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NvyK Review
A Journal of Germanic Studies
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Vol. 23 : 2008
CALL FOR PAPERS
Volume 24, 2009
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New German
Review
A Journal of Germanic Studies
Volunne 23
2008
New German
Review
Volume 23, 2008
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ISSN 0889-0145
Copyright (c) 2008 by the Regents of the University of California.
All rights resened.
Table of Contents
I
Articles
Hugo von Hofmannsthals spates Drama Der Turm - Ringen um
Eriosung von der „bosartigen Unwirklichkeif Modeme
Katharin A Maria Herrmann 7
„Beinahe zu Hause": Heterotopic und dezentrale Subjektivitat
bei Kracauer
DamdVVachter 27
Ernst Junger and Ishivvara Kanji:
A Comparative Examination of the Concept of Total
Mobilization for Germany and Japan
Andrew Mills 47
Die Kunst ohne Aura. Bourdicus Habitusthcorie und Benjamins
Aufsatz Das Kunshverk ini Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbavkeit
Andre SciRfETZE 65
Der Dichter als Miillsammler: Zu ciner poctologischcn
Figuration der Mittclaltcr-Rczcption in Tankred Dorsts Merlin
oder Das wiiste Land und Die Legende vom armen Heinrich
BentGebert 83
Unerbittlich zicllos? Messianische Zeit in Katharina Hackers
Die Habenichtse
Franz Fromholzer 99
Walking at the Abyss: Writing in Crisis and the Imagery of
Walking in Wolfgang Borchert's Draufien vorder Tiir and
Inge Miiller's Poetry
SoNJA Wandelt 1 17
Jenseits des Organischen. Schleiermachers religiose Geselligkeit
zwischen ,^aturlicher Verbindung" und Institutionalitat
THO^us BauiViler 127
Tradition und Dekonstruktion in Elfriede Jelineks Bwgtheater
und Prasident Ahendwind
ViKTORiA Helper 141
Das Verblassen des Unsichtbaren: Schillers asthetische Briefe
nach den Verwirrungen von TorleB und dem beschadigten
LebenAdomos
Manuel Clemens 157
Interview
Ein Interview mit Marc Rothemund
Katharina Ledlc 181
Reviews
Koch, Lars (Hg.) Modernisierung als Amerikanisienmg?
Entwicklungslinien der westdeiitschen Kiiltiir 1945-1960.
(2007).
R\NS JORG ScH\nDT 189
Ehlich, Konrad. Sprache und sprachliches Handeln:
Band 1-3.(2001).
ElKE MONTANARI 193
PreuBer, Ulrike. Aufbnich aus dem beschadigten Lehen. Die
Venvendung von Phraseologismen im literarischen Text am
Beispiel vonArno Schmidts Nobodaddy's Kinder. (2007).
Nils Bernstein 195
Contributors 199
About THE Artist 201
Hugo von Hofmannsthah
spates Drama Der Turm -
Kingefi urn Hrlosung von der „bbsaiiigen Umi'irk/ichkeit"
Moderne
Katharina Maria Herrmann
Zusammenfassung
Mit seinem ,Turm-Projekt', einer fiir Hofmannsthal „uber die Begriffe
sch\vere[n] Arbeit"', rang der Dichter von Sommer 1 920 bis Spatherbst 1927.
Ergebnis dieses zahen und langwierigen Denk- und Schreibprozesses sind
drei zum Teil stark divergierende Fassungen des Dramas, das der
literaturwissenscliaftlichen Forschung seit jeher betriichdiche Schwierigkeiten
bereitet, weil immanente W'iderspriiche und Inkonsequenzen in der
handlungslogischen und psychologischen Motivation wie in der
Figurenkonzeption die allem \'erstehen zu Grunde liegenden
Koharenzerwartungen unterlaufen. Der im Rahmen meines
Dissertationsprojektes Fliehendes Begreifen. Hugo von Hofmannsthah
Auseinanderseti^iaigmitderModemeentsx^ndcne Aufsatz eroffnet den Horizont
einer Deutungsperspektive, in der sich diese Widerspriiche, wenn nicht
auflosen, so doch verstiindlich machen lassen: Ms Resultat von Ambivalenzen
namlich, die aus Hofmannsthals Ringen mit Modernisierungserfahrungen
hervorgehen. Die T/z/'w-Dramen, so die Grundannahme, spiegeln wesentliche
Aspekte der Gegenwartsdiagnose des Autors und sind Zeugnis von dessen
ebenso umfassender wie unabgeschlossener Suche nach einer angemessenen
Daseins- und Gesellschaftsform in der aus seiner Sicht ,chaotisch-verkehrten'
modernen \Xelt.
1. Analyse und Flucht
Die Gegenwartsanalyse weitester Tcile der Intelligenz des ausgehenden 19.
und beginnenden 20. Jahrhunderts steht bekarmtlich im Zeichen einer Semantik
des Verlusts und der umfassenden Krise. ,MassengeseIlschaft',
,Uniformierung', ,Entseelung', ,\ erdinglichung', ,Technisierung',
,Materialisierung', ,Mammonismus' oder ,Profitgier' bezeichncn nur eine
geringe Auswahl kursierender Topoi der langlebigen Modernekritik. Die
einschneidenden Erfahrungen essentieller soziostruktureller Veranderungen
fuhren zur Generalreserve gegen die eigene Zeit. Man nimmt Frontstellung
ein gegen die als hoch dehzitiir anahsierte Modernewirklichkeit; Dissoziadons-
und Differenzerfahrungen nahren Modernisierungsangste - und generieren
Fluchnersuche unter dem Banner massi\'er Kulmrkritik, die sich beispielsweise
in einer allgemeinen „Tendenz zur Projektion von Zukunftsennviirfen, von
Utopien sozialer Harmonie und Stabilitat, von in die Zukunft verlagerten
Gegenbildern zu der Erfahrung der gegenwartigen Ordnung"- niederschlagt.
Die luzide Reflexion des zwanzigjahrigen Hotmannsthal in dessen
d'Annunzio-Aufsatz: „[h]eute scheinen z\vei Dinge modern zu sein: die j\nalyse
des Lebens und die Flucht aus dem Leben"\ ist durchaus in diesem Kontext
zu verorten/
Was Hotmannsthal selbstbeschreibend, d.h. aus seiner
zeitgenossischen Perspektive des Modernitiits- und Krisendiskurses der
asthetischen Modeme, als ,modern' wahrnimmt, erscheint dem heutigen Leser,
angenommen er versteht sich als Teil einer modernen, offenen, primiir
funktional differenzierten GeselJschaft, alles andere als ,modern'. Nun besteht
dariiber, dass Hofmannsthals \Xerk vor dem Hintergrund der ,Moderne' zu
interpretieren ist, kein Zweifel. Mit vielerlei terminologischen - und in der
Folge interpretatorischen — Unklarheiten verbunden ist allerdings im
Forschungsdiskurs immer noch diese ,Moderne' selbst. Um Hofmannsthals
Texte aus adaquater analydsch-kritischer Distanz betrachten und die Turm-
Dramen mittels eines metasprachlichen Begriffsinstrumentariums
kommentieren zu konnen, liegt vorliegender Untersuchung in Anlehnung an
Lohmeier^ ein aus philosophischen,geschichts- und sozialwissenschaftlichen
Forschungen gewonnenes Moderne-Verstandnis zu Grande, welches es
ermoglicht, asthetische bzw. literarische Moderne und gesellschafdiche Moderne
systematisch zueinander in Bezug zu setzen. Die T//r///-Dramen werden hier
also als Reaktion auf Hofmannsthals Analyse dergesellschaftlichen Moderne
gelesen und als (versuchte) i\nt\vort(en) auf Fragen verstanden, wie sie sich ob
der einschneidenden gesellschafdichen \'eranderungen fiir Hofmannsthal
stellen. Auch Hofmannsthal hat „die humanen, demokratischen und
emanzipativen Potenzen des Modernisierungsprozesses unterschatzt" und
„reagiert mit etnem Modernisietoingsschock, bildet zu dessen Bewaltigung die
Semantiken des ,Ganzen', des ,Eschatologischen' und des ,Individuellen' aus";
auch bei Hofmannsthal steht „gegen die Pluralitiit der Meinungen und Werte
die Suche nach einer integrativen Idee, die die ,letzten Fragen' klart,
gesellschaftliche Ordnung begriindet und das individuelle Handeln leitet.'"" -
Also auch Flofmannsthal ergreift die , Flucht aus dem Leben' der
gesellschaftlichen Moderne. Merdings scheint ihn seine Flucht - so suggerieren
es zumindest die Fassungen des Thwj - an keinen festen Standpunkt zu
8
fiihren; vielmehr positioniert sie ihn als Suchenden zwischen Moderne-Revision
und Akzeptanz der Irreversibilitat des Modernisierungsprozesses.
2. jBosartige Unwirklichkeit': Die gesellschaftspolitische Situation im
Turm
In seinen T/<';7;ADramen thematisiert Hofmannsthal die Frage nach einer
verbindlichen Grundlage seiner zeitgenossischen Gesellschaft, der es in seiner
Perspekdve massiv an gemeinsamer geistiger Orientierung mangelt. Die vom
Dichter auch in seinen Essays vielfach aufgeworfene Frage nach der Moglichkeit
einer ideellen Integradon der ausdifferenzierten und pluralisierten modernen
Gesellschaft durch Formen geistiger Fiihrerschaft weitet sich hier zu der Frage
nach der Legitimation politischer Herrschaft iiberhaupt aus.^ Die
Ausgangssituation, auf deren Basis im Turn/ die Problematik der Begriindung
von Herrschaft und Autoritat zwecks Einrichtung einer neuen Ordnung und
normativen Grundlage der Gesellschaft behandelt wird, ist die des totalen
Chaos und der tiefen Existenzkrise einer von Profitgier, rationaUstisch-
materiellem Denken und Gewalt beherrschten, dissoziierten und
desintegrierten Nachkriegsgesellschaft, die herkommlicher
Orienrierungsinstanzen und metaphysischer Sicherheit verlustiggegangen ist.
Im Turm versagt der Konig in seiner Funktion als Sicherheit, Ordnung und
Einheit stiftender Souverjin - die traditionaHstischen Herrschaftsstrukturen
haben ihre notw^endige integrative Kraft eingebiiBt: „Alle gehen gegen alle"",
skizziert Olivier die Gesamtsituation im ersten Auftritt des ersten Aufzugs.
2.1 Basilius: Souveranitatsloses Herrschertum
Fiir Basilius' Souveranitatsverlust lassen sich im T/o'w verschiedene (allerdings
wenig trennscharfe) Bedingungsfaktoren ausmachen. Dass,wie Basilius selbst
formuliert, die „Weh [. . .] auBer Rand und Band""' ist, begriindet sich nicht
aUein aus der Tatsache heraus, dass „die konigliche Macht als das siikularisierte
Gottesrecht [. . .] nicht mehr sicher"" ist. \^ielmehr fehlt es dem Konig offenbar
ganz grundsatzUch an der notwendigen ,geistigen Basis' fiir eine umfassende
Neuintegration der Gesellschaft. Das verdeutlichen insbesondere die Repliken
des Grossalmoseniers auf den um Hilfe bettelnden, sich impbzit selbst als
abhangig und verantwortungsunfahig charakterisierenden Basilius:
„\\"o war deine Menschheit? [. . .] Denn ein Mensch fangt dort an,
wo ein viehisch geliistender Leib iiberwaltigt ist und unter die Fiifie
gebracht von NX'esenheit. Das war nicht deine Sache. Dein WbUen
sitzt unter dem Nabel und dein Unvermogen in der Herzgrube;
unter deinen Haaren war die Bosheit und der stinkende Hochmut
ist dir durch die Nase gegangen: so warst du ein Leib und hast
gewuchert mit deinem Leib und an deinem Leib wirst du gepackt
werden."'^
In den Ausfiihmngen des Grossalmoseniers kommen die aus Hofmannsthals
fundamentaler Modernekritik eru'achsenden antinomischen Denkstrukturen
eines Leib-Seele bzw. Materie-Geist-Dualismus zum Tragen, die Basilius als
Reprasentanten einer modernen, selbstentfremdeten und veraul3erlichten
Personlichkeit erkennen lassen, in der das Ich keinen Zugang zum Essen tiellen
der menschlichen Existenz hat, ja keine geisdge Substanz besitzt, weil es sich
an den materiellen, kapitalistischen und rationalistischen Maximen der
modernen Welt - in Mofmannsthals \^okabular: an der Oberflache des
,Werdens' statt am ,Sein' - orientiert. Basilius kann als negatives Sinnbild der
Hofmannsthalschen Yorstellung einer ganzheitlichen und autonomen
Personlichkeit gedeutet werden, die der Dichter in seinen Anj^ekhnungen ^
Kede>i in Skandinavien folgendermaBen expliziert:
„[\\]o das Ich Personlichkeit wird, wird es selbst Gesetz und
unterliegt nicht mehr dem Schrecken des Seins und der mechanischen
Unfreiheit. [. . .] Der Wille ist der Personlichkeit tiefster Grund, ist
[. ..] der eigentliche Beginn der iaberderischen geistigen Tat. [...]
Darum hat der hohere Mensch das Kausalreich niedergerungen, sein
Leben ist beherrscht durch das Schicksalsgesetz seiner persordichen
Sendung, die er verwirklichen soil. [...] Wird das Gesetz ins
Individuum, das Individuum ins Gesetz hineingenommen, so ist
wahrhaft das Kausalreich iiberwunden und eine neue Bindung lost
den contrat social ab, denn es ist kein Kontrast zwischen Individuum
und Gesamtheit. Der gelauterte Freiheitsbegriff: in der Nadon:
Ordnung, - im Individuum: Gesetz, Karma."''
Insgesamt kann die Unfahigkeit des Konigs zum autonomen und souveranen
Handeln sowohl als das Resultat von Selbst\'edust und fehlender Ich-Idendtat
des ,modernen' Individuums gedeutet als auch als Folge von Basilius' fehlender
Einsicht in die Tatsache aufgefasst werden, dass die Berufung der Macht auf
metaphysische Instanzen eine ijberkommene Form der
Herrschaftslegidmation ist. Inwieweit im Einzelnen die ,gesellschaftspolidsche'
Situadon als Folge von Basilius' ,oberflachlicher' - und d.i. fijr Hofmannsthal
,moderner' - Daseins- und Ich-Auftassung zu werten, ob diese Welt- und
Wertorienderung als personliche Schuld oder als logische Konsequenz der
modernen Lebensbedingungen aufzufassen ist und mwiefern das herrschende
Chaos als Folge nicht welter definierter revolutionarer Bewegungen oder
vielmehr insgesamt als Resultat unbeeintlussbarer, (modernisierungs)-
geschichtlicher Prozesse zu deuten ist, bleibt offen. Basilius ist ein gemischter
Charakter, der „trotz seiner Untahigkcit [. . . j nicht ohne Sympathie gestaltet'"''
ist. Das Geschehen erfahrt eine mehrfache Modvierung, lasst sich also nicht
aus einem kausallogischen Bedingungsgefiige heraus erkliiren und ist
entsprechend schwach handlungslogisch und ps\'chologisch begriindet.
10
2.2 Der Grossalmosenier: Weltfliichtiger Kirchenfiirst
Das zeigt sich auch anhand der Figur des Grossalmoseniers; die Frage nach der
konkreten handlungslogischen Funktion der Figur bleibt hier genauso offen
wie die Frage nach ihrer Bewertung: Inwieweit und inwiefern der
Grossalmosenier die kritische Norm des Autors spiegelt, ist anhand des
Dramentextes nicht im Einzelnen festzumachen. Die Figur fungiert sowohl
als W'iderpart und Reflektorfigur des Konigs als auch als Reprasentant einer
moglichen Handlungsoption angesichts des aufgezeigten gesellschaftlichen
Chaos'. Der Geistliche vertritt im Tumj die Position des resignierten Nihilisten,
der sich miide von der Weh abgekehrt und als Monch in ein Kloster
zuriickgezogen hat. Seine Haltung wird dabei mehrfach, summa summarum
aber unter Anfiihrungganz ahnlicher Griinde motiviert. Zum einen wird das
\X eltgeschehen hier in der Tradition der antiken Tragodie immer wieder durch
den mahnenden Chor kommentiert, der drohend die Prophezeiung der
Zerstorung Babels nach Jeremia rezitiert. Zum anderen fordert der greise
Grossalmosenier - in der Funktion des Sehers ebenfalls in der Tradition des
antiken Theaters stehend - einen ,jungen Bruder' fortwahrend dazu auf, aus
dem ,Bi-ich des Guevara' zu lesen, welches Hofmannsthal laut Kommentar
der Kritischen Ausgabe nach Grimmelshausens Simplicissimus zitiert. Die
W'eltflucht des Monches erklart sich demnach einerseits aus dem Vanitas-
Gedanken des Barock heraus und wird andererseits im Riickgriff auf den
alttestamentarischen Mythos der \'ernichtung Babylons motiviert. Die Zitate
aus dem ,Buch des Guevara' machen deutlich, dass der Monch die Welt als
eitel, nichtig, vordergriindig und scheinhaft interpretiert und die Umkehrung
aller grundlegenden XX'erte menschlichen Zusammenlebens, eine
nietzscheanische ,Umwertung aller \X erte' konstatiert:
„Fahr hin Welt, denn auf dich ist kein Verlass, dir ist nicht zu trauen;
[...] und in hundert Jahren schenkst du uns kaum eine Stunde
wahrhaftigen Lebens."
