well  as  the  makeup  ot  the  nation's  political  system.  Ishiwara  viewed 
with  disgust  the  "immediate  problems  of  social  injustice"  present  in  the 
Japan  (Peattie  228).  According  to  Ishiwara,  the  ills  of  unemployment,  the 
high  cost  of  living,  and  the  low  price  of  farm  produce  all  could  be  traced  back 
to  the  inherent  exploitative  character  of  liberal  capitalism,  which  had  created  a 
tiny,  extremely  rich  class  of  citizens  that  enjoyed  economic  so\ereignr\'  over  a 
large  class  of  destitute  citizens  languishing  in  poverty-. 

For  this  reason,  Ishiwara  supported  revolurionan,'  systemic  reforms 
as  a  part  of  a  Showa  Restoration  that  barkened  back  to  the  Meiji  Restoration  in 
its  "antagonism  toward  the  privileged  classes,  professed  anti-capitalism,  concern 
for  the  rural  population,  fervent  patriotism  and  a  mystical  belief  in  japan's 
unique  destiny"  (228-229).  The  significance  of  this  outward  concern  for  the 
masses  and  call  to  replace  parhamentan  democracy  and  capit;ilism  with  a  "newer 
system"  lies  in  the  fact  that,  like  Ernst  jiinger,  Ishiwara  Kanji  viewed  liberal 
notions  of  individual  freedom  and  democracy  as  being  antithetic  to  total 
mobilization.  On  the  same  token,  both  writers  held  that  a  totalitarian-st\led 
system  of  government  lent  itself  more  effectively  to  the  implementation  of 
total  mobilization.  While  jiinger  believed  that  the  destruction  of  "individual 
freedom"  would  greater  enable  a  nation-state  to  unleash  the  new  powers  of 
industrialization  and  modernization,  Ishiwara  envisioned  his  Showa 
Restoration  as  "harnessing  the  nation's  political  energies  along  totalitarian 
lines,  including  the  creation  of  a  single  mass  political  organization  and  the 
imposition  of  a  thoroughly  regimented  economy  to  increase  national 
productivity-"  (229). 

Both  jiinger's  and  Ishiwara's  resistance  to  liberal  democracy  appear 
to  find  its  foundation  in  an  essentially  communal  understanding  of  societ\- 
that  runs  counter  to  liberalism's  emphasis  on  individualism,  which  is  perceived 
to  lead  to  decadence  and  selfishness.  The  subsequent  totalitarian  institutions 
that  arose  in  Germany  and  japan,  however — seen  bv  each  author  as  theoretically 
most  conducive  to  the  implementation  of  their  theories — proved  to  be 
Germany's  and  japan's  downfall.  Though  it  is  not  the  focus  of  this  comparison 
of  Ishiwara  and  jiinger  to  suggest  that  the  rejection  or  avoidance  of  democracy 
necessarily  invites  national  disaster,  it  is  important  to  note  that  the  nature  of 
the  total  mobilization  programs  theorized  by  these  men  during  the  1930s 
were  inherentiy  bellicose,  given  the  pcjlitical  context  in  which  they  were  to  be 

61 


implemented.  Their  emphatic  rejection  of  liberal  democratic  institutions  only 
enhanced  the  programs'  capacity  to  provoke  conflict  with  the  Western 
democracies  of  France,  England  and  the  United  States. 

Conclusion 

In  comparing  Ishiwara's  and  jiinger's  conceptualizations  of  total 
mobilization  in  the  1930s,  it  is  surprising  to  find  that  neither  author  lays  out 
in  technical  detail  how  Germany  or  [apan  is  to  go  about  radicalizing  domestic 
societ)-  to  most  efficiendy  produce  war  material  or  industrial  goods  in  sufficient 
quantity.  Instead  each  writer  approached  the  topic  of  mobilizadon  in  a  much 
more  theoretical  and  vague  manner,  attempting  to  develop  the  factual,  material- 
based  science  of  industrialization  and  technology,  then  blend  it  with  generous 
portions  of  traditional  spiritualist  thought  (Nichiren  Buddhism),  or  the 
intangible  mysteriousness  of  the  relationship  between  modernity  and  the 
human  spirit's  willingness  to  embrace  it  (the  "willingness  for  mobilization"), 
hi  both  cases  the  authors  leave  the  most  difficult,  practical  calculations  of  total 
mobilization  to  others. 

What  makes  the  comparison  of  these  two  theorists  of  similar  career 
experience,  intellectual  development,  patriotism,  and  ambifion  most  compelling 
is  their  parallel  search  for  the  answer  to  the  same  question — how  could  Gemnany 
or  Japan,  hopelessly  out-produced  by  the  industrial  might  of  a  country  such 
as  the  U.S.,  implement  a  program  of  national  organizafion  so  as  to  ensure  its 
survival  in  a  future  that  is  likely  to  include  an  even  more  industrialized  war 
than  the  one  of  1914-1918?  In  searching  out  answers  to  this  question,  both 
Jiinger  and  Ishiwara  established  theories  that  were  meant  to  simultaneously 
combat  the  perceived  evils  of  liberal  institutions  and  completely  mobilize 
their  societies  in  a  manner  that  would  enable  victory  in  a  future  war  both  men 
knew  would  be  industrialized  and  catastrophic.  Far  from  being  purely  scientific, 
however,  the  strong  elements  of  religious  or  near-mystical  concepts  in  their 
idea  structures  give  the  theories  a  contradictory  character.  In  the  end,  no  amount 
of  theoretical  musing  or  self-ascribed  foresight  was  enough  to  spare  Jiinger 
and  Ishiwara  from  witnessing  the  disastrous  effects  their  nations'  wars  ravaged 
upon  their  homelands. 


62 


Endnotes 

'  This  and  all  subsequent  translations  of  Jiingcr  citations  are  iny  own. 

-  ".../)/.v  in  den  feinstcn  Lehensnerv."' 

'  Albert  Speer  became  Minister  of  Armaments  in  early  1942. 

"  "ReichsbevoUmachtigcr  fiir  den  totalcn  Kricgseinsatz" 

^  "...Lander,  in  denen  Weltanspriiche  iebendig  sind..." 


Works  Cited 

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Herbst,  Ludolf.  Der  Totale  Kiieg  and  die  Ordnung  der  W'iiischaft:  Die  Kriegswiiischaft 
ini  Spannungsfeld  von  Politik,  Ideologie  und  Propaganda  1939-1945. 
Stuttgart:  Deutsche  Verlags-Anstalt,  1982. 

jiinger,  Ernst.  Der  Arbeiter.  Stuttgart:  Ernst  Klett,  1981. 

— ."Die  totale  Mobilmachung."  Blatter  und Steine.  Hamburg:  Hanseatische 
Verlagsanstalt,  1934. 

Ludendorff,  Erich.  Der  totale  Kneg.  Munich:  Ludendorffs  Yerlag  G.m.b.H., 
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and  Clara  Winston.  New  York:  The  Macmillan  Company,  1 970. 

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Introduction."  Total  War  and  'Woderni^tion  .  Ed.  Yasushi 
Yamanouchi,  1.  Victor  Koschmann,  and  R\Tjichi  Narita.  New  York: 
Cornell  Universit)'  East  Asia  Program,  1998. 


63 


64 


Die  Ktinst  ohne  Aura 

Boio'dkus  Habitustheorie  unci  Benjamins  Aujsat:^ 
Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 

Reproduzierbarkeit 

Andre  Schuetze 

Kein  Zeitpunkt  war  giinstiger  fiir  die  Entdeckung  des  Laokoon  als  das  Jahr 
1506.  Papst  war  Julius  II.,  der  eine  Neubegriindung  des  machtigen  Roms 
ersehnte  und  sich  selbst  in  der  Nachfolge  der  alten  romischen  Kaiser  sah.  Die 
W'iederentdeckung  des  von  Plinius  d.A.  als  schonstes  aller  Kunstwerke 
bezeichneten  Laokoon  wiirde  ein  Wink  des  Schicksals  sein  und  konnte  sein 
Ziel  auch  auf  symbolischer  Ebene  unterstreichen.  Laokoon,  dessen  Flucht  aus 
Troja  den  Aufstieg  Roms  einlautete,  wiirde  als  ein  Zeichen  des  neuen 
Anspruchs  noch  einmal  in  Rom  erscheinen,  und  das  herrlichste  Meisterwerk 
der  Antike  ware  wieder  im  Besitz  eines  romischen  Herrschers,  des  Papstes. 
So  ist  es  nicht  verwunderlich,  dass  auf  erste  Geriichte  bin,  Giuliano  da  Sangallo 
vom  Papst  personlich  ausgeschickt  wurde,  um  die  neue  Ausgrabung  zu 
erkunden.  Als  da  Sangallo  die  Statue  erbUckte,  rief  er  sofort  aus:  „Das  ist  der 
Laokoon,  den  Plinius  erwahnt  hat".'  \'on  diesem  Augenblick  an  war  diese 
Laokoonstatue  die  beriihrnteste  aller  antiken  Skulpturen. 

Der  antike  Text  hat  den  Laokoon  mit  dem  Nimbus  des 
unvergleichlich  Schonen  versehen,  noch  bevor  irgend  jemand  die  Skulpturin 
der  ReaUtat  sehen  konnte.  j\llein  durch  den  Text  des  Plinius  war  der  Laokoon 
mit  einer  Aura  umgeben,  die  ilin  zum  Meisterwerk  erhob.  Die  Laokoongruppe 
kann  somit  als  ein  friihes  Beispiel  der  Auratisierung  von  Kunst  gelten,  denn 
ob  es  sich  dabei  wirklich  um  die  von  Plinius  gepriesene  Statue  handelt  oder  ob 
Plinius  das  \X  erk  wirklich  so  hoch  gelobt  hat,  ist  dabei  bis  heute  ungewiss.^ 
Der  Begriff  der  Aura  wairde  zu  einem  der  Schliisselbegriffe  in  Walter  Benjamins 
beruhmten  Essay  Das  Kunstiverk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Keprodii^erbarkeit. 
In  der  Geschichte  hat  sich  -  nach  Benjamin  -  Kunst  permanent  im 
Traditionszusammenhang  mit  dem  Kultus  befunden.'  Durch  die  neuen 
reproduktablen  Kunstformen  ergibt  sich  unter  \'erlust  von  Aura  aber  erstmals 
die  Moglichkeit  einer  Loslosung  und  Eigenstandigkeit,  die  mit  einer  neuen 
nichtkontemplativen  Betrachtungsweise  von  Kunst  einhergeht. 

Das  Konzept  von  Aura  wird  allerdings  auch  heute  noch  auf  Kunst 
angewandt.  Mit  Pierre  Bourdieus  soziologischer  Sicht  auf  das  Feld  der  Kunst 

65 


soil  gezeigt  werden,  dass  Aura  als  Distinktionsbegriff  etablierter  Kunst  fungiert. 
Aura  ist  ein  im  Feld  der  Kunst  konstruierter  Mehrvvert,  der  vor  allem  mit  der 
Herausbildung  eines  eigenstandigen  autonomen  Kunstfeldes  und  unter  dem 
Eintluss  neuer  reproduktionsfahiger  Kunstformen  wichtig  wird. 

In  diesem  Text  soil  zum  Verstiindnis  des  kulturellen  Feldbegriffes 
Bourdieus  zunachst  eine  generelle  Ubersicht  seiner  Habitustheorie  gegeben 
werden.  Im  zweiten  Teil  wird  Benjamins  Kunstu-erkaufsatz  eingehender 
beschrieben.  AnschHeBend  wird  auf  die  Entstehung  des  relativ  autonomen 
Feldes  der  Kunst  eingegangen,  wobei  zu  zeigen  ist,  dass  Aura  als 
Distinktionsbediirfnis  der  oberen  Klassen  hier  erstmals  im  Gescliichtsprozess 
erscheint.  Im  Abschluss  soil  schlieBHch  die  historische  Konstruktion  des 
Aurabegriffs  untersucht  werden. 

1.  Die  Gesellschaft  und  die  Kunst 

Pierre  Bourdieus  GeseUschaftskonzept  befasst  sich  vor  allem  mit  dem  Problem 
der  Reproduktion  sozialer  Schichten,  deren  Klassifikation  nicht  nur  der 
okonomischen  Klassenlage  tolgt,  sondern  auch  der  Stellung  in  der  Mierarchie 
von  Prestige  und  Ehre,  das  heiBt  nach  dem  Stand  in  der  Gesellschaft.'*  Der 
Kapitalbegriff  wie  er  etwa  von  Marx  verwendet  wird,  muss  bei  Bourdieu 
erganzt  werden:  „Er  unterscheidet  drei  Kiipitalaiien:  okonomisches  Kapital, 
Bildungskapital  und  soziales  Kapital  (Beziehungen  zu  Mitmenschen).  ^\lle 
drei  Kapitalarten  gelten  Bourdieu  kategorial  als  gleichwertig  und  als  prinzipiell 
konvertibel.  Substantiell  hebt  er  das  okonomische  und  das  Bildungskapital 
besonders  hervor.  Die  drei  Kapitalarten  finden  sich  jeweils  in  drei  Formen:  als 
inkorporiertes  (z.B.  das  W'issen  um  darstellende  Kunst),  als  objektiviertes 
(z.B.  Bilder  an  der  eigenen  W'ohnzimmerwand)  und  als  institutionalisiertes 
Kapital  (z.B.  das  Diplom  einer  Kunsthochschule).""' 

Innerhalb  des  sozialen  Raumes,  der  sich  aus  einer  Vielzahl  relativ 
autonomer  Felder,  zum  Beispiel  dem  wirtschaftlichen  oder  dem  kiinstlerischen, 
zusammensetzt,  werden  die  sozialen  Schichten  laut  Bourdieu  durch 
Klassifikationskampfe  bestimmt,  denn  obwohl  in  den  verschiedenen 
Gesellschattsfeldern  die  unterschiedlichen  Kapitalarten  andere  Rangfolgen 
einnehmen  konnen,  sind  sie  strukturell  und  funktional  doch  insoweit  homolog, 
als  dass  in  jedem  Feld  Kampfe  um  die  Hierarchic  der  Klassen  gefiihrt  werden. 
So  gibt  es  immer  Herrschende  und  Beherrschte  und  in  einem  permanenten 
Kampf  versuchen  die  Akteure  ihre  Stellung  entweder  zu  wahren  oder  zu 
verbessern.  Ihre  Positionen  und  die  ihnen  entsprechenden 
Klassifikationskampfe  sind  aber  nicht  voraussetzungslos.  In  seinem  \X  erk  Die 
feinen  IJ nterschiede  gelang  es  Bourdieu  nachzuweisen,  dass  die  heutige  soziale 
Welt  nichts  weniger  als  freie  Konkurrenz  und  Chancengleichheit  bietet.  Die 
materielle  Lage  und  das  inkorporierte  kulturelle  Kapital,  seinerseits  wieder  von 
okonomischen  Verhaltnissen  abhangig,  bieten  Vorteile  im  jeweiligen  Feld,  die 

66 


von  schlechtergestellten  Akteuren  nur  schwerodergarnicht  aufzuholen  sind. 

Als  eine  der  stJirksten  Klassenschranken  kommt  nach  Bourdieu  den 

unterschiedlichen  Lebensstilen  der  jeweiligen  sozialen  Schichten  eine  besondere 

Bedeutung  zu;  nicht  nur  zwischen  dem  Luxusgeschmack  der  C  )berklasse  und 

dem  Notwendigkeitsgeschmack  der  Unterklasse  kann  differenziert  werden, 

sondern  auch  innerhalb  der  herrschenden  Scliicht  lassen  sich  unterschiedliche 

Strukturen  mit  ihrem  jeweiligen  Bedeutungsgehalt  ausmachen/'  Eine  Reihe 

evidenter  und  signifikanter  Zeichen,  gerade  in  der  AlltagsJisthetik  und  der 

Bildung,  ermoglichen  eine  relativ  sichere,  dabei  schnelle  und  einfache 

Zuordnung.  So  kann  jede  Haltung  und  AuBerung  zu  einer  Klassifikation 

benutzt  werden,  die  Aufschluss  gibt  iiber  die  soziale  Herkunft,  denn  wie 

Bourdieu  nachzuweisen  versucht,  ist  jeder  Lebensstil  gebunden  an  existentielle 

EnnvickJungsgrundlagen  und  damit  an  einen  bestimmten  Klassenhabitus. 

„Der  soziale  Instinkt  spi^irt  seine  Anhaltspunkte  in  dem  System 

von  Zeichen  auf,  die  -  unendlich  redundant  auteinander  bezogen  — 

jeder  menschliche  Korper  an  sich  hat:  KJeidung,  Aussprache,  Haltung, 

Gang,  Umgangsformen.  L'nbewuBt  registriert,  begriinden  sie 

,Antipathien'  und  ,Svmpathien':  noch  die  scheinbar  spontansten 

,Wahlver\vandtschaften'  beruhen  immer  auf  dem  unbewuRten 

EntschJiasseln  expressiver  Merkmale,  deren  jeweiiiger  Sinn  und  Wert 

sich  nur  aus  dem  Svstem  ihrer  klassenspezifischen  \'arianten 

erschlieBt ..." 

Die  Lebensstile  der  Unterklasse  dienen  dabei  als  Negativum,  von  dem  sich  die 

herrschende  Fraktion,  doch  auch  das  Kleinbiirgertum  absetzen  will.  Die  Mittel 

derDistinktion  sind  aber  faktisch  der  OberkJasse  und  den  Intellektuellen,  die 

die  Distinktionsstandards  setzen  vorbehalten.  „Sie  allein  sind  in  der  Lage,  ihre 

Lebensform  zu  einer  Kunstform  zu  erheben."* 

Eine  explizite  Bedeutung  in  der  Unterscheidung  und  Distanzierung 
nehmen  die  Kulturgiiter  ein,  da  „...  ///  ihnen  die  Distinkfionsbe^dehiing  objektiv 
angelegt  ist  und  bei  jedem  konsumtiven  Akt  ...  durch  die  notwendig 
vorausgesetzten  okonomischen  und  kulturellen  Aneignungsinstrumente 
reaktiviert  wird.""  Der  Distinktionsgewinn  liber  Kultur  ist  besonders  hoch, 
well  zur  Bestatigung  in  diesem  Feld  eine  Reilie  auBergewohnlicher  Fahigkeiten 
vorhanden  sein  miissen,  die  schon  in  sich  Exklusivitat  implizieren.  Es  handelt 
sich  um  ein  „statusmaBiges  Herkunftskapital","'  da  die  Bedingungen  der 
Aufnahme  kulturellen  Kapitals  durch  die  jeweilige  KJassensituation  des 
Umfeldes  bestimmt  ist. 

Schon  in  friihester  Kindheit  wird  kulturelle  Kompetenz  aus  der 
Nahe  und  \'ertrautheit  der  Familie  zu  Kulturgiitern,  zur  Bildung  sowie  zu 
Konversation  und  Manieren  erworben.  Diese  Erfahrungen  konnen  spater 
durch  die  Schule  noch  erganzt  werden.  „Das  inkorporierte  kulturelle  Kapital 
der  vorausgegangenen  Generationen  fungiert  als  eine  Art  VorschuB  und 

67 


Vorsprung:  indem  es  ...  das  Beispiel  einer  hi faniiliaren Mustern  realisierten  Kultur 
ufid  Bi/^/i/ig  gewiihrleistet,  wird  ..  von  Anbeginn  an  und  von  Grund  auf,  d.h. 
auf  vollig  unbewTiBte  und  unmerkliche  Weise  der  Ervverb  der  Grundelemente 
der  legitimen  Kultur  ermoglicht ..."" 

Doch  nicht  nur  den  herrschendcn  PVaktionen  wird  so  ihre  jeweilige 
gesellschafdiche  Identitat  mitgegeben,  sondern  auch  der  beherrschten  Klasse. 
Ihr  reproduzierter  Gruppenhabitus,  dem  legitimierten  der  Oberklasse 
widersprechend,  wird  ihnen  in  den  hierarchischen  Auseinandersetzungen  zum 
Nachteil,  da  sie  sich  in  einer  Sphare  unbekannter  und  ungewohnter  Werte 
durchsetzen  miissen.  Fehler,  mangelndes  Wissen  und  Unsicherheit  im 
gesellschaftlichen  Umgang  mit  der  lierrschenden  Fraktion  fiihren  in  den  Augen 
der  Oberschicht  zu  einer  Selbstdeklassierung.  Die  Uneingeweihtheit  in  den 
gesellschaftlichen  Belangen  und  in  den  kiinstlerischen  MaBstaben  fiihrt  zur 
Scheu  des  sich  nicht  an  seinem  wahren  Platze  Befindiichen:  „Obgleich  nicht 
nur  der  Kleinbiirger  iiber  sie  verfiigt,  erweist  sich  die  typisch  kleinbiirgerliche 
Erfahrung  der  Sozialwelt  zunachst  ids  Schiichternheit,  als  Gehemmtheit  dessen, 
dem  in  seinem  Leib  und  seiner  Sprache  nicht  wolil  ist,  der  beides  ...  von  auBen, 
mit  den  Augen  der  anderen  betrachtet,  der  sich  fortwahrend  iiberwacht,  sich 
kontroUiert  und  korrigiert ...  und  gerade  durch  seine  verzweifelten  Versuche 
zur  Wiederaneignung  eines  enttremdeten  ,Seins-  fiir-  den-  Anderen'  sich  dem 
Zugriff  der  anderen  preisgibt ..."'" 

Die  Distinktionsleistung  der  Kultur  wird  hauptsachlich  von  der 
intellektuellen  und  kiinstlerischen  Fraktion  genutzt  -  zugleich  gegen  die 
Unterklasse  einerseits  und  gegen  den  Utilitarismus  des  Besitzbiirgertums 
andererseits.'^  „Mit  dem  polarisierten  Raum  des  Macht-Feldes  sind  somit 
Spielregeln,  Spielgewinne  und  Einsatze  defmiert:  zwischen  den  beiden 
extremen  Polen  herrscht  absolute  Unvereinbarkeit.  An  beiden  Tischen 
gleichzeitig  kann  man  nicht  spielen;  alles  gewinnen  zu  wollen,  geht  nur  um 
den  Preis,  alles  verlieren  zu  konnen."''* 

Da  den  Protagonisten  des  kiinstlerischen  Feldes  zumeist  die 
fmanziellen  Mittel  einer  kauflichen  Aneignung  legitimer  Kulturgiiter  fehlen, 
miissen  sie  auf  andere  Strategien  setzen.  „Intellektuelle  und  Kiinsder  haben 
eine  ausgepriigte  Vorliebe  fiir  die  riskantesten,  aber  auch  eintriiglichsten 
Distinktionsstrategien,  die  darin  bestehen,  durch  Asthetisierung 
unbedeutender  oder ...  solcher  Gegenstiinde,  die  bereits  in  anderer  Weise,  von 
anderen  Klassen  oder  Klassentraktionen  als  Kunst  behandelt  worden  sind, 
ihre  eigene  Macht  unter  Beweis  zu  stellen".'^  Km  hoheres  kulturelles  Kapital 
ermoglicht  ihnen  mittels  der  relativen  Autonomie  des  kiinstlerischen  Feldes 
einen  Vorsprung  zur  materiell  dominierenden  Wasse:  Sie  konnen  ihren  eigenen 
Geschmack  als  den  wahrhaften  durchsetzen.  DcKh  gelingt  es  der  okonomisch 
herrschendcn  Schicht  in  der  Regel  schnelJ,  den  svmbolischen  Gehalt  neuer 
Kulturgiiter  gegen  finanzielle  Mittel  einzutauschen  und  sich  selbst  den 

68 


immanenten  Distinktionsgchalt  nutzbar  zu  machen.  SchlieBlich  sind  die 
IntellektuelJen  zwar  aufgrund  ihres  kulturellen  Kapitals  Herrschende,  jedoch 
sind  sie  laut  Bourdieu  letztendlich  gegen  die  Inhaber  okonomischer  und 
politischer  Macht  zugleich  auch  Beherrschte. 

2.  Das  Kunstwerk  und  die  Produktion 

Kunst  ohne  Aura  -  dies  wird  nach  Walter  Benjamins  vielzitiertem  Aufsatz  Das 
Kjinstiverk  ini  Zeitalter  seiner  techiiischeii  Keprodu-:^erharkeit  zur  Problematik  der 
bestehenden  Kunstauffassung  in  der  Moderne.  Im  Geschichtsprozess  setzt 
sich  nach  Benjamin  die  Reproduktionsfahigkeit  durch  Technik  in 
unterschiedlichen  Schiiben  immer  mehr  durch.  „Dic  Griechen  kannten  nur 
zwei  Verfahren  technischer  Reproduktion  von  KunstAverken:  den  GuB  und 
die  PrJigung".'^'  Doch  mit  Holzschnitt  und  Buchdruck,  mit  Kupferstich  und 
Radierung  gelangt  die  Reproduktionstechnik  zu  einer  neuen  Stufe,  um 
schlieBlich  mit  Photographie  und  Film  eine  grundsatzlich  neue  Qualitat  zu 
erreichen.  Erstmals  in  der  menschlichen  Geschichte  kann  die  bildliche 
Reproduktion  mit  der  Sprache  mithalten,  niihert  sich  die  visuelle 
Kommunikation  der  verbalen  Kommunikation  an.  Benjamin  rekurriert  dabei 
in  seinem  Aufsatz  fast  ausschlieBlich  auf  den  Film  als  Beispiel  der  neuen 
reproduktionsfiihigen  und  auf  Reproduktion  ausgclegten  Kunstform.' 

Die  neue  Qualitat  der  technischen  Reproduktionsmogiichkeit  auBert 
sich  ausdriicklicherweise  in  einem  reziproken  Emfluss  auf  die  Kunst  selbst. 
Dieser  Einfluss,  der  mit  der  \'ernichtung  „des  Traditionswertes  am 
Kulturerbe""^  durchaus  zerstorerisch  wirkt,  wird  von  Benjamin  allerdings  auch 
und  vor  allem  kathartisch  gesehen  als  die  Chance  fiir  ein  genuin  erneuertes 
Betrachtungsverhaltnis  der  Kunst  gegeniiber. 

Selbst  die  gelungenste  Reprodukdon  hat  gegeniiber  dem  Original 
im  Idassischen  Kunstverstandnis  den  Makel  der  Fiilschung.  Der  Reproduktion 
fehlt  das  „Hier  und  Jetzt  des  Kunstwerks",' '  kurz  die  Aura.  Die  Einmaligkeit 
eines  Kunstwerks  erst  macht  es  zum  Zeitobjekt  der  Historic,  macht  es  zum 
Zeugen  von  Veranderung  an  seiner  eigenen  Phvsis  und  zum  „Gegenstand 
einer  Tradition,  deren  Verfolgung  von  dem  Standort  des  Originals  ausgehen 
muB".^^'  Die  Betrachtung  des  vereinzelten  Kunstobjekts,  die  Betrachtung  dieses 
durch  seine  erlebte  Historizitat  einmaligen  Kunstwerkes  wird  so  zum  Ausloser 
von  Gedankenarbeit,  wie  es  keiner  seiner  noch  so  getreuen  Kopien  gelingen 
konnte.  Nur  das  Original  ist  von  diesem  unsichtbaren  und  doch  fiihlbarem 
Glanz  der  Aura  umgeben. 

„Auf  dem  auratischen  Schein",  heiBt  es  bei  Tiedemann,  „beruht 
auch  jener  'schone  Schein',  den  die  idealistische  Asthetik  der  Kunst  zuschreibt. 
An  der  modernen  Kunst  seit  Baudelaire  zeigt  sich  nun  aber  ein  fortschreitender 
Zerfall  der  Aura.  Die  technische  Reproduzierbarkeit  der  Kunstwerke  ersetzt 
deren  Kultwert  durch  den  Ausstcllungswert".''  Die  technische  Reproduktion 

69 


entwertet  den  durch  die  inhjirente  Selbstandigkeit  des  Kunstprodukts  aurativen 
Begriff  der  Echtheit:  An  die  SteUe  der  Einmaligkeit  tritt  nun  die  der  Masse."^^ 

Der  Verfall  der  Aura  ist  fiir  Benjamin  gesellschaftlich  bedingt  und 
Zeichen  einer  Krise,  aber  zugleich  auch  Zeichen  einer  Erneuerung  der 
Menschheit.  „Mit  der  im  19.  Jahrhundert  sich  durchsetzenden 
Industrialisierung  der  warenproduziercnden  Gesellschaft  wird  liquidiert,  was 
einmal  emphatisch  Erfahrung  hieB  und  immer  auch  Erfahrung  von  Aura  war: 
die  Kommensurabilitat  der  Menschen  mit  den  Gegenstanden  ilirer  Produktion 
durch  den  ProzeB  der  Arbeit.  Paradox  von  den  eigenen  Arbeitsbedingungen 
'angewandte'  Individuen-  angewandt  von  Arbeitsbedingungen,  welche  nicht 
sie  schaffen,  sondern  die  ihnen  als  Reproduktionsbedingungen  des  Kapitals 
gegeniiberstehen  -  gelangen  nur  noch  zu  schockhaften  Reizerlebnissen".^^ 

Fiir  Benjamin  sind  die  geseOschaftlichen  Reproduktionsbedingungen 
seiner  Zeit  allerdings  schon  moderner  als  die  Produktion  von  Kunst  oder 
genauer  von  Kunstkridk,  denn  mit  dem  Film  existiert  eine  Kunstrichtung,  die 
genau  diese  gesellschaftlichen  Erfahrungen  wiedergibt.  Die  Wertschatzung 
des  Kinematographen  durch  das  Proletariat  ist  so  fiir  Benjamin  kein  Zeichen 
von  minoritiiren  Kunstgeschmack,  sondern  vielmehr  Ausdruck  seiner  sozialen 
Fortschrittlichkeit:  „Die  Masse  ist  eine  matrix,  aus  der  gegenwiirtig  alles 
gewohnte  Verhalten  Kunstwerken  gegeniiber  neugeboren  hervorgeht.  Die 
QuantitJit  ist  in  Qualitat  umgeschlagen:  Die  sehr  viel  grb^eren  Masseii  der 
Anteilnehmenden  haben  eine  verdndetie  Art  des  Anteih  hen'orgebraclot.  Es  darf  den 
Betrachter  nicht  irre  machen,  daB  dieser  Anteil  zuniichst  in  verrufener  Gestalt 
in  Erscheinung  tritt".""' 

Versuche,  die  nun  unter  dem  MaBstab  der  Reproduktionsfahigkeit 
stehende  Kunst  wieder  zu  auratisieren,  wie  et\va  mittels  des  Starkultes  in  der 
Filmindustrie,  sind  fiir  Benjamin  deshalb  ijberholt  oder  gar  offen  reaktioniir. 
Im  engen  Zusammenhang  damit  steht  fiir  ihn  die  Asthetisierung  der  Polidk 
durch  den  Faschismus,  die  schluBendlich  im  Krieg  munden  muss,  denn: 
„Nur  der  Krieg  macht  es  moglich,  die  siimtlichen  technischen  Mittel  der 
Gegenwart  unter  Wahrung  der  Eigentumsverhiiltnisse  zu  mobilisieren".^^ 
Stattdessen  sieht  Benjamin  die  Notwendigkeit  der  Politisierung  der  Kunst, 
wie  sie  mittels  einer  modernen  Kunstauffassung  im  Zeitalter  der  technischen 
Reproduktionsfahigkeit  von  KunstAveri'cen  moglich  geworden  ist.  Die  neuen 
Kunstformen  erfordern  deshalb  auch  neue  Rezeptionsweisen,  die  sich  nicht 
mehr  allein  in  der  kontemplativen  Betrachtung  erschopfen  diirfen. 
Die  Reize  der  modernen  Umwelt  sind  nach  Benjamin  nur  noch  durch 
Gewohnung  zu  verarbeiten.  Der  Schockeffekt,  den  das  neue  Medium  Film 
bietet,  ist  deshalb  die  Kunstform,  die  dem  modernen  Leben  und  seinem 
gesteigerten  Anspruch  an  die  Geistesgegenwart  am  ehesten 
entspricht.-'\,Perceptions  that  once  occasioned  conscious  reflection  are  now 
the  source  of  shock-impulses  that  consciousness  must  parry.  In  industrial 

70 


production  no  less  than  modern  warfare,  in  street  crowds  and  erotic  encounters, 
in  amusement  parks  and  gambling  casinos,  shock  is  the  ver)-  essence  of  modern 
experience".^ 

Als  Vorbild  dient  Benjamin  dabei  die  Rezeption  von  Architektur, 
die  sowohl  taktil  als  auch  optisch  erfolgt.  Die  Kontemplation  des  Betrachters 
erfahrt  Wer  ein  Gegensti.ick  durch  die  taktile  Gewohnheit,  die  sich  nicht  durch 
Sammlung,  sondern  durch  beilaufige  Bemerkung  auszeichnet.  „Die  Aufgaben, 
welche  in  geschichtlichen  Wendezeiten  dem  menschlichen 
\X  ahrnehmungsapparat  gestellt  werden,  sind  auf  dem  VC'ege  der  bloBen  Optik, 
also  der  Kontemplation,  gar  nicht  zu  losen.  Sie  werden  allmahlich  nach 
Anleitung  der  taktilen  Rezeption,  durch  Gewohnung,  bewaltigt".^^ 

Eine  Totalitat  des  Kunstwerks  ist  unter  den  Gegebenheiten 
technischer  Reproduktion  nicht  mehr  moglich.  Mit  Benjamins  Beispiel  des 
Films  wird  dies  verstandUch,  denn  statt  einer  Faust-Auffiihrung  produziert 
der  Schauspieler  nur  noch  Stiicke,  die  oftmals  wiederholt  und  verschoben 
werden  konnen  und  die  durch  die  Mogbchkeiten  der  Apparatur  vorgegeben 
und  quasi  getestet  werden.  Der  Rezipient  im  Kino  unterscheidet  sich 
dementsprechend  vom  PubUkum  in  einer  Theaterauffiihrung  durch  seine 
Haltung  dem  Darsteller  gegeniiber,  die  nicht  auf  Einfiihlung  in  den 
Schauspieler,  sondern  auf  Einfiihlung  in  den  Apparat  beruht:  Auch  das 
Publikum  testet."*' 

Aus  dieser  Haltung  des  Publikums  ergibt  sich  ein  zusiitzlicher 
\X  esensunterschied  fiir  die  neue  Kunst,  denn  jeder  Rezipient  kann  nun  den 
Leistungen  des  Kiinsders  als  „halber  Fachmann"  beiwohnen.^'^  Und  mehr 
noch:  Im  Schrifttum  beispielsweise  ergibt  sich  durch  die  vielfakigen  neuen 
Publikationsmoglichkeiten,  wie  etu'a  der  Reportage,  schon  die  Moglichkeit 
selbst  zum  Autor  zu  werden.  „Damit  ist  die  Unterscheidung  zwischen  Autor 
und  Publikum  im  Begriff,  ihren  grundsatzlichen  Charakter  zu  verlieren.  Sie 
wird  eine  funktioneUe,  von  Fall  zu  Fall  so  oder  anders  verlaufende.  Der  Lesende 
ist  jederzeit  bereit,  ein  Schreibender  zu  werden".^'  Lange  vor  Andy  Warhol 
schon  bemerkt  Benjamin  den  veranderten  Stellenwert  des  modemen  Kiinsders: 
„]eder  beutige  Alensch  k-ann  einen  Anspmch  vorhringen,  gefilmt  :ru  trerdenP^^  Mit  der 
Wochenschau  bietet  sich  jedem  Zuschauer  die  Moglichkeit,  selbst  zum 
DarsteUer  zu  werden.  Der  Rezipient  ist  Sachverstandiger,  ist  es  schon  aufgrund 
seines  Daseins  im  Zeitalter  des  spezialisierten  Arbeitsprozesses. 

3.  Der  Kunstwert  und  die  Autonomie 

Benjamins  Thesen  entbehren  nicht  eines  utopischen  Grundzuges,  fiihren 
dabei  allerdings  ein  Rir  die  Moderne  aktuelles  Definitionsproblem  vor,  namlich 
iiber  das,  was  Kunst  scliluBendlich  ausmacht.  Es  eroffnet  sich  die  entscheidende 
Frage,  wie  Kunst  weiter  funktionieren  kann,  wenn  durch  die  Multiplizitat  die 
Authentizitat  des  Kunstwerks  zur  Disposition  gesteUt  wird.  Oder  mit  anderen 

71 


Worten,  was  erhebt  das  entauratisierte  Kunstvverk  aus  der  Masse  der  techiiisch 
reproduzierten  Artefakte,  wenn  Kategorien  wie  Einzigartigkeit,  Genialitiit, 
Schopfertum  oder  Ewigkeitswert  nicht  mehr  funktionieren?^^  Ohne  diese 
MaBstabe  wird  alles  Kunst  oder  aber  gar  nichts. 

Mit  Bourdieus  Habitustheorie  habenwir  nun  bereits  gesehen,  dass  Kunst  als 
eines  dergroBten  Distinktionsmerkmale  zwischen  den  verschiedenen  sozialen 
Ebenen  figuriert.  Sieht  Benjamin  jeden  als  Fachmann,  so  sieht  das  Feld  der 
Kunst  jeden  AuBenstehenden  als  Dilettanten.  Unter  sozialistischen 
Gesellschaftsbedingungen,  wie  von  Benjamin  angedacht,  mag  sich  die  Frage 
einer  schichtenspezifischen  Distinguierung  gar  nicht  erst  stellen,  unter  den  real 
gegebenen  Umstanden  allerdings  ist  es  unwahrscheinlich,  dass  durch  die 
gesellschaftlichen  Elitentrager  auf  Kunst  als  Unterscheidungsform  verzichtet 
worden  sein  sollte. 

Die  Definitionslucke  zwischen  auratisierter,  kultischer  Kunst  und 
Kunst  im  technizistischen  Zeitalter  lasst  sich  mit  Bourdieus  Feldtheorie 
iiberbriicken.  In  seinem  Buch  D/'e  Kegthi  der  Kunst  geXmgx  es  Bourdieu  den 
Prozess  der  zunehmenden  Autonomisierung  der  Kunst  und  die  allmahliche 
Austarierung  der  Position  ihrer  einzelnen  Akteure  im  19.  jahrhundert 
aufzuzeichnen.  Das  Feld  der  Kunst  trennt  sich  zunehmend  vom  Feld  der 
Macht,  wird  immer  mehr  zum  im  Luhmannschen  Sinne  autopoietischen 
System  mit  eigenen,  systemimanenten  BewertungsmaBstaben.^'*  Die  Frage, 
was  Kunst  ist,  wird  innerhalb  dieses  Feldes  bewertet,  mit  zunehmender 
AusschlieBlichkeit,  so  dass  endlich  die  Einmischung  feldexterner  Kriterien 
zum  Anerkennungsverlust  im  Feld  der  Kunst  selbst  fiihren  kann. 

Dass  dieser  Prozess  sich  gerade  im  19.  Jahrhundert  vollfuhrt,  ist 
entscheidend  im  Zusammenhang  mit  Benjamins  These  von  der 
entauratisierten  Kunst  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit.  Die 
Masse  der  reproduzierten  und  reproduzierbaren  Kunst  zerstort,  uie  Benjamin 
in  seinem  Aufsatz  zeigt,  das  klassische  Kunst\'erstandnis.  Der  Zugang  der 
Masse  zur  Kunst  und  damit  die  Entstehung  eines  Marktes  fiir  Kunst  fiihrt 
zunachst  zu  einer  Vielzahl  von  Kunstartefakten  und  Kunststilen,  die  sich 
immer  wieder  ablosen.  Dieser  „Pluralismus  ist  nicht,  wie  gewohnlich  gemeint 
wird,  das  Ergebnis  einer  natiirlichen,  friiher  nur  durch  soziale  Zwange  und 
aufgezwungene  Dogmen  unterdriickten  Vielheit  individueller 
Verhaltensweisen.  Noch  ist  er  einfach  das  Ergebnis  der  sozialen  Differenzierung. 
Er  ist  vielmehr  mit  dem  Dauerbetrieb  der  modernen  Bildungs-  und 
Kulturindustrie,  mit  der  berufsmaBigen  Vermehrung  der  Kulturintelligenz 
und  deren  Allgegenwart  in  den  Massenmedien  und  dazu  durch  die  stiindige 
'Ideenarbeit'  der  politischen  Parteien  und  sonstigen  Gruppen  entstanden  und 
hat  sich  deshalb  mit  der  internationalen  Verflechtung  noch  gesteigert."^^ 

Dieser  Pluralismus  fuhrt  allerdings  auch  zu  einer  Krise  der  Kunst, 
besonders  augenscheinlich  in  der  Auseinandersetzung  mit  den  neuen 

72 


artifiziellen  Moglichkeiten  wie  der  Photographie.  Die  Legitimitat  der 
Photographic  als  Kunst  musstc  im  Feld  der  Kunst  erst  erworben  werden. 
Hauptfrage,  wie  spater  beim  Film,  war  es,  ob  es  sich  bei  dieser 
reproduktionsbezogenen  Technik  iiberhaupt  urn  Kunst  handein  kann.  „Der 
Streit,"  so  Benjamin,  „der  im  \^erlauf  des  neunzehnten  jahrhunderts  zwischen 
der  Malerei  und  der  Photographie  um  den  Kunstwert  ihrer  Produkte 
durchgefochten  wurde,  wirkt  heute  abwegig  und  verworren.  Das  spricht  aber 
nicht  gegen  seine  Bedeutung,  konnte  sie  vielmehr  eher  unterstreichen.  In  der 
Tat  war  dieser  Streit  der  Ausdruck  einer  weltgeschichtlichen  Umwalzung,  die 
als  solche  keinem  der  beiden  Partner  bewuBt  war.  Indem  das  Zeitalter  ihrer 
technischen  Reproduzierbarkeit  die  Kunst  \on  ihrem  kultischem  Fundament 
loste,  eriosch  auf  immer  der  Schein  ihrer  Autonomic".*  Der  Streit  zwischen 
den  Kunstformen  ist  ein  Legidmationsstreit  iiber  den  Wert  der  Kunst.  Als 
auf  Reproduktion  angelegte  und  damit  auf  den  Markt  rekurrierende 
Kunstform  hat  es  die  Photographie  besonders  schwer  in  der 
Auseinandersetzung  mit  einem  Ideenprinzip,  das  Benjamin  als  eine  damalige 
Antwort  auf  die  Krise  der  Kunst  benennt:  das  I'art pour  I'ati. 

Kunst  um  der  Kunst  willen,  dies  ist  das  Motto  des  sich  zur 
Autonomic  bewcgenden  Feldes  der  Kunst  wie  cs  Bourdicu  in  Die  Kegeln  der 
Kumtund  anderen  Texten  beschreibt.  Das  Feld  der  Kunst  errichtet  spezifische 
Strukturelemente,  die  hauptsachlich  in  Abgrcnzung  zu  anderen  Feldcrn 
cntstehen.  Hauptargument  der  historischen  Triiger  dieser  Entwicklung  wird 
das  /W/)o«r /W-Bekenntnis,  das  feldexterne  Strategien  ausschlicBt.  Unter 
anderen  Ausgangsvoraussctzungen  hat  auch  Benjamin  dieses 
Autonomieprinzip  des  Kunstfcldcs  cntdeckt,  wenn  er  von  der  Emanzipation 
des  Kunstwerks  \oxx\ parasitdren  Daseiti  a»i  R/'/W spricht.' 

Innerhalb  des  kiinstlerischen  Feldes  kommt  cs  dann  zu  einer  wcitcren 
Austarierung  der  Feldprotagonisten  an  den  MaBstaben  von  svmbolischen 
oder  okonomischen  Kapitalbesitz.  Die  Vielfiiltigkeit  des  kulturellen  Feldes 
mit  seinen  untcrschiedlichsten  Stellungnahmen  lasst  sich  nunmehr  in  dieser 
Struktur  vcrortcn.  „Bei  naherer  Betrachtung  zeigt  auch  dieser  Pluralismus  die 
normativcn  Ziige  einer  reprascntativen  Kultur,  die  bindende 
W'irklichkcitsdcutungen  erzeugt.  Form  und  Inhalt  haben  sich  in  der  Modcrne 
verjindert.  Die  reprascntativen  \^orstellungen  werden,  statt  von  angebbarcn 
Urhebern,  meist  in  einem  kaum  durchschaubaren  Nctzwerk  der  kulturellen 
Arbeit  wie  anonym  produzicrt,  gerinnen  kaum  zu  festcn  Lehren  und  Dogmen, 
erlauben  Varianten,  sind  aber  dennoch  bindend."^* 

Was  aber  alie  Protagonisten  des  kulturellen  Feldes  eint,  egal  welchen 
Standpunkt  sie  in  diesem  Feld  einnehmen,  ist  die  Definitionsmacht  iiber  die 
kiinstlerische  Produktion.^'  Innerhalb  des  Feldes  wird  in  einem  standigen 
Kampf  iiber  die  Stellung  von  Kunst  und  Kiinsdern  gestritten,  aber  nur  und 
ausschlieBlich  den  Teilnehmern  des  Feldes  steht  es  zu,  iiber  Kunst  zu  urteilen, 

73 


das  heiBt,  sie  zu  legitimieren.  |ede  Stellungnahme  von  auBerhalb  wird  als  die 
AuBerung  eines  „Uneingeweihten"  wahrgenommen  und  je  nach  Position  im 
Feld  beachtet  oder  belachelt. 

Das  Feld  der  Kunst  ist  ein  Markt  der  Stellungnahmen,  allerdings  ein 
Markt,  der  nicht  mit  dem  okonomischen  gleichgesetzt  werden  kann.  Im  Feld 
der  Kunst  kann  es  sich  durcliaus  auszahlen,  antiokonomisch  zu  denken. 
Kulturelles  Kapital  kann  gerade  dort  erworben  werden,  wo  es  nicht  von 
okonomischen  Grundsatzen  befangen  ist.  Der  von  Benjamin  als  Beispiel 
vorausschauender  Kunst  gebrauchte  Dadaismus  lieBe  sich  in  seiner  Abkehr 
von  der  nierkantilen  X^'enrertharkeit  gerade  unter  dem  Gesichtspunkt  des 
autonomen  kiinstlerischen  Feldes  sehr  genau  untersuchen.*' 

Unter  diesem  Aspekt  ist  das  I'art  pour  rati  eine  Strategie  des 
kiinsderischen  Feldes,  um  seine  Autonomie  zu  wahren  gegeniiber  anderen 
Feldern.  l^'art poitr  I'art etoitnci  der  Kunst  erstmals  eine  Eigenstandigkeit  und 
Unabhangigkeit.  Kunst  wird  dadurch  zu  einer  wie  Benjamin  sagt  „Theologie", 
„die  nicht  nur  jede  soziale  Funktion  sondern  auch  jede  Bestimmung  durch 
einen  gegenstiindlichen  Vorwoirf  ablehnt"/' 

Jeder  unkiinstlerische  Aspekt  im  Feld,  das  heiBt  jedes  Spielen  mit 
auBerfeldlichen  Kapitalarten,  kann  mit  der  Bestrafung  im  eigenen  Feld  bedacht 
werden.  Jede  AuBerung  im  Feld  aber  wird  zum  Positionierungsakt  in  einem 
permanenten  Machtkampf.  Gerade  kapitalarmere  Protagonisten  versuchen 
dabei  in  Abgrenzung  zu  etablierten  Kraften  im  Feld  neue  Kunstfelder  zu 
offnen,  neue  Strategien  zu  entwickeln,  anerkannte  Kunst  zu  entwerten, 
minoritare  Kunst  zu  etablieren,  verachtete  Kiinstler  zu  protegieren, 
Akademiemitglieder  zu  diskreditieren.  Unter  den  Bedingungen  des  Feldes 
sind  diese  AuBerungen,  wie  beschrieben,  die  risikoreichsten,  aber  auch  die  im 
Erfolgsfall  ergiebigsten. 

Der  Aufstieg  des  Kinematographen  zum  Filmtheater,  die 
Etablierung  des  Ivinos  zur  Kunst  wird  unter  der  Beri.icksichtigung  der 
permanenten  Avantgardisierung  verstandlich.''^  Im  Gegenzug  wird  aber  auch 
die  gegenlaufige  Aufladung  etablierter  Kunst  mit  Aura,  ihre  StiHsierung  zum 
Originalen  und  Einmaligen  nachvollziehbar.  Film  ist  als  Kunstform  noch  zu 
neu,  noch  zu  sehr  allein  auf  einen  kommerziellen  Aspekt  ausgerichtet,  als  dass 
er  sich  distinktiv  erfolgreich  fiir  die  oberen  Klassen  verwerten  lieBe.  Benjamin 
bemerkt:  „|e  mehr  niimlich  die  gesellschaftliche  Bedeutung  einer  Kunst  sich 
vermindert,  desto  mehr  fallen  -wie  das  deutlich  angesichts  der  Malerei  sich 
erweist  —  die  kritische  und  die  genieBende  Haltung  im  Publikum  auseinander. 
Das  Konventionelle  wird  kritiklos  genossen,  das  wirklich  neue  kritisiert  man 
mit  Widerwillen".^^ 

Die  gesellschaftliche  Unbedeutenheit  kann  aber  durchaus  eine  nur 
scheinbare  sein,  wenn  man  sie  nicht  mit  der  Massenverbundenheit,  sondern 
ganz  im  Gegenteil  gerade  mit  ihrcm  elitaren  Anspruch  beschreibt.  Die 

74 


Produktionsbedingung  des  Films  aUerdings,  die  wie  Benjamin  aufzeigt,  die 
Reproduktion  einschliefien  muss,  richtet  das  Kunstvverk  Film  auf  einen 
Massenmarkt  aus  und  macht  ihn  damit  —  zunachst  —  unbrauchbar  fiir 
distinktive  Strategien.  Das  „Entgegenkommen"  moderner  Kunstformen,  das 
Benjamin  so  begriiBt,  schlielk  diese  geradezu  vom  Reservoir  der  Distinktionen 
aus,  da  ihre  Inkorporation  viel  zu  einfach  moglich  ist.'^ 

Anders  verhalt  es  sich  mit  kanonischer  Kunst.  „Die  Aneignung  eines 
materiell  gegebenen  symbolischen  Gegenstandes  —  wie  eines  Gemaldes  — 
potenziert  den  auszeichnenden  Effekt  des  Eigentums  und  entwertet  die  rein 
s\mbolische  Aneignung zum  symbolischen Ersaf:^.  sich  ein  Kunstwerk  aneignen 
heiBt,  sich  ervveisen  als  exklusiver  Inhaber  des  Gegenstandes  ebenso  wie  des 
wahrhaften  Geschmacks  an  ihm,  der  sich  damit  verwandelt  in  die  dingliche 
Negation  all  derer,  die  nicht  wert  sind,  ihn  zu  besitzen,  weil  ihnen  die  materiellen 
oder  symbolischen  Mittel  zur  Aneignung  fehlen,  oder  einfach  ihr  W'unsch 
danach  nicht  stark  genug  war,  ihm  'alles  zu  opfern'".''^  Der  sichere  habituelle, 
sowohl  inkorporierte  als  auch  objektivierte,  Umgang  mit  den  Kunstwerken 
erlaubt  einen  Riickschluss  auf  die  eigene  Position  im  Feld  der  Macht,  zu  dem 
ja  nach  Bourdieu  auch  das  Feld  der  Kunst  gehort. 

Die  notige  Inkorporation  von  Kunst  ist  auszeichnendes 
Distinktionskapital  in  Abgrenzung  zu  den  unteren  Schichten  als  auch  zu 
vorherrschend  okonomisch  kapitalstarken  Sozialschichten.  Diese  Abgrenzung 
aber  benotigt  das  echte  Kunstwerk,  da  nur  an  ihm  selbst  die  spezifische 
Distinktion  gebunden  ist,  denn  nur  was  Seltenheitswert  besitzt,  kann 
auszeichnen.  „Die  exldusive  Aneignung  'unbezahlbarer'  Werke  ist  der 
ostentativen  Zerstomng  von  Reichtum  nicht  unahnlich:  die  damit  verbundene 
legitime  Demonstration  von  Reichtum  ist  stets  zugleich  eine  Herausforderung 
an  all  jene,  die  nicht  fahig  sind,  zwischen  Sein  und  Haben  zu  trennen  und  sich 
zu  interesselosem  Handein  aufzuschwingen,  dieser  hochsten  Bewahrung 
personlicher  \'ortrefflichkeit"/''  Das  Sammeln  oder  die  habituelle  Aneignung 
reproduktabler  Kunst  wird  damit  zur  negativen  Auszeichnung  des 
Kleinbiirgers  oder  der  unteren  Mittelschichten  allgemein/  Statt  Gemalden 
sammelt  er  Bildbande,  statt  Partituren  besitzt  er  CD's,  statt  in  die  Galerie  geht 
er  ins  Museum  und  zeichnet  sich  gerade  dabei  durch  einen  kleinbiirgerUchen 
Eifer  auratischer  Kunst  gegeniiber  aus.  Die  schichtspezifische  Unerfahrenheit 
mit  Kunst,  die  nie  inkorporiert  und  damit  zum  Habitus  geworden  ist,  liiBt 
den  Kleinbiirger  in  einer  permanenten  Unsicherheit  den  Kategorisierungen 
und  W'ertschatzungskriterien  der  Kunstwerke  gegeniiber  verbleiben. 

Das  Verstiindnis  fiir  Kunst  ist  ein  habituelles  und  damit  sozial 
reproduziertes.  Kunst  im  Sinne  auratischer  Kunst  wird  somit  zum  alleinigen 
Objekt  der  oberen  Klassen.  Was  diese  auratische  Kunst  aber  ist,  wird  jeweils 
und  immer  wieder  neu  im  Feld  der  Kunst  bestimmt.  Nur  Trager  eines  hohen 
kuhureUen  Kapitalwertes  konnen  als  Berufungsinstanzen  oder,  wie  Bourdieu 

75 


sagt,  als  Konsekrationsinstanzen  wahrer  Kunst  fungieren.  Die 
Konsekrationsinstanzen  konnen  somit  auch  als  Auratisierungsinstanzen 
verstanden  werden,  als  Instanzen  die  einem  Artcfakt  den  Mehrwert  einer 
rituaiisdschen  Betrachtungsweise  zusprechen  oder  auch  aberkennen  konnen. 

4.  Die  Aura  und  die  Distinktion 

Der  zentrale  Gedanke  in  Benjamins  Kunsttiieorie  ist  die  Aura.  „Der  Begriff 
dient  zunachst  der  gescliichtspliilosopliischen  Besdmmung  des  von  Menschen 
Gemachten  als  eines  an  Natur  Teilhabenden.  Die  Momente  der  Einmaligkeit 
und  Dauer  einer  Sache  sowie  das  ihres  Eingebettetseins  in  einen 
sinnverleihenden  Tradidonszusammenhang  entziehen  sie  dem  menschlichen 
Zugriff  und  begriinden  ihren  'Kultwert'  ..."''*  Nichtsdestoweniger  muss 
beachtet  werden,  dass  es  sich  trotzdem  bei  Aura  um  etAvas  Menschgemachtes 
handelt,  um  etAvas  Produziertes.  Aura  ist  kein  substanzielles  Wesensmerkmal 
eines  Kunstwerks.  Benjamins  Detinidon  der  Aura  als  einer  „Erscheinung  der 
Feme,  so  nah  sie  auch  sein  mag""*'  unterstreicht  in  ihrer  Abstrakdon  die  nodge 
zusatzliche  menscliliche  GedankenJeistung  bei  der  Rezepdon  auradscher  Kunst. 
Erst  der  scheinbar  immanente  Assoziadonshorizont  eines  originalen,  echten, 
einmaligen  Kunstwerks  eroffnet  das  spezifisch  auradsche,  das  es  von  anderen 
Artefakten  unterscheidet.  Mit  Bourdieu  gesprochen:  Aura  ist  der  Effekt  von 
Distinkdon. 

Aber  erst  mit  der  technischen  Reprodukdon  erscheint  es  evident,  das 
Original  mit  dem  Attribut  „echt"  zu  versehen.  „Echtheit  erscheint  an  dem 
Punkt  ihrer  Ent\\dcklung,  an  dem  es  das  Echte  nicht  mehr  gibt".^'^  Der 
Aurabegriff  erlangt  erst  dann  Bedeutung,  wenn  er  durch  seinen  Seltenheitswert 
in  der  Masse  reproduktabler  und  reproduzierter  Gegenstande  als 
Disdnkdonswert  heraussticht.  Kunst  vor  dem  19.  Jahrhundert  war  zu  sehr 
mit  dem  Feld  der  Macht  verwoben,  um  dem  in  der  Kegel  ohnehin  originalen 
Kunstwerk  eine  spezifische  Erhohung  durch  ein  Echtheitssignum 
aufoktroyieren  zu  miissen.  Kunst  gehdrte  zum  Feld  der  Macht  und  war  deshalb 
kein  Distinktionsmerkmal,  sondern  Disdnktionssignum.  Wohl  gab  es  Aura, 
aber  sie  schien  zu  sehr  essentiell,  als  dass  sie  einer  besonderen  Erwahnung 
oder  Beriicksichtigung  bediirfte.  „Echtheit  ist  ein  nachtraglicher  Effekt.  Am 
Anfang  steht  nicht  das  Original,  sondern  die  Reprodukdon,  die  den  Begriff 
der  Echtheit  erst  ermoglicht.  Erst  auf  der  Folie  der  Reproduzierbarkeit  wird 
Echtheit  'echt'.  D.h.  aber,  daB  die  Echtheit  von  vorneherein  unecht  war,  denn 
sie  hat  ihren  Ursprung  nicht  in  sich  selbst,  wurzelt  in  nichts  Echtem,  sondern 
in  ihrem  Gegenteil,  der  Reprodukdon.  VC'ie  Echtheit  besdmmt  sich  auch  Aura 
wesendich  durch  ihren  Verlust.  Ihr  Verfall  stoBt  der  Aura  nicht  zu,  er 
konsdtuiert".'" 

Aura  ist  kein  „historisches  Faktum,  sondern  eine 
geschichtsphilosophische  Konstrukdon".^^  Unter  Beriicksichdgung  des 

76 


philosophischen  Denkens  Benjamins  von  HistorizitJit  als  konstruktivem 
Produkt  menschlichen  Denkens  erlangt  der  Aurabegriff  mehr  Ivlarhcit  als  ein 
geschichdiches  Signum  und  zugleich  als  W'endepunkt  sozialer  Prozesse.  „Der 
Auravedust  bedarf ..  keiner  weiteren  Erklarung,  well  Aura  selbst  die  Erklarung 
ist.  Sofern  Benjamin  versucht  'in  ihrem  Namen'  Geschichte  umzuschreiben, 
ist  sie  ebenso  Resultat  erschiitterter  Tradition  wie  der  Akt,  die  Tat  der 
Erschiitterung.  Deshalb  ist  Aura  kein  Begriff  im  klassischen,  sondern  eher  im 
Hegelschen  Sinne:  Akt  und  Resultat  in  eins.  DaB  ein  Begriff  wie  Aura  njimlich 
iiberhaupt  denkbar  wurde,  ist  Zcichen  davon,  daB  Kunst  keine  Aura  mehr 
hat"." 

Erst  mit  der  Autonomie  des  kiinstlerischen  Feldes  und  der  wohl 
nicht  rein  zufaUig  gleichzeitigen  MogUchkeit  der  technischen  Reproduktion  ist 
Aura  zu  verstehen.''''  Im  Traditionszusammenhang  des  Kultus  war  Kunst 
per  se  echt,  in  der  nun  verschobenen  Einbettung  von  Kunst  in  einen 
autonomen  Kunstmarkt  entv^'ickelte  sich,  wie  Benjamin  zeigt  und  kritisiert, 
der  Aurabegriff,  der  eine  ritualfunktionelle  Kunstauffassung  in  den  Zeiten  der 
Siikularisierung  ermoglicht:  „mit  der  Sakularisierung  der  Kunst  tritt  die 
Authentizitat  an  die  Stelle  des  Kultwerts".^-^ 

Der  Laokoon  bietet  ein  friihzeitiges  Exempel,  \\'ie  die  Auratisierung 
funktionieren  kann.  Anders  als  andere  Skulpturen,  die  durch  Ausgrabungen 
wiederentdeckt  wurden,  musste  die  Laokoongruppe  ihren  Kunstwert  nie 
beweisen,  da  sie  bereits  durch  die  aLlseits  anerkarinte  Konsekrationsinstanz 
Plinius  zum  schonsten  aller  Kunstwerke  erhoben  wurde.  Kiinstler  wie 
Michelangelo  festigten  diesen  Ruf  dann  weiter. 

Fiir  den  entstehenden  Kunstmarkt  des  19.)ahrhunderts  ist  ein 
solches  Auratisierungsprogramm  nicht  mehr  denkbar,  da  jedes  Kunstvverk 
sich  erst  im  Feld  der  Kunst  etablieren  muss.  Auch  Konsekrationsinstanzen 
stehen  in  diesem  Feld  der  Entscheidungskampfe  zur  Disposition,  auch  sie 
miissen  sich  etablieren.  Eine  einfache  oder  endgiiltige  Bcstimmung  des 
Kunstwertes,  gar  die  Qualifizierung  zum  schonsten  Kunstwerk  sind  so  nicht 
mehr  mogUch.  Unter  diesen  Bcdingungen  wird  Aura  aber  nur  um  so  kostbarer, 
da  Aura  zur  Erfahrung  implizierter  Konsekrationsurteile  wird,  die  das 
Kunstwerk  zum  Kunstwerk  machen. 