„Fahr hin Welt - in deinem Palast dient man ohne Bezahlung, man
liebkost, um zu toten, man erhoht, um zu sturzen, man ehrt, um
zu schanden, man entiehnt, um nicht wiederzugeben, man straft
ohne Verzeihen. [. . .] [D]a wird um Macht geschachert und um Gunst
gebuhlt; da werden die Klugen gestiirzt, die Unwiirdigen werden
hervorgezogen." ' ^
Und die Verweise des Chors auf die Untergangsdrohungen des Propheten
suggerieren, dass das Weltgeschehen hier als Rache Gottes an der Gotdosigkeit
der Menschen, an ihrer Orientierung an Gotzen, an materiellen Werten wie
Reichtum und Wohlstand gedeutet wird. Diese Deutungsmuster sind sicherHch
nicht im Einzelnen mit der Weltsicht des Autors in eins zu setzen; sie
transportieren und untermauern aber in der Gesamtsicht doch Hofmannsthals
Kntik an der materiaUstischen und kapitalistischen Moderne, seine Auffassung,
11
in einer entseelten und entmoralisierten Wirldichkeit zu Icben.
Wie Basilius ist auch der Grossalmosenier als hochst ambivalente
Figur aufzufassen, die unter anderem als Spiegel der Kritik Hofmannsthals an
seiner zeitgenossischen Gesellschatt und am ,fehlgeleiteten' Individuum
fungiert, vor der auch Kirche und Geistlichkeit nicht gefeit sind. Denn weiterhin
repriisentiert die Welthaltung des Monches eine mogliche Herrschaftsform,
die dieselben egoistischen Machtinteressen bedient, welche der Grossalmosenier
dem Konig zum Vorwurf macht: Die Selbstinszenierung des
Grossalmoseniers als Untergangsprophet und Almosenverteiler, dem die
Monchsbrijder allergeben sind, sind dem Geistlichen, der seine eitle
Herrschsucht einst iiber Basilius befriedigen konnte, die letzte Moglichkeit,
iiberhaupt noch Macht auszuiiben. SchlieBlich kann der Riickzug des
Grossalmoseniers aus der Politik auch insgesamt als Sinnbild fiir den
Sakularisierungsprozess gelesen werden.
Das gesellschattliche Chaos erweist sich im Turm also weniger als
spezifisch politisches Problem. Vielmehr resultiert dieser Zustand nach
MaBgabe Hofmannsthalscher Beschreibungs- und Bewertungskategorien von
Moderne aus dem vom Dichter verbuchten generellen Verlust des ,wahren
Seins' in einer sozialstrukturell veranderten Modernewirklichkeit, die er als
„bosartige[ ...] Unwirklichkeit"''^' interpretiert. Die T/zr/W-Gesellschaft
transportiert die konservativ-kulturkritische Modernediagnose eines Autors,
dem seine zeitgenossische Gesellschaft wie vielen seiner intellektuellen
Wegbegleiter „generell als Medium der Auflosung der personalen Ganzheit,
der Unmittelbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und des substantiell
begriindeten Zusammenhangs der Gesellschaft"'" erscheint. ,Politischer"**
Diskurs und Identitiitsdiskurs durchdringen sich im Tz/rw wechselseitig: Der
souveranitatslose Basilius, der weltfliichtige Kirchenfiirst, der intrigante Julian
und in der Kinderkonig-Fassung auch der charismatische Sigismund scheitern
als Reprasentanten einer modernen, veriiuBerlichten Existenz, die keinen
Zugang zum Essentiellen des Daseins hat und ihre geistige Substanz verliert,
sobald sie sich in egoistisch-eitler Herrschsucht an den materiellen und
rationalistischen Maximen der modernen Lebenswelt orientiert. Die Fragen
nach der Legitimation von Macht und danach, ob eine Restitution bzw.
Veranderung der Monarchic, ob der resignierte Riickzug aus der Welt oder
revolutionare Bewegungen, ob autoritare Strukturen iiberhaupt oder ob gar
eine demokratische Ordnung Gesellschaftskonzepte zur Losung der
diagnostizierten Probleme darstellen konnen, versinken in Hofmannsthals
Gesamtnegation einer pluralisierten, dissoziierten und als giinzlich entseelt
dargestellten Wirklichkeit, unter deren Konditionen der Dichter nach MaBgabe
seiner kritischen Norm eines vormodernen Einheitsmvthos nur noch den
Verlust eines als ehemals existent angenommenen ,\\'esentlichen' und
,Wirklichen' konstatiert.
12
2.3 Olivier: Das Drohende der Materie
Hofmannsthals Angst vor einem aus den Bedingungen der gesellschaftlichen
Moderne resultierenden Zustand absoluter Anarchic, Willkiir- und
Gewaltherrschaft driickt sich paradigmatisch in der Olivier-Figur aus: Der
ehemalige Gefreite personifiziert den Endpunkt des vom Dichter in seinen
Essays befiirchteten Prozesses der „Deshumanisation", verkorpert das
„Drohende der Materie", das das Dasein „iiberflutet"'''. In der dritten Fassung
des Dramas erhebt sich Olivier quasi selber zur Allegoric fur die sich in
Hofmannsthals Augen gefahrlich verselbststiindigenden Prinzipien der
Modernewirklichkcit:
„Siehst du dieses ciserne Ding da in meiner 1 land? So wie dies in
mcincr Hand ist und schlagt, so bin ich selbst in der Hand der
Fatalitat. |...| Was du bis jetzt gekannt hast, waren jesuitische
Praktiken und Hokuspokus. Was aber jetzt dasteht, das ist die
Wirklichkeit."^"
Indem Hofmannsthal Welt gcdanklich auf den Dualismus von Materie und
Geist, Leib und Seele reduziert, setzt er die in seiner Sicht geistlose ReaUtat (vor
aUcm in der dritten Fassung des Turm) mit der Materie und das in der Olivier-
Figur absolut gesetzte Prinzip der Materie mit der Entwicklung hin zu
Faschismus und totalitarer PoUtik gleich. Aus heutiger Sicht beinhaltet der
Text folgendes Paradoxon: Totalitare politische Strukturen, die dem Menschen
Selbstbestimmungsfahigkeit und Freiheitsrecht absprechen, werden hier gemaB
I lofmannsthals Gegenwartsdiagnose als Konsequenz einer an den Prinzipien
der Moderne orientierten Daseinsauffassung gedeutet, wahrend es aus
modernisierungsgeschichtlichcr Perspektive aber gerade die \'er\veigerung der
der modernen Gesellschaft inharenten Leitideen, ja die auch in Hofmannsthals
Werk eklatant ausgedriickte Totalitiitssehnsucht infolge des erkannten
Modernisierungsprozesses ist, welche totalitaren politischen Konzepten
Vorschub leisten konnte. Ob von Hofmannsthal intendiert oder nicht - die
kritische Norm bzw. der Grad der kritischen Distanz des Autors bleibt hier
wie im gesamten Drama unklar - fijhrt die Olivier-Figur vor Augen, dass die
von Hofmannsthal und dessen Zeitgenossen als Chaos empfundenen
gesellschaftlichen Umbriiche „,gute Zeiten fiir Propheten, Gurus" und „Erl6ser"
darstellen konnten, „die durch einfache Wahrheiten Ordnung in das Chaos
bringen zu konnen beanspruch[t]en."-'
3. Sigismund: Kein Ausweg aus dem Chaos
Sigismund und der Kindcrkonig sind einerseits evidenter Ausdruck der —
epochentypischen - „\'ision eines umfassenden spirituellen ,Ganzen', eines
,Bleibenden' in und hinter allem geschichtlichen Wandel"", die fijr
Hofmannsthal vergesellschaftende Funktion hat. Andererscits aber stellt der
Text die Moglichkeitgesellschaftlicher Retotalisierung (und damit die kritische
13
Norm des Dichters) - in der dritten noch starker als in der zweiten Fassung -
in Frage.
Stark verkUrzt formuliert transportiert Hofmannsthal liber die
Sigismund-Figur folgende (Ein-)Sicht: Die Erfahrung von Ganzheitlichkeit
und Einheit der Welt und die Annahme metaphysischen Sinns bleiben in den
,Turm der Innerlichkeit' verwiesen. Der Konigssohn formuliert dies selbst,
wenn er feststellt, er sei „Herr und Konig auf immer in diesem festen Turm",
sei „unzuganglich" und wisse seinen „Platz"'\ der aber nicht dort sei, wohin
Julian ihn haben wolle - namlich in der praktischen Politik. Und wenn ja
„ausser der Rede zwischen Geist und Geist" alles eiteP ist, sind Geist und
materielle VC'irklichkeit grundsatzlich nicht vereinbar. Das ,Geistige' ist von der
in Hofmannsthals Sicht hoch defizitaren, materiellen und rationalen
Wirklichkeit ausgeschlossen; eine irgend geartete TotalitJit ist als — im
gesellschaftspolitischen Sinn - Einheit und Ordnung stiftende Instanz der
Modernewirklichkeit nicht zu integrieren. Sigismunds Versuch, den
zentrifugalen Kraften als allgemeine Orientierung, geistige Einheit und
metaphysischen Sinn stiftende Kraft die Stirn zu bieten, scheitert - das wird in
der dritten Fassung besonders deutlich - an Olivier, jener sich
verselbststiindigenden, gegenlautigen Kraft, die die Modcrnisierungsangste
des Autors in aller Scharfe widerspiegelt. Innerhalb der Modernewirklichkeit
ist ein Sigismund lediglich als gedanklich-nonnatives Konstrukt prasent, findet
nur noch Platz in der Allegorie, im Mythos, in der U topic. „Gebet Zeugnis,
ich war da, wenngleich mich niemand gekannt hat"""*, ist in der dritten Fassung
das letzte Erbe eines Sigismund, der keinen Platz in der modernen Gesellschaft
finden konnte.
Im letzten Aufzug der Kinderkonig-Fassung steht Sigismund nicht
mehr als Allegorie des Geist- und Totalitiitsprinzips iiber der Wirklichkeit,
sondern fiihlt sich als weldiche Herrschertlgur iiber die Wirklichkeit erhaben
und hat sich - gleich seincm ehemaligen Lehrer Julian - in die Gefilde der
politischen Realitat begeben, um als geistige Autoritat seine Ideen eines
umfassenden gesellschaftlichen Wandels durchzusetzen. Hofmannsthal
rekurriert mit der von Sigismund repriisentierten Herrschaftsform auf das in
den politischen Debatten des 20. Jahrhundcrts vielfach favorisierte Modell der
charismatischen 1 lerrschaft; Sigismunds Rollc als neuer Souveran basiert auf
einer ubernatiirlichen Fuhrerqualitat, die ihn bei seinen Anhangern als
gottgesandt, gottbegnadet erscheinen lasst: „Du hast uns gezeigt: Gewalt,
unwiderstehlichc, und iiber der Gewalt ein Hoheres, davon wir den Namen
nicht wissen, und so bist du unser Herr geworden, der Eine, der Einzige, ein
Heiligtum, unzuganglich."^'' Sigismunds Vorhaben, „zu ordnen und aus der
alten Ordnung herauszutreten"- , stellt ein zu Hofmannsthals Zeit
prominentes Konzept der Reprasentanten der ,konservativen Revolution'
dar, welche in dem Bewusstsein, dass die alte Ord-nung als solche nicht wieder
14
herstellbar ist, fiir Individuum und Gesellschaft doch aber eine Ordnung mit
vergleichbar festen Strukturen reklamieren; Strukturen, die den
gesellschaftspolitischen Ennvicklungen scharf zuwider laufen. Vor diesem
Hintergrund ware Hofmannsthal folglich ohne Weiteres im Kreis der
konservativen Rcvolutionare zu verorten - wenn der Dichter seine Sigismund-
Figur nicht scheitern lieBe. Hofmannsthals Gegenwartsdiagnose ist zu
hellsichtig, als dass man ihn schlicht unter epochenupischen Deutungsmustern
wie ct\va ,konservative Revolution' subsumieren konnte. Der Dichter niimlich
weiB ja um die „Unm6glichkeit" der „Existenz" seines Helden „unter den
aktiven Menschen"-^: Der Versuch gesellschaftlicher Rezentrierung durch die
charismatische Kraft des genialcn Kriegshelden Sigismund scheitert.
Sigismund agiert im funften Aufzug der zweiten Fassung als
strategischer Staatsmann und politischer Befehlshaber^'', der - zwar selbst
„unge\vaffnet"'*" - Gewalt doch als legitimes Mittel der gesellschafdichen
Neuordnung auffasst" und iiber ein Feldlager herrscht, in welchem das
Oliviersche Prinzip allgegenwartig ist. Sigismund aber macht seine Rechnung
ohne dieses ihm gegenliiufige Prinzip und lasst der von Olivier gesandten
Zigeunerin, indem er „mit dem Fuss die aufgehauften Dinge" „streift", die
Stricke mit der Begriindung abnehmen: „Durch zweierlei iibt das Oliviersche
in der Welt seine satanische Gewalt aus, durch die Ixiber und durch die Sachen."^^
Und eben jene Einstellung bringt den Melden zu Fall, denn um in der
Gesellschaft W'irkung zu zeigcn und in sein Recht gesetzt zu werden, bediirfte
ja auch Sigismunds ,Geist' der W'irklichkeit, und das heiBt bei Hofmannsthal
der ,Materie', des ,Stofflichen'. Uber die Zigeunerin, die schlieBlich seinen Tod
herbeifiihrt, fiihlt er sich aber erhaben, „lacht" iiber deren in seinen Augen
nicht ernst zu nehmende Prophezeiungen, wiihnt seinen Gegenspieler Olivier
iiberwaltigt und verkiindet iiberhelilich: „Ich bin gefeit gegen euch. Erde auf
euch!" „Freunde, ich bin Herr im eigenen I laus." „Es sieht aus, als ob wir zu
hoheren Dingen bestimmt wiiren.""
Sigismund verkorpert zum einen in der Nachfolge des eigenen Vaters
und in der Nachfolge Julians nun selber das dissoziierte moderne Individuum,
in welchem „Herz und Him" nicht mehr „eins"^"' sind und welches - die
„Rede zwischen Geist und Geist"^' ist durchbrochen - als eitel, egoistisch und
iiberheblich charakterisiert wird. Zum anderen ist Sigismunds Scheitern als
Scheitern des TotaUtats-Prinzips insgesamt Zeichen ftir den Grundzustand
der Welt als den der Dissoziadon von Geist und Materie, Seele und Leib,
Individuum und Gesellschaft. Was Hofmannsthal hier aufzeigt, ist die
grundlegende Unvereinbarkeit der - im Turn/ von Olivier und Sigismund
jeweils absolut gesetzten - Prinzipien, die aber erst in ihrem urspriingUchen,
harmonischen Einklang, in der angenommenen ,All-l:i,inheit' die Totalitat
und das Absolute der Welt, das ,Wahrhaftige' und ,Wesentliche' menschlichen
Daseins erkennen lassen. Die Dissoziation ist in Hofmannsthals Weltsicht der
15
modernen Wirklichkeit genauso inharent und unaufliebbar wie das den
Konditionen dieser Wirklichkeit gegenlaufige Bediirfnis des Menschen nach
gesellschattlicher Syn these. Vor dem Hintergrund dieser Denkvoraussetzungen
aber ist Idar: Die Fragen, welche „Ihthung" innerhalb der modernen,
pluralisierten gesellschaftspolitischen Realitiit „noch moglich sei'"'', ja wie auf
diesen Grundzustand der Dissoziation adiiquat zu reagieren sei und wie eine
den gesellschaftspolitischen Ennvicklungen angemessene Herrschaftsform
wieder ein „sittiiche[s] Fundament"' gewahrleisten konne, bleiben im Turw
unbeantwortet, miissen aufgrund des Festhaltens Hofmannsthals an der
kridschen Norm eines pramodernen Einheitsmythos und aufgrund seiner
Pramisse, dass das ,Volk' nicht selbstbesdmmungs- und freiheitsfiihig sei,
offen bleiben. jAIs von Grund auf dissoziierte stellt die ,gesellschaftspolidsche'
Wirklichkeit im T/z/wnach MaBgabe der Hofmannsthalschen Denkstrukturen
keinerlei Moglichkeiten einer tatsachlichen Neuordnung, weder der
individuellen noch der gesellschaftlichen Daseinsfiihrung, bereit. Dem
modernen Individuum kann konsequenterweise nur die Erschaffung einer
gedanklichen Gegen- und also Idealwelt helfen, welche die kritische Norm des
,wahrhaftigen' Daseins und des ,reinen' Menschen hoch halt.