Die  kiinstliche  Auratisierung  von  Kunst  ist  in  Benjamins  Verstandnis 
letztendlich  ein  Zeichen  hintangehaltener  Veranderung  von 
Eigentumsverhaltnissen.  Mit  Bourdieu  aber  lasst  sich  diese  Genese  des 
Auratischen  anhand  seines  Distinktionspotentials  im  entstehenden  Feld  der 
Kunst  nachvollziehen.  Es  wird  deutlich,  wie  die  Auratisierung  von 
Kunstw^erken  mittels  Positionierungskiimpfen  im  relativ  autonomen  Feld  der 
Kunst  vonstatten  geht.  Aura  dient  dabei  explizit  den  Distinktionsbediirfnissen 
der  Oberklasse,  ist  also  im  Endeffekt  ein  Auszeichnungsmerkmal  der 
differenten  Eigentumsverhaltnisse  in  der  Cjesellschaft.  Unter  diesen  Umstanden 

77 


kann  Aura  aber  kein  kunstimmanentes  Kriterium  sein.  Erst  die 
Bedeutungsmacht  der  Konsekrationsurteile  schafft  die  Aura,  die  dem 
Kunsrwerk  hinwiederum  ilir  Distinktionspotential  eroffnet.  Kurz  gefasst: 
Der  AurabegriiTmacht  somit  erst  Sinn,  wenn  er  als  ein  Distinktionsbegritf 
notvvendig  geworden  ist. 


Endnotes 

'  Die  Berichte  iiber  die  Entdeckung  des  Laokoons  beruhen  hauptsachlich  auf  einem 

Brief  des  ebenfalls  bei  der  Ausgrabung  anwesenden  Sohnes  da  Sangallos,  Francesco. 

Vgl.  Settis,  Laocoonte,  Fama  e  Stile,  11  Of.  (Eigene  Ubertragung). 

^Vgl.  hier  etwa  Seymour  Howard  oder  Bernard  Andreae. 

'  Vgl.  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  480. 

"  Vgl.  Jurt:  Literarisches  Feld  79. 

^  Hradil:  System  und  Akteur  11 3f. 

'■    Vgl.  Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  298f. 

Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  3'^4. 
*  Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  107. 
'  Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  355. 
'"  Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  127. 
"  Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  129. 
'^  Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  331. 
'^  Vgl.  Dorner  und  Yogv.  Literatursoziologie  106. 
'^  Bourdieu:  Flaubert  181. 
''    Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  441. 

"*  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  474. 
'''  Vgl.  dazu  etwa  Eva  Geulen:  „Mit  dem  Film  tritt  Benjamin  ein  Gegenstand  gegeniiber, 
der  technisch  leistet,  was  ein  fiindamentales  Prinzip  seiner  Darstellung  ist:  die  Gegenstande 
sind  nicht  an  sich  gegeben,  sondern  ergeben  sich  erst  in  der  Darstellung."  (Geulen    1992, 
585) 

'*  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
478. 

"  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
475. 

^^  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
476. 

^'  Tiedemann:  Dialektik  im  Stillstand  58f 

"^  Vgl.:  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Reproduzierbarkeit  477. 

''^  Vgl.:  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Reproduzierbarkeit  478. 

^■'  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
503. 

--  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  506. 
In  der  FuBnote  heiBt  es  zudem  von  Benjamin:  „Der  massenweisen 
Reproduktion  kommt  die  Reproduktion  von  Massen  besonders  entgegen"  (Vgl. 
FuBnote  32,  in:  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Reproduzierbarkeit  506). 

78 


-*  Nobert  Bolz  schreibt:  „The  cinema  is  the  school  of  the  new  tactile  apperception.  It 
functionalizes  the  shocking  closeness,  the  principle  of  sensation."  (Bolz  und  Mattson; 
Farewell  to  the  Gutenberg-Galax)'  117). 
^'  Buck-Morss:  Aesthetics  and  Anaesthetics  16. 

W'ahrscheinlich  denkt  Benjamin  hier  auch  an  Simmels  beriihmten  Aufsatz 
„Die  GroBstadte  und  das  Geistesleben".  In  einer  FuBnote  bemerkt  Benjamin:  „Der 
Film  entspricht  tiefgreifenden  \'eranderungen  des  Apperzeptionsapparates  — 
\'eranderungen,  wie  sie  im  MaBstab  der  Privatexistenz  jeder  Passant  im  GroBstadtverkehr, 
wie  sie  im  geschichtlichen  MaBstab  jeder  heutige  Staatsbiirger  erlebt"  Benjamin:  Das 
Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  503,  FuBnote  29. 
^*  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
505. 

■^'  Vgl.  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Reproduzierbarkeit  488. 

'"  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
492. 

"  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  semer  technischen  Reproduzierbarkeit 
492. 

'-  Benjamm:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reprcjduzierbarkeit 
493. 

"  Vgl.  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Reproduzierbarkeit  473. 

'■*  \'gl.  dazu  etwa  auch  Tenbruck:  „Fraglos  jedoch  ist  die  moderne  Kultur  durch  die 
radikalen  Transformationen  entstanden,  die  im  18.  ]ahrhundert  die  fri.iheren  Autoritaten 
beiseite  zu  schieben  begannen.  Als  eine  grundsatzlich  sakulare  Kultur  kennt  sie  kein 
letztes  Zentrum  intellektueller  Autoritat  und  iiberlaBt  die  letzten  Hntscheidungen,  wo 
es  um  Tatsachen  geht,  der  XX'issenschaft,  und  wo  es  um  Moral  und  Religion  geht,  dem 
individuellen  Gewissen  oder  Belieben."  (Tenbruck:  Representative  Kultur  41  f.)  Das 
heiBt,  das  Feld  der  Kunst  trennt  sich  von  anderen  Feldern,  wie  dem  der  Macht  oder 
dem  der  Okonomie,  weil  es  in  seinem  autonomen  Status  eigenen  BewertungsmaBstaben 
folgt.  Kunstexterne  Fragen  werden  dementsprechend  auch  nicht  mehr  durch  Kunst 
beantwortet,  wohl  aber  als  gesellschaftliches  Phanomen  durchaus  noch  behandelt. 
"  Tenbruck:  Representative  Kultur  44f. 

""  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
486. 

''  X'gl.:  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Repr(5duzierbarkeit  481. 
'*  Tenbruck:  Representative  Kultur  46. 
"  Vgl.  Bourdieu:  Die  Regeln  der  Kunst  346. 

'"'  \'gl.  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen 
Reproduzierbarkeit  501  f. 

""  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
481. 

''■Auch  Benjamins  eigene  Position  im  Feld  krinnte  unter  diesem  Gesichtspunkt 
genauer  untersucht  werden. 

"'Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  497. 
""X'gl.  Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit 
476f 

■"^Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  438. 
'"'Bourdieu:  Die  feinen  Unterschiede  441. 

""Da  die  Unterschichten  wegen  ihres  sozialen  Abstandes  nicht  als  Distinktionsziel 
infrage  kommen,  werden  sie  als  akulturell  wahrgenommen  und  damit  nicht  zum 

79 


VergleichsmaBstab.  Der  Kleinbiirger,  der  im  Versuch  aufzusteigen  sich  an  die 
scheinbaren  kulturellen  Werte  der  oberen  Klassen  halt,  ist  die  wahre  ZieJgruppe  der 
Abgrenzung.  Somit  wird  aber  auch  immer  das,  was  der  KJeinbiirger  als  Kunst  empfindet 
schon  entwertet  und  der  Lacherlichlieit  preisgegeben.  Dieses  Kunstemptinden  gilt 
aber  immer  noch  dem  KJeinbiirger  als  Abgrenzung  zu  den  Unterschichten. 
■^^Tiedemann:  Dialektik  im  Stillstand  58. 

'"Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  480. 
'"Geulen:  Zeit  zur  Darstellung  600. 
^'Geulen:  Zeit  zur  Darstellung  598. 

Vgl.  dazu  auch  Benjamin:  ,,'Hcht'  war  ein  niittelalterliches  Madonnenbild  ja 
zur  Zeit  seiner  Anfertigung  noch  nicht;  das  wurde  es  im  Laute  der  nachfolgenden 
Jahrhunderte  und  am  iippigsten  vielleicht  in  dem  vorigen."  (Benjamin:  Das  Kunstwerk 
im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  476,  FuBnote  3). 
"Geulen:  Zeit  zur  Darstellung  597. 
'^Geulen:  Zeit  zur  Darstellung  599. 

^"Erst  die  technische  Reproduktion,  also  die  Rekurrierung  auf  einen  Markt,  ermoglicht 
die  Unabhiingigkeit  des  Kiinstlers  und  damit  die  Autonomie  des  kiinstlerischen  Feldes. 
„So,  wie  das  Interesse  des  Staates  fiir  die  Kultur  allmjihlich  schwand  (d.h.  die  Relev^anz 
von  Kultur  fiir  die  Reproduktion  politischer  Macht  abnahm),  kam  die  Kultur  langsam 
in  die  Umlautlaahn  einer  anderen  Macht,  mit  der  die  Intellektuellen  sich  nicht  messen 
konnten  -  der  des  Marktes.  Literatur,  die  darstellenden  Kiinste,  Musik  -  in  der  Tat  das 
ganze  Spektrum  der  Geisteswissenschaften  -  wurden  allmahlich  von  der  Last  befreit, 
eine  ideologische  Botschaft  tragen  zu  miissen,  und  gingen  immer  fester  als  Unterhaltung 
in  den  vom  Markt  gelenkten  Konsum  ein".  (Baumann:  Gesetzgeber  und  Interpreten 
472).  -  Eine  Leistung  Bourdieus  ist  es,  entgegen  solch  primitiver  und  pejorativer 
Marktabhiingigkeit  wie  der  von  Baumann,  mit  semer  Komponente  unterschiedlicher 
Kapitalarten,  differente  Strategien  im  Feld  der  Kunst  darstellen  zu  konnen  und  damit 
auf  eine  relative  Autonomie  des  Feldes  hinzuweisen.  „Bourdieu  verbindet  nicht  nur 

—  wie  es  seinem  Selbstverstandnis  und  den  Interpretationen  seiner  Theorie  entspricht 

-  Marxsche  und  Webersche  Elemente  einer  Klassentheorie.  Er  gibt  dem  Klassenbegriff 
vielmehr  -  und  das  ist  die  Ausgangsthese  -  eine  genuin  kulturlbi^oretische  \X'endun£' 
(Eder:  Klassentheorie  als  Gesellschaftstheorie  15). 

^'Benjamin:  Das  Kunstwerk  im  Zeitalter  seiner  technischen  Reproduzierbarkeit  481, 
FuBnote  8. 


Literaturverzeichnis 

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Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1980. 

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80 


(Autumn  1999):  109-131. 

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.  Die  Kegehi  derKmisL  Geiiese  niidStmkfnrdes  literaiischeii  te/des..  Suhrkamp, 

1999. 


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Klassenlcige,  \  Ajensstil  und  Kidtwelle  Praxis:  Beii/^  ge  ^ur 
Auseitia}idersef-:(itng  wit  Pietre  Bourdieus  Klassentheorie.  Frankfurt  am 
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Hradil,  Stefan.  "System  und  Akteur.  Eine  empirische  Ivritik  der  soziologischen 
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Kulturelle  Praxis:  BeitrA  ge  ■:(ur  Auseinanderset^ung  niit  Pierre  Bourdieus 
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J urt,  Joseph.  Das  literarische  Feld.  Das  Koni^ept  Pierre  Bourdieus  in  Theorie  und 
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Tiedemann,  Rolf.  Dialektik  iw  Stillstand.  \''ersuche  ^tm  Spdttverk  Walter  Benjamins. 
Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1983. 


81 


82 


Der  Dichter  ah  Mullsammler 

Zu  einer  poetologischen  Figuration  der  Mifte/alfer-Ke^ieption 
in  Tankred  Dorsts  Merlin  oder  Das  iviiste  L^nd  und  Die 

L^gende  rom  am/en  Heinrich 

BentGebert 


I. 

Die  zweite  Halfte  des  zwanzigsten  )ahrhundcrts  bezeugt  nebcn  fundainentalen 
Krisen  politischer  Ideologiebildung  ebenso  tiefgreifende  Erosionen 
autoritativer  Konzepte  von  Bildung.  Dies  spiegelt  sich  nicht  zuletzt  in  der 
Produktion  und  Rezeption  literarischer  Texte  und  ihrer  jiingeren 
Theoriedebatten:  Nur  wcniger  Schritte  bedurfte  es  vom  strategisch 
proklamierten  'Tod  des  Autors'  (Roland  Barthes)  in  Richtung  eines 
"postmodern  dilettantism"  (Leeder  51),  um  die  emphatische  Idee  des 
literarischen  Werkes  zugunsten  von  unpratentiosen  Zeichenspielen  in 
diskursivem  Rohmaterial  aufzulosen. 

Mindestens  zwei  Tendenzen  sind  fiir  die  deutsche  Literatur  seit  den 
1990er  Jahren  festgestelJt  worden,  die  diesen  Dekanonisierungsprozessen 
gegenlaufig  sind:  zum  einen  ein  erneuertes  Interesse  an  realgeschichtlichen 
Substraten  (vgl.  Kraft  11-15);  zum  anderen  ambitionierte  Versuche,  dem 
poetologischen  Modell  des  poeta  doctiis  durch  Hybridisierung  literarischer 
Textformen  mit  naturuissenschaftlichen  oder  historisch  markierten  Diskursen 
wiederzubeleben  (vgl.  Leeder  2002;  Bottiger  2000).  Gelehrte 
Dichtungsverstandnisse  fmden  so  unter  anderem  in  Durs  Griinbeins 
mehrfachen  Pladoyers  fiireine  "Grammatik  der  Naturuissenschaften"  (2006: 
385)',  Raoul  Schrotts  literaturgescliichdichen  Einleitungstexten  zu  den  Gedicht- 
Ubertragungen  der  Hrfindung  derPoesie  (1997)  ebenso  wie  in  Thomas  Klings 
Wiederannaherungsversuchen  an  antike  Dramadk  im  Rahmen  seines  Projekts 
»Yor:^ithelehHng«  (2005)  zu  neuer  und  selbstbe\\aisster  Aktualitat. 

Im  Folgenden  mochte  ich  anhand  der  mittelalterlichen  Hvpotexte 
von  Tankred  Dorsts  Dramen  Merlin  oder  Das  iviiste  hand  (1 981)  und  Die  I^gende 
vom  amien  Heinrich  (1996)  eine  weniger  offenkundige,  doch  weitreichende 
Metamorphose  des^o^A^^/oc/^Juntersuchen:  die  Figur  des  Miillmanns.  Seine 
metaphorischen  Anschlussstellen  findet  er  in  einer  Vielzahl  poetologischer 
Positionsbestimmungen  der  jiingeren  Literatur:  "[V(^er  am  Ende  des 


83 


zwanzigsten  )ahrhunderts  schreibt",  konstatiert  etwa  Durs  Griinbein  in  seinem 
Essay  Aweisenhafte  Grojse  (1990)  zur  Situation  des  postideologischen 
Schriftstellers,  "(ist]  auf  Miillhalden  kiinstlichcr  Paradiese  ausgesetzt"  (16); 
bereits  1975  zahit  Abfall  in  Rainer  Werner  Fassbinders  Drama  DerMiill,  die 
Stadt  mid  der  Tod  zu  den  zentralen  BezugsgroBen  sozialer 
GroBstadttopographie.  Wahrend  virtuelle  Massenmedien  fiir  den  Erziihler 
von  Giinter  Grass'  Novelle  Iw  Krebsgcing  (2002)  alJenfalls  "Infos  [...]  zum 
WegschmeiBen"  (8)  produzieren,  betrachtet  Tankred  Dorst  in  einem  Gesprach 
IJber  das  Schreihen  von  Theaterstikken  den  expliziten  Rekurs  aut  literarische 
Tradition  als  "Haufen  Unrat"  (30). 

Bei  aller  Unterschiedlichkeit  belegen  diese  exemplarischen 
AuBerungen  nicht  nur,  dass  Miill  liingst  zu  einer  "zentralen  Kulturmetapher" 
(Kuchenbuch:  155)  aufgestiegen  ist;^  sie  belegen  insbesondere,  dass  sein 
Wortfeld  in  metaphorischen  Positionsbestimmungen  produktiv  wird,  in  denen 
sich  die  jiingere  deutsche  Literatur  poetologisch  reflektiert.  Gemeinsam  ist 
solchen  Metaphern,  dass  sie  die  von  rhetorischer  Inventionstopik  inspirierte 
Bildungsidee  der  copia  reriim  disqualifiziert,  die  zur  Produktion  von  Texten 
eine  Fiille  (literar)historischer  Schatze  empfiehlt.  Innerhalb  solcher  Poetokigien 
lasst  sich  die  Figur  des  Miillmanns  gicichermaBen  als  Archaologe  literarischer 
Kultur  wie  als  Nachlassverwalter  obsolet  gewordener  Traditionsreferenz 
ausmachen.  Doch  belegt  das  Wortfeld  bedeutsame  Verschiebungen  elitiirer 
Konzepte  gelehrter  Dichtung,  decken  sich  seine  Semantiken  doch  keineswegs 
vollstiindig  mit  dem  Profil  von  "TradidonsbUdung,  Handwerklichkeit  und 
Arbeitsethos,  Exklusivitat  fur  die  Verstiindigen,  Verhaftetsein  an  Reflexion 
und  Theorie",  das  fur  die  Figurationen  despoeta  doctmlndcx  deutschen  Literatur 
des  20.  Jahrhunderts  reklamiert  worden  ist  (Barner  728).  Eher  kennzeichnen 
den  Miillmann  als  poetologische  Figuration  solche  Formen  von 
Traditionsreferenz,  die  Dichtungstradition  in  fragmentarischen  Gestalten  des 
Verdrangten  oder  Vergessenen  und  iiber  Gesten  erinnerungskulturellen 
Recyclings  in  Texten  einspielen.  Ihre  semantischen  Moglichkeiten  gilt  es  im 
Folgenden  an  zwei  Beispielkomplexen  zu  beschreiben. 

Wie  in  der  Forschung  wiedcrholt  registriert  worden  ist,  sind  unter 
den  Dramen  Tankred  Dorsts  vor  allem  solche  Stiicke  durch  einen  "Reichtum 
an  unverdeckten  Widerspriichen"  geprjigt  (Knapp  1 986: 403),  die  mittelaltcrliche 
Vorlagen  adaptieren.  Anstelle  kohjirenter  Szenarien  in  vermeintlich  mythischer 
"Zeitlosigkeit"  (Karakus  344)  entfalten  diese  Texte  auf  unterschiedliche  Weise 
ein  kontrasdves  "Oszillieren  zwischen  Geschichte  und  Phantastik"  (Blanz/ 
Wertheimer  459),  das  handlungsbildend  wird  (Krohn  1968,  Isjiapp  1988). 
Dabei  ist  weitgehend  unbeachtet  gelieben,  dass  Variationen  des  Miillmanns 
diese  Stiicke  ;ils  Symbole  solcher  diskursiver  und  heterochroner  "Widerspriiche" 
(Knapp  1 986:  403)  durchziehen.'  Wie  ich  im  Folgenden  rekonstruieren  mochte, 
figurieren  die  Miillmanner  der  Dorstschen  Dramen  jedoch  keineswegs  als 

84 


passive  Nebenfiguren.  Vielmehr  enveisen  sie  sich  als  Schlusselfiguren  einer 
Mittelalterrezeption,  die  jene  "Art  von  produktiver  Unordnung"  ins  Werk 
setzen,  die  Walter  Benjamin  als  das  "praktische  IZrinnern"  des  Sammlers 
beschreibt  (GS  V,l:  280/271).  Als  Agenten  individualer  Iirinnerungsarbeit 
und  kulturellen  Gedachtnisses  haben  sie  zugleich  entscheidcnden  Anteil  an 
den  Katalvsen  und  Peripetien  der  Dramenkonstruktionen,  die  iiber 
literarhistorische  Bezugsachsen  laufen.  \X'ie  gestaltet  Dorst  die  Rollen  der 
Miillmann-Figuren  en  detail?  Zu  welchen  asthetischen  Profilen  und 
dramentechnischen  Funktionen  tragen  sie  in  den  genannten  Texten  bei  -  und 
in  welchem  Umfang?  Durch  Relektiire  zweier  an  den  Handlungsrandern 
angesiedelter  Szenen  mochte  ich  diesen  Fragen  zu  folgen  versuchen. 


II. 

In  der  Tat  verwundert,  dass  Dorst  aus  dem  groBen  Kreis  namenloser 
Nebenfiguren  in  Merlin  odcr  Das  iiiisfe  ]  ^nd '^n?,^crcc\\nei  den  zwergwoichsigen 
Miillmann  Dagobert  in  svmbolischer  Funktion  heraushebt.  Aus  dem 
Hintergrund  des  Hoflebens  tritt  der  Diener  unvermittelt  als  ubcrraschend 
unterrichteter,  asymmetrischer  Beobachter  hervor: 

Dag<  )Bfri  Entscbuldigen  Sie  schon,  daB  ich  eintrete!  [...]  Es  werden 
mich  nicht  viele  hier  erkennen  (...]  ich  bin  ja  nur  der  Dagobert,  der  die 
Abfalle  wegschafft,  der  Miillmann.  Aber  Sie  kenne  ich,  und  Sie  auch, 
ich  sehe,  ich  kenne  ja  fast  alle!  (Merlin  76) 
Dagobert  eskortiert  den  liebestrunkenen  Artusritter  Lancelot  zuriick  zur 
Hofgesellschaft,  von  der  er  sich  nahe  dem  "Komposthaufen"  (ibid.) 
zunickgezogen  hatte,  um  in  erotischer  Ekstase  Konigin  Ciinevra  zu  beobachten. 
Der  unscheinbare  Miillmann  riickt  mit  seinem  Auftreten  dadurch  in  den  Rang 
eines  Beobachters  zweiter  Ordnung.  Seine  besonderen  Moglichkeiten,  die 
Tafelrunde  unbeobachtet  zu  beobachten  und  ihr  einen  konfliktuosen 
Handlungsimpuls  zuzufiihrcn,  verdankt  sich  dieser  bevorzugten 
Beobachtungs-  oder  Reflexionsposition,  von  der  aus  Dagobert  die  Schwelle 
zwischen  internem  und  externem  Kommunikationsgefiige  des  Dramas  auf 
eine  W'eise  kreuzen  kann,  wie  sie  charakteristisch  fur  die  variablen  Positionen 
des  Rezipienten  und  des  Autors  ist.  Der  Miillmann  Dagobert  installiert  als 
changierende  Beobachtungsfigur  somit  nicht  nur  eine  Perspektive,  wie  sie 
dem  Zuschauer  eignet;  sie  lasst  sich  umgekehrt  auch  als  textimmanente 
Dichterfigur  lesen,  insofern  sie  ein  iisthetisches  Verfahren  des  Sammelns  und 
Wiederaufbereitens  praktiziert  und  retlektiert,  das  maBgeblich  an  der 
Konstruktion  der  Dramentektonik  beteiligt  ist.  Indem  Dagobert  in  seiner 
Auftrittsszene  den  ehebrecherischen  I  .iebhaber  Lancelot  zuriickfiihrt,  fijgt  er 
der  Tafelrunden-Harmonic  zugleich  ihr  katastropliisches  F^'erment  ein,  das  eine 
Kettenreaktion  von  Konflikten  auslosen  wird,  die  den  liandlungskern  von 

85 


Dorsts  A/fr//>/ bestimmen  (Krohn  1987:  17-22). 

Diese  Serie  entfaltet  sich  als  dichte  Reiliung  von  Paradoxien  natiirlicher 
und  formaler  Figurenbeziehung,  die  Bindungsformen  wie  Fhe  und  Vaterschaft 
auf  der  einen  Seite  mit  individualisiertem  Begehren  (Lancelot/Ginevra)  und 
Streben  nach  Individuditat  und  personaler  Autonomic  (Teufel/Merlin;  Artus/ 
Mordred;  Lancelot/Galahad)  auf  der  anderen  Seite  in  unJosbaren  Konflikten 
von  kollektiven  und  individualen  Perspektiven  oszillieren  iassen.  Dies 
unterstreicht  auch  ein  kontrastiver  Vergleich  mit  Thomas  Malorys  Morfe  d'Arihur 
(postum  1485),  einer  der  zentralen  Quellentexte  von  Dorsts  Merlin.  Denn 
wiihrend  Maloiy  die  Heirat  Arthurs  mit  der  "most  valiant  and  fairest  damosel" 
Guenivere  (50)  als  Liebesheirat  portraticrt,  ist  Dorsts  Artus  in  erster  Linie  von 
der  moglichen  iMitgift  fasziniert,  die  ihm  Merlin  vor  Augen  fuhrt:  "Den  Tisch 
muB  ich  haben!  -  Ginevra!"  (Merlin  63).  Die  Idee  der  Tafelrunde  tritt  damit 
noch  vor  ihrer  Venvirklichung  in  Konfliktspannung  zur  Ebene  individualer 
Figurenbeziehung.  Wiederum  ist  es  der  Miillmann  Dagobert,  der  in  einer 
hausmeisteriichen  Scheltrede  die  Produkte  dieses  Konfliktes  von  Idealitat  und 
Konkredon  ironisch  anspiclt: 

Seitdem   hier  immer   so   viele   an   dem   beriihmten  Tisch 

zusammensitzen,  was  meinen  Sie,  wie  man  das  beim  Abfall  merkt! 

Was  Sie  fiir  Abfalle  hinterlassen,  -  machen  Sie  sich  gar  keinen  Begriff 

von!  Berge! 

(Merlin  76) 
Auch  diese  zweite  Einschaltung  beruhrt  ein  zentrales  Thema  des  Merlin, 
antizipiert  der  Abfall  der  Tafelrunde  doch  Artus'  spiitere  skeptische 
Retrospektive  auf  die  "neue  Gesellschaft  der  Briiderlichkeit"  (Merlin  1 32),  mit 
der  er  den  endgiiltigen  Ruin  der  Tafelrunde  erklart:  "Werden  Ideen  auch  alt, 
Merlin?  Altern  und  sterben  sie  dahin  wie  die  Menschen?"  (ibid.)  Es  ist  vor 
allem  Karl  Immermanns  Drama  Merlin.  Eine  Myfhe  (1832),  dem  Dorst  das 
Scheitern  der  Utopie  pazifistischer  Briiderlichkeit  entlehnt.  Wiihrend 
Immermanns  Artusritter  auf  ihrer  Gralssuche  in  der  "Einode"  jedoch  erst 
zugrundegehen,  nachdem  ihre  Leitfigur  Merlin  den  verfiihrerischen  Reizen 
der  Fee  Niniana  erliegt  und  dieser  nachfolgt  (649-669),  entwirft  Dorst  das 
Scheitern  seiner  Artusrunde  als  Ergebnis  einer  kollektiven  Idealbildern 
inharenten  Tendenz  zum  Kollaps.  AW/z/inszeniert  in  diesem  Sinne  nicht  nur 
Aufstieg  und  Fall  eines  singularen  imaginiiren  Konsensprojektes,  sondern 
eine  Grundspannung  utopischer  Gesellschaftsentwiirfe:  Einmal  als  politische 
Realitat  verwirklicht,  erstarren  diese  zu  Formen,  die  als  Strukturen  des 
Establishment  von  Folgegenerationen  wiederum  utopisch  unteriaufen  werden, 
die  sich  eines  "Turm[s]  von  Vatern"  (Merlin  1 32)  zu  entledigen  suchen.'*  Die 
nicht  zu  arretierende  Dialektik  utopischer  Entwiirfe  wendet  sich  zu  ihrer 
Schattenseite,  wenn  Merlin  sein  Bemiihen  verflucht,  andere  Menschen  zu 
Konzepten  des  Guten  und  deren  prakdsche  Realisation  zu  bewegen,  und  sich 

86 


schlieBlich  zuriickzieht:  "Ich  will  mit  der  verdammten  \X  eltgeschichte  nichts 
mehr  zu  tun  haben!"  (Merlin  205).  In  vernelmibaren  .\nklangen  an  den  Prediger 
Salomo  erscheint  Merlin  —  wie  auch  Parzival  in  dessen  \^erzweiflung  —  die 
unabiinderlich  auf  Veriinderung  driingende  Welt  als  ein  "wiistes  Land  [...] 
bedeckt  mit  Kadavern,  Unrat,  Abfall"  (ibid.).  Damit  schliefit  sich  der  Kreis 
poetologischer  Metaphern  nicht  nur  auf  Ebene  des  Wortfeldes,  sondern  auch 
auf  Ebene  der  Konzeptstruktur:  Hatten  die  einfiihrenden  Worte  des 
Miillmanns  Dagobert  einerseits  den  produktiven,  initiativen  Aspekt  von 
Abfallorten  akzentuiert  (vgl.  Merlin  76),  so  wendet  das  Dramenende  den 
zyklischen  Strukturgedanken  als  \'ertall.  Dagobert,  der  als  Becjbachter  mehrfacher 
Ordnungen  den  Pferdemist  der  Artusrunde  kompostiert,  wird  damit  als  eine 
doppelsinnige  semantische  Kippfigur  lesbar. 

Doch  ist  die  Figur  des  Miillsammlers  nicht  allein  auf  der  thematischen 
Ebene  der  hisfoire,  sondern  ebenso  auf  Ebene  des  discours  \on  Merlin  oderDas 
7iwj/f  L^/7^  angesiedelt.  Exemplarisch  wird  dies  in  Merlins  "Erinnerungen  an 
die  Zukunft"  (Merlin  33)  deutlich,  einer  weltgeschichtlichen  \'ision  in 
Zeitraffung,  in  der  Dorst  mittelalterliche  und  moderne  Diskurse  und  Themen 
miteinander  collagiert.  \\  iederum  erhebt  sich  Dorsts  Text  vor  einem 
\'organgermodell:  Terence  Hanburv  Wliite's  The  Once  und Fiittire  King  (1939), 
einer  Adaptation  der  (^uellcn  Malorvs  in  melanchoHscher  Einfarbung.'  \Xle 
Gerhard  Knapp  nachgczeichnet  hat,  streut  White  in  seine  Erzahlung 
Gegenwartsreferenzen  ein,  um  so  das  Artusreich  als  "friedliches  Neben-  und 
Miteinander  von  Herrschern  und  Beherrschten"  im  Horizont  einer  zeitlosen, 
quasi-mytliischen  keltischen  \'ergangenheit  zu  beschworen  (Knapp  1988:  226- 
228).  Doch  im  Gegensatz  zur  "phantastisch-eskapistischefn]  Pragung"  (ibid.) 
von  Whites  \'ersion  streicht  Dorst  umgekehrt  Bri^iche  und  Friktionen  von 
Zeiten  deutlich  heraus.  Spriinge  und  harte  Fiigungen  von  Zeitkontrasten 
werden  geradezu  als  asthetische  Strategic  greifbar:  So  fiihren  Merlins 
Zukunftsvisionen  "Mister  Neil  Armstrong  auf  dem  Mond"  zusammen  mit 
"Organtransplantation"  (Merlin  33)  als  Wissenschaftsidole  der  Zukunft  vor 
Augen;  umgekehrt  priifiguriert  der  Trojanische  Krieg  fiar  Merlin  die  Schrecken 
von  "Menschen  in  Feuerofen"  (Merlin  34)  des  20.  ]ahrhunderts.  Die 
nachfolgende  Szene  (Merlin  36-42)  folgt  jedoch  eng  Malon's  Darstellung  der 
Vatergeneration  Konig  Uther  Pendragons  —  Merlins  Vorgeschichte  mutet  so 
geradezu  als  Historisierung  an,  die  im  Szenenkontrast  zur  visuellen  Zeiten- 
Montage  so  einen  kontrapunktischen  Charakter  gewinnt. 

Ahnlich  wie  die  magischen  Transfigurationen  Merlins  bewirken  solche 
Zeitspriinge  in  Merlin  oder  Das  n'iiste  l^uid  vaq\\i  allein  \'erfremdungseffekte. 
Ginevras  und  Isoldes  Schreibszenen  und  Austausch  empfmdsamer 
Liebesbriefe  (Merlin  94-98)  etwa  stimulieren  durchaus  das  Wirkungsziel  des 
delectare,  wenn  sie  literarische  Figuren  und  Diskurse  offenkundig  entfernter 
Zeiten  miteinander  vermischen.  Dorst  selbst  verweist  in  einem  j\rbeitsgesprach 

87 


auf  eine  weitere  Dimension  dieser  SchiclTtungstechnik,  die  mittelalterliche 
Textmodelle  und  jijngste  Gegenwartskultur  in  unruhigen  Palimpsesten 
aufeinanderschreibt,  wenn  er  das  ideale  Kostiim  Merlins  beschreibt:  "sein 
Kostiim  [soUte]  aus  Resten  aus  diesen  Venvandlungen  bestehen,  da  hangt 
noch  eine  alte  Feder,  da  ist  ein  Stiick  Schulter  noch  aus  Stein,  da  sieht  man  ein 
Stiick  blutiger  Haut.  Das  hat  er,  der  Schmutzkerl,  nicht  weggemacht"  (1989a: 
31).  Dorst  weist  Merlin,  dem  Kiinsder  der  Menschheit,''  ein  Fetzenkleid  seiner 
Individualgeschichte  zu,  das  sich  patchworkartig  aus  samtlichen  Rollen 
zusammensetzt,  in  deren  Verhiillung  er  Parzival,  Mordred  und  Gawain  zu 
leiten  bemiiht  ist.  Die  Vielfalt  von  Beziigen  auf  mittelalterliche  und  moderne 
Diskurse  reflektiert  somit  auch  auf  der  Ebene  des  discours,  dem  Wie  der 
Darstellung,  die  vielgestaltig  scheiternden  Versuche  Merlins,  die  Leitidee 
menschlicher  Zivilisadon  auf  jedem  moglichen  Weg  und  durch  alle  Zeiten 
hindurch  zu  stabilisieren.  "Das  Stiick  hat  mit  Zeit  und  Alterwerden  zu  tun", 
vermerkt  Dorst  in  einem  Selbstdeutungsversuch  lakonisch,  "und  eben  auch 
damit,  was  Gescliichte  ist:  daB  man,  wenn  man  sich  mit  der  Geschichte  einlJiBt, 
[...]  mit  schuldig  wird  und  das  aber  nicht  sein  mochte."  Damit  wird  die 
semantische  Verbindung  deutlich,  die  das  Metaphernfeld  >Abfall<  und  den 
Miillmann  als  besondere  poetologische  Figuration  an  thematische  und 
asthetische  Briiche  koppeln:  Anders  als  die  Figuren  des  Archivars,  des 
Archaologen  oder  des  ordnenden  Sammlers  ist  der  Miillmann  als  poetologische 
Figur  nicht  riickbezogen  auf  latente  oder  imaginare  Einheitskonzepte.  In 
beinahe  karikaturesker  Uberzeichung  fiihrt  ein  solches  Einheits-  und 
Ordnungsversprechen  schlechthin,  der  Gral,  den  unschuldigen  Sir  Galahad  in 
nackten  Wahnsinn  und  schlieBlich  den  Tod  (Merlin  277-278).  Merlin  dagegen 
-  und  ilim  analog  die  Textur  des  Stiickes  -  iiberschreitet  die  asthedsche  Einlieit 
der  Zeit,  um  die  drohende  Selbstausloschung  der  Menschheit  zu  verhindern. 
Mit  seinen  erziihlenden  Analepsen,  Kommentaren  und  Sinnbildern  (u.a.  MerUn 
100, 106, 190-192)  sprengt  Merlin  oder  Das  wiiste  I  Miid  %om\i  als  ein  heterogenes 
"Epos  mit  Dialogen"  (Hinck)  wiederholt  dramatische  Formerwartungen  - 
und  bringt  Fragmente  einer  Poetologie  des  Abfalls  hervor,  die  Uberreste 
literarischer  Tradition  und  Ideengeschichte  als  rezitierbar,  nicht  aber  als 
reintegrierbar  entwirft. 

III. 

Dieses  "eklektische  Verfahren"  (Krohn  1992:  239)  radikalisiert  Dorsts  I^ge/ule 
vom  armen  Heiiirich,  die  wiederholt  mittelhochdeutsche  Zitate  und 
mittelenglische  Lyrik  in  das  \^on  Hartmann  von  Aue  iibernommene 
Strukturmodell  einschaltet.  Trotz  eines  komplexen  Spieles  von  Zeitstufen 
und  Texttraditionen  betrachtet  die  Forschung  das  Drama,  Einschatzungen 
des  Autorenduos  nachfolgend,**  als  "auch  ohne  Kenntnisse  der 
zugrundeliegenden  mittelhochdeutschen  Novelle"  verstandlich  (Miiller/Eder/ 

88 


Springeth  293).  Doch  lasst  sich  zeigen,  dass  Dorsts  explizite  Riickgriffe  auf 
seine  mittelhochdeutsche  Quelle  durchaus  als  ein  strategisches  Mittel  eingesetzt 
sind,  das  den  Zentralkonflikt  und  mit  ihm  Probleme  von  Authentizitat  und 
Identitat  auf  Ebene  formaler  Strukturen  spiegelt.  Die  "Memento" 
iiberschriebene  vorletzte  Szenc,  die  den  Ritter  Heinrich  auf  einer  surrealistisch 
dekontextualisierten  Miillhaldc  mit  seiner  Erinnerungsarbeit  konfrontieren, 
enthiillt  dabei  nicht  nur  Refcrcnz  auf  literarische  Tradition  als  bedeutsames 
Thema,  sondern  fiihrt  dies  wiederum  eng  mit  Figurationen  dcs  Miillmanns. 
VorderVergleichsfoUedes  Hartmannschen  exewp/f/wsvon  "hochvart" 
(1 51)  und  aufopferungsvoller  Hingabe  scheint  Dorst  zunijchst  eine  giinzlich 
eigenstjindige  Motivationsstruktur  aufzubauen,  die  vom  plot  ihrer  Vorlage 
entkoppelt  ist.  Als  die  neunjahrige  Elsa  erfahrt,  dass  Heinrich  mit  der  gottlichen 
Strafe  des  Aussatzes  geschlagen  ist,  ergreift  sie  die  Gelegenheit  zum  Beistand, 
um  der  patrozentrischen  Enge  ihres  Elternhauses  zu  entkommen.  In  der 
Bereitschaft,  sich  fiar  den  siindigen  Adligen  zu  opfern,  wUligt  sie  in  die  Reise 
nach  Salerno  ein,  wo  Heinrichs  Oberschreitungen  durch  ihren  freiwilligen  Tod 
entsiahnt  werden  soil.  Kaum  abcr  dass  die  Anerkennung  ihrer  Martyrerrolle 
Elsas  Selbstbewusstsein  wecken,  entspinnt  sich  zwischen  ihr  und  Heinrich 
intensive  erotische  Zuneigung.  Die  sich  anbahnende  dilemmatische  Krise 
versuchen  beide  nun  auf  je  unterschiedliche  W'eise  zu  verdriingen  -  Heinrich 
mit  der  leuchtend  ausgestalteten  1  loffnung,  in  die  hofische  Gesellschaft 
zuriickkehren  zu  konnen,  Elsa  dagegen  im  Beharren  auf  ihrer  Martyrerrolle, 
die  ihr  eine  eigenstiindige,  geradezu  transzendente  Identitat  zu  gewahren 
scheint.  So  setzten  sie  ihre  Reise  zum  sarazenischen  Arzt  zunachst  fort.  Im 
letzten  Moment,  bevor  Elsa  getotet  wird  —  Dorst  schlieBt  hier  an  Hartmanns 
Kombination  von  Handlungs-  und  Reflexionshohepunkt  an  -,  realisiert 
Heinrich  jedoch,  dass  die  Geschichte  dergemeinsamen  Reise  seine  gegenwartige 
Identitat  bereits  in  unumkehrbarer  W'eise  verandert  hat  und  ebenso  zukiinftig 
verandern  wird.  Wie  in  der  mittelhochdeutschen  Legende  wendet  1  leinrich 
daraufhin  die  Hinrichtung  ab  und  wird  nach  dieser  Verzichtsleistung  auf  ebenso 
wunderbare  Weise  vom  Aussatz  befreit. 

Dorst  schaltet  vor  diese  endgiiltige  anagnorisis  einen  bedeutsamen 
Szenenwechsel,  der  seinen  Protagonisten  auf  einer  "Abfallhalde  am  Meer"  zu 
einem  "Memento"  (AH  88)  zwingt.  Dort  durchstreift  ein  alter  Mann  als 
ungliicklicher  Wiederganger  die  Miilllandschaft: 

Der  .\lte  Herr  Wir  suchen  und  suchen.  Der  Platz  ist  giinstig.  AUes, 
was  Sie  hier  sehen,  ist  angeschwemmt  [...].  Aber  meine  Sohne  fmde 
ich  nicht.  Sie  sind  untergegangen,  leider.  Knjf  ^//  der  Fran  hiniiber.  Ich 
kenne  den  Herrn  gar  nicht!  Von  unseren  Sohnen  ist  er  keiner,  oder? 
Zu  Hehiricb:  Wie  heiBen  Sie?  (AH  90) 
Sein  schwindendes  Gediichmis,  das  den  Greis  in  permanente  Gegenwart  bannt 
und  zugleich  beharrlich  zwingt,  Heinrichs  Idendtat  zu  erfragen,  ohne  jedoch 

89 


dessen  Antxvort  jemals  behalten  zu  kfinnen,  venvandelt  den  Miillmann  nicht 
bloB  in  eine  Allegoric  von  Einsamkeit  und  Vergessenheit.  In  ihm  erkennt 
Heinrich  in  aller  Bestiirzung  sein  alter  ego. 

Alle  X'ersuche  Heinrichs,  "vom  eigenen  Schatten  sich  zu  betrein"  (AH  86)  und 
sein  zunehmendes  Begehren  nach  zukiinttiger  lebendiger  Erfahrung 
("unersattlich  sehen  und  benennen"  [AH  82])  werden  durch  die  Erscheinung 
des  stygischen  Schattens  zutiefst  in  Frage  gestellt,  der  weder  sich  zu  erinnern 
noch  zu  vergessen  vermag.  Der  von  Dorst  vor  allem  in  den  Rahmenpartien 
des  Dramas  eingesetzte  Chor  falJt  daraufhin  mit  einer  rhapsodischen  Sequenz 
von  Erinnerungsbildern  (AH  92-94)  ein,  die  im  nachdriicklichen  Appell  zur 
Erinnerung  kulminieren:  "Ununterbrochen  versuchen  wir  /  im  Erinnern  uns 
unseres  Wesens  zu  versichern"  (AH  94).  AIs  der  MiiUgreis  zur  erneuerten 
Frage  nach  Heinrichs  Namen  ansetzt,  wird  Heinrich  schlagartig  bewusst,  dass 
seine  Erinnerung  und  seine  Identitat  unloslich  mit  Elsa  verkniipft  sind,  und 
eiJt  zu  ihr. 

Den  Leitdiskurs  des  Stiickes  und  damit  zugleich  den  dominanten 
Reflexionshintergrund  von  Elsas  und  Heinrichs  senthnental journey  biJdet  in 
Dorsts  hegende  vom  armen  Heinncb  die  Frage  nach  der  Moglichkeit  des 
"Authendschen  [...]  im  Zeitalter  der  Simuladon"  (AH  44).  Ausdriicklich 
formuliert  sie  die  adlige  Garten-Gesellschaft,  die  Elsa  in  Kostiimierung  und 
Pose  einer  chrisdichen  Martyrerin  zum  asthedschen  Objekt  ausstaffiert,  um 
seine  postmoderne  Langeweile  durch  den  Kitzel  des  religiosen  Zitats  zu 
beleben. 

Durch  fein  eingestreute  und  darum  uniiberhorbare  Bezugnahmen 
auf  den  F^ypotext  Hartmanns  koppelt  Dorst  diese  Unterscheidung  von 
Authendzitat  und  Simulation  an  die  Semantik  von  Erinnerung.  NX  ie  aus  einer 
textvergleichenden  Synopse  erhellt,  gestaltet  Dorst  seine  Adaptation  als 
dreiteilige  Struktur.  Die  Eingangsszenen  (AH  1-31)  folgen  in  bemerkenswerter 
Affmitat  dem  plot  Hartmanns,  um  nach  einem  umfanglichen  Exkurs  (AH 
32-81)  schlieBlich  mit  der  Opferszene  in  engen  Parallelbezug  zur  mittelalterlichen 
Vorlage  zuriickzuschwenken  (AH  81-99).  Von  geradezu  determinativem 
Quellenbezug  entwickelt  sich  die  Handlung  iibcr  radikale  Emanzipation  zu 
gemaBigter  Annaherung  an  die  Textvorlage.  Zuerst  ist  es  der  Chor,  der  Elsa  in 
insinuierendem  Fliisterton  zu  Heinrichs  Turmversteck  und  damit  iiberhaupt 
in  die  Sphiire  der  Handlung  lockt  (AH  9-14).  Elsas  Verwandlung  vom 
dialektalen  Dorfmiidchen  zur  hochdeutschen  Heldin  voUzieht  sich  dabei 
innerhalb  weniger  Zeilen,  die  den  mittelhochdeutschen  Text  zitieren  und 
iibertragen: 

Chor  Salerno! 
Elsa   Salerno... waaB  ich  ned  wos  des  is. 

Chor   Ez  sol  ze  Salerne  geschehen. 

90 


Elsa  eni'acbt  (ins  derOhiiWcicht, plot-:ilich:  Es  soil  in  Salerno  geschehen. 
(AH  17-19) 

Den  Einfliisterungen  des  Chors  gegeniiber  ohnmiichtig  (AH  20)  verfallt  Elsa 
geradezu  willenlos  und  "mechanisch"  (ibid.)  dem  HartmannschenTextmodeU 
der  Blutopfer-Legende."  Konsequent  gestaltet  Dorst  Elsas  Gehorsam 
gegeniiber  den  Zitatimpulsen  aus  Hartmanns  Hvpotext  als  Option,  sich  der 
elterlichen  Kontrolle  zu  entziehen  —  doch  wird  ebenfalls  deutlich,  dass  ihr 
Flucht\ersuch  aus  sos^ialer  Determination  nur  um  den  Preis  von  textualer 
Detewiination  durcii  ein  prafiguriertes  Rollenmodell  gelingt.  Deren  Authentizitat 
wird  mehr  und  mehr  traglich  im  \'erlaufe  ihrer  Reise:  "Die  blinde  Glaubigkeit 
des  Mittelalters  ist  uns  nun  mal  abhanden  gekommen"  (AH  51),  seufzt  die 
postmoderne  Adelsgesellschaft  der  "Labvrinth"-Szene  (AH  43-61)  mit 
geradezu  poetologischer  Doppelschwingung.  Elsas  '''Dniperie  \gerat\  ins 
Kutschen''  (AH  56)  —  so  lautet  denn  auch  die  unmittclbar  tolgende 
Regieanweisung,  als  der  commedia  dell'atie-Arnsi  Fizzifagozzi  und  Heinrich  ihr 
Begehren  nach  indi\-idualisierter  Fiebe  vollends  wecken.  Im  Hinblick  auf  ihren 
mittelalterlichen  Hvpotext  ist  Dorsts  l^gende  nun  voUig  entkoppelt,  was  auf 
Ebene  der  Figuren  wiederum  von  Reflexionen  des  ordosen  Reisens  und 
Vergessens  begleitet  wird: 

So  weit  schon  gereist 

so  lang  schon  hah  ichs 

verges  sen. 

Ach  reisen  will  ich 
will  unterwegs  sein. 
Ankommen  aber 
will  ich  nicht.  (AH  73) 

Erst  als  Heinrich  das  schmerzhafte  Memento  der  Miillhalde  dazu  bewegt,  seine 
jiingste  Geschichte  anzuerkennen,  versohnt  Dorst  seinen  Text  mit  der  Tradition 
Hartmanns,  was  in  einem  zwischen  fremdzeitlichem  Echo  und  Cbertragung 
pendelnden  Hvmnus  des  Chores  sinnfaUig  wird: 

Mein  Herr,  traut  ihr  Euch  nicht  zu, 

einen  fremden  Tod  zu  ertragen? 

-  Herre  min  geturret  ir 

einen  vremeden  tot  niht  vertragen? 

So  viele  \X  orter  gibt  es  doch! 

-  Sie  sind  verbraucht 

Aber  in  so  vielen  Sprachcn 

91 


spncht  doch  der  Mensch!  (AH  97-98) 
Im  wortlichen  Obersetzungsbezug  auf  Martmann  schlieBt  das  Stuck: 
nach  siiezem  lanclibe  In  einem  langen  seligen  Leben 

do  besazen  si  geliche  gewannen  sie  beide  zugleich 

daz  ewige  riche.  das  ewige  Reich, 

also  muezez  uns  alien  So  moge  es  alien 

ze  jungest  gevallen!  am  Ende  geschehen. 

(Hartmann  1514-1518)  (Ali  99) 

Dorsts  Legende  vow  arweH  Heinrich  inszeniert  damit  in  der  A/t-z^/^/z/o-Szene,  wie 
eine  Schwellensituadon  des  Eingedenkens  von  Vergessenheit  sowohl  auf  der 
Figurenebene  als  auch  auf  der  Ebene  des  Textes  selbst  die  Aufnahme 
bestimmter  ,Lasten  der  Vergangenheit'  sdmuliert.  Die  paradoxe  Pointe  der 
Schlusswendung  besteht  jedoch  darin,  bewusste  Akte  der  Erinnerns  als  einzige 
.\lternative  zu  determinierenden  \  ergangenlieiten  vorzufiihren.  Die  Mullhalde 
wird  zum  Schauplatz  dieser  Umbesetzung. 

IV. 

So  selektiv  diese  Annaherungsversuche  an  zwei  Beispiele  poetologischer 
Konfigurarionen  des  Miillmanns  auch  sind,  so  zeigt  sich  mit  ihnen  doch,  dass 
die  von  Tankred  Dorst  vielfach  aufgegriffene  Metapher  des  ,uaisten  Landes' 
mit  den  uiederkehrenden  Abfallorten  seiner  Stiicke  konkrete  Gestalt  annimmt. 
Auf  mehreren  Ebenen  sind  sie  in  die  Dramenkonstruktionen  eingelassen.  In 
der  unscheinbaren  Randfigur  des  Mullmanns  Dagobert  verdichtet  Dorst  das 
zyklische  Oszillieren  von  Ideologiekritik  und  Wiederkehr  der  Ideen  als 
Kernthema  von  Merlin  oderDas  wiiste  Lcind.  In  Dorsts  eklektischem  X'erfahren 
der  Montage  mittelalterlicher  und  neuzeidicherTextquellen  zeichnet  sich  somit 
eine  fragmentarische  Asthetik  ab,  die  einem  fragil  gewordenen  Konzept 
geschichdicher  Totalitiit  korrespondiert,  wie  es  Dorst  in  einem  Gespriich  uber 
sein  Drama  Der  verbotene  Garten  umreiBt:  "Ich  stelle  die  Realitat  wie  in  einem 
zerbrochenen  Spiegel  dar,  aus  Partikeln  bestehend,  die  gar  nicht 
zusammengehoren.  W  enn  man  aber  die  Splitter  zusammensetzt,  dann  ergibt 
sich  ein  Bild  der  Zeit  und  ihre  Auslegung"  (1 989b:  313).  Die  lu-gende  vom  armen 
Heinrich  entfaltet  die  Figur  des  Mullmanns  eben falls  als  eine  Figur  der 
Peripherie,  die  jedoch  als  i\llegorie  des  Erinnerungsbewoisstseins  eine  dritte, 
hybride  Form  von  Identitat  herauffiihrt.  Im  Gegensatz  zu  Dagobert  nimmt 
die  Greisenfigur  dabei  allenfalls  indirekten  Bezug  auf  das  traditionale  Konzept 
des  Dichters  als  Erinnerungssubjekt,  wirkt  ihr  dialektischer  AnstoB  zum 
Eingedenken  doch  eher  als  Negativimpuls. 

Es  ware  ein  lohnender  Versuch,  diese  Fragen  iiber  die  hier 
herangezogenen  Texte  hinauszuverfolgen.  In  Dorsts  Dramen,  die 
mittelalterliche  Vorlagen  adaptieren,  blitzen  textuale  Traditionen  wae  indi\-iduale 

92 


Geschichten  in  ihrer  Bedeutsamkeit  vornehmlich  in  solchen  Momenten  auf, 
die  sie  dem  \  ergessen  zu  iiberanuvorten  drohen.  Dicse  Diaicktik  tritt  auch  in 
einem  der  jiingsten  Stiicke  Tankred  Dorsts  und  Ursula  Ehlers,  Pnrcells  Traum 
von  Kotus^Arfus  (2004),  als  text-  und  handlungsbildend  hervor:  Hier  ist  es  die 
Ruinen-Kulisse  eines  al^bruchreifen  Opernliauses,  das  zu  einem 
Kaufhauskomplex  umgebaut  werden  soli,  die  zum  Schauplatz  der 
\er\vandlung  von  Frosty  Billy,  einem  obdachlosen  Alkoholiker  "aus  der 
Miilltonne"  (Purcell  70),  zum  begabten  Sanger  und  Dnden-Rezitator  wird. 
W'iederum  spielen  \'erhill  und  Produktivitat  in  einer  poetologischen 
Konfiguration  zusammen,  die  als  Mullhalde  entworfen  ist. 

\'on  Geselhchaft  i>u  Herhsf  (1960)  uber  Eis^^eit  (1973)  und  Herr  Paul 
(1994)  bis  zu  den  jiingsten  Produktionen  bilden  Gedachtnis  und  Erinnerung 
somit  konstante  Problemzusammenhange  in  der  Dramatik  Tankred  Dorsts. 
Es  scheint  jedoch  den  Stiicken  expliziter  literarhistorischer  Erinnerungsarbeit 
vorbehalten,  L'nterbrechungen,  Uberraschungen  und  choq/ies  des  Erinnerns 
an  die  Sammlerfiguren  des  Mullmanns  und  des  Miillbewohners  zu  binden, 
die  dadurch  in  Dorsts  Theater  der  Zeiten  Effekte  der  "memoire  involontaire" 
(Benjamin  \',1:  280)  freisetzen  konnen. 


Abbreviations 

AH:  Dorst,  Tankred.  Die  Legende  vom  annen  Heinnch.  Mitarheit  Vrsula  Ehler. 

Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1996. 
Merlin:        Dorst,  Tankred.  Merlin  oder  Das  wiiste  Land.  Mitarheit  Ursula  Ehler. 

Frankfurt  am  Main:  Suhrkamp,  1985. 
Puree)]:       Dorst,  Tankred.  Vurcells  Traum  von  Komg  Aiihus:  Bin  Nachtstikk. 

Mitarheit  Ursula  Ehler.  Frankfurt  am  Main:  Insel,  2004. 


Endnotes 

'  So  Griinbein  mi  programmatischen  SchiuBwort  zum  Gedichtband  Schddelhasislektion 
(1991).  Ausfuhrlich  entfaltet  Griinbein  das  Programm  einer  an  naturwissenschaftlicher 
Physiologic  und  Anatomie  orientierten  Transformation  von  Literatur  auch  in  seiner 
Rede  zur  Entgegennahme  des  Georg-Biichner-Preises  (1995:  7-25).  Auf  die 
metaphorologische  Tradition  naturwissenschaftlicher  Selbstbeschreibung  von  Dichtung 
verweist  Katrin  Kohl  (Kohl  2007:  298f.  [zu  Griinbein]  und  302  [zu  Gottfried  Benn]). 
^  Die  komplexen  Kulturtechniken  des  Deponierens,  \  erbrennens,  Verwertens,  Vernichtens 
und  Reinigens,  die  hinter  Abfalltechniken  sichtbar  werden,  arbeitet  ausfuhrlich  die 
Dissertation  von  Sonja  WindmuUer  auf:  Die  Kehrseite  der  Dinge.  Miill,  Ahfall,  IV'egwerfen  als 
kultumnssenschaftliches  Prohlem  (2004). 

^  Lediglich  Walter  Haug  bemerkt  beiliiufig  die  herausgehobene  Stellung  des  „Mul]manns 
Dagobert"  in  Dorsts  Merlin  (104).  Zwar  bilden  ruinose  Szenerien  und  baufiillige  Gebaude 
mehrfach  den  Hintergrund  fiir  Dorsts  Inszenierung  des  \'erfails  und  des  Todes,  so  euva 

93 


in  Gesellschaft  m  Herbst  {\96{)\  Der  vtrbotene  Garten  {V)'61\  Kurlos  {1990)  oder  HwPW  (1994). 

Auffalligerweise  treten  Miillmanner  und  deren  V'ariationen  jedoch  nur  in  denjenigen 

Stiicken  als  Reprasentadonsfiguren  des  X'erfalls  in  Erscheinung,  die  auf  mittelalterlichen 

Vorlagentexten  basieren. 

''  Fiir  eine  detailliertere  Nachzeichnung  dieser  nur  angedeuteten  utopischen  Zyklik  in 

Merlin  vgl.  McGowan  (270). 

^  Als  ein  sprechendes  Indiz  -  unter  vielen  -  belegen  diese  Tcndenz  die  „big  tears"  (35), 

unter  denen  >X'hites  Merlin  die  Lasten  seiner  prophetischen  Fahigkeiten  beklagt. 

''  Tatsachlich  ahnelt  Merlins  Bemiihen  urn  Parzival  einem  ,poetischen  Experiment':  ,Ja, 

ich  arbeite  an  ihm  wie  an  einer  Romantlgur"  (Merlin  204). 

'  Zidert  nach  I-Crohn  (198?:  22). 

'  Fiir  Tankred  Dorst  und  Ursula  Ehler  besteht  der  „Kern  der  Sache"  in  erster  I.inie  in 

einer  „Pubertatsgeschichte",  umgesetzt  in  einer  Reise  zwischen  Liebe  und  Tod,  „die  ja 

bei  Hartmann  von  Aue  gar  nicht  vorkommt"  (Dorst/Ehler  284). 

'  Dies  beschreibt  freilich  nur  die  Perspektive,  die  Dorsts  Adaptation  immanent  auf 

Hartmanns  Legende  offnet.  Wie  bereits  die  Analysen  Jean  Fourquets  (1961)  und  Kurt 

Rubs  (1971)  gezeigt  haben,  hybridisiert  Hartmanns  Text  unterschiedliche  legendarische 

Modelle  und  ist  insofern  weniger  als  eindeutiges  Erzahlschema  denn  als  kreativer 

Montageversuch  mit  offenen  Stellen  zu  betrachten  -  darin  der  Adaptation  Dorsts  durchaus 

analog. 


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97 


98 


Unerbittlich  ziellos^ 

Messianische  Zeif  in  Katharina  Hackers 
Die  Habenichtse 

Franz  Fromholzer 


1.  Die  Habenichtse.  Zur  Programmatik  des  Titels 

Katharina  Hackers  Roman  D/V  Habenichtse  aus  dem  |ahr  2006  fuhrt  vor  dem 
Hintergrund  der  Ereignisse  des  11.  Septembers  ganz  unterschiedliche 
Lebenslaufe  zusammen.  Zum  einen  sind  da  die  Grafikerin  Isabelle  und  der 
Rechtsanwalt  Jakob,  die  sich  bei  einer  Part}-  am  1 1 .  September  wiedertreffen, 
heiraten  und  nach  London  ziehen  -  da  jakobs  Arbeitskollege  Robert  in  New 
York  am  11.  September  todlich  verungliickt  ist.  Jakob  kann  seinen  Platz 
einnehmen.  Zum  anderen  Jim,  ein  Londoner  Drogendealer,  der  seine  Freundin 
Mae  am  11.  September  verpriigelt  und  mit  dem  Messer  im  Gesicht  schwer 
verletzt,  weil  sie  beim  Anbiick  der  einstiirzenden  Tiirme  hysterisch  schluchzend 
zusammen  brach.  Jim  verHert  die  misshandelte  Mae  aus  den  Augen  —  sie 
taucht  unter,  er  wird  sie  nicht  mehr  wiederfinden.  SchlieBlich  Sara,  ein  von 
ihrem  arbeitslosen,  alkoholsiichtigen  Vater  misshandeltes  Kind,  das  durch 
permanente  Gewaltwillkiir  entstellt  und  im  Wachstum  gehemmt  ist.  Sara 
wird  als  Schandfleck  der  Familie  weggesperrt,  vor  den  Schulbehorden  versteckt 
und  fristet  ein  hoffnungsloses  Dasein  in  der  XX'ohnung  und  im  Garten.  Die 
drei  unterschiedlichen  Handlungsstriinge  werden  durch  den  gemeinsamen 
W'ohnort  der  Protagonisten,  die  Lady  Margaret  Road  in  London, 
zusammengefiihrt. 

Vor  dem  Hintergrund  des  11.  Septembers  bicibt  dabei  die  Frage 
nach  dem  Umgang  mit  der  zentralen  Katastrophe  des  20.  Jahrhunderts,  der 
Shoa,  in  Hackers  Roman  stets  prasent,  gewinnt  gerade  —  wie  gezeigt  werden 
soil  -  an  Virulenz.  Jakob  befasst  sich  als  Rechtsanwalt  mit  der  Restitution 
jiidischen  Eigentums,  das  wahrend  der  Nazi-Herrschaft  widerrechtlich  usurpiert 
wurde.  Sein  jiidischer  Londoner  Arbeitgeber  Bentham  woirde  als  Kind  nach 
England  gescliickt.  Isabelles  Berliner  Arbeitskollege  und  \'erehrer  Andras,  ein 
ungarischer  Jude,  sieht  sich  permanent  mit  dem  Schicksal  seiner  Vorfahren 
und  Verwandten  konfrontiert  und  versucht  der  Erinnerung  zu  entgehen. 
Diese  iiberaus  dichte  Einbettung  in  die  deutsch-jiidische  Geschichte  steht  im 
scharfen  Gegensatz  zum  programmatischen  Titel.  Hackers  Gegenwartsroman 

99 


bezeichnet  die  Generation  der  jetzt  30-Jahrigen,  Jakob  und  Isabelle,  als 
Habenichtse.  I.aut  Grimms  Worterbuch  handelt  es  bei  einem  ,Habenichts'  ja 
um  „eine  imperativische  bildung"',  ein  auswegloses  \erwiesensein  auf  das 
Nichts-Besitzen.  „Katharina  Hacker  beschreibt  eine  Generation,  die  vergessen 
hat,  was  das  Leben  ausmacht"',  so  Heike  Hermann  in  Iiteraturkritik.de.  Doch 
wie  ist  diese  lakonische  Feststellungim  Hinblickauf  zwei  sehrgut  verdienende 
Akademiker  -  double  income,  no  kids  -  liberhaupt  zu  verstehen?  Eine  genauere 
Analyse  der  Protagonistin  Isabelle  soil  hieriiber  Aufschluss  geben. 

2.  Engel  der  Geschichte  ohne  Erinnerung  -  die  Flaneurin  Isabelle 

„Cberall  die  Zeitungen  mit  den  Fotos.  Isabelle  ging,  in  einem  halblangen  und 
engen  Rock,  Turnschuhe  an  den  FiiBen,  bis  zur  Oranienburger  StraBe  —  vor 
der  Synagoge  standen  mehr  Polizisten  als  gewohnlich  -,  kehrte  um,  bog 
schlieBlich  in  die  Rosenthaler  StraBe  ein.  [. . .]  was  soUte  man  denken,  mit  was 
fur  einem  Gesicht  herumlaufen?"^  (S.  12).  Die  Selbstv-erstandlichkeit,  mit  der 
hier  der  1 1 .  September  und  bedrohlicher  Antisemitismus  als  i\lltagsphanomene 
beschrieben  und  zusammengedacht  werden,  spiegelt  sich  im  ausdruckslosen, 
unbeteiligten  Gesicht  Isabelles  wider.  Ihr  Gesicht  bleibt  „glatt",  „unschuldig" 
(S.13).  Ihre  Freundin,  die  Fotografm  Alexa,  bezeichnet  sie  als  „gealterte 
Vierzehnjiihrige"  (S.  14f.),  Nacktfotos  von  IsabeDe  besitzen  die  Anriichigkeit 
von  Kinderpornographie  (Vgl.  S.  1(18).  Sie  tritt  auf  als  Frau  ohne 
Lebensgeschichte,  ihr  Verhaltnis  zur  Lebenszeit  folgt  den  Gesetzen  des 
Geldmarkts,  „als  horte  sie  ihre  Vergangenheit  und  ihre  Zukunft,  um  in  dem 
schmalen  Spalt  dazwischen  unberiihrt  zu  bleihen"  (S.  14).  Hier  zeigt  sich  bei 
Isabelle  eine  liistorische  Verabscliiedung  der  postmodernen  Zeitwahrnehmung, 
die  Hans-L'lrich  Gumbrecht  im  Reallexikon  ja  wie  folgt  charakterisiert: 
„Mit  der  Postmoderne  wird  die  in  der  Moderne  auf  ein  Minimum  verengte 
Gegenwart  nun  wieder  zu  einer  breiten  ,Gegenwart  der  Simultaneitaten' 
ausgedehnt.  Diese  breite  Gegenwart  ist  eine  Dimension  des  Erlebens,  X'erhaltens 
und  Handelns,  in  der  die  X'ergangenheit  als  bestandig  abrufbar,  reproduzierbar 
-  sozusagen  ,in  die  Gegenwart  importierbar'  -  zur  \^erfugung  steht,  wahrend 
Zukuntt  -  wo  nicht  als  giinzlich  verschlossen  -  als  ungewiss  und  oft  bedrolilich 
erlebt  wird."^ 

Gerade  die  stiindige  Abrufl^arkeit  der  \'ergangenheit  wird  in  Hackers 
Roman  radikal  in  Frage  gestellt.  Fur  Isabelles  jiidischen  Arbeitskollegen  i\ndras 
erledigt  sich  jede  Zeitrechnung,  da  diese  nur  „ein  Rtnnsal,  das  sich  als 
Kontinuum  ausgab"  (S.  42)  hinterliisst.  Die  Spur  zuriack  tn  die  Vergangenheit 
scheint  Andras  verloren  gegangen  zu  sein:  „denn  die  Zeit  und  was  in  ihr 
geschah  war  nie  ein  und  dasselbe,  nie  eine  Linie,  die  unregelmaBig  verlaufen 
mochte,  sich  aber  zuriickverfolgen  LieB"  (S.  286).  Fiir  Magda  gilt  es  gar,  die 
konsumentenfreundlich  verpackten  Zeitportionen  (Vgl.  S.  83)  durch 
Nichtbeachtung  in  ihrer  Bedrohlichkeit  zu  cntwerten.  Nur  konsequent  stuft 

100 


Isabelle  das  Jetzt  der  Gegenwart  als  ,,nicht  kostbar"  (S.  267)  ein.  Andras  stellt 
iiber  Isabelle  distanzierend  test,  sie  habe  „ein  bemerkenswertes  Talent  selbst 
da  unbehelligt  zu  bleiben,  wo  etwas  sie  tatsiichlich  traf "  (S.  192).  Unbehelligt 
—  „unverletzlich"  (Ebd.)  wandert  Isabelle  durch  Berlin,  spater  durch  London. 
Ein  auf  sie  zustiirzender  Klavierfliigel  hintedasst  nur  eine  unsichtbare  Xarbe 
(Vgl.  S.  44),  ein  beim  Landemanover  abbrechender  Flugzeugfliigel  entwickelt 
sich  eben  nur  fast  zur  Katastrophe  (^"gl.  S.  Ill),  das  Abbrechen  eines 
Hiihnchentliigels  schUeBlich,  die  erste  Mahlzeit  in  London,  durchfahrt  sie  wie 
ein  StromstoB,  die  vage  Abnung  der  Moglichkeit  einer  Katastrophe  (A\gl.  S. 
142).  Yon  der  fiir  Gumbrecht  die  Postmoderne  so  kennzeichnenden 
Verschlossenheit  oder  gar  BcdrohHchkeit  der  Zukunft  kann  nicht  die  Rede 
sein:  „die  Zukunft  mischte  sich  nicht  ins  Spiel,  sie  verwandelte  sich  in  Gegenwart, 
das  war  aUes"  (S.  1 96). 

IsabeUes  Leben  ist  aus  unerfmdLichen  Griinden  sozusagen  auf  einer 
anderen  Seinsebene  engelsgleich  angesiedelt,  hat  mit  der  WirkUchkeit  der 
Kriegsopfer  in  Afghanistan,  Irak,  den  Gewaltopfern  auf  Londons  StraBen 
und  in  den  Nachbarhausern  nichts  zu  tun:  „MeIleicht  fielen  morgen  die  ersten 
Bomben.  Vielleicht  gab  es  die  ersten  Toten.  Das  Wetter  war  makeUos"  (S.  1 52). 
Ein  nachtlicher  \'ergewaltigungsversuch  muss  bei  ihr  scheitern,  da  genau  im 
richtigen  Zeitpunkt  der  Polizeiwagen  um  die  Ecke  fahrt  (A'gl.  S.  170),  kurze 
Zeit  spater  ist  der  \'orfall  fiir  Isabelle  „schon  nicht  mehr  real"  (S.  171),  dem 
Vergessen  anheimgefallcn. 

Die  zerbrochenen  Fliigel,  Zeichen  des  Getriebenwerdens,  enthiillen 
ironisch  die  vermeintliche  Sicherheit,  mit  der  Isabelle  ihr  Leben  abseits  der 
todlichen  Katastrophen  der  W'eltgeschichte  in  einem  irreal  zeit-  und 
geschichtslosen  Raum  verwirklichen  kann.  Die  Ambivalenz  der  Engels-Figur 
erscheint  zusatzlich  biographisch  verankert  in  der  Berliner  Bar  Wiirgeengel,  in 
der  Jakob  und  IsabeUe  sich  nach  knapp  zehn  jahren  am  Vorabend  des  11. 
Septembers  wiedertreffen.  Der  Wiirgeengel,  eine  Luther-\^erdeutschung  nach 
Exodus  12, 23,  erschlug  aUe  Erstgeborenen  Ag\-ptens  und  verschonte  die  mit 
dem  Blut  des  Opferlamms  bestrichenen  Hauser  der  IsraeUten.  Das  hebraische 
passah  bedeutet  eben  diesen  „\^orubergang",  den  Voriibergang  des 
Wiirgeengels,  der  zugleich  den  W'eg  in  die  Freiheit  aus  der  ag^-ptischen 
Gefangenschaft  ebnet.  \X  ie  der  Leser  in  Hackers  Roman  erfahrt,  verdanken 
dabei  sowohl  Jakob  als  auch  Isabelle  ihr  berufliches  Einkommen  dem  Tod 
anderer:  Isabelles  Einstieg  in  die  Agentur  wurde  durch  die  testamentarische 
Verfiigung  der  krebskranken  Hanna  ermoglicht  (\^gl.  S.  31),  Jakob  erhalt  die 
Londoner  Stelle  des  am  1 1 .  September  in  New  \ brk  ums  Leben  gekommenen 
Robert.  Das  Bewusstsein  der  eigenen  Gefahrdung  und  Rettung  im  Sinne 
eines  passah-Eingedenkens  fehlt  sowohl  fakob  als  auch  Isabelle.  Dies  wird 
besonders  deutlich  bei  Roberts  Beerdigung,  bei  derjakob  an  einem  leeren  Sarg 
steht,  da  Roberts  Leiche  nicht  mehr  gefunden  woirde  -  in  der  Weltgeschichte 


101 


auch  korperlich  verschwand.  Die  Provokation  des  leeren  Grabs,  Zeichen 
christlicher  Auferstehung  und  eines  Eintretens  des  Messias  in  die  Gescliichte, 
kann  Jakob  nicht  zur  Kenntnis  nehmen.  Das  Abhandenkommen  des  toten 
Robert,  die  vollige  Ausloscliung  seiner  Existenz,  stellt  tiir  den  Juristen  Jakob 
cine  rein  materialistische  Angelegenheit  dar:  der  Tod  sei,  so  Jakob,  „ein  Wechsel 
der  Besitzverhaltnisse.  Was  dem  Toten  gehort  hat,  geht  in  den  Besitz  anderer 
liber"  (S.  50),  die  Freundschaft  zu  Robert  war  „Zui:all"  (S.  49).  Diese  radikale 
Verweigerung  einer  Reflexion  iiber  das  Eingreifen  geschichtlicher  Prozesse  in 
das  individuelle  Leben  zeigt  sich  zudem  bei  )akob  besonders  drastisch,  ja 
skandalos:  Jakob  verdient  sein  Geld  als  Rechtsanwalt  mit  der  Restitution 
jiidischen  Eigentums,  das  wahrend  der  Nazi-Herrschaft  widerrechtlicli  enteignet 
wurde.  Wahrend  der  Besitz  der  Opfer  der  Shoa  vermeintlich  wieder  der 
Gerechtigkeit  zugefiihrt  werden  kann  und  soil,  bleibt  das  Leben  der 
Ermordeten  und  Emigrierten  im  Bereich  einer  abstrakten  Voraussetzung  fiir 
den  Besitzverlust,  letztlicli  eine  Leerstelle.  Die  GeschichtsschreibungderTater, 
die  ihre  Opfer  nicht  nur  physisch  vernichten,  sondern  auch  die  Erinnerung  an 
sie  ausloschen  woUten,  wird  —  so  macht  Hackers  Roman  am  11.  September 
deudich  -  in  Vergangenheit  und  Gegenwart  fortgeschrieben. 

Zweifellos,  die  machtige  mediale  Geschichtsschreibung  der  Gegenwart 
erstickt  das  Bewusstsein  fiir  die  Realitat  der  Misshandelten  und  Getoteten  in 
Gleichgiiltigkeit,  Gewohnheit  und  Vergessen.  Die  Habenichtse  ist  „ein 
Gegenwartsroman,  der  uns  die  Lebenswirklichkcit  der  MittdreiBiger  vor  Augen 
fiihrt,  die  die  Welt  zuweUen  so  distanziert  betrachten,  als  siihen  sie  einen  Film, 
der  sie  nichts  angeht."^  Ein  genauerer  Blick  auf  Isabelle  soil  nun  aber  zeigen, 
dass  gerade  der  Verlust  der  lebensgeschichdichen  Dimension,  der  Erinnerung 
an  die  Opfer  und  Toten,  als  soziale  Depravation,  ;ils  Verlust  an  gesellschafdicher 
Erkenntnis  und  als  Handlungsschwachegedeutet  werden  muss. 

Isabelle  erscheint  sowohl  in  Berlin  als  auch  in  London  als  rastlose 
Spaziergiingerin  und  Passantin  im  GroBstadtdschungei  —  mit  hohem 
Turnschuhverbrauch.  Ihr  sich  Treiben-Lassen  durch  die  Menge  wird  von 
Andras  als  „unerbittliche  Ziellosigkeit"  diagnostiziert  (S.  110).  Damit  kann 
und  soli  Isabelle  hier  als  Aktualisierung  von  Walter  Benjamins  ,,Engel  der 
Geschichte"  gelesen  werden  -  in  einer  RezepdonsUnie  wie  sie  Hannah  Arendt 
in  ihrem  viel  diskutierten  Walter-Benjamin-Essay  begriindet  hat.  Hier  heiBt  es 
iiber  den  „Engel  der  Geschichte": 

„Es  ist  der  Flaneur,  der  in  den  GroBstiidten  durch  die  Menge  in 
betontem  Ciegensatz  zu  ihrem  hastigen,  zielstrebigen  Treiben  ziellos 
dahinschlendert,  dem  die  Dinge  sich  in  ihrer  geheimen  Bedeutung 
enthiillen,  an  dem  ,das  wahre  Bild  der  Vergangenheit'  vorbeihuscht, 
und  der  in  der  Erinnerung  das  Vorbeigehuschte  um  sich  versammelt. 
(...)  In  diesem  Engel,  den  Benjamin  in  Klees  Angelus  Novus 
crblickte,  erlebt  der  Flaneur  seine  letzte  Verkliirung.  Denn  wie  der 

102 


Flaneur  durch  den  Gestus  des  zwecklosen  Schlenderns  der  Menge 

auch  dann  den  Riicken  weist,  wenn  er  von  ihrgetrieben  und  mit  ihr 

fortgerissen  wird,  so  wird  der  ,Engel  der  Geschichte',  der  nichts 

betrachtet  als  das  Triimmcrfeld  der  Vergangenheit,  vom  Sturm  des 

Fortschritts  riicklings  in  die  Zukunft  geweht.'"' 

Es  konnen  hier  nur  kurz  einige  wichtige  Deutungsmoglichkeiten  des  ,Engels 

der  Geschichte'  in  Erinnerunggerufen  werden.  Benjamins  Freund  Gershom 

Scholem  hat  in  ihm  den  Menschen  als  allgemeines  Wesen  erkannt,  von 

Haselberg  die  geschichdiche  Wirklichkeit,  Kaiser  identifiziert  ihn  als  gottlichen 

Boten  des  jiidischen  Messianismus,  Hering  sieht  im  Engel  die  personifizierte 

Theologie,  die  ohne  polidsches  W'issen  zur  Ohnmacht  verdammt  sei. 

Hatte  Walter  Benjamin  selbst  gerade  in  seinem  Karl-fCraus-Essay 
den  Engel  der  Geschichte  zum  Boten  der  Leidensgeschichte  und  Idealbild 
einer  rettend-destrukdven  Maltunggegeniiber  der  Uberlieferung  erkoren,^  so 
erscheint  die  Kindfrau  ohne  Erinnerung  —  Isabelle  —  deren  Ehemann  Jakob 
ohne  W'iedersehen  verschwainden  gewesen  ware  „in  der  Gleichgiiltigkeit  ihres 
Vergessens"  (S.  37),  als  geradezu  polemisch  eingesetzte  Negativfolie  des 
verklarten  Flaneurs:  indem  Isabelle  nicht  zum  Slillstand  gebracht  werden  kann, 
wirkt  sie  als  defizitjire  Engelsfigur  mit  zerbrochenen  Fliigeln,  die  dem 
entfesselten,  Triimmer  werfenden  Fortschritt  nichts  entgegenzusetzen  hat. 
Benjamins  Engel  hat  das  Antlitz  der  Vergangenheit  zugewendet.  Damitgreift 
Benjamin  auf  Vorstellungen  der  jiidischen  Mvstik  zuriick,  die  Erlosung  als 
Wiederherstellung  des  urspriinglichen  Ganzen,  als  Tikkun,  begreifen.  Die 
futurisch  gedachte  Erlosung  ist  also  Restitution  des  idealen  Zustands  der 
Vergangenheit.''  Peter  Szondi  fasst  deshalb  Benjamins  Denken  pragnant  als 
„Hoffnung  im  Vergangenen""^'.  Damit  „gewinnt  die  Gegenwart  jedoch  ihren 
Sinn  erst  im  Verhaltnis  zur  Vergangenheit"" .  Der  im  Anblick  der  Vergangenheit 
zur  Erstarrung  gebrachte  Engel  erkennt  im  Blick  zuriick  die  in  der  Gegenwart 
neu  ansetzende  Katastrophe  -  „Wo  eine  Kette  von  Begebenheiten  vor  uns 
erscheint,  da  sieht  er  eine  einzige  Katastrophe'"^.  Die  Gegenwart  der 
Vergangenheit  gibt  also  an,  „was  die  Glocke  geschlagen  hat"'\  Fiir  Hackers 
geschichts-  und  erinnerungslosen,  blinden  Engel  Isabelle  wird  folgUch  die 
Gegenwart  zur  leeren  Zeit,  eine  Jetztzeit,  die  sich  der  Korrektur  der  Irrtiimer 
der  Vergangenlieit  und  der  ErschlieBung  neuer  Moglichkeiten  verweigert.  Ein 
Beispiel  aus  dem  Erleben  der  Flaneurin  sei  hierzu  angefiihrt: 

„und  als  sie  ungeschickt  aus  dem  Gewiihl  herausschlingerte,  sah  sie 
eine  Blumenverkiiuferin,  die  aus  Eimern  die  letzten  StriiuBe  packte, 
hinter  ihr  erschien  eine  jiingere  Frau,  griff  nach  den  Eimern,  leerte 
das  Wasser  mit  einem  Schwung  auf  die  StraBe,  sie  kam  Isabelle 
seltsam  bekannt  vor,  nur  war  sie  diinn,  fast  mager,  und  als  sie  sich 
aufrichtete  und  zur  Seite  drehte,  sah  Isabelle  ihr  Gesicht,  entstellt 
von  einer  Narbe,  die  von  der  Schliife  bis  zum  Kinn  reichte. 


103 


flammendrot,  hasslich.  Als  wjire  die  Wunde  nicht  genug  gewesen, 

war  sie  schlecht  verheilt,  und  das  Gesicht  war  gezeichnet,  ein  Inbild 

der  Bosartigkeit,  die  Menschengesichter  zerstorte.  Aber  vielleicht  war 

es  ein  Unfall,  dachte  Isabelle.  In  ihrem  Erschrecken  achtete  sie  nicht 

daraut,  dass  die  Altere  sie  beobachtete,  naher  kam,  das  Gesicht  zomig, 

verachtlich,  und  IsabeUe  mit  einer  Handbewegung  wegscheuchte, 

ohne  ein  Wort  zu  sagen,  wie  man  ein  gaffendes  Kind  verjagt.'"'* 

(S.174) 

Hinter  der  durch  die  Flammenschrift  der  Narbe  gezeichneten  Frau  vermutet 

der  Leser  Isabelles  Doppelgjingerin  Mae,  die  nach  der  Gewaltattacke  ihres 

Freunds  Jim  untergetaucht  ist.  Geschichte  als  Unfall  und  Zufall.  Maes  Narbe 

bleibt  unverheilt,  eine  ungelesen  zuriickgelassene  Flammenschrift  -  vergessen. 

Hier  ist  Anne  Kraume  zu  widersprechen,  die  das  unauffallige  Schuldigwerden 

an  den  Opfern  der  Gegenwart  vom  Umgang  mit  der  deutschen  Geschichte  zu 

trennen  versucht.'^  Denn  der  an  Nachgeborene  und  Zeitgenossen 

gleichermaBen  gerichtete  ethische  Imperativ  gegeniiber  den  Opfern  aus 

Vergangenheit  und  Gegenwart  fordert  das  Fingedenk-Werden,  den  Stillstand 

des  Engels.  Denn  „im  Eingedenken  war  fiir  die  Juden  ,jede  Sekunde  die  kleine 

Pforte,  durch  die  der  Messias  treten  konnte'""".  Im  Riickblick  „sich  vorzusteUen, 

was  sich  der  Uberlebende  nicht  \'orstellen  kann"'  ist  damit  auch  eine  Aufgabe 

der  Imagination  angesichts  einer  nie  endgiiltig  tixierbaren  Erinnerung.  Mae, 

die  „noch  immer  die  Toten  sehe,  die  Lebenden,  die  aus  den  Fenstern  sprangen, 

in  die  Tiefe,  dass  sie  ihre  Schreie  horen  konne,  dass  sie  horen  konne,  was  die 

Leute  redeten,  die  in  den  Aufziigen  und  in  den  Fluren  eingeschlossen  waren" 

(S.  28),  verwirklicht  in  ihrer  immer  wieder  geleisteten  Imagination  ein 

Toteneingedenken,  das  sich  als  unertriiglicher  Anspruch  an  die  Gegenwart 

herausstellt,  dem  mit  Gewalt  geantwortet  wird.  „RLickwarts  miisste  man  gehen, 

zuriicklaufen,  zuriickspulen,  was  gewesen  war  bislang,  um  es  zu  loschen  oder 

zu  bestatigen"  (S.  173)  wiinscht  dagegen  die  in  London  orientierungslos 

gewordene  Flaneurin  Isabelle.  Die  Preisgabe  der  erinnerten  Vergangenheit  als 

Orientierung,  der  nicht  zum  Stillstand  gebrachte  Engel,  entspricht  der  Negation 

von  Hoffnung  fiir  die  Zukunft. 

„Im  genormten,  denaturierten  Dasein  der  groBstadtischen  Massen", 
so  Briiggemann,  „verliert  der  einzelne  das  Vermogcn  der  lirfahrung,  das 
integrative  Vermogen,  den  geschichtlichen  und  lebensgeschichtlichen 
Zusammenhang  [...],  er  bekommt  kein  Bild  mehr  von  sich."'**  Die  Nicht- 
Passionsgeschichte  Isabelles,  ihr  Dasein  als  erkenntnisunfahiger  Habenichts 
endet  konsequenterweise  im  Typus  der  kinderlosen  Ilausfrau,  die  noch  dazu 
naive  iMnderbiicher  bebildert  und  dabei  auf  das  Haushaltsgeld  ihres  Mannes 
angewiesen  ist.  Doch  ist  ihr  mit  dem  misshandelten  Madchen  Sara  eine 
urdiebsame  Nachbarin  entgegengesteUt,  die  „den  Anspruch  auf  ein  inneres 
Auge,  das  gegen  das  Vergessen  focht"  (S.  44)  aufs  Neue  postuliert. 

104 


3.  „Wundervoll  gelingende  kleine  Bombenattentate".  Sara  ohne  H 

Unmittelbar  mit  dcm  Einzug  Isabclles  in  die  Londoner  VCohnung  verbunden 
ist  das  Erscheinen  eines  „Bucklicht  Mannleins":  ]akob,  so  helBt  es  in  Kapitel 
19,  „\var  erleichtert,  dass  vorderTiir-  Isabelle  schaute  aus  dem  Fenster  — das 
kleine  Miidchen  nicht  auftauchte,  ein  Bucklicht  Mannlein,  unheimlich"  (S.  114). 
Zweifellos  verweist  diese  Figur,  in  der  der  Leser  das  misshandelte 
Nachbarmadchen  Sara  erkennt,  auf  \X  alter  Benjamins  Berliner  Kiiidhf/tiiw  1900. 
„Das  Bucldicht  Mannlein"  ist  in  dicser  miniaturhaften  Autobiographie  bzw. 
Anti-Autobiographie  Benjamins  in  alien  Fassungen  als  Abschlusstext  fixiert. 
Das  Mannlein  wird,  so  Anja  Lemke,  „zur  Figuration  des  Vergessens,  sowohl 
der  Selbstvergessenheit  als  auch  der  mangelnden  Aufmerksamkeit  fiir  die 
Umgebung.  Dieser  Augenblick  der  Unachtsamkeit  kann  immer  erst  nachtraglich 
wahrgenommen  werden.'"'' 

Vergessen  im  Benjaminschen  Sinne  erhiilt  eine  bedrohliche 
Dimension,  es  impliziert  Selbstgefahrdung  und  soziale  Unfahigkeit.  Zugleich 
aber  ist  Vergessen  Voraussetzung  der  Erinnerung,  damit  eine  Bedingung  der 
Offenbarung.  Die  erinnerte  Vergangenheit  ist  durch  das  \'ergessen  entstellt, 
Kennzeichen  der  erinnerten,  entstellten  Vergangenheit  ist  der  Buckel  des 
Mannleins.  Wie  wird  nun  Benjamins  bucklicht  Mannlein  in  I  lackers  Roman 
neu  interpretiert?  Das  bucklicht  Mannlein  ist  hier  ein  Miidchen,  im  Wachstum 
gehemmt,  entstellt  von  den  Schlagen  des  arbeitslosen  Vaters,  beschiitzt  nur 
vom  Bruder  Dave.  Ihr  engster  Spielgefahrte  ist  die  Katze  Polly,  mit  der  sie  von 
ihrem  Bruder  durch  den  Kosenamen  „little  cat"  (S.  53)  sogar  gleichgesetzt 
wird.  Saras  Spielplatz  -Terrasse  und  Garten,  vom  \^ater  als  „Paradies"  bezeichnet 
(S.  53),  erweisen  sich  als  Orte  standig  bedrohter  Existenz.  Ihre  Puppe  wird 
von  einem  breit  grinsenden  fremden  Mann  zwischen  den  Beinen  am 
Gartenzaun  gepfahlt  (S.  75),  ihren  Biiren  findet  sie  mit  aufgeplatztem  Bauch 
auf  der  Terrasse  (S.  222).  Benjamin  hat  sich  in  seinen  zahlreichen  Essays  zu 
Kinderspielzeug  und  Puppen  dagegen  gewehrt,  dem  Spielzeug  den  Status 
eines  autonomen  Sonderlebens  zuzugestehen,^^  sondern  vielmehr  von  einer 
Auseinandersetzung  der  Erwachsenen  mit  der  Kindheit  im  Spielzeug 
gesprochen  (also  nicht  der  Kinder  mit  den  Erwachsenen).^'  Die  rein  destruktive 
Rolle,  die  hier  Erwachsene  in  Saras  Kindheit  spielen,  zeigt  eine  zerstorerische 
Gesellschaftsordnung  auf,  die  sich  der  Zukunft  nicht  verpflichtet  Rihlt.  Spielen, 
so  hat  Benjamin  provokant  formuliert,  sei  „Verwandlung  der  erschiitterndsten 
Erfahrung  in  Gewohnheit,  das  ist  das  Wesen  des  Spielens."" 

Erschiitterndste  Erfahrung  in  Gewohnheit  zu  verwandeln  —  diese 
Wesensdefinition  des  Spielens  enthiilt  natiirlich  auch  eine  hochst  anarchische 
Komponente.  Benjamin  zitiert  geniisslich  aus  einem  Aufsatz  von  Mynona 
aus  dem  Jahr  1916:  „Wundervoll  gelingende  kleine  Bombenattentate  mit 
entzweigehenden,  heilbaren  Prinzen,  Warenhauser  mit  automatisch 
funktionierenden  Brandstiftungen,  Einbriichen,  Diebstahlen.  Auf  vielerlei 


105 


W'eisen  ermordbare  Opfer  -  und  die  zu  ihnen  gehorenden  Morder-Puppen  — 
mit  alien  einschlagigen  Instrumenten,  Guillotine  und  Galgen  mochten 
wenigstens  meine  Kleinen  nicht  mehr  missen.'  (. .  .).""^  Dieser  aUes  andere  als 
harmlose  Blick  in  die  hausUche  Kinderstube  lasst  uns  in  Saras  Gartenwek  vor 
dem  Hintergrund  des  1 1 .  September  eine  minimaUsusche  Weltgeschichte 
erkennen,  eine  Totalitat  im  Kleinen  und  Unscheinbaren,  ebenso  wie  Dave  Sara 
die  Vollkommenheit  eines  fast  unsichtbaren  Staubkorns  schildert  (A'gl.  S. 
1 36).  VC'erfen  wir  einen  Blick  auf  Saras  alles  andere  als  harmlose  Spiele: 

„Es  ist  das  Under,  fliisterte  das  Pferd  schaudernd,  du  musst  es 

erschlagen,  um  den  Zauber  zu  brechen,  siehst  du  seine  Augen,  du 

wirst  niemals  wachsen  und  groB  werden,  wenn  sein  Blick  dich  trifft, 

es  schlug  die  Augen  auf,  beide  Augen,  dunkelgriin,  schlafrig,  wenn 

du  je  in  die  Schule  willst  wie  alle  anderen,  ein  kleiner  Laut,  als  woUte 

PoUy  etwas  sagen,  schlafrig,  aber  das  Pferd  beschwor  Sara,  und  so 

hob  sie  die  Arme,  reckte  sie  hoch  in  den  Himmel,  um  den  Schlag 

gegen  den  Feind  zu  fdhren,  der  den  Kopf  hob,  zum  Angriff  bereit, 

und  Sara  reckte  sich,  weiter  hinauf,  ein  einziger  Schritt  noch  nach 

vorne,  und  dann  schlug  sie  zu.  PoUys  Schrei  zerriB  die  StiUe,  mit 

gestraubtem  Fell  jagte  sie  den  Baum  hinaus,  fauchend,  auf  den 

untersten  Ast,  der  ihr  keinen  Halt  hot,  da  sie  mit  dem  verletzten 

Hinterbein  abglitt,  miihsam  auf  die  Mauer  zukroch  (..)"  (S.224). 

Mit  Pollys  \'erletzung  durch  Sara  ist  ihre  gesellschaftUche  Isolation  beendet, 

ihre  Exodus  in  die  Freiheit  vorbereitet.  Isabelle  hat  den  \ brfall  beobachtet, 

klettert  iiber  den  Gartenzaun  und  holt  die  Katze  zu  sich,  liisst  aber  Sara 

gleichgultig  die  regnerische  Xacht  liber  im  Garten.  SchlieBlich  verscheucht 

Isabelle  die  lastige  Katze,  der  Drogendealer  jim  totet  Pollv,  indem  er  sie  an  die 

W  and  wirft.  Jim,  der  sich  Isabelle  gegeniiber  als  personifizierter  Tod  (A'^gl.  S. 

266)  stilisiert  haite  und  selbst  vom  Todesengel  bedroht  wird  (\'g\.  S.  244), 

zwingt  schlieBlich  mit  offenem  Messer  Isabelle,  dem  blutenden,  nach  Urin 

und  Fakalien  stinkenden  Madchen  Sara  zu  helfen. 

Hier  erscheint  mir  eine  ganz  bemerkenswerte  Durchbrechung  einer 
sukzessiven  Linie  von  Gewaltsteigerung  vermittelt  zu  werden  wie  sie  im  Lied 
Had  Giidja  voTgeztichnct  ist.  Bei  Had Gadya  handch  es  sich  um  ein  p  sach  - 
Lied,  das  am  Fnde  des  seder-Mahls,  also  am  1.  p  sach  -Abend,  gesungen 
wird.""*  In  dem  10-strophigen  Lied  kauft  sich  ein  N'ater  fur  zwei  zuzim  ein 
Kind;  eine  Katze  frisst  das  Kind,  ein  Hund  beiBt  die  Katze  zu  Tode,  der 
Hund  wird  von  einem  Stock  geschlagen,  der  Stock  wird  vom  Feuer  verbrannt, 
W'asser  loscht  das  Feuer,  ein  Ochse  tnnkt  das  W'asser,  ein  shohet  schlachtet  den 
Ochsen,  der  Todesengel  totet  den  shohet,  schlieBlich  loscht  Gott  den  Todesengel 
aus.  Der  Refrain  „Had  Gadya"  (ein  einziges  Kind)  wird  von  jiidischen 
Kommentatoren  allegorisch  auf  das  unterdriickte  jiidische  Yolk  bezogen. 
Gott  erscheint  als  \'ater,  die  Katze  steht  fiir  Assyrien,  der  1  lund  fur  Babylon, 

106 


der  Stock  fiir  Persien,  das  Feuer  fiir  Makedonien,  das  \X  asser  fiir  Rom  usw.  Das 
Lied-Ende  venveist  auf  die  messianischc  Errettung:  Gott  befreit  das  einzige 
Kind.  Had  Gava  reprasentiert  nicht  zuletzt  auch  eine  Svmbiose  deutsch- 
judischen  Zusammcnlebens,  es  scheint  auf  das  deutsche  Bankellied  „Der 
Herr  der  schickt  den  jockel  aus"  zuriickzugehen.-''  Indem  in  Hackers  Roman 
Die  Habenichtse  auf  die  gewalttatige  Struktur  der  W'eltgeschichte  und  des 
unterdriickten  jiidischen  \^olks  zuriickgegriffen  wird,  werden  dennoch 
entscheidende  \  eranderungen  vorgenommen:  Sara  nimmt  selbsttatig  den 
eigentlich  in  der  Zukunft  drohenden  Stock  in  die  Hand.  Das  Modell  sich 
wiederholender,  aufschaukelnder  (Tcwalt  und  Rache  verliert  seine  Giiltigkeit. 
Das  Gebet,  um  das  in  Benjamins  hncklicht  Mdinikin  das  Miinnlein  fiir  sich 
bittet,  und  das  fiir  Benjamin  siikular  als  „naturliches  Gebet  der  Seele"^'',  als 
Aufmerksamkeit  formuliert  werden  muss,  soil  nun  —  wie  aller  Kreatur  -  der 
Katze  gelten  (\^gl.  S.  271).-  Die  Kausalkette  der  Gewalt  ist  durchbrochen, 
indem  eine  Perspektivierung  der  C^pfer  erzwoingen  wird.  Jim  zwingt  Isabelle, 
Sara  zu  helfen.  „Isabelles  unberiihrt  scheinendes  Gesicht  reizt  ihn  zu  einer 
grausamen  Therapie  der  Konfrontation  mit  dem  Leiden  anderer.""*  Jims 
Therapie  steigert  sich  zu  einem  Gerichtsverfahren  iiber  die  Gleichgiiltigkeit 
Isabelles,  zu  einem  vorweggenommenen  ]iingsten  Gericht:  „Aber  es  ist  alles 
aufgelistet,  egal,  ob  einer  es  weiB  oder  nicht.  Und  ich  habe  dich  gesehen"  (S. 
273),  schlieBLich:  „ich  bringe  dir  bei,  wie  man  etwas  nicht  vergisst"  (S.  274). 
Isabelles  geschlossene  Augen  geben  dabei  „ein  Totenreich  fiir  wenige  Minuten" 
preis  (S.  273). 

Die  messianische  Befreiung,  die  in  HadCuidyaxon  Gott  erhofft  wird, 
reklamiert  auch  die  rebellierende,  die  i\rme  in  den  Himmel  streckende  Sara  fiir 
sich  bereits  in  der  Gegenwart  -  als  Aufmerksamkeit  und  Forderung  nach 
Beachtung  durch  die  Gesellschaft.  „|ede  Kindheit",  so  heiBt  es  in  Die 
Habenichtse,  sei  „eine  Auflistung  des  Cberlebens  und  eine  der  Fremdheit,  [. . .] 
eine  Geschichte  des  Exils  und  der  Scham"  (S.  44).  Gefahrdung  und  Chance 
zugleich  liegen  im  Inneren  der  individuellen  Kindheitserfahrung  verborgen. 
Benjamins  Anliegen,  im  „Innern  [der  Kindheit  F.  R]  spatere  geschichtliche 
Erfahrung  zu  priiformieren"^'',  weist  der  Erinnerung  an  die  eigene  Kindheit 
Schliisselfunktion  fiir  die  Diagnose  der  Gegenwart  zu.  Die  todlichen  Spiele 
der  Erwachsenen  in  Saras  Garten  bezeugen  Saras  eminente  Gefahrdung.  Das 
hucklicht  Matinlein,  die  Figuration  des  Vergessens,  das  als  Bedingung  einer 
einsetzenden  Erinnerung  gesehen  werden  muss,  setzt  fiir  Isabelle  die 
uniiberwindliche  Differenz  zwischen  Kindheit  und  Erwachsensein.  Es 
„v'erhindert  auf  diese  \X  eise  den  falschen  Schein  einer  Kontinuitat  von  Kindheit 
und  Erwachsenenleben"'".  Isabelle  kann  vor  Sara,  deren  Mutter  ihr  Alter  hat 
(\'gl.  S.  235),  nicht  weiter  als  Kind  bestehen.  Das  lebenszeitliche  und 
geschichtliche  Kontinuum  ist  durchbrochen.  Saras  Revoke  erweist  sich  dabei 
als  messianisches  Handeln  in  der  Jetztzeit,  sie  nimmt  das  )iingste  Gericht 


107 


vorweg.  In  Saras  angezettelter  Gartenrevolution  zeigt  sich  die  Verpflichtung 
des  Romans  gegeniiber  Benjamins  monadologischem  Verfahren.  Es  geht 
nicht  um  stringent  gekJarte  Universalgeschichte:  „den  Blick  statt  auf  die 
luckenlose  Folge  der  Ereignisse  aut  das  cinzelne  Glied  dieser  Kette  zu  richten 
und  an  ihm  in  einem  Augenblick  des  Verweilens  monadoiogisch  den 
Gewaltzusammenhang  der  Totalitiit  zu  entziffern"^'  —  dies  fiihrt  der  Roman 
sowohl  in  der  Auflosung  der  Gewaltkette  des  Had  Gadja  als  auch  in  seiner 
Kontexturierung  mit  dem  1 1 .  September  vor.  Sara  begriindet  so  „einen  Begriff 
der  Gegenwart  als  >Jetztzeit<,  in  welcher  Splitter  der  messianischen 
eingesprengt  sind."^^,  wie  Benjamin  dies  fordert.  Schon  Saras  Name  hiitte  uns 
ja  stutzig  machen  miissen:  „Sara  ohne  H"  nennt  sie  ihr  Bruder  Dave.  Dies 
macht  hellhorig.  Veru'eist  er  doch  auf  Sara,  die  Frau  Abrahams,  der  Gott  noch 
im  hohen  Alter  ein  Kind  schenkt  und  dies  mit  einem  neuen  Namen  besiegelt: 
„Deine  Frau  Sarai  soUst  du  nicht  mehr  Sarai  nennen,  sondern  Sara  (Herrin)  soU 
sie  heiBen.  Ich  will  sie  segnen  und  dir  auch  von  ihr  einen  Sohn  geben.  Ich 
segne  sie,  so  dass  Volker  aus  ihr  hervorgehen;  Konige  iiber  Volker  sollen  ihr 
entstammen."  (Gen  17, 15f.)^^  Saras  Name,  der  die  Bedrohtheit  ihrer  Fixistenz 
sinnfallig  zum  Ausdruck  bringt  („Manchmal  verschwand  der  Name  vollstiindig. 
Sie  selbst  war  noch  da,  aber  der  Name  war  verschwunden,  wie  das  H."  S.  53), 
ist  zugleich  VerheiBung.  Der  dialektische  Umschlag  von  Hoffnungslosigkeit 
in  zu  realisierende  Veranderung  ist  gerade  fiir  die  Geschichtsphilosophie 
Benjamins  charakteristisch:  „Der  Zustand  der  tiefsten,  hoffnungslosen 
Entstellung,  der  der  volligen  Illusionslosigkeit,  ist  in  Benjamins 
geschichtstheoretischer  Konstruktion  der  Zustand,  in  dem  die  Hotfnung  auf 
die  Veranderung  des  Ganzen  durch  eine  kiinftige  Gesellschaft  ihren  Grund 
hat."^"*  Nicht  eine  Fort-  und  Festschreihung  der  Opfergeschichten  gilt  es  also 
zu  leisten,  sondern  eine  —  auch  gewalttiitige  -  Durchbrechung  des 
(Zeit)Kontinuums,  die  allein  erst  die  Gegenwart  wieder  sinnhaft  erfahrbar 
macht. 

Der  Verlust  von  Vergangenheit  und  Gegenwart  beschwort  den 
Einbruch  der  medial  banalisierten,  kommerziell  verwerteten  Gewalt  in  die 
Lebenswirklichkeitgeradezu  herauh  Fiir  Isabelle  durchbrichtphysische  Gewalt 
das  leere  Zeitempfmden.-^  Gerade  hier  liegt  die  zentrale  Provokation  von 
Hackers  Generationenportrjit.  Vor  dieser  bedrohlichen  Gewaltkulisse  soil 
Benjamins  Forderung,  Splitter  der  messianischen  Zeit  in  der  Jetztzeit  zu 
begriinden,  hier  zum  Schluss  auch  an  Hackers  Roman  Die  Hcibenicbtse 
herangetragen  werden.  Imvieweit  reflekdert  letzdich  der  Roman  das  Dilemma, 
leeres  Zeitkontinuum  wieder  mit  messianischer Jetztzeit  zu  erfiillen? 


108 


4.  Messianische  Zeit.  Uber  die  Rcaktualisierung  eines  Benjaminschen 
Zeitverstandnisses 

Der  Roman  setzt  —  wie  gezeigt  —  die  Ereignisse  des  1 1 .  Septembers  in  engen 
Kontext  mit  dem  Schicksal  des  jiidischen  Volkes:  das  Vorbeiziehen  des 
Wiirgeengels  als  Uberleben  und  Hrrettung  aus  Gefahr,  das  beim  seder-Mahl 
gesungene  HadGadyaals  Entwurf  einer  Gewaltitette,  die  durchbrochen  vverden 
kann.  Inwieweit  dieses  zweifcUos  streitbare  Unterfangen,  dem  1 1.  September 
die  Struktur  eines  passah-Eingedenkens  einzuschreiben,  auch  den  Versuch 
darstellt,  sich  von  einer  postmodernen  ,Abdanknng  der  groBen  Erzahlungen' 
im  Sinne  Lyotards  zu  distanzicren,  kann  hicr  nur  zur  Diskussion  gestellt 
werden.^'' 

Als  bedeutsamer  Referenztext  des  Romans  erxveist  sich  zweifelsohne 
das  \Xerk  Walter  Benjamins.  Benjamin  hatte  die  Tlieologie  in  seiner  beriihmten 
ersten  These  V  her  den  Beff'ilf  der  Geschichte  d.h  buckligen  Zwergbezeichnet,  der 
„heute  bekanntlich  klein  und  hiisslich  ist  und  sich  ohnehin  nicht  darf  blicken 
lassen"^"  und  dennoch  als  „Meister  im  Schachspiel"^**  der  Geschichte  fungieren 
kann  und  muss.  Benjamins  messianisch  aufgeladene  letztzeit,  die  sich  als  in 
der  Gegenwart  voUziehendes  jiingstes  Gericht  begreift,  stellt  sich  als  radikale 
Forderung  an  die  „Habenichtse"  der  Gegenwart  dar.  So  kann  der  Engel  der 
Geschichte  in  Isabelle  nicht  abdanken,  ihm  ist  mit  Mae  eine  Doppelgangerin 
zur  Seite  gestellt,  die  entsetzt  feststellt:  „Und  die  Toten  (. . .),  die  wir  vergaBen, 
rufen  nach  uns"  (S.  28). 

Bushs  Rede  nach  dem  1 1 .  September,  dass  nicht s  sei,  wie  es  war,  ein 
wirkungsmiichtiges  Modell  der  Geschichtsschreibung,  wird  im  R(Mnan  hiiufig 
variiert,  enveist  sich  im  Benjaminschen  Sinne  jedoch  als  undialektische 
Ziellosigkeit  der  Geschichte.  Diese  undialektische  Ziellc^sigkeit  gilt  es  fiir 
Benjamin  zu  dechiffrieren,  stillzulegen.  „Denn  Benjamins  Erkenntnismethode 
des  Eingcdenkens  fixiert  im  Lichte  der  Erlosung  vermittels  dialektischer  Bilder 
diesen  geschichtHchen  Fortschritt  als  eine  einzige  Katastrophe,  um  damit  die 
Notwendigkeit  zu  begriinden,  ihn  abzubrechen  und  um  die  Chancen  fiir 
einen  solchen  Abbruch  sichtbar  zu  machen.  Diese  Chancen,  die  jeweiligen  Ur- 
Spriinge  der  Befreiung,  ergeben  sich  nicht  in  der  Logik  des  Fortschritts,  die 
eine  der  Herrschaft  ist,  sondern  f/;/-springen  Wwgegen  sie"^'^,  so  Thielen.  Erst  in 
der  Erkenntnis,  dass  alles  so  geblieben  ist,  wie  es  immer  war,  -  dies  die 
Perspektive  von  Dave  und  Sara  (\'gl.  S.  222),  setzt  sich  die  Voraussetzung  fiir 
ein  messianisch  gedachtes  „y\lles  wird  anders"  -  wie  es  der  erste  Satz  des 
Romans  ja  auch  als  programmatische  Hoffnung  postuliert.  „CjroB  und 
revolutioniir  ist  nur  das  Kleine,  das  >Mindere<""'"  konstatieren  Gilles  Deleuze 
und  Felix  Guattari  in  ihrem  Katlsa-Buch,  das  sich  als  Pladover  „Fiir  eine  kleine 
Literatur"  versteht. 

Dass  damit  dem  ErzJihlen  an  sich  eine  eminent  ethische  Bedeutung 
zugewiesen  wird,  kann  hicr  mit  Wrweis  auf  Isabelles  Kindhcitscrzahlung  als 


109 


Wachwerden  des  inneren  Auges  (\^gl.  S.  44)  und  der  herausragenden  RoUe  des 
Miirchens  fiir  Saras  Aufbegehren  (Vgl.  S.  224)  nur  angedeutet  werden.  Nicht 
zuletzt  ist  es  ein  Besuch  der  Theatervorstellung  von  Shakespeares  King  Lear, 
der  bei  Isabelle  mehr  Schrecken  hervorzurufen  vermag  als  der 
Vergewaltigungsversuch:  der  Biihnen-Narr  wird  zur  realen  Person,  die  Isabelle 
nach  der  Vorstellung  fluchend  verfolgt,  damit  zwischen  Wirklichkeit  und 
Fiktion,  Biihne  und  Lebenswelt  oszilliert,  nicht  fixiert  oder  verortet  werden 
kann.  Das  vom  Tod  her  gedachte  „Thou'U come  >J0  more,  never,  never,  never,  never, 
never'''  KingLears  macht  Isabelle  durch  seine  Enthiillung  der  Leere  derjetztzeit 
Angst  -  es  ist  die  Perspektive  eines  vergebhch  riickblickenden  Denkens  (\'gl.  S. 
167-169)  -  und  damit  die  der  einsetzenden  Hrinnerung.  Dieses  komplexe 
Ineinander  von  Fikdon  und  Wirklichkeit  fiihrt  im  Vergewaldgungsversuch 
auf  die  Spitze  getrieben  eine  Wirklichkeit  „im  Modus  der  Zitathaftigkeit,  der 
Fiktionalitiit,  der  Tiefenlosigkeit"'"  vor,  die  Gefahr  und  Gewalt  als 
potentiaUsierte  Fiktion  erscheinen  lasst,  eben  als  „nicht  mehr  real"  (S.  171) 
oder:  „Auch  das,  was  einem  selber  zustieB,  loste  sich  auf"  (S.  172).  \X'enn  hier 
Fikdon  miichtiger  als  gewalttiitige  Wirklichkeit  inszeniert  wird,  so  um  in  der 
Konfrontadon  die  FiktionaUtat  der  Wirklichkeit,  ihre  Oberflachenorienderung,^^ 
zu  zerbrechen.  Die  kontrastive  Perspektive  der  Opfer  -  „Schauspieler,  dachte 
Isabelle,  aber  das  war  es  nicht,  es  war  kein  Schauspiel,  nicht  tiir  )im  und  Sara" 
(S.  298)  -  verfiigt  iiber  fiktionalisicrte  Wirklichkeit  nicht  im  Sinne  der 
Distanznahme  und  F^ntwirklichung,  sondcrn  verwirklicht  das  utopische 
Potendal  der  Fiktion:  „Der  Lohn  war  die  F'reiheit,  der  Lohn  war  ein  goldener 
Schatz,  und  jeder  Wunsch  ging  in  Erfiillung"  (S.  224),  so  Saras  Marchenglaube, 
der  damit  auch  ein  Glaube  an  die  Moglichkeit  ihrer  Befreiung  ist. 

Isabelle  steht  am  Ende  des  Romans  in  [ims  schweiBdurchtrankten 
Ivlamotten  als  Benjaminscher  Lumpensammler'*'  vor  ihrem  verschlossenen 
Haus.  Die  unerbittlich  ziellose  Flaneurin  ist  zum  Stillstand,  zum  Eingedenken 
gebracht.  Doch  sie  blickt  nicht  zuriack  in  die  \'ergangenheit,  sondern  in  eine 
verriegelte  Zukunft.  Die  Beziehung  mit  Jakob  ist  zerbrochen.  „Es  wird  anders 
jetzt"  sagt  Jakob  leise  (S.  308).  Die  zicllos  tortschreitende  Zeit  ist  auch  iiber 
Jakob  und  Isabelle  hinweggegangen.  Die  I  loftnung  des  „alles  wird  anders"  — 
von  Sara  eingelost  -  findet  im  Romanende  ihren  dialektischen  Umschlag. 
„Nur  scheinbar  paradox  stehen  in  dem  Roman  gerade  die,  welche  wirklich 
Verluste  zu  beklagen  haben,  nicht  mit  leeren  Hiinden  da.  Sie  wissen,  was  sie 
besitzen,  weil  sie  verloren  haben.""" 

Erst  im  augenblickshaften  Bruch  mit  der  Kondnuitat  der  Zeit  ist  der 
Exodus  aus  der  Gefangenschatt  von  Erkenntnisblindheit  und  Gewalt  moglich. 
In  Tel  Aviv.  Eine  Stadten^hhmg  heiBt  es  schlicht:  „Zum  Beispiel  gibt  es  fast 
jeden  Tag  einen  Augenblick,  in  dem  es  moglich  ware,  beinahe  alles  zu 
verandern.""*^  Diese  diskontinuierliche  Zeitauffassung  ist  nicht  zuletzt  auch 
eine  ,,  ,geheime  Verabredung'  zwischen  den  Cjeschlechtern"'"'.  So  geht  es  im 

110 


Eingedenken  an  die  Opfer  der  Geschichtskatastrophe  weder  um 
Erinnerungsrituale  noch  um  abstraktes  Pflichtbewusstsein.  Denn  „\vahrend 
die  Beziehung  der  Gegenwart  zur  Vergangenheit  eine  rein  zeidiche  ist,  ist  die 
des  Gewesenen  zum  ]etzt  eine  dialekdsche:  nicht  zeitlicher  sondern  bildlicher 
Natur'"*  Das  Bild  des  Gewesenen  im  }etzt  der  Erkennbarkeit  und  des 
Eingedenkens,  die  Konstellation  von  \'ergangenem  und  Gegenwardgen  im 
geschichtlichen  Bild  entfaltet  „das  Ciewesene  zu  seiner  utopischen  Aktualitiit"'*^' 
macht  messianische  Jetztzeit  realisierbar.  Die  Toten  diirfen  nicht  abhanden 
kommen. 


Endnotes 

'  Deutsches  Worterbuch.  Hg.  v.  jacnb  und  \X  ilhelm  Grimm.  Bd.  4,2.  Leipzig  1877.  Sp.  77. 

^  Heike  Hermann:  Nur  ein  Stich  in  der  Seele.  In:  literaturkritik.de  10  (2006). 

'  Den  Romanzitaten  liegt  folgende  Ausgabe  zugrunde:  Katharina  Hacker:  Die  Habenichtse. 

Frankfort  a.  M.  *2006. 

"•  Hans-Ulrich   Gumbrecht:   Art.    ,Pnstmoderne'.   In:   Reallexikon   der  deutschen 

Literaturwissenschaft.  Hg.  v.  |an  Dirk  Miiller  u.a.  Bd.  III.  Berlin,  New  \brk  2003,  S.  136- 

140,  hierS.  137. 

'  Heike  Hermann:  Nur  ein  Stich  in  der  Seele  [.\nm.  II]. 

'  Hannah  .Arendt:  Walter  Benjamin.  In:  Dies.:  Menschen  in  finsteren  Zeiten.  Hg.  v.  Ursula 

I.udz.  Muinchen   1989,  S.   185-242,  hier  S.  202t'.  Damit  verdankt  Isabciie  nicht  nur  ihre 

Stellung  in  der  Agentur  der  verstorbenen  Hanna,  sondern  schlichtweg  ihre  literarische 

Existenz  Hannah  (Arendt). 

Vgl.  Heinrich  Kaulen:  Rettung  und  Destruktion.  Untersuchungen  zur  Hermeneutik 
Walter  Benjamins.Tiibingen  1987  (Studien  zur  deutschen  Literatur  94),  S.  213  Anm.  19. 
'  Vgl.  Walter  Benjamin:  Karl  Kraus.  In:  Ders.:  Gesammelte  Schriften  II. 1.  Hg.  v.  Rolf 
Tiedemann  u.  Hermann  Schweppenhauser.  Frankfurt  a.  M.  1977,  S.  334-367,  hier  S.  367. 
Die  unter  Mitwirkung  von  Theodor  W.  Adorno  und  Gershom  Scholem  von  Rolf 
Tiedemann  und  Hermann  Schweppenhauser  herausgegebenen  Gesammelten  Schriften 
Benjamins.  Frankfurt  a.  M.  1972ff.  werden  im  folgenden  zitiert  als  GS. 
'  Vgl.  Gershom  Scholem:  Die  jiidische  Mystik  in  ihren  Hauptstromungen.  Frankfurt  a. 
M.  «2004,  S.  294. 

"•  Vgl.  Peter  Szondi:  Hoffnung  im  \'ergangenen.  Uber  Walter  Benjamin.  In:  Ders.:  Schriften 
II.  Redakdon  Wolfgang  Fietkau.  Frankfurt  a.  M.  1978,  S.  278-294. 

"  Stephane  Moses:  Der  Engel  der  Geschichte.  Franz  Rosenzweig.  Walter  Benjamin. 
Gershom  Sholem.  Frankfurt  a.  M.  1994,  S.  137. 

'2  Walter  Benjamin:  Uber  den  Begriff  der  Geschichte.  In:  GS  1.2,  S.  691-704,  hier  S.  697. 
"  Ders.:  Anmerkungen  zu  ,Uber  den  Begriff  der  Geschichte'.  Benjamin-Archiv  Ms  444. 
In:GSI.3,S.  1250. 

'''  Benjamin  gestand  dabei  gerade  dem  Kind  wie  dem  Flaneur  herausragende 
mnemotechnische  Fahigkeiten  zu:  „So  memoriert  der  Flaneur  wie  ein  Kind,  so  besteht 
er  hart  wie  das  Alter  auf  seiner  Weisheit."  Walter  Benjamin:  Die  Wiederkehr  des  Flaneurs. 
In:  Ders.:  GS  III,  S.  194-199,  hier  S.  198. 

'^  „War  es  in  ihren  beiden  vorangegangenen  Romanen,  ,Der  Bademeister'  (2000)  und 
,Eine  Art  Liebe'  (2003),  noch  eindeutiger  um  die  deutsche  NS A'ergangenheit  und  deren 
Folgen  gegangen,  so  spielt  das  jetzt  nur  noch  sehr  mittelbar  eine  Rnlle.  Die  Schuld,  um 
die  es  in  dem  Roman  "Die  Habenichtse"  eigentlich  geht,  ist  unautfalliger-  und  gerade 


111 


das  macht  ihn  so  radikal.  Schuldig  werden  an  sich  selbst  und  an  anderen,  das  kann  man 

niimlich  auch,  indem  man  gar  nichts  tut  -  das  zeigt  die  traurige  Geschichte  von  Isabelle 

und  )akob."  Anne  Kraume:  So  soil  es  sein.  In:  taz  16.03.2006. 

'^  Stephane  ^foses:  Der  Engel  der  Geschichte  [Anm.  XI],  S.  159. 

'    Friedmar  Apel:  Erinnerung  und  VC'issen  bei  Saul  Friediander  und  Katharina  Hacker.  In: 

Das  Gediichinis  der  Literatur.  Konstitutionsformen  des  Vergangenen  in  der  Literatur 

des  20.  Jahrhunderts.  Hg.  v.  Alo  Allkemper  u.  Norbert  Otto  Eke.  Berlin  2006  (Zcitschrift 

fiir  dt.  Philologie.  Sonderheft  125),  S.  176  182,  hier  S.  181. 

'*  Heinz  Briiggemann:  Fenster  mit  brennender  Lampe  in  schadhafter  Mauer  —  Riiume 

und  Augenbiicke  in  Walter  Benjamins  Berliner  Kinilheit  urn  1900.  In:  Ders.:  Das  andere 

Fenster:  Einblicke  in  Hauser  und  Menschen.  Zur  Literaturgeschichte  einer  urbanen 

Wahrnehmungsform.  Frankflirt  a.  M.  1989,  S.  233-266,  hier  S.  264. 

"  Anja  Lemke:  Gedachtnisraume  des  Selbst.  Walter  Benjamms  „Berliner  Kintiheii  um 

neunzehnhundert".  Wiirzburg  2005,  S.  156. 

^°  Vgl.  Walter  Benjamin:  Altes  Spielzeug.  In:  GS  IV.  1,  S.  511515. 

"  Vgl.  Ders.:  Spielzeug  und  Spielen.  In:  GS  III,  S.  12^  132,  hier  S.  128. 

^Ebd.  S.  131. 

"  Ders.:  Altes  Spielzeug  [Anm.  XX],  S.  515. 

^*  Vgl.  hierzu  Art.  ,Had  Gadya'.  In:  Encj'clopedia  Judaica.  Bd.  7.  Jerusalem  1971,  Sp.  1048- 

1050. 

"  Vgl.  Ebd.,  Sp.  1048. 

^^  Ders.:  Franz  Kat"ka.  Zur  zehnten  W'iederkehr  seines  Todestages.  In:  GS  II. 2,  S.  409-438, 

hier  S.  432. 

'   Die  Katze,  mit  der  sowohl  Sara  (A'^gl.  S.  53)  als  auch  Mae  (Vgl.  S.  30)  identifiziert  werden, 

vergegenwartigt  fiir  Andras  nicht  zuletzt  die  jiidische  Geschichte  (A'gl.  S.  196f.). 

^^  Friedmar  Apel:  Nichts  wird  gut.  In:  FAZ  2.10.2006. 

^'  Walter  Benjamin:  Vorwort  zur  , Berliner  Ivindheit'.  ,Fassung  letzter  Hand'.  Zit.  nach: 

Bucklicht  Mannlein  und  Engel  der  Geschichte.  Walter  Benjamin.  Theoretiker  der 

Moderne.  Eine  Ausstelung  des  Werkbund  Archivs  im  Martin  Gropius-Bau  28.   12.1990 

bis  28.  April  1991.  GieBen  1990.  S.  39. 

^  Anna  Stiissi:  Erinnerung  an  die  Zukunft.  Walter  Benjamins  „Berliner  Kindheit  um 

Neunzehnhundert".  Gfittingen  1977,  S.  61. 

^'  Heinrich  Kaulen:  Rettung  und  Destruktion  [Anm.  Vll],  S.  220. 

'^  Walter  Benjamin:  Cber  den  Begriff  der  Geschichte.  Thesenanhang  A  In:  GS  1.2,  S.  704. 

'^  "The  change  of  her  name  from  the  original  Sarai  (a  princess  of  her  own  people)  to 

Sarah  devoted  that  henceforth  she  would  be  „a  princess  for  all  mankind"  (Gen.  R.  41:1). 

[. ..]  Sarah  was  originally  barren,  but  a  miracle  was  performed  to  her  after  her  name  was 

changed  from  Sarai  and  her  youth  was  restored  (Gen  R.  47:2)"  Aaron  Rothkoff:  Art. 

'Sarah'.  In:  Encyclopedia  J udaica  Bd.  14.  Jerusalem  1971,  Sp.  866-869,  hier  Sp.  868. 

^'*  Heinz  Briiggemann:  Fenster  mit  brennender  Lampe  in  schadhafter  Mauer  [Anm. 

XVIII1,S.S.250. 

''  Vgl.  den  Vergewalugungsversuch  S.  169f.,  das  Aufschlagen  Saras  auf  der  Hauswand,  das 

als  „ein  winziger  Riss"  im  Kontinuum  wahrgenommen  wird  (S.   171),  sowie  Jims 

gewalttatige  Forcierung  einer  Hilfe  fiir  Sara  (S.  273). 

"'  Jorg  Magenau  hatte  bereits  an  Hackers  Roman  Eine  Art  Uebe  die  „Erh6hung  einer 

schicksalhaften  jiidischen  Heimatlosigkeit  ins  Myihisch  Allgemeine"  kritisiert.  Vgl.  Jorg 

Magenau:  Abel  lebt,  doch  Kaim  muB  sterben.  Ein  Roman  als  Ubertragung:  Katharina 

Hackers  jiidische  Lebensgeschichte.  In:  FAZ  7.10.2003,  S.  LIO. 

^'  Walter  Benjamin:  Uber  den  Begriff  der  Geschichte.  In:  GS  1.2,  S.  693. 

'«  Ebd. 

"  Helmut  'I'hielen:  lungedenken  und  Erlosung.  Walter  Benjamin.  Wiirzburg  2005,  S.  23. 