Sigismunds Position verandert sich mit dem Auftreten des
Kinderkonigs und mit seinem Wissen um den nahen Tod abermals. Nun
erscheint wieder sein „G6ttliche[s]". Indem Sigismund sich von den
Kondidonen der Wirklichkeit lost, steht er erneut als Allegoric fiir das Absolute
iiber dem Geschehen, „lachelt""* dem Kinderkonig, dem er zunachst hochst
kritisch gegeniiberstand, nun briiderlich zu und erkennt, dass fur ihn selbst
„kein Platz in der Zeit ist.'"'' Entsprechend andert sich auch Sigismunds
Wirkung auf das Volk, das erst jetzt wieder geschlossen auftritt*^, wahrend es
unter der charismatisch-geisdgen Fiihrerschaft eines verauBerlichten, dem
,Wesentlichen' seines Ich entfremdeten Sigismund nicht zur Einheit tlnden
konnte.'*' Als von Hofmannsthal so bezeichneter „wiedergeborener
Sigismund'"*^ iibernimmt der Kinderkonig am Schluss der zweiten Fassung
die Allegorie-Funkdon fiir das aus der modernen Wirklichkeit verbannte
Absolute, dessen „Wohnsitz" unbedingt zu „heiligen" ist, das nicht ,,in der
Zeit" zu messen ist, aber „wie ein Sternbild""*^ iiber den historischen und
gesellschaftlichen Enrwicklungen steht, und an dessen Existenz der Mensch
notwendig glauben muss, um seine Modernisierungserfahrungen verwinden
und sich wieder als Teil einer umfassenden Ganzheit erfahren zu konnen. Der
Kinderkonig kann als die personifizierte Forderungdes Dichters nach einem
„Wiedererwachen des religiosen Geistes", nach dem „geistigen Sinn"^ der
Gesellschaft gelesen werden. Nur der Glaube an iiberindividuelle Bindungen,
an eine Essenz menschlichen Daseins kann, so die Aussage der Kinderkonig-
Fassung, der Modernewirklichkeit entgegen gehalten werden. „\'orwarts und
folget mit mir diesem Toten""*' - dieser die zweite Fassung des Dramas
16
beschlieBende, nachgerade ironische Ausspruch des Kinderkonigs macht die
ganze Paradoxic evident: Der Tumi impliziert einerseits die Erkenntnis der
Hin-falligkeit metaphvsischer Orientierungsinstanzen, zeigt auf, dass modeme
GeseUschaft und Totalitat sich ausschlieBen, beschwort aber andererseits
gleichzeitig — alJerdings unter Aufgabe des Anspruchs auf TeiJhabe an der
gesellschaftspolitischen Diskus-sion um eine der Modemewirklichkeit adaquate
Herrschafts- und Gesellschaftsform - die Notwendigkeit des Willens zum
Glauben an Metaplivsik und Totalitat in einer sakularisierten, materiellen und
geistlosen W'irklichkeit. Es stehen sich - und als solche erkannt bzw. kenntlich
gemacht - Ideal und W'irklichkeit kontrastiv gegeniiber, so dass das Drama
den Rezipienten mit einer Reihe aufgeworfener aber unbeannvorteter Fragen
zuriick liisst.
4. Der Turm: Hofmannsthals Ringen um (Er-)L6sung
Es liegt nahe zu vermuten, dass Hofmannsthal sich mit der Problematik
konfrondert sah, dass ihm seine Bewusstseinslage bei seinen Fragen beziiglich
einer den gegenwiirtigen EntwickJungen adiiquaten Haltung selbst im XX'ege
stand. „[A]lles dient nur, um cin iiberwaltigend Gegenwartiges zu bewaltigen
und ihm Gestalt zu geben."* So hatte Hofmannsthal 1923 sein ,Turm-Projekt'
in einem Brief an Alfred Freiherrn von W'interstein beschrieben. Gegeniiber
Leopold Freiherrn von Andrian bekennt er aber: „[M]ir [ist] als hatte ich gar
nicht die Krafte des Gemiites und des Geistes in mir, um dies wirkJich zu
bewiiltigen. Zuweilen scheint es mir, als lage in manchen Aufgaben die ich mir
gestellt habe, Cberhebung, die gestraft werden muB.""*" Hofmannsthals
\X brtwahl erinnert hier stark an dessen j\lter ego Lord Chandos, welcher seine
an der idealen X'orstellung einer arkadischen All-Einheit orientierten
schriftsteilerischen Plane als „aufgesch\vollene AnmaBung"'** bezeichnet, weil
er die Ideen individueller Weltmachtigkeit und allgemein giiltiger, iiberzeidicher
W'ahrheiten, sein Bediirfnis nach Orientierungsinstanzen auBerhalb des eigenen
Ich und seine Sehnsucht nach der Autlosung des Individuationsprinzips als
der Zeit nicht liinger angemessene erkennt und — ganz im Gegensatz zum
spaten Dramatiker Hofmannsthal — als gegebene Strukturen akzeptiert. Dieses
im Chandos-Brief formulierte Problembewusstsein konnte ein Grund dafiir
sein, warum Hofmannsthal im Besonderen mit dem fiintten Akt der zweiten
Fassung so gerungen und den ,Kinderkonig-Schluss' in der dritten Fassung
getilgt, es also letztHch bei seiner (ausweglosen) Gegenwartsdiagnose (und -
flucht) belassen hat, ohne ,Erlosung' von der Moderne-Krise zu erfahren.
Ottonie Griifin Degenfeld teilt er hinsichtlich des letzten Aktes der ,Kinderk6nig-
Fassung' mit: „Fls sinti keine unubenvindlichcn Schwierigkeiten, wenn gleich
groBe: sie sind mehr allgemein geistiger als eigentlich kiinstlerischer Art."'*'
Dass Hofmannsthal seine eigenen Positionierungen und ,Losungsansatze'
zeitweise fraglich erschienen, verdeutlichen zahlreiche relativierende,
17
selbstreflexive Aussagen. So spricht er beispielsweise von dem „Wagnis, ins
Mythische 2u gehen"; weiB, dass „[d]as Mythische" ja „uber der Zeit" steht,
und fragt sich: „Haben wir denn nichts Unvergangliches?"^"
Summa summarum konnen die 7///w-Dramen als Zeugnis von
Hofmannsthals gedanklichem Ringen mit Phanomenen der gesellschafdichen
Moderne und als gescheiterter Versuch der ,Moderne-Be\valtigung' gelesen
werden. Die hochst problematische Entstehungsgeschichte und die
gestalterischen Prinzipien des Tiirm dokumentieren das Drama des spaten
Hofmannsthal, der laufend zwischen Moderne-Revision und akzeptierender
Bewaltigung oszilliert. So rekurriert der Dichter zwar auf diverse antimoderne
Gesellschaftskonzepte seiner intellektuellen Zeitgenossen; konsequent
anschlieBen kann er sich diesen ,einfachen' Losungsmodellen ob seines hohen
Problembewusstseins aber nicht. So steht Der Titrm unter dem Zeichen der
Motivation, der pluralisierten Moderne in einem ,totalen' Drama
beizukommen, obwohl Hofmannsthal eigentlich weiB, dass niemand
„geistesmachtig, niemand scharfsinnig genug [ist], sich iiber das zu erheben,
was alle und alles umstrickt"''; und so greift [iofmannsthal im Titrw auf
verschiedenste Traditionen zuriick, obwohl er sich im Grunde doch bewusst
ist, dass sich „das letzte des Traditionsgeistes [. . .] verfliichtigt hat."^^
Ob sich Hofmannsthal seiner individuellen Weltmachtigkeit mit
seinem ,T//w/-Projekt' noch einmal versichern konnte? — Davon, dass es ihm
schwer gefallen sein muss, seinem Universalitiitsanspruch inteUektueller
Weltdeutunggerecht zu werden, zeugt nicht zuletzt sein unablassiges Ringen
mit dieser - verstandlicherweise - „uber die Begriffe schwere[n] Arbeit"".
Sicher ist, dass Hofmannsthals spates Drama, dem denn auch der Erfolg auf
der Biihne versagt blieb, das Scheitern dieses in Anbetracht der Moderne
obsoleten Vorhabens illustriert. Ergebnis ist niimlich ein asthetisch wenig
ansprechender, iiuBerst heterogener und schwer zuganglicherText, als dessen
Hauptstrukturmerkmale sich Ambivalenz sowie Offenheit und zuletzt auch
Vagheit in Folge allzu groBer KomplexitJit^^ und einer kaum mehr
aufzuzeigenden Intertextualitat benennen lassen. Mit diesen — gerade die
spezifischen Bedingungen der Moderne spiegelnden - gestalterischen
jPrinzipien' enthiilt der Text das implizite Eingestandnis, dass das komplexe
Gefiige der den Modernisierungsprozess kc^nstituierenden Bedingungsfaktoren
fur Hofmannsthal nicht ganzheitlich und kausallogisch zu erfassen sein kann'^;
eine synthetisierende, totalisierende Weltdeutung, der Versuch individueller
Weltmachtigkeit und totalen Weltzugangs in Anbetracht der gesellschafdichen
Ausdifferenziemng, der subjektiven Diversifizierung, ja der Unterschiedlichkeit
der Wert- und Weltorientierungen, kf^mmt tatsachlich einer Chandos'schen
jAnmaBung' gleich.
18
Endnotes
' Der Turm. Erste Fassung. IvA X\T.l, S. 494 (Zeugnisse).
^ Nolle, Paul: Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsgeschichte, S. 287.
' Hugo von Hofmannsthal: Gabriele d'Annunzio. GW, RuA I, S. 176. [Anmerkungen: Die
Werke Hugo von Hofmannsthals werden in den FuBnoten durch Kursivschrift
gekennzeichnet; zu den in den FuBnoten verwendeten Siglen: vgl. Literaturverzeichnis.]
'' Besonders eindriickliches Zeugnis von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit
Modernisierungsprozessen legt der Chandos-Brief an. Vgl. dazu Lohmeier, Anke-Marie:
Der Gott in der GieBkanne. Hofmannsthal und die Moderne.
' Vgl. Lohmeier, Anke-Marie: Was ist eigentlich modern?
'' Thome, Horst: Modernitiit und Bewaisstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und
des Fin de siecle, S. 26.
Die erste Fassung des Turm erschien 1923 (erster und zweiter Aufzug) und 1925
(dritter bis fiinfter Aufzug) in den Neuen Deutschen Beitragen. Die zweite, stark gekiirzte
Fassung, die fiir Hofmannsthal offenbar eine Verbesserung darstellte, da er sie konsequent
als die erste Fassung des Stiicks bezeichnete, erschien 1925 in einem Sonderdruck der
Bremer Presse. Die dritte, von Hofmannsthal foiglich als ,z\veite' bezeichnete Fassung,
in welcher er tief greifende Veriinderungen vorgenommen hat, erschien als zweite
Buchausgabe 1927/28. Hofmannsthal hat mehrfach die Gleichwertigkeit der
unterschiedlichen Fassungen betont; so kommentiert er seine ,z\veite' Turm-Fassung in
einem Brief an Felix Braun: „Ich meine nicht, dass die erste Fassung [...] zuriickgenommen
erscheinen soil. Sie konnen ruhig nebeneinander bestehen." \'gl. Der Turm. Zweite
und dritte Fassung. KA X\T.2, S. 449 (Zeugnisse).
Ich beriicksichtige hier grundsatzlich sowohl die zweite, sog. ,I<inderk6nig Fassung', als
auch die dritte Fassung des Stiicks. Als Textgrundlage dient zunachst die zweite Fassung;
der Zugriff auf die veriinderte dritte Fassung erfolgt bei entsprechender inhaltlicher
Relevanz.
*" Anliisslich der Urauffiihrung des Dramas am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
kommentiert Hofmannsthal: „In dem Trauerspiel ,Der Turm' geht es um das Problem
der Herrschaft, der Fiihrerschaft, das in fiinf Gestalten abgewandelt wird, dem Monarchen,
dem zur Nachfolge berufenen Sohn, dem Kardinal-Minister, dem weltlichen Politiker,
dem Revolutionsfiihrer." Vgl. Der Turm. Zweite und dritte Fassung. IO\ X\1..2, S. 471
(Zeugnisse).
' Der Turm. Zweite und dritte Fassung. KA X\T.2, zweite Fassung, S. 11.
'" Ebd., S. 65.
" Sakurai, Yoriko: Mythos und Gewali, S. 20.
'■^ Der Turm. Zweite und dritte Fassung. I<A X\T.2, zweite Fassung, S. 43. [Anmerkung:
In der dritten Fassung fehlt diese erste ausfiihrliche Replik des Grossalmoseniers, so
dass die Zusammenhange fiir den Rezipienten schwieriger zu erschlieBen sind. Dass
Basilius' fehlende Ich Identitiit und einseitige Ich-Auffassung als wesentliche Griinde
fiir seine falsche Gottglaubigkeit und Abhangigkeit, also fiir seine Unfahigkeit zur
Souveranitat, aufzufassen sind, kann der Rezipient in der dritten Fassung aber folgenden
VC'orten des Grossalmoseniers entnehmen: „Gott! Gott! Nimmst du das Wort in deinen
nassen Mund? Ich werde dich lehren, was das ist, Gott! [...] Ein Etwas spricht mit
meinem Mund, aber aus dir selbst heraus, auf dich selber zielend [...]. Du kannst nichts
mehr, ermachst nichts mehr, zergehend und zugleich Stein; in nackter Not doch nicht
frei. Aber da ist noch etwas! Du schreist: es ist hinter deinem Schrei und [...] heiBt dich
deinen Schrei horen, deinen Leib spiiren [...]. Es verzweifelt hinter deiner Verzweiflung,
durchgraust dich hinter deinem Grausen und entlaBt dich nicht dir selber, denn es
kennt dich und will dich strafen: das ist Gott." Vgl. Der Turm. Zweite und dritte
Fassung. I<A X\T.2, zweite Fassung, S. 46; dritte Fassung, S. 157f]
19
'^ Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien. GW, RuA II, S. 39-40.
''' Ute Nicolaus: Souveran und Maityrer, S. 218.
'^ Der Turm. Zweite und dritte Fassung. KA XM.2, zweite Fassung, S. 40
"^ Die Briefe des Zuruckgekehrten. KA XXXI, S. 167.
" Hermann Rudolph: Kulturkritik und konservative Revolution, S. 55.
" Dass Hofmannsthals Oberlegungen zur Bewaltigung der konstatierten gesellschaftlichen
Krise generell keine genuin politischen sein konnen, da Hofmannsthal uniibervvindbare
\'orbehalte gegeniiber jeglicher Form eines ,contrat social' hegt, zeigt Clemes Pornschlegel:
Bildungsindividualismus und Reichsidee. Zur Kritik der politischen Moderne bei Hugo
von Hofmannsthal.
" Vermachtnis der Antike. G\X; RuA III, S. 14.
^^ Der Turm. Zweite und dritte Fassung. K.\ XM.2, dritte Fassung, S. 215.
^' Stefan Breuer: Asthetischer Fundamentalismus, S. 12.
^ Hermann Rutlolph: Kulturkritik und konservative Revolution, S. 234.
" Der Turm. Zweite und dritte Fassung. KA X\'1.2, zweite Fassung, S. 88.
^' Ebd., S. 85, 86, 88.
^ Ebd., dritte Fassung, S. 220.
^ Ebd., zA^-eite Fassung, S. 116.
^ Ebd.
^* Aufzeichnungen aus dem Nachlass. GW, RuA III, S. 590.
^' Vgl. Der Turm. Zweite und dritte Fassung. KA X\T.2, zweite Fassung, S. 110 u. S. 113-
114: „Ich bin ein General in seinem Zelt und muss nach zwei Fronten schlagen." Und:
„Wir mussen unsere Geschafte erledigen und konnen vorlaufig die Stunde nicht wahlen.
[...] Die Grafen wollen eintreten. \X'ir konnen diesen zweideutigcn Grossen jetzt mit
freierem Blut entgegentreten ais vor einer Stunde. Es gibt keine Oliviersche Armee
mehr, die mir entgegenstiinde, und sie sind nicht mehr das Ziinglein an der Wage, das
sie sich zu sein diinken. Vorwiirts — aber halt sie im Ungewissen iiber den Empfang, den
ich ihnen bereiten werde. Und wart nochl lass ihncn ihre Schwerter zuriickgeben: sie
soUen nicht wie Koche und Stallmeister vor mich treten."
»Ebd., S. 103.
^' Vgl. ebd., S. 104: „Sigismund beim Tisch, ohne auf^sehen. Die Tataren soUen sich in acht
nehmen. VCenn ich wieder einen roten Himmel sehe, lasse ich ihrer Dutzend hangen.
Da er den Blick des Aretes atif sich ruben fiihlt. W'undert Ihr Euch, dass ich schnell die Sprache
der Welt gelernt habe? - Guter Freund, mein Ort ist ein schreckenvoiler Ort [...]." Und:
„[...] Und was ist dort der grosse steigende Brand? Hangt die Tataren, dass sie wieder
diesen Turm angeziindet haben."
52 Ebd., S. 107.
"Ebd., S. 108,109, 112.
^ Der Turm. Zweite und dritte Fassung. K.\ X\T.2, zweite Fassung, S. 29.
« Ebd., S. 85.
^ Brief an einen Gleichaltngen. KA, XXXI, S. 213.
5' Aufzeichnungen zu Reden in Skandinavien. GW', RuA II, S. 32-33.
'* Der Turm. Zweite und dritte Fassung. ¥JK X\T.2, zweite Fassung, S. 122.
2' Ebd.
'"' Vgl. ebd., S. 123: „Das \'olk: Verlasse uns nicht! Harre aus bei uns!"
■" Im Text finden sich deutliche Hinweise darauf, dass es unter Sigismunds weltlicher
Herrschaft zu keiner gesellschaftlichen Einheit kommt, sondern auch unter seiner
Autoritat verschiedene Einzelinteressen aufeinander stoBen: Als die Bannherren
Sigismund als legitimen Nachfolger der Monarchic durch den Grossalmosenier kronen
lassen wollen, emport sich Indrik: „Keinen Bund zwischen ihm und euch!" Und
wahrenddessen steht „[d]rauBen [...] das \'olk, viele gewaffnet." Vgl. ebd., S. 117 u. 118.
*^ \'gl. Der Turm. F>ste Fassung. KA XM.l, S. 504 (Zeugnisse).
20
'" Der Turm. Zweite unci dritte Fassung. K.-\ XM.2, zweite Fassung, S. 123.
^ Krieg und Kultur. GW, RuA II, S. 419.