""^  Gilles  Deleuze,  Felix  Guattari:  Kafka.  Fiir  eine  kleine  Literatur.  .\us  dem  Frz.  ubersetzt 

112 


V.  Burkliart  Kjroeber.  Frankfurt  a.  M.  1976,  S.  37. 

■"  Gerhard  Regn:  Postmodernc  iintl  Poetik  der  Oberfliiche.  In:  Postsirukturalismus  - 

Dekonstruktion  -  Postmodernc.  Hg.  v.  Klaus  W.  Hempfer.  Stuttgart   1992  (Text  und 

Kontext  9),  S.  52-74,  hier  S.  70 

"^  Zur  Oberflache  (.surface')  als  Fundierungskategorie  der  Postmoderne  vgl.  Frederic 

)ameson:  Postmoderne  —  zur  Logik  der  Kultur  im  Spatkapitalismus.  In:  Andreas  Huysen, 

Klaus  R.  Scherpe:  Postmoderne.  Zeichen  eines  strukturcllen  Wandels.  Reinbek  bei 

Hamburg  1986,  S.  45-102. 

*^  „Die  Methode  der  Verwendung  besteht  nicht  euva  im  W'egraumen,  sondern  in  der 

Verwandlung  des  Abfalls:  darin,  dass  es  gar  keinen  Abfall  gibt.  Denn  jedes  Stiick  Abfall 

kann  sich  nach  der  destruktiven  Arbeit  des  bucklicht  Mannlein  als  Monade  darstellen." 

Marianne  Schuller:  Ent-Zweit  -  Zur  Arbeit  des  „buck]icht  Mannlein"  in  Walter  Benjamins 

Berliner  Ktndheit  um  neuni(ehnhundert.  In:  Anja  Lemke,  Martin  Schierbaum  (Hgg.):  „In  die 

Hohe  fallen".  Grenzgiinge  zwischen  Literatur  und  Philosophie.  Wiirzburg  2000,  S.  141- 

149,  hier  S.  148. 

"  Friedmar  Apel:  Nichts  wird  gut  [Anm.  XXMIl]. 

'*''  Katharina  Hacker:  Tel  Aviv.  Eine  Stadterzahlung.  Frankfurt  a.  M.  ^2006,  S.  133. 

'"'  Heinrich  Kaulen:  Rettung  und  Destruktion[Anm.  MI],  S.  232. 

■*    Giorgio  Agamben:  Die  Zeit,  die  hleibt.  Ein  Kommentar  zum  Romerbrief  Frankfurt  a. 

M.  2006,S.  162. 

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15 


116 


Walking  at  the  Abyss: 

Writing  in  Crisis  and  the  Imagery  of  Walking  in  Wolfgang 
Borcherf's  DrauBen  vor  der  Tiir  and  Inge  Miiller's  Poetry 

Sonja  Wandelt 


Die  StraBe  weitergehen!  Leben  sol!  ich?  Ich  soil 
weitergehen?  (Borchert  1 9) 

Wolfgang  Borchert's  famous  post-war  drama  Dratifin  rorrt'^rT/Vr  poignantly 
expresses  the  inabilit)'  of  the  protagonist  Beckmann  to  continue  walking  and 
living  after  having  experienced  the  atrocities  of  \X  odd  War  II.  The  relentless 
struggle  of  Beckmann  to  stay  on  the  road  -  the  road  as  a  symbol  of  Life  that 
hauntingly  pervades  the  drama  —  effectively  reveals  the  feeling  of  paralysis  at 
the  moment  of  crisis.  Similarly  the  post-war  poet  Inge  MiiUer,  who  barely 
surnved  the  bombings  of  Berlin  at  the  end  of  World  War  II,  uses  the  imagery 
of  walking,  running,  and  stumbling  to  articulate  the  daily  effort  in  overcoming 
the  experience  of  crisis,  also  guilt,  and  trauma:  "FuB  vor  FuB,  muhsam"(Muller 
102).  In  both  authors'  works  the  'natural'  act  of  walking  as  a  basic  and  almost 
automatic  human  activity  has  been  disrupted  through  the  overpowering 
experience  of  war  and  death.  The  obsession  with  walking  hence  conveys  the 
writers'  traumatic  response,  but  also  attempt  to  overcome  the  trauma.  Both 
Borchert's  drama  and  Miiller's  poetry  are  precarious  walks  at  the  abyss  of 
death. 

Tlie  theme  of  walking  is  indeed  a  familiar  and  prominent  motif  in 
literary  liistory.  PhiHpp  Lopate's  essay  "The  pen  on  foot:  The  Literature  of 
Walking  Around"  and  Peter  StaUybrass'  article  "The  Mystery  of  Walking" 
provide  excellent  introductions  into  the  literature  of  walking.  The  perhaps 
most  famous  image  of  walking  is  the  nineteenth  centur)-  idea  of  the  "flaneur," 
the  contemplative  and  solitary  cit)'  stroller.'  The  more  recent  example  of  W.  G. 
Sebald's  The  Rings  of  Saturn  resonates  profoundly  with  Lopate's  interpretation 
of  the  urban  stroller:  "The  urban  connoisseur  is  also  an  archaeologist  of  the 
recently  vanished  past... Superimposed  over  the  present  edifice,  he  cannot 
help  seeing  its  former  incarnation"  (Lopate  185).  Sebald's  narrator  ventures  on 
a  walk  at  the  British  shore,  which  is  described  as  a  palimpsest  and  at  several 
moments  presents  the  narrator  with  sights  of  pasmess  and  destruction.  Similar 
to  Beckmann's  and  MiiUer's  sensation  of  paralysis  in  response  to  war  and 
death,  Sebald's  narrator  declares  ". .  .the  paralyzing  horror  that  had  come  at 


17 


various  times  when  confronted  with  the  traces  of  destruction,  reaching  far 
back  into  the  past.  Perhaps  it  was  because  of  this  that,  a  year  to  the  day  after  I 
began  my  tour,  1  was  taken  into  a  hospital  in  Norwich  in  a  state  of  almost 
immobility"  (Sebald  3).  The  ideas  of  mobilit)-,  trauma,  and  memory  are 
intricately  linked.  In  tact  Sebald  serves  as  a  valuable  point  of  connection  between 
the  more  traditional  literature  of  walking,  and  the  motif  of  walking  in  crisis. 
The  formerly  natural  act  of  walking,  which  inspires  an  engagement  with  the 
outside  world,  becomes  impossible  in  the  moment  of  crisis  and  trauma. 
Instead  the  individual  has  to  struggle  to  regain  mobility  and  to  thus  reclaim  a 
role  as  active  participant  in  life.  Sebald's  novel  presents  both  sides:  the  narrator's 
engagement  with  outside  stimulations  and  changes,  and  his  inward 
confrontation  with  anxiet}'  and  immobilit)'.  Borchert's  and  Miiller's  texts, 
however,  yet  have  to  recover  the  'natural'  ability  to  walk  and  to  face  the  outside 
world,  since  they  are  still  trapped  in  the  paralyzing  moment  of  crisis  and 
trauma. 

This  article  seeks  to  read  the  imagery  of  walldng  in  Borchert's  Dmujsen 
rorderT/ir  and  in  Inge  Miiller's  poetry  as  an  expression  of  trauma  and  as  an 
exclamation  of  the  urgent  need  for  direction  in  the  moment  of  crisis.  Shoshana 
Felman  emphasizes  the  idea  of  direction  and  traveling  in  her  book  Testimony. 
Crises  of  Witnessing  in  UteraUire,  Psychoanalysis,  and  History  \n  her  discussion  of 
Paul  Celan's  poetry,  and  Felman  reminds  readers  of  Celan's  comment:  "I  have 
written  poems. .  .so  as  to  speak,  to  orient  myself,  to  explore  where  I  was  and 
was  meant  to  go. . ."  (Felman  25)} 

In  his  work  Jenseits  des  L/istprin-:(ips  Freud  famously  proposed  that 
even  though  man's  actions  are  primarily  driven  by  a  wish  for  pleasure  fulfillment 
-  the  pleasure  principle  -  there  are  nevertheless  dreams,  events,  and  behaviors, 
which  cannot  be  explained  in  this  way^  One  of  Freud's  central  examples  is  the 
occurrence  of  traumatic  dreams.  In  the  following  discussion  of  Borchert's 
drama  it  is  worthwhile  to  keep  in  mind  that  the  English  translation  oiDraiifien 
porderTii mho  includes  the  original  subtitle  "The  Dream."  In  fact,  the  whole 
play  has  often  been  interpreted  as  a  nightmarish  dream,  and  one  might  even 
suggest  as  an  expression  of  Beckmann's  psychic  trauma. 

As  a  consequence  of  traumatic  experiences,  the  pleasure  principle  is 
put  out  of  action,  and  therefore  allows  for  traumatic  disorders.  Freud 
emphasizes  the  uncontrolled,  compulsory,  and  repetitive  nature  of  trauma, 
which  he  explains  as  an  attempt  to  master  the  stimulus  that  violendy  penetrated 
the  protective  shield  of  human  consciousness  retrospecdvely.'*  By  going  back 
to  the  moment  of  horrific  fright  and  injury,  the  patient  transforms  the  moment 
of  "Schreck"  into  a  moment  of  "Angst."'  "Diese  Traume  suchen  die 
Reizbewaltigung  unter  Angstentwicklung  nachzuholen,  deren  Unterlassung 
die  Ursache  der  traumarischen  Neurose  geworden  ist"  (Freud  32).  This  time, 
according  to  Freud,  the  inner  defense  system  is  prepared  for  the  violent 

118 


intrusion,  and  is  thus  able  "to  bind"''  its  protective  forces  and  to  confront  the 
outside  assault.  The  patient  is  therefore  able  to  transform  from  a  passive 
victim,  who  was  suddenh'  and  vioienth'  dismpted  by  external  sways,  into  an 
active  participant,  who  is  primed  for  the  aggressive  intrusion,  and  who  is 
hence  able  to  master  the  situation. 

I  am  convinced  that  this  opposition  of  passivity  and  active  agency, 
which  Freud  proposes,  will  sc^undlv  illuminate  the  reading  of  both  Borchert's 
and  Miiller's  work  and  their  obsession  with  walking  in  the  moment  f)f  crisis. 
The  original  loss  of  masten'  following  the  traumatic  experience  is  substituted 
elsewhere,  here  in  the  relentless  and  painful  desire  to  resume  the  ability  of 
walking  again. 

Between  Life  and  Death:  Wolfang  Borchert's  Dranfien  vor  der  Tiir 

W  olfgang  Borchert's  drama  Dni//fM'i/  vor  der  Tiirw^s  wntten  onl\-  two  years  after 
the  end  of  W  orld  W  ar  II  and  only  one  year  before  Borchert's  untimely  death, 
and  it  has  come  to  epitomize  the  despair  and  gloom  of  the  immediate  post- 
war years  in  Germany,  a  time  in  German  culture  that  is  remembered  as 
"Trummerliteratur."  Borchert  tells  the  story  of  a  soldier's  homecoming  to  his 
ruined  hometown  Hamburg  after  two  years  of  imprisonment  in  Russia. 
After  fmding  liis  son  dead  and  his  wife  in  the  arms  of  another  man,  Beckmann 
throws  himself  into  the  water  in  an  attempt  to  commit  suicide.  "\'et  the  river 
Elbe  tosses  him  back  out  and  tells  him  to  continue  living.  Becl-onann  ventures 
on  a  journey  to  find  what  is  left  of  his  tormer  life.  His  parents,  strong  supporters 
of  the  Nazi  regime,  committed  suicide  after  Germany's  capitulation.  Utterly 
disturbed,  Beckmann  then  seeks  to  confront  his  former  militan'  superior,  the 
colonel,  who  during  combat  assigned  Beckmann  control  over  a  group  of 
soldiers.  .Ail  of  them  died  in  battle.  Beckmann  feels  paralyzed  by  his  failure, 
and  is  overpowered  by  his  feeling  of  responsibiUtv  The  colonel,  on  the  other 
hand,  has  almost  completely  forgotten  about  the  war,  and  leads  a  prosperous 
life  with  his  family  amidst  the  ruins  of  destruction.  He  has  moved  on,  and  is 
unwilling  to  be  reminded  of  the  war  or  to  take  on  any  responsibilit}'  for  his 
actions  in  combat.  Beckmann  comes  to  realize  that  the  hometown  he  has 
returned  to  is  an  apocalyptic  world  of  horror  and  destruction,  yet  its  people 
ha\e  managed  to  adapt  and  to  continue  living.  Beckmann,  however,  quickly 
learns  that  he  does  not  fit  into  this  societ)'  anymore,  and  he  becomes  the  man 
outside  the  door. 

Dunng  his  passage  through  the  ruins  of  Hamburg,  Beckmann 
frequendy  expresses  his  inability  to  conunue  walking  and  his  desire  to  end  his 
life.  The  idea  of  stasis  is  further  emphasized  by  the  fact  that  Beckmann  has  an 
injured  leg,  which  he  calls  a  'souvenir'  from  war.  Beckmann  explains:  "Mir 
haben  sie  die  Kniescheibe  gestohlen.  In  Russland.  Und  nun  muss  ich  mit 
einem  steiten  Bein  durch  das  Leben  hinken.  Und  ich  denke  immer,  es  geht 


riickwarts  statt  vonvarts"  (Borchert  15).  Beckmann's  injury  works  as  an 
unsettling  symbol  of  the  everlasting  presence  of  the  war  in  Beckmann's  life, 
which  also  traps  him  in  a  state  of  trauma.  Beckmann,  overcome  by  grief, 
horror,  and  the  weight  of  responsibility,  often  feels  unable  to  continue  to 
walk:  "Aufstehen  mag  ich  nicht  mehr. . .  Ich  liege  auf  der  StraBe  und  sterbe.  Die 
Lunge  macht  nicht  mehr  mit,  das  Herz  macht  nicht  mehr  mit  und  die  Beine 
nicht"  (Borchert  41).  It  is  only  the  mysterious  character  "Der  Andere"  who 
pulls  Beckmann  back  onto  the  road  time  and  again:  "Komm,  die  StraBe  ist 
hier  oben"  (Borchert  23),  "Komm,  hier  ist  deine  StraBe"  (Borchert  34), 
"Komm,  bleib  oben,  deine  StraBe  ist  noch  lang"  (Borchert  38). 

Beckmann's  walk  through  his  ruined  hometown  is  a  journey  in  a 
realm  between  life  and  death.  Borchert  evokes  the  struggle  of  an  individual 
torn  between  the  drive  to  live  and  the  desire  to  die  in  an  almost  dream-like 
state.  The  ending  of  the  drama  is  unresolved.  It  is  unclear  whether  Beckmann 
ultimately  decides  to  end  his  life  or  to  take  on  the  challenge  of  staying  on  the 
road  and  thus  to  Uve.  The  enigmatic  qualitv  of  the  play's  characters  and  motifs 
invited  ven  diverse  interpretations  from  hope  to  complete  despair.  This  article 
attempts  to  iUuminate  the  overall  drama  through  ps\choanal\tic  trauma  theor}', 
and  thus  reads  the  plav  as  the  expression  of  post-traumatic  disorder,  a  reading, 
which  is  supported  by  the  dream-like  quality  of  the  text  and  on  the  micro-level 
most  poignantly  bv  the  image  of  walking.  Beckmann  is  tormented  by  his 
constant  struggle  to  walk  and  explains  his  first  suicide  attempt  in  the  following 
way:  "Ich  konnte  es  nicht  mehr  aushalten  dieses  Gehumpel  und  Gehinke" 
(Borchert  14). 

In  his  work,  Freud  stresses  the  notion  of  involuntan'  repetition- 
compulsion  as  a  sign  of  traumatic  disorder.  Interestingly,  Borchert's  drama 
makes  incessant  use  of  various  repetition  devices  both  on  a  structural  level, 
and  also  in  language.  Beckmann  repeatedly  faces  similar  challenges  and  is  literally 
left  standing  outside  the  door  several  times.  He  stands  before  closed  doors, 
when  he  returns  to  his  wife,  he  stands  outside  the  apartment  building  his 
parents  formerly  lived  in  and  faces  a  closed  door,  and  finally  he  is  left  standing 
outside  the  colonel's  house.  Furthermore,  the  character  Beckmann  is  doubled 
by  a  similarly  suicidal  one-legged  soldier,  wh(j  on  his  return  home  from  Russia 
finds  his  wife  with  another  man,  and  then  commits  suicide.  So  not  only  does 
die  audience  follow  Beckmann's  struggle  of  experiencing  the  same  challenges 
over  and  over  in  the  play,  but  this  story  is  even  repeated  in  the  life  of  another 
character,  another  Beckmann.  The  use  of  repetidon  is  even  more  salient  in 
Borchert's  language.  "Der  Andere"  is  Beckmann's  constant  companion 
throughout  the  play,  yet  the  dialogue  between  these  two  characters  changes 
very  litde  in  the  course  of  the  play.  Beckmann  incessantly  utters  his  wish  to 
leave  the  road  and  to  commit  suicide,  while  "der  Andere"  constandy  forces 
Beckmann  to  return  to  the  road.  The  speeches  of  both  characters  vary  only 

120 


little,  and  are  often  direct  repetitions  of  previous  statements. 

The  enigmatic  and  interesting  character  in  Borchert's  play  is  "Der 
Andere,"  who  functions  as  Beckmann's  lite  force.  "Der  Andere"  is  described  as 
having  no  face,  onlv  Beckmann  can  see  or  sense  him,  and  nobody  else.  "Der 
Andere"  constantlv  repeats  his  commands  to  continue  on  the  road:  "Steh  auf, 
sag  ich!  LebeI...Komm  Beckmann,  du  musst  weiter"  (Borchert  41).  While 
Beckmann  continuously  threatens  to  kill  himself,  the  character  "Der  Andere" 
is  an  active  force  trying  to  keep  Beckmann  alive  and  walking.  In  the  context  of 
Freud's  trauma  theory  I  would  argue  for  two  possible  explanations  of  "Der 
Andere."  Beckmann  is  overpowered  by  the  trauma  of  war,  imprisonment, 
guilt,  and  desolation.  His  only  desire  is  to  die,  to  follow  his  death  drive 
("Thanatos").  "Der  Andere,"  on  the  other  hand,  comes  to  represent  what 
Freud  calls  "Eros,"  or  the  life  instinct.  In  the  moment  of  crisis  and  trauma  the 
split  and  conflict  between  these  two  separate  instincts  is  visibly  revealed. 
Furthermore  "Der  Andere"  has  still  preserved  his  agency,  which  Beckmann 
through  the  experience  of  trauma  has  lost.  Remember  Freud's  statement  that 
traumatic  responses  are  an  attempt  to  regain  the  previously  lost  sense  of 
master\-  at  the  moment  of  shock.  Beckmann  is  trapped  in  a  position  of 
passivit\",  emphasized  through  the  imagery  of  his  inability  to  walk  and  his 
injured  leg  His  repetitive-compulsive  response  in  relentlessly  confronting  a 
voice  within  him  that  calls  him  to  cc^ntinue  walking  thus  functions  as 
Beckmann's  effort  to  overcome  passivity  and  to  become  an  acting  subject 
again.  At  the  end  of  the  play  the  character  "Der  Andere"  has  disappeared,  and 
Beckmann  shouts:  "W'b  bist  du,  Anderer?  Du  bist  doch  sonst  immer  da!" 
(Borchert  54).  Even  in  a  reading  through  the  lens  of  psychoanalytic  trauma 
theory,  the  ending  remains  ambiguous  and  inconclusive.  The  disappearance 
of  "Der  Andere"  can  be  read  as  Beckmann's  final  recovery  of  mastery  and 
agency,  or  as  the  triumph  of  his  death  drive  and  Beckmann's  ultimate  death. 


Inge  Miiller:  "FuB  vor  FuB"  -  Writing  and  Walking  at  the  Abyss 

The  poet  Inge  Miiller  never  received  full  attention  or  appreciation  tor  her 
powerful  literan'  wcjrk  during  her  lifetime,  and  literan'  scholars  have  on\\  recendy 
rediscovered  Inge  Miiller's  poetry.  Her  first  collected  poetry  edition  W enn  ich 
schoti  sterben  wnjs'yyi?,  published  in  1985,  almost  nventy  years  after  her  death. 
Usually,  discussions  of  Inge  Miiller's  poetry  follow  her  biography  very  closely; 
and,  indeed,  Mi^iller's  poetry  is  intensely  informed  by  her  private  life.  The  lyrical 
voice  of  Miiller  explicitl\'  refers  to  her  parents,  her  childhood,  and  her  traumatic 
experiences  of  death  and  devastation  dunng  the  war.  During  the  bombing  of 
Berlin  Inge  Miiller  was  buried  under  the  nibble  of  a  collapsed  house  for 
almost  three  days.  Wlien  she  was  finally  rescued,  she  found  her  parents  dead. 
Intimate  moments  in  her  tailed  marriage  to  the  renowned  poet  1  ieiner  Miiller 

121 


can  equally  be  traced  in  her  writings.  Most  prominently,  however,  scholars 
relate  her  poetr)'  to  her  final  suicide  in  1966  at  the  age  of  41  years.  Her  ample 
use  of  death  imageries  throughout  her  poems  unquestionably  invites  this 
reading,  and  Miiller's  poetry  indeed  depicts  a  constant  struggle  between  life 
and  death.  "Die  Gedichte  geraten  zu  Experimenten  auf  Leben  und  Tod," 
according  to  one  critic  (Heydrich  823).  Inge  Miiller's  mode  of  writing  has  also 
been  compared  to  the  work  of  the  better-known  American  poet  Sylvia  Plath, 
who  is  often  understood  as  a  representative  of  "confessional"  poetry.  Plath's 
now  almost  legendary  suicide  in  1963,  only  three  years  before  Miiller's  death 
(also  dirough  gas),  forms  a  very  apparent,  yet  also  uncanny,  point  of  comparison 
between  these  two  otherwise  ver)'  different  woman  writers. 

However  this  analysis  of  Miiller's  poetry  will  try  to  avoid  interpreting 
her  texts  exclusively  as  ominous  prophecies  oi  her  seemingly  inevitable  suicide. 
Instead  the  focus  will  be  on  Miiller's  engagement  with  her  own  history,  her 
past,  but  also  her  wish  for  a  future  and  her  relentless  quest  to  regain  agency, 
which  is  expressed  in  the  frequent  motif  of  walking.  Inge  Miiller's  poetry  will 
be  read  as  the  expression  of  personal  trauma,  and  as  the  compulsor}'  repetition 
of  loss.  Miiller  ceaselessly  stumbles  and  falls,  but  does  not  give  up  in  her 
attempt  to  walk.  While  the  poet  Miiller  realizes  the  paralysis  caused  by  her 
traumatic  experience  of  the  war  (and  this  also  includes  the  acknowledgment 
of  responsibility  and  guilt),  her  poetr}'  manifests  the  insistent  attempt  to 
regain  her  mobility  in  order  to  be  able  to  live. 

MiiUer  writes:  "Schreiben  wollt  ich...Weitergehn"  (Miiller  41).  To 
Inge  Miiller  the  act  of  writing  manifests  a  processing  of  history,  a  moving  on, 
or  as  the  above  quote  suggests  a  'walking  on'  from  death  and  despair.  Her  text 
acts  as  an  exclamadon  of  unsettling  grief  and  agony,  and  as  a  confrontation 
with  her  traumatically  overpowering  experience  of  survival.  Her  poetry  can 
hence  be  perceived  as  an  attempt  to  recuperate  her  lost  sense  of  mastery, 
control,  and  identit);  and  to  regain  the  illusion  of  completeness,  and  also  as  an 
endeavor  to  affirm  life  and  survival.  "Mit  Gedichten  entwirft  sich  Inge  Miiller 
die  Vergewisserung  zu  leben,"  contends  Jiirgen  Verdofsky  in  his  analysis  of 
Miiller's  poetry  (Verdofsky  196).  And  Verdofsky  condnues  with  the  chillingly 
fitting  image:  "sie  schreibt  um  ihr  Leben"  (Verdofsky  1 97).  MiiUer  realizes  the 
importance  of  writing  and  expression  for  her  own  life  in  the  poem  "Stufen," 
and  in  a  voice  of  defeat  she  calls  out:  "Jetzt  werd  ich  nicht  mehr  schreien  -  DaB 
ich  nicht  ersticke  am  Leisesein!"  (Miiller  113).  Thus,  the  capitulation  of 
articulating  and  actively  engaging  with  trauma  through  writing  is  equal  to  a 
suffocating  surrender  and  to  ultimate  death.  In  contrast,  poetr\'  means  life: 
"Leben,  (Leben.)  Leben."  (Miiller  32).  Yet  it  is  still  only  life  in  parentheses,  that 
is,  life  full  of  uncertainties,  complexides,  and  ambiguities. 

Traumadc  infractions  initiate  a  lasting  sense  of  passi\'it)'  and  conquest 
in  the  consequend}'  objectified  individual  (the  \actim  or  patient),  asserts 

122 


Sigmund  Freud  in  his  discussion  of  trauma.  The  insistent  return  of  traumatic 
responses  is  then  explained  as  the  urgent  wish  and  desire  to  master  the  violent 
stimulus  retrospectiveh;  and  to  regain  control  and  mastery.  Accordingly,  Miiller's 
poetry  similar  to  Borchert's  drama  can  be  read  as  a  struggle  to  reclaim  agency, 
and  to  rediscover  her  lost  identity.  A  vivid  example  of  this  process  is  her  poem 
"Unterm  Schutt  III,"  in  which  she  remembers  the  pivotal  moment  of  sudden, 
traumatic  disruption,  when  a  house  collapsed  on  her  and  left  her  buried  under 
the  rubble  and  trembling  for  survival  for  three  days: 

Als  ich  W'asser  holte  fiel  ein  I  laus  auf  mich 

W'ir  haben  das  Haus  getragen 

Der  vergessene  Hund  und  ich. 

Fragt  mich  nicht  wie 

Ich  erinnere  mich  nicht. 

Fragt  den  Hund  wie.  (Miiller  23) 
In  this  remembrance  of  her  ven'  personal  traumatic  experience  Inge  Miiller 
substantially  changes  her  own  role  in  the  event.  No  longer  is  it  the  rubble  of 
the  collapsed  house  that  almost  crashed  her  to  death.  Instead,  Miiller  recounts 
how  she  and  a  dog  that  was  trapped  in  the  debris  with  her  carried  the  house 
until  their  final  rescue.  Thereby  Miiller  transforms  herself  from  the  (inactive 
and  defenseless)  object  of  the  event  into  a  participating  and  vigorous  subject. 
Hence  she  is  able  to  master  the  formerh-  overpowering  stimulus  retrospectively. 
The  motif  of  wallcing  works  in  a  \er\-  similar  way. 

The  conflict  or  dichotomv  between  the  subject's  passivity  and  active 
control  is  compellingly  captured  in  the  metaphor  of  walking  and  running, 
which  develops  into  a  key  motif  in  Miiller's  work.  j\lready  on  the  most  basic 
level  the  idea  of  walking  suggests  vivacit\',  movement,  and  implies  an  acting 
subject.  Thus,  MiiUer's  relendess,  almost  obsessive  declarations  of  her  abilit}' 
to  walk,  but  oftentimes  also  her  struggle  to  do  so  ("W'enn  ich  stolpern  muB"), 
become  expressions  of  her  survival,  her  desire  to  recover  control,  and  her 
resolution  to  continue  living,  to  move  beyond  and  free  herself  from  the  tight 
grip  of  her  suffocating  past.  Several  poems  adopt  this  motif  in  their  titles, 
"Gehn,"  "Mein  FuB,"  "Stufen,"  or  "Bergsteigen".  The  list  of  references  to 
walking  within  the  poems  is  extensive:  "Ich  lief  und  lief,"  "weitergehn,"  "von 
SchwJiche  starke  Beine,  meine,  tragen  mich  herum,"  "Die  Beine  heben  sich 
wieder  /  Rennen,"  "der  erste  Schritt,"  "im  Laufen  um  nicht  aufzugeben," 
"Und  ging  FuB  vor  FuB  wie  aUe  gehn,"  "sonst  geht  er  nicht,  der  Ful^,"  "Laufen 
hab  ich  gelernt."  Every  single  step  becomes  a  challenge  and  a  struggle  for 
Miiller,  "FuB  vor  FuB  miihsam"  (Miiller  102).  The  phrase  "FuB  vor  FuB," 
which  implies  the  constant  awareness  of  ever\'  single  step,  appears  in  several  of 
MiiUer's  poems.  In  the  poem  "Tag"  the  narrator  of  the  poem  describes  her 
daily  routine,  and  begins:  "AuRvachen.  Aufstehen  /  Den  FuB  vors  Bett  /  Mut 
oder  Unlust  /  Konzentrieren"  (Miiller  74).  Oftentimes,  Miiller  expresses  her 

123 


resignation  and  her  surrender:  "Laufen  will  ich  niciit  mehr"  (Miiller  101).  The 
image  of  walking  and  running  hence  becomes  a  metaphor  of  Life  and  survival, 
the  inability  to  walk  on  the  other  hand  a  poignant  symbol  of  death,  yet 
ultimately  also  liberation  from  the  controlling  presence  of  trauma.  In  the 
poem  "Der  schwarze  VX'agen"  Aluller  creates  the  picture  of  a  black  carriage  -  a 
traditional  metaphor  of  death  -  that  comes  to  take  people's  lives.  Only  those, 
who  are  able  to  run  away  quickly,  will  survive:  "L'nd  wer  allein  nicht  laufen 
kann  /  Den  nimmt  der  Wagen  mit"  (Miiller  24).  The  dichotomy  of  active 
involvement,  which  life  demands,  and  the  passivity  of  death  and  trauma 
represents  a  perpetual  conflict  to  Miiller.  "Was  liiuft  bin  ich  /  Was  fallt  bin  auch 
ich,"  declares  the  poet  (Miiller  120).  Midler's  poems  illustrate  the  language  of 
trauma:  the  tormenting  tension  between  life  and  death,  the  uncontrolled,  yet 
relentless  return  to  the  moment  of  crisis,  and  her  attempt  to  overcome  her 
passivit)',  as  indicated  in  the  frequent  references  to  walking. 

The  motif  of  walking  in  literature  has  a  long  histor\'  and  has  taken 
ver)'  different  shapes.  This  article  invites  to  look  at  the  imager\'  of  walking  in 
literature  of  crisis  through  a  psychoanalytic  reading  of  trauma  theory.  Freud's 
concepts  of  trauma,  repetition-compulsion,  and  his  dichotomy  of  Thanatos 
and  Eros  serve  as  focal  points  in  the  analysis  of  both  Borchert's  and  Miiller's 
work.  Both  texts  reveal  the  protagonist's  or  narrator's  fragile  state  at  the  abyss 
of  death,  which  is  expressed  in  their  obsession  and  at  the  same  time  difficulty 
to  walk.  Miiller  reminds  readers  in  one  of  her  poems:  "Ich  lief  und  lief.  Wer 
kann  im  Laufen  weinen?"  (Miiller  13). 


Endnotes 

'  In  his  essay  "On  Some  Motifs  in  Baudelaire"  Walter  Benjamin  explores  the  image  of 
the  'flaneur'  in  Baudelaire's  poetry  in  relation  to  the  emerging  phenomenon  of  the 
crowd  in  urban  settings.  Benjamin  illustrates  both  the  fascination  and  at  the  same  time 
repulsion  of  the  individual  stroller  with  the  crowd.  Other  intriguing  texts  in  this 
context  are  Edgar  Allan  Poe's  story  "A  Man  of  the  Crowd,"  Walt  Whitman's  poem  "City 
of  Orgies,"  James  Joyce's  Ulysses,  or  Virginia  Woolf's  Mrs.  Dalloivay 

^  In  recent  years  the  study  of  memory  and  also  trauma  has  attracted  increasing  attention, 
and  the  concept  of  trauma  has  gradually  moved  from  a  merely  clinical  term  to  a  cultural 
notion.  Influential  texts  on  contemporary'  trauma  studies  are  the  essay  collection  Trauma. 
Explorations  in  Ahmory,  published  by  Cathy  Caruth  in  1995,  and  Caruth's  study  Unclaimed 
Experience.  Trauma,  Narralive,  and  History,  published  in  1996.  Cathy  Caruth  emphasizes  the 
strong  bond  of  trauma  and  (modern)  history;  "if  PTSD  [I'ost  Traumatic  Stress  Disorder] 
must  be  understood  as  a  pathological  symptom,  then  it  is  not  so  much  a  symptom  of  the 
unconscious,  as  it  is  a  symptom  of  history"  (Caruth,  Trauma  5).  Both  of  Caruth's  works 
are  heavily  indebted  to  Freud's  Jenseits  des  Lustpnnt^ips,  which  was  written  in  1920.  Freud's 
psychoanalytic  approach  to  the  phenomenon  of  trauma  has  had  immense  and  enduring 
impact  on  the  study  of  traumatic  neuroses  in  all  fields.  In  her  book  Trauma.  A  Genealogy 
the    author    Ruth    Leys    declares    Sigmund    Freud    as    a    "founding    figure    in    the 

124 


conceptualization  of  trauma"  (Leys  18). 

'  In  this  context  Freud  devised  his  now  legendarv  dichotomy  of  ibaiiatns  and  ens. 
■*  Freud  suggests  the  idea  of  a  protective  shield  against  harmful  outside  excitations  and 
influences  which  he  regards  as  a  vital  part  of  the  Living  human  being.  He  sees  this  image 
supported  in  anatomic  studies  of  the  brain,  which  locate  the  human  consciousness  at 
the  outermost  layer  of  the  brain.  See:  Sigmund  Freud,  "jenseits  des  Lustprinzips," 
Gesammelte  Schriften  (Drei^ebuler  hand)  (Frankfurt:  S.  Fischer  \'erlag,  1963)  23:  "Es  muss  an 
der  Grenze  von  auBen  und  innen  liegen,  der  AuBenwelt  zugekehrt  sein  und  die  anderen 
psychischen  Systeme  umhiillen." 

''  Earlier  in  the  text,  Freud  suggested  that  only  "Schreck"  (fright),  namely  the  abruptness 
and  thus  unexpectedness  of  an  event  could  cause  trauma.  The  integral  defense 
mechanism  is  subdued,  if  it  is  not  given  enough  time  to  evaluate  the  stimuli,  and  hence 
not  able  to  prepare  for  them.  According  to  Freud,  once  this  vital  shield  is  violently 
penetrated  from  outside,  trauma  results:  Solche  Erregungen  von  auBen,  die  stark  genug 
sind,  den  Reizschutz  zu  durchbrechen,  heiBen  wir  traumatische...Ein  Vorkommnis 
wie  das  aufiere  Trauma  wird  gewiB  eine  groBartige  Storung  im  Energiebetrieb  des 
Organismus  her\'orrufen  und  alle  Abwehrmittel  in  Bewegung  setzen.  Aber  das  Lustprinzip 
ist  dabei  zunachst  auBer  I<Lraft  gesetzt.  (Freud  29) 
*"  Cp.  Freud's  frequent  usage  of  "Bindung." 


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125 


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126 


Jenseits  des  Organischen. 

Schkiermachers  religiose  Geselligkeit  ^viscben  ,,natiirlicher 

]/erbindung'  und  Institutionalitdt 

Thomas  Bdumler 


Eine  Politiscbe  Kowciiitik  hat  es  nie  gegeben:  So  jedenfaOs  lieBe  sich  Carl  Schmitts 
gleichnamige  Polemik  von  1919  zusammenfassen.'  „In  den 
Selbstbespiegelungen  der  Romantiker  liegt  so  wenig  eine  Sell:)Stobjektivienjng, 
wie  in  ihrer  Gemeinschai:tsphilosophie  ein  politischer  Gedanke  oder  in  ihren 
geschichtlichen  Konstrukrionen  eine  Synthese."^  Dem  Romantiker  sei  „Politik 
(...)  so  fremd  wie  Moral  oder  Logik."^  Dieses  vemichtende  Urteil  hat  fiir  Schmitt 
seinen  Grund  in  einer  romantischen  Privilegierung  der  „unendlichen 
Moglichkeiten"  vor  der  „Bestimmtheit"  der  konkreten  Entscheidung.  Die 
Romantiker  zogen,  so  Schmitt,  „den  Zustand  ewigen  Werdens  und  nie  sich 
voUendender  Moglichkeiten  (...)  der  Beschranktheit  konkreter  W'irklichkeit  vor. 
Denn  realisiert  wird  ja  immer  nur  eine  der  unzjihligen  Moglichkeiten,  im 
AugenbUck  der  Realisierung  sind  alle  andern  unendlichen  Moglichkeiten 
prakludiert.'"'  Entscheidung  sei  also  nicht  moglich,  ohne  die  „romantische 
Situation  aufzugeben."'  Politik  aber  heiBt  fiir  Schmitt  genau  dieses: 
Entscheidung,  Setzung,  Realisierung. 

NaturgemaB  haben  die  Romantiker  selbst  ihre  politische  Bedeutung 
ganz  anders  eingeschiitzt.  Nach  dem  \'erlust  der  traditionalen 
Legitimationsmuster  sozialer  und  p(jlitischer  Ordnung  durch  die  Franzosische 
Revolution  sahen  sie  in  der  Sozialphilosophie  unvermittelt  ihre  literarischen 
Kompetenzen  wie  Phantasie,  EinbUdungskraft  und  das  Experimentieren  mit 
Formen,  gefragt.  So  waren  etwa  die  iisthetischen  Religionsvisionen  der 
Friihromantiker,  wie  sie  sich  in  Friedrich  Schlegels  „Projekt  einer  literarischen 
Bibel"^  oder  in  Novalis  Die  Christenheit  oderEuropa  ausdriickten,  angesichts 
eines  durch  den  Zusammenbruch  alter  Ordnungen  auseinander  faUenden 
und  von  den  Revolutionskriegen  heimgesuchten  Europas,  im  Sinne  ihrer 
Zielsetzungen  von  neuer  Einheitsstiftung  und  Homogenisierung  keineswegs 
unpoUtisch  gemeint.  „Europa  soil  durch  die  Religion  vereinigt  werden,  aber 
Europa  wird  fiir  die  nachsten  Generationen  nur  in  der  Deutschen  Schule 
vorhanden  seyn",  heiBt  es  etwa  in  einer  Notiz  Schlegels,  die  zugleich  anzeigt, 
welche  Rolle  sich  gerade  deutsche  Literaten  bei  diesen  literarischen 
Revolutionsprojekten  zuschrieben.  Man  verstieg  sich  bisweilen  zu  der 
Uberzeugung,  auf  lange  Sicht  die  Franzosische  Revolution  an  Wirkmachtigkeit 


127 


gar  ubertreffen  zu  konnen.  „Die  heilige  Revolution"**  der  Friihromantik  hatte 
ihren  Ausloser  dabei  auch  in  der  zunehmenden  Ausdifferenzieaing  einzelner 
Lebensbereiche.  Die  damit  einhergehende  „Segmentierung  und  Partialisierung 
der  Menschen  unter  den  Bedingungen  der  arbeitsteiJig-spezialisierten  (. . .) 
Gesellschaft""  lieB  Re-lntegrationsbemiihungen  als  das  Gebot  der  Stunde 
erscheinen.  Unter  dem  Dach  der  Religion,  so  wollten  es  die  Friihromantiker, 
sollte  sowohl  Europa  seine  kulturelJe  Einheit  wieder  finden,  als  auch  der 
einzebe  Mensch  als  „ganzer  Mcnsch'""  wieder  zu  sich  selbst  kommen,  „jenseits 
aller  utilitaren  Zwecksetzungen"." 

Matala  de  Mazza  hat  in  ihrer  Studie  Der  vetfasste  Korperversucht,  die 
politischen  Ambitionen  der  Romantiker  ernst  zu  nehmen.'-  Dabei  hat  sie  das 
Politische'^  der  romantischen  Schriften  jedoch  nicht  in  einer  vagen 
„Umgestaltung  der  Religion"'**  ausgemacht,  sondern  priiziser  in  einer  diese 
Schriften  durchziehenden  Um-Schreibung„des  christlichen  Gedankens  einer 
Leibeinheit"'^  zur  romantischen  „Idee  einer  naturalen  Gemeinschaft  als 
Korper"."'  Die  Bilder  dieses  idealen  Kollektivkorpers  wurden  dabei  in  enger 
Aniehnung  an  das  „i\Iodell  des  Organismus"  entwickelt,  das  die 
„biomedizinischen  Wissenschaften"  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
bereitsteUten.''  Damit  sollte  dieser  kollektive  Korper  als  „soziales  Doppel" 
des  ,ganzen  Menschen'  ausgewiesen"^  und  seine  „Korperlichkeit"  zudem 
naturwissenschaftlich  fundiert  werden.'-  Carl  Schmitt  hat  auch  im 
Organismusgedanken  nur  ein  Ausweichen  der  Romantiker  in  ein  "hoheres 
Drittes"  gesehen,  das  Gegensiitze  auflieben  und  damit  Entscheidung  unnotig 
machen  sollte.''^  Anders  gewendet  lasst  sich  die  Politische  Romantik  aber  vor 
diesem  Hintergrund  auch  als  ein  Projekt  auffassen,  das  die  (Re-)Naturalisierung 
der  sozialen  Ordnung  als  Versuch  einer  Antwort  auf  die 
Kontingenzerfahrungen  der  Franzosischen  Revoludon  betrieb. 

Schleiermachers  bekannte  Rede//  liber  die  Religion  an  die  Gebildeten  unter 
ihren  Verdchtern  von  1799  sind  im  Kontext  dieser  „heiligen  Revolution"  der 
Friihromantik  entstanden.''  Das  darin  entwickelte  Konzept  religioser 
Geselligkeit  partizipiert  dabei  augenfallig  am  genannten 
,Naturalisierungsprojekt'.  Der  vorliegende  Aufsatz  will  jedoch  zeigen,  wie 
Schleiermachers  Arbeit  an  der  Naturalisierung  des  Sozialen  von  Ansatzen  eines 
kulturalistischen  Institutionendenkens  durchkreuzt  wird,  das  sich  mit  dem 
Modell  des  natiirlichen  Organismus  nur  schwer  vertragt,  und  Schleiermacher 
statt  dessen  in  eine  iaberraschende  Nahe  zur  dezidiert  anti-romandschen 
negadven  Anthropologic  eines  Cari  Schmitt  und  Arnold  Gehlen  riickt. 
Von  diesem  Befund  ausgehend  wird  die  Frage  zu  stellen  sein,  ob  eine 
Reduzierung  der  Polidschen  Romandk  insgesamt  auf  ein  Ausweichen  vor  der 
Entscheidung  einerseits  oder  auf  (Re-)Naturalisierungsbemuhungen  des 
Sozialen  andererseits  der  „Gleichurspriinglichkeit  von  Romandk  und  polidscher 
Moderne"-'  tatsachlich  angemessen  Rechnung  tragt. 

128 


I. 

Schleiermachers  Re(Je/!  reagieren  auf  gleich  zwei  Revolutionen.  Xeben  der 
Franzosischen  Revolution  sind  sie  vor  allem  gepragt  von  der  epistemologischen 
Revolution  Kants.  Dessen  „vollstandige  Destruktion  der  abendliindischen 
Metaphvsik"  hatte  den  ,Gottesgedanken'  „aus  dem  Bereich  moglicher 
Erkenntnis  ausgeschlossen"^^  und  damit  „Ontotheologie"  praktisch  unmoglich 
gemacht.""*  Schleiermacher  unternimmt  daher  in  seinen  Reden  den  Versuch,  die 
Religion  aus  der  W'ahrheitsfrage  ganzlich  herauszuhalten,  indem  er  ihr  Wesen 
als  vollig  unabhangig  von  Metaphvsik  und  Moral  bestimmt  und  stattdessen 
im  „unmittelbaren,  erlebnismiiBigen  Umgang  des  Menschen  mit  dem 
Absoluten"-''  situiert.  In  der  P^jlge  wird  „Gefuhl"  im  Gegensatz  zu  „\X  issen" 
zu  einer  zentralen  Kategorie  der  Religion.''' 

[Die  Religion]  begehrt  nicht,  das  Universum  seiner  Natur  nach  zu 

bestimmen  und  zu  erkliiren  wie  die  Metaphvsik,  sie  begehrt  nicht, 

aus  Kraft  der  Freiheit  und  der  gottlichen  Willkiir  des  Menschen  es 

fortzubilden  und  fertig  zu  machen  wie  die  Moral.  Ihr  Wesen  ist 

weder  Denken  noch  Handeln,  sondern  Anschauung  und  Gefiihl. 

Anschauen  wiU  sie  das  Universum,  in  seinen  eigenen  Darstellungen 

und  Ilandlungen  will  sie  es  andachtig  belauschen,  von  seinen 

unmittelbarcn  Eintliissen  will  sie  sich  in  kindlicher  Passintat  ergreifen 

und  erfiillen  lassen.  (...)  sie  will  im  Menschen  nicht  weniger  als  in 

allem  andern  F.inzelnen  und  Imdlichen  das  L  nendliche  sehen,  dessen 

Abdruck,  dessen  Darstellung.' 

Die  religiose  Anschauung  als  „das  unmittelbare  Transparentwerden  des 

Endlichen  ftir  das  L'nendliche"^''  ist  dabei  in  ihrem  Kern  als  eine  hoch 

individuelle,  subjektive  und  priisentische  Angelegenheit  eines  Ich  konzipiert, 

die  sich  weder  in  einer  philosophisch-theologischen  Systematik,  noch  auch 

nur  in  W'brte  fassen  lasst: 

Anschauung  ist  und  bleibt  immer  etwas  Einzelnes,  Abgesondcrtes, 
die  unmittelbare  W  ahrnehmung,  weiter  nichts;  sie  zu  verbinden  und 
in  ein  Ganzes  zusammenzustellen,  ist  schon  wieder  nicht  das 
Geschaft  des  Sinnes,  sondern  des  abstrakten  Denkens.  So  die 
ReUgion;  bei  den  unmittelbaren  Erfahrungen  vom  Dasein  und 
Handeln  des  Universums,  bei  den  einzelnen  Anschauungen  und 
Gefiihlen  bleibt  sie  stehen  (...).  Ein  System  von  Anschauungen, 
konnt  Ihr  Euch  selbst  er^vas  W'underLicheres  denken?  Lassen  sich 
Ansichten,  und  gar  j\nsichten  des  L  nendlichen  in  ein  System  bringen? 
Konnt  Ihr  sagen,  man  muB  dieses  so  sehen,  weil  man  jenes  so 
sehen  muBte?  Dicht  hinter  Euch,  dicht  neben  Euch  mag  einer  stehen, 
und  alles  kann  ihm  anders  erscheinen.-" 
In  einem  solchen  Religionskonzept,  so  konnte  man  meinen,  ist  eigentlich 
kein  Platz  tiir  eine  allgemein  verbindliche  Reprasentation  des  rcligiosen 

129 


Gegenstandes.  „leder  Mensch"  triigt  hier  „eine  religiose  Welt  in  sich,  und 
keine"  gleicht  der  anderen.*'  Aber  auch  das  individuell-prasentische  religiose 
Erleben  selbst  entzieht  sich  seiner  Natur  nach  der  adaquaten 
Kommunizierbarkeit.  Und  doch  ist  Schleiermacher  als  Frlihromantiker  auch 
und  vor  alkm  an  Kommunikation  und  Gemeinschattsstittung  interessiert. 
Es  ist  nun  eine  besondere  Pointe  der  vierten  Rede,  wenn  Sclileiermacher  gerade 
aus  dem  individueU-mvsdschen  Charakter  der  religiosen  Erfahrung  religiose 
Mitteilung  und  Gemeinschaftsbildung  als  anthropologische  Notwendigkeiten 
ableitet. 

Ist  die  Religion  einmal,  so  muB  sie  notwendig  auch  gesellig  sein:  es 
liegt  in  der  Natur  des  Menschen  nicht  nur,  sondern  auch  ganz 
vorziiglich  in  der  ihrigen.  (...)  In  der  bestandigen  (...)  Wechseluirkung, 
worin  er  mit  den  iibrigen  seiner  Gattung  steht,  soU  er  alles  auBern 
und  mitteilen,  was  in  ihm  ist,  und  je  hettiger  ihn  etwas  bewegt,  je 
iruiiger  es  sein  Wesen  durchdringt,  desto  starker  wirkt  auch  der  Trieb, 
die  Kraft  desselben  auch  auBer  sich  an  andern  anzuschauen,  um  sich 
vor  sich  selbst  zu  legidmieren,  daB  ihm  nichts  als  Menschliches 
begegnet  sei.  (...) 

was  zu  seinen  Sinnen  eingeht,  was  seine  Gefiihie  aufregt,  dariiber 

will  er  Zeugen,  daran  will  er  Teilnehmer  haben.  (...)  W'ie  sollte  er 

gerade  das  in  sich  testhaltcn  wollen,  was  ihn  am  stiirksten  aus  sich 

heraustreibt  und  ihm  nichts  s(j  sehr  einpriigt  als  dieses,  daB  er  sich 

selbst  aus  sich  aUein  nicht  erkennen  kann?'' 

Schleiermachers  religioser  Mensch  setzt  sich  ins  \  erhaltnis  zu  anderen  aus 

einer  epistemologischen  Krise  heraus.  Am  Beginn  der  religiosen  Mitteilung 

steht  ein  anthropologischer  Mangel.  Das  unbeherrschbar  Uberwaltigende  der 

mystischen  Erfahrung  ist  es,  was  ihn  zum  Reden  treibt,  denn  was  ihn  in  der 

religiosen  Schau  „bewegt",  bleibt  ihm  zunachst  selbst  dunkel,  ja  es  ,pragt  ihm 

nichts  so  sehr  ein'  „als  dieses,  daB  er  sich  selbst  aus  sich  allein  nicht  erkennen 

kann".  Erst  wenn  er  sein  Inneres  ,auBert'  und  die  W'irkung  seiner  AuBerung 

„auBer  sich  an  andern  anzuschauen"  vermag,  legidmiert  und  stabilisiert  sich 

das  eigene  diffuse  Erleben  und  Fiihlen  in  der  Gewissheit,  „daB  ihm  nichts  als 

Menschliches  begegnet  sei."  Nicht  reine  „Innerlichkeitskultur"^^  ist  es  also, 

was  im  Zentrum  von  Schleiermachers  Religionskonzept  steht.  Vielmehr 

verlangen  schon  die  unmittelbarsten  religiosen  Gefiihie  eine  erste 

Objektivierung,  indem  sie  auch  auf  andere  iibertragen  werden  soUen.  Nur 

iiber  das  AuBen  der  Anderen  scheint  ein  Zugang  zum  eigenen  Inneren 

iiberhaupt  moglich  zu  sein. 

Ist  so  die  Begrenztheit  des  Menschen  in  Sachen  Religion  der 
Ausgangspunkt  fiir  religiose  Mitteilung,  so  ist  es  eben  diese  Begrenztheit,  die 
dem  religiosen  Redner  „auch  Horer  verschafft": 

Bei  keiner  Art  zu  denken  und  zu  empfinden  hat  der  Mensch  ein  so 

130 


lebhaftes  Getiihl  von  seiner  ganzlichen  Unfjihigkeit,  ihren 

Gegenstand  jemals  zu  erschopfen,  als  bei  der  Religion.  Sein  Sinn  fiir 

sie  ist  nicht  so  bald  aufgegangen,  als  er  auch  ihre  Unendlichkeit  und 

seine  Schranken  fiihlt;  er  ist  sich  bewoiBt,  nur  einen  kleinen  Teil  von 

ihr  zu  Limspannen,  und  was  er  nicht  unmittelbar  erreichen  kann,  will 

er  wenigstens  durch  ein  fremdes  Medium  wahrnehmen.  Darum 

interessiert  ihn  jede  AuBerung  derselben,  und  seine  Erganzung 

suchend,  lauscht  er  auf  jeden  Ton,  den  er  tiir  den  ihrigen  erkennt.  So 

organisiert  sich  gegenseitige  Mitteilung,  so  ist  Reden  und  Horen 

jedem  gleich  unentbehrlich.^'' 

Im    „BewuBtsein    der    PartikularitJit    der    eigenen    Erlebnis-    und 

Symbolisierungsgestalt"^"'  liegt  die  Offenheit  fur  die  religiosen  AuBerungen 

Anderer  begriindet.  Der  Theologe  Ulrich  Barth  hat  darin  eines  der 

„modernisierungstheoretischen  Elemente"  in  Schleiermachers  Keden 

ausgemacht,  da  mit  dieser  Konstruktion  religiose  Toleranz  ins  W'esen  der 

Religion  selbst  verlegt  werde." 

Zunachst  einmal  soUte  jedoch  hierdie  so  sich  ot^cinisierende  re\ig\6st 
Mitteilung  beim  Wort  genommen  werden:  In  der  „V(echselwirkung"  von 
Reden  und  Horen,  Innen  und  AuBen,  Geben  und  Nehmen  soil  niimlich  vor 
allem  jenes  Ganze  entstehen,  das  urn  1800  „in  der  naturphilosophischen 
Spekulation  und  eben  auch  im  romantischen  Denken  des  Politischen 
,Organismus'  heiBt.""'  W'ie  die  Wechselwirkung  von  Physis  und  Intellekt, 
Leib  und  Seele  nach  den  biomedizinischen  W'issenschaften  dieser  Zeit  den 
„ganzen  Menschen"  konstituiert,'  so  soil  aus  der  wechselseitigen  religiosen 
Mitteilung  auch  das  Ganze  der  ,wahren  Kirche"**  hervorgehen. 

Doch  welcher  Art  genau  hat  diese  Mitteilung  zu  sein,  um  einen 
religiosen  Organismus  buchstablich  ins  Leben  rufen  zu  konnen?  Einer 
zeitt)'pischen  „Sehnsucht  nach  der  Stimme""*'  folgend,  aber  auch  in  einer  Linie 
mit  der  paulinischen  Opposition  von  Geist  und  Buchstaben,  werden  in  der 
vierten  Rede  Biicher  als  zur  Mitteilung  der  Religion  ungeeignet  verworfen. 
Stattdessen  prasentiert  sich  die  in  der  Geniezeit  ansonsten  so  geschmahte 
Rhetorik  als  ideales  Medium  der  Religion: 

in  einem  groBeren  Stil  muB  die  Mitteilung  der  Religion  geschehen, 
und  eine  andere  Art  von  Gesellschaft,  die  ihr  eigen  gewidmet  ist, 
muB  daraus  entstehen.  Es  gebiahrt  sich,  aut  das  Hochste,  was  die 
Sprache  erreichen  kann,  auch  die  ganze  Fiille  und  Pracht  der 
menschlichen  Rede  zu  verwenden,  nicht  als  ob  es  irgend  einen 
Schmuck  gabe,  dessen  die  Religion  nicht  entbehren  konnte,  sondern 
weil  es  unheilig  und  leichtsinnig  ware,  nicht  zu  zeigen,  daB  alles 
zusammen  genommen  wird,  um  sie  in  angemessener  Kraft  und 
Wiirde  darzustellen.  Darum  ist  es  unmoglich,  Religion  anders 
auszusprechen  und  mitzuteilen  als  rednerisch,  in  aller  Anstrengung 


131 


und  Kunst  der  Sprache,  und  willig  dazu  nehmend  den  Dienst  aller 
Kiinste,  welche  der  fliichtigen  und  beweglichen  Rede  beistehen 
konnen.  Darum  offnet  sich  auch  nicht  anders  der  Mund  desjenigen, 
dessen  Herz  ihrer  voll  ist,  als  vor  einer  Versammlung,  wo  mannigfaltig 
wirken  kann,  was  so  stattlich  ausgerustet  hervortritt/" 
Die  enge  Verkniipfung  von  Rhetorik  und  Religion  fur  sich  genommen  ist 
zunachst  einmal  wenig  iiberraschend.  Schleiermacher  kann  hier  an  eine  Tradition 
ankniipfen,  die  auch  die  Genieiisthetik  nie  in  Frage  stellen  wollte  (weil  sie  sich 
uberhaupt  nicht  ftir  sie  interessierte):  die  ars pniedicandi,  die  Kunst  des  Predigens, 
die  im  Mittelalter  zur  Erweiterung  des  klassischen  rhetorischen  Lehrgebaudes 
beitrug/'  Interessant  dagegen  ist,  welches  der  genera  dicendi  die  Keden 
vorschreiben/'  Anders  als  in  Schleiermachers  sehr  viel  spiiter  entworfenen 
Theorie  der  religmen  Kede^'  wird  hier  dem  religiosen  Redner  niimUch  nicht  das 
genus  hiwiile  seiner  Einfachheit  und  Sachlichkeit  halber  anempfohlen.  Vielmehr 
setzt  Schleiermacher  offensichtlich  auf  den  schweren  omatns  („die  ganze  Fiille 
und  Pracht  der  menschUchen  Rede")  des  genus  sublime  („in  einem  grofieren 
Stil").  Diesem  schweren  omatns  oblag  es  dabei  seit  jeher,  iiber  die  reiche 
Verwendung  von  Tropen  und  Figuren  vor  allem  starke  Affekte  aufzuregen. 
Das  movere  und  eben  nicht  das  docere  (die  propositionale  Vermitdung)  ist  sein 
Metier.  Darum  soU  auch  eine  Versammlung  der  richtige  Ort  fiir  die  religiose 
Mitteilung  sein,  weil  dort  „mannigfaltig  wirken  kann,  was  so  stattJich  ausgeriistet 
[ornare  =  ausriisten)  hervortritt."'*"'  Uber  rhetorische  Wirkung  also  soil  sich 
der  religiose  KoUektivkorper  aufbauen,  denn  „eine  andere  Art  von  Gesellschaft 
[...]  muB  daraus  entstehen." 

Ich  wollte,  ich  konnte  Euch  ein  Bild  machen  von  dem  reichen, 

schwelgerischen  Leben  in  dieser  Stadt  Gottes,  wenn  ihre  Burger 

zusammenkommen  (...).  Wenn  einer  hervortiitt  vor  den  iibrigen, 

ist  es  nicht  ein  Amt  oder  eine  Verabredung,  die  ihn  berechtigt  (...)  es 

ist  freie  Regung  des  Geistes,  Gefiihl  der  herzlichsten  Einigkeit  jedes 

mit  alien  und  der  vollkommensten  Gleichheit,  gemeinschaftliche 

Vernichtung  jedes  Zuerst  und  Zuletzt  und  aller  irdischen  Ordnung. 

Er  tritt  hervor,  um  seine  eigne  Anschauung  hinzustelJen,  als  Objekt 

fiir  die  iibrigen,  sie  hinzufiihren  in  die  Gegend  der  Religion,  wo  er 

einheimisch  ist,  und  seine  heiligen  Gefiihle  ihnen  einzuimpfen  (...) 

und  wenn  er  zuriickkehrt  von  seinen  Wanderungen  durchs 

Universum  in  sich  selbst,  so  ist  sein  Herz  und  das  eines  jeden  nur 

der  gemeinschaftliche  Schauplatz  desselben  Gefuhls.'*' 

Dieses  Bild  einer  Gottesstadt  ist  in  Teilen  einer  griechischen  Polls 

nachempfunden.""'  Das  Bild  entwirft  das  Ideal  einer  Gemeinschaft  der  Gleichen, 

als  deren  Sdfterin  die  Religion  erscheint.  Religiose  Gemeinschaft  wird  so  in 

eine  Alternativperspektive  zu  den  Gleichheitsidealen  der  Franzosischen 

Revolution  gestellt,  und  zwar  als  vor-institutionelle  Gemeinschatt  (ohne 

132 


„Amt",  „Verabredung")  —  oder  auch  als  Cjemeinschaft  nach  der  Vernichtung 
alles  Institutionellen  („\'ernichtung...allcr  irdischen  Ordnung"). 

Das  ist  die  Einwirkung  religioser  Menschen  auf  einander,  das  ihre 

natiirliche  und  ewige  Verbindung.  (...)  das  voUendetste  Resultat  der 

menschlichen  Geselligkeit  (...)  ihnen  mehrwert  (...),  als  Euer  irdisches 

politisches  Band,  welches  doch  nur  ein  erzwaingenes,  vergangliches, 

interimistisches  W'erk  ist."* 

Nur  iiber  rhetorische  Affekterregung  jedoch,  die  alle  Herzen  zum  „Schauplatz 

desselben  Gefiihls"  zu  machen  versteht,  kann  diese  anti-institutionelle 

„naturliche  und  ewige  Verbindung"  entstehen,  nur  iiber  rhetorische  W'irkung 

bildet  sich  der  organische  Gemeinschaftskorper,  der  sich  in  dieser  Perspektive 

vor  allem  iiber  Leidenschaften  und  AtYekte  als  sozialer  Korper  selbst  erfahrt.''* 

Doch  gerade  dieses  im  Fiihlen  Erfahrbare  ist  es,  was  die  romantische 

Gemeinschaft  als  vermeintlich  eigentliche,  „naturliche"  gegeniiber  dem 

„erzwungene[n]"  „interimistische[n]  W'erk"  der  Institutionen  ausweisen  soil. 

II. 

Die  anti-institutionelle  Tendenz  von  Schleiermachers  Kedeti  ist  oft 
hervorgehoben  worden.^'  Die  vierte  Rede  bestiitigt  hierbei  auch  den 
Schmitt'schen  Vorwoirf  der  romantischen  Favorisierung  des  Unbestimmten, 
denn  „eine  \'ersammlung  sei  vor  |dem  Redner]  und  keine  Gemeine;  ein  Redner 
sei  er  fiir  alle,  die  horen  wollen,  aber  nicht  ein  Hirt  fur  eine  bestimmte  I  lerde.""'" 
Ein  genauer  Blick  auf  die  Struktur  der  Affekt-Kommunikation,  in  der  diese 
anti-institutionelle  Prasenzgemeinschaft  bei  ScWeiermachcr  hergestellt  werden 
soil,  legt  jedoch  paradoxerweise  zutage,  dass  sie  als  rhetorische  Affekt- 
Kommunikation  selbst  die  Struktur  einer  Institution  widerspiegelt,  und  zwar 
die  Institution  des  romischen  Gerichts. 

Dieser  Befund  bedarf  etwas  ausfiihrlicherer  Erlauterungen:'''  Die 
„Urszene"  der  lateinischen  Rhetorik  ist  die  Szene  vor  Gericht.  Vor  allem  fiar 
dieses  kommunikative  settiue^  schiieben  Cicero,  QuintHian  und  andere  Rhetoriker 
der  Antike.  Da  Rhetorik  Kede  imch  Regeln  ist,  sind  die  Regeln,  wie  sie  die  antiken 
Klassiker  formulieren,  freilich  auf  den  Rahmen  zugeschnitten,  in  dem 
rhetorische  Performanz  zu  ihrer  Zeit  vor  allem  stattfand.  Dies  gilt  auch  fur  die 
Regeln  rhetorischer  Affektion  und  Selbstaffektion.  Die  zentrale  Regel  hier 
„besagt:  Affizierung  des  anderen  setz|t]  Selbstaffizierung  voraus.""''^  Was 
Schleiermachers  religiosen  Redner  angeht,  so  konnte  man  annehmen,  erledigt 
sich  diese  Regel  als  Kegel  fiir  ihn  von  selbst,  scheint  es  doch  die  affektive 
Uberwaltigung  der  mystischen  Erfahrung  zu  sein,  die  ihn  allererst  zum  Reden 
treibt. 

Auch  die  Rcjllenkonstellationen  der  Gerichtsrhetorik  scheinen  sich 
erheblich  von  den  kommunikativen  Bedingungen  des  religiosen  Redners  zu 
unterscheiden.  In  der  Affekt-Kommunikation  vor  Gericht  sind,  nach  Riidiger 

133 


Campe,  „mindestens  drei  Personen  im  Spiel:  der  Redner,  der  affizieren  will 
und  sich  selbst  atfiziert;  der  Richter,  der  affiziert  werden  soil;  und  die  Person 
der  ProzeBpartei,  fur  die  der  Redner  auftritt  und  an  deren  Geschichte  oder 
Gestalt,  Charakter  oder  Affekt  er  sich  affiziert."^^ 

Lasst  sich  der  Richter,  „der  atfiziert  werden  soO",  in  Schleiermachers 
Affekt-Kommunikation  noch  strukturell  durch  die  Horer,  das  Publikum  des 
religiosen  Redners  ersetzen,  erscheint  die  Figur  der  Prozesspartei,  an  der  der 
Redner  sich  affiziert,  kJar  als  eine  zu  viel. 

Doch  ein  Blick  auf  Schleiermachers  spezifisches  Darstellungskonzept, 
das  er  gleich  in  der  ersten  seiner  fiinf  Reden  entwickelt  und  das  auch  die 
Struktur  fur  die  ,religiose  Mittetlung'  in  der  vierten  Rede  vorgibt,  belehrt  eines 
Besseren.  Hicr  muss  Schleiermachers  idealer  Mystiker 

nach  jedem  Ausfluge  seines  Geistes  ins  Unendliche  den  Eindruck, 

den  es  ihm  gegeben  hat,  hinstellen  auBer  sich,  als  einen  mittelbaren 

Gegenstand  in  Bildern  oder  Worten,  um  ihn  selbst  aufs  neue  in  eine 

andere  Gestalt  und  in  eine  endliche  CjroBe  verwanclelt  zu  genieBen, 

und  er  muB  also  auch  unwillkiirlich  und  gleichsam  begeistert  —  denn 

er  tiite  es,  wenn  auch  niemand  da  ware,  —  das  was  ihm  begegnet  ist, 

fiir  andere  darstellen,  als  Dichter  oder  Seher,  als  Redner  oder  als 

Kiinstler.""* 

Nicht  die  affektive  Uberwaltigung  der  eigenen  priisentischen  Erfahrunggeht 

dem  Reden  unmittelbar  voraus,  sondern  die  Affizierung  am  „auBer  sich" 

hingestellten  Kinciruck  („um  ihn  selbst  aufs  neue  (...)  zu  genieBen"),  der  ein 

„mittelbarer  Gegenstand"  und  im  Vergleich  zur  eigentlichen  Erfahrung  eine 

voUig  „andere  Gestalt"  ist.  Erst  in  einem  zweiten  Schritt,  der  nicht  einmal 

notwendig  erscheint  („denn  er  thiite  es  (die  Selbstaffizierung  am  Anderen  der 

eigenen  Erfahrung],  wenn  auch  niemand  da  ware")  geht  es  um  das  Darstellen 

„fiar  Andere",  um  sie  zum  selben  „GenuB"  zu  fiihren. 

Wie  also  die  Prozesspartei  im  romischen  Rechtsverfahren  selbst 
keinen  Platz  und  kein  Stimmrecht  hatte,  sondern  aUein  durch  den  Redner 
vertreten  werden  konnte,  der  ilire  ,fremde  Sache'  zur  eigenen  machte,  so  blcibt 
auch  in  der  religiosen  Affekt-Kommunikation  das  Eigentliche  der  Erfahnmg 
des  Ich  unausgesprochen.  Das  Ich  affiziert  sich  dagegen  an  der  „andere[n] 
Gestalt"  der  eigenen  Erfahrung,  am  „fremden  Bild  und  der  fremden  Sache 
seiner  selbst"^^,  um  das  solchermaBen  Fremde  dann  wiedemm  zur  Sache  der 
eigenen  Rede  zu  machen. 

ELs  ist  das  Paradox  rhetorischer  Gemeinschaftsstiftung  bei 
Schleiermacher,  dass  ausgerechnet  diese  „Umwegigkeit  der  rhetorischen 
Regeln"'*",  iiber  die  nur  Un-Eigentliches  zur  Sprache  gebracht  werden  kann, 
am  Aufbau  vermeintlich  eigentlicher  Ciemeinschaft  beteiligt  ist.  Diese 
eigentliche  Gemeinschaft  wiederum,  die  sich  in  der  Prasenz  geteilter  Atfekte 
als  organischer  Korper  erlebt,  wird  den  „erz\vaingene|n]"  Institutionen  der 

134 


Gesellschaft  entgegengesetzt  gedacht.  Dabei  ist  die  Struktur  der 
affekterzeugenden  Rede,  „|d|ie  fremde  zur  eigenen  Sache  [zu]  machen",  in 
den  Worten  Riidiger  Campes  „Rede  des  Subjekts  unter  Bedingungen  zuerst 
der  gerichtlichen  Institution,  dann  (...)  von  Institutionalitat  iiberhaupt.""" 

III. 

Diese  Heimsuchung  einer  naturalen  Gefiihlsgemeinschaft  durch  die  Institution 
konnte  nun  vielleicht  als  intcrpretatorische  Spitzfindigkeit  abgetan  werden, 
wenn  nicht  Schleietmacher  selbst  in  seiner  fiinften  und  letzten  Rede  iiberraschend 
zum  Institutionentheoretiker  v^airde.  Ist  es  ihm  in  den  Reden  zuvor  um  das 
permanente  Werden  des  ,unendlichen  Ganzen'""*^  der  Religion  in  der 
Wechselseitigkeit  religioser  Mitteilung  zu  tun,  so  geht  es  ihm  am  Ende  doch 
vor  allem  um  eine  Apotheose  des  Christentums  als  „des  HerrUchsten  (...)  was 
es  bis  jetzt  gibt  in  der  Religion""''.  Diese  abschUeBende  Apotheose  erfordcrt 
aber,  der  endlichen  Konkretheit  einer  bestimmten  sozialen  Formation  den 
Charakter  des  Notwendigen  zu  verleihen.  In  der  Herleitung  der  Nf)t\vendigkeit 
spielt  dabei  einmal  mehr  die  Darstellungsfrage  cine  zentrale  RoUe: 

die  Religion  (...)  ist  ihrem  Begriff  und  ihrem  Wesen  nach  auch  fiir 
den  Verstand  ein  IJnendlichcs  und  UnermeBliches;  sie  muB  also  ein 
Prinzip,  sich  zu  individuaLsieren,  in  sich  haben,  weil  sie  sonst  garnicht 
dasein  und  wahrgenommen  werden  konnte;  eine  unendliche  Menge 
cndlicher  und  bestimmter  Formen,  in  denen  sie  sich  offenbart, 
miissen  wir  also  postulieren  und  autsuchen  .''" 
Die  „WirkJichkeit"'^''  der  Religion  ist  angesichts  des  Unendiichen  nur  in  endUcher 
Bestimmtheit  zu  haben,  da,  wie  es  auch  schon  in  der  vierten  Rede  heiBt, 

iiberall  gar  nichts  als  erwas  AUgemcines  und  Unbestimmtes,  sondern 

nur  als  etwas  Einzelnes  und  in  einer  durchaus  bestimmten  Gestalt 

wirklich  gegeben  und  mitgeteilt  werden  kann,  weil  es  sonst  nicht 

Etwas,  sondern  in  der  Tat  Nichts  ware.''" 

Nicht  nur  wird  damit  der  Status  des  Unendiichen  als  Schleiermachers  eigendicher 

Gegenstand  der  Religion  prekiir,  da  das  Unendliche  als  nicht  Denkbares  und 

nicht  Mitteilbares  fiir  sich  genommen  keine  ReaUtat  beanspruchen  kann.  In 

Schleiermachers  Lob  der  Bestimmtheit  konnte  vielmehr  auch  (]arl  Schmitt 

einstimmen,  zumal  das  Zustandekommen  dieser  Bestimmtheit  in  Form  der 

„positiven  ReUgionen'"'"*  jegHche  Naturalisierungsbemiihung  hinter  sich  lasst 

und  stattdessen  nichts  als  arbitrare  Dezision  demonstriert.  Denn  eine  konkrete 

Religion 

kann  nicht  anders  zu  Stande  gebracht  werden,  als  dadurch,  daB  irgend 
eine  einzelne  Anschauung  des  Universums  aus  freier  WiUkiir  —  denn 
anders  kann  es  nicht  geschehen  weil  eine  jede  gleiche  Anspriiche 
darauf  hatte  -  zum  Zentralpunkt  der  ganzen  Religion  gemacht  und 
alles  darin  auf  sie  bezogen  wird.  Dadurch  kommt  auf  einmal  ein 

135 


bestimmter  Geist  und  ein  gemeinschaftlicher  Charakter  in  das  Ganze; 

alles  wird  fixiert  was  vorher  vieldeutig  und  unbestdmmt  war;  von 

den  unendlich  vielen  verschiedenen  Ansichten  und  Beziehungen 

einzelner  Elemente,  welche  alle  moglich  waren  und  alle  dargesteUt 

werden  sollten,  wird  durch  jede  solche  Formadon  eine  durchaus 

realisiert;  alle  einzelnen  Elemente  erscheinen  nun  von  einer 

gleichnamigen  Seite,  von  der,  welche  jenem  Mittelpunkt  zugekehrt 

ist,  und  alle  Geiiihle  erhalten  eben  dadurch  einen  gemeinschatdichen 

Ton  und  werden  lebendiger  und  eingreitender  in  einander.'''* 

Alles  was  Schmitt  der  Politischen  Romantik  abgesprochen  hatte, 

Vereinseitigung,  Fixierung,  den  Ausschluss  der  unendlichen  Moglichkeiten 

fiir  eine  arbitrare  Realisierung,  findet  sich  hicr  in  einer  Art  fruhromantischen 

Priifiguration  eines  kulturalistischen  Instituti(jnendenkens,  das  nur  schlecht 

zur  freien  Wechselwirkung  des  Organismusmodells  passen  will. 

Frappant  ahnliche  Denktlguren,  die  Integration  menschlicher 
Gesellschatten  betreffend,  lassen  sich  dagegen  bei  dem  Carl  Schmitt  nahe 
stehenden  konservativen  Institutionendenker  Arnold  Gehlen  beobachten: 
Dies  ist  die  „Integration  einer  Gesellschaft":  das  System  aufeinander 
bezogener,  je  vereinseitigter  Aspekte  der  Welt  und  des  Verhaltens 
darin.  Eine  Kultur  ware  chaotisch,  in  der  die  konstitutionelle 
Plastizitat  der  menschlichen  Antriebe,  die  unendliche  potentielle 
Yariabilitat  der  Handlungen  und  die  L'nerschcjptlichkeit  der 
Dingansichten  zur  Geltung  kjimen.  Sie  ware  im  hochsten  Grade 
unstabil.''^ 

Die  Institutionen  einer  Gesellschaft  sind  es  also,  welche 

das  Handeln  nach  auBen  und  das  \''erhalten  gegeneinander  auf  Dauer 

stellen;  auch  die  hochsten  geisdgen  Synthesen,  die  idees  directrices, 

dauem  nur  so  lange,  wie  die  Institutionen,  in  denen  sie  gelebt  werden. 

Diese  Stabilisierung  besteht  darin,  dass  die  Menschen  sich  je  zu  ganz 

bestimmten,  vereinseitigten,  perspektivischen  Inhalten  der  Aufienwelt, 

ihrer  eigenen  menschlichen  Natur  und  ihrer  Denkbarkeiten 

entscheiden,  und  dass  sie  diese  Entscheidungen  eben  durch  ihre 

Institutionen  hindurch  festhalten.''*' 

Dezisionistische  Akte  der  arbitraren  Vereinseitigung  in  einer  Umwelt  potentiell 

unendlicher  VariabUitat  stabilisieren  Religionen  ebenso  wie  ganze  Kulturen. 

Dass  auch  Schleiermacher  selbst  die  Schaffung  von  Bestimmtheit  als  Schaffung 

von  Kultur  im  Gegensatz  zu  einer  Natur  verstand,  die  nun  plotzlich  als  defizitar 

erscheint,  geht  dabei  aus  seiner  Polemik  gegen  die  so  genannte  natiirliche 

Religion  hervor: 

Wozu  sie  da  ist,  mogen  die  Gotter  wissen,  es  miiBte  denn  sein,  um 
zu  zeigen,  daB  auch  das  Unbestimmte  auf  eine  gewisse  Weise 
existieren  kann.  Eigentlich  aber  ist  es  doch  nur  ein  W'arten  aut  die 

136 


Existenz  (...)  Hochstens  ist  sie  Naturreligion  in  dem  Sinne,  wie  man 

auch  sonst,\venn  man  von  Xaturpliilosophie  und  Natuq^oesie  redet, 

den  AuBerungen  des  rohen  Instinkts  diesen  Namen  vorsetzt,  um 

sie  von  der  Kunst  und  BOdung  zu  unterscheiden.'' 

Letztlich  ist  bei  Gehlen  wie  bei  Schleiermacher  diese  arbitrare  Bestimmtheit 

sozialer  Form  unverzichtbare  anthropologische  Notwendigkeit.  Schon  die 

,religi6se  Mitteilung'  der  vierten  Rede  hatte  gezeigt,  dass  auch  das  romantische 

Individuum  nur  iiber  das  AuBen  einen  stabiJen  Zugang  zum  eigenen  Inneren 

findet.  Und  auch  Gehlen  ist  an  der  Stabilisierung  eines  Ich  gelegen,  dessen 

„schreckenerregende  Plastizitiit  und  Nichttestgestelitheit"'^''*  im  Naturzustand 

er  unablassig  beklagt.  Am  Ende  geht  Schleiermacher  nun  so  weit,  die  religiose 

Individualitiit,  die  viele  im  Zentrum  seines  Religionskonzepts  sehen,*'"  nur 

innerhalb  einer  ,bestimmten  I-'f)rm  der  Religion'  iiberhaupt  Gestalt  annehmen 

zu  lassen: 

So  wie  kein  Mensch  als  Individuum  zur  Existenz  kommen  kann, 

ohne  zugleich  durch  denselben  Aktus  auch  in  eine  Welt,  in  eine 

bestimmte  Ordnung  der  Dinge  und  unter  einzelne  Gegenstande 

versetzt  zu  werden,  so  kann  auch  ein  religioser  Mensch  zu  seiner 

hulividualitiit  nicht  gclangen,  er  wohne  denn  durch  dieselbe  Handlung 

sich  auch  ein  in  irgend  eine  bestimmte  Form  der  Religion.  " 

Neuere     Forschungen     zur     Politischen     Romantik     haben     „die 

Gleichurspriinglichkcit  von  Rtmiantik  und  politischer  Moderne"  ernst  zu 

nehmen  versucht  und  in  romantischen  Texten  „eine  \  orgeschichte  entziffert, 

die  sich  in  den  jiingsten  Theorien  des  Politischen  weiterschreibt."  ' 

Endnotes 

'  Carl  Schmitt,  Politische  Romantik,  Miinchen,  Leipzig  1919. 

2  Ebd.  70. 

'  Ebd.  143. 

"  Ebd.  60. 

5  Ebd.  100. 

'  Vgl.  dazu  Ethel  Matala  de  Mazza,  Derveifasste  Korper.  Zum  Vrojekt  einer organiscben  Gemeinschaft 

in  der  Politischen  Romantik,  Freiburg  i.B.  1999,  173-210. 

Zit.  nach  Matala  de  Mazza,  Der  verfasste  Koi-per,  Ml. 
*  So  auch  der  Titel  einer  Studie  von  Hermann  Timm,  Die  heilige  Revolution.  Das  religiose 
Totalitdtskonr^pt  der  Friihromantik.  Schleiermacher  -  Novalis  —  Friedrich  Schlegel,  Frankfurt  a.M. 
1978. 

'  Kurt  Nowak,  Schleiermacher  und  die  Friihromantik.  Fine  iiieraturgeschichtliche  Studie  ^um 
romantischen  Religionsverstdndnis  und  Menschenhild  am  Ende  des  18.  fahrhunderts  in  Deutschland, 
Gottingen  1986,  268. 

'"  Zur  Anthropologic  des  „ganzen  Menschen"  im  spaten   18.  lahrhundert  vgl.  Hans- 
Jiirgen  Schings  (Hg.),  Der  gan^e  Mensch.  Anthropologie  und  Uteratur  im  18.  Jabrhundert,  DFG- 
Symposion  1992,  Stuttgart,  Weimar  1994. 
"  Nowak,  Friihromantik,  229. 


137 


'^  Matala  de  Mazza,  Der  verfassk  Korper. 

"  Ziim  Begriff  des  Politischen  vgl.  die  Beitrage  in  Uwe  Hebekus,  Ethel  Matala  de  Mazza, 

AJbrecht  Koschorke  (Hg.),  Das  Polilischf.  Fipinrikhren  des  so-:^ialen  Korpers  iiach  der  Romantik, 

MQnchen  2003. 

'^  Kurt  Nowak,  Schleiermacher.  Leberi,  Werk  iind  W'trkiins,,  Gottingen  2001,  101. 

"  Matala  de  Mazza,  Der  veifasste  Korper,  40. 

">  Ebd.  17. 

"  Ebd.  41. 

'8  Ebd.  122. 

"Ebd.  41. 

^  Schmitt,  Politische  Romantik,  80. 

^'  Nowak,  Schleiermacher,  101. 

"  Uwe  Hebekus,  Ethel  Matala  de  Mazza,  „Einleitung:  Zwischen  Verkorperung  and 

Ereignis.  Zum  Andauern  der  Romantik  im  Denken  des  Pcjlitischen",  in:  Hebekus,  Matala 

de  Mazza,  Koschorke  (Hg.),  Das  Politische,  7-22,  hier:  13. 

^'       Ulrich        Barth,        „Schleiermachers        Keden       als        religionstheoretisches 

Modernisierungsprogramm",  in:  Silvio  Vietta,  Dirk  Kemper  (Hg.),  Asthetische  Modenie  in 

Europa.  Gno/d^iiige  tind  Problems^tisammenbdnge  sett  der  Rnnumtik,  Miinchen  1997,  441-474,  hier 

453f. 

«  Ebd.  454. 

25  Ebd.  455. 

2-^  Ebd. 

2'  Friedrich  Schleiermacher,  IJber  die  Religion.  Reden  an  die  Gebildeten  unter  ihren  I  'erdchtern,  hg. 

von  Rudolf  Otto,  Gottingen  *2002,  49. 

^  Barth,  Modernisierungsprogramm,  462. 

2'  Schleiermacher,  Religion,  54f. 

^  Nowak,  Schleiermacher,  103. 

^'  Schleiermacher,  Religion,  127f. 

^^  Barth,  Modernisierungsprogramm,  449. 

^^  Schleiermacher,  Religion,  128. 

^  Barth,  Modernisierungsprogramm,  462. 

"  ebd.  473f. 

^'  Hebekus,  Matala  de  Mazza,  Einleitung,  9. 

''  vgl.  Matala  de  Mazza,  Der  verfasste  Korper,  4  If,  108,  111. 

^  vgl.  Schleiermacher,  Religion,  135. 

"  Hans-Georg  Pott,  „Die  Sehnsucht  nach  der  Stimme.  Das  Problem  der  Oralitat  in  der 

Literatur  urn  1800  (Holderlin,  Goethe,  Schleiermacher)",  in:  Alfred  Messerli,  Roger 

Charder  (Hg.),  Lesen  tmd  Schreiben  in  Europa  1500-1900.  \^ergleichende  Perspektiven,  Basel  2000, 

517-532. 

■"  Schleiermacher,  Religion,  129. 

■"  vgl.  Wolfgang  G.  Mijller,  „Rhetorik",  in:  Ansgar  Niinning  (Hg.),  Mel-:iler  Lexikon  Ijteratiir 

und  Kulturtheorie,  Stuttgart,  \Xeimar  1998,  464. 

"^  eine  gute  Zusammenfassung  der  Lehre  von  den  Stilarten  bietei  Manfred  Fuhrmann, 

Die  antike  Rhetorik.  Eine  EJnfiihrung,  Diisseldorf,  Zurich  "2003,  114-145. 

■"  vgl.  hierzu  Norbert  Gutenberg,  „Uber  das  Rhetorische  und  das  Asthedsche  -  .Ansichten 

Schleiermachers",  in:  Rhetorik.  Em  Internationales  fahrbuch  19  (2000),  68-91,  hier:  85-91. 

"  Hervorhebung  von  mir 

■*'  Schleiermacher,  Religion,  129f. 

*''  Schleiermachers  Rhetorik-Auffassung  gilt  u.a.  als  an  der  „athenische[n]  Polis-Rlnetonk" 

orientiert,  vgl.  Gutenberg,  Uber  das  Rhet<5rische,  82. 

■"  Schleiermacher,  Religion,  130f. 

■"*  vgl.  Matala  de  Mazza,  Der  rerj'asste  Korper,  17. 

138 


■"  „Eine  starke  Abneigung  gegen  das  Institutionelle"  konstatiert  nicht  nur  Takashi  Yahaba, 

„Holderlin  und  Schleiermacher.  Suche  nach  einer  neuen  Gemeinschaft",  in:  Uteratur 

unci  Kulturhermeneiitik.  Beitriige  der  Tatesbina-Symposien  1994  und  1995,  Miinchen  1996,  23-36, 

hier  26.  \'gl.  auch  Barth,  Modernisierungsprogramm,  474  und  Nowak,  Schleiermacher,  107. 

*"  Schleiermacher,  Reiigion,  154. 

"vgl.  zum  Folgenden  Riidiger  Campe,  „Affizieren  und  Selbstaffizieren.  Rhetorisch- 

anthropologische  Naherung  ausgehend  von  Quintilian  ,histitutio  oratorid  VI  1-2"  in:  Josef 

Kopperschmidt  (Hg.),  BJjetorische  Antljropologie.  Studien  ^um  Homo  rljetoricus,  Miinchen  2000, 

135-152. 

"  ebd.  138. 

"ebd.  139. 

*''  Schleiermacher,  Religion,  25. 

"  Campe,  Affizieren,  142. 

«  ebd.  137. 

5'  ebd.  144. 

"  Schleiermacher,  Religion,  133. 

5'  ebd.  199. 

<*  ebd.  165. 

'''  ebd.  166. 

'•''  ebd.  133. 

"ebd.    169. 

"  ebd.  176. 

'^  Arnold  Gehlen,  Umensch  und  Spulkullur.  Philosophtsche  Ergebnisse  und  Ausstigen,  Frankfurt 

a.M.  19^5,  21. 

"^  ebd.  88f 

*^  Schleiermacher,  Religion,    185. 

'^  Gehlen,  Urmensch  und  Spdtkultur,  88. 

"  vgl.  erw'a  Barth,  Modernisierungsprogramm,  474. 

™  Schleiermacher,  Religion,  182. 

"  Hebekus,  Matala  de  Mazza,  Einleitung,  13. 

Literaturverzeichnis 

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139 


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Tatesbina-Sjwposien  1994  und  1995,  MUnchen  1996,  23-36. 

140 


Tradition  und  Dekonstruktion  in  Elfriede 
Jelineks  Burgtheater  und  Prasident  Abendwind 

Viktoria  Heifer 


Experiment  mit  der  Tradition 

Elfriede  Jelineks  Bmpheater  {\9%5)  und  Prasident  Abendwind  {\9^1)  stehen  als 
Experimentstiicke  in  der  osterreichischen  literarischen  Tradition  des 
Volkstheaters,  das  in  Wien  seit  der  Metternich-Ara  bis  heute  fordebt.  Zwar 
arbeitet  Jelinek  mit  Sprachnuancierungen  einer  „sublimen  Serenitat,  Ironic 
und  Satire",'  ihre  Stiicke  verfolgen  dennoch  andere  Ziele  als  einfache 
Unterhaltung  einer  Wiener  Satire  oder  eines  Altwienerischen  \'olksstucks.  Nach 
Aussage  der  Autorin  ist  die  ,6sterreichische  Literaturtradition''^  mit  einem 
starken  Sprachbewusstsein  verbunden,  jedoch  zwingen  die  modernen 
Produktionsbedingungen  des  osterreichiscben  Markts  die  zeitgenossischen 
Autoren  zur  Anpassung  an  cincn  gesamtdeutschen  Sprachraum:  Da  der 
osterreichische  Sprachfundus,  reich  an  ,Austriazismen',  im  groBeren 
deutschspracliigen  kulturellen  Rahmen  nicht  mehr  vorhanden  ist,  ist  er  fiir  die 
Autorin  nicht  mehr  ausbaufahig.''  Die  Sprachtradition  des  Wiener  X'olkstheaters 
wird  daher  nur  in  wenigen  ihrer  Stiicke  als  RaritJit  wiederbelebt: 

Bei  mir  ist  es  ein  fast  schon  pathetisches  Moment,  wenn  ich  meine 
osterreichische  Tradition  betone  und  mich  dieser  verstarkt  zuwende, 
ohne  jetzt  -  und  das  ist  mir  sehr  wichtig  -  in  ein  Volkstiimeln  zu 
geraten/ 
In  einem  Interview  bezeichnete  sich  Jelinek  als  eine  „eminent  osterreichische 
Autorin"\  die  in  einer  Tradition  von  Nestroy  ijber  jura  Soyfer  und  Kraus  bis 
zur  Wiener  Gruppe,  die  in  ihrem  Theater  ebenfalls  die  volkstheatralische 
Tradition  aufgreift,  stehe.  Tatsachlich  aber  lassen  sich  nur  wenige  ihrer  Werke  in 
die  Reihe  dieser  Literaturtradition  einordnen.  Eher  ist  ein  kritischer  und 
experimenteller  Umgang  mit  der  osterreichischen  Schreibtradition  zu 
beobachten:  Seit  der  ReaUsmusdebatte  zwischen  der  Wiener  und  der  Grazer 
Gruppe  in  den  1960er  jahren,  sowie  der  Widerstandsaktion  der  Kiinsder  in 
den  1980er  jahren  gegen  restaurativ  ausgerichtetc  politische  Bestrebungen 
woirde  der  Begriff  ,Tradition'  zum  wichtigen  Streitthema  sowohl  in  der  Politik 
als  auch  in  der  Kunst/'  Jelineks  Dramen  RHrafhecifer  und  Pnis/dcnt  Abendwind 
sind  ganz  oder  teihveise  als  Adaptionen  aus  dem  Wiener  Volkstheatergenre 
wiederzuerkennen;  sie  lassen  sich  zuglcich  zu  den  Werken  der  Widerstandskunst 


141 


einordnen,  die  in  den  1980er  Jahren  gegen  restaurativ  ausgerichtete 
Traditionsbestrebungen  in  Osterreich  kampften.  Das  ambivalente 
OsterreichbUd  sowohl  in  der  Offentlichkeit  als  auch  in  der  Kunst  war  damals 
eine  Folge  einer  \^erleugnungspolitik  der  W'aldheim-Ara.'' 

Die  beiden  kritischen  Stiicke  von  Jelinek  fiihrten  ihr  eigenes 
Auffiihrungsverbot  in  Osterreich  herbei:  Eine  wortliche  Rezeption  und 
Deutung  woirde  im  BurgtheaterTih  ein  Angriff  auf  noch  lebende  Personen,  wie 
auf  Paula  VC'essely  und  Attila  Horbiger  und  im  Prasident  Abendmnd  -Sini  den 
damaligen  Bundesprasident  Kurt  Waldheim,  gedeutet.  Es  handelt  sich  in 
diesen  beiden  Stiicken  um  textimmanente  Denunziationen  mittels  der 
Montage.  Hierbei  denkt  man  hinsiciidich  der  Phraseologie  an  eine  Analogic 
zwischen  Jelinek  und  dem  satirischen  Volksdichter  und  -Schauspieler  Johann 
Nepomuk  Nestroy  sowie  zwischen  jelinek  und  dem  polemischen  Publizist 
Karl  Kraus. 

Die  Montage  speziell  im  Drama  setzt  sich  nach  der  Definidon  von 
Wolfgang  Seibel  aus  einem  „bereits  vorgegebenen  Sprech-  oder  Textmaterial" 
zusammen,  das  zu  einem  erst  „konstituierten  Stiickganzen'"^  wird,  in  dem 
Walter  Benjamin  in  Bezug  auf  Kraus'  Technik  einerseits  eine  Potenz  der 
Destruktion,  andererseits  eine  produktive  Kraft  der  Freisetzung  durch  die 
Entstellung  sieht: 

[Man  erkennt]  daB  es  keine  idealistische,  sondern  nur  erne 

materialisdsche  Befreiung  vom  Mythos  gibt  und  nicht  Reinheit  im 

L'rsprung  der  Kreatur  steht,  sondern  die  Reinigung,  das  hat  in  dem 

realen  Humanismus  von  Kraus  seine  Spuren  am  spatesten 

hinterlassen.  Erst  der  Verzweifelnde  entdeckt  im  Zitat  die  Kraft: 

nicht  zu  bewahren,  sondern  zu  reinigen,  aus  dem  Zusammenhang 

zu  reiBen,  zu  zerstoren;  die  einzige,  in  der  noch  Hoffnung  liegt,  daB 

einiges  aus  diesem  Zeitraum  iiberdauert  -  weil  man  es  namlich  aus 

ihm  herausschlug."' 

Ein  wichtiger  Unterschied  besteht  zwischen  jelinek  und  Kraus  in  der 

Intentionalitiit:  Kraus  erstrebte  im  Sinne  eines  humanistischen  Ideales  eine 

jSprach-Reimgung'":  die  Sprache  sollte  auf  ihren  sogenannten  „Ursprung"'^ 

hinweisenund  sich  so  entmachten.  Eine  scjlche  purifizierende  Funkdon  bleibt 

der  Sprache  in  jelineks  Texten  erspart,  denn  ihre  phrasenhafte  Sprache  tragt 

sich  gewissermaBen  mit  der  Zitation  entleert  fort.'"*  Bei  Jelinek  wird  aber  statt 

einem  Prozess  der  Sprachbereinigung  mittels  der  Montage  eine 

sprachexperimentelle  De(kon)struktion  am  Text  vollzogen:  Aus  einer 

vorgegebenen  Sprache  werden  zugunsten  der  Denunziadon  nicht  nur  direkt 

ubernommene  Montagetextgebilde,  sondern  auch  Wortneuschopfungen, 

Wortkalauer,  Verballhornungen  und  andere  experimentelle  Sprachformen 

erschaffen. 

Diese  „mehr  oder  weniger  bewxissten"  Techniken,  zusammengefasst 

142 


im  Begriff  der  Intertextualitat,  machen  sich  bemerkbar,  wenn  in  irgendeiner 
Weise  konkxet  greifbare  Bcziige  auf  einzelne  „Pratexte"  gemacht  werden.''* 
Dabei  kormen  semantisch-ideologische  Differenzen  zwischen  Text  und  Pratext 
vorkommen,  die  sich  als  intertextual  incompatibilities  selbst  als 
Intertextualitatssignale  einschreiben  lassen:  Spuren  der  fremden  Texte 
verschwinden  dadurch  und  syntaktische  Anomalien  und  GrammatikverstoBe 
machen  sich  im  Text  erkennbar,  die  selbst  in  Textsvntax  und  Textgrammatik 
als  Mittel  einer  Sinnverschiebung  oder  im  weitesten  Sinne  bei  den  Stiicken 
Jelineks  als  Mittel  einer  Sinnentleerung  fungieren.''  Das  Moment  der 
De(kon)struktion  im  W'erk  Elfriede  )elineks  wird  fiir  den  Rezipienten  anhand 
der  intertextuellen  und  sprachexperimentellen  Arbeit  ersichtlich,  die  ja 
bekanntlich  bis  zum  Grade  einer  Ausloschung  und  Zertriimmerung  ausgeiibt 
werden  kann  und  jelineks  Absicht  nach  auch  ausgeiibt  werden  sollte.'^ 

Die  Sprachartistik  jelineks  in  beiden  \X  erken  ist  eine  Technik,  die 

stark  mit  Pratexten  arbeitet  und  unterschiedliche  Herstellungsverfahren 

auf\veist.'^  Die  Autorin  beschreibt  ilire  Sprachprogrammatik  folgendermaBen: 

Ich  arbeite  gewissermaBen  Unguistisch  am  Text,  indem  ich  W'orter, 

die  schleimig  und  verxvaschen  [et\va]  die  taschistische  Ideologie 

transportierten,    zu    Wortneuschopfungen    umwandelte, 

Neologismen,  die  die  ganze  Brutalitat  des  Faschismus  enthiillen, 

ohne  daB  das  einzelne  Wort  im  Zusammenhang  etwas  bedeuten 

muB  [...].  Meine  Arbeitsweise  funktioniert,  wenn  es  mir  gelingt,  die 

Sprache  zum  Sprechen  zu  bringen,  durch  Montage  von  Siitzen,  die 

verschiedene  Sprachen  miteinander  konfrontiert,  aber  auch  durch 

Veranderung  von  W'orten  oder  Buchstaben,  die  im  Idiom  vcrhiiUte 

Aussagen  entlarvt.'*" 

Neologismen,  Wbrtwiederholungen,  Sprachfetzen,  Kommutationen, 

rhetorische  Figuren  der  Pohphonie,  Homonvmie  und  Homophonie  verweisen 

im  Text  nicht  nur  auf  eine  Struktur,  die  Sprache  auf  Sprache  autl:)aut,  also  auf 

eine  Entstellung  oder  Umschreibung  und  damit  zwangslaufig  aut  eine 

Sinnverschiebung,  sondern  auch  auf  W'ortkonstruktionen,  die  immer  wieder 

an  unterschiedlichen  SteUen  und  in  unterschiedlichen  \  ariationen  im  Text 

auftauchen.  Das  eigentliche  Anliegen  der  Autorin  ist  nach  eigener  Erklarung 

einerseits  eine  sprachOche  ,Entmvthologisierung'  oder  die  Entschleierung  und 

Zertriimmerung  des  Mvthos  —  im  Sinne  des  friihen  Roland  Barthes  — , 

andererseits  aber  eine  sprachliche  Sinnendeerung  und  spielerische  Umstellung 

und  Variierung  dieses  Sprachmaterials  -  im  Sinne  der  Iterabilitiit  des  Zeichens 

lacques  Derridas  — ,  die  folglich  um  die  Entkernung  des  Sinnes  und  um  neue 

Sinngebung  zugleich  bemiiht  ist. 

Laut  eigener  Aussage  der  Autorin  ruft  diese  kontrollierte  und 
idcologisch  gepragte  Sprache  sie  zum  ijberwiegend  sprachexperimentellen  W'ierk 
auf,  daher  zur  sprachlichen  De(kon)struktion  einer  Sprache,  die  im  Kontext 


143 


der  nationalsozialistischen  Vergangenheitsbewaltigung  noch  volkisch- 
ideologische  Traditionen  pflegt.''^  Die  kritische  Hinterfragung  der  Sprache  als 
Nazi-Erbe  wurde  bekanntlich  von  Adorno  bereits  in  den  1960er  Jahren 
angesprochen,  worauf  Jelineks  Sprachkritik  auch  aufbaut.'"  Die 
propagandistische  Nazi-Sprache  wird  bei  Jelineks  also  aus  seinem  Kontext 
gerissen,  entstellt  und  dabei  selbst  spielerisch  sinnentleert.  Die  Mythen  ,Volk', 
,Heimat',  ,Osterreich'  und  zugleich  die  volkisch-ideologische  Sprache  werden 
zur  Zielscheibe  der  De(kon)struktion,  denn  dadurch  gelingt  es  der  Autorin, 
die  enge  politische  Relation  zwischen  „Sprache  und  Volkheit"-'  zum  Vorschein 
zu  bringen. 

In  diesem  Autsatz  wird  die  Frage  aufgeworfen,  inwiefern  die 
erstrebten  und  zugleich  widerstrebten  Momente  einer  volkstheatralischen 
Schreibtradition  als  eigentliche  Mittel  einer  de(kon)struktivistischen 
Schreibpraxis  in  jelineks  Stiicken  aufgezeigt  werden  konnen:  Die  \'erdoppelung 
des  Traditionsverstandnisses,  Riickgrift  und  Uberwindung  zugleich,  wiirde 
somit  das  ambivalente  Verhaltms  Osterreichs  zu  seinen  W'urzeln  signalisieren, 
was  Jelinek  als  Inversion  einsetzt.  Mit  der  Wiederbelebung  des  traditioneUen 
Volkstheater  versucht  sie  in  den  Stiicken  Bitrgtheater  und  Prasident  Abendmnd 
die  restaurativen  Traditionsbestrebungen,  die  seit  dem  Anschluss  1938  in  der 
Kunst  fordeben,  zu  bekampfen. 

Bitrgtheater:  Hoftheater  und  Volksbuhne 

Das  Ineinanderschieben  vom  \\  iener  Hoftheater  und  den  osterreichischen 
Kasperl  deutet  auf  den  Inversionsmechanismus  jelineks  im  Bitrgtheater.  zwei 
Elemente  der  barocken  und  josephinischen  osterreicliischen  Theatertradidon 
werden  im  Stiick  ineinandergeschoben,  wodurch  das  Institut  des  Wiener 
Burgtheaters"^  de(kon)struiert  werden  kann.  Die  auf  der  W'ebseite  der  Autorin 
gefundene  Bildmontage  zu  dem  Stiick"'  demonstriert,  dass  das  Verschmelzen 
zweier  Ebenen  zugleich  eine  L'mkehrung  doppelbodiger  Traditionswerte 
bedeutet:  eine  X^erschiebung  von  hoher  Kunst  des  biirgerlichen  Schauspiels 
zur  niedrigen  V'olksunterhaltung  mit  Hanswursdaden  und  Bernardoniaden. 
Aus  theaterhistorischer  Sicht  stoBen  wir  auf  alte  Genres:  Das  szenische 
Nachspielen  des  Lebens  sozial  hohergestellter  Personen  -  wie  dies  in  der 
Posse  Biir^beaterdurch  das  Nachspielen  von  Tlieaterstiicken  und  Filmrepertoire 
der  Nazistaatsschauspieler  der  \X  essely-Familie  geschieht  —  ist  eine  traditionelle 
Methode  des  barocken  Stegreifspieles  des  italienischen  Commedia  dell'Arte 
im  16.  Jahrhundert  und  zugleich  die  Slapstick-Technik  des  Altwiener 
Volkstheaters  seit  dem  18.  Jahrhundert.  Die  Bildmontage  spiegelt  das  Grotesk- 
Instrumentarium  doppelbodiger  \Xerte  in  jelineks  Stiick  wider,  wovon  im 
Drama  in  Bezug  auf  die  Darstellung  der  Wesselys,  die  sich  als 
Nazistaatsschauspieler  zunachst  angepasst  und  spater  ,entnazitlziert'  batten, 
reichlich  gebrauch  gemacht  wird. 

144 


Auf  der  sprachlichen  Ebene  findet  im  Stiick  Biirgtheafertmt  Endar\aing  der 
Sprache  statt,  die  v(jlkstumliche  und  zugleich  volkische  Tradidonen  pflegt, 
durcli  die  Montage  eines  h\  briden  Materials  von  volkstiimlichen  Sprichwortem, 
pathetischen  Parolen  und  von  Filmdteln  nationalsozialistischer  Heimatfilme 
aus  dem  Anfang  der  1940er  Jahre  sowie  von  klischierten  Operettenstiicken 
und  Wienerliedern/'*  Andererseits  wird  die  Denunziation  gehandhabt:  dutch 
Zitadon  und  Nachspielen  von  Schauspielerrollen  und  Filmsequenzen,  die 
„direkt  am  Schneidedsch"""'  nationalsozialistischer  Heimatfilme  aus  den  40er 
lahren  entnommen  worden  sind.  Es  vollzieht  sich  im  Moment  der 
Umkippsituadon  im  zweiten  Teil  des  Dramas,  als  W  ien  von  der  roten  Armee 
belagert  wird,  eine  ekstatische  und  radikale  Sprachzertriimmerung.  Diese  wird 
im  allegorischen  Zwischenspiel  des  ersten  Teiles  bildlich  durch  die  Demontage 
der  Raimund'schen  Alpenkonigfigur  und  im  zweiten  Teil  durch  den 
Selbstmordversuch  der  Burgtheaterschauspieleriigur  Kathe  untermauert  (dabei 
angespielt  auf  den  \  ersuch  einer  doppelten  ,Entnazifizierung\  niimlich  der 
Institution  des  Wiener  Burgtheaters  und  der  Schauspielerdvnastie  der 
\Xessel_\familie)-^'. 

KATHE  ersterbeiid:  Mir  wirds  gar  wunderlich  ums  1  icrz.  Der  Feldstein! 

Hier,  sehen  wir  ihn  uns  an!  Gewachsen  ist  er  aus  Millionen  Herzen 

von  uns  alien.  LaBt  mich  flugs  das  Notigste  gestalten.  W'enns  ihr 

mich  nicht  gestalten  laBts,  wcrde  ich  sufurt  wieder  bewaiBtlos.  Ich 

habe  diesen  scheensten  oiler  Berufe  erlernt.  Itzo  tue  ich  jeden 

zerschmettern,  der  mich  an  meiner  Berufsausiebung  behindern  tut. 

LoBts  mich  Menschenbildner  sein!  Wos?  Es  loBts  mich  nicht?  Xun, 

so  schwinden  mir  eben  erneut  die  Sinne.  sie  n'irdhm'ufstlosr 

In  dieser  TextsteUe,  in  der  Kathe  vor  ihrem  Selbstmordversuch  an  die  W'elt 

appelliert,  werden  zwei  Ebenen  ineinander  geschoben:  Heimatpathos,  das  im 

nationalsozialistischen  Film  Heimkehr  (1941)  postuliert  wurde,  und 

Schauspieleipathos  des  Burgtheaterensembles.  Der  Mvthos  von  poUtisch 

korrekter  Schauspielinstitution  wird  dekonstruiert:  die  interpretatorische 

Verschiebung  lasst  die  nationalsozialistisch-ideologischen  Ansatze  des 

propagandisdschen  Heimatfilms  in  die  ,schone'  Schauspielkunst  uberflieBen. 

SoIcheTextstellen  findet  man  im  Drama  auf  unterschiedHchster  Weise  wieder: 

Uberleitungen,  \^erschiebungen  und  \  ermischungen.  Im  GriUparzerzitat  aus 

Konig  Ottokars  Gliick  und  liiide  (1 825),  auf  das  jeUnek  am  Ende  des  ersten 

Teiles  des  Dramas  zuriickgreift,  wird  auf  diese  Weise  der  Ruf  eines  der 

meistgespielten  Stiicke  zu  Beginn  der   1940er  ]ahre  dementiert:  Die 

„6sterreichische  Selbstbeweihrauchcrung"'"  wird  hierbei  mit  phonologischer 

List  parodiert,  denn  der  \'ersuch  der  Zerschlagung  dieser  Nazi-Kitsch-Tradidon 

geschieht  durch  eine  feine,  linguisdsche  Sprachzertriimmerung  und  eine 

vehemente  W'erteumlagerung  zugleich.  Selbst  der  Abschluss  schmiickt  das 

Stiick  nicht:  in  der  W'ortsvmphonie  sind  fiir  de(kon)strukdve  Zwecke  gelaufige 

145 


Worter  nationalsozialistischer  Spielfdmc  mit  geliiufigen  volkstiimlichen  und 
dialektalen  Mundarten  hybridisiert. 

Prasident  Abendwind:  Prasident  und  Kannibale 

Die  Montage  zu  diesem  Stiick'^''  mit  dem  lesenden  Kasperi  fungiert  im  Kontext 
der  Entstehungsgeschichte  des  Stiickes  als  Anspielung  auf  die  Yergangenheit 
und  Gegenwart  Osterreichs^^:  Wie  eine  Geschichte  aus  einem  Buch  wird  das 
marchenhafte  Bild  eines  wirtschaftlich  boomenden  Osterreichs  im  satirisch- 
grotesken  Stiick  Jelineks  verzerrt  nacherzahlt:  Land  im  Wirtschaftswunder 
erscheint  als  eine  Touristeninsel  im  Dienste  des  staatlichen  Kannibalismus: 
Im  „Wurschtimperium"  des  Priisidenten  boomt  hocligradig  der  kapitalistische 
Auslandermarkt  im  Dienste  einer  -  wie  schon  bei  Nestroy  — 
Menschenkonservierung  und  daher  einer  Menschenausbeutung. 

Sprachlich  gesehen  wird  im  satirischen  Dramolett  PnisidentAbendmnd 
eine  Denunziation  der  Prasidentenfigur  -  in  Anspielung  auf  die  braune 
Yergangenheit  des  kandidierenden  Bundesprasidenten  Waldheims  im  Dritten 
Reich  -  durch  das  satirische  Sprachspiel  nestroyscher  Priigung  und  durch  die 
Entstellung  von  eingebetteten  Idiomen  einer  volkstiimlichen  und  volkischen 
Sprache  durchgefiihrt."  Die  Paraphrasierung  von  Nestroys  groteskem  Stiick 
Hdiiptling  Ahendmnd  oder  das  gran  lie  he  Festniahl  (1862)  zu  jelineks  Prasident 
Abendmnd  war  eine  Auftragsarbeit  tiir  das  Literaturhaus  Berlin.  Aus  der 
nestroyschen  Posse  der  Anthropophagie '~  wurden  vier  Stiicke  im  Dienste  des 
experimentellen  Tlieaters  geschiieben.'*'*  Abgesehen  vom  Unterscliied  des  Grades 
der  Theatralitat  zwischen  Nestroys  Faschingsburleske  und  der  sprachlich 
farcierten  Groteske  jelineks  hat  Pnisident  Ahendwiud d^AS  sprachstilistische  Spiel 
mit  den  Homonymen  und  llomophonen,  Alliterationen,  Tautologien, 
Paranomasien  dennoch  mit  Nestroy  gemein.  Idiomatische  und  floskelhafte 
Formen  sowie  neologische  Komposita  aus  einer  vom  Dialekt  endehnten 
Sprache  der  Kannibalen  fiigen  sich  in  [elineks  Groteske  -  wie  Nestroys 
Sprachdiftusion  —  zu  einer  hochgradig  artifiziellen  Sprachkomposition 
zusammen,  die  ihrerseits  im  Text  eine  stiindige  W'erteverschiebung  im 
okonomischen,  ideologischen  und  sexuellen  Sinn  bewirkt.  Dies  wird  auch  im 
Zitat  aus  Johann  StrauB'  ¥ledermaiis  (1 874)  am  Ende  des  Stiickes  deutlich,  das 
anschlicBend  des  Gegessenwerdens  vom  Abendwind,  kollektiv  -  wie  auch  die 
Symphonie  im  Bmgtheater—  vorgetragen  wird: 

Gliickiich  ist,  wer  vergisst,  /  was  doch  nicht  zu  andern  ist.  FriBt  die 
Braut  /  ungeschaut  /  friBt  den  Mann  /  gleich  is  tan!  /  FriBt  alle  Leut, 
/  ob  dumm,  ob  gescheut!  /  Schaun  sich  dann  selber  im  Fernsehn  an. 
/  Nimmst  mit  Appedt  dein  Yolk  zum  Fressen  mit.  /  Sogar  der 
arme  Mann  /  stolz  wird  Nahrung  dann  /  von  an  gwissen  Herrn,  / 
der  friBt  Menschen  gern.  /  Gliickiich  ist,  /  wer  vergiBt  /  was  doch 
noch  zu  andern  ist. . .  usw.^"* 

146 


Intention  der  Autorin 

Die  spielerisch-subversivcn  Bildmontagen  Jelineks  sind  im  Be2ug  auf  die 
dekonstruktive  Methode  mit  dem  methodisch-experimentellen  Verfahren  der 
Montage  der  Wiener  Gruppe^^  verwandt.  Hierbei  ist  die  Analogie  zwischen 
)elineks  Kasperladaption^''  und  Konrad  Bayers  kaspeii aw  elektnscheii  stnbl.  Ein 
avantgardistisches  Medientheater  (1957),  in  dem  der  Kasperl  gleichfalls  als  eine 
Symbolfigur  fungieren  soil,  ersichtlich.^^  Selbst  Jelineks  Ich  liehe  Osterreich  (2000) 
lasst  sich  ebenfalls  in  die  Adaptionsreihe  einreihen,  in  welcher  der  Kasperl 
zumeist  mit  politisch  beladenem  Hintergrund  subversiert  eingesetzt  wird. 
Eine  Bedeutungsverschiebung  mit  der  Montage  kann  in  diesen  Stiicken 
„spontan  assoziativ,  spiclerisch  subversiv""*"  sein,  wenn  die  Sinnerwartung 
des  Rezipienten  durchgebrochen  wird.  In  dieser  Hinsicht  woirde Jelinek  in  den 
friihen  fahren  von  der  textuellen  und  visuellen  Montage  der  Wiener  Gruppe 
stark  inspiriert. 

Im  Mittelpunkt  Bildmontagen  zu  den  Stucken  Bitrgtheater  und 
Priisidcnf  Ahendif/nd w'xxd  der  Lcsevorgang  mit  dem  Kasperl  und  seinem  Buch 
inszeniert.  Die  Figur  des  lesenden  Kasperls  tritt  zugleich  als  Epigone  auf  und 
signaUsiert  selbst  dieses  Handein:  Das  Nacherzahlen  bedeutet  hier  keine 
tbeatralische  Mimesis,  was  die  Programmatik  einer  grotesk-derben 
Stegreifkomik  bedeuten  wiJrde,  sondern  ein  Umdichten  von  einem  bereits 
bestehenden  Textmaterial:  Die  Vorgeschichten  der  Wesselys  und  Waldheims 
im  Rahmen  volkstheatraliscber  Zurschaustellung. 

jelineks  Thema  ist  in  diesen  sowie  in  zahlreichen  anderen  Werken 
das  sprachliche  BloBstellen  von  ehemaligen  Akteuren  des  Nationalsozialismus. 
AhnUch  wie  im  Stiick  Wolken.Heiw  (1988),  das  eine  radikale  Montage  aus 
Texten  von  Holderkn,  KJeist,  Fichte,  Hegel,  Heidegger  und  Ausziigen  aus 
Briefen  der  RAF-Haftlinge  ist,  sowie  wie  im  weniger  bekannten  Stiick  Der 
tansendjdhrige  Vosten  oder  Der  Germanist  (2003),  das  auf  der  Basis  von  Franz 
Schuberts  Singspielen  Dervierjdhrige  Vosten  (1 81 5)  und  Die Ziri/lingsbriider {\^\^) 
entstanden  ist,  wird  die  sich  ,fortpf!anzende'  ideologisch  gepriigte  Sprache 
zum  Mittel  des  Zertriimmerungsprozesses. 

Das  im  Text  stiindig  stattfindende  Versprechen  und  Stottern  bzw. 
die  sich  aktualisierende  „Sprachschiebung  des  Schauspulas"^"  signaUsiert  diesen 
textimmanenten  und  automatistischen  Fortgang  eines  de(kon)struktiven 
Sprachprozesses.  Die  Denunziation  wird  daher  nicht  bildUch-real,  sondern 
sprachlich-experimentell  vorgenommen  und  auf  bildlicher  Ebene  mit  der 
Figurendemontage  sowie  der  online  veroffentlichten  Bildmontagen 
untermauert.  Die  Relation  zwischen  den  verschiedenen  Ebenen  der 
Sprachtradition,  zwischen  der  Sprache  des  ,Yolkes'  und  der  Gattung  des 
,Volksstiicks',  bedeuten  hier  keine  erzielte  Symbiose,  sondern  ein  Ineinander- 
und  Obereinandergehen  des  I  leterogenen,  ein  Entschleierungsmechanismus: 

Der  Volks-  und  Staatsschauspieler,  sein  Mittel  die  Sprache,  genauer: 

147 


sein  Repertoire,  das  alltagssprachlich  und  aktuell  ideologisch 

durchsetzt,  die  Vermischung  des  Heterogenen  quasi  selbsttatig 

ausfiihrt.  [...]  Die  Loslosung  scheinbar  disfunktionaler  Sprach- 

Etiiden  von  der  Handlung,  die  Exhibition  der  Sprachvirtuositat  an 

der  Rampe,  wird  [...]  zum  Mittel  der  Selbst-Denunziation  des 

Schauspielers.* 

Interessant  ware  nach  einer  Autorinstanz  in  den  Texten  zu  suchen.  In  der 

Videoaufzeichnung    von   Jelineks    Rede    Im   Abseifs    (2004)    zur 

Nobelpreisverleihung  wird  der  Zusammenhang  zwischen  Autorschaft  und 

Sprache  gesucht  und  eine  Relation  von  Distanz  und  Nahe  aufgestellt: 

Es  ist  kein  willkiirlicher  Vorgang,  das  mit  Sprache  Sprechen,  es  ist 

einer,  der  unwillkiirlich  willkiirlich  ist,  ob  man  will  oder  nicht.  Die 

Sprache  weiB,  was  sie  will.  Gut  fiir  sie,  ich  weiB  es  namlich  nicht,  und 

ich  weiB  die  Namen  nicht.  Das  Gerede,  das  Reden  iiberhaupt  redet 

jetzt  dort  driiben  weiter,  denn  es  ist  immer  ein  Weiterreden,  ohne 

Anfang  und  Ende,  aber  es  ist  kein  Sprechen.  Es  redet  also  dort 

driiben,  wo  sich  immer  die  anderen  authalten,  weil  sie  sich  nicht 

aufhalten  wollen,  sie  sind  sehr  beschiiftigt.  Dort  driiben  nur  sie.  Ich 

nicht.^' 

In  Jelineks  online  verotfentlichten  Xestroy-Essay  sich  wit  der  Sprache  spielen 

(2001)  wird  cbenfalls  indirekt  aut  diese  spielerische  \'ermittlertunktion  der 

Sprache  verwiesen: 

Nestrov  ist  ein  verspielter  Autur,  glaube  ich,  er  spielt  sich  (ja:  sich!) 

mit  der  Sprache,  in  die  er  sich  einmal  hineinbnngt  und  dann  wieder 

herausnimmt.  Er  zwiingt  sich  hinein,  schmeiBt  ein  bissel  mit  den 

Wbrten  und  Satzen  herum,  dann  liiBt  er  sie  wieder  fallen,  und  dann 

sagen  sie  oline  Umschweife:  was  los  ist.  W  as  sich  irgendwo  losgerissen 

hat.^- 

Der  Hinweis  „(ja:  sich!)"  der  Autorin  iiber  Nestroys  Sprach-  und 

Schauspielerartistik  signalisiert  die  selbstiindige  Sprechinstanz  der  nestroyschen 

Sprache.  Jelineks  Adaption  von  Nestroy  ermoglicht  im  Stiick  dieses  autonome 

Sprachexperiment:  eine  i\nnaherung  und  gleichzeitige  Abgrenzung,  eine  Nahe 

und  gleichzeitige  Distanz  zum  eigenen  Schreibvorgang.  Die  Textoperation  in 

den  beiden  osterreichischen  Satiren  erweist  sich  durch  das  Montageverfahren 

und  durch  das  sprachstilistische  Experimentieren  wie  ein  autonomes 

de(kon)struktives  „Spiel""'^  —  im  Sinne  Demdas  -  mit  den  heterogenen  Ebenen 

der  Traditionsvorstellungen.  Dieses  „Spier',  das  eine  „Permutation  oder 

Transformation"  im  Text  ermoglicht,  wird  jedoch  von  einem  „Zentrum" 

begrenzt,  wodurch  die  endlose  Kette  der  traditionsbeladenen  Sprachebenen, 

die  in  immer  wieder  neueren  \^ariationen  ineinander  geschoben  werden, 

vorangetrieben  wird."" 

In  Burgtheattr  und  Prasident  Abeudwiiid  wird  versucht,  eine 

148 


De(kon)struktion  tradierter  Formen  anhand  ciner  avancierten  Kunstsprache'*^ 
zu  bewerkstelJigen,  die  sich  zwar  an  osterreichische  sprachexperimentelle 
Traditionen  anschlieBt,  sich  davon  aber  zugleich  abgrenzt.  Dabei  wird  durch 
die  intertextuelle  Methode  der  Montage  im  poststrukturalisdschen  Sinne 
eine  Hinterfragung  totalitiirer  Strukturen  in  der  Sprache  der  Traditionen  selbst 
erprobt.  Das  Zitieren  von  tradierten  Phrasen  und  Floskeln  und  die  Anderung 
sprachlicher  und  semantischer  Konstrukdonen  werden  zum  Mittel  einer 
spielerischen  Entstellung,  Aufsprengung  und  \'erschiebung  verfestigter 
Sinnkonstruktionen,  was  dem  einen  Zweck  dienen  sf)llte:  das  doppelbodige 
Traditionsverstiindnis  uber  volkstiimliche  und  volkische  Kunst,  spielerisch 
zu  hinteri:'ragen. 

Endnotes 

'  Gesprach  zwischen  Franz  Stadler  und  Elfriede  Jelinek:  Franz  Stadler,  Mit  sozialem 

Blick  und  scharfer  Zunge,  in:  Die  Volksstimme  von  24.08.1986,  7. 

^  Diese  Tradition  weist  hinsichtlich  der  experimentellen  Stilistik  und  der  verstarkten 

Anwendung  der  Sprachmontage  eine  Kontinuitat  ausgehend  von  johann  Nepomuk 

Nestroy  iiber  Karl  Kraus  bis  eigentlich  zur  Wiener  Gruppe  auf.  \'gl.  Margaret  Sander, 

Textherstellungsverfahren  bei  Elfriede  jelinek  (=  Epistemata  179),  W'iirzburg  1996,  19- 

26. 

'  Kurt  Palm,  Hg.,  hurgtheater,  Ziiolfelduteu,  Bliit,  Besiicbsi^eit.  Vier  osterreichische  Stiicke, 

^X■ien  1987,  227-233,  bes.  230. 

''  \'gl.  Palm,  Burgtheater,  wie  Anm.  3,  229-  230. 

'  Stadler,  Mit  sozialem  Blick,  wie  Anm.  1.,  7. 

''  \'iktoria  Heifer:  (Dis-)Kontinuitat  zur  osterreichischen  Tradition  in  Elfriede  [elineks 

Biirgtheater  und  Prasident  Aheiidirhid,  in:  Claus  Zittel  u.  Marian  Holona,  Hg.,  Positionen  der 

lelinek-Forschung  (=  )ahrbuch  tiir  Internationale  Germanistik,  Reihe  A,  Bd.  74),  Bern  u. 

a.  2008,  S.  315-330. 

Die  Kridk  der  Kunstler  an  einer  Reminiszenz  osterreichischer  Tradidon  in  den  1980er 
Jahren  (wie  z.  B.  auch  bei  Heinz  R.  Unger,  Felix  Mitterer  und  Thomas  Bernhard)  lasst 
sich  aus  historischer  Sicht  einerseits  als  Folge  der  kurz  zuriickliegenden  faschistoid 
gepragten  osterreichischen  Vergangenheit  und  andererseits  als  Gegenreaktion  zum 
nationalistisch  und  restaurativ  ausgerichteten  Theaterbetrieb  bis  zur  sogenannten 
W'aldheim-Affare  erklaren. 

"  Einerseits  war  die  Rede  der  Schriftsteller  iiber  ein  Osterreich,  das  seine  NS-\  ergangenheit 
mit  dem  sogenannten  ,Opfermythos'  zu  leugnen  suchte,  andererseits  iiber  die  ,Osterreich- 
Ideologie'  in  der  Literatur  und  Kunst,  die  im  restaurativ-konservativen  Sinne  eine 
ehrenwiirdige  osterreichische  Kultur  propagierte  und  gegen  einen  \'erlust  des 
nadonalisuschen  Stellenwerts  des  Wiener  Burgtheaters  protesderte.  \'gl.  Klaus  Zeyringer, 
Osterreichische  Literatur  seit  1945:  Uberblicke,  Einschnitte,  Wegmarken,  Innsbruck 
2001,  79.  u.  175;  Ders.,  Innerlichkeit  und  Offentlichkeit:  osterreichische  Literatur  der 
achtziger  jahre,  Tiibingen  1992,  95  152. 