*^ Der Turm. Zweite und dritte Fassung. Kj\ XM.2, zvveite Fassung, S. 123.
"<> Der Turm. Erste Fassung. KA X\1.\, S. 490 (Zeugnisse).
"' Ebd., S. 488 (Zeugnisse).
"8 Ein Brief. KA XXXI, S. 48.
"' Der Turm. Erste Fassung. KA XM.l, S. 493 (Zeugnisse).
'" Aufzeichnungen aus dem Nachlass. GW, RuA III, S. 588 u. 589.
5' Vermachtnis der Antii<e. GW, RuA III, S. 13.
'^ Brief an einen Gleichaltrigen. KA XXXI, S. 214.
" Der Turm. Erste Fassung. K.\ XM.l, S. 494 (Zeugnisse)
^ So bewegt sich das Stiick auf verschiedenen Aussageebenen und konglomeriert (real-
)politische, soziologische, (geistes-)geschichtliche und (geschichts-)philosophische
Aspekte. Ein Biick in Hofmannsthais Korrespondenz iegt nahe, dass sich der Dichter
selbst unschiiissig war, auf welcher Ebene er seine Daseinsdiagnose ansiedeln sollte
und konnte. In einem Brief an Josef Redlich bezeichnet er den Turm ais einen „Versuch,
der sich der Geschichte (imaginarer Geschichte), der sich der Politik (der Philosophic
der Politik)" niihert [ Hugo von Hofmannsthal - Josef Redlich: Briefsvechsel, hrsg. von
Helga FuBgiinger. Frankfurt a.M. 1971, S. 58.]; Helene Thimig bestatigt er, das Stiick habe
„mit der Zeit (ich meine mit der Gegenwart, der Krise in der wir sind) euvas zu tun" [
Der Turm. Zweite und dritte Fassung. KA XM.2, S. 426 (Zeugnisse).]; Erika Brecht mochte
er „das zwischen einer \'ergangenheit und einer Gegenwart Schwebende" des Dramas
fasslich machen Der Tunn. Zweite und dritte Fassung. KA XM.2, S. 468 (Zeugnisse).]
:\uch die mit der Gestaltung der gescllschaftspolitischen Situation unmittelbar
zusammenhangende Frage nach Konzeption und Grad der Allegorisierung der Figuren
im Turm erweist sich nicht allein aus der Rezeptionsperspektive heraus als diffizil. Die
Frage, welche (politischen) Konzepte die Figuren formulieren und auf welcher
Bedeutungsebene diese anzusiedeln sind, stellt sich dem Dichter anscheinend selbst. In
einem Brief an einen Schulfreund des Sohnes heiBt es diesbeziiglich: „Der eine sieht
eine Gruppe schicksalsverbundener Gestalten vor sich, der andere glaubt in diesen
Figuren Ideen verkorpert zu sehen; wohl politische Ideen, aber nicht solche, die sich
genau mit Namen nennen lieBen. Vielleicht liegt eben darin das Dichterische, daB sich
beide Moglichkeiten durchkreuzen. Es fiihrt mich dies in einen Bereich, iiber das [sic!]
Auskunft zu geben mir selbst schwer wird." [Der Turm. Zweite und dritte Fassung. K_.\
X\T.2, S. 503 (Zeugnisse).]
"Das Stiick zeigt eine Vielzahl von Ivrisenfaktoren fiir das Chaos auf, stellt erne Pluralitat
von Perspektiven auf das Geschehen dar, ja vereint verschiedenste Stimmen und
Reaktionen auf Welt - bereits die Auflistung des Personals spiegelt die Fiille der im Turm
zu Wort kommenden Stimmen und Einzelinteressen. Der Interpret sieht sich vor allem
vor die Schwierigkeit gestellt, dass die kritische Norm des Autors nicht an bestimmte
dramatis personae gebunden, ja am Text ohne Wissen um spezifisch hofmannsthalsche
Denkstrukturen, die den Dichter das eigens aufgezeigte, komplexe ,Chaos' schlieBhch
auf seine antinomischen Beschreibungs- und Bewertungsmuster reduzieren lassen,
kaum festzumachen ist. Die Figuren reprasentieren erst im Gesamtgefiige
hofmannsthalsches Denken, konnen im Einzelnen der kritischen Norm des Autors
gleichzeitig entsprechen und ihr wieder ganz entgegen gesetzt sein. Dieses Nebeneinander
von Sichtweisen sowie zahlreiche Mehrfachmotivierungen konnten die \'ermutung
nahe legen, dass Hofmannsthal in seinem ,T^;7/;-Projekt' selbst um eben eine solche zu
Grunde zu legende Norm gerungen haben konnte, was dann - unter vielem anderen -
auch sein langjiihriges Arbeiten am Turm und vor allem das unablassige Umarbeiten
erklaren wiirde.
Die Problematik der Bestimmung der kritischen Norm des Autors wird
21
zusatzlich dadurch verschartt, dass der Dichter versucht, sehr verschiedene
(zeitgenossische) Diskurse zusammenzutuhren und aiif inhaltlicher wie auf
dramenasthetischer Ebene eine Vielzahl von Traditionen zu integrieren. Es finden sich
beispielsweise Beziige zur griechischen Tragodie, zum Barock, zum Alten und zum
Neuen Testament. Und vor allem dem zeitgenossischen Intellektuellen diirften die
Beziige zu Pannvvitz' Die Krisis der europdischen Kultur (1917) und Spenglers Untergang des
Abendlandes (1918) so wenig entgangen sein wie der Bezug auf Schnutts Souveranitatslehre
insbesondere im dritten Aufzug der dritten Fassung. Damit nicht genug: Mit Olivier
wird auf den Faschismus, mit dem Arzt auf den Idealismus und mit dem Sigismund der
zweiten Fassung auf den Charisma-Diskurs und andere Zeittendenzen angespielt. - In
ihrer Ganze rekurriert Hofmannsthal damit aber auf Traditionen und Diskurse, die -
einfach formuliert — der Moderne gegeniaufig sind. Die Liste ware fast beliebig
fortzufiihren, die Intertextualitat des Dramas ist enorm. Weeks spricht beispielsweise
von „Anklange[n| an viele Mythen — Christus und Parzival, Moses und Odipus, Kaspar
Hauser und andere." Vgl. Charles Andrew Weeks: Hofmannsthal, Pannwitz und ,Der
Turm', S. 346. Nicolaus hat erstmals den Versuch unternommen, diese Uberfiiile an
Beziigen in Hofmannsthals spater Trauerspieldichtung moglichst vollstandig aufzuzeigen.
Vgl. Ute Nicolaus: Souveran und Martyrer.
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25
26
„Beinahe zii Hause":
Heterotopie und de^entrale Subjektivitdt bei Kracauer
David Wachter
Siegfried Kracauers ,modernistische Miniaturen'' kreisen um eine
Wahrnehmung dezentraler Raume auf der Schwelle zwischen Zentrum und
Peripherie.^ Ihre literarische Aufmerksamkeit gilt Bahnhofen, lahrmarkten
oder Passagen als beweglichen Topographien des (Jbergangs, deren
Raumstrukturen nicht hierarchisch fixiert sind. Denn anders als die anonyme
Architektur der urbanen Zentren, die Kracauer immer wieder als fremde Orte
eines geometrischen Grauens perhorresziert, ermoglichen historische oder
geographische Schwellen eine ,andere' Raumwahrnehmung, die der Autor
literarisch zu erfassen sucht, zugleich aber auch als utopische Alternativen zu
den defizitiiren Raumkrisen der Moderne ausdeutet. Derm die ,anderen Raume',
die hier in /Wehnung an Michel Foucault als „Heterotopien" bezeichnet werden
soUen,' werden in Kracauers literarischer Imagination von ,anderen Subjekten'
bewohnt, die sich in einer ,aisthetischen' Entgrenzung an die Dingwelt den
Imperativen individueller Selbsterhaltung entziehen und - so jedenfalls
Kracauers emphatisches Postulat - die entfremdete Existenz der
GroBstadtbewohner auf eine neue Humanitat hin offnen. Am Beispiel des
Tramps Charlie aus Chaplins Filmen, aber auch dem Protagonisten seines
eigenen Romans Ginster (1928) wertet Kracauer den dysfunktionalen
AuBenseiter zu einer Marchenfigur auf, die eine zentrale
geschichtsphilosophische Bedeutung erhalt.
Andere Raume: Dystopie vs. Heterotopie
Kracauers positive Besetzung von geographischer Feme (Marseille), Reise-
und Transitorten (Bahnhof) sowie Schwellenraumen (Passagen) steht in
grundsatzlicher Spannung zu den urbanen Raumkrisen, die er in den
atmosphiirischen Angst-Raumen und architektonischen Ordnungsvisionen
der urbanen Zentren beobachtet. So bcschreiben die Denkbilder "Erinnerung
an eine Pariser StraBe" (1930) und "Schreie auf der StraBe" (1930) eine
existenzielle "Angst""* des Passanten vor offentlichen Riiumen, die sich als
Gefiilil einer atmosphiirischen Beklemmung und „unertraglichc|n] Spannung"
(\^.2, 206) zum Ausdruck bringt und weniger einer konkreten Bedrohung als
einer "metaphysischen Leere" (\^.2, 207) entspringt. Diese Leere pragt nach
27
Kracauer nicht allcin die als krisenhatt - also dystopisch — wahrgenommenen
Verkehrszentren und tristen ArbeitersiedJungen, sondern auch die Flaniermeilen
der Boulevards, die sich — ihrer prachrv'ollen Erscheinung zum Trotz — dem
Passanten als substanzlos aufpragen und von den eine in "panische[m]
Schrecken" (\^.2, 205) wahrgenommene Bedrohung ausgeht. In Kracauers
Psvchopadiologie der urbanen Moderne erscheint das manische Grauen als
Kehrseite der Faszination im "StraBenrausch".'' Es entsteht aus der
Wahrnehmung des Kontrasts zwischen der groBbiirgerlichen Architektur des
19. Jahrhunderts und der chaotischen Anonymitat des modernen
StraBenverkehrs, der mit seiner Reiziiberflutung durch elektrisierte Reklame-
Oberflachen aus Kracauers Sichr zu einer Uberlastung des
Wahrnehmungsapparats fiihrt. Hinzu kommt in Texten wie "Zwei Flachen"
(1926), "Proletarische Schnellbahn" (1930) und "Die UnterfUhrung" (1932)
eine Kritik architektonischer Machtstrukturen: Die durchkonstruierten Zentren
bilden fur Kracauer normierte Ordnungsraume, die mit ihrer unerbittlichen
Geometric jede Spur menschlicher Lebensverhaltnisse zu tilgen drohen.^
Besonders offensichtlich wird diese dystopische Rationalisierung des
offentlichen Raums in dem Abschnitt "Das Karree" aus "Zwei Flachen". Das
architektonische Quadrat eines durchorganisierten Platzes in Marseille, "das
mit einer Riesenform in das Geschlinge gcstanzt worden ist" (V.l, 379),
unterbricht dort das archaisch-ungeplante "Labyrinth" (ebd.), die verwickelten
Gassen und difRisen Irrwege der traditionellen Umgebung. Mit seiner "Gewalt
des Quadrats" (ebd.) bildet der Platz einen panoptischen Ordnungsraum: ein
Zentrum, das von den umliegenden Hausern beobachtet werden kann, welche
sich ihrerseits der Transparenz des Blicks verweigern. In diesem Regime der
Sichtbarkeit, deren literarische Darstellung die machanalytischen Studien
Foucaults in Uberwachen und Strafen vorwegnimmt, entziehen sich die
Zentren der Macht in die Verborgenheit: "Ohne daB die Beobachter zu sehen
wiiren, dnngen ihre Blickstrahlen durch die Fensterliiden, durch die Mauern."
(ebd.).** Dementsprechend agiert der Passant im Machtbereich des Platzes nicht
mehr als Subjekt, sondern als Objekt einer anonymen Getangennahme - eine
Verscliiebung der I landlungsmachtigkeit, die Kracauer durch eine syntaktische
Umkehrung von Subjekt und Objekt ausdriickt: "Nicht gesucht hat den Platz,
wen er fmdet." (\' 2, 379)'
Wie das Denkbild "Proletarische Schnellbahn" verdeutlicht, weitet
sich diese dystopische Ordnungsmacht in den avancierten Zentren der
Moderne, maBgeblich Berlin, fur Kracauer zu einer homogenen
Rationalisierung des offentlichen Raums aus, die auch in der Sauberkeit und
Ordnung neuer U-Bahnhofe, in deren liickenlcjser Organisation und
hygienischen Anonymitat, ein djimonisches "Unbehagen" (V.2, 180) auslost.
In diesem durchrationalisierten Raum ist die architektonische Rationalisierung
aus Kracauers Sicht in eine mythische Naturverfallenheit umgeschlagen, da sie
28
die konstruktiven Moglichkeiten fortgeschrittener Rationalitiit in den Regimen
geometrischer Riiume eliminiert: "Es ist wohl der Gegensatz zwischen dem
geschlossenen, unerschiitterlichen Konstruktionssystem und dem
zerrinnenden menschlichen Durcheinander, der das Grauen erzeugt." (V.3,
41)'° Dystopisch erscheint fiir Kracauer nicht ailein der radonalisierte
Ordnungsraum der Zentren, sondern auch die stillgestellte und der
"Vergessenheit" (V.2, 22) anheimgegebene Banlieue der trostlosen
Arbeitersiedlungen, die er in "La Ville des Malakoff" (1927) literarisch
ausgestaltet. Von "Verlassenheit" (ebd.) und "Vereinzelung" (ebd.)
gekennzeichnet, bilden deren Miethausblocke einen melancholisch-depressiven
Raum vollstandiger sozialer Marginalisierung, der architektonische Gewalt und
soziale Hoffnungslosigkeit in einer "Alpdruckvision" (V.2, 24) verbindet.
Gegen die dystopischen Zentren setzt Kracauer die Peripherie
heterotopischer Rand-, Zwischen- und Gegenraume an den Randern der
Gesellschaft." In seiner Faszination fiir historische und geographische
SchwelJen werden Bahnhofe, Gassenlabyrinthe, jahrmarkte und Passagen zu
experimentellcn Riiumen einer produktiven Phantasie, die den Dystopien der
Zentren das offene Chaos der Peripherie entgegensetzen will.'' Kracauers
literarischer Blick umkreist dabei mehrere mit einander verbundene Formen
der Heterotopic, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen:
geographische Feme (Reise); Transitraum; urbane Peripherie; und zeitliche
sowie raumliche Schwelle.
In seinen Reisebeschreibungen zeigt sich Kracauer fasziniert von
mediterranen Stadten wie San Gimigniano, Nizza oder Marseille, die sich als
dezentrale und labyrinthische Raume der topographischen Fixierung
entziehen.'' In "Zwei Flachen" (1926) arbeitet Kracauer den Gegensatz
zwischen dystopischer und heterotopischer Raumordnung paradigmatisch
heraus.''' Wahrend das "Karree" einen geometrischen Ordnungsraum darstellt,
bildet die „Bai" eine labyrinthische Traumlandschaft als "Kaleidoskop" (V.l,
378) vernetzter Raumphanomene. Den unterschiedlichen Raumstrukturen
entsprechen dabei aus Kracauers Optik unterschiedliche
Wahrnehmungsformen: Die geometrisch-abstrakte \X ahrnehmung im Karree
wird durch die synasthedsche Wahrnehmung der "menschliche[n] Fauna"
(ebd.) unterlaufen. Es, entsteht eine Asthetik labyrinthischer Vernetzungen,
die sich als unverfiigbar und ungeplant herausstellen und daher nur im zieUosen
Schlendern erfahren werden konnen. Als experimenteUer Raum fiir nomadische
Lebensformen des Aufbruchs erscheint die mediterrane Kleinstadt in "Stehbars
im Siiden" (1 926). Dort bilden die iiber die Stadt verstreuten Stehbars „winzige
Hafen, aus denen man abfahren kann" (V.l, 383) und in denen die Besucher
zu "unstetefn] Nomaden" (V.l, 382) werden. Die exterritoriale Existenz, die
auch Kracauers eigenen l>ebensweg seit der Emigration nach Frankreich 1933
und in die USA 1938 bestimmt hat,'' wird von den "Abbruchstellen" (V.l,
29
382) und "Sprunge[n]" (ebd.) in der mediterranen Stadt angezogen. Die
Diskontinuitat des Raums wird hier von Kracauer als Eriosung von der falschen
Homogenitiit rationidisierter Metxopolen imaginiert: "Das Ganze ist zerstiickelt,
und ein Verdacht richtet sich wider seine Einlieit." (\U, 382) Diese nomadische
Existenz wird insofern utopisch aufgeladen, als sie ein Ethos der konstruktiven
Phantasie als Lebensentwurt ermoglichen soil: "So verliert der aus dem Hafen
Scheidende den Sinn fiir die MaBe des Lebens, das hinterilim liegt. Es zerfallt
ihm in lauter einzelne Telle, aus denen er die Bruchstiicke eines anderen Lebens
improvisieren mag" (V.l, 383). In Kracauers exterritorialer Faszination fiir
mediterrane Improvisationsraume kehrt damit zugleich seine Filmasthedk
der Montage wieder, die ihrerseits improvisatorische Konstrukdonen und
spielerische Entwiirfe gegeniiber festen Ordnungen favorisiert.""