'  Wolfgang  Seibel,  Die  Formenwelt  der  Fertigteile.  Kiinstlerische  Montagetechnik  und 
ihre  Anwendung  im  Drama,  Wiirzburg  1988,  131. 

'"  Walter  Benjamin:  Karl  Kraus,  in:  ders.,  Gesammelte  Schriften,  Bd.  11/ 1.  hg.  \:  Rolf  Tiedemann 
u.  Hermann  Schweppenhauser,  Frankfurt  a.  Main  1977,  334-367,  hier  365. 
"  Thematisiert  wird  die  ,Sprachreinigung'  bekanntlich  im  Gedicht  Die  Sprache  (1925)  von 
Karl  Ivraus,  in  dem  es  heiBt,  dass  die  Sprache  -  durch  das  Montageverfahren  des  Autors 


149 


-  von  der  „Dirne"  zur  „Jungfrau"  werde. 

'^  Die  Konzeption  vom  „Ursprung"  spielt  sich  in  der  Lyrik  v«n  Kraus  leitmotivisch 

durch:  Eine  zeitlose  und  naturnahe  Gegemvelt  steht  im  Kontrast  zur  verbrecherischen 

Zeim^elt  der  GeselJschaft.  Vgl.  Kurt  Krolop:  Dichtung  und  Sadre  bei  Karl  Kraus,  in:  Kurt 

Ivrolop,  Hg.,  Kommentare  zu  Karl  Ivraus.  Beiheft  zur  dreibandigcn  Kari-Kraus-Auswahl, 

Berlin  1978,  89-127,  bes.    95-96. 

'^  Zur  Gemeinsamkeit  von  Montagestrukturen  von  Kraus'  Die  let:^ten  Tage  der  Menschheit 

und  Jelineks  Burgtbeater  ziihle  ich  z.  B.  exkJamative  Phrasen,  kommutierte  Gedichtzitate 

und  typische,  verballhornte  Wiener  Musik-  und  Liedzitate  aus  der  Zeit  der  Monarchie 

bzw.  des  Nationalsozialismus.  Die  Referenzbeziige  werden  sowohl  bei  Kraus  als  auch 

bei  Jelinek  meistens  ohne  Markierung  suspendiert,  wodurch  das  Zitat  krvptisch  wird 

und  fiir  den  Leser  zumeist  unkenntlich  bleibt. 

'"  Manfred  Pfister:  Konzepte  der  Intertextualitiit,  in:  Manfred  Pfister  u.  L'lrich  Broich, 

Hg.,  Intertextualitat.  Formen,  Funkdonen,  anglisdsche  Fallstudien,  Tiibingen  1985,  1-30, 

hier  15. 

''  Vgl.  dazu:  Michael  Riffaterre,  The  Semiotics  of  Poetry,  London  1980,  100,  130  u.  165. 

'^  Die  Lust  an  der  sprachlichen  Dekonstruktion  der  Autorin  wird  im  programmatischen 

Essay  „Ich  schlage  sozusagen  mit  der  Axt  drein"  thematisiert.  In:  TheaterZeitschrift  7 

(1984),  14-16. 

''  Vgl.  Marie-Therese  Kerschbaumer,  Bemerkungen  zu  Elfriede  Jelineks  Burgtbeater,  in: 

diess..  Fur  mich  hat  das  Lesen  etwas  mit  Fliessen  zu  tun...Gedanken  zum  Lesen  und 

Schreiben  von  Literatur,  W'ien  1989,  143  163;  Sander:  Textherstellungsverfahren,  wie 

Anm.  2.,  41-46. 

'*  Jelinek,  Ich  schlage  sozusagen  mit  der  Axt  drein,  wie  Anm.  16.,  16. 

"  Jelinek  sagt,  dass  sich  diese  Tradidon  in  der  Theaterinszenierung  des  Wiener  Burgtheater 

bis  zur  Ara  Peymann  fortsetzt  und  in  den  deutsch-osterreichischen  Fernsehserien 

weiterlebt,  wie  etwa  im  Schlosshotel  Orth  (1996-2004).  Vgl.  dazu  das  Interview  mit  Elfriede 

Jelinek.  In:  Harald  Friedl,  Hg.,  Die  Tiefe  der  Tinte,  Salzburg  1990,  27  51,  hier  44. 

^^  Vgl.  Zitat  dazu:  „Der  Faschismus  war  nicht  bloB  die  Verschworung,  die  er  auch  war, 

sondern  entsprang  in  einer  machtigen  gesellschaftlichen  Entwicklungstendenz.  Die 

Sprache  gewahrte  ihm  Asyl;  in  ihr  auBert  das  fortschwelende  Unheil  sich  so,  als  ware  es 

das  Heil."  Indem  die  Sprache  des  „Plebiszitare[n]  und  Elitare[n]"  raffiniert  gemischt 

wurde,  UTirde  eine  Sprache  der  Propaganda  erschaffen.  In:  Theodor  W'.  Adorno,  ]argori 

der  Eigeiitlichkeit,  Frankfurt  a.  Main  1964,  8-9. 

^'  Elfriede  Jelinek:  Burgtbeater,  in:  Ute  Nyssen,  Hg.,  Theaterstiicke,  Koln  1984,  113. 

^  Das  um  1710  in  der  Wiener  Vorstadt  entstandene  Alt- Wiener  Volksstiick  war  ein  eng 

lokal  gebundenes,  volksnahes  Pendant  zum  biirgerlichen  Trauerspiel,  das  seit  seiner 

Entstehungszeit  parallel  zum  klassischen  Repertoire  des  Wiener  Burgtheaters  exisderte. 

Vgl.  Manfred  Brauneck,  Theatedexikon,  Hamburg  1986,  48.    Theaterhistorisch  gesehen 

wurde  im  Wiener  Burgtheater  seit  dem  19.  Jahrhundert  das  Ziel  verfolgt,  die  Ausbildung 

einer  nationalen  Theaterkultur  biirgerlichen  Zuschnitts  im  Dienste  einer  asthenschen 

Erziehung  und  moralischen  Beforderung  zu  stellen.  Diese  Funktion  von  Reprasentanz 

hoher  kultureller  Werte  wurde  im  Dritten  Reich  beibehalten,  wofiir  jedoch  das 

Repertoire  indoktriniert  wurde.  Stiicke  des  barocken  Volkstheaters  und  Stiicke  des 

Klassizismus  wurden  zum  Zwecke  einer  arischen  Kultur  einvernahmt  und  streckenweise 

umgeschrieben.  Vgl.  Margret  Dietrich,  Das  Burgtheater  und  sein  Publikum,  Bd.  1,  W'ien 

1976,675-707. 

^'  Siehe  Webseite  der  Autorin:  u-\\-w.elfriedejelinek.de,  unter  Burgtheater 

^■'  Recherche  zu  den  Zitaten  aus  Filmen  und  Operettenstiicken:  Evelyn  AnnuB,  Elfriede 

Jelinek  -  Theater  des  Nachlebens,  Munchen  2005,  104-135;  Sabine  Perthold,  Elfriede 

Jelineks  dramatisches  Werk.  Theater  jenseits   konventioneller  Gattungsbegriffe, 

unveroffendichte  phil.  Diss.,  Universitiit  W'ien  1991. 

150 


"  Zum  Montageverfahren  im  Stiick  Bttrgtheater  sagt  die  Autorin  in  einem  Interview,  dass 

die  Figuren  eigentlich  Kunstfiguren  und  die  Dialoge  eigentiich  Montagen  sind:  „Das 

meiste  [wurde]  direkt  am  Schneidetisch  aus  Filmen  entnommen.  Es  ist  mir  darum 

gegangen,  die  Kontinuitiit  der  verkommenen  ideologischen  Sprache  -  von  Nazifilmen 

iiber  die  Heimatfilme  der  fiinfziger  Jahre  bis  bin  zu  beutigen  Familienserien  oder  auch 

pbilharmonischen  Konzertprogrammen  -  aufzuzeigen,  diesen  mythologisierenden 

Einbeitsbrei,  der  iiber  alles  gegossen  wird."  In:  Stadler,  ^Lt  sozialem  Blick,  wie  Anm.  1., 

7. 

"''  Zur  Entnazifizierungsgeschichte  der  Burgtheaterschauspieler:  Hans  Daiber,  Deiitsches 

Theater  seit  1945,  Stuttgart  1976,  43-50. 

-  Elfriede  Jelinek,  Burgtheater,  wie  Anm.  21.,  149.  Vgl.  das  Zitat  aus  dem  nationalsozialistisch- 

propagandistischen  Spielfilm  Heimkehr  (1941):  „Und  in  der  Nacht,  in  unseren  Betten, 

wenn  wir  da  aufwachen  aus'm  Schlaf,  da  wird  das  Herz  in  'nem  siiBem  Schreck  plotzlich 

wissen,  wir  schlafen  ja  mitten  in  Deutschland,  daheim  und  zuhause,  und  ringsum  ist  die 

trostliche  Nacht,  und  ringsum  da  schlagen  Miilionen  deutsche  Herzen  und  pochen  in 

einem  fort  leise:  daheim  bist  du,  Mensch,  daheim,  daheim  bei  den  Deinen.  Dann  wird 

uns  ganz  wunderlich  sein  ums  Herz,  dass  die  Krume  des  Ackers  und  das  Stiick  Lehm 

und  der  Feldstein  und  das  Zittergras  und  der  schwankende  Halm,  der  Haselnussstrauch 

und  die  Baume,  dass  das  alles  deutsch  ist,  wie  wir  selber,  zugehorig  zu  uns,  weils  ja 

gewachsen  is  aus  den  Miilionen  Herzen  der  Deutschen,  die  eingegangen  sind  in  die 

Erde    und    zur    deutschen    Erde    geworden    sind."    In:    Gerald    Trimmel,    Der 

nationalsozialistische  Spielfilm  Heimkehr.  Strategien  der  Manipulation  und  Propaganda 

(9.5.2003),  in:  URL:  http//:www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/studium/kultur/ 

film/heimkehr.pdf    (1.09.2006). 

•^  \'gl.  GiJnter  Grack,  Wiener  Schmiih,  Elfriede  Jelineks  Bitrglhealer  beim  Theatertreffen, 

in:  Der  Tagesspiegel  vom  18.05.1986. 

^'  Siehe  die  XX'ebseite  der  Autorin:  www.elfriedejelinek.de,  unter  Prasideiit  Abendifind. 

^  \'gl.  dazu  das  Zitat  von  Sigfrid  Loffler:  „Spatestens  die  Waldheim-Debatte  der  achtziger 

Jahre  war  der  AnstoB,  daf?  die  Osterreicher  ihre  Erfolgmythen  zu  problematisieren  und 

ihre  Geschichtsliigen  reihenweise  zu  revidieren  begannen,  vom  Opfermythos  bis  zum 

Marchen  von  der  Sozialharmonisierung.  Auch  ohne  die  Vergesslichkeitsleitungen  des 

\  erdranger  Prasidenten  ware  die  Zeit  reif  dafiir  gewesen,  dafi  nun  die  Enkelgeneration 

die  Geschjiftsgrundlagen  der  Firma  Osterreich  II  kritisch  iiberpriift.  Seither  gilt  Osterreich 

als  beides  zugleich:  Succes  Stor\'  und  Liigengebilde."  In:  Sigfrid  Loffler,  Kritiken  — 

Portraits  -  Glossen,  \X  ien  1995,  43. 

"  Vgl.  Angela  Gulielmetti,  Hduptling  Aheiidnitid  und  Prdsideiif  Abendivnid.  Nestroy  und 

Elfriede  Jelinek,  in:  Nestroyana.  Blatter  der  Internationalen  Nestroy-Gesellschaft  (1997), 

H.  1/2.  39-49. 

'^  Anthropophagie  war  auf  der  Stegreifbiihne  und  im  Commedia  dell'Arte  ein  beliebtes 

Motiv,  was  noch  auf  die  robe  und  derbe  Unterhaltung  vorstadtischer  Tierkampfe 

zuriickzufiihren  ist. 

"  Die  Autoren  waren  Elfriede  Jelinek,  Helmut  Eisendle,  Libuse  Monikova  und  Oskar 

Pastior.  Vgl.  Herbert  Wiesner:  Nachwort,  in:  ders.,  Hg.,  Anthropophagen  im  Abendwind, 

(=Texte  aus  dem  Literaturhaus  Berlin  2),  Berlin  1998,  113. 

'"  Elfriede  Jelinek:  Prdsident  Ahenduiiid,  in:  Heinz  Ludwig  Arnold,  Hg.,  Text  und  Kritik,  H. 

117,  Miinchen  ^1999,  34.  Vgl.  das  bekannte  Zitat  aus  dem  Libretto  der  Operette  Die 

Fledermaiis:  „Gliicklich  ist,  wer  vergisst,  was  doch  nicht  zu  iindern  ist."  \'on  lelinek  wird 

das  Wort  „nicht"   zum   Schluss   in   Hinblick   auf   die   Kandidatur  Waldheims   als 

Bundesprasident  auf  „noch"  geandert. 

'"  Das  urspriingliche  dadaistische  Prinzip  der  Text  und  Bildmontage  wurde  in  der 

medieniibergreifenden  Kunst  der  Wiener  Gruppe,  wie  z.  B.  in  der  visuellen  Lyrik,  in 

den     195lier     und      1960er     |ahren     wiederbclebt.     Eine     X'erfremdung     in     den 

15: 


sprachexperimentellen  Gedichten  und  flappenings  wurde  bei  H.  C.  Artniann,  Gerhard 

Riihm,  Konrad  Bayer,  Friedrich  Achleitner  und  bei  Oswald  Wiener  methodisch  gesehen 

durch       das       Ineinandergleiten       und       Aufeinanderschieben       verschiedener 

Bedeutungsebenen,  die  selbst  mit  Tradition  beladen  warden,  sowie  durch  das  mediale 

Crossover  einer  Montage  oder  Collage  erreicht.  \'gl.  Walter  Buchebner,  Hg.,  Die  Wiener 

Gruppe,  Wien  u.  Koln  198"'. 

'*  Kasperl  als  osterreichisches  Spezitlkum  taucht  bereits  in  |elineks  triihen  Roman  mr 

stud  lockvogel,  baby!  (1970)  auf. 

^'  Zum  Montageverfahren  der  Wiener  Gruppe:  Andre  Bucher,  Die  szenischen  Texte  der 

Wiener  Gruppe  (=  Ziiricher  Germanistische  Studien  31),  Bern  u.  a.  1992;  .\lbert  Berger, 

Zur  Sprachiisthetik  der  Wiener  Avantgarde,  in:  Buchebner,  Die  \X  lener  Gruppe,  wie 

Anm.  36.,  30-45. 

''  Vgl.  Bucher,  Die  szenischen  Texte,  wie  Anm.  38.,  49. 

"  Elfriede  Jelinek,  Burgtheater,  wie  Anm.  21.,  130. 

■*  Vgl.  Hubert  Lengauer,  jenseits  vom  Volk:  Elfriede  Jelineks  ,Posse  mit  Gesang'  burglheater, 

in:  Ursula  Hassel  u.  Herbert  Herzmann,  Hg.,  Das  zeitgenossische  deutschsprachige 

\olksstack,  TCibingen  1992,  217-228,  hier  219. 

■"  Elfriede  Jelinek:  ////  Abseils  (9.1.2005),  in:  URL:  http://our\vorld. CompuServe. com/ 

homepages/elfriede/  (1.09.2006). 

"^  Elfriede  jelinek:  sich  wit  der  Spracbe  spieleii,  in:  URL:  http://ourworld.compuserve.com/ 

homepages/elfriede/  (1.09.2006.).  \'gl.  auch  Yasmin  Hoffman:  Hier  lacht  sich  die  Sprache 

selbst  aus.  Sprachsatire  bei  Elfriede  )elmek,  m:  Kurt  Bartsch  u.  Giinther  Hofler,  Hg., 

Elfriede  Jelinek,  Graz  1991,  41-45. 

*^  Derrida  weist  auf  die  Ambiguitat  der  Sprache  hin,  die  Zwangstrukturen  eines 

hierarchischen  und  wertenden  Systems  ,wahr'  und  ,falsch'  zu  stabilisieren  suchen.  An 

der  Stelle  eines  Realitatsdefmierens  kommt  der  Begriff  des  „Spiels",  worunter  Derrida 

die  „Abwesenheit  eines  Zentrums"  versteht.  In:  Jacques  Derrida:  Die  Struktur,  das  Zeichen 

und  das  Spiel  im  Diskurs  der  Wissenschaften  vom  Menschen,  in:  Ders.:  Die  Schrift  und  die 

Differen-:^  Frankfurt  a.  Main  1972,  'MIA'M. 

""  Ebd.,  422-423. 

*^  Elfriede  Jelinek,  Burglhea/er,  wie  Anm.  21.,  102.  Vgl.  dazu  auch  die  Aussage  der  Autorin: 

„Ein  simpler  Naturalismus  ist  nicht  imstande,  aUe  Aspekte  der  Wirklichkeit  so  abzubilden, 

da(5  sie  als  veranderbar  erkannt  werden  kann,  sondern  liefert  vielleicht  ein  plattes 

Abziehbild."  In:  Josef  Hermann  Sauter:  Interview  mit  Elfriede  Jelinek,  in:  Weimarer 

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,55 


156 


Das  Verblassen  des  Unsichtbaren 

Schillers  dsthetische  Briefe  nach  den  X^eiwirrungen  von 
TorkJ^  und  dem  beschddigten  "Leben  Adornos 

Manuel  Clemens 


Es  gibt  einen  alten  Witz,  in  dem  eine  Schulklasse  einen  Aufsatz  iiber  Faulheit 
schreibt.  Am  Ende  erhalt  derjenige  die  beste  Note,  der  nur  ein  leeres  Heft 
abgibt  und  auf  die  letzte  Seite  geschrieben  hat:  „Das  ist  Faulheit!"  Ahnlich 
verhalt  es  sich  auch  mit  der  zweckfreien  Bildungsidee.  W'enn  man  ihren  Zweck 
angeben  miisste,  wiirde  man  auch  am  liebsten  nur  ein  unbeschriebenes  Heft 
abgegeben.  Allerdings  nicht  aus  Faulheit,  sondern  weil  gerade  diese 
Unsichtbarkeit  und  Unbestimmbarkeit  die  W'irkung  des  Zweckfreien  am  besten 
darstellen  wiirde. 

Auch  Schillers  Bildungstheorie  in  seinen  Bnejhi  iiber  die  dsthetische 
Ei'r^ehtmgdes Menscheu  hat  die  unbestimmte  zweckfreie  W'irkung  der  schonen 
Kiinste  zur  Grundlage.  Es  soil  jedoch  am  Beispiel  von  Robert  Musils 
Antibildungsroman  Die  X^erwirrungen  des  Zoglitigs  Tor/e/f  und  der  Bildungskritik 
Theodor  VC;  Adornos  gezeigt  werden,  dass  es  gerade  die  Zweckfreiheit  ist, 
welche  naher  bestimmt  werden  miisste,  um  Kunst  wirkungsvoll  einsetzen  zu 
konnen.  Der  Titel  dieses  Aufsatzes  -  Das  Verblassen  des  Unsichtbare/?  -  steht  fiir 
dieses  Problem.  Mit  dem  „Unsichtbaren"  ist  die  Wirkung  des  Zweckfreien  in 
einer  zweckrational  denkenden  GeseUschaft  gemeint.  Mit  „Verblassen",  dass 
diese  unsichtbare  Wirkung  vom  zweckrationalen  Denken  nur  noch  selten 
erkannt  und  geschatzt  werden  kann,  weil  dem  konkreten  sichtbaren  Zweck  der 
Vorranggegeben  wird.  Konkret  und  sichtbar  ist  dieser  Zweck,  da  er  im  Vorfeld 
geplant  und  angestrebt  werden  kann.  Gegeniiber  Kreativitat  ist  er  resistent, 
Neues  und  Unbekanntes  wiirde  in  diesem  starren  Ablauf  als  Fehler  angesehen. 
Das  Unsichtbare  und  Zweckfreie  ist  dagegen  ein  offener  Prozess,  sein  Zweck 
ist  nicht  sichtbar,  da  er  sich  wahrend  eines  Prozesses  ergibt,  sich  immer  wieder 
verandert  und  erst  im  Nachliinein  benannt  werden  kann.  \X  ahrend  das  Sichtbare 
beherrscht  werden  kann,  beinhaltet  das  Unsichtbare  Riitselhaftes  und  stellt 
dutch  seine  Offenheit  Identitiit  und  W'eltbild  in  Frage.  Wie  das  Zweckfreie 
gegeniiber  dem  Zweckrationalen  zur  Geltung  gelangen  kann,  ist  das  Thema 
dieses  Essays. 

Zuerst  wird  anhand  xon  Schillers  asthetischen  Briefen 
herausgearbeitet,  wie  er  den  fiir  das  UbermaB  an  RationaUtat  verantwordiche 


157 


Formtrieb  durch  die  lebendige  W'irkung  dcs  Sttjfftriebs  ausgleichcn  und  im 
daraus  resultierenden  Spiel  das  zweckfreie  Menschsein  und  moralisch  Gute 
verwirklichen  mochte.  AnschlieBend  sollen  Die  \''envirntiigt;>i  des  Zoglings  ToiieJ^ 
die  beiden  Schwachpunkte  dieses  Erziehungsprogramms  darstellen.  TodeB 
steht  dabei  fiir  den  von  Schiller  kritisierten  dekadenten  Kunstmenschen,  der 
sich  z\var  tur  das  Zweckfreie  sensibilisieren  liisst,  es  jedoch  nicht  aut  das  Leben 
und  moralische  Handeln  iibertragen  kann.  TorleB'  Gegenspieler,  Beineberg 
und  Reiting,  reprasenderen  dagegen  den  Bildungsbiirger,  bei  dem  die  Kunst 
nicht  einmal  in  der  Privatsphare  wirkt,  weil  er  auch  dort  dem  biirgerlichen 
Realitatsprinzip  nicht  nachgeben  kann  und  iiberhaupt  nicht  an  der 
ausgleichenden  Wirkung  des  Stofftriebs  interessiert  ist.  Beide  Punkte  sollen 
im  letzten  Teil  durch  die  Bildungskridk  Adornos  genauer  analysiert  werden. 
Anhand  seiner  Theorie  der  Halbbilduiig  sollen  TorleB'  Gespriich  mit  seinem 
MathematikJehrer  und  seine  Rechtferdgungsrede  am  Ende  des  Romans 
deutlich  werden  lassen,  wieso  sein  Spiel  mit  der  Kunst  nur  ftir  ein  Zwischenspiel 
reicht,  da  es  im  prakdschen  Leben  aufliort  und  sich  mit  den  zweckrationalen 
Anforderungen  der  Gesellschaft  arrangiert.  Adornos  Stiidien  ^uffi  autoriUiren 
Charakter  sollen  vor  dem  Hintergrund  seiner  Aufklarungskridk  ausfiihren, 
woher  bei  Beineberg  und  Reiting  das  Desinteresse  fur  Kunst  bzw.  die 
Zufriedenheit  ohne  Kunst  kommt.  Die  Antwort  soil  in  ihrer  Lust  auf  Intrigen 
und  Sadismus  gesucht  werden,  wodurch  sie  Schillers  Spieltrieb  in  ein  Gegenspiel 
verwandeln  und  sich  die  lebendige  sinnliche  Erfahrung  iiber  den  Umweg  der 
Bekampfung  derjenigen  gewahren,  deren  Leben  freier  und  unkontrollierter  ist 
als  ihres.  Am  Ende  soil  deutlich  werden,  dass  das  Zweckfreie  in  einer 
zweckradonal  denkenden  Gesellschaft  nur  bestehen  und  wirken  kann,  wenn 
es  sich  durch  die  ihr  entgegenstehende  Denkweise  vermittelt,  was  bedeutet, 
dass  es  als  Zwischenschritt  den  Zweck  ihrer  Zweckfreiheit  angeben  miisste, 
bevor  es  beansprucht  zu  wirken. 

L  Schillers  asthetische  Briefe 

Schiller  beginnt  seine  iisthedschen  Briefe  mit  einer  Kridk  an  der  Aufklarung.  Er 
kridsiert,  dass  durch  den  i.ibermaBigen  Glauben  an  die  Leistungen  der  Vernunft 
der  wirtschaftliche,  technische  und  wissenschaftliche  Nutzen  zu  einem  Idol 
der  Zeit  geworden  ist  und  der  Schonheit  und  Kunst  keine  nennenswerte 
Bedeutung  mehr  fiir  das  \Xbhl  der  Menschen  zugesprochen  wird.  Die  Folge 
hiervon  ist  die  Herausbildung  eines  Menschentypus,  der  unter  dem  Diktat 
von  Spezialisierung  und  zweck-instrumentellem  Denken  steht,  was  eine 
problematische  X'erarmung  seiner  Personlichkeit  darstellt.  Fiir  Schiller  ist  der 
alleinige  Glaube  an  die  Vernunft  nicht  der  \Xcg  zu  einer  freien,  besseren 
Gesellschaft.  E>  erkennt  zwar  ihre  Leistungen  an  und  mochte  sie  auch  nicht 
riickgangig  machen,  sieht  in  ihr  aber  bereits  auch  die  W'urzeln  fiir  zahlreiche 
Probleme  und  keinesfalls  das  alleimge  Mittel  zur  Umsetzung  der  Ideale  der 

158 


AufkJarung.  Bestes  Beispiel  ist  hierfiir  die  Franzosische  Revolutdon.  Sie  war  die 
Tat  einer  bloB  „theoretischen  Kultur'",  die  nicht  in  die  Herzen  der  Menschen 
vorgedrungen  ist.  Diese  waren  der  plotzlichen  auBeren  Freiheit  innerlich  noch 
nicht  gewachsen,  konnten  sie  nicht  mit  Leben  erfiiUen  und  lieBen  sie  sogar  in 
Brutalitat  ausarten.  Schiller  schliigt  deshalb  einen  entgegengesetzten  \X  eg  ein: 
Auf  dem  Weg  zur  aufgeklarten  Gesellschaft  stellt  er  die  Kunst  vor  Revolution, 
Wissenschaft  und  Philosophie.  Der  Grundgedanke  hierbei:  Ist  der  Mensch 
erst  einmal  fiir  die  sanfte  Kraft  des  Schonen  sensibilisiert,  ubertreibt  er  es  mit 
den  Errungenschaften  der  modernen  Zivilisation  nicht  und  kann  das  Gute  im 
EinkJang  mit  der  Natur  umsetzen. 

Im  weiteren  Verlauf  arbeitet  Schiller  diese  ausgleichende  Funktion 
der  Kunst  heraus,  welche  in  letzter  Konsequenz  zur  \'eredelung  des  Menschen 
fiihren  soil.  Fiir  Schiller  gibt  es  zwei  Typen  von  Menschen,  auf  welche  die 
Kunst  ihren  positiven  Flinfluss  ausiiben  soil:  Einerseits  soil  sie  den  „\\'ilden", 
den  Unterschichtsmenschen,  dessen  Geftihle  iiber  seine  GrundsJitze  herrschen, 
von  seinem  wilden  Triebleben  befreien  und  ihm  zeigen,  dass  die  Natur  nicht 
der  unumschrankte  Herrscher  sein  kann,  ihn  gewissermaBen  fiir  die 
Errungenschaften  der  Zivilisation  sensibilisieren.  Der  „Barbar"  wiederum 
zerstort  durch  seine  Grundsatze  seine  Gefiihle.  Er  verspottet  und  entehrt  die 
Natur  und  erkennt  nur  die  Vernunft  als  seinen  Herrscher  an.  Er  ist  der 
Kulturmensch,  dessen  \'erstandeskraft  zwar  hoch  entwickclt  ist,  ihn  jedoch 
einseitig  dominiert.  Schlimmer  noch:  Die  Kultur  hat  ihn  nicht  nur  schlecht 
erzogen,  sie  ist  auch  die  Quelle  seiner  Erschlaffung.  Die  Aufklarung  des 
N'^erstandes  hatte  keinen  veredelnden  Einfluss,  im  Gegenteil,  ihr 
Bildungsprozess  woirde  zu  einer  „moralischen  Tvrannei"".  Ihre  Grundsatze 
wurden  zwar  aufgenommen,  jedoch  nicht  umgesetzt,  da  sie  der  Natur  des 
Menschen  entgegengesetzt  sind.  Bildung,  Aufklarung  und  jeder  Versuch  zur 
\  eredelung  des  Menschen  bleiben  so  stets  theoretisch  und  konnen  nicht  in  die 
Praxis  umgesetzt  werden.  An  dieser  SteUe  wird  bereits  das  zentrale  Problem 
von  Schillers  Abhandlung  deutlich:  W'ie  kann  der  Ubergang  von  der  Natur- 
zur  Vernunftherrschaft  gestaltet  werden,  ohne  dass  dies  beim  Kulturmenschen 
zur  Erschlaffung  fiihrt,  weil  dessen  sinnUche  Bediirfnisse  zu  stark  von  der 
Vernunft  dominiert  werden?  Um  diesen  Ubergang  so  reibungslos  wie  mogUch 
zu  gestalten,  muss  ein  drittes  Medium  durchgefiihrt  werden,  welches  einerseits 
die  Natur  in  ihre  Grenzen  und  andererseits  den  \'erstand  in  die  seinigen 
verweist.  Diesen  vermittelndcn  Charakter  besitzt  fiir  Schiller  die  Kunst. 

Kunst  hat  das  Potential,  den  absoluten,  harmonischen  Menschen, 
bei  dem  die  sinnliche  Welt  und  die  Sittengesetze  im  Einklang  miteinander 
stehen,  auszubilden.  Sie  erreicht  somit,  dass  das  Sittengesetz  auf  natiirliche 
Weise  von  Menschen  gewollt  und  nicht  von  der  Vernunft  diktiert  wird.  W'ie 
kann  sie  eine  solche  Aufgabe  leisten?  Sie  muss  das  Emptlndungsvermogen, 
welches  durch  ein  UbermaB  an  \'crnunft  in  den  Hintergrund  geriet,  wieder 


159 


schulen.  Diese  Sensibilisierung  fiir  das  Schone  verfeinert  dann  gleichzeitig  die 
Sitten,  da  ein  guter  Geschmack  gleichzusetzen  ist  mit  „Klarheit  des  Verstandes, 
Regsamkeit  des  Gefiihls  Liberalitiit  und  W'urde  des  Betragens'".  Da  jedoch  die 
Realitat  zeigt,  dass  der  Sinn  tiir  Sclionheit  nicht  nur  zum  Guten,  sondern  auch 
zur  Dekadenz  gefiihrt  hat  oder  einfach  wirkungslos  war,  mochte  Schiller  im 
weiteren  Verlauf  seiner  Abhandlung  die  Schonheit  nicht  mehr  aus  der 
Erfahrung  ableiten,  sondern  sie  im  reinen  Verstandesbegritt  suchen,  welcher 
ihre  positive  Kraft  transzendental  beweisen  wiirde.  Der  theoretische  Teil 
schildert  die  eben  behandelten  Probleme  der  Gesellschaft  und  die  Wirkung 
der  Kunst  in  allgemeiner  Form.  Das  Kernstuck  dieses  Beweises  ist  die 
Unterscheidung  zwischen  Stoff-  und  Formtrieb:  (a)  Der  Stofftrieb  geht  von 
der  sinnlichen  Natur  des  Menschen  aus  und  erschafft  somit  die  Moglichkeit 
zum  Betrachten  und  Empfmden  der  Welt.  F>  fiihrt  aber  stets  nur  zu  einem 
formlosen  Inhalt  in  der  Zeit,  der  so  pur  ist,  dass  er  nicht  wahrgenommen 
werden  kann.  Dem  Stofftrieb  fehlt  die  Verstandestatigkeit;  er  ist  blind.  Jedoch 
hat  er  die  Moglichkeit,  leere  Abstraktionen  mit  Leben  zu  fiillen  und  die 
unterdrijckte  Natur  wieder  hervorzurufen.  (b)  Der  Formtrieb  wiederum  geht 
von  der  verniinftigen  Natur  im  Menschen  aus  und  hebt  die  Zeit  und  die 
Veriinderung  auf  Er  will,  dass  das  Verniinftige  immer  und  ewig  ist,  und  ruft 
deshalb  Wahrheit  und  Gesetz  ins  Leben.  Der  Formtrieb  herrscht,  er  ist  das 
reine  Objekt  in  uns.  Er  ist  die  hochste  Erscheinung  des  Seins,  da  er  die 
Wirklichkeit  nach  ewig  gijltigen  Gesetzen  ordnet,  und  hebt  die  Menschen 
vom  durftigen  Reich  der  Sinne  zum  Ideenreich,  welches  hoch  uber  der  Realitat 
thront.  Ohne  den  Stofftrieb  ist  er  aber  nur  ein  leeres  Vermogen. 

Der  Bildungsprozess  des  Menschen  muss  sich  hauptsachlich  auf 
das  harmonische  Zusammenspiel  von  Stoff-  und  Formtrieb  im  Menschen 
konzentrieren.  Da  er  durch  die  Kunst  organisiert  wird,  steht  sie  im  Mttelpunkt 
von  Schillers  BiJdungstheorie.  Ihr  kommen  dabei  zwei  Aufgaben  zu,  die  beide 
die  verlorene  Einheit  des  Menschen  mit  der  Natur  wiederherstellen  soUen: 

Ihr  |der  Kultur  -  M.C.]  Geschiift  ist  also  doppelt:  erstlich:  die 

Sinnlichkeit  gegen  die  Eingriffe  der  Fre)heit  zu  verw^ahren:  zweytens: 

die  Personlichkeit  gegen  die  Macht  der  Empfindungen  sicher  zu 

stellen.  jenes  erreicht  sie  durch  Ausbildungdes  Gefiihlsvermogens, 

dieses  durch  die  Ausbildung  des  Vernunftvermogens.'* 

Das  perfekte  Zusammenspiel  zwischen  Stoff-  und  Formtrieb  bezeichnet 

Schiller  als  die  Entstehung  des  „Spieltriebs".  F^r  ist  das  harmonische  Ideal, 

welches  der  Mensch  immer  nur  anstreben,  jedcjch  nie  erreichen  kann.  In  diesem 

Streben  erfahrt  er  die  „Idee  seiner  Menschheit"'.  Der  Stofftrieb  ist  auf  Leben 

ausgerichtet,  der  Formtrieb  auf  Gestalt;  zusammen  im  Spieltrieb  erganzen  sie 

sich  zur  „lebenden  Gestalt"'',  was  der  Schonheit  gleichkommt.  Hier  ist  der 

Mensch  frei  von  Materie  und  Gesetz,  er  befmdet  sich  genau  in  der  Mitte  von 

beiden,  was  bedeutet,  dass  er  sich  ihren  Zwiingen  entzogen  hat.  Zuvor  waren 

160 


beide  Triebe  strengstens  darauf  bedacht,  sich  zu  venvirklichen,  jetzt  reagieren 
sie  entspannter.  Anschauung  und  Welt,  Gesetz  und  Ptlicht  notigen  den 
Menschen  nicht  mehr.  Mit  anderen  W'orten: 

Indem  es  mit  Ideen  in  Ciemeinschaft  kommt,  verliert  alles  Wirkliche 

einen  Ernst,  weiJ  es  klein  wird,  und  indem  es  mit  der  Emphndung 

zusammentrifft,  legt  das  Nothwendige  den  seinigen  ab,  weil  es  leicht 

wird.' 

Schonheit  ist  heiter  und  der  alltaglichen  Ernsthaftigkeit  mit  ihrem  Zwang  zur 

Entfremdung  enthoben.  Angesichts  dieser  Erfahrung  empfindet  der  Mensch 

eine  Harmonie  mit  sich  selbst,  da  er  die  Erfahrung  seiner  moglichen  \'ollendung 

macht:  „der  Mensch  ist  nur  da  ganz  Mensch,  wo  er  spielt".  Dieser  Zustand  der 

„hochsten  Ruhe  und  der  hochsten  Bewegung"  fiihrt  zu  einer  hochst 

angenehmen  Riihrung,  „fur  welche  der  \'erstand  keinen  Begriff "  mehr  hat.* 

Im  Spiel  ist  der  Mensch  in  dem  von  Schiller  gesuchten  „asthetischen 

Zustand"".  Da  Schonheit  zweckfrei  ist,  erlebt  er  hier  in  der  Einbildungskraft 

seine  absolute  Freiheit.  Er  ist  weder  durch  die  Gesetze  der  Natur  noch  durch 

die  Gesetze  der  \ernunft  bestimmt.  Beide  befinden  sich  hier  in  einem 

Schwebezustand  und  schcnken  dem  Menschen  eine  zweite  Schopfung,  weil  er 

von  alien  Pflichten,  von  Moral  und  Aufldarung  befreit  ist.  Er  erlebt  durch 

dieses  Gliicksversprechen  seinen  personlichen  Wert  und  kann  aus  sich  machen, 

was  er  will.  Die  Natur  hat  ihm  „die  Frevheit  zu  sein,  was  er  seyn  soU, 

voUkommen  zurijckgegeben"'".  Diesen  zweckfreien  Zustand  beschreibt  Scliiller 

folgendermaBen: 

jeder  andere  Zustand,  in  den  wir  kommen  konnen,  weist  uns  auf 

einen  vorhergehenden  zurlick  und  bedarf  zu  seiner  Aufldarung  eines 

folgenden;  nur  der  asthetische  ist  ein  Ganzes  in  sich  selbst,  da  er  alle 

BedingLingen  seines  Ursprungs  und  seiner  Fortdauer  in  sich  vereinigt. 

Hier  allein  fiihlen  wir  uns  wie  aus  der  Zeit  gerissen;  und  unsre 

Menschheit  auBert  sich  mit  einer  Reinheit  und  Integritat,  als  hatte  sie 

von  der  Einwirkung  auBrer  Kriifte  noch  keinen  Abbruch  getan.^' 

Dieser  asthedsche  Zustand  und  nicht  die  \^ernunft  bereitet  auf  sittliches 

Handeln  vor.  Schiller  dreht  hier  Kants  Lehre  vom  kategorischen  Imperativ 

um:  Nicht  die  Vernunft  macht  uns  zu  einem  moralischen  W'esen,  sondern  die 

Erfahrung  von  Schonheit.  Dominiert  die  \  ernunft  den  \X  eg  der  Aufklarung, 

so  wird  sie  lediglich  eine  theoredsche  Kultur  hervorbringen,  in  der  Sittengesetze 

gelernt,  aber  nicht  befolgt  werden.  Schiller  mochte  den  Menschen  mit  der 

Schonheit  zuniichst  fiir  das  Cnite  sensibilisieren,  damit  er  es  sich  aus  der  Tiefe 

seiner  ganzen  Person  herbeiwiinscht  und  somit  spater  die  Gesetze  der  Moral 

aus  einem  inneren  Bedi.irtnis  heraus  befolgen  kann,  als  ware  es  sein  eigener 

W'unsch.  Da  das  Sittengesetz  jetzt  nicht  mehr  aus  der  \'ernunft  diktiert  wird, 

sondern  aus  dem  Spieltrieb,  d.h  aus  der  Natur  des  Menschen  kommt,  kann  es 

mit  der  Lcichtigkeit  eines  Gefiihls  gelebt  werden: 


161 


Durch  die  iisthetische  Gemuthsstimmung  wird  also  die 
SelbstthJitigkeit  der  Vernunft  schon  auf  dem  Felde  der  Sinnlichkeit 
eroffnet,  die  Macht  der  Empfindung  schon  innerhalb  ihrer  eigenen 
Grenzen  gebrochen,  und  der  physische  Mensch  soweit  veredelt,  dass 
nunmehr  der  Geistige  sich  nach  Gesetzen  der  Freyheit  aus  demselben 
bloB  zu  entwickeln  braucht.'- 

II.  Die  Verwirrungen  des  Zoglings  TorleB 

Den  Antibildungsroman  Die  Veiwhrnngen  des  Zogling  TorkJ^xon  Robert  Musil 
mochte  ich  als  eine  moderne  literarische  Beschreibung  der  problematischen 
Punkte  von  Schillers  Bildungstheorie  lesen.  Der  in  ihm  geschilderte  raue  Alltag 
eines  Militar-Konvikts  kontrastiert  sehr  anschaulich  Schillers  Idealismus.  Ein 
Blick  auf  die  sensible  und  hochintelligente  Hauptfigur  TorleB  soil  zeigen,  dass 
der  Ausgleich  zwischen  Stoff-  und  Formtrieb  weit  problematischer  ist  als  in 
den  asthetischen  Briefen  beschrieben,  da  der  asthetische  Zustand  nicht 
automadsch  mit  dem  moralischen  Zustand  gleichzusetzen  ist.  Seine  brutalen 
und  intriganten  Gegenspieler  Beineberg  und  Reidng  stehen  dagegen  fiir  die 
Schwierigkeit,  den  asthetischen  Zustand  iiberhaupt  zu  erreichen,  da  sie  nicht 
an  der  ausgleichenden  W'irkung  des  Stofftriebs  interessiert  sind. 

TorleB  wird  im  Verlauf  der  Handlung  von  Stoff-  und  Formtrieb, 
von  Gefiihl  und  Verstand  durchgeschiittelt.  Dies  fiihrt  zu  einem  inneren 
Bildungsprozess,  an  dessen  Ende  jedoch  nur  die  subtile  Ausbildung  seines 
asthetischen  Vermogens  und  nicht  eine  genauso  intensive  EnKvicklung  seines 
moralischen  Bewusstseins  steht. 

Zu  Beginn  der  Handlung  ist  TorleB  mit  einem  vornehmen  Prinzen 
befreundet,  dessen  sensibles  und  schiichternes  W'esen  ihn  anzieht.  Selbst  der 
Klang  seiner  Stimme  und  noch  sein  Schweigen  zeugen  fur  TorleB  eindrucksvoll 
von  der  „vollen  .\rt  envas  Seelisch-Menschliches  zu  sein"'\  Seine  Begegnungen 
mit  ihm  sind  fiir  ihn  eine  einzigartige  Id\  lie,  da  er  sich  in  dem  abgelegenen 
Internat  nicht  wohl  fiihlt.  In  dem  Moment  aber,  in  dem  sich  in  TorleB  der 
Formtrieb  etwas  hcftiger  regt  als  sein  Stofftrieb,  zerbricht  ihre  Freundschaft, 
als  er  sich  iaber  den  tiefgliiubigen  Prinzen  lustig  macht.  Darautliin  schlieBt  er 
sich  gelangweilt  von  Schule  und  BiJdung  den  rauen  Fiihrerfiguren  Beineberg 
und  Reiting  an  und  wenig  spater  wird  er  in  eine  ihrer  wiJden  Geschichten 
hineingezogen:  Basini,  ein  schwacher  und  diimmlicher  iNhtschiiler,  wird  von 
Reiting  des  Diebstahls  iibertuhrt;  anstatt  jedoch  seine  Tat  der  Schulleitung  zu 
melden,  beschlieBen  Beineberg  und  Reiting  ihn  zu  iiberwachen,  mit  dem  Ziel, 
ihn  zu  einem  ehrlichen  Menschen  zu  erziehen.  In  W  irklichkeit  bedeutet  dieser 
vorgebliche  Besserungsversuch  jedoch,  dass  beide  Basini  qualen  und  sexuell 
missbrauchen  wollen.  TorleB  ist  davon  ebenso  fasziniert  wie  angewidert.  Er 
beginnt  Basini  neugierig  zu  beobachten,  da  er  durch  ihn  die  Gelegenheit 
bekommt,  die  bisher  nur  schemenhaft  wahrgenommene  \Xfelt  des  Neuen, 

162 


Bosen  und  Triebhaften  aus  nachster  Nahe  zu  ergriinden.  Basiiii  ist  hierfiir  sein 
StLidienobjekt  und  er  beobachtet  ihn  ohne  Mideid.  Am  deutlichsten  wird 
dies,  als  er  Basini  direkt  fragt,  wie  er  den  -  fiir  TorleB  in  seiner  Xaivitat 
unbegreiflichen  -  Diebstahl  begehen  konnte  und  die  Misshandlungen  ertragt. 
Basini,  der  darautliin  keine  Antwort  weifi,  wird  immer  verzweifelter  und  TorleB, 
der  keine  Erkenntnis  gewinnt,  immer  wiitender.  Er  befiehit  ihm  daraufliin, 
sich  nackt  auszuziehen,  was  TorleB  schlieBlich  sinnlich  uberwaltigt.  Und 
\X  ahrend  der  vollig  verangstigte  Basini  nackt  vor  ihm  steht,  kann  sich  TorleB 
der  Entziickung,  des  Reizes,  der  vom  nackten,  schonen  Korper  ausgeht,  nicht 
entziehen.  Er  fiihlt  sich  bei  diesem  Anblick  an  groBe  Kunst\\-erke  erinnert  und 
wahrend  Basini  zittert,  genieBt  er  diesen  Anblick.  \'on  Mitleid,  welches  sich 
nach  Schiller  zur  gleichen  Zeit  wie  der  Kunstsinn  regen  sollte,  fehit  hier  jede 
Spur. 

Beineberg  und  Reiting  haben  nicht  das  Problem,  verwirrt  zu  sein. 
Beinebergglaubt  so  felsenfest  an  seine  esoterischen  Spekuladonen,  dass  es  fiir 
ihn  keine  Geheimnisse  und  \erwunderungen  mehrgeben  kann.  Seine  Ideen 
scheint  er  sich  wiUkiirlich  angeeignet  und  mehr  abgespeichert  als  verstanden  zu 
haben  und  er  iibertragt  sie  uninspiriert  und  ncrvtotcnd  auf  alles,  was  ihm 
begegnet.  Auch  Reiting  befindet  sich  jenseits  eines  vitalen  Bildungsprozesses. 
Sein  Machtbediirtnis  braucht  iiberhaupt  keine  ideologische  (irundlage.  Er 
erobert  unreflektiert  durch  sein  gewinnendes  W'esen  und  seine  ebenso  geniale 
wie  rijcksichtslose  Intriganz.  Beide  bewegen  sich  auf  Grund  ihre  Pragmadsmus 
und  Machiavellismus  mit  Leichtigkeit  in  der  Welt,  wahrend  TorleB  vom 
Irrationalen  iiberwaltig  wird  und  es  ijberall  als  eine  unsichtbare  Kraft 
wahrnimmt,  die  ihn  standig  einem  drohenden  Ich-\"elst  ausliefert. 

Am  Ende  des  Romans  hat  TorleB  jedoch  wieder  an  Klarheit  und 
Selbstbewusstsein  gewonnen:  Beinebergs  Ideen  erscheinen  ihm  lacherlich, 
ebenso  Reidngs  Machtanspruch.  )edoch  kampft  er  mit  seinem  Protest  nicht 
fiir  Basini.  Dass  er  ihn  jemals  in  Schutz  nehmen  wiirde,  schHeBt  TorleB  mehr 
oder  weniger  aus:  „Melleicht  wiirde  ich  es  doch  tun,  aber  mir  ist  die  ganze 
Cieschichte  langweilig."'''  Er  trennt  sich  von  seinen  Kameraden,  weil  er  bemerkt 
hat,  dass  seine  Beobachtung  ihrer  QuJilereien  an  Basini  nicht  mehr  zu  seiner 
Selbstfindungbeitragen  kann. 

i\ls  sich  spiiter  auch  TorleB  fiir  die  Misshandlungen  an  Basini  vor  der 
SchuUeitung  rechttertigen  muss  und  keine  Eridarung  fiir  sein  fniheres  Interesse 
an  Basini  findet,  flieht  er  aus  dem  Konvikt.  i\m  nachsten  Tag  wird  er  allerdings 
schon  wieder  aufgegriffen  und  vor  die  versammelte  Lehrerschaft  gebracht,  die 
von  ihm  verlangt,  sein  \'erhalten  gegeniiber  Basini  zu  rechtfertigen.  Als  sich 
TorleB  jedoch  weigert,  bei  der  aUgemeinen  Komodie,  die  alle  Schuld  auf  Basini 
schiebt,  mitzuspielen  und  stattdessen  selbstbewusst  von  seinen  Verwirrungen 
zwischen  Radonalitiit  und  Irradonalitiit  berichtet,  wird  er  von  den  Lehrern 
nicht  verstanden  und  ebenfalls  aus  dem  Internat  endassen. 


163 


Sein  neues  Sclbstbewusstsein  lost  seine  X'erwirrungen  auf.  Vor  imaginaren 
Zahlen,  dem  Unendlichen  oder  Basini  und  seiner  Sexualitat  hat  er  nun  keine 
^\ngst  mehr.  Er  weiB,  dass  sich  hinter  ihnen  keine  zweite,  fremde  Welt  verbirgt, 
sondern  dass  der  Grund  fiir  das  Fremdwerden  dieser  Dinge  lediglich  eine 
„\vechselnde  seelische  Perspektive"'^  ist.  TorleB  kann  nun  die  alltagliche  helle 
Welt  sehen,  wenn  er  sie  sehen  mochte,  und  wenn  ihm  die  dunkle  geheimnisvolle 
Welt  erscheint,  kann  er  sie  zulassen.  Alit  der  Integration  beider  Seiten  der 
Wirklichkeit  ist  dann  auch  seine  EntwickJung  -  wie  der  Erzahler  berichtet  - 
„abgeschlossen""';  durch  die  Kombination  von  Fijhlen  und  Denken  hort  er 
auf  zu  ratseln  und  kann  schlieBlich  handeln.  Als  er  friiher  die  Welt  als  Ganzes 
wahrnehmen  und  verstehen  woUte,  wurde  sie  fiir  ihn  zu  einem  „endlosen 
Knoten"'  ,  an  dem  er  jedes  Mai  scheiterte:  „Es  war,  als  ob  er  eine  unaufhorliche 
Division  durchfiihren  miisste,  bei  der  immer  wieder  ein  hartnackiger  Rest 
heraussprang".'^  j\m  Ende  erkennt  er,  dass  es  nicht  moglich  ist,  die  Wahrheiten 
der  Moral,  Mathematik,  der  Religion  oder  der  Kunst  gleichzeitig  in  ein  Weltbild 
zusammenzufassen.  Er  kann  immer  nur  einen  individuellen  Standpunkt 
einnehmen  und  nicht  von  einem  absoluten  Punkt  aus  die  Welt  betrachten. 
Seine  Verwirrungen  hatten  fur  ihn  mit  den  unterschiedlichen  Perspektiven  auf 
die  Wirklichkeit  zu  tun  und  als  er  dies  erkennt,  entscheidet  er  sich  ausschliefilich 
fiir  die  asthetische,  da  sie  seinem  Wesen  am  niichsten  steht. 

Danach  wird  es  ruhiger  urn  TorleB.  Der  Erzahler  berichtet,  er  wird 
spater  ein  „junger  Mann  von  sehr  feinem  und  emptindsamem  Cieiste.  Er 
zaWte  dann  zu  jenen  asthetisch-intellektuellen  Naturen,  welchen  die  Beachtung 
der  Gesetze  und  wohl  auch  teilweise  der  offentlichen  Moral  eine  Beruhigung 
gewahrt,  well  sie  dadurch  enthoben  sind,  iiber  etwas  Grobes,  von  dem  feineren 
seelischen  Geschehen  Weitabliegendes  nachdenken  zu  miissen".'"  Kunst, 
Musik  und  Literatur  haben  fiir  ihn  somit  nur  den  Zweck,  das  Wachstum 
seiner  Seele  und  seines  Cieistes  zu  befordern,  eine  Verbindung  zum  alltaglichen 
Leben  haben  sie  allerdings  nicht:  Sie  verschwinden,  „\venn  wir  Akten  schreiben, 
Maschinen  bauen,  in  den  Zirkus  gehen  oder  den  hundert  anderen  ahnlichen 
Beschaftigungen  folgen".'"  Deshalb  ist  ihm  seine  asthedsche  Bildung  auch 
nur  „Zierat,  an  dem  man  sich  leicht  verletze"-',  sie  fiihrt  zu  schonen 
Augenblicken  und  F>innerungen,  die  man  vor  anderen  lieber  geheim  halt. 

III.  Adorno  und  TorleB 

Anhand  von  Theodor  VC'.  Adornos  Analvsen  iiber  das  Scheitern  des 
Bildungshumanismus  sollen  die  beiden  Grundgedanken  aus  dem  letzten 
Abschnitt  konkretisiert  werden.  Die  DUdektik  dtr  A/ifkldnin^  und  vor  allem 
sein  Aufsatz  iiber  die  Tbeoiie  der  Halbbdditng  werden  herangezogen,  um  den 
widerspriichlichen  Biklungsprozess  von  TorleB  zu  analysieren.  Es  sollgenauer 
erortert  werden,  was  TorleB'  Verwirrungen  beendet  hat.  Dafiir  sind  sein 
Gesprach  mit  dem  Mathematiklehrer  und  seine  Konfrontation  mit  seinen 

164 


Lehrern  von  groBer  Bedeutung.  Diese  beiden  StelJen  soUen  zeigen,  dass  sich 
TorleB'  \  erwirrungen  auflosen,  als  er  den  Anspruch  autgibt,  seine  intuitiv- 
dichterische  Welt  mit  der  rationalen  zu  vereinbaren,  und  sich  somit  dem 
biirgerlichen  Realitatsprinzip  unterordnet,  welches  fiir  seine  Gefiihlskalte 
verantwordich  ist.  Adornos  Stud/en  ■:{um  autoritcireii  ChunikJer  soWen  detaillierter 
darstellen,  wieso  Beineberg  und  Reiting  einen  Bildungsprozess  von  \  omherein 
blockieren.  Die  Antwort  soil  in  ihrer  Lust  auf  Intrigen  und  Sadismus  gesucht 
werden,  womit  sie  alles  bekampfen,  was  freier  und  unkontrollierter  als  ihr 
cigenes  Leben  ist. 

Adorno  beginnt  seine  Aufklarungskritik  am  Beginn  der 
Menschheitsgeschichte,  als  die  Ich-Identitjit  nur  schwach  ausgebildet  ist  und 
der  Mensch  zum  groBen  Teil  noch  der  Macht  der  Natur  unterliegt.  Ziel  der 
Aufklarung  ist  es,  den  Menschen  aus  dieser  Herrschaft  zu  befreien  und  ihn  als 
Souveriin  einzusetzen.  Dies  sichert  zwar  sein  Uberleben,  jedoch,  so  Adornos 
Kritik,  konzentriert  sich  der  Mensch  in  diesem  Prozess  zu  sehr  aut  seinen 
\'erstand  -  das  begriffliche  Denken  -,  so  dass  er  die  Xatur,  und  somit  auch 
seine  Sinnlichkeit,  mehr  und  mehr  aus  seinem  Leben  ausklammert.  Damit 
wird  dem  zweckrationalen  Denken  alle  Tiiren  geoffnet.  Der  gleiche  Prozess 
wiederholt  sich  auch  in  der  Bildung.  Sie  hatte  die  Moglichkeit,  zweckfrei  zu 
sein,  fiir  personliche  Bediirfnisse  und  der  W'ertschatzung  des 
Inkommensurablen  zu  sensibilisieren,  unterliegt  jedoch  in  einer  zweckrational 
denkenden  Gesellschaft  „der  .\llgegenwart  des  entfremdeten  Geistes"""  und 
spaltet  so  ebenfalls  Sinnlichkeit  von  sich  ab.  Dies  fiihrt  dazu,  dass  Bildung 
selbst  zweckrational  wird  und  vom  Biirgertum  zur  Emanzipation  gegeniiber 
dem  Adel,  zur  Berufsaustuhrung,  als  massenverkaufliche  Ware"'  oder  als 
Statussymbol  genutzt  werden  kann  und  stets  den  Beigeschmack  hat,  bloB 
langweiliger  Schulstoff  zu  sein.  Diese  Art  von  Bildung  bzw.  Halbbildung  ist 
der  „Todfeind"-'*  von  Bildung,  da  sie  nicht  aufklart,  sondern  lediglich  auf  eine 
enttremdete  Rolle  in  einer  entfremdeten  Gesellschaft  vorbereitet. 

Einen  erfolgreichen  Bildungsprozess  sieht  Adorno  in  der  Ausbildung 
des  mimetischen  \'ermogens.  Mimesis  bedeutet,  dass  sich  der  Mensch  wieder 
so  weit  der  Natur  ahnlich  macht,  bis  er  ein  gesundes  MaB  an  Rationalitat 
erreicht  hat.  Damit  ist  Mimesis  mit  Schillers  Spieltrieb  vergleichbar:  Durch  das 
Nachahmen  der  auBeren  Natur  wird  der  Stofftrieb  im  Menschen  wieder 
lebendig,  ohne  das  Selbst  vollig  aufzulosen.  Der  Formtrieb  wird  dadurch 
eingeschrankt  und  das  zweckrationale  Denken  schwacher.  In  diesem  Zustand 
akzeptiert  der  Mensch  das  L'nbekannte  und  entzieht  sich  nicht  vollkommen 
der  Macht  der  Naair.  Die  Natur  steht  beim  mimetisch  empfindenden  Menschen 
stets  im  Mittelpunkt  und  cr  kann  sich  ihr  nicht  durch  \'erdinglichungentziehen. 
Die  Ich-Identitiit  ist  dadurch  nicht  verhiirtet,  sondern  gibt  einen  Teil  ihrer 
Souveranitiit  ab  und  das  Ich  ist  bereit,  sich  dem  Fremden  hinzugeben  und 
Kontrolle  aufzugebcn,  um  wieder  etwas  vom  Nichtidentischen, 


165 


Unidentifizierbaren  und  Ratselhatten  der  Welt  wahrnehmen  zu  konnen.  In 
der  Dialektik  der  Aiijkldrnng  bezeichnet  Adorno  diesen  Ausgleich  als  das 
„Eingedenken  der  Natur  im  Subiekt"-\  Dadurch  lieBe  sich  das  schadlicbe 
ObermaB  an  Rationalitat  veriernen,  was  wiederum  das  instrumenteUe  Denken 
verringern  wiirde.  So  wiirde  Lebendigkeit  im  Umgang  mit  der  Umwelt  und 
der  von  ihr  geforderten  BiJdung  gewonnen;  das  Individuum  konnte  seine 
eigentlichen  Interessen  verfolgen  und  Bildung  konnte  wieder  verinnerlicht 
und  nicht  bloB  zum  instrumentellen  Gebrauch  iibergestiilpt  werden. 

Die  Bildung  am  Militiir-Konvikt  ist  Halbbildung.  Am  Ende  der 
Schulzeit  soil  nicht  der  kritische  Denker  stehen,  sondern  der  staats-  und 
autoritatsglaubige  Untertan.  TorleB  unterscheidet  sich  jedoch  von  diesem  Milieu 
und  man  konnte  in  ihm  an  vielen  Stellen  des  Romans  den  Schi.iler  erkennen, 
den  Adorno  so  sehr  v^ermisst: 

Weil  kaum  mehr  ein  Junge  sich  traumt,  einmal  ein  groBer  Dichter 

oder  Komponist  zu  werden,  darum  gibt  es  wahrscheinlich, 

iibertreiben  gesagt,  unter  den  Erwachsenen  keine  groBen 

okonomischen  Theoreiiker,  am  Ende  keine  wahrhafte  politische 

Spontaneitat  mehr.-^'' 

TorleB  konnte  unter  anderen  Umstiinden  dieser  kreadve  Theoretiker  werden. 

Doch  wahrend  Adorno  in  der  Beschiiftigung  mit  Literatur  und  Kunst  eine 

unreglementierte  Schulung  von  Phantasie  und  Kreativitat  sieht,  die  sich  spater 

auch  auf  andere  Bereiche  in  der  Gesellschaft  ausdehnen  kann,  scheint  man 

diese  Fahigkeit  am  Konvikt  aber  nicht  begiinstigen  zu  woUen: 

Diese  Illusion,  dieser  Trick  zugunsten  der  Entwicklung  fehlte  am 

Institute.  Denn  dort  waren  in  den  Buchersammlungen  zwar  die 

IsJassiker  enthalten,  aber  diese  galten  als  langweiiig,  und  sonst  fanden 

sich     nur     sentimentale     Novellenbiinde     und     witzlose 

Militarhumoresken." 

Dies  wirkt  sich  auch  auf  den  Bildungsprozess  von  TorleB  aus.  Das  Ende 

seiner  Verwirrungen  und  die  dadurch  gefundene  Ich-Identitiit  sind  mit  dem 

Prozess  der  Ich-Findung  und  den  Entsagungen  im  Zivilisaticjnsprozess 

vergleichbar:  Am  Beginn  der  Handlung  ist  TorleB'  Selbst  noch  nicht  eindeutig 

ausgebildet.  Seine  Verwirrungen  resultieren  aus  den  ratselhaften  sinnlichen 

Empfindungen,  welche  auch  fiir  seine  Sprachkrise  verantwortlich  sind.  Da  er 

seine  Empfindungen  und  Erkenntnisse  nicht  adaquat  ausdriicken  kann  — 

„Die  Worte  sagen  nichts,  oder  vielmehr  sie  sagen  etwas  anderes"'^  -  ist  sein 

Selbst  geschwacht  und  er  kann  sich  die  NX'elt  nicht  untertan  machen.  Dieses 

mimetische  Verhaltnis  zur  Welt  wird  aber  im  Laufe  der  Handlung  immer 

mehr  zuriickgedrangt.  Dieser  Vorgang  ist  zuniichst  notwendig,  da  T6rle(5  nur 

so  sich  entwickeln  kann  und  zu  handeln  lernt.  Deshalb  muss  er  das,  was  sich 

von  „auBerhalb  vorbereitet  und  von  feme  herannaht"  und  „wie  ein  nebliges 

Meer  voll  riesenhafter,  wechselnder  Gestalten"  ist,  „klar  und  klein"  und  in 

166 


„menschlichcn  Dimensionen  und  menschlichen  Linien"  verstehbar  machen. 
Allerdings  kann  dieser  Prozess  auch  iibertrieben  werden,  wenn  „sich  aUe  Bilder 
der  Ereignisse  zusammendriicken  miissen,  um  in  den  Menschen 
einzugehen"'^'\  Dieser  Punkt  wird  erreicht,  wenn  -  wie  in  der  Aufklarung  -  zu 
viel  rationalisiert  wird  und  im  Anschluss  daran  die  „Dialektik  der  Aufklarung", 
d.h.  das  Umschlagen  der  Aufklaning  in  ihr  Gegenteil,  erfolgt.  Im  Gesprach 
mit  seinem  Mathematiklehrer  ist  dieser  Hohepunkt  erreicht.  An  dieser  StelJe 
des  Romans  wird  sichtbar,  wie  TorleB  ontogenetisch  noch  einmal  den  gleichen 
Prozess  wie  phylogenetisch  ciie  gesamte  Menschheit  durchmacht  und  seine 
Freiheit  zugunsten  der  Anforderungen  der  Umwelt  so  sehr  einschrankt,  dass 
er  sich  grundlegend  verandert.  Fiir  Adorno  kommt  dies  einer  gewalttatigen 
Entsagung  gleich:  „Furchtbares  hat  die  Menschheit  sich  antun  miissen,  bis 
das  Selbst,  der  identische,  zweckgerichtete,  mannliche  Charakter  des  Menschen 
geschaffen  war,  und  etwas  davon  wird  noch  in  jeder  Kindheit  wiederholt."'*'^ 
Im  Vorfeld  dieses  Gesprachs  ist  TorleB  vom  Phiinomen  der 
Unendlichkeit  und  der  Unvorstellbarkeit  der  imaginaren  Zahlen  verwirrt. 
Wahrend  eines  Spaziergangs  im  Schulpark  erlebt  er  die  Idee  der  Unendlichkeit 
nicht  aus  der  abstrakten  Perspektive  der  Mathematik,  sondern  als  lebendige 
Erfahrung.  Obwohl  seiner  hohen  Sensibilitiit  und  seinem  romantischen 
Empfinden  bereits  Gefiihlskalte  beigemischt  ist,  kann  er  hier  die  sinnliche 
Sphiire  noch  auf  andere  W'irklichkeitsbereiche  ausdehnen  und  kommt  so 
Adornos  Postulat  eines  mimetischen  Bewusstseins  nach.  Der  Begriff 
„Unendlichkeit"  verliert  fiir  ihn  seine  abstrakte  Harmlosigkeit  und  er  erkennt 
zum  ersten  Mai  mit  Schrecken  wieder,  „wie  hoch  eigentiich  der  Himmel  sei" 
und  wie  dieser  dadurch  seine  ganze  vernichtende  Kraft  „entfesselt"^'  zu  haben 
scheint.  Die  Natur  hat  den  verdinglichenden  Begriff  aufgesprengt: 

So  lag  TorleB  und  war  ganz  eingesponnen  von  Erinnerungen,  aus 

denen  wie  fremde  Bliiten  seltsame  Gedanken  wuchsen.  jene 

AugenbUcke,  die  keiner  vergisst,  Situationen,  wo  der  Zusammenhang 

versagt,  der  sonst  unser  Leben  so  liackenlos  in  unserem  Verstande 

abspiegeln  lasst,  als  liefen  sie  parallel  und  mit  gleicher  Geschwindigkeit 

nebeneinander  her  [...].^' 

Durch  seine  starke  Sinnlichkeit  und  seine  Fahigkeit  zu  staunen  sieht  er  iiberall 

eine  unsichtbare  zweite  Realitat  und  fragt  sich:  „Die  Welt  ist  fiir  mich  voll 

lautloser  Stimmcn:  ich  bin  daher  ein  Seher  oder  ein  IlaUuzinierter?"^'*  Er  kann 

diese  zweite  Realitat  aber  nur  als  ein  „Etwas!"''''  wahrnehmen,  von  dem  er 

„nur  die  Vision  seiner  Visionen""*^  sieht,  da  sie  sich  der  Abstraktion  oder  dem 

ReaUtiitsprinzip  entzieht. 

Auch  bei  seiner  Verwunderung  iiber  die  imaginaren  Zahlen  scheint 
er  der  Abstraktion  mit  seiner  sinnlichen  Erfahrung  zu  begegnen,  indem  er 
versucht,  die  Eigenschaft  dieser  negativen  und  nur  in  der  Vorstellung 
existierenden  und  dennoch  zu  positiven  Resultaten  kommenden  Zahlen  auf 


167 


das  Leben  und  Wahrnehmen  zu  ubertragen: 

In  solch  einer  Rechnung  sind  am  Anfang  ganz  solide  Zahlen  [...]. 

Am  Ende  der  Rechnung  stehen  ebensolche.  Aber  diese  beiden  hiingen 

miteinander  durch  etwas  zusammen,  das  es  gar  nicht  gibt.  1st  das 

nicht  wie  eine  Briicke,  von  der  nur  Anfangs-  und  Endpfeiler 

vorhanden  sind  und  die  man  dennoch  so  sicher  liberschreitet,  als  ob 

sie  ganz  dastiinde?  [...]  Das  eigentlich  Unheimliche  ist  mir  aber  die 

Kraft,  die  in  solch  einer  Rechnung  steckt  und  einen  so  festhalt,  daB 

man  doch  wieder  richtig  landet.^'' 

Fasziniert  von  dieser  unheimlich-transzendent  anmutenden  Wirkung,  bittet 

TorleB  seinen  Mathematiklehrer  um  ein  Gespriich.  Dieser  scheint  ihn  jedoch 

uberhaupt  nicht  zu  verstehen  und  unterbricht  ihn  schon  nach  kurzer  Zeit: 

„Sehen  Sie,  Sie  sprachen  von  dem  Eingreifen  transzendenter,  hm  ja  ... 

transzendent  nennt  man  das,  —  Faktoren ...  "  Er  spricht  Torlel5  die  Hinzunahme 

der  Sinnlichkeit  zur  Mathematik  ab  und  verweist  ihn  darauf,  „daB  solche 

mathematische  Begriffe  eben  rein  mathematische  Denknotwendigkeiten 

sind".^"  TorleB'  Probleme  sind  fiir  ihn  lediglich  Scheinprobleme.  Ahnliche 

Denknotwendigkeiten  gibt  es  fiir  ihn  auch  in  der  Kantschen  Philosophic,  die 

auch  hier  wiederum  „eben  alles  bestimmen,  ohne  daB  sie  selbst  so  ohne 

weiteres  einzusehen  wiiren".^**  TorleB'  Bikiungsl^emiihungen  begegnen  hier 

der  Halbbildung,  die  er  verinnerlichen  soil.  Der  entfremdete  Lehrer  gibt 

entfremdete  Bildung  weiter.  Er  negiert  die  Transzendenz  in  der  Mathematik 

und  sagt  im  gleichen  Atemzug,  dass  er  von  ihr  nichts  versteht:  „Ich  bin 

eigentlich  nicht  recht  befugt,  da  einzugreifen,  es  gehort  nicht  zu  meinem 

Gegenstande."^'  Er  beruft  sich  auf  Kant,  obwohl  es  unklar  ist,  ob  er  ihn 

iiberhaupt  gelesen  hat.*'  Somit  gabe  es  gute  Griinde  fiir  TorleB,  skeptisch  zu 

bleiben,  da  die  angeblichen  Denknotwendigkeiten  uberhaupt  nicht  begriindet 

werden  und  ihre  UnumstoBlichkeit  dadurch  ahnlich  riitselhaft  bleibt  wie  das 

Geheimnis  derimaginaren  Zahlen. 

Auch  sind  TorleB'  intuitive  Annaherung  an  die  Mathematik  und  die 
Ubertragung  seiner  Probleme  und  Ratsel  auf  dieses  Gebiet  keinesfalJs  so 
abwegig,  wie  es  von  einem  Bewusstsein,  das  iiberall  nach  Denknotwendigkeiten 
sucht,  das  Unendlichc  auf  Endliches  und  das  imaginiire  auf  Sichtbares  reduziert, 
dargestellt  wird.  In  Mythologie  und  Religion  haben  Zahlensvmbole 
selbstverstiindlich  sinnbildliche  Bedeutung  und  lassen  die  Geheimnisse  der 
Welt  und  des  Lebens  erkennen.'"  Auch  ist  die  gesamte  Kunstgeschichte  von 
mathematischen  GesetzmaBigkeiten  beeinflusst,  wobei  sie  einerseits  die 
sinnliche  Erfahrung  ordnet  und  andererseits  mit  ihrer  Theorie  die  Kunst 
inspiriert.'*'^  Im  Surrealismus  kommt  es  sogar  zur  Verschmelzung  zwischen 
Mathematik  und  Kunst,  wie  sie  auch  TorleB  erlebt:  Mathematische  und 
kiinstlerische  W'ahrheiten  haben  hier  gleichermaBen  ihren  Ursprung  im 
Intuitiven  und  Unbewussten,  gehen  zwar  in  der  Analyse  der  Realitat 

168 


unterschiedliche  Wege,  treffen  sich  aber  wieder  am  hochsten  Punkt  ihrer 
Abstraktion  bzw.  Einbildungskraft,  da  sie  beide  an  der  Cberxvindung  der 
empirischen  Realitat  -  dem  Surrealen  —  interessiert  sind/"* 

Deshalb  ist  TorleB'  EinsteUung  zur  Mathematik  weniger  vervvirrt, 
vielmehr  kommt  er  hier  der  von  Adorno  geforderten  Mimesis  bzw.  dem 
Zulassen  des  Stofftriebs  nach.  Die  Natur  bricht  hier  in  seine  abstrakten 
Gedanken  ein.  Er  Eihlt  das  I'nheimliche  der  imaginjiren  Zahlen  und  sein 
Abstraktionsvermogen  wird  geschwacht.  Seine  gesamte  SinnJichkeit  wehrt  sich, 
in  der  Mathematik  etwas  zu  sehen,  was  keine  sinnliche  Entsprechung  hat. 
Intuitiv  strebt  er  nach  einer  Mathematik,  die  seinem  Ixben  Sinn  und  ErkJjirung 
liefert.  Das  Gleiche  gilt  auch  fiir  TorlelV  Problem  mit  der  Unendlichkeit.  Fiir 
den  Mathematiklehrer  ist  sie  nur  in  der  Mathematik  von  Relevanz;  fiir  TorleB 
entspricht  sie  auch  einer  konkreten  Erfahrung,  wenn  er  in  den  Himmel  schaut. 
Auch  hier  zeigt  sich,  dass  die  Natur  noch  Macht  auf  TorleB  ausiiben  kann  und 
er  offen  fiir  mvstische  Erlebnisse  ist.**^ 

TorleB  handelt  hier  ganz  im  Sinne  der  humanistischen 
Bildungstheorie  und  muss  gleichzeitig  an  ihr  leiden.  Fiir  Humboldt  ist  Bildung 
nur  in  der  Entfremdung'*^  von  der  gewohnten  Umwelt  moglich.  Das  Subjekt 
braucht  eine  Welt  auBerhalb  seines  Selbst,  welche  vorgestellt  und  bearbeitet 
wcrden  kann.  Es  muss  sie  ohne  Vorurteile,  Schablonen  oder  Angst  an  sich 
heranlassen,  um  in  lebendiger,  unreglementierter  Auseinandersetzung  mit  ilir 
seine  eigene  Personlichkcit  zu  entwickeln.  Diese  Art  der  Erfahaing  ist  nur  in 
der  Entfremdung  moglich.  Nur  in  diesem  Zustand  kann  der  Mensch 
Unbekanntes  erfahren,  welches  nicht  dutch  eine  Methode  kontroUiert  ist  und 
die  Kraft  hat,  sein  Selbstverstiindnis  zu  veriindern.  KontroUiert  wird  die  neue 
Erfahrung  erst,  wenn  sie  dem  Subjekt  wieder  verstiindlich  und  in  seine 
vorherigen  Erfahrungen  eingeordnet  wird.  Dies  geschieht  in  der  „Riickkehr 
aus  der  Entfremdung"""',  welche  Bildung  konstituiert.  Der  Geist  driickt  dann 
dem  Neuen  seinen  Stempel  auf,  die  Mannigfaltigkeit  der  Gegenstande  wird 
geordnet  und  begrifflich  zuganglich  gemacht.  Dies  ist  fiir  die  Bildung  des 
Menschen  unerlasslich;  er  muss  immer  darauf  achten,  „dass  er  in  dieser 
Entfremdung  nicht  sich  verliere,  sondern  vielmehr  von  allem,  was  er  auBer 
sich  vornimmt,  immer  das  erhellende  Licht  und  die  wohltatige  Warme  in  sein 
Inneres  zuriickstrahle"^  und  „die  sich  ewig  wiederholende  Arbeit  des  Geistes, 
den  articulierten  Laut  zum  Ausdruck  des  Gedankens  fiihig  zu  machen".''* 
Somit  muss  Bildung  das  ehemals  Entfremdete  in  Begriffen  aufbewahren;  die 
Riickkehr  aus  der  Entfremdung  ist  die  Bildung  von  Begriffen,  welche  die 
Summe  aller  Erfahamgen  darstellen.  Diese  Form  der  zweckfreien  Bildung  hat 
Kir  Humbfjldt  zum  Ziel,  dass  der  Heranwachsende  durch  die  Erfahrung  seiner 
eigenen  Individualitat  und  musischen  Anlagen  immer  einen  Gegenpol  zu 
seiner  Rolle  in  der  den  personlichen  Interessen  zuwiderlaufenden 
zweckrationalen  Gesellschaft  besitzt  und  sich  sozusagen  in  seine  Enklave 


169 


zuriickziehen  kann,  damit  er  sich  wieder  selbst  erlebt  und  ihr  nicht  voUig 
ausgeliefert  ist.  Bildung  sichert  somit  das  (Jberleben  des  autonomen 
Individuums  in  einer  ihm  entgegenstehenden  Gesellschatt. 

Fiir  Adorno  ist  es  jedoch  gerade  der  Zwang,  dass  die  lebendige 
Bildungserfahrung  am  Schluss  in  Begriffe  aufgehen  muss,  der  die 
Humboldtsche  Bildungskonzeption  problematisch  macht.  Die  Absolutheit 
des  Begrifts  begriindet  schlieBlich  das  instrumentelJe  Denken.  Somit  enthiilt 
die  biargerliche  Bildungstheorie  selbst  ein  UbermaB  an  Rationalitat  und 
Entfremdung  und  gibt  sich  deshalb  mit  dem  Erleben  von  Freiheit  in  einem 
Schonraum  zufrieden.  Damit  steht  die  humanisdsche  Bildungsidee  nicht  fiir 
Aufklarung,  sondern  fiir  das  Scheitern  der  Autlvliirung  -  die  Emanzipation 
des  Biirgertums  kommt  iiber  eine  zweckfreie  Enklave  nicht  hinaus  und  da  die 
Enklave  die  Moglichkeit  zu  einem  gliicklichen  Leben  ohne  die  Veranderung 
der  gesellschaftliche  Zustande  suggeriert,  zementiert  sie  die  ungerechte 
Gesellschaft. 

An  diesen  W'iderspriichen  leidet  auch  TorleB:  Seine  gewohnte 
Umwelt  wird  ihm  fremd  und  es  kommt  zu  neuen  Sicht-  und  Lebensweisen. 
Als  er  diese  jedoch  versucht  in  sein  Leben  zu  integrieren  —  man  konnte  in 
Anspielung  auf  Humboldt  von  einer  „Riickkehr  aus  den  Verwirrungen" 
sprechen  -  macht  er  die  Erfahrung,  dass  dies  nicht  moglich  ist  und  er  seine 
Bildung  nur  halb  in  der  asthedzistischen  Enklave  leben  darf.  Die  Auslebung 
seines  Spicltriebs  wird  auf  ein  Zwischenspiel  reduziert,  weil  im  Leben  alles 
dem  Realitatsprinzip  untergeordnet  werden  muss.  Dieser  Prozess  vollzieht 
sich  langsam  und  widerspruchlich  nach  dem  Gespriich  mit  dem 
Mathemadldehrer:  Gleich  nach  der  Lnterhaltung  akzepdert  er  Kant  „als  letztes 
Wort  der  Philosophic",  das  jedes  weitere  philosophische  Ratseln  zwecklos 
mache,  wenn  man  ihn  erst  einmal  richtig  verstanden  hat.  Auch  vernichtet  er 
seine  selbst  verfassten  Gedichte,  da  er  jetzt  nur  noch  das  gelten  lassen  mochte, 
was  ihm  eindeuuge  Klarheit  verschafft.  Er  scheitert  zwar  an  der  Schwierigkeit 
der  Kantschen  Philosophic  und  nachts  im  Traum  meldet  sich  seine  Sinnlichkeit 
wieder,  als  sich  Kant  und  sein  Mathematiklehrer  liicherlich  und  unbeholfen  in 
ihrer  viel  zu  engen  Verstandeswelt  bewegen.  Als  er  in  der  Nacht  kurz  aus 
seincm  Traum  erwacht,  nimmt  er  wieder  deutlich  seine  Sinnlichkeit  wahr  und 
fiihlt  sich  dadurch  dem  reinen  X'erstandesmenschen  iiberlegen:  „Er  kam  sich 
unendlich  gesichert  gegen  diese  gescheiten  Menschen  vor,  und  zum  ersten  Mai 
fiihlte  er,  daB  er  in  seiner  Sinnlichkeit  [...|  etwas  hatte,  daB  [...]  ihn  wie  eine 
hochste,  versteckteste  Mauer  gegen  aUe  fremde  Klugheit  schiitze.""''  Dennoch 
mochte  er  am  nachsten  Morgen  seine  Gedanken  klar  und  deutlich 
philosophisch  ordnen,  um  die  Ausloser  seiner  \'erwirrungen  ein  tiir  alle  Mai 
verstehen  und  bewiiltigen  zu  konnen.  [edoch  scheitert  dieser  zwanghafte 
Versuch  genauso  wie  seine  Kant-Lektiire.  1  loffnungslos  beginnt  er  nun,  sich 
vom  Internatsleben  zuriickzuziehen.  Er  ftihlt  sich  darautliin  „ermudet"  in 

170 


den  „\\Tnkligen  Gemachern  der  Siiinlichkeit"'^'  und  mochte  seine  ganzen  Fragen 
an  sich  und  die  Welt  nicht  mehr  ordnen,  sondern  vergessen.  In  ihm  ist  eine 
„Sehnsucht  nach  friedlicher  \x-rtiefung""'  und  Sicherheit,  der  er  allcs  lebendige 
Chaos  opfern  mochte: 

Nur  so  darf  es  kommen!  Nur  so!  fiihlte  TorieB,  und  iiber  alle  Angst 
und  alle  Bedenken  sprang  die  Uberzeugung  hinweg,  dass  er  alles 
daransetzen  miisse,  diesen  Seelenzustand  zu  erreichen.'" 
I'nd  wahrend  sich  die  Ereignisse  um  Basini  iibersti^irzen,  berichtet  der  ErzaWer 
plotzlich  von  einem  gliicklichen  TorieB,  der,  distanziert  \  on  allem,  ein  neues 
Leben  often  vor  sich  sieht.  Seine  Entwicklung  ist  nun  abgesclilossen,  er  mochte 
weniger  Sinnlichkeit  ausleben  und  „dieses  noch  wortlose,  iiberxvaltigende 
Gefiihl  entschuldigt  alles,  was  geschehen  war"."^ 

Dieses  Ende  seiner  \'en\irrungen  hat  etwas  Riitselliaftes.  Der  Erzahler 
berichtet  davon,  ohne  diesen  Prozess  zu  erklaren.  Fast  so,  als  konnten  die 
unsichtbaren  Ausloser  der  Verwirrungen  auch  wieder  unsichtbar  verschwinden, 
da  man  sie  eh  nicht  ernst  nehmen  muss.  Eigentlich  werden  TorieB'  Erlebnisse 
erst  zu  diesem  Zeitpunkt  eindeutig  zu  \  erwirrungen.  Davor  konnten  sie  auch 
viel  positiver  als  „Erfahrungen"  bezeichnet  werden,  denen  TorieB  neugierig 
begegnet  und  versucht,  in  sein  Leben  zu  integrieren.  Erst  als  er  sie  aus 
iiberzeugter  Formtriebperspektive  als  lastige  \  erwirrungen  wahrnimmt, 
beendet  er  sie  durch  eine  —  auf  hohem  sinnlichem  Niveau  stattfindende  — 
Versohnung  mit  der\'ernunft.  Das  Heft  mit  seinen  personlichen  Erlebnissen 
erscheint  ihm  dann  nur  noch  als  Erinnerung  an  \'ergangenes: 

[...]  er  las  nicht  darin.  Er  strich  mit  der  Hand  iiber  die  Seiten  und  ihm 

war,  daB  ein  feiner  Duft  aus  ihnen  aufsteige  [...].  Es  war  die  mit 

W'ehmut  gemischte  Ziirtlichkeit,  die  wir  einer  abgeschlossenen 

Vergangenheit  entgegenbringen  [...].^ 

Die  mit  \\  ehmut  gemischte  Zartlichkeit  richtet  sich  auf  das  friihere  UbermaB 

an  Sinnlichkeit,  Unendlichkeit  und  Unvorstellbarkeit.  Auch  wenn  TorieB  sich 

von  seinem  Mathematiklehrer  missverstanden  fiihlt,  erkennt  er  hier  die 

begrenzten  Denknotwendigkeiten  an,  da  sie  sein  Leben  erleichtern.  Dies  wird 

besonders  in  seiner  Rechtfertigungsrede  vor  seinen  Lehrern  deutlich,  als  er 

nicht  mehr  seine  geballte  Sinnlichkeit,  sondern  nur  noch  die  Distinguiertheit 

seiner  Denknotwendigkeiten  verteidigt. 

\'erlangte  er  vom  Mathematiklehrer  noch,  dass  er  seine  Spekulationen 
ernst  nimmt,  so  ist  seine  Sorge  vor  dem  Gesprach  mit  den  Lehrern  vielmehr, 
wie  er  sie  als  ein  notwendiges  Ubel  seines  Reifungsprozesses  verstandlich 
machen  kann:  „\X'ie  sollte  er  ihnen  das  auseinandersetzen?  Diesen  dunklen, 
geheimnisvollen  Weg,  den  er  gegangen?"""'  Deshalb  flieht  er  zunachst  aus  dem 
Konvikt,  doch  als  er  aufgegriffen  wird  und  schlieBlich  vor  den  Lehren  steht, 
schildert  er  ihnen  in  einer  ^hschung  aus  Mut  und  Cbermut  seinen  Konflikt 
zwischen  Radonalitat  und  Irrationalitat,  denn:  „Es  reizte  ihn  formlich,  von 

171 


sich  zu  sprechen  unci  seine  Gedanken  an  diesen  Kopten  zu  versuchen."^'' 
Doch  die  Lehrer  verstehen  seine  unstrukturierte  Rede  iiber  „Ungeheueres, 
„gar  nicht  \'orstellbares"  und  „erwas  Wunderliches"""  nicht.  IJnd  umso  mehr 
sie  ihn  nicht  verstehen,  umso  mehr  hat  TorleB  Vergnugen  daran.  Er  tiihlt  sich 
ihnen  iiberlegen,  da  er  sein  Inneres  fur  reicher  und  erfahrener  halt.  Sie  kommen 
ihm  wie  lacherliche  Figuren  vor,  die  iiberhaupt  nichts  vom  menschlichen 
Seelenleben  verstehen.  Er  fiihlt  sich  vor  ihnen  als  „ganzer  Mensch"'-  und  am 
Ende  seiner  Verwirrungen  steht  eine  Verteidigungsrede:  „Ich  kann  es  nicht 
anders  sagen,  als  das  ich  die  Dinge  in  zweierlei  Gestalt  sehe".^'^  Jedoch  verteidigt 
er  nicht  den  alten  TorleB,  sondern  den  neuen,  der  die  Konsequenzen  der 
biirgerlichen  GeseUschaft  ubernommen  hat.  Er  wiederholt  die  Antwort  seines 
Mathematiklehrers,  die  ihn  damals  noch  nicht  iiberzeugte.  Jetzt,  wo  er  das 
Realitatsprinzip  geschluckt  hat,  haben  die  Dinge  fiir  ihn  immer  noch  zwei 
Seiten  —  eine  alltagUche  und  eine  verborgene  — ,  aber  er  versucht  sie  nicht  mehr 
gleichzeitig  wahrzunehmen,  sondern  trennt  sie  voneinander.  Dies  wird  vor 
aUem  deudich,  als  er  iiber  die  imaginiiren  Zahlen  spricht: 

Vielleicht  habe  ich  mich  mit  den  irrationalen  Zahlen  geirrt;  wenn  ich 
sie  gewissermaBen  der  Mathematik  entlang  denke,  sind  sie  mir 
natiirlich,  wenn  ich  sie  geradeaus  in  ihrer  Sonderbarkeit  ansehe, 
kommen  sie  mir  unmoglich  vor."' 
Am  Schluss  schildert  er,  wie  er  sich  in  Zukunft  verhalten  wird: 

Ich  weiB:  die  Dinge  sind  die  Dinge  und  werden  es  wohl  immer 

bleiben;  und  ich  werde  sie  wohl  immer  bald  so,  bald  so  ansehen. 

Bald  mit  den  Augen  des  Verstandes,  bald  mit  den  anderen  ....  Und 

werde  nicht  mehr  versuchen,  dies  miteinander  zu  vergleichen  ....''' 

Somit  hat  er  die  Kunstenklave  der  biirgerlichen  GeseUschaft  verinnerlicht  und 

seine  Ich-Identitiit  wird  dadurch  verhiirteter.  Er  unterscheidet  sich  jetzt  nicht 

mehr  durch  Mimesis  bzw.  das  Zulassen  des  Stofftriebs  von  seinen  Lehrern, 

sondern  im  Glauben,  intelligenter  zu  sein  und  es  mit  der  Kunst  in  der  Enklave 

ernster  zu  meinen  als  sie.  Fiir  die  Zeit  seiner  Verwirrungen,  in  der  das  Sinnliche 

iiberall  leben,  beleben  und  wiederbeleben  sollte,  schiimt  er  sich  nun: 

Er  wusste  nun  zwischen  Tag  und  Nacht  zu  unterscheiden;  —  er  hatte 

es  eigentlich  immer  gewusst,  und  nur  ein  schwerer  Traum  war 

verwischend  iiber  diese  Grenzen  hingeflutet,  und  er  schamte  sich 

dieser  Venvirrung  [...].''' 

Die  unsichtbare  und  geheimnisvolle  W'irkung  der  Sinnlichkeit  ist  fiir  ihn  im 

Alltag  verblasst  und  er  kann  sie  nun  in  seiner  „kuhlefn]  Gelassenheit'"'^  nur 

noch  „einseitig  schongeisdg  zugescharft"''"'  zur  Geltung  kommen  lassen. 

Beineberg  und  Reiting  sind  im  Gegensatz  zu  TorleB  vollig  in 
Halbbildung  verstrickt.  Wahrend  TorleB  zeigt,  dass  iisthetische  Erziehung 
nicht  unbedingt  \eredelt,  aber  dennoch  bildet,  stehen  sie  fiir  das  Scheitern  von 
Bildung  iiberhaupt  und  weisen  auf  ein  weiteres  Hauptproblem  des 

172 


BiJdungshumanismus  hin:  Bildung  kann  nicht  nur  im  Laufe  ihres  Prozesses 
ihr  Ziel  verfelilen,  sondern  dieser  Prozess  kann  auch  von  Anfang  an  venveigert 
werden.  Beineberg  und  Rciting  stchen  fiir  diese  \'er\veigerung,  weil  sie,  in 
Schillers  Terminologie,  sich  nicht  darum  bemiihen,  den  Formtrieb  durch 
Stothrieb  zu  maBigen,  und  die  Dominanz  des  Fonntriebs  auch  nicht  als 
problematisch  ansehen.  Sie  fiihlen  sich  woW  in  ihrer  dominanten  RoUe,  bringen 
den  groBten  Teil  ihrer  Energie  fiir  Intrigen  und  sadistisclie  Spiele  auf,  wissen 
sich  in  einer  gesellschaftlich  guten  Position,  verdriingen  ihre  sinnlichen 
Bediirfnisse  und  zweifeln  nicht  an  dem,  was  sie  tun. 

Im  Antisemitismus-Kapitel  der  Dialektik  der  Aiifklmnng'M\7\\%\^r\. 
Adorno  diese  autoritiire  Charakterstruktur  und  beschreibt  damit  sehr 
anschaulich  die  mogliche  Brutalitat  des  forrntriebgesteuerten  Menschen.  Der 
Antisemit  hasst  die  Juden,  weil  sie  in  der  zweckrationalen  Ciesellschaftsordnung 
zweckfreier  leben  konnen  als  er.  Diese  X'erachtung  ist  Ausdruck  seines  eigenen 
Selbsthasses.  Da  er  standig  seine  sinnlichen  Bediirfnisse  unterdriickt,  fiihlt  er 
sich  beim  Anblick  schutzloser  Mincmtaten,  die  sich  nicht  so  stark  an  die 
vorherrschende  Gesellschaftsordnung  angepasst  haben  und  oft  sogar  noch 
erfolgreicher  sind  als  er  selbst,  provoziert.  Er  erinnert  sich  dabei  an  seine 
Entsagungen  im  ZiviJisationsprozess  und  realisiert  schmerzhaft,  dass  er  sich 
nie  wirkliche  Entspannung  und  Erfiillunggonnt.  Er  kann  das  herrschaftsfreie 
Gliick  der  I  uden  nicht  ertragen,  welches  zu  Beginn  der  Aufklarung  fiir  jeden  in 
Aussicht  gestellt  wurde,  jedoch  lediglich  fiir  Einzelne  in  Erfiillung  ging:  „Der 
Gedanke  an  Gliick  ohne  Macht  ist  unertraglich,  weil  es  iiberhaupt  erst  Gliick 
ware."*'"'  Sein  Gliick,  das  Zulassen  des  Stofftriebs,  erlebt  er  nun  im  Hass.  Es  ist 
die  einzige  Moglichkeit,  das  Unterdriickte  zu  leben,  ohne  sich  selbst  und  die 
Gesellschaft,  sprich  das  Realitiitsprinzip,  in  Frage  zu  stellen.  Er  kann  das 
Realitatsprinzip  niemals  direkt  umgehen,  weil  er  zu  viel  Autoritat  verinnerlicht 
hat;  in  der  freien  Auslebung  der  Lust  wiirde  der  Schutz  der  Autoritat  wegfallen 
und  Angst  verursachen.  So  tendiert  er  einerseits  stets  zu  Einfachheit, 
Kritiklosigkeit,  Stereotypie,  einem  „zwanghaften  Uberrealismus'"^'^  und 
Halbbildung  und  lebt  seine  Trieljbediirfnisse  andererseits  an  der  \X  ut  dariiber 
aus,  dass  andere  sich  von  diesen  iiberschaubaren  Mustern  nicht  einengen  lassen. 

Dies  findet,  in  unterschiedlichen  Abstufungen,  auch  bei  Beineberg 
und  Reiting  statt.  Sie  haben  sich  der  strengen  Internatsordnung  untergeordnet 
und  iibernehmen  die  dort  propagierten  soldatischen  Tugenden  wie 
Autoritatsglaubigkeit,  Pflichterfiillung  und  Gehorsam.  Gegen  die  NiveUierung 
von  individuellem  Empfmden  und  kritischem  Denken  wehren  sie  sich  nicht. 
Auch  nicht  gegen  die  Tabuisierung  der  Sexualitiit.  Reiting  mochte  sogar  noch 
barter  werden  und  ist  bekannt  dafiir,  „daB  er  fast  taglich  an  irgendeinem 
endegenen  Orte,  sei  es  gegen  eine  \X  and,  sei  es  gegen  einen  Baum  oder  einen 
Tisch,  boxte,  um  seine  Arme  zu  stiirken  und  seine  Hiinde  durch  Schwielen 
abzuharten".  Selbst  in  seinen  geheimen  Tagebiichern  verarbeitet  er  keine 


173 


personlichen  Erlebnisse,  Gedanken  oder  Triiume,  sondern  schreibt  dort  seine 
geplanten  Intrigen  nieder,  um  fiir  seine  spatere  Rolle  in  der  Gesellschaft  zu 
iiben.  Seine  einzige  \'ision  sind  „Staatsstreiche"''~.  Beinebergs  philosophische 
Spekulationen  vedetzen  ebentalls  nicht  die  Internatsordnung  und  man  Iconnt 
sich  gut  vorstelJen,  dass  er  seine  Theorien  zur  Uberwindung  der  Naturgesetze 
spater  auch  seinen  Soldaten  eintrichtern  woirde,  um  sic  im  Kampf  anzuspomen. 
Mochte  TodeB  sich  mit  ihm  iiber  seine  \'er\virrungen  austauschen,  wird  er 
immer  wieder  von  ihm  angefahren,  dass  seine  Spekulationen  zu  nichts  tuhren 
woirden.^^  Diese  Triebunterdriickung  fiihrt  jedoch  zu  Ersatzhandlungen  und 
an  Basini  toben  sich  Beineberg  und  Reiting  deshalb  aus.  Er  ist  ihr  Siindenbock 
fiir  ihre  unterdriickte  Sinnlichkeit.  Er  ist  der  schutzlose  AuBenseiter,  der  weniger 
dem  Realitatssinn  gehorcht  und  deshalb  alle  W'ut  auf  sich  zieht:  TorleB 
beschreibt  ihn  als  dumm  und  ohne  Moral,  stellt  aber  auch  test,  dass  er  iiber 
eine  „Art  koketter  Liebenswijrdigkeit  verfiigt".  Die  Alisshandlungen  scheinen 
ihm  weniger  auszumachen,  da  er  masochistische  Neigungen  hat.  Schwach  ist 
er  auch  in  TorleB'  Beschreibung  als  dieser  „\veiche,  trage  Bewegungen  und 
weibische  Gesichtsziige"**"  an  ihm  feststellt.  Beineberg  und  Reiting  stehen 
exemplarisch  fur  das  Scheitern  von  Schillers  Bildungstheorie.  Sie  haben  kein 
Interesse,  Form-  und  Stofftrieb  miteinander  zu  versohnen,  well  sie  auf  der 
Beuaisstseinsebene  kein  Bediirfnis  danach  haben.  Holen  sie  dieses  Bediirfnis 
dann  unbewTisst  nach,  sensibilisiert  ihr  Spieltrieb  sie  nicht  fiir  das  Gute,  sondern 
ist  selbst  zutiefst  unmoralisch;  ihr  Spiel  ist  in  Wirklichkeit  ein  perfides 
Gegenspiel.  W'ie  ihr  autoritarer  Charakter  dennoch  fiir  die  schonen  Kiinste 
und  das  zweckfreie  Denken  sensibilisiert  vverden  konnte,  soil  im  nachsten 
Abschnitt  skizziert  werden. 

IV.  Kritik  an  Schillers  Bildungstheorie 

Trotz  des  enormen  Einflusses,  welche  die  asthetischen  Briefe  auf  das 
Bildungswesen  hatten,  lieBe  sich  auch  heute  immer  noch  die  gleiche  Frage 
stellen,  wie  Schiller  sie  im  8.  Brief  formuliert,  als  er  die  W'irkungslosigkeit  der 
Aufklarung  auf  die  moralische  Entwicklung  des  Menschen  betrachtet:  „\Xbran 
liegt  es,  daB  wir  immer  noch  Barbaren  sind?"  Man  konnte  es  auch  anders 
formulieren  und  fragen,  woran  es  Uegt,  dass  die  schonen  Kiinste  noch  immer 
nicht  die  harmonisierende  W'irkung  haben,  die  Schiller  ihnen  zuschreibt. 
Hundert  }ahre  nach  dem  Erscheinen  seiner  Briefe  -  so  lange  soUte  es  dauern, 
bis  Stoff-  und  Formtrieb  in  ein  ausgcglichenes  Zusammenspiel  geraten  -  taUt 
die  Kulturkritik  nicht  anders  aus:  Musil  schrieb  seinen  Torlefs,  aus  Schillers 
Barbar  woirde  der  allgegenwartig  beklagte  Bildungsphilister,  das  Phanomen 
der  Entfremdung  in  der  modernen  Gesellschaft  wurde  von  Max  W  eber  und 
Georg  Simmel  eingehend  theoretisiert  und  Schillers  These,  dass  es  die  Kultur 
selbst  ist,  welche  auch  die  Kultudeistungen  wieder  zerstoren  kann,  wurde 
zum  Allgemeingut  und  fand  eine  pointierte  Beschreibung  in  Horkheimers 

174 


und  Adornos  Diakktik  der  Aufkliirmig.  Alphabetisierung  und  \'olksbildung 
haben  zwar  zur  \'erbreitung  der  Kunst  gcfiihrt,  jedoch  lie(5en  sie  gleichzeitig 
auch  eine  banale  Massenkultur  entstehen,  deren  Ziel  nicht  Aufklarung,  sondern 
ein  kommerzieller  Gewinn  ist,  und  die  Gvmnasien  fingen  angesichts  der 
Anforderungen  der  Industrialisierung  an,  von  Bildung  zu  Ausbildung 
iiberzLigehen,  indem  sie  mehr  technische  Facher  statt  alte  Sprachen  zu 
unterrichten  begannen.  Und  heute,  envas  mehr  als  200  Jahre  nach  Schillers 
Brieten,  stehen  wir  immer  noch  vor  den  gleichen  Problemen. 

Das  Hauptpnjblem  stcllt  die  Tatsache  dar,  dass  die  Kunst  das 
einseitige  Fortschreiten  der  Rationalitat  nicht  stoppen  konnte.  Der  Stofftrieb 
konnte  den  Formtrieb  nicht  mehr  einholen,  die  sanfte  Kraft  des  Schonen 
blieb  wirkungslos gegeni^iber  der  Produktixitat  des  instrumentellen  Denkens. 
Schiller  stellt  der  Yernunft  das  Reich  der  Kiinste  gegenijber  und  glaubt,  dass 
diese  die  Moglichkeit  haben,  die  \'ernunh  zu  domestizieren,  wenn  nur  das 
Potential  der  Kunst  so  gut  wie  moglich  begriindet  wird.  Deshalb  unternimmt 
er  den  \  ersuch,  ihr  W'esen  transzendental  zu  begriinden,  als  er  eingesteht,  dass 
ihre  positive  W'irkung  empirisch  nicht  zu  belegen  ist.  Die  gleiche  Absicherung 
sucht  er  auch,  als  er  die  W'irkung  des  asthetischen  Zustands  nicht  nur 
anthropologisch  begriindet,  sondern  ihn  auch  im  historischen  Prozess  der 
Menschheitsgeschichte  nachweist.  "  Er  bestimmt  also  auf  eine  eindrucksvolle 
Art  und  Weise  das  Wesen  der  Kunst,  begriindet  ihr  Potential  unschlagbar  und 
hofft,  dass  diese  Stichhaltigkeit  beim  „Fremdling  in  der  Sinnenwelt"  zu  einer 
„totalen  Revolution  in  seiner  ganzen  Emptlndungsweise"  '  fiihrt.  Jedoch 
entwickelt  dieser  Fremdling  keine  „Freude  am  Schein,  die  Neigung  zum  Putz 
und  zum  Spiele"  '^,  sondern  liisst,  wie  Beineberg  und  Reiting,  autoritar  alles 
Sinnliche  an  sich  abprallen. 

Eine  Gesellschaft,  in  der  nichts  erfolgreicher  ist  als  Erfolg  bzw.  nichts 
zweckdienUcher  ist  als  der  Zweck,  hat  in  der  Regel  keinen  Platz  flir  das  zweckfreie 
Spiel  der  Kunst.  Dem  Fremdling  der  Kunstwelt  bleiben  die  schonen  Kiinste 
fremd,  auch  wenn  ihre  W'irkung  transzendental  nachgewiesen  ist.  Eine 
Gesellschaft,  die  sich  dem  sichtbaren  Nutzen  verschrieben  hat,  kann  das  Reich 
des  Unsichtbaren  nicht  plotzlich  als  hochst  befriedigend  erfaliren.  Scliiller  bringt 
die  zweckrationale  Gesellschaft  zu  schnell  mit  der  ihr  entgegengesetzten  Sphare 
in  Kontakt  und  verhindert  so  ihre  W'irkung.  Er  miisste  die  Kunst  schiitzen, 
be\-or  er  sie  in  ein  ilir  feindliches  Gebiet  scliickt.  Da  Stoff-  und  Fomitrieb  nicht 
einfach  zum  Spieltrieb  harmonisieren,  miisste  gefragt  werden,  wer  diesen 
\  larmonisierungsprozess  durchsetzcn  konnte,  den  die  iibermachtige  \^ernunft 
verhindert.  Da  die  X'ernunft  dominiert  und  die  Kunst  ihr  gegeniiber  machtlos 
ist,  kann  es  nur  die  \'ernunft  sein.  Die  schonen  Kiinste  diirfen  deshalb  nicht 
nach  ihrer  Eigengesetzlichkeit  in  die  Gesellschaft  eingefiihrt  werden.  Sie  miissen 
zunachst  nach  den  allgegenwartigen  zweckrationalen  Gesetzen  vermittelt 
werden,  um  ernst  genommen  zu  werden.  Es  kann  daher  zunachst  nur  die 


175 


Vernunft  sein,  die  fiir  Kunst  sensibilisiert  und  den  Stofftrieb  in  Gang  setzt. 
Sie  muss  die  Wirkung  und  Notwendigkeit  der  Kunst  in  der  Sprache  des 
vorherrschenden  instrumentellen  Denkens  beschreiben,  d.h.  immer  nur  so 
viel  Stofftrieb  zulassen,  wie  vom  Formtrieb  als  zweckhaft  verstanden  werden 
kann.  Orientieren  konnte  man  sich  dabei  an  Adomos  Konzeption  von  Mimesis. 
Wird  sie  bei  ihm  gebraucht,  urn  das  Denken  mit  der  Natur  auszugleichen,  so 
ware  hier  ihre  Aufgabe,  ELnfiililung  in  den  falschen  gesellschaftlichen  Zustand 
zu  erreichen,  von  dem  die  Menschen  ebenso  beherrscht  werden  wie  ehemals 
von  der  Natur.  Sie  wiirde  fiir  die  Denkweise  des  instrumentellen  Bewusstseins 
„sensibilisieren",  seine  Voraussetzungen,  GesetzmaBigkeiten  und  Grenzen 
erkennen  konnen  und  hatte  die  Moglichkeit,  einen  Bereich  zu  finden,  in  dem 
sich  Zweckfreilieit  und  Zweckrationalitiit  treffen.  Der  Stofftrieb  konnte  dann 
einfiihlsam,  d.h.  durch  einen  Vorrang  der  zunjichst  einmal  uniiberwindlichen 
ZweckrationalitJit,  eingefiihrt  werden.  Das  sich  zwischen  Stoff-  und  Formtrieb 
befindende  Zwischenreich  des  „schonen  Scheins"  wiirde  so  nicht  idealistisch 
verkliirt  wahrgenommen  werden,  sondern  als  ein  Bereich,  welcher  so  wenig 
Aufmerksamkeit  findet  wie  der  Zwischenraum,  den  man  betreten  muss,  um 
von  einem  Raum  in  einen  anderen  zu  gelangen.  Kommt  zu  viel  Stofftrieb  auf 
einmal,  so  wird  er  nicht  zum  Ausgleichen  des  Formtriebs  benutzt,  sondern 
bekampft.  Beineberg  und  Reiting  bekampfen  ihn,  indem  sie  Basini  qualen, 
und  der  Antisemit,  indem  er  die  juden  hasst.  Dieser  Vorgang  lieBe  sich,  im 
Sinne  Adomos,  als  eine  falsche  Mimesis  bczeichnen.  Im  Gegensatz  zur  echtcn 
Mimesis,  wo  sich  der  Mensch  bis  zu  einem  gewisse  Grad  der  Natur  wieder 
ahnlich  macht,  um  das  zweckrationale  Denken  zu  reduzieren,  macht  er  sich  in 
der  falschen  Mimesis  zwar  auch  der  Natur  ahnlich,  aber  sozusagen  der  schlechten 
Natur,  die  das  Bose  in  ihm  hervorruft.  Die  \  leilsamkeit  des  Stofftriebs  kann 
hier,  ahnlich  wie  die  Aufkliirung,  in  ihr  Gegenteil  umschlagen. 

Auch  TorleB  konnte  dadurch  erreicht  werden.  /Vllerdings  miisste  er 
nicht  fiir  die  Erfahrung  des  Stofftriebs  sensibilisiert  werden,  sondern  die  bereits 
zugelassene  Kunsterfahrung  miisste  vitalisiert  werden.  Diese  Vitalisierung 
konnte  durch  Reflexion  auf  den  unternommencn  Bildungsprozess  stattfinden. 
Auch  Adorno  halt  nach  dem  Scheitern  der  Bildung  an  Bildung  fest,  da  sich  der 
Mensch  nur  durch  sie  bilden  kann.  Seine  Hoffnung  ist,  dass  der  Mensch  die 
Fahigkeit  entwickelt,  kritisch  auf  seinen  Bildungsprozess  zuriickzuschauen, 
und  dadurch  das  Bewusstsein  seiner  eigenen  Naturhaftigkeit  und  der  dieser 
Tatsache  entgegenstehenden  Halbbildung  erhalt:  „Die  Kraft  dazu  aber  wiichst 
dem  Geist  nirgendwoher  zu  als  aus  dem,  was  einmal  Bildung  war".  Deshalb 
hat  der  Mensch  die  schwierige  Aufgabe,  „an  Bildung  festzuhalten,  nachdem 
die  Gesellschaft  ihr  die  Basis  entzog.  Sie  hat  keine  andere  Moglichkeit  des 
Uberlebens  als  die  kntische  Selbstreflexion  auf  die  Halbbildung,  zu  der  sie 
notwendig  wurde".  '  Da  dieser  Prozess  nicht  ohne  weiteres  beginnt  und 
automatisch  selbstkritisch  vediiuft,  ware  eine  Analyse  des  Zweckfreien  ein 

176 


geeigneter  Ausgangspunkt.  Sie  mirde  die  Kunst  in  einem  neuen  Kontext 
darstellen  und  den  schwer  zu  erfassenden  Bereich  des  Schonen  marginal 
rationalisieren,  um  dcm  Verstand  einen  Ausgangspunkt  fiir  seine  Reflexion 
zu  liefern. 

Die  Hoffnung  konnte  aussehen,  wie  es  Adorno  in  der  Negatiren 
Dialekfik  formuliert:  „Die  Utopie  der  Erkenntnis  ware,  das  Begrifflose  mit 
Begriffen  aufzutun,  ohne  es  ihnen  gleichzumachen."  ■*  Man  miisste  versuchen, 
mit  dem  instrumentellen  Denken  iiber  das  instrumentelle  Denken 
hinauszugehen,  ohne  es  ihm  gleichzutun.  Dies  lieBe  sich  auf  die 
widerspriichliche  Formel  bringen,  dass  asthetisclie  Bildung  den  Wert  des 
Zweckfreien  am  besten  vermitteln  kann,  indem  sie  den  Zweck  ihrer 
Zweckfreiheit  erklart.  So  konnte  der  erst  im  Nachhinein  zu  benenne  Zweck 
eines  offenen  Prozesses  deutlich  werden.  TorleB'  Unverstandnis  iiber  die 
Wirkung  der  imaginiiren  Zalilen  lieBe  sich  auch  auf  den  unsichtbar-riitselhaften 
Prozess  der  Erfahrung  des  Zweckfreien  iibertragen:  „Ist  das  nicht  wie  eine 
BriJcke,  von  der  nur  Anfangs-  und  Endpfeiler  vorhanden  sind  und  die  man 
dennoch  so  sicher  iiberschreitet,  als  ob  sie  ganz  dastiinde?  Fiir  mich  hat  so  eine 
Rechnung  etwas  Schwindliges;  als  ob  es  ein  Stiick  des  Wages  weiB  Gott  wohin 
ginge."^'  Der  Zweck  der  Zweckfreiheit  wiirde  den  unsichtbaren  W'eg  iiber 
diese  Briicke  beschreiben  und  erldiiren,  wieso  das  leere  Heft  iiber  ihre  Wirkung 
in  Wirklichkeit  mit  unsichtbarer  Tinte  beschrieben  ist. 


Endnotes 

'  Friedrich  Schiller:  Uber  die  asthetische  Erziehung  des  Menschen  (in  einer  Reihe  von 

Briefen),  Stuttgart  2000,  5.  Brief. 

2  Ebd. 

'  Ebd.,  10.  Brief. 

'  Ebd.,  13.  Brief 

^  Ebd. 

'■  Ebd.,  15.  Brief 

'  Ebd. 

8  Ebd.,  20.  Brief 

'  Ebd.,  21.  Brief 

'»  Ebd. 

"  Ebd.,  22.  Brief 

'2  Ebd.,  23.  Brief 

'^  Robert  Musil:  Die  Verwirrungen  des  Zoglings  TorleB,  Hamburg  2005,  S.  13. 

•^  Ebd. 

■'  Ebd.,  S.  198. 

"^Ebd.,  S.  194. 

"  Ebd.,  S.  92. 

'«  Ebd. 

"  Ebd.,  S.  158. 

20Ebd.,  S.  159. 


177 


2' Ebd.,  S.  160. 

^  Theodor  W.  Adorno:  Theorie  der  Halbbildung,  in:  Gesammelte  Schriften,  Bd.  8,  hrsg. 

von  Rolf  Tiedemann,  Frankfurt/M.  1972,  S.  93. 

"  Das  Aufkommen  der  Massenkultur  ist  in  Musils  Erstlingsroman  sicherlich  noch  kein 

Thema.  Jedoch  kann  man  in  der  Art,  wie  Beineberg  sich  mit  dem  Buddhismus  beschafugt, 

Ahnlichkeiten  zur  kommerziellen  \'erflachung  in  religiosen/esoterischen  Bestsellern 

erkennen. 

^^  Adorno,  Theorie  der  Halbbildung,  S.  111. 

^^  Theodor  W.  Adorno:  Dialekdk  der  .\ufklarung.  Philosophische  Fragmente,  Frankfurt/ 

M.  1998,5.47. 

^  Adorno,  Theorie  der  Halbbildung,  S.  106. 

"  TorieB,  S.  15. 

2«  Ebd.,  S.  88. 

^Ebd.,S.  151. 

^  Theodor  W.  Adorno:  Ohne  Leitbild,  in:  Gesammelte  W'erke,  Bd.  10.1,  hrsg.  von  Rolf 

Tiedemann,  Frankfurt/M.  1976,  S.  318. 

"  TorleB,  S.  87  f 

"  Ebd.,  S.  90. 

"Ebd.,  S.  126. 

^  Ebd. 

"  Ebd.,  S.  128. 

"•  Ebd.,  S.  104. 

^'Ebd.,  S.  108. 

5«Ebd.,  S.  109. 

''  Ebd.,  S.  108. 

■^  Die  Ausgabe  seines  Kant-Buchs  ist  ein  teurer  „Renomierband"  (TorleB,  S.  109),  der  in 

der  Regel  nicht  zum  Lesen  gekauft  uoirde,  sondern  um  als  Bildungs-  und  Statussymbol 

an  einer  gut  sichtbaren  Stelle  im  Haus  aufgestellt  zu  werden.  Wittman  beschreibt  sie  als 

„Buch-   und   Grabdenkmaler".    (Reinhard   W'ittmann:   Geschichte   des   deutschen 

Buchhandels.  Ein  Oberblick,  Miinchen  1991,  S.  249.)  Dass  es  TorleB  mit  seiner  Kant- 

Lektiire  ernsthaft  ist,  verdeutlicht  in  diesem  Zusammenhang  die  Tatsache,  dass  er  sich 

eine,  lediglich  fiir  Gebrauchszwecke  bestimmte,  billige  „Reclamausgabe"  kauft  (Ebd.,  S. 

113)). 

""  Vgl.   Franz  Carl   Endres  und  Annemarie   Schimmel:   Das  Geheimnis  der  Zahl. 

Zahlensymbolik  im  Vergleich,  Koln  1985. 

■•^  Vgl.  Karl  Menninger:  Mathemadk  und  Kunst,  Gottingen  1959. 

■"  Vgl.  Gabriele  Werner:  Mathematik  im  Surrcalismus.  Man  Ray,  Max  F>nst,  Dorothea 

Tanning,  Marburg  2002. 

**  In  der  mittelalterlichen  Mystik  wurde  die  Erfahrung  des  Unendlichen  als  eine  Briicke 

zum  Ubersinnlichen  begriffen.  (Vgl.  Nikolaus  von  Kues:  De  docta  ignorantia,  Boblingen 

2004,  S.  9.)  Auch  das  sprachkritische  Eingangsmotto  von  Musils  Roman  stammt  aus 

einem  mysuschen  W'erk,  namlich  aus  Maurice  Maeterlinck:  Schatz  der  Armen,  Jena  1906. 

*'  Entfremdung  im   1  iumboldtschen  Sinne  memt  hier,  dass  dem   Heranwachsenden 

seine  Identitat  und  L'mwelt  fremd  werden,  weil  er  in  ihnen  liigenschaften  und  \^organge 

entdeckt,  die  ihn  zunachst  verwirren. 

'"'  Diese  Formel  fiir  die  neuhumanistische  Bildungsidee  libernehme  ich  von  Giinter 

Buck:  Riickwege  aus  der  Entfremdung.  Studien  zur  deutschen  Bildungsphilosophie, 

Munchen  1984,  S.  17. 

""^  Wilhelm  von  Humboldt:  Theorie  zur  Bildung  des  Menschen  (Bruchstiick),  m:  W'erke, 

Bd.  1:  Schriften  zur  Anthropologic  und  Geschichte,  hrsg.  von  Andreas  Flitner  und 

Klaus  Giel,  Darmstadt  1980,  S.  237. 

"**  \Xilhelm  von  Humboldt:  Lber  die  \'erschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

178 


und  ihren  EinfluR  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts,  in:  Werke, 

Bd.  7.1,  hrsg.  von  j\Jbert  Leitzmann,  Berlin  1907,  S.  45f. 

"'Ebd.,  S.  123. 

5"  Ebd.,  S.  162. 

5'  Ebd.,  S.  182. 

"  Ebd. 

"Ebd.,  S.  187. 

»  Ebd. 

"Ebd.,  S.  188. 

^"■Ebd.,  S.  190. 

"  Ebd. 

5«Ebd.,  S.  187. 

'"Ebd.,  S.  193. 

'•"Ebd.,  S.  195. 

'''  Ebd.,  S.  196. 

'•2Ebd.,S.  199. 

"  Ebd. 

"Ebd.,  S.  159. 

"  Adorno,  Dialektik  der  Autllarung,  S.   181. 

"'  Theodor  W.  Adorno:  Studicn  zum  autoritiiren  Charakter,  Frankfurt/M.  1995,  S.  335. 

'"'  TorleB,  S.  54 f. 

""  Vgl.  Ebd.,  S.  105. 

'"  Ebd.,  S.  70f. 

'"  Vgl.  Schiller,  Uber  die  iisthetische  Erziehung  des  Menschen,  24.  Brief. 

''  Ebd.,  6.  und  27.  Brief. 

^2  Ebd.,  26.  Brief. 

''  Adorno,  Theorie  der  Halbbildung,  S.  121. 

'*  Theodor  VC.  Adorno:  Negative  Dialektik,  Frankfurt/M.  2003,  S.  21. 

"  TorleB,  S.  104. 


Literaturverzeichnis 

Adorno,  Theodor  W.:  Theorie  der  Halbbildung,  in:  Gesammehe  Schriften, 
Bd.  8,  hrsg.  von  Rolf  Tiedemann,  Frankfurt/M.  1972. 

Adorno,  Theodor  W.:  Ohne  LeitbiJd,  in:  Gesammelte  Werke,  Bd.  10.1,  hrsg. 
von  Rolf  Tiedemann,  Frankfurt/M.  1976. 

Adorno,  Theodor,  W.:  Studien  zum  autoritiiren  Charakter,  Frankfurt/M.  1 995 

Adorno,  Theodor  \X'.:  Dialektik  der  Aufldiirung.  PhiJosophische  Fragmente, 
Frankfurt/M.  1998. 

Adorno,  Theodor  W:  Negative  Dialektik,  Frankfurt/M.  2U03. 

Buck,  Giinter:  Rtickwege  aus  der  Entfremdung.  Studien  zur  deutschen 

179 


Bildungsphilosophie,  Miinchen  1984. 

Endres,  Franz  Carl  und  Schimmel,  Annemarie:  Das  Geheimnis  der  Zahl. 
Zahlensymbolik  im  Vergleich,  Koln  1985. 

I  lumboldt,  Wilhelm  von:  Uber  die  Verschiedenheit  des  menschlichen 

Sprachbaues  und  ihren  Einflufi  auf  die  geistige  Entwicklung  des 
Menschengesclilechts,  in:  Werke,  Bd.  7. 1 ,  hrsg.  von  iVlbert  Leitzmann, 
Berlin  1907. 

Humboldt,  Wilhelm  von:  Theorie  zur  Bildung  des  Menschen  (Bruchstiick), 
in:  Werke,  Bd.  1 :  Schriften  zur  Anthropologie  und  Geschichte,  hrsg. 
von  Andreas  Flitner  und  Klaus  Giel,  Darmstadt  1980. 

Kues,  Nikolaus  von:  De  docta  ignorantia,  Boblingen  2004. 

Maeterlinck,  Maurice:  Schatz  der  Armen, Jena  1906. 

Menninger,  Karl:  Mathematik  und  Kunst,  Gottingen  1959. 

Musil,  Robert:  Die  Verwirrungen  des  Zoglings  TorleB,  Hamburg  2005. 

Schiller,  Friedrich:  Uber  die  iisthetische  Erziehung  des  Menschen  (in  einer 
Reihe  von  Briefen),  Stuttgart  2000. 

Werner,  Gabriele:  Mathematik  im  SurreaUsmus.  Man  Ray,  Max  Ernst,  Dorotliea 
Tanning,  Marburg  2002. 


180 


INTERVIEW 

Ein  Interview  mit  Marc  Rothemund 

Katharina  Leduc 


Trotz  seines  Erfolges  bleibt  der  Regisseur  Marc  Rothemund  mit  beiden  Beinen 
aut  dem  Boden,  obwohl  seine  drei  Filme  Lj)ve  Scenes  from  Plautet  Eatfb  (Das 
merkn'urdige  \^erhalten  gescblechtsreifer  Gro^stadter  ^//r  Paarungs^if)^  Ants  in  the 
Pants  (Haife  J/oigs)  und  das  Drama  Sophie  Scholl  —  the  Pinal  Days  {Sophie  Scholl 
—  die  let^fen  Page)  mehr  als  eine  Millionen  Zuschauer  im  Kino  anzogen.  AJs 
passionierter  Sportier  vergleicht  Rothemund  das  Filmemachen  gerne  mit 
FuBbalJ:  "Ein  )ahr  gewinnt  das  Team  eine  Trophae,  die  nachste  Saison  konnen 
sie  schon  wieder  verlieren.  Xach  dem  Spiel  ist  vor  dem  Spiel,  nach  dem  Film  ist 
vor  dem  Film". 

Marc  Rothemund  war  fiir  drei  Monate  in  der  Kiinsderresidenz  "\"illa 
Aurora"  in  Pacific  Palisades,  um  hier  an  seiiiem  neuen  Projekt  "Rosa  Parks"  zu 
arbeiten. 


NGR:  Kannst  Du  bitte  etwas  iiber  die  Idee  zu  Deinem  Filmprojekt  "Rosa 
Parks"  erzahlen. 

M.R.:  Schon  lange  fasziniert  mich  die  Geschichte  von  Rosa  Parks.  Ich 
beabsichtige  eine  detaillierte  Recherche  und  die  Frstellung  eines  Drehbuchs 
iiber  die  Zeit,  in  der  Rosa  Parks  sich  weigerte,  ihren  Platz  im  Montgomer\-  Bus 
tiir  einen  \\  eiI3en  zu  riiumen.  Ihre  Festnahme  fiihrte  zu  einer  der  groBten  und 
erfolgreichsten  Massenbewegungen  gegen  Rassismus.  Fiir  ihre  Zivilcourage 
und  ihre  Standhaftigkeit  wurde  sie  vom  Time  Magazin  zu  einer  der  zwanzig 
einfluBreichsten  Personen  des  20.  jahrhunderts  gewahlt. 

Die  Gescliichte  soil  mit  einer  Pretitle-Szene  1 943  beginnen,  in  der  wir 
Rosa  Parks  und  ihre  Familie  als  auch  ihren  W'ohnort  und  die  Gesellschatt  in 
i\Iabama  kennenlernen. 

An  jenem  verregneten  Tag  im  )ahre  1943  stieg  sie  durch  den 
Vordereingang  in  einen  offentlichen  Bus.  Der  Fahrer,  James  Blake,  betahl  ihr, 
nochmals  auszusteigen  und  durch  den  Hintereingang  einzusteigen.  Sie  stieg 
tiurch  den  \brdereLngang  aus,  lieB  ihr  Portemonnaie  fallen  und  setzte  sich  fiir 


181 


einen  Moment  auf  einen  Sitz,  der  fiir  weiBe  Fahrgaste  reserviert  war,  um  ihr 
Portemonnaie  aufzuheben.  Dies  machte  den  Busfahrer  so  wiitend,  dass  er  sie 
zwang  auszusteigen,  und  ohne  sie  losfuhr.  Rosa  ging  mehr  als  fiinf  Meilen 
zu  FuB  durch  den  Regen. 