Das Prinzip des Nomadischen zeigt sich auch an Kracauers Interesse
fiir Transitorte. In "Die Eisenbahn" (1930) erscheinen dem Flaneur die
Bahnhofe als "Oasen der Improvisadon" (V.2, 175), die zugleich in einer
bestimmten Stadt nnd an der Schwelle zum Aufbruch lokalisiert sind. An
diesen Ausgangspunkten von Abreise und Riickkehr wird Befreiung aus
Kracauers Sicht als kosmopoHtische Offnung erfahrbar, die auch provtnziellen
Orten ein Internationales Flair verleiht. Diese Horizonterweitemngdurchbricht,
so lassen sich seine Oberlegungen ausdeuten, die Schranken sowohl der
erstarrten biirgerlichen Tradition wie der berutlichen Fixierung in der
arbeitsteiligen Gesellschaft und ermoglichen, zumindest temporar, ein
modernes Nomadentum als moglichkeitsoffene Lebensform. Der Text
entwirft dabei ein Ethos exterritorialer Existenz auf Reisen. Techniken der
Wiederherstellung eines "kiinstlichefn] Zuhause[s]" (V.2, 177), wie Kracauer
sie im Zug an den Proviantkorben einer hnnischen Familie erkennt, werden
abgelehnt, denn "die gewohnten vier W'iinde miissen fallen, wenn das
BewuBtsein der Fahrt erstehen soil." (ebd.) Auf Reisen erfiihrt der Erzahler
die Exterritorialitat seiner Bewegung als Befreiung und als Freude iiber die
Reise selbst wie iiber die imaginare Dynamik seiner Phantasie, die ihn in ein
"Reich der Wachtraume" (W.l, 177) fiihrt.
Heterotopische Raumstrukturen finden sich in Kracauers
Denkbildern zudem bevorzugt an einer inneren oder auBeren Peripherie der
Stadte.'" Deren labyrinthische \'erschlungenheit steht, so die "Analyse eines
Stadtplans" (1 926), gegen die modernistische Dynamik der Zentren. Kracauer
wendet seine Aufmerksamkeit von der triumphierenden "Oberwelt der
Boulevards" (\'.l, 401) ab und den Pariser Faubourgs zu, die als historische
Obergangsraume vom Yerschwinden bcdrcjht sind und doch die "Riesenasyle
der kleinen Leute" (\'.l , 400) bilden. Indem Kracauer diese SchweUenriiume als
"gefLilltes Dasein im Zeichen des Abbruchs" (y. 1 , 401) apostropliiert, artikuliert
die "Analyse eines Stadtplans" wie viele andere Denkbilder Kracauers eine
nostalgische Zuneigung zu Raumen des Obergangs - und konterkariert somit
30
jene modemisdsche Leidenschaft, die Kracauer selbst wiederholt, paradigmatisch
im „Ornament der Masse", an den Tag legt. Denn anstelle eines
avantgardistischen Denkgestus der potenzierten Entmythologisierung liegt
Kracauers } Icjffnung nun auf jenen Schwellenraumen, die der Rarionalisierung
der Zentren wenigstens temporar entzogen bleiben - und die es vor dem
\ ergessen zu retten giJt. Bei dieser Auslegung der Schwellenraume verschieben
sich die Koordinaten, die Kracauers theoretischen Diskurs bestimmen. Die
Archaik der Waren in den Liiden des Avenuen, die in den Bezeichnungen
"Gestriipp" (cbd.) und "Urwaldstamme" (ebd.) zum Ausdruck kommt,
erscheint hier nicht wie im wenig spiiter erschienenen „Ornament der Masse"
als mythologischc Xaturverfallenheit, sondern als positive "Menschlichkeit"
(ebd.), der utopische Dimensionen abzulesen sind.
Diese veriinderten Konstellationen finden sich, den "Pariser
Beobachtungen" (1927) zufolge, nicht allein in den Faubourgs als
geographischen \'ororten, sondern auch an der inneren Peripherie, die Paris
insgesamt vom modernistischeren Berlin unterscheidet.'- Entscheidend ist
dafur die Semantik des Kleinen, das als "Angemessenheit samtlicher Gebilde
an die menschlichen Bediirfnisse und Proportionen" (\'.2, 29) begriffen wird
und in einen oftenen Gegensatz zu der als unmenschlich abgelehnten
Rationalitat der Zentren eintritt. An dieser inneren wie auBeren Peripherie
lokalisiert Kracauer die utopischen Horizonte einer integralen Verbindung
von Mensch und Natur, der allerdings an dieser Stelle nur im Modus der
Nostalgie artikuliert werden kann: "das Humane ist Natur, die Natur
humanisiert." (\'.2, 29) In der "Analyse eines Stadtplans" tritt zu dieser
nostalgischen Vision das utopische Bild einer ^'ersohnung von Mensch und
Natur hinzu, das Kracauer am Beispiel eines kleinen "Oltriiufelapparats"
entwickelt. Eigentlich ein gewalttatiger "Apparat aus Glas und Metall, dessen
spitzer Stachel einzig aus der Lust an der Qualerei geboren scheint" (\a, 401),
verjindert sich dieses Instrument durch seinen Eintritt in den humanen
Warmestrom: "Die Bedurftigkeit der Umgebung hat ihn freundlich gestimmt
und aus einer mechanischen Biene in einen harmlosen Hauskobold verwandelt,
der sich um die Zubereitung der Mahlzeiten bekiimmert und den Kindern
gut ist." (X: 1,402)
Dieser utopische Horizont einer I larmonie zwischen Mensch, Natur
und Technik bestimmt auch das Denkbild "Das StraBenvolk in Paris" (1927),
in dem die Entgrenzung des Subjekts an die analogische "Staddandschaft"
(\^.2, 39) mit der konstrukdven Erwartung eines "Mosaik[s]" (\L2, 40)
verbunden wird. Das Naturhafte der "Kleinstadt" (V.2, 39) Paris besteht dabei
in einer Eingliederung des Menschen in das "unauflosliche Zellengewebe"
(ebd.) des "StraBennetzfes]" (ebd.), der "vermittelnde[n]" (ebd.) Kommunion
mit "Dingen, die sich ihrer Verfluchdgung zu abstrakten Gegenstiinden
erwehren" (\^.2, 40), und einer daraus folgenden "animalische[n] Warme"
31
(ebd.). Mit \X'endungen wie "\'egetation der kleinen Leute" (\'.2, 39), "Humus"
(ebd.) oder "gediingt" (\^.2, 40) durchzieht die Natursemantik das ganze
Denkbild. Zugleich erweist sich diese Stadtnatur als Produkt menschlicher
Praxis: "Dieses Volk hat sich die Staddandsciiaft geschaffen [...]" (\'.2, 39). Als
"diinnste Konstrukdon" (V.2, 41) tritt in dieser Praxis jedoch das Moment
der Planung in den Hintergrund und gibt einem naturhaften Chaos von
heterotopen Orten wie Basaren, Buden und )ahrmarkten Raum, in dem die
Dinge "geistesabwesend durcheinander[taumeln" (ebd.) und Freiraume fiir
niedere Bediirfnisse und Wiinsche des Menschen bestehen. Doch wird der
heterotopische Stadtraum in "Das StraBenvolk in Paris" nicht als gelungene
Utopie priisentiert. Denn die chaodsch-naturhaften Topographien des einfachen
Stadtv'olks bleiben jener „Sinnferne" verhaftet, die Kracauer aus theologischer
Perspekdve der Moderne ganz grundsatzlich attestiert: Es "strebt nicht
himmelwarts" (\\2, 40), sondern "bau[t] sich fortwahrend ab" (ebd.). Die
harmonische Vision erscheint im Modus des "Zerfallfs]" (ebd.) und der
Unlesbarkeit: "als ob ein unbekannter Zwang [das Volk] davon abhielte, sich
zu einem lesbaren Muster zusammenzusetzen" (ebd.). In dieser Situadon
wird die nostalgische Tendenz der Paris-Texte bewuBt dementiert, wird die
utopische Atmosphiire der BasarstraBen und jahrmarkte in der Textbewegung
selbst als illusionar entlarvt: "Doch miissen die StraBen zur Mitte begangen
werden, denn ihre Leere ist heute wirklich." (\'.l , 403).
Auch die Passage als historischer und topographischer Schwellenraum,
den Kracauer in "Abschied von der Lindenpassage" (1 930) entwirft, ist vom
Verschwinden bedroht. Schwellenraum ist sie als "Bazar" (y.2, 262) inmitten
der biirgerlichen Welt, indem sie die durch biirgerlichen Konformismus
verdrangten Cjegenstiinde und sinistrenTriebwiinsche hortct. Schwellenraum
ist sie aber auch als topographische Materialisation historischer
L'ngleichzeidgkeit: Sie bewahrt die dvstunktionalen und vom Vergessen
bedrohten Materialien der vergangenen Lebenswelten aut, wahrend sie selbst
von der Radonalisierung des urbanen Raums zunehmend marginalisiert wird:
"Die Zeit der Passagen ist abgelaufen." (\'.2, 260) In beiden Funkdonen noderen
die Passagen die dunkle Kehrseite der glitzernden Reklameoberflachen, indem
sie als "innere[s] Sibirien" (\'.2, 264) die ausgestoBenen Gegenstiinde und
Begierden in ihrer Materialitiit priisenderen.
Mit ihrer ausdriicklichen Zuwendung zu "K6rpertriebe[n]" (V.2,
262) und "AUotria" (ebd.) stellen die Passagen fiir Kracauer eine materiale
Kritik der schnellebigen, konformistischen und in letzter Instanz illusionaren
Vergniigungsindustrie als "Fassadenkultur" (\\2, 264) dar. Ihr heterotopischer
Ort wird als Gegenraum und kritisches Reversbild der "biirgerlichen Front"
(y.2, 264) gedeutet - ein Gegenraum, der jedoch fiir Kracauer nicht nur die
"erloschene Fratze" (\'.2, 265) des Vergessenen und Verdrangten aussteUt,
sondern zugleich ein rettendes Eingedenken an das Verlorene ermoglicht:
32
"Aber wir entrissen ihr auch das uns heute und immer Gehorige, das dort
verkannt und entstellt funkclte." (V.l, 265) In diesem Sinne wird die Passage
nicht aus sich allein heraus zum Ort utopischer Spuren, sondern erst durch
den Gebrauch, den der "rechte Passant" (\'.2, 264) von ilir macht: "(Er, der ein
\\gabundierender ist, wird sich dereinst mit dem Menschen der veriinderten
GeseUschaft zusammentlnden.)" (\\2, 264) Denn er verwandelt, so lasst sich
Kracauers utopische Perspektive verstehen, die heterotopische Passage in den
utopischen Raum einer anderen Praxis, in der Mensch und Dinge einander
nicht entfremdet gegeniiberstehen, sondern eine geheime Beziehung
zueinander auhveisen. Er verxveist damit zugleich auf Kracauers Konzept
einer anderen Subjektivitat, die am Beispiel Chaplins theoretisch erlautert und
im Roman Ginster (1928) Literarisch ausgefiihrt wird.
Andere Subjekte: Asthetische Negathitat und mimetisches Vermogen
Der synasthetischen W'ahrnehmung und labvrinthischen Raumstruktur von
Kracauers Heterotopien entsprechen veranderte Formen von Subjektivitat,
die gegen das rationale Individuum Descartes' wie gegen das im bi.irgerlichen
Kapitalismus herrschende Prinzip machtbasierter Selbsterhaltungopponieren.
Mit seinen Uberlegungen zu einer ,anderen Subjektivitat' will Kracauer die in
der klassischen Moderne inflationiir thematisierte Depotenzieaingdes Subjekts
in einer Bewegung der Cberbietung produktiv wenden. Als "Anti-Subjekte"
(Giinter) bilden Charlie und Ginster tiir Kracauer Figuren der Entstellung, die
eine AuBenseiterposition in der GeseUschaft einnehmen und zugleich in ihrer
radikalen Auflosung der biirgerlichen Innerlichkeit neue Modi
entsubstantialisierter Subjektivitat zum Ausdruck bringen. Mit dieser
dialektischen Wende, die utopische Spuren am Nullpunkt der Entfremdung
zu entziffern versucht, greift Kracauer jene Denkfigur einer "produktiven
Negativitat'"" auf, die zahlreiche zeitgenossische XX'endungen gegen das Ich -
von Benns ,Ich-Auflosung' iiber Brechts ,Ummontierung' Galy Gays bis hin
zu Musils ,Mann ohne Eigenschaften' - bestimmt.'" Der Umschlag der
Negativitat an den Leerstellen zerstorter Innerlichkeit bezeichnet bei Kracauer
einen doppelten utopischen Horizont. Zum einen ermoglichen die
AuBenseiterf-iguren einen konstruktiven Biick auf die Gegenwart, welcher
deren Grundstrukturen entziffert, indem er eigene Erfahrungen zur
asthetischen Erkenntnis im "Mosaik"(\l, 2, 32f) montiert. Zum anderen
bringen sie eine Gliickserfahrung zum Ausdruck, die gerade aus dem \^erzicht
auf autonome Selbsterhaltung und einer damit einhergehenden radikalen
Entgrenzung an die Dingvvelt entsteht. Indem Kracauer die ohnehin briichig
gewordenen Grenzen zwischen verdinglichten Menschen und
anthropomorphen Objekten voUends unterminiert, legt er eine utopische
Spur anderer Menschlichkeit - emphatisch imaginiert als ziirtliche
Kommunikation mit den zu neuem Leben erweckten Gegenstiinden des
33
Alltagslebens.
MaBgeblichen Zugang zu dieser ,anderen Subjektivitat' findet
Kracauer in seinen Uberiegungen zur pantomimischen Kunst Charlie Chaplins,
dessen FUme er im Feuilleton der Frankfurter Zeitung bespricht.'' Denn an
Chaplins Tramp beobachtet Kracauer die Ersetzung einer autonomen
Subjektivitat der Selbsterhahung durch eine Leerstelle: "ihm ist das Ich
abhanden gekommen" (\T. 1 , 269). Indem das Subjekt in Chaplins Filmen als
Hohlraum erscheint, erhalt es jedoch aus Kracauers Sicht zugleich einen
sprengenden Impuls: "Er ist ein Loch, in das alles herein fiillt, das sonst
Verbundene zersplittert in seine Bestandteile, wenn es unten in ihm aufprallt."
(\1. 1,269) Indereigentumlichen"Beziehungslosigkeit" (M.2, 33) des Tramps
gegenijber seiner Umwelt zeigt sich zugleich ein \'erzicht auf Gewaltausiibung,
die ihn gegen seine Konkurrenten im ProduktionsprozeB wehrlos macht.
Aus Sicht der normalen Menschen und ihres funktionalen \'erhaltnisses zu
den Gegenstanden erscheint der Tramp als Versager. Fiir Kracauer dagegen
lasst sich seine existenzielle Zerstreutheit als "z-Mlegorie der Geistesabwesenheit"
(VI. 1, 338) lesen, die der verkehrten Welt einen Zerrspiegel vorhalt. Ihr
permanentes AnstoBen gegen die widerstiindigen Dinge zeigt eine reale
Enthumanisierung des Menschen, der der Gewalt der Dinge ausgesetzt ist.
Bei seiner verzerrten Spiegelung des Normalzustandes stellt Chaplin aus
Kracauers Sicht die bestehende Welt infrage, indem er seine Mkmenschen in
parodistischer Mimikry nachahmt, sie "auBerlich imitiert und derart in Frage
stellt" (\T. 2, 313).
Aus Kracauers Perspektive weisen Chaplins Filmgrotesken somit in
mehrfacher Hinsicht utopische Tendenzen auf. Zum einen entzieht sich der
Tramp mit seiner naiven Ungeschicklichkeit den Funktionsmechanismen
gesellschaftlich integrierter Indi\iduen und eroffnet im Scheitern des gewohnten
den Horizont eines veranderten Lebens. Indem Kracauer dieses verkehrte
Subjekt in einen utopischen Horizont stellt, weist er Beziige zu Benjamins
Kafka- Aufsatz auf, der seinerseits in den grotesken Gehilfen des i'f/j/o/i'-Romans
ein Unterpfand der Erlosung entziffert: "Fiir sie und ihresgleichen, die
Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da."^^
Gleichzeitig weist Kracauers Betonung des wechselseitigen Bezugs,
in dem der Tramp zu den Dingen seiner Lebenswelt steht, auf die Bestimmung
des mimetischen Vermogens voraus, die Benjamin zu Beginn der dreiBiger
Jahre in seinen Arbeiten "Lehre vom AhnUchen" und "Uber das mimetische
Vermogen" herausarbeiten wird. Mimetisches Vermogen artikuUert Charlie
durch seine Verbindung von Naivitat und List, die eine geschickte Mimikry an
die Stelle der Selbsterhaltung durch Machtausiibung setzt und die Dinge nicht
unteru'irft, sondern ihnen als eigenartigen Subjekten begegnet. Dieser Kontakt
fiihrt zwar nicht zu einem harmonischen \'erhaltnis, sondern zu
Widerstandigkeit und Auseinandersetzung. Doch diese Konfrontationen
34
werden durch Charlies Grundliiiltunggelost, "die heimtiickischen Gegenstjinde
zu iiberlisten" (V.2, 285). Mimetisches Vermogen artikuliert Chaplin aus
Kracauers Sicht auBerdem durch einen zartlichen Umgang mit den Dingen,
welcher diese in den Bereich des Humanen integriert.
Zugleich iiuBert sich die andere Subjektivitat in Chaplins Filmen fur
Kracauer in der physiognomischen Ausdruckssprache, die als mimische
"Gebardensprache" (\'1.2, All) Bela Balazs' L'topie einer neuen Visualitat aus
Der sichtbare Mensch filmisch umsetzt. Mit seinem "mimische [n]
Sprachschopfertum" (\'1.2, 472) iibersetze Chaplin Handlungen und
sprachLiche Kommunikation in den "optischen Raum" (\^1.2, 313) eines
physiognomischen Ausdrucks, der als Internationale Verstandigung die
sprachlichen Grenzen der Nationen iiberschreite. International wirkt Chaplins
andere Humanitat aber aus dieser utopischen Perspektive auch deswegen, well
er als "heimatloser N'^agabund" (A'1.2, 312) jene nomadische Existenz
verkorpert, die auch Kracauers literarische Heterotopien umkreisen. Nadonen
und Religionen sind fiir ihn keine substanziellen Grenzen mehr, da er seine
AuBenseiterposition in ein nomadisches Nirgendwo umwandelt. Mit dieser
vermeintlichen Heimatlosigkeit besitze Chaplin, so Kracauers emphatische
Deutung, gleichwolil die exterritoriale Heimat des Nomaden: Chaplin erscheint
als "ein Habenichts, der seine Heimat nirgends und iiberall hat." (A''1.2, 493)
Diese territoriale und subjektive Dezentralitat deutet Kracauer aus utopischer
Perspektive als eine - wenn auch nur im Konjunktiv tbrmuHerbare - Erfahrung
des Gliicks: "Es ist, als habe die Welt sich aus dem Spiegelwahnsinn
zuriackgefunden und er diirfe sein, wie er ist." (\^1.2, 34) Das entgrenzte Subjekt
hat zwar nach Kracauer mit den widerstiindigen Objekten zu kampfen, wird
iedf)ch in seiner Strategic mimetischer List von kontingenten Ereignissen
unterstiitzt und profitiert in seiner Xaivitat von "Zufalle[n], die ihm so treu
sind wie dem Bettler sein Mund" (\"1.2, 312). Bei dem "Chaplingeliichter, das
wie ein Blitzstrahl Irrsinn und Gliick zusammenschmilzt" (\'^2, 285), wird die
individuelle Entstellung mit dem utopischen Horizont einer anderen
Menschlichkeit iiberblendet, die sich in der versprengten Figur des Tramp
fragmentarisch zu crkennen gibt: "Aber aus dem Loch strahlt das reine
Menschliche unverbunden heraus" (A'l.l, 269f.).
In diesem Zusammenhang erscheint auch die anthropologische
Grenze zwaschen Mensch und Tier als instabil, wenn nicht gar iiberwunden:
"Dieser Mensch Chaplin ist gut und zartLich und hat Achtung vor jeder
Kreatur." (\T.2, 34) /Vis Effekt dieser anderen Menschlichkeit sieht Kracauer
eine imaginiire \ ersohnung des PubHkums, das durch Chaplins I lumor eine
neue Gemeinsamkeit erfahrt. In diesem Sinne nennt Kracauer in seinen Chaplin-
Rezensionen explizit den utopischen Horizont des "Miirchens" (A'^I.l, 270)
als den eigentlichen Gehalt der anderen Subjektivitat — und bindet seine
tilmasthetischen Uberlegungen somit an jene utopische Aufwertung des
35
Marchens an, die er im „C)rnament der Masse" und weiteren Essays ab etwa
1926 vornimmt.-^* Denn im Horizont seiner progressiven
Geschichtsphilosophie stellt das Miirchen das emphatische Telos einer
humanen Vernunft dar, die ihre eigene Verstockung uberwunden hat und die
geschichtliche Bewegung der Entmythologisierung voUendet: „Vorgetraumt
ist [das Reicli der Vernunft] in den echten Miirchen, die keine
Wundergeschichten sind, sondern die wunderbare Ankunft der Gerechtigkeit
meinen. (V.2, 61) Chaplins Mime bilden damit den utopischen Vor-Schein
des Marchens, das jedoch nicht als gelingend vorgestelJt wird, sondern nur als
Verstellung aufscheinen kann. Damit lassen sich Kracauers Uberlegungen zu
Chaplin in den Kontext seiner Romantheorie Kafkas stellen, die er in einer
Rezension zu dessen Roman Das .iV/Vo/entwickelt. Dort deutet er das Miirchen
als "Vortraum des vollendeten Einbruchs der Wahrheit in die Welt" (\U,
392), den Kafkas Roman jedoch nicht als verwirkJicht darstelJen, sondern als
"Matrize des Miirchens" (ebd.) nur invertiert andeuten konne:
"Nichtverwirklichungist seinThema" (ebd.). Kafkas Szenanen der Entstellung
zeugen somit nach Kracauer von einer Angst, die zwar "dem Miirchengluck
entgegengesetzt ist" (V.l, 393), jedoch im Modus der Negation auf dieses
verweisen. Auch Chaplins Filme lassen sich aus der Perspektive der ScMo/-
Rezension als Zerrspiegel des bestehenden Zustands deuten, die diesen als
"Vortraum" (V. 1 , 392) auf seinen gemeinten, aber nicht realisierten utopischen
Fluchtpunkt hin transparent werden lassen.
Hcterotopie und Melancholic
Schwellenriiume bilden somit fur Kracauer exterritoriale Orte, an denen
iisthetische Negativitiit in der Figur des entstellten Subjekts utopisch gewendet
wird. Gleichwohl steht diesem emphatischen Horizont bei Kracauer selbst
ein melancholischer Blick entgegen, der die EntiiuBerung des Subjekts nicht
als konstruktive Offenheit, sondern als Selbstentfremdung dargestellt. An
kaum einem Text wird dieser immanente Gegensatz deudicher als an dem
Roman Ginsler (1928), der nicht zuletzt die existenzielle Gespaltenheit des
Autors zwischen Hoffnung und Melancholie verhandelt.-^ Der Protagonist
Ginster lebt exterritorial, entsteDt, substanzlos. In seiner "Zerstreutheit"-'
mi(51ingt ilim jede soziale Eingliederung, und er eriebt die \X elt als widerstiindig
Damit personifiziert er eine Leerstelle, die als Resultat einer Auflosung des
burgerlichen Subjekts historisch lesbar wird.-" Doch er verwandelt seine
existenzielle "Wesenlosigkeit" (G 131) in eine Strategie des Entzugs, die ihm
aus der verfremdeten "Oberfliichenoptik"-' des AuBenseiters eine asthetische
Erkenntnis der Kriegs- und Nachkriegsjahre ermoglicht. Die fragmentierte
Wirkiichkeit fugt sich dabei zu"Bruchstucke(n] eines gliinzenden Mosaiks"
(G 23), mit dem er den verborgenen Gehalt der Gegenwart entziffert: "unter
ihnen lebte einer, der sie unterirdisch erforschte: Ginster." (G 21)-* Auf diese
36
Weise iiberfiihrt Kracauer sein filmasthetisches Montage-Programm in eine
Romanform, in der die dysfunktionale Leerstelle des Protagonisten die
Konstruktion des bestehenden Gesellschaftszustands ermoglicht. Ahnlich
wie Chaplin, der in mehrerer Hinsicht als Vorbiki des Romans gedient hat^^,
entzieht sich Ginster der gesellschaftlichen Selbstbehauptung, die er durch
eine Mischung aus NaivitJit und geschickter List ersetzt - et\va wenn er durch
ostentative Schwiiche bei der Mustemng einer Einberufung entgeht. Zugleich
stellt er herrschende Konventionen, etwa die allgemeine nationale Begeisterung
zu Kriegsbeginn, durch iibertriebene MimiktT in ihrer Lacherlichkeit bk)B. AJs
eigenschaftsloses Subjekt imitdert Ginster jedoch nicht allein die konventionelJen
Verhaltensweisen, sondern entwickelt ein mimetisches X'ermogen gegeniiber
der nichtmenschlichen Umwek, das die Grenze zwischen Mensch und Ding
destabilisiert. Denn Ginster pflegt ein zartliches \'erhaknis zu Gegenstanden
wie seinem "Holzkistchen" (G 159) oder einem Gedichtband, den er wie
einen Kameraden behandelt.'" Ciliick findet er nicht im Wiedergewinn der
biirgerkch-subjektiven Innerkchkeit, sondern in der radikalen EntauBerung
an die Dinge, in einer "Utopie der Ich-Auflosung und des trans-subjektiven
Erlebens".^'
Dieses Gliick setzt jedoch exterritoriale Improvisationsraume voraus,
in denen die entauBerte Wahrnehmung nicht umgehend wieder einer
disziplinatorischen Zurichtung unterworfen wird. Als ein solcher ,anderer
Raum' fungiert im letzten Kapitel des Romans die Stadt Marseille, in die
Ginster fiinf fahre nach Ende des Ersten Weltkrieges verschlagen wird."*-
Ginster, den Kracauer selbst einmal als einen "laudose[n] Anarchist[en]"
bezeichnet hat," erfahrt dort eine Freisetzung der Imagination, die sich als
literarischer Moglichkeitssinn und improvisatorisches Spiel mit sich selbst auf
seine ganze Lebenshaltung auswirkt: "GewiB saB er noch an seinem Platz,
aber zu gleicher Zeit war er ein Eselskarren, der Eisbomben enthielt; die
rotbraune Flache einer Markise; ein lachelnder Inder; das Damchen, das wie ein
Knallbonbon zwischen den Taxis bktzte." (G ZSl)^** Marseille bildet so den
utopischen Fluchtpunkt des Romans, an dem Ginster als wesenloses Subjekt
in einem reinen AuBen existieren kann, ohne disziplinierenden
Machtdispositiven unterworfen zu werden.''"' In diesem Sinne werden
heterotopische Raume, etwa das Hafenviertel von Marseille, fiir Ginster zu
Orten einer unbestimmten imaginiiren Bewegung, in der er sich "beinahe zu
Hause" (G 238) fiihlt. In den dezentralen und chaotischen Raumen abseits
der Zentren erfahrt er Momente eines euphorischen Gliicks, das an der
Begegnung mit nicht-funktionalen Raumen und Gegenstanden entfacht wird:
"so berauscht war er von den SchJitzen die ihn umgaben. Sie bestanden aus
Abfallen, Waschestiicken und Dreck." (G 234)
Die Bewegung eines Aufbruchs in imaginare Weiten osziUiert dabei
jedoch zwischen Melancholie und Euphoric - eine Struktur, die das
37
Abschlusskapitel des Romans insgesamt priigt: "Am SchitTssteg [...] befand
ich mich in einer Feme, zu der kein Schiff hintragt. Ein Mann verabschiedete
sich von einer Frau, die nicht einmal weinte - er war nicht mehr zu Hause, er
vvarnoch nicht unter\vegs,erwarunetTeichbar\veit fort." (G 233) Paradigmatisch
daiiir ist Ginsters Bordellbesuch, von dem er seiner zufallig wiedergetroffenen
Bekannten Frau van C. erziihlt. Diesen Besuch erfahrt Ginster als imaginiiren
Aufbruch in eine unbekannte Feme. Gleichzeitig jedoch iiberfallt ihn bei der
Prostituierten Emmi das BewuBtsein seiner existenzielJen Isolation und
Einsamkeit. Waren auch seine friiheren Hoffnungen auf einen utopischen
Aufbruch in ein imaginiires Nirgendwo von Erfahrungen der Negation gepragt
("Myslowitz gab es nicht", G 10)^", so wird die Spannung von imaginarer
Freiheit und melancholischem Eingedenken in sein existenzielles Scheitern
und seine Einsamkeit im Schlul5kapitel des Romans zum Programm, dessen
heterotopische Orte diese Doppelstruktur der Erfahrung verraumlichen:
"Warum ich das eben erzahle - weil ich in diesem armseiigen Hafenviertel
endlich auf eine \X'elt stoBe, die dem Zustand entspricht, in dem ich mich nach
dem Madchen befand." (G 237 f.) Die heterotopische Raumerfahrung im
SchluBkapitel des Romans realisiert somit keinen utopischen Zustand des
Gelingens, sondern ein fragiles Gliickserlebnis im Modus der Negativitat,
dem das eigene Scheitern immer schon eingeschrieben ist.^" Damit kehrt im
SchluBkapitel eine melancholische Tendenz wieder, die in Ginsters "Triibsinn"
(G 1 1) und "Trauer" (G 24) den Roman als ganzen strukturiert. Sie beruht auf
einer Entfremdungserfahrung, in der die maschinelle Verdinglichung des
rationalisierten Menschen nicht als Gliick der Entgrenzung, sondern als
schlechte Entsubjektivierung erfahren wird. Ginsters melancholische
Perspektive registriert daher das leere Vergehen der Zeit und persomfiziert es
in durch den Roman verstreuten allegorischen Figuren - exemplarisch in der
"schwarz gekleidete[n] Alte[n]" (G 241) aus dem SchluBkapitel, die mit der
"weiBe[n] Totenlandschaft ihres Gesichts" (ebd.) die Dynamik der Zeit in
einem ewigen X'erfall erstarren laBt.^^
Diese Spannung zwischen utopischer Spur und melancholischem
Dementi pragt zahlreiche Miniaturen Kracauers - besonders markant etu'a die
melancholischen Tableaus Der verbotene Blick (1925) und Erinnemng an eine
PariserStmfa (1930). In ihnen kommt die Ambivalenz der Melancholic zur
Sprache, die nicht zuletzt Walter Benjamin in seinem Tranerspiel-V,uc\\
herausgearbeitet hat und auch in den beiden Texten Kracauers zu erkennen ist.
Bekanntlich erscheint die Melancholic in den Trauerspielen des Barockzeitalters
aus Benjamins Sicht als ein Arrangement zerstorter Triimmer, die der sinnleere
FluB der Zeit zuriickgelassen hat. Zugleich enthalt die Melancholic fiir Benjamin
einen rettenden Impuls, da ihr allegorischer Blick die Triimmer gerade als
Isoliertes vor dem X'ergessen bewahrt: „ilire ausdauernde Versunkenheit nimmt
die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten."^'' Kracauers
38
literarische Miniaturen "Der verbotene Blick" und "Erinneningan eine Pariser
StraBe" bearbeiten diese Spannung zwischen Trauer und Rettung als eine
melancholische Dialektik des Erwachens. Sie basieren auf einer Selbst-
Entgrenzung des beobachtenden Subjekts an die Dingwelt und einem
mimetischen Verhalten, das sich an die Korrespondenzen der Gegenstande
entJiuBert. Gleichwohl wird diese transgressive Bewegung nicht als
Selbstbegegnung in der W'esenlosigkeit, sondern als .-Vlpdruckvision eines
geschichtlichen Zerfalls erfahren: Die versuchte Rettung der Dinge durch das
melancholische Eingedenken scheitert unausweichlich/' "Der verbotene Blick"
entwirft dabei eine melancholische Bilderwelt, in der
"Jahrmarktsphotographien" (A'.l, 296), ein "anatomisches Praparat" (ebd.)
und ein "unformiges Gehause" (\\ 1 , 29"") in ihrer "Leblosigkeit" (\'. 1 , 296) zu
einem allegorischen Tableau arrangiert werden/' Das unformige Gehause
erweist sich im \'erlauf des DenkbOdes als ein mechanisches Orchestrion
(Pianella), das nach Inbetriebnahme eine "glaserne Phantasmagoric" (\U, 299)
eines imaginaren Tanzsaals als mechanische Traumwelt erscheinen lasst. "Der
verbotene Blick" entfaltet daraufliin die Dvnamik eines Untergehens in und
erneuten Erwachens aus dieser Phantasmagorie. Dieses Erwachen wird als
eine dialektische Bewegung hin zur Lesbarkeit dargestellt: In ihm wird die
"glaserne Phantasmagorie" als „Sinnbild" (ebd.) der Reklamewelten einsichtig,
die im Schein permanenter \'eranderungen doch nur das leere \ ergehen der
Zeit als ewige W'iederkehr des Gleichen wiederholen: "Alles Neue ist Trug,
jedes Wunder ein Reflex, erzeugt durch die Spiegel, die das gleiche stets spiegeln."
(ebd.) Es entsteht ein melancholisches Bild der verrinnenden Zeit: "Die
gefraBige, nichtsnutzige Zeit entbloBt sich dir, und du schauderst vor ihrem
Ergebnis: dem Gebrauch der erborgten Moden und Embleme, dem
Larventanz durch die jahrtausende." (ebd.) Diese Erkenntnis wird jedoch
von Beginn an ihrerseits als "Phantom" (\'.l, 298) in einem Schwellenbereich
von Traum und Erwachen dargestellt: "Eben noch zauberisch verstrickt in das
unachtsame Gewoge, erwachst du urplotzlich aus dem Traum; aber du erwachst
nicht zur W'irklichkeit, sondern eine Hiille reiBt, und jetzt erst, genau jetzt
erscheint das Phantom." (ebd.) Auf dieser SchweUe begegnet der Melancholiker
den "verstaubten Mechanismen" (ebd.) von Gegenstiinden, die im
Verschwinden begritfen sind, aber doch als Triimmer weiter existieren und in
dieser Zwischcnposition eine damonische W'irkung auf ihn ausi^iben: "\X'ie
du selber jenseits des Gaukelbereichs der Triiume umherirrst, ohne dem
wirklichen Dasein schon anzugehoren, so befinden auch sie sich unerlost an
einem Zwischenorte, gestorben zweifellos, aber nicht durchaus tot [...]" (ebd.).
Sein Erwachen Rihrt den j\llegoriker folglich nicht aus dem histcmschen Bereich
der Unwirklichkeit in den utopischen Raum eines "wirklichen Daseins" liinaus.