Die  Hauptgeschichte  spielt  am  1.  Dezember  1955.  Sie  bestieg  wieder 
einen  oftentlichen  Montgomen'  Bus,  zahlte  den  Fahrpreis  und  setzte  sich  auf 
einen  freien  Platz  in  der  ersten  Reihe  der  fiir  Farbige  reser^^erten  Sektion.  Diese 
war  ungefahr  in  der  Mitte  des  Busses  und  direkt  hinter  den  zehn  reservierten 
Reihen  fiir  die  weiBen  Fahrgaste.  Bis  dahin  hatte  Rosa  noch  nicht  bemerkt, 
dass  der  Busfahrer  der  selbe  Mann  war,  James  Blake,  der  sie  1943  durch  den 
Regen  laufen  lieB.  Nach  einigen  Haltestellen  bemerkte  der  Busfahrer,  dass 
zwei,  drei  weiBe  Fahrgaste  Stehplatze  haben.  Er  hielt  an  und  verschob  das 
„colored  section  sign"  hinter  den  Sitz  von  Rosa  Parks.  Er  forderte  auf  riide, 
respekdose  Art  und  Weise  vier  Farbige  auf,  ihren  Platz  fur  die  weiBen  Fahrgaste 
freizumachen.  Der  farbige  Mann  neben  Rosa  stand  auf,  machte  seinen  Platz 
frei.  Auch  Rosa  stand  auf,  doch  nur  um  auf  den  neben  ihr  frei  gewordenen 
Fensterplatz  zu  rutschen.  Sie  weigerte  sich,  in  den  neu  gekennzeichneten  Bereich 
fiir  Farbige  zu  wechseln. 

Blake:  „\X  hy  don  t  you  stand  up?" 

Rosa:  "I  don  t  think  I  should  have  to  stand  up!" 

Blake:"\X  ill  you  stand  up!?" 

Rosa:  "No,  I  am  not!" 

Blake:  "^X'ell,  if  \'ou  don  t  stand  up,  I  m  going  to  have  to  call  the 
police  and  have  arrested  vou!" 

Rosa:  "You  may  do  that!" 

Die  weitere  Geschichte  soil  nun  auch  die  verschiedenen  Charaktere  der 
beteiligten  Menschen  beschreiben.  L'nd  wie  sie  auf  diesen  „zivilen 
Ungehorsam"  reagierten:  Der  Busfahrer  James  Blake,  der  Polizist,  der  UPI- 
Journalist  Nicholas  C.  Chriss,  der  auf  dem  beriihmten  Foto  neben  ihr  sitzt, 
nachdem  viele  den  stehenden  Bus  verlassen  batten  und  natiirlich  auch  die 
anderen  farbigen  und  weiBen  Fahrgaste,  soUen  wichtige  Rollen  in  dem  Film 
spielen.  Ein  Querschnitt  des  damaligen,  teils  auch  heutigen  Amerikas. 

Es  gibt  sehr  viel  Recherchematerial,  Polizeiakten,  Rosa  Parks 
Biographic  „My  Stor)",  den  Artikel  des  Journalisten,  die  Berichte  vieler 
Augenzeugen. 

182 


Im  dritten  Akt  beabsichtige  ich  zur  Zeit  die  Geschehnisse  nach  ihrer 
Abfiihrung  erhobenen  Hauptes  aus  dem  Bus  zu  erzahlen.  Die  durch  Fotos 
dokumenderte  erkennungsdienstliche  Behandlung  im  Polizeire^^e^,  das  \'erh6r 
durch  die  staatliche  Behorde,  ihre  Heimkehr  in  den  Kreis  ihrer  Familie  und 
ihrer  Freunde,  und  auch  den  kurzen  Gerichtsprozess. 

Das  Ende  dieses  Filmes  beginnt  mit  ihrer  FreiJassung  aus  dem 
Gericht,  ihrer  emotionalen  Freude  und  der  Anerkennung  ihrer  Freunde, 
miindend  in  Original  Footage  und  einer  kurzen  Beschreibung  des  „Montgomen' 
Bus  Boycott".  Hieriiber  intbrmieren  wir  entweder  mit  voice  over  oder 
Schrifttafehi  iiber  die  positiven  Auswirkungen  auf  die  Gcsellschaft  und  die 
Ehnmgen,  die  Rosa  Parks  erhiclt. 

Ob  ich  dem  Film  einen  Rahmen  gebe,  (z.B  wie  in  „Titanic",  „Litde 
Big  Man")  oder  die  Geschichte  noch  mehr  auf  die  \'orkommnisse  im  Bus 
konzentriere,  statt  im  dritten  Akt  den  Bus  zu  verlassen,  oder  andere  Stilmittel 
oder  Erzahlzeiten  verwende,  mochte  ich  mir  noch  often  lassen. 

NCR:  Dieses  neue  Projekt  "Rosa  Parks"  stellt  wie  Dein  Drama  Sophie 
Scholl  eine  Art  Portrait  einer  einzelnen  Person  dar  -  ist  es  fur  Dich 
interessanter,  eine  Portraitskizze  anzufertigen  oder  scheint  Dir  eine 
Komodie  mit  zwischenmenschlichen  Beziehungsproblemen  genauso 
leicht? 

M.R.:  Ich  arbeite  mit  verschiedenen  Genre  und  Gescliichten.  Das  hat  nicht  nur 
mit  der  Tendenz  des  Zuschauers,  die  kategorisieren,  zu  tun.  Ich  habe  nicht 
einen  einzelnen  meiner  Filme  gemacht,  um  irgendjemandem  irgendwas  zu 
beweisen.  Das  W'ichtigste  ist,  dass  mein  Team  und  ich  alles  gegeben  haben, 
was  wir  konnen.  Als  Regisseur  frage  ich  mich  selbst:  Finde  ich  etwas 
unterhaltsam,  beriihrt  mich  das?  W'enn  ich  anfange  iiber  all  die  Leute 
nachzudenken,  die  einen  Film  gut  finden  sollen,  dann  habe  ich  bereits  verloren. 
Ich  glaube,  ein  leichtes,  unterhaltsames  Sujet  ist  genauso  schwierig  zu  realisieren 
als  eine  dramatische  Geschichte.  Ich  bin  deswegen  erstaunt  iiber  die  engstirnige 
Sichtweise  mit  der  kreative,  professionelle  Leute  in  Deutscliland  kategorisieren. 
Nach  meinem  ersten  90minuten  Spielfilm  bekam  ich  standig  Angebote  fiir 
Kriminalgeschichten;  romantische  Komodien  kamen  en  masse  nach  Das 
merkn'iirdige  \'erhalten  geschkchtsreifer  GrojSstadter  ^a  Paamngs^eit,  Teenager 
Komodien  nach  Harte  Jungs  und  seit  dem  Erfolg  Sophie  Scholl  -  Die  let^en 
Tage  bekomme  ich  historisches  Material  iiber  die  Nazizeit. 

Aber  ich  suche  standig  nach  neuen  Herausforderungen.  Das  Leben 
soUte  nicht  monoton  und  einspurig  sein.  So  versuche  ich,  mein  Leben  und 
meine  Arbeit  so  extrem  und  so  vieltliltig  wie  moglich  zu  gestalten.  Sch!ie(31ich 
beinlialtet  das  Leben  Licht  und  Schatten,  Lachen  und  Tranen. 


83 


NGR:  Du  hattest  den  internationalen  Durchbruch  2006  mit  Deinem 
Film  "Sophie  Scholl  -  die  letzten  Tage".  Damals  warst  Du  zur  Oscar 
Nominierung  als  bester  fremdsprachiger  Film  in  Los  Angeles.  Wie 
waren  Deine  Erfahrungen?  Warst  Du  bzw.  das  Team  enttauscht,  dass  der 
siidafrikanische  Film  "Tsotsi"  iiber  einen  jungen  StraBenrauber  den 
begehrten  Filmpreis  holte? 

M.R,:  Null  komma  nuU  Enttiiuschung,  wir  waren  total  gliicklich.  Es  war  eher 
eine  Erfiillung  cines  Traums.  Seit  30 Jahren  habe  ich  das  Spektakel  im  Fernsehen 
verfolgt.  Wenn  man  dann  einmal  selbst  auf  dem  roten  Teppich  nur  wenige 
Meter  neben  Will  Smith  oder  Keira  Knighdey  steht,  dann  kann  kein  Gefiihl 
der  EnttJiuschung  aufkommen,  da  freut  man  sich  die  ganze  Zeit  nur.  Nach  der 
Gala  haben  die  Leute  Schlange  gestanden,  um  uns  zu  giatulieren:  Jodie  Foster, 
Angelica  Huston,  Jennifer  Lopez... 

Ich  war  beeindruckt,  dass  selbst  die  Holh-woodstars  nervos  sind, 
sobald  sie  auf  die  Biihne  miissen.  Wenn  die  schon  so  stottern  und  Herzinfarkt 
gefahrdet  sind,  dann  will  man  da  gar  nicht  hoch... 

Und  auBerdem:  An  dem  grolkn  Applaus  im  Saal  merkt  man,  dass 
wir  nah  dran  waren,  die  Welt  hat  uns  gesehen. 

NGR:  Interessant  an  Deinem  Film  "Sophie  Scholl"  ist,  dass  das  Thema 
der  Studentengruppe  aus  Miinchen  ja  nicht  unbedingt  neu  ist  - 1982  gab 
es  den  bereits  erfolgreichen  Film  "Die  WeiBc  Rose"  von  Michael 
Verhoeven.  Dein  Film  ist  jedoch  nicht  auf  die  gesamte  Studentengruppe 
gerichtet,  sondern  beleuchtet  kammerspielartig  das  Schicksal  von  Sophie 
SchoU.  Dabei  stiitzt  Du  Dich  auf  die  originalen  Verhor-Aufzeichnungen. 
Wie  kommt  es,  dass  niemand  vor  Dir  auf  diese  Idee  gekommen  ist  und 
was  fasziniert  Dich  an  genau  diesem  Verhor? 

M.R.:  Michael  Voerhoeven's  Film  "Die  WeiBe  Rose"  beschrcibt  die  Entwicklung 
der  Studentengruppe.  Die  dramatischen  Ereignisse,  gefolgt  von  der  Verhaftung 
der  Mitglieder,  nehmen  den  Hauptteil  des  Films  ein.  Der  Film  endet  mit  der 
Inhaftierung  von  Sophie  Scholl. 

Genau  hier  kniipft  unser  Film  an:  wir  begleiten  Sophie  in  ihre 
emotionale,  turbulente  Todesreise  in  den  letzten  tiinf  Tagen.  W'ir  haben  das 
Verhor  rekonstruiert  und  haben  den  beriichtigten  "Blutsnchter"  Roland  Freisler 
zum  Leben  gebracht.  W'ir  beschreiben  Sophies  Gefangnisaufenthalt  in 
Stadelheim,  ihre  letzte  Zigarette,  ihren  Abschied  von  ihren  Eltern,  ihr  letztes 
Essen,  ihr  Gebet,  ihre  Hinrichtung. 

Aber  was  vielleicht  diesen  Film  von  alien  anderen  vorhergehenden 
Filmen  iiber  Sophie  Scholl  absetzt,  ist  die  Tatsache,  dass  wir  Dokumente  mit 
einbezogen  haben,  die  noch  bis  vor  zwanzigjahren  unzugangUch  waren,  die 
Originale  des  Gestapo-Verhors  waren  bis  in  die  1 980er  Jahre  nicht  vorhanden. 

184 


Diese  ehemalig  unpublizierten  Dokumente  waren  fiir  jahre  in  Ostdeutschen 
Archiven  versteckt  und  wurden  erst  1990  zuganglich  gemacht.  Besonders  das 
\"erhor  von  Sophie  Scholl  war  unglaublich  spannend.  Was  mich  personlich 
faszinierte  war  die  Tatsache,  dass  der  Beamte  der  Gestapo,  Robert  Mohr,  ein 
\'erh6rspezialist  mit  sechsundzwanzigjahriger  Erfahrung,  Sophie  nach  seiner 
ersten,  fiinfstUndigen  Befragung  tatsachlich  ihre  I'nschuld  geglaubt  hat.  Fiir 
fiinf  Stunden  hort  sie  ihm  zu,  ohne  mit  der  W'imper  zu  zucken,  ohne  im 
falschen  Moment  zu  zogern.  Eine  unglaubliche  Entdeckung. 

Robert  Mohr  war  eine  interessante  Figur.  Vor  unserem  lilm  hat  sich 
fast  niemand  die  Miihe  gemacht,  ilin  zu  recherchieren.  \X'ir  haben  seinen  Sohn, 
Willv  Mohr,  der  nun  83  jahre  alt  ist,  fiir  vier  Stunden  interview!  und  haben 
einen  tiefen  Einblick  in  Robert  Mohrs  Charakter  gewonnen. 

\X'ir  hatten  auch  die  Chance  mit  Else  Gebels  [sie  war  mit  Sophie  in 
einer  Zelle]  Neffen  zu  sprechen.  Eine  andere  wichtigc  Zeugin  war  Elisabeth 
Hartnagel,  Sophies  jiingere  Schwester,  die  spiiter  Sophies  Brautigam  Fritz 
Hartnagel  heiratete.  Sie  hat  fiir  uns  auch  ihre  privaten  Archive  geoffnet. 
j\ll  diese  Zeitzeugen  gaben  uns  zusatzlichen  Riicldialt  in  unserem  Bemiihen, 
unsere  Geschichte  so  authentisch  wie  moglich  zu  erziihlen. 

NGR:  Was  ist  Deiner  Meinung  nach  die  wichtigste  Einstellung  zu  einem 
Thema,  das  verfilmt  werden  soil? 

M.R.:  Der  entscheidende  Aspekt  von  Pilmen  ist  die  gemeinsame  Erfahrung. 
Ich  mochte  keinen  Film  fiir  5000  Insiders  machen;  ich  will  den  Zuschauer  mit 
mir  auf  eine  Reise  nehmen,  will  ihn  unterhalten. 

In  der  \'orbereitungsphase  gehe  ich  sicher,  dass  ich  die  richugen 
Leute  fiir  das  Projekt  gewinne,  die  gemeinsame  Version  entwickle,  so  dass  wir 
aUe  in  die  gleiche  Richtung  ziehen.  Aber  sicher  heifit  das  auch,  dass  ich  meinen 
Weg  in  meine  eigene  Richtung  lenken  muss. 

Ich  respektiere  Kreadvitat  beim  Team  und  bin  often  fiir  Idccn  und 
Anregungen:  \^or  allem  hore  ich  auf  das,  was  andere  fiihlen  oder  auf  das,  was 
die  Abteilungsleiter  sagen.  Ich  achte  auf  ihre  kreativen  Einsatze  und  priife,  wie 
sehr  sie  in  meine  eigenen  Ideen  und  Gefiihle  passen.  Aber  wenn  es  urn  die 
Realisierung  geht  und  darum,  zu  entscheiden,  kann  ich  hatt  in  DiszipUn  sein. 
Ich  bin  Kosmopolit  mit  einem  groBen  Interesse  am  Rest  der  Welt.  So  bin  ich 
zweifellos  neugierig  auf  die  Filmkultur  verschiedener  Lander,  auch  wenn  Dinge 
sich  sehr  haufig  gleichen,  wo  immer  Filme  gedreht  werden.  Europa  oder 
Amerika  -  wo  immer  man  ist:  Filmemachen  exisdert.  Und  manchmal  wiirde 
ich  gerne  herausfinden,  wie  es  als  Regisseur  ist,  mit  einem  Budget  von  100 
Millionen  zu  spielen  und  aUes  zu  haben,  was  man  braucht.  Ich  wiirde  es  nicht 
als  meinen  Plan  bezeichnen,  aber  es  ware  eine  tolle  Erfahrung.  In  Deutschland 
ist  es  schon  ein  Alptraum,  wenn  man  einen  halben  Tag  langer  filmt  als 

185 


urspriinglich  geplant. 

NGR:  Hast  Du  einen  typischen  Werdegang  absolviert,  wie  man  es  sich 
vorstellt,  mit  Filmakademie  oder  Filmstudium? 

M.R.:  Nachdem  ich  als  Fahrer,  Script-girl,  Aufnahmeleiter  und  Regieassistent 
zehn  Jahre  lang  das  Handwerk  geiibt  und  Erfahrungen  gesammelt  habe,  bin 
ich  nun  Regisseur  fiir  Kino-  und  Fernsehfilme. 

Ich  musste  umgehend  nach  der  Schule  nach  Berlin  ziehen,  um  die 
Bundeswehr  zu  umgehen.  Damals,  1988,  stand  noch  die  Mauer,  und  Berliner 
mussten  nicht  dienen,  da  das  Alliiertengesetz  gait. 

Nach  dreizehn  Schuljahren  wollte  ich  auch  nicht  weitere  vierjahre  an 
der  Filmhochschule  studieren,  sondern  mich  Ueber  in  der  Praxis  hocharbeiten. 
Als  Regisseur  arbeitet  man  am  Drehbuch  mit  und  am  Drehort  inszeniert  man 
Schauspieler  und  biindelt  die  Ideen  weiterer  Mitarbeiter  hinter  der  Kamera. 
Oder  iiberzeugt  die  Anderen  von  den  eigenen  Ideen  bzw.  kombiniert  sie.  Und 
nach  Drehschluss  endfertigt  man  den  Film  mit  einem  Schnittmeister,  einem 
Komponisten,  einem  Mischmeister  etc. 

Disziplm,  Handwerk,  Talent,  Lust,  Gluck  und  Leidenschaft  sind 
von  Noten,  wobei  man  nicht  vergessen  darf,  dass  Leidenschaft  leiden  schaft. 
Ich  hatte  mir  nicht  vorgenommen  Regisseur  zu  werden,  sondern  erstmal 
einen  Einstieg  auf  unterster  Stufe  zu  bekommen,  und  dann  jeden  Tag  meine 
Aufgaben  so  gut  als  nur  moglich  zu  erledigen.  Um  dann  zu  sehen,  ob  diese 
Berufsrichtung  iiberhaupt  die  richtige  ist  und  ich  bestehen  und  mich  weiter 
hoch  arbeiten  kann.  Francois  Truffaut  meinte,  er  ware  nur  Regisseur  geworden, 
weil  man  da  tolle  Frauen  kennenlemen  kann.  Und  das  ist  ja  auch  eine  Motivation. 

NGR:  Hast  Du  ein  bestimmtes  Ziel,  das  Du  als  Regisseur  erreichen 
mochtest? 

M.R.:  Ich  habe  mir  nie  eine  X'orgabe  als  Ziel  gesetzt,  aber  ich  habe  immer  alles 
ausprobiert,  um  zu  sehen,  ob  mir  etwas  SpaB  macht  -  von  einem  Film  zum 
nachsten  denken.  I^tztendlich  hat  jede  fieberhafte  Atmosphjire  am  Set  meinen 
Charakter  gebildet;  die  Leidenschaft,  aber  auch  die  Krise.  Ein  guter  Arbeitstag 
ist  reine  Emotion. 

Ich  denke  eher  von  einem  Tag  zum  nachsten.  Aber  wenn  ich  in  zehn 
Jahren  nach  einem  Lottogewinn,  mit  einer  toUen  Frau  und  aulgeweckten, 
frechen  Kindern  und  sportlicher  Ciesundheit  irgendwo  in  einem  1  lauschen 
mit  MeerbUck  und  Ciarten  meine  Zeit  verbringen  diirfte,  wiirde  ich  wohl  nicht 
nein  sagen. 

Das  Leben  ist  lang  und  ein  ewiges  auf  und  ab,  ein  ewiger  Wechsel 
zwischen  Licht  und  Schatten,  Freud  und  Schmerz,  Lachen  und  \Xeinen.  Aber 

186 


nach  Schatten  kommt  meist  l.icht  usw.  Mein  Vatcr  meinte  damals,  dass 
Probleme  niemals  auflioren  wiirden,  es  kamen  immcr  wieder  neue,  egal  in 
welchem  Alter,  und  am  Besten  man  gewohnt  sich  daran  und  nimmt  sie  als 
Herausforderungen. 

Und  auch  dass  es  ohne  Gliicksstern  nicht  gcht,  und  man  notfalls 
versuchen  miisse,  sich  das  Gliick  hartnackig  und  ausdauernd  zu  erarbeiten, 
bzw.  wenn  das  Gliick  dann  kommt,  noch  nicht  aufgegeben  zu  haben.  Kann 
man  ja  mal  driiber  nachdenken,  vor  allem  als  Atheist,  wie  ich  auch  einer  bin. 
Aber  mich  lasst  das  Gefiihl  nicht  los,  dass  man  nicht  nur  viel  Gliick  haben, 
sondern  auch  viel,  viel  harte  Arbeit  dafiir  investieren  miisste.  Fiir  Reichtum 
und  Luxus  sind  eigentlich  kiinsderische  Bemfe  nicht  wirklich  die  richtigen.  Ich 
schlieBe  abermals  mit  W'orten  meines  Yaters:  Und  ist  cier  Handel  noch  so 
klein,  bringt  er  mehr  als  Arbeit  ein. 


187 


REVIEWS 


Lars  Koch  (Hg.) 

Modernisierung  ah  Amerikanisierungf 

Entwicklungslinien  der  westdentschen  Kultur 

1945-1960  (unter  Mitarbeit  von  Petra  Tallafuss). 

Bielefeld:  Transcript,  2007. 

Rezension  von  Hans  Jorg  Schmidt 


„Modernisierung  als  Amerikanisierung?"  ist  die  leitende  FragesteLlung,  der 
der  von  Lars  Koch  unter  Mitarbeit  von  Petra  Tallafuss  herausgegebene  Band 
„Modernisierung  als  Amerikanisieaing?  F.nuvicklungsUnien  derwestdeutschen 
Kultur  1945-1960"  auf  verschiedenen  Feldern  nachforscht.  Literatur,  Publi2istik, 
Film,  Darstellende  Kunst,  Design,  Fernsehen,  Musik,  Theater,  (Medien-) 
Anthropologie,  Philosophic  und  Kulturtheorie  sind  die  Themenkreise,  die 
ein  nahezu  kanonisiertes  Spektrum  medienkulturwissenschaftlicher 
Anniiherungsweisen  zur  Leitfrage  in  einem  themenorientierten 
Forschungsiiberblick  vereint.  Gemcinsam  mit  Petra  Tallafuss  geht  Koch  in 
der  Finfiihrung  auf  die  urspriinglich  normative  Geladenheit  des 
Amerikanisierungsparadigmas  ein  und  konturiert  die  „Umkodierung"  des 
Begriffes  in  der  diskursiven  Dynamik  hin  zur  wissenschaftlichen 
Analysekategorie  vor  dem  Ilintergrund  zunehmender  gesellschaftlicher 
Differenzierungstendenzen.  Hiermit  sensibilisiert  der  Band  fiir  die 
Kontextualisierung  der  Begrifflichkeiten  angesichts  des  jeweiligen 
Forschungsgegenstandes. 

Aus  Sicht  geschichtswissenschaftlicher  Narratologie  setzt  sich  Axel 
Srl)/7(/fmk  der  zunachst  eher  produkttransferierten  „Amerikanisierung"  und 
deren  Interferenzen  mit  friihzeitig  kursierenden  Amerikabildern  auseinander. 
Schildt  fragt  mit  berechtigten  Zweifeln  danach,  ob  das  Ende  des  Zweiten 
Weltkrieges  als  die  „Stunde  der  ,Amerikanisierung"'  gesehen  werden  kann. 
Als  Phasierungshilfe  ist  das  Jahr  1 945  sicherlich  ein  wichtiges,  da  sich  hernach 
die  Intensitiit  der  amerikanischen  EinfJiisse  von  eher  im  bilateralen  Austausch 
flottierenden  weichen  Faktoren  auf  vermehrt  unidirektionale  Faktizitiiten 


189 


veranderte,  aber  schnell  nach  1 945  seitens  der  USA  auch  die  weichen  Faktoren 
als  unabdingbares  Agens  einer  wertbasierten  (Re-) Education  erkannt  wurden. 
Sabine  Kyora  karrn  anhand  einer  „lnventur"  der  literarischen  Texte  zwischen 
1945  und  1960  einsichtig  machen,  dass  zunehmende  Experimentierfreude 
zur  Neupositionierung  der  westdeutschen  Literatur  fiihrte,  die  mit  der 
Transzendierung  des  Realismus  eines  j\nders,  Boll  oder  Richter  durch  Autoren 
wie  Walser,  Grass,  Johnson  oder  Riihmkorf  einherging.  Und  Waltraud ,Wara' 
Wende  betont  in  ihrem  Beitrag  die  Bedeutung  und  mediale  Inszenierung  der 
Luftbriicke  wiihrend  der  Blockade  Berlins  als  initialen  Moment  des  Wandels, 
der  die  Amerikaner  in  KoUektivitat  „von  Siegern  und  Besatzern  zu  Beschiitzern 
und  Freunden  [werden  lasst],  wobei  die  Massenmedien  nicht  nur  als  mentaler 
Seismograph  modifizierter  Einstellungen  und  veranderter  Gefuhle  zu  sehen 
sind,  sondern  gleichzeitig  immer  auch  als  gewichtiger  Generator  fiir  die 
Festigung  oder  den  Wandel  von  Freund-  und  Feinprojektionen,  Urteilen  und 
VorurteiJen,  Angsten  und  Hoffnungen"  (69). 

Imvs  Koch  widmet  sich  dem  Film.  Gerade  anhand  des  so  genannten 
Triimmerfilms  wird  dessen  gesellschafdiche  Funktion  deutlich.  Auch  der 
Kriegsfilm  reiht  sich  in  diese  die  zeitt)'pischen  Problemlagen  verhandelnde 
Tendenz  „einer  verbindlichen  Verortung  des  Kriegsgeschehens  im  sozial- 
kommunikativen  und  kulturellen  Gedachtnis  der  westdeutschen 
NachkriegsgeseUschaft"  (98)  ein.  Der  Heimat-  und  Ferienfilm  setzt  sich  liiervon 
ab,  doch  bietet  er  in  seinem  Binnendiskurs  einen  Bezugspunkt  tiir  die  „Suche 
nach  Echtheit  und  Authentizitat  in  Zeiten  des  Umbruchs"  (99),  wohingegen 
der  Gegenwarts-  und  Zeitfilm  im  Stile  Heinz  Erhardts  ein  optimistisches 
Deutungsmuster  unter  der  Ebene  „staatspolitischer  Gesellschaftspflege"  parat 
halt  (103). 

Auch  Knut  Hickethier  stcllt  die  Auseinandersetzung  mit  dem 
Fernsehen  unter  die  leitende  Fragestellung,  in  welchem  Verhaltnis  das  in  den 
50er  Jahren  aufkommende  Medium  zu  „Amerikanisierung"  und 
Modernisierung  steht.  Dabei  hebt  er  sowohl  die  modernisierungsbefordernde 
Wirkung  als  auch  die  Rolle  des  Mediums  in  der  Vervvestlichung  der 
Bundesrepublik  hervor.  Weniger  eine  direkte  Intentionalitat,  sondern  vielmehr 
eine  generell  auf  moderne  Technik  und  modernes  Leben  bezogene  mentale 
Haltung  sei  ausschlaggebend  gewesen  fiir  die  Modernisierungsleistung  des 
Fernsehens,  die  vor  allem  in  der  Kreation  von  Unterhaltung  als 
gesellschaftlichem  Integrationsfaktorgeronnen  sei. 

y4«fl'm/j-X/w>/xf/-j  Beitrag  betrachtet  Adornos,  Gehlens  und  Plessners 
diskursive  Einlassungen  zur  Medien-Anthropologie  der  50er  Jahre,  indem  er 
die  AuBerungen  der  Autorentrias  in  ihrer  gemeinsamen  fundamentalistischen 
Asthetik  als  kulturlvritisches  Komplement  und  wissenschattliches  Element 
der  Verarbeitung  von  Moderne  und  Modernisierung  versteht.  Ir/nela  Schneider 
blickt  auf  die  beiden  sich  sukzessierenden  Begritfspaare  „Medialisierung/ 

190 


Amerikanisierung"  und  „Gl<jb;ilisieaing/  Lokalisierung".  Mittels  semantischer 
Begriffsarchaologie  kindiert  sie  ihre  Ausfiihrungen  fiir  drei  verdichtete  Phasen: 
fiir  die  Amerikanisierungsdebatte  im  Zusammenhang  mit  dem  US-Spielfdm 
in  den  20er  [ahren,  fiir  die  permutierende  W'iederholung  dieser  im 
Fernsehzeitalter  der  60er  ]ahre  und  tur  den  Ubergang  von  der 
Amerikanisierungsdebatte  auf  die  Begritflichkeit  der  Gkjbalisierung  seit  den 
80er jahren. 

Enka  Fischer-]  Jcbte  leistet  einen  Bcitrag  zur  Funktionsbestimmung 
des  Theaters  in  der  Nachkriegszeit.  L'nterhakung  —  Verstorung-  Orientierung 
sind  die  Marksteine  ihrer  Analyse.  Das  Ankniipfen  an  Spielgewohnheiten  vor 
der  Zasur  des  Nationalsozialismus  kennzeichnete  den  Zeitraum  bis  zur 
\X  ahrungsreform,  vvelche  dann  allerdings  fiir  eine  Abwendung  vom  Ideellen 
sorgte.  Als  Reaktion  hierauf  sind  etwa  kleinere  Formen  wie  Zimmertheater 
und  Studiobiihne  entstanden.  Und  die  Klassiker,  die  nach  Wiedereroffnung 
bzw.  Neubau  erster  groBerer  Hauser  auf  das  Programm  kamen,  wurden  der 
Umgebung  sowohl  in  ihrer  Architektonik  als  auch  in  ihrer  Intentionalisierung 
angenahert. 

Albrechf  Riethff/iiller  untersucht  die  deutsche  Leitkultur  Musik  vor 
dem  Hintergrund  des  Leitbildes  USA.  Als  Insignium  deutscher  Musikkultur 
nimmt  er  das  1951  reaktivierte  Bayreuth  als  Ausgangspunkt  der 
Oszillationsbeziehungen,  stellt  dann  aber  die  Auswirkungen  dereinflussreicher 
werdenden  Kulturindustrialisierungsbewegung  dar.  Als  Resultat  seiner 
Untersuchung  fasst  Riethmiiller  zusammen:  „Im  Unterschied  zu  der 
nimmermiiden  Hvpertrophierung  der  deutschen  Kunstmusik  als  Musik 
schlechthin  bestand  eine  reeducation  im  Bereich  von  Musik,  wenn  es  denn  eine 
gegeben  hat,  in  der  Anglifizierung  der  Populjirmusik"  (232). 

Sahiene  Autsch  untersucht  anhand  der  Documenta  2  den 
Zusammenhang  von  „Abstraktion  als  \X  eltsprache"  und  „Amerikanisierung". 
Vor  allem  in  den  „HaItungen  und  Habituaksierungen,  durch  die  sich  eine 
Ausstellungsatmosphare  formieren  konnte,  iiber  die  letztlich  die  Begegnung 
mit  Kunst  initiiert  und  erfahrbar  wurde",  sieht  Autsch  die  wesentlichen 
Einfliisse  einer  iiber  „mental  maps"  transponierten  „v\merikanisierung"  (249). 

Ftiedhelm  Scharf'  wendet  sich  dem  Design  und  der  modernistischen 
Formgebung  zu.  Stark  verbunden  ist  der  zunehmende  Formenreichtum  mit 
der  Wiedererlangung  industrieller  Ressourcen.  In  der  Rezeption  des  Bauhauses 
in  den  USA  und  in  der  internationalen  Ausrichtung  deutscher  Designschulen 
zeigt  sich  die  \'er\vobenheit  zwischen  Bundesrepublik  und  USA,  die 
wegbereitend  wurde  fiir  die  globale  „Transmedialitat  von  unterschiedlichsten 
Gebieten  der  Gestaltung"  (274). 

Kasper  Mciase  beschlieBt  den  Band  mit  seinem  Beitrag  zum  Thema 
„Massenkultur,  Demokratie  und  verordnete  \^er\vestlichung".  Er  kontrastiert 
zeitgenossische  Kulturdiagnosen  der  westdeutschen  Gesellschaft  mit  den 

191 


nachholenden  Extrapolationen.  Anhand  des  Diskurses  um  Massenkultur  und 
„mass  culture"  kann  er  zeigen,  dass  wesendiche  Begrifflichkeiten  aus  Sicht  der 
historischen  Semantik  nicht  iibereinsdmrnen,  obgleich  oft  von  einer  groBen 
sachkulturellen  Korreladon  ausgegangen  wird. 

Deutlich  wird  aus  der  Gesamtsicht  der  Beitrage,  dass  die  Analysekategorie 
„Amerikanisierung"  zu  enggefasst  ist,  um  alie  angesprochenen  Phanomene 
zu  klassifizieren,  sie  sich  jedoch  aufgrund  ihres  normativen  Grundgehalts  tiir 
cine  diskursretlexive  Beobachtungsweise  durchaus  eignet.  In  einer 
nachholenden  Dynamik  wurden  wesentliche  Kulturtelder  durch  den 
produktbasierten  Transfer  von  habituellen  Lebensstilen  modernisiert.  Zudem 
konnte  iiber  die  diskursive  Auseinandersetzung  mit  dem  kulturkritisch 
gepragten  Amerikanisierungsbegriff  ein  Beitrag  zur  Normalisierung 
Westdeutschlands  geleistet  werden. 


192 


Ehlich,  Konrad 
Sprache  und  sprachliches  Handeln 

Band  1 :  Vragmatik  und  Sprachtheorie. 

Band  2:  Vro^duren  des  sprachlichen  Handelns. 

Band  3:  Diskurs  —  Narration  —  Text  —  Schrift. 

Berlin/New  York:  De  Gruyter  Oktober  2007. 

Rezension  von  EIke  Montanari 


Seit  Beginn  der  70er  jahre  wairde  in  Deutschland  die  „Funktionale  Pragmatik" 
(FP)  entwickelt;  Konrad  F.hlich,  von  1992-2007  Vorstand  des  Insdtuts  fiir 
Deutsch  als  Fremdsprache/Transnationale  Germanistik  der  Ludwig- 
Maximilians-Universitat  Miinchen,  war  dabei  einer  der  maBgeblichen 
Wissenschafder.  Er  suchte,  neue  Grundkategorien  flir  die  Analyse  von  Sprache 
nutzbar  zu  machen,  oft  in  Kooperation  und  Diskussion  mit  Kolleginnen 
und  Kollegen  wie  jochen  Rehbein  und  Angelika  Redder.  Die  dafiir  von  ihm 
verfassten  Texte  entstanden  haufig  in  der  Form  des  Aufsatzes,  einige  davon 
an  „vergleichs\veise  endegenen  Publikationsorten"  veroffendicht,  wae  der  Autor 
in  der  Einleitung  formuliert.  Der  Walter  de  Gruyter- Verlag  hat  es  2007 
unternommen,  eine  breite  Auswahl  der  Schriften  herauszubringen  und  der 
wissenschaftlichen  ()tTendichkeit  gesammelt  vcrfugbar  zu  machen.  S(j  wairden 
von  dem  Mitbegriinder  der  FP  86  Texte  zusammengestellt,  die  zwischen  den 
Jahren  1972  und  2006  erstveroffentlicht  wurden.  Unter  Mitarbeit  von  Diana 
Kiihndel  und  \X  encke  Borde  wurden  sie  in  drei  Bande  gefasst. 

Band  1 :  „Pragmadk  und  Sprachtheorie"  versammelt  grundlegende 
Publikationen  zu  Fragen  der  Funkdonalcn  Pragmatik.  Die  „Ziele  und  Verfahren 
funktional-pragmatischer  Kommunikationsanalyse"  sind  dabei  Titel  und 
Gegenstand  des  allerersten  Aufsatzes  der  Sammlung.  Dieser  Ardkel  verweist 
schon  allein  durch  seine  exponierte  Posidon  auf  die  empirische  Orientierung 
dieser  Ausrichtung  von  Sprachwissenschaft.  Der  Sicht  auf  Sprache  als  Svstem 
wird  die  Auffassung  von  Sprache  als  Handlung  gegenubcrgestellt,  das  Profd 
funkdonal-pragmadscher  Herangehensweise  wird  in  diesem  W'erkteil  in 
kritischer  Auseinandersetzung  mit  den  Hauptlinien  der 
sprachwissenschaftlichen  Theoriebildung  entwickelt. 

Der  Folgeband  beschaftigt  sich  mit  „Prozeduren  sprachlichen 

193 


Handelns"  und  sammelt  Uberlegungen  und  Analysen  zu  deiktischen, 
operativen  und  expeditivcn  Prozeduren  wie  Deixis  und  Anaphern, 
Determination  und  den  Interjektionen  wie  dem  deutschen  „HM".  Wie  diese 
Analysen  auf  literarische  Sprache  angewendet  werden  konnen,  zeigen 
Untersuchungen  an  Schriften  \^on  Goethe  und  Eichendorff. 

„Diskurs  -  Narration  -  Text  -  Schrift"  ist  der  Titel  des  dritten  und 
abschlieBenden  Teiles.  Diskurse  in  unterschiedlichen  Handlungsfeldern  wie 
Schule,  Wirtschatt  und  Religion  bilden  einen  Schwerpunkt  der  in  diesem 
Teilband  enthaltenen  Analysen.  Arbeiten  zu  alltagssprachlichen  Erzahlungen 
sind  hier  versammelt,  ebenso  wie  Analysen  institutioneller  Kommunikation. 
Der  Begriff  „Text"  wird  systematisch  aus  den  Bediirfnissen  sprachiichen 
Handelns  heraus  entwickelt. 

Die  drei  Bande  steUen  erstmals  zentrale  Aufsiitze  eines  der  wichtigsten 
Vertreter  und  Begriinder  dieses  pragmatischen  Paradigmas  zusamtnen;  sie 
folgen  dem  international  anerkannten  Autor  zeitlich  durch  seine 
Publikationstatigkeit  in  mehr  als  dreiBig  Jahren  und  inhaltlich  von  den 
grundlegenden  Uberlegungen  bis  zu  den  Anwendungen  bei  der  Analyse 
sprachlicher  Handlungen.  In  der  Zusammenstellung  ist  es  gelungen,  eine 
aufeinander  aufbauende  Zusammenstellung  \^on  Einzeltexten  zu  schaffen, 
eine  sich  steigernde  Linie  von  grundsatzlichen  Fragen  zu  detaillierten  Analysen, 
von  theoretischer  Basis  zu  Untersuchungen  einzelner  Phanomene.  Damit  ist 
dieser  Band  fiir  Studium,  Forschung  und  Lehre  gut  geeignet,  sich  iibcr 
Funktionale  Pragmatik  einen  Uberblick  zu  verschaffen  und  sich  mit  dieser 
Pragmatik  auseinander  zu  setzen.  Indem  Ehlich  eine  „reflektierte  Empirie" 
(Einleitung,  S.4)  vorschlagt,  enthalt  seine  Herangehensweise  an 
sprachwissenschaftliche  Fragestellungen  gerade  mit  Blick  auf  jiingere 
Entwicklungen  in  einer  Linguistik,  die  sich  Daten  und  Empirie  wieder  verstarkt 
zuwendet,  wichtige  Anregungen  und  hiltt,  das  eigene  wissenschaftliche 
Vorgehen  methodisch  zu  reflektieren. 


194 


PfeuBer,  Ulrike. 

Aufbriich  aus  dem  heschddigten  Leben.  Die 

Verwendung  von  Phraseologismen  im 

literarischen  Text  am  Beispiel  von  Arno 

Schmidts  Nobodaddy's  Kinder. 

Bielefeld:  Aisthesis,  2007. 

Rezension  von  Nils  Bernstein 


Im  Grunde  kann  die  Phraseologie  auf  eine  fast  hundertjahrige 
Entstehungsgeschichte  zuriickblicken,  die  1 909  mit  dem  Erscheinen  des  'Traite 
de  stilistique  fran^aise'  von  Charies  Bally  begann.  Doch  erst  seit  den  70er 
Jahren  wurde  sie  zunehmend  in  die  deutsche  und  so  auch  westeuropaische 
Linguisdk  integriert,  wobei  sie  lange  Zeit  als  Stiefkind  der  Lexikologie  betrachtet 
wurde.  Die  Phraseologie  untersucht  feste  Mehrworr\'erbindungen,  die  eine 
semantische  Transformation  erfahren  haben,  also  Idiomatizitat  auhveisen. 

Von  einer  Randstellung  dieser  Forschungsrichtung  kann  heute  nur 
noch  bedingt  die  Rede  sein.  Germanistische  Einfuhrungen  in  die  Phraseologie, 
etwa  von  Wolfgang  Fleischer  (1997),  Christine  Palm  (1997)  und  Harald  Burger 
(2007)  wurden  bereits  mehrmals  aufgelegt.  Die  namhaften  Phraseologieforscher 
H.  Burger,  D  Dobrovol'skij,  P.  Kiihn,  N.  R.  Norrick  konnten  2007  ein 
umfangreiches  zweibandiges  Handbuch  der  Phraseologie  in  der  renommierten 
Reihe  der  Mandbiicher  zur  Sprach-  und  Kommunikationswissenschaft  (Bd. 
28.1.  und  2)  herausgeben.  Dennoch  werden  die  sprachwissenschaftlichen 
Erkenntnisse  in  der  Literaturwissenschaft  nur  langsam  umgesetzt. 

Ein  wichdger  Schritt  hin  zur  literaturwissenschaftlichen  Integration 
phraseologischer  Fragestellungen  ist  mit  der  2007  veroffentlichten  Dissertation 
von  Ulrike  PreuBer  gemacht  worden.  Die  Autorin  versteht  es  als  PUotprojekt 
— ,  dessen  Desideratcharakter  sie  mogUcherweise  etwas  zu  hiiufig  betont  -,  und 
es  ist  in  der  Tat  die  erste  umfassende  Untersuchung  dieser  Art  zum  Einsatz 
von  Phraseologismen  im  literarischen  Werk  eines  Autors.  In  diesem  auch  im 
wortlichen  Sinne  ausgezeichneten  Buch  -  PreuBer  wurde  der  Dissertationspreis 
der  Westfalisch-Lippischen  Universitatsgesellschaft  verHehen  -  wird  das 
literarische  VXerk  Arno  Schmidts  (1914-1979)  mit  dem  Fokus  auf  die 
Romantrilogie  Nobodaddy's  Kinder  mchi  aUein  als  Fundus  fiir  phraseologische 


195 


Mehrwornerbindungen  aufgefasst,  sondern  aufgefundene  Phraseologismen 
werden  stets  kontextsensitiv  erortert.  Somit  wird  einerseits  die  in  der 
sprachwissenschafdichen  Phraseologieforschung  vorherrschende  Tendenz,  das 
Werk  eines  Autors  als  Archiv  fur  Phraseologismen  auirzufassen,  sensibilisiert. 
Andererseits  kann  die  interpretationsentfaltende  W'irkung  der  Untersuchung 
von  Mehrwortverbindungen  literaturwissenschaftlich  produktiv  und 
nachvollziehbar  umgesetzt  werden,  da  terminologisch  exakte  Aussagen  zu 
den  genannten  Schriften  Schmidts  ermoglicht  werden.  Der  Zugewinn  dieser 
Arbeit  zu  den  drei  Kurzromanen  Brand's  hiaide  (1947),  Schmir^^e  Spiegel  \xnd 
Aus  dew  Leben  eines  Fauns  (beide  1951)  sind  daher  auf  Seiten  der 
Sprachwissenschaft  als  auch  der  Literaturwissenschaft  zu  verbuchen. 

Nach  Vorbemerkung  und  Einleitung  definiert  PreuBer  zuniichst 
gerafft  zentrale  Kategorien  fiar  Phraseologismen  wie  Polylexikalitat 
(Alehrgliedrigkeit),  graduelle  Festigkeit  und  Idiomatizitat  (semantische 
Transformation).  Dabei  paraphrasiert  sie  zentrale  Thesen,  ohne  sich  allzu  lange 
bei  Einzeldarstellungen  der  Forschungsgeschichte  aufzuhiilten.  Fiir  die  weitere 
Gliederung  von  Phraseologismusklassifikationen  wird  das  syntaktische  dem 
semantischen  Gliederungssystem  vorgezogen.  Somit  wird  zwischen 
nominalen,  verbalen,  adjektivischen  und  attnbutiven  Phraseologismen 
differenziert.  Dariiber  hinaus  fmden  auch  davon  abweichende  Muster 
defmitorische  Erwahnung.  Dazu  zahlt  PreuBer  etwa  gefliigelte  Worte, 
Zwillingsformeln  und  Sprichworter.  Bei  gefliigelten  Worten  greift  sie  nicht 
allein  auf  eine  der  Neuauflagen  von  Biichmanns  'Gefliigelten  Worten'  zuriick, 
sondern  beriicksichtigt  zudem  -  weim  auch  nicht  ganz  abgesicherte  —  Lemmata 
diverser  Internetseiten  (z.B.  alle-sprichwoerter.de  oder  zitate-welt.de).  Dadurch 
kann  die  immer  problematische  Kategorie  der  Landlaufigkeit  gefliigelter  Wbrte 
auch  mit  Berufung  auf  dem  breiten  Publikum  zugiingliche  und  gestaltbare 
Quellen  stichhaltig  belegt  werden. 

Im  anschlieBenden,  fur  eine  Untersuchung  zu  Phraseologismen  etwas 
zu  umfangreichen  dritten  Kapitel  werden  grundlegende  Charakteristika  im 
>X'erk  von  Schmidt  dargestellt.  Dennoch  sind  diese  fiir  die  weitere  Interpretation 
wichtig,  da  etwa  auf  den  Zusammenhang  zwischen  subjektiver  und  objektiver 
Realitat,  zwischen  Realismus  und  Geist-W'elt  bei  der  in  Kapitel  5  darzulegenden 
Funktion  von  Phraseologismen  zuriickgegriffen  werden  muss.  Die  Autorin 
geht  bei  der  Darstellung  der  Poetologie  auch  auf  die  bei  Schmidt  verwendete 
Sprache  naher  ein,  was  selbstredend  unmittelbar  in  Beziehung  zu  der 
Einflechtung  von  phraseologischem  Material  steht.  PreuBer  eroffnet  einen 
iiber  die  Trilogie  hinausgehenden  Blick  auf  die  stiUstische  und  narratologische 
Gestaltung  von  Schmidts  Gesamtwerk,  wodurch  das  Buch  nicht  allein  fiir 
Phraseologieforschende  Interessantes  zu  bieten  hat. 

Die  kontextsensitive  Untersuchung  zu  Phraseologismen  in  Schmidts 
Romantrilogie  wird  in  zwei  gesonderten  Kapitcln  unternommen:  In  einem 

196 


Kapitel  werden  die  Phraseologismen  angeRihrt  und  mit  Kontext  ziticit.  Darauf 
paraphrasiert  PreuBer  -  leider  bisweilen  sehr  ausgiebig  —  den  Kontext  und 
erlautert  mogliche  charakterisierende  Riickschlusse,  die  durch  den  Gebrauch 
der  Phraseokjgismen  nahe  gelegt  werden.  In  einem  daran  anschlieBenden 
Kapitel  werden  weitere  Funktionen  der  Phraseologismen  erklart.  Neben  der 
bereits  erwahnten  Charakterisierung  der  Personen  lasst  sich  auch  die  Stdlisierung 
miindlicher  Authentizitiit  erkennen.  Viele  Phraseologismen  werden  tendenziell 
im  miindlichen  Ausdruck  bemiiht.  Ihre  Verwendung  in  literarischen  Texten 
kann  befremdlich  anmuten,  zumal  sie  dort  und  so  auch  bei  Schmidt  oftmals 
modifiziert,  expandiert  oder  remotiviert  (also  wortlich  verstanden)  werden. 
Schmidt  stellt  durch  den  gehauften  Gebrauch  von  Phraseologismen  eine 
unmittelbarere  und  authentischere  Atmosphare  her,  die  den  Rezipienten 
direkter  anzusprechen  vermag,  so  die  Schlussfolgerung.  Zudem  werden  die 
Leser  durch  Literaturzitate  nicht  kanonisierter  Literatur  angehalten,  den  Kontext 
dieser  Zitate  selbst  zu  erortern.  Schmidt  suggeriere  dadurch  eine 
Neukanonisierung  randstandiger  Literatur  und  erhebe  den  quasi  didaktischen 
Anspruch,  die  alludierten  Autoren  zu  lesen. 

In  der  Tat  sind  durch  Kenntnisse  der  zitierten  Literatur  wichtige 
Folgerungen  mogHch.  Der  vergleichende  Blick  auf  relevante  Parallelstellen  in 
Schmidts  Gesamtwerk  ist  dabei  hilfreich.  W'enn  etwa  eine  wenig  bekannte 
phraseologisierungsfahige  Zwillingsformel  auf  ein  Gedicht  von  Longfellow 
zuriickgefiihrt  wird  ('in  eddies  and  dimples'),  findet  in  dem  vorUegenden 
Buch  sowohl  dessen  pol}^alente  Zitation  in  Am  de///  Lelmi  eiiies  Fh/auah  auch 
in  Schmidts  BerechmiHseii  II  Erwahnung.  Weitere  produktive  Umsetzungen 
interpretationsentfaltender  Kenntnis  von  Phraseologismen  belegt  PreuBer 
eindrucksvoll  an  dem  Zitat  'La  belle  femme  sans  merci'  in  Scbn>ar^  Spiegel (^. 
287ff).  Kennt  man  den  literaturgeschichtlichen  Kontext  dieses  auf  Alain  Chartier 
zuriickgehenden  Titels  fiir  eine  \'erserzahlung  von  1490,  so  kann  zunachst 
Lisa  aus  Schmidts  Roman  mit  dem  Prototvpen  der  'gnadenlosen  Schonen' 
intertextuell  in  Beziehung  gesetzt  werden.  AuBerdem  kann  durch  Kenntnis 
des  Zitats  der  weitere  llandlungsverlaufantizipiert  werden.  Denn  durch  die 
Prototypisierung  der  beiden  Charaktere  auf  den  'schmachtcnden  Liebhaber' 
und  die  'gnadenlose  Schone'  wird  im  Vorfeld  angekiindigt,  dass  Lisa  den 
namenlosen  Erzjihler  von  Schwan^e  Spiegel  zuriickweisen  wird.  Der 
literaturgeschichtliche  Weitblick  wird  erfreuHcherweise  durchgehend  beibehalten. 
Dabei  wird  dort,  wo  man  eher  einschliigigere  Nachsclilagewerke  erwartet  hatte, 
leider  gelegentlich  auf  weniger  verliissliche  Internetquellen  wie  etwa 
wilvipedia.org  hingewiesen.  Ein  Blick  auf  in  Schmidts  TriJogie  vorkommende 
phraseologisierungsfahige  Wendungen,  die  bestimmte  Kriterien  wie 
Zweigliedrigkeit,  Reim,  vMliteration  oder  andere  die  Memorierbarkeit  fordernde 
Bedingungen  aufweisen  miissen,  rundet  das  fiinfte  Kapitel  ab. 

BisweiJen  ware  wiinschenswert,  dass  PreuBer  die  neu  bearbeiteten 


197 


Auflagen  verschiedener  Biicher  venvendet  hiitte,  etwa  bei  Palms  oder  Burgers 
Einfiihrungen  in  die  Phraseologie.  Leider  lag  der  umfangreiche  HSK-Band 
zur  Phraseologie  noch  nicht  vor  und  konnte  nicht  in  die  Bibliographic 
aufgenommen  werden.  Ob  die  Autorin  aber  tatsachlich  zu  differenzierteren 
Aussagen  gekommen  ware,  wenn  sic  auf  diesen  oder  etwa  auf  die  aktuelle 
dritte  und  nicht  die  zweite  Auflage  von  BuBmanns  'Lexikon  der 
Sprachwissenschaft'  zuriickgegriffen  hatte,  ist  ein  miiBiges  Nachsinnen;  zumal 
man  auch  in  der  Neuaui:lage  von  BuBmanns  viel  bemiihtem  Lexikon  vergebens 
nach  einem  Eintrag  zu  Phraseologismen  oder  Phraseologie  sucht.  PreuBer  hat 
somit  diese  offenbar  noch  nicht  giinzlich  wahrgenommene  linguistische 
Teildisziplin,  die  Phraseologie,  mit  ihrer  aufschlussreichen  Untersuchung 
angemessen  ins  Zentrum  des  Interesses  riicken  konnen  und  cin  exemplarisches 
Pilotprojekt  zur  Integration  phraseologischer  Terminologie  in  die 
literaturwissenschaft  vorgelegt. 


198 


CONTRIBUTORS 


Nils  Bernstein  is  a  PhD-Student,  studying  with  Prof.  Dr.  Mati'as  Martinez  at 
the  Universit)'  of  Wuppertal.  1  lis  topic  is  Phraseo/ogiswen  im  Werk  von  Ernst Jaiidl 
imd NicanorPcvra.  In  2U06  and  2UU7  he  worked  as  a  Language  Assistant  of  the 
DAAD  at  the  Universidad  de  Chile  in  Santiago.  He  is  currendy  working  as  an 
assistant  lecturer  at  the  University  of  W  uppertal. 

Thomas  Baumler  studied  Gennan  Literature,  Political  Science  and  Histor\'  at 
the  Universit)^  of  Konstanz,  Germany.  He  has  studied  at  both  at  Harvard 
L'niversit}',  and  at  Brown  Universit}'.  As  a  PhD  candidate  in  German  Literature 
he  is  currendy  employed  in  the  Collaborative  Research  Centre  (SFB)  "Norm 
and  Symbol"  in  Konstanz. 

Manuel  Clemens  studied  Cultural  Studies  and  Philosophy  in  Frankfurt 
(Oder)  and  Paris.  He  graduated  in  2005  with  a  diploma  thesis  on  Adorno's 
notion  of  experience.  Before  joining  Yale  he  spent  a  year  as  a  Visiting  Research 
Student  in  the  German  Department  at  Stanford  University. 

Franz  Fromholzer  studied  Germanic  Studies,  History  und  Spanish  in 
Regensburg,  Augsburg  und  Valladolid.  He  was  a  research  assistant  at  the 
Institute  of  Nenere  de/itschf  ]  Jtcnifnnrissenschaf}  in  Augsburg,  from  2006  to 
2007. 

Bent  Gebert  studied  Germanic  Studies,  Philosophy  und  European  Literature 
in  Freiburg,  Konstanz  and  Oxford  (2005  Master  of  Studies).  He  finished  his 
Staatsexamen  in  2007  in  Freiburg.  He  is  a  reseach  assistant  since  2007  at  the 
Deutschen  Seminar  of  the  University  of  Freiburg. 

Viktoria  Heifer  studied  Neitere  dentsche  Uteratimrissenscbaft,  Theater  Studies, 
and  Transnational  Germanic  Studies  at  the  Ludwig-Maximilians-Universitiit 
in  Munich,  where  she  is  currendy  working  on  her  dissertation.  She  is  an  assistant 
at  the  Centre  International  de  Formation  Europeenne  in  Munich. 

Katharina  Maria  Herrmann  studied  German  Studies  and  Romance  Studies 
between  1 999-2006  in  Saarbrucken  and  Metz.  Since  2002  she  is  employed  as  an 
assistant  of  Dr.  Anke-Marie  Lohmeier  (Universitat  des  Saarlandes,  Neuere 
dentsche  J^Jteratnnrissenschtiff) . 


199 


Andrew  J.  Mills  is  a  Ph.D.  smdent  in  Germanic  Studies  at  Indiana  University- 
and  currently  serves  as  Lecturer  in  the  Dept.  of  Modern  Languages  and 
Literatures  at  Southwestern  Universirv  in  Georgetown,  TX.  His  research  interests 
include  19'*'-  and  20'^-centur)'  depictions  of  violence  in  German  literature,  and 
1 9'''-centur\-  German  and  German-Jewish  university  student  lite. 

Elke  Montanari  is  writing  her  dissertation  about  the  topic  Deiitscbenrerb  mid 
Mehrsprachigkeit  -  Genus  und  Determination  in  kindlichen  Yii^dblungen  at  the 
Ludwig-Maximilians-Universitiit  in  Munich.  Her  research  interests  are 
multilingualism  and  language  acquisition. 

Hans  Jorg  Schmidt  studied  at  the  Universities  of  Heidelberg,  Dresden, 
Groningen,  Miinchen  and  Speyer.  He  finished  his  dissertation  in  20U7  with 
the  topic:  „Die  deutsche  Freiheit".  Geschichte  eines  kollektiven  semantischen 
Sonderbewusstseins. 

Andre  Schiitze  is  a  graduate  student  pursuing  his  PhD  in  Germanic  Languages 
and  Literature  at  UCL^\.  His  previous  studies  were  conducted  in  Berlin  and 
Rome.  He  received  his  Magister  from  Humboldt-Universitat  Berlin,  where  his 
main  concentrations  included  German  Literature,  Political  Science  and  Sociology 
His  MA  thesis  is  [  ^topie  und  Paranoia.  Aspekte  der  Paranoia  in  der  utopischen  IJteratur. 

David  Wachter  has  studied  German  and  Comparative  Literature,  Philosophy 
and  Sociology  in  Bonn,  Cincinnati  and  Berlin.  His  M.A.  thesis  focused  on 
decadence  in  Nietzsche  and  Benjamin  (Cincinnati  2002)  and  his  Magister  thesis 
on  Musil's  anthropology  (Berlin  2005).  He  is  currently  writing  his  PhD  thesis 
at  the  FU  Berlin  on  Essayism  and  Contingency  in  Musil,  Kracauer  and  Benn. 

Sonja  Wandelt  graduated  from  the  University  of  Hamburg,  with  a  M.A. 
degree  in  American  Literature.  NXTiile  studying  at  Rutgers  Universit}-,  NJ,  she 
received  a  Certificate  in  Women's  Studies.  She  is  current!}  persuing  her  PhD  in 
Comparative  Literature  at  the  Universit)-  of  Illinois,  Urbana  -  Champaign. 


In  the  last  issue  of  NGR,  \'ol.  22,  we  have  misspelled  H.C.  Erik  Midelfort's 
name.  \X'e  would  like  to  apologize  for  this  mistake. 


200 


ABOUT  THE  ARTIST 

Matthias  Kebelmann,  born  in  Riidersdorf/Berlin,  has  been  studying  since 
2003  at  the  Kunsthochschule  BerlinAXeissensee.  In  addition  to  graphic  design, 
he  works  mainly  with  changes  and  interferences  in  existing  rooms  and  their 
Genius  Loci.  The  pictures  on  the  cover  and  back  of  this  issue  are  from  'Raum 
W  10'  which  was  done  in  2006  for  a  group  show  at  the  Kunsthochschule 
Berlin-Weissensee.  His  most  recent  installation,  'Raum  1 319',  was  displayed  at 
the  Fifth  Berliner  Kunstsalon  in  October  (jf  this  vear. 


Exhibitions: 

06/2005  -  ,Architektur  ohne  Grenzen'  -  REmigration,  Gruppenausstellung, 
St.  Petersburg,  Russland 

07/2005  -  jahresausstellung  -  Kunsthochschule  Weissensee,  Berlin 

02/2006  -  ,the  best  among  us'  -  100°  Festival,  Gruppenausstellung,  Hebbel 
am  Ufer,  Berlin 

07/2006  -Jahresausstellung  -  Kunsthochschule  Weissensee,  Berlin 

04/2008  -  ,Plauener  Spitze' ,  Kunsthochschule  Weissensee,  EinzelaussteUung, 
Berlin 

06-07/2004  -  ,leerstelle'  -  Sommerakademie  Kastanienalle,  Gruppenausstellung, 
Berlin 

09/2005  -  ,daheim'  -  Kastanienalle/Oderberger,  Gruppenausstellung,  Berlin 

10/2008  -  5.  Berliner  Kunstsalon,  Kunstmesse,  Berlin 


Contact; 

aots  1 24(a^hotmail.de 

201 


UNIVERSITY   OF   CALIFORNIA-LOS    ANGELES 


L  009  981   411   3 


New  German 
NGR    Review 


Jj       Featured  Articles  »^ /.^  "  ^ 

'^       -- Katharina  Maria  Herrmann,  on  Hugo  von  Hofmannsthal  I 

^       -  David  Wachter  on  Kracauer 
"'^       -  Andrew  Mills  on  Ernst  Junger  and  Ishiwara  Kanji 

-  Andre  Schuetze  on  Bourdieu  and  Benjamin 
--  Bent  Gebert  on  Tankred  Dorst 

--  Franz  Fromholzer  on  Katharina  Hacker 
^^       --  Sonja  Wondelt  on  Wolfgang  Borchert  and  Inge  Muller 
V^:       __  Thomas  Bdumler  on  Schleiermacher 

--  Viktoria  Heifer  on  Elfriede  Jelinek 

-  Manuel  Clemens  on  Schiller 

Interview 

-  Katharina  Leduc  interviews  Marc  Rothemund 

•i^       Reviews 

'^f       -  Hans  Jorg  Schmidt     on  Lars  Koch  (Hg.)  Modernisierung  ahi] 

Amerikanisierung?  Enfwicklungslinien  der  wesfdeufschen  Kulfur  1 945- 1 96Cy'- 

(2007)  i 

--  EIke  Montanari  on  Konrad  Ehlichs  Sprache  und  sprachliches  Handein'-' 

Band  1-3  (2007)  I 

:,^       -  Nils  Bernstein  on  Ulrike  PreuBers  Aufbruch  aus  dem  beschddigfenil 

^.;|       Leben.  Die  Verwendung  von  Phraseologismen  im  liferarischen  Text  arvi] 

M       6e;sp/e/ von  Arno  Schm/dfs  Nobodaddy's  Kinder  (2007)  j 


Cover  Art  by  Matthias  Kebelmann