Sie fiihrt ihn einzig zum BewuBtsein der herrschenden Entfremdung und zur
melanchoLischen Erkenntnis, daB ein Ausweg aus dem leeren FluB der Zeit,
39
der die bestehende Sinnferne bezeichnet, nicht moglich ist. In „Der verbotene
Blick" wird die Begegnung mit den Dingen somit nicht als Traum der
Selbstentgrenzung, sondern als allegorische Frstarrung erfahren, in der das
eriebende Subjekt sich als Objekt eines damonischen Mascliinenblicks erfahrt,
der ihm seine Menschlichkeit nimmt."*'
Dieses Gefiihl einer "schreckliche|n] Gewalt" (\{2, 245) anonymer
Beobachtung priigt auch das Denkbild „Hrinnerung an eine Pariser StraBc"."*^
Mit deutlichem motivischem Bezug auf Durers Melencolia I sitzt ein junger
Mann in einem von auBen einsehbaren Zimmer inmitten "angewurzelte[r]"
(\^.2, 246) Gegenstiinde, die den beobachtenden Passanten anstarren, und
bildet die Personifikadon einer "erstarrten Unruhe"^^ als Katastrophe in
Permanenz: "Nichts ist fur ihn vorhanden, ganz allein sitzt er auf seinem
Stiihlchen im Leeren.. Er hat Angst, die Angst ist es, die ihn so lahmt ..."
(ebd.) Dieses melancholische Bild dementiert insofern einen utopischen Impuls
des Denkbildes, als es den „StraBenrausch" (V.2, 243) des Passanten ebenso
jah unterbricht wie dessen Reflexionen zur Hieroglyphen-Entzifferung der
urbanen Oberflachen."*^ Es bewirkt selbst ein dialektisches Erwachen, das jedoch
nicht in befreiender Erlosung sondern in der Selbsterkenntnis resultiert, daB
der vom allegorischen Bild beriihrte Passant selbst eine melancholische Existenz
fiihrt, die nur die Kehrseite seines manischen StraBenrausches darstellt.
Gleichwohl endet das Denkbild nicht in einer dystopischen Vision
katastrophischen Grauens, sondern setzt das melancholische Bild in einen
Horizont der eingedenkenden Rettung des Vergangenen, der Erwartung und
Sinn-Dementi erneut im Pariser "Schimmer des Vergangenen" (V.2, 247)
oszLUieren liisst: "Wahrend man noch durch die leibhaftigen StraBen wandelt,
sind sie bereits entfernt wie Erinnerungen, in denen sich die Wirklichkeit mit
dem Traum von ihr mischt und AbfJille und Sternbilder sich treffen." (V.2,
247f)
Zusammenfassend liisst sich daher sagen: Kracauers heterotopische
Raume und seine literarischen Anti-Subjekte befinden sich in einem
ambivalenten Spannungsfeld zwischen utopischem Horizont unci dessen
melancholischem Dementi. Seme Asthetik der Negativitiit kann - und will —
allenfalls temporiire Spuren und fragile Andeutungen einer ,anderen RationaUtiit'
in der transgressiven Vernetzung von Subjekt und Ding imaginieren. Kracauers
phanomenologische Obertliichenlektiiren lassen sich nicht zur positiven Utopie
strecken - und auch Ginster, der literarische Anti-I leld, ist immer nur beinabe
zu Hause.
40
Endnotes
' Der Begriff der „modernist miniature" ist neuerdings von Andreas Huyssen gepragt
worden, um die konjiinkturstarken KJeinformen feuilletonistischen Schreibens in den
zwanziger Jahren auf einen gemeinsamen Begriff zu bringen und als spezifisch urbane
Reflexions- und Schreibweisen kenntlich zu machen. Siehe dazu Andreas Huyssen,
"Modernist Miniatures: Literary Snapshots of Urban Spaces," PMLA 122/1 (2007): 27-42.
Zur Geschichte der ,kleinen Form' und ihrer Poetologie besonders bei Hessei, Benjamin
und Kxacauer siehe Eckhardt Kohn, StraBenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch
zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933 (Berlin: Das Arsenal, 1989). Als Leitbegriff
poetologischer Selbstreflexion dient die Bezeichnung „kleine Form" erstmals in Alfred
Polgars Vorwort zu seinem Orchester von oben (Berlin: Rowohlt, 1926). Ernst Bloch
reflektiert die radikale Neubeit der Miniatur, die sich keinem etablierten literarischen
Genre zurechnen lasst und gerade dadurch eine experimentelle Schreibhaltung darstellt,
in einem Brief an Kracauer vom 6.6.1926: „Hatte man nur einen Namen fiir die neue
Form, die keine ist, und die vor allem die Gewalt ihres Gelingens daran hat, keine zu
bleiben [...]." Siehe Ernst Bloch, Briefe 1903-1975, Erster Band, ed. Inka Mulder-Bach
(Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985) 278. Vgl. auch Dirk Oschmann, "Kracauers
Herausforderung der Phanomenologie. Vom Essay zur ,Arbeit im Material'," Essayismus
um 1900, ed. Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann (Heidelberg: Winter, 2006) 201.
^ Zur Bedeutung von Schwellen und Ubergangen fiir Kracauers Raumwahrnehmung
siehe auch Inka Miilder Bach, „History as Autobiography:
The Last Things Before the Last," New German Critique 54 (1991): 146
' Vgl. Michel Foucault, „Andere Raume," Aisthesis: Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Asthetik, ed. Karlheinz Barck (Leipzig: Reclam, 1993): 34-46.
■* Siegfried Kracauer, Schriften Band V.I, ed. Inka Miilder-Bach (Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 1990) 205 [die Schriften werden im Folgenden im Haupttext in Klammern
und mit der Angabe "Abteilung.Band, Seite" zitiert.]
' Vgl. Anthony Vidler, "Agoraphobia: Spatial Estrangement in Georg Simmel and Siegfried
Kracauer," New German Critique 54 (1991): 31-45.
'' V'gl. Tilmann HeB, "Zur Architektur in Kxacauers Stadtbildern (mit einem Exkurs zu Le
Corbusier)," Siegfried Kracauer. Zum VC'erk des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten,
Filmwissenschaftlers und Soziologen, ed. Andreas Volk (Ziirich: Seismo, 1996) 111-29;
Helmut Stalder, "Hieroglyphen-Entzifferung und Traumdeutung der GroBstadt. Zur
Darstellungsmethode in den ,Stadtebildern' Siegfried Kracauers," Siegfried Kracauer.
Zum W'erk des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers und
Soziologen, ed. Andreas Volk (Zurich: Seismo, 1996) 150-52.
^ Zum „Karree" als Angst-Raum siehe Heinz Briiggemann,
Das andere Fenster: Einblicke in Hauser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer
urbanen Wahrnehmungsform (Frankfurt am Main: Fischer, 1989) 267-294.
^ Der panoptische Eindruck des Platzes wird durch die Bezeichnung seines realen
\'orbilds verstarkt: Anhand des Briefwechsels mit Benjamin 1927 wird deutlich, daB es
sich um die „Place de l'Obser\'ance" in Marseille handelt, auf die Kracauer und Benjamin
bei einem gemeinsamen Besuch gestoBen waren. Vgl. den Brief von Benjamin an
Kracauer vom 5. Juni 1927, in: Walter Benjamin,
Briefe an Siegfried Kracauer: mit vier Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin
, ed. Rolf Tiedemann und Henri Lonitz (Marbach: Dt.
Schillergesellschaft, 1987) 44; sowie Helmut Stalder,
Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der , Frankfurter Zeitung' 1921-1933
(\X iirzburg: Kcinigshausen und Neumann, 2003) 255.
'' Siehe Huyssen 34.
'" Die Raumkrise der urbanen Zentren verweist somit fiir Kracauer auf die Krise der
41
Rationalisierung, die er in seinem geschichtsphilosophischen Essay „Das Ornament der
Masse" (1927) der Moderne iiberhaupt attestiert.
Siehe zu diesem kulturtheoretischen Hintergrund besonders Inka Miilder Bach, "Der
Umschlag der Negativitat. Zur Verschrankung von Phanomenologie,
Geschichtsphiiosophie und Filmasthetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der
.Oberflache", in: DVjS 61 (1987): 359-373.
" Die Spanniing zwischen urbanem Ordnungsraum und Heterotopie bei Kracauer (und
Heine, Baudelaire und Salten) thematisiert Dirk Niefanger, „Orte im Abseits. Heterotopien
im GroBstadt Feuilleton Siegfried Kracauers (und der „Klassischen Moderne"),
Unvollstandig, krank und halb? Zur Archiiologie moderner Identitat, ed. Christoph
Brecht und Wolfgang Fink (Bielefeld: Aisthesis, 1996) 175-93.
'^ Vgl. Stalder, Siegfried Kracauer 266-271.
" Zur biographischen Bedeutung Marseilles fiir Kracauer siehe Klaus Michael, "Vor
dem Cafe. VC'alter Benjamin und Siegfried Kracauer in Marseille,"
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin, ed.
Michael Opitz und Erdmut Wizisla (Leipzig: Reclam, 1992) 203-16.
''' Vg. Briiggemann 282.
'^ Vgl. Martin Jay, "The Extraterritorial Eife of Siegfried Kracauer," Permanent Exiles.
Essays in the Intellectual Migration from Germany to America (New York: Columbia UP,
1986) 152-97.
'^ Vgl. Manuela Giinter, Anatomie des Anti-Subjckts. Zur Subversion autobiographischen
Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Flinstein (VCiirzburg:
Konigshausen&Neumann, 1996) 109.
" Zum Bezug Kracauers auf die semantische C^pposition von Zentrum und Peripherie,
die in den zwanziger Jahren an Bedeutung gewinnt, siehe Inka Mulder Bach,
„Schlupfl6cher. Die Diskontinuitat des Kontinuierlichen im Werk Siegfried Kracauers,"
Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen, ed. Michael Kessler und Thomas Y. Levin
(Tubingen: Stauffenburg, 1990) 259.
'* Zu Kracauers Sicht auf Paris als heterotopischen Ertahrungsraum siehe Miilder-Bach,
„History as Autobiography" 246 47.
" So die priignante Formulierung Inka Mulder Bachs in Siegfried Kracauer
— Grenzganger zwischen Theorie und Literatur. Seine triihen Schritten 1913-1933 (Stuttgart:
Metzler, 1985) 140. Vgl. auch Gunter 106.
^^ Zu den Beziigen des Ginster-Romans auf zeitgemissische Denkfiguren der ,Ichlosigkeit'
siehe Jorg Lau, ,,'Ginsterismus'. Komik und Ichlosigkeit. Uber filmische Komik in
Siegfried Kracauers erstem Roman ,Ginster'," Siegfried Kracauer. Zum Werk des
Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers und Soziologen, ed.
Andreas Volk (Zurich: Seismo, 1996) 13 42; Miilder-Bach, Siegfried Ivracauer 141.
^' Mit seiner geschichtsphilosophisch gefarbten Deutung der Figur Charlies steht
Kracauer im Kontext jener Chaplin-Begeisterung, die in den zwanziger Jahren nicht nur
das Internationale Publikum, sondern auch die intellektuelle Offentlichkeit I'uropas
von Bela Balazs iiber Yvan GoU bis bin zu Sergej Eisenstein in Bann gehalten hat. Zu
diesem Kontext siehe Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, ed. Dorothee Kimmich
(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003)
^ Walter Benjamin, "Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages,"
Gesammelte Schriften Band II. 2, ed. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhiiuser
(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977) 415.
" Mit dieser utopischen Ausrichtung des Marchens steht Kracauer unter den Autoren
der klassischen Moderne nicht allein. Deutliche Beziige bestehen etwa zu Ernst Blochs
Asthetik des Vor-Scheins, die im Miirchen subjektive Impulse als utopische Triiume
entziffert. Siehe dazu exemplarisch das Kapitel "t'ber Marchen, Kolportage und Sage,"
Erbschaft dieser Zeit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19'73) 168-86.
42
''' W'ie deutlich Kracauer seine eigene Biographic wie seine existenzielie Haltung im
Roman iibersetzt findet, zeigt sein Brief an Ernst Bloch vom 17. Januar 1928: „Sie
werden es wissen - davon bin ich iiberzeugt — , dafi ich in der ganzen Arbeit nichts
anderes getan habe, als mich selbst genau wiederzugeben. Jedes Faktum stimmt." Siehe
Ernst Bloch, Briefe 1903-1975, 295. Vgl Giinter 73.
'' Siegfried Kracauer: Ginsler. Von ihm selbst geschrieben. Schriften Band 7, ed. Karsten \\ iite
(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973) 22. [im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle "G"]
^^ Vgl. Giinter 64.
^' Miilder-Bach, Sunned Kracauer 131.
2« Vgl. GOnter 69.
^^ Vgl. Miilder-Bach, Siegfried Kracauer 140.
^' Vgl. Giinter, Anatonne des Anti-Subjekts 107.
" Miilder Bach, Siegfned Kracauer 142.
'^ Zur Marseille als utopischem Fluchtpunkt des Romans siehe Miilder-Bach, Siegfried
Kracauer 142-43.
" Siehe den Brief an Bloch vom 5. Januar 1928 in Bneje 1903-1975, 289. \'gl. auch Giinter
108.
~" \gl. Giinter 107.
'5 Vgl. Giinter 83.
'" Vgl. Giinter 84.
- So hat Kracauer in seinem Brief an Bloch vom 5. )anuar 1928 selbst die Doppelpoligkeit
des Romanendes hervorgehoben: „Dieses ganze genau ausgedachte SchluBkapitel soil
hell, leicht und schrecklich strahlen. Kein Pazifismus, kein Kommunismus, sondern die
gestaltete Apologie der dissoziierten Welt im BewuBtsein des Tods." (Bloch, Biiefe 1903-
1975, 289-90)
'* Vgl. Giinter 96-103. Zur Funktion der .\llegorie im Ginster siehe auch Dirk Oschmann,
Aus^ug aus der hinerlicbkeit. Das literarische W'erk Sie^ried Kracauers (Heidelberg: Winter, 1999)
225-31.
^' Walter Benjamin, XJrspnmg des deutscheti Trauerspiels, Gesammelle Schriften Band I.l, ed. Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhiiuser (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991) 334.
*' \'gl. Briiggemann 276.
■" Vgl. Briiggemann 277.
^' Vgl. Briiggemann 278.
"^ Vgl. Stalder, Siegfried Kracauer, 246-48.
^ Walter Benjamin: Zentralpark, Gesammelte Schriften Band 1/2, ed. Rolf Tiedemann und
Hermann Schvveppenhauser (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991) 666.
"' Auf Kracauers phanomenologische Ausdeutung der GroBstadt und ihrer
Oberflachenerscheinungen, die seine Poetik des Stadtbilds durchzieht, kann in diesem
Zusammenhang leider nicht ausfiihrlicher eingegangen werden. Siehe zu dieser Thematik
exemplarisch die bereits zitierten Aufsatze von Oschmann und Stalder.
Literatur
Benjamin, Walter. "Franz Kafka. Zur zehnten W'iederkehr seine.s Todestages."
Gesawwelfe Schriften V>'^nd II. 2. Rd. Rolf Tiedemann und Hermann
Schweppenhauser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. 409-38.
— . Briefe an Sie^ried Knuaner: mit tier hriefen von Sie^ried Kracauer an
Walter Benjamin. Ed. Rolf Tiedemann und Henri Lonitz. Marbach:
43
Dt. Scliinergesellschaft, 1987.
Bloch, Ernst. "Uber Miirchen, Kolportage und Sage." Erbscbaft dieser Zeit.
Frankfurt am Mam: Suhrkamp, 1973. 168-86.
— . Briefe 1903-1975, Erster Band. Ed. Inka Mulder-Bach. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 1985.
Bruggemann, Heinz. Das andere Fenster: Einhlkke in Hdnser utid Memcheii.
Zur LJteraturgeschichte eitier iirbanen \\"ahniehmungsform. Frankfurt am
Main: Fischer, 1989.
Charlie Chaplin. FJnelkone derModer/ie. Ed. Dorothee Kimmich. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 2003.
Foucault, Michel. „Andere Raume." Aisthesis: Wahrnehimmg heiite oder
Perspektiven einer anderen Asthetik. Ed. Karlheinz Barck. Leipzig:
Reclam, 1993. 34-46.
Giinter, Manuela. Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion
autobiographischen Schreibens bei Sie^ried Kracauer, W^alter Benjamin iind
Carl Einstein. Wurzburg: Konigshausen&Neumann, 1996.
I luyssen, Andreas. "Modernist Miniatures: Literar\ Snapshots of Urban
Spaces." PMl^A MUX (2007): 27-42.
]ay, Martin. "The Extraterritorial Life of Siegfried Kracauer." Perwanent Exiles.
Essays in the Intellectual Migation from Germany to America. New
York: Columbia UP, 1986. 152-197.
Kohn, Eckhardt. StraJ^enrausch. Flanerie und kleine Form, l-^ersuch ■:iur
IJteraturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin: Das Arsenal, 1989.
Kracauer, Siegfried. Ginster. Sch/iftenBand 7. Ed. Karsten W'itte. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, 1973.
— .Aufsdt^e 1915-1926. Schriften Band 5. Ed. Inka Mulder-Bach, Frankfurt
am Main: Suhrkamp, 1990.
— . Kleine Schriften :(itm Film. \Ferke Band 6. Ed. Inka Miilder-Bach. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, 2004.
44
Micliacl, Klaus. "X'or dcm Catc. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer in
Marseille." Aber ein Sturm webf vom Paradiese her. Texte ^ Walter
Betijawin. Ed. Michael Opitz und Erdmut W'izisla. Leipzig: Reclam,
1992.203-216.
Lau, Jorg. ,,'Ginsterismus'. Komik und Ichlosigkeit. Ober filmische Komik in
Siegfried Kracauers erstem Roman ,Ginster'." S leaned Kracauer.
Zum Werk des Komanders, Feuilletonisten, Architekten,
Yilmn'issenschaftlers mid So:^ologen. Ed. Andreas \'olk. Zurich:
Seismo, 1996. 13-42.
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46
Ernst Jiinger and Ishiwara Kanji:
y\ Comparative Examination of the Concept of Total
Mobilisation for Germany and Japan
Andrew Mills
This essay undertakes a comparative examination of the concept of total
mobilization in Germany and Japan during the 1930s and 1940s through the
careers and thought of the military officers Ernst Jiinger and Ishiwara Kanji.
Important conceptual similarities and differences are identified in the process
of comparing the two men's theories of total mobilization, and the utter
demise of the total mobiiizadon project in each country' is addressed in an
effort to ascertain whether or not Jiinger's and Ishiwara 's goals were indeed
realized. This paper stretches beyond a reading of the two men's military
biographies in order to provide a theoretical examination of two particular
concepts of total mobilization, and their possible consequences for German
and Japanese domesdc and foreign policy. The essay is divided into three
sections, the first of which undertakes a biographical comparison of Ishiwara
and jiinger before leading into a literan'-theoretical analysis of their articulations
of total mobilization. Finally, the theoretical weaknesses of each theor}- will be
discussed, and linked to the authors' views on the relationship between total
mobilization and liberal democracy.
Ernst Jiinger and Ishiwara Kanji: A Comparative Biography
The militar\- and intellectual careers of Ernst jiinger and Ishiwara Kanji are
certainly similar enough in achievement and scope to warrant comparative
analysis. Each man enjoyed a high-profile reputation in the 1930s and 1940s as
a successful and dynamic militan' officer, liigWy accomplished in military seryice
and intellectual endeavor. Each man was an accomplished member of the
officer corps of his nation's army and upheld a commitment to fundamentally
politically conservative ideals that assumed a decidedly anti-liberal, anti-
democratic stance. The impact of the First World War as humankind's initial
encounter with the all-encompassing destructiveness of industrialized,
macliinated combat provided Ernst jiinger and Ishiwara Kanji with die essential
inspiration for the theories they would both later develop regarding 'total
mobilization' as a preparation for 'total war'. The First World War was clearly
more of a direct experience for jiinger (1895-1998), who fought in each of the
war's four years, beginning in 1914 as one of the thousands of young
47
enthusiasts who took the advanced school-leaving examinations {Notuhitut)
so as to be able to volunteer for the army out of grammar school.
Jiinger's combat experience started on the western front in December 1 9 1 4, at
which point Jiinger began an almost immediate, steady ascension through the
ranks that was to be punctuated by numerous battle wounds and near-death
experiences. By the end of the first year of the war, Jiinger had already been
badly wounded and evacuated from the front and subsequently promoted to
lieutenant. By war's end, )unger had accumulated the German army's highest
honors, including the Iron Cross, the Knight's Cross, and the Pour le Merite, as
well as the post of company commander in his regiment (Noack 40, 42).
When the First World War ended, jiinger was residing in a military hospital in
Germany, recovering from a gunshot wound through his lung — the last of
seven grave war wounds (Noack 42).
jiinger remained as an officer in the German anny until 1923, during
which time he was active in revising the Keichwehr's regulation and training
manuals (Nevin 77). During this early Weimar period, jiinger began to write
for publication. His first books dealt with the question of processing the war
experience on a personal level, and can be seen as attempting to account for the
war in different ways by means of various genres. An account of the war based
on Jiinger's own voluminous diaries kept in the trenches is his most famous
book (The Storm of Steel, 1 920), while a non-diar\' work provides an essendalist
interpretation of the war as a masculine, inner experience (IVaras InnerExpeiieiice,
1922). To round out the early collection of jiinger's work on war, the 1923
short novel .SVo/V/'/ represents the respected officer's first attempt at tiction, in
which the narrative's three main figures — ;ill of whom are vanously accentuated
composites of Jiinger himself — are killed in a final gun battle while resisting
capture.
After leaving the army in 1923, jiinger began a period of flirtation
with diverse right-wing political parries, including the Narional Socialists, and
entered a time period of prolific polirical essay-writing for a large number of
conservarive-nationalist publications, including such journals ■a.s Arminius, Die
Standatie, DerStiirwer, Der rolkiscbe Beobacbter and Der \''or>uarsch (Nevin 97-98,
101). During this period of jiinger's writing he appears to have embraced a
radical, revolutionary- nationalism that thoroughly rejected socialism and
communism — as well as any norion of the return of the emperor — while
embracing the fascist-oriented Fiihrerpm^ip in an attempt to isolate and articulate
the most salient and promising path for German renewal. In this embrace ot
the politically radiciil right wing, Jiinger began to politicize liis already published
war experience books, recasting them in a radical, nationalist framework.
Simultaneously, Jiinger refrained from committing to any one political party
in the form of formal membership or obligation, and rejected Adolf 1 litlcr's
offer of a party seat in the Reichstag in 1927 (Nevin 99). Near the end of the
48
\X eimar era, Ernst [iinger is reported to have been thoroughly disillusioned
with parliamentar}' part}- politics. Though 1932 finds the author officially
unassociated with any political party and disappointed in the futility of his
previous calls for the German ¥rontsoldateu to revolutionize Germany, Jiinger
had anything but given up on developing his view of "total mobilization" —
what he found to be the key to Germany's national resurgence, jiinger's total
mobilization concept is brought to the forefront of his thought in the 1936
essay "Die totale Mobilmachung" ("Total Mobilization") and in the 1932
book Der Arbeiter (The Worker).
Ishiwara Kanji (1 889-1 949) entered the Japanese Militar)- Academy
in 190^, at approximately the same age that Ernst Jiinger first experienced
combat in the First World War. Though Ishiwara was not an enlisted man, his
military- career is also characterized by an extraordinan," degree of drama and
rapid rise up the military' ranks as a result of natural talent and personal
ambition. First ser\ing as a second lieutenant and infantr\- platoon commander
in rural Tohoku and the Korean peninsula, Ishiwara graduated from the
Army Staff College eight years later as the second-ranked graduate in his class,
placing him on track to achieving the rank of general at the age of twent}--nine
(Peattie 21). After an assignment to an army garrison in China, a lectureship at
the Army Staff College, and three years of %\nd\ in Germany, Ishiwara achieved
the rank of major at age thirt}--six, and was assigned to the facult}' of the Army
Staff College as an instructor in militar}- histor}- (22). At this juncture in 1 926 —
while Ernst jiinger was retiring from official work as a result of his considerable
book royalties and supplemental Army pension — Ishiwara began to articulate
his own theories about modern warfare through a series of lectures at the
Army Staff College (49). These lectures were delivered within the framework
of a number of courses taught by Ishiwara on the histon* of European war,
in addition to essays and lectures written by Ishiwara afterwards and delivered
to army staff officers in Manchuria and elsew-here. Ishiwara Kanji's work at
this time reveals a steady development of the "complex structure of historical,
mystical, strategic, and political ideas" dealing with the "function and
development of war" and "the relation of war and human histon,'" (51-52).
These were to gradually form Ishiwara 's theor)- of "the Final War".
When Ishiwara 's three-year appointment to the Army Staff College
was complete, he sought and received a transfer to the Kwantung Army staff
in Manchuria. There Ishiwara's theories on war, expressed in such earlier essays
as "japan's Present and Future National Defense" from 1927, had found a
receptive audience among young officers of the Kwantung Army, who were
frustrated by the perceived weakness of Japanese foreign policy to counteract
the eroding effects of "imported" ideologies such as liberalism, democracy,
Marxism, and pacifism on the military's abilit}- to defend japan (53-54, 93).
Once in Manchuria, Ishiwara tound much opportunity not only to enhance
49
his theoretical ideas about warfare and Japanese national securit); but to test
them in the field of militan,' operations planning in conjunction with seasoned,
sympathetic colleagues. This situation quickly led to Ishiwara throwing his
considerable strategic planning and organizational skills behind the view that
Manchuria must be fully occupied and administered b\' the Japanese army. The
subsequent secret operational planning for this venture was to a great extent
influenced by Ishiwara, who enjoyed the support of Kwantung Army staff
officers (105).
The planning reached its zenith in the creafion of what became
known as the 1931 "Mukden Incident", a veritable conspiracy that simulated a
Chinese attack on the Japanese-administered South Manchuria Railway, which
in turn served as a pretext for using the Kwantung Army to seize and occupy
large areas of southern and central Manchuria while circumventing — even
ignoring — -Japanese parliamentary government protests (1 13, 122). As Mark
Peattie writes in his work on the career and thought of Ishiwara Kanji, in the
months following the Mukden Incident it was apparendy Ishiwara, "aided by
a first-rate and fiercely loyal staff" who was the primary inspirafion and "driving
force" behind the acdon (122). Soon, hosdlides between Japanese and Chinese
troops spread to include Japanese attacks on other Manchurian cities, as well as
the involvement of the Japanese Army stadoned in Korea. Ishiwara was
located at the heart of these developments, which had a decisive influence
upon the fate of the Japanese nation. Ishiwara's actions also had a profound
effect upon other highly significant events, such as the rebellion of the \ bung
Officers in February 1936, during which Ishiwara is described by Peattie as
being the "most effecdve" of all militar\- officers in suppressing the rebellion,
despite his own pardcular sympathies for a "Showa Restoration" and the
overthrow of the parliamentan-democratic government (238).
Though this comparative bi(jgraphv between Ernst Jiinger and
Ishiwara Kanji must necessarily remain abbreviated, it is clear that both men
acquired firsthand knowledge and experience of the militaiy situations their
respective countries faced in the first half of the twentieth century The intellects
of both Jiinger and Ishiwara were weU-respected and formally in demand by
their respective military institutions. Today, Ishiwara and Jiinger enjoy a
fonnidable reputation for not being describable by merely one field of endeavor,
denoted by such designations as "writer" or "officer". Ishiwara Kanji was at
once miUtar)' historian, staff officer, strategist, thinker, plotter, and Pan-Asianist
(vii). Ernst Jiinger can be similarly described as foot soldier and combat officer,
tactical theoretician, entomologist, successful novelist, and voluminous writer
of various philosophical tracts and publications.
A decisive aspect of the biographies of ) Linger and Ishiwara for the
purpose of this project, however, is their theoretical and practical explorations
of the concept 'total mobilization', as influenced by the notion of 'total war'.
50
Both of these terms are products of the modern era of industrialization,
which suddenly allowed for drastic increases in the numbers and destructive
power of weaponry, which in turn increased the need for large armies and the
subsequent necessit}- of a nation's economy and societ}' to support the material
demands of war. 'Total mobilization' commonly refers to a modern state's
attempt to mobilize and rationalize all available natural as well as human
resources in order to focus upon "the single end of conducdng war in the
most efficient, functional manner" (Yamanouchi 3-4). 'Total war' naturally
walks hand-in-hand with the notion of complete industrial and social
mobilization, and as a result was commonly understood in terms similar to
those used by the German general Erich Ludendorff, who defined ''dertotale
Kt7e£ as no longer "a matter of the fighdng forces" as in times past, but
direcdy affecting "the life and soul of each member of the J'^o/k that is waging
war" (Ludendorff 5, my translation). While Ishiwara Kanji was developing
and disseminating his theoretical understanding of total mobilization via his
theor}- of the "Final War" from the mid-1 920s into the mid-1930s and be3'ond,
Ernst Jiinger was espousing his own concept of total mobilization for
Germany with the works "Total Mobilization" and The Worker.
Comparative Total Mobilization: Reading Ishiwara Kanji and Ernst
Jiinger
To var)ing degrees, bodi Isliiwara Kanji and Ernst jiinger based their theoretical
work on the disastrous German experience of the First Wbrld \X ar. The lessons
each man appears to have garnered from the war differ in interesting ways, for
Ishiwara 's and J linger 's understanding of 'total mobilization' is a reaction to
the perceived predicament of each writer's nation. In addition, Ishiwara and
Jiinger sought to provide the most effective theoretical carrier for their ideas,
with the result being in both cases the seemingly contradictor)- mixture of
rational-scientific elements on the one hand, and religious or near-mystical
concepts on the other.
Beginning with the formidable body of thought produced by
Ishiwara Kanji, it is important to note that Ishiwara 's approach to the topics
that occupied his career — military history, the theor}' of modern warfare, and
the future security of Japan — is woven together from four major theories he
developed and rigorously pursued until the end of his life: the National
Defense State, a Showa Restoration, the notion of the Final War, and the East
Asian League (Peattie 365). I would like to focus upon Ishiwara's concept of
"Final War", for not only is this theory considered by scholars to be the most
original of Ishiwara's theoretical pursuits, it also gives us the most direct access
to the idea of Japan's need for total mobilization.
As Peattie points out in his investigation of Ishiwara's early military
career, most Japanese military observers came to the conclusion that Germany
51
had not lost the First World War as a result of military failure, but as a
consequence of lacking the massive production capacit}- necessar}- to prevail in
protracted, industrialized warfare (12-13). Ishiwara Kanji was a part of the
"new Japanese militar\- elite" who became familiar with the latest in European
militan,- doctrine through study tours in Europe that lasted multiple years (1 8-
19). During his three-j^ear stay in Germany, Ishiwara utilized the information
he gathered from contemporan- German debates on militan,' doctrine to inspire
his own work on japan's strategic situation in East Asia. From this early work
emerges a theory of "Final War" which predicts a cataclysmic armed conflict
between Japan and the Western colonial powers. This war is precipitated by a
Japanese challenge to Western hegemony in Asia for reasons of securing vital
natural resources. In Ishiwara's theory, the Japanese challenge to the United
States dominance of Asia was considered essential to Japan's survival in a
modern industrial world, in which Japan was floundering in its efforts to
achieve domestic self-sufficiencv due to a chnjnic lack of access to raw materials,
problems of over-population, and high unemployment.
What made "Final War" inevitable in Ishiwara's mind was the thought
that the series of aggressive measures which Japan needed to carry out in order
to gain access to natural resources — the acquisition of territon' in East Asia,
most prevalently at the expense of China — were the same steps that would
most Likelv lead Japan to war with the Western colonial powers. Thus the
measured, scientific and rational notion of 'total mobilization' enters Ishiwara's
theon,-: in order for japan to have a chance at pre\ailing in a total industrial war
against Western powers, it would have to consolidate and mobilize the
resources of the East Asian continent in such a harmonious and etficient
fashion as to effectivelv counter the industrial weight of the United States. The
admittedly complicated and intricate operations necessar}- to earn,- out such a
plan would be directed by ajapanese "National Defense State" that would be
the moral anchor and spiritual guide of the "East Asian League"; that is, an
Asian political and economic union that would overthrow Western colonial
oppression through armed struggle (317, 320). Finally, Ishiwara's understanding
of a "Showa Restoration" included taking a "basic framework for domestic
reform in Japan and stretch[ingj it to include the reform of East Asia" —
making it an "Asian restoration, bringing together all Asian races" (319). These
three ideas fall into line behind the flagship idea of the Final War, and only
these concepts working in conjunction with one another could allow the
inevitable, prolonged industrial war against the West to be won by Japan.
As it has been described thus far, the Ishiwarian theory of Final War,
like each of the other three theoretical pursuits that made up Ishiwara's life's
work, differentiates itself little from the professional opinion and personal
imaginations of many young Japanese officers who had traversed the same
militar}' training and educational landscape. In almost precisely the same time
52
period, for example, the general army staff member Okawa Shumei was
theorizing about the inentabilit)- of a cataclysmic world war beUveen the United
States and Japan (Chang 27). It is Ishiwara's linking of his own highly respected
military analysis to a particular Japanese religious tradition — Nichiren
Buddhism — that makes Ishiwara's theoretization unique (Peattie 52). Whereas
without its religious component Ishiwara's Final War theory merely outlines
the contours of a geopolitical economic struggle between two industrialized
nations with vital interests in the Pacific, the Nichiren addition makes the
Japanese/American clash into an apocal}ptic conflict in accordance with divine
will (57). The ensuing struggle would be a part of the great natural tide of
human civilization and, after the vanquishing of the United States, would
result in a synthesis of human ideals that, in Ishiwara's view, would be based
ultimately upon the Japanese kokutai, or 'national essence'. In this sense the
Japanese militar}' victor}' would be a victor)' for greater Asia, indeed the world,
as all would eventually become united under a harmonious spiritual hegemony
of the Japanese Emperor and nation.
Nichiren Buddhism — based upon the Japanese Buddhist priest
Nichiren's doctrines centered around Shakyamuni's final discourse before he
entered into Nirvana (38-39) — proved to be the most suitable religion for
Ishiwara in terms of how well it appeared to mesh with his own reflections
upon Japan's destiny. Lacking a strong interest in religious commitment on a
personal spiritual level, Ishiwara first rejected a private adherence to Christianit)^,
then discarded tradidonal Shinto as, in Mark Peatde's words, "not sufficiently
dynamic" enough for the troubled times of the Taisho democracy (38). Ishiwara
sought a 'Japanese' spiritualism that would allow itself to be integrated with
sentiments of Japanese patriotism that could in turn be marshaled to strengthen
the nation's own national values. In his initial mining of Nichiren Buddhism's
pre-Mejii doctrine, it is clear that Ishiwara found and appropriated three
elements of Nichiren messianic thought: the linking of religious life and
Japanese patriotism, the apocalyptic prediction of an impending human conflict
of epic proportions, and the notion that the subsequent regeneration and
harmonization of the w(3rld would originate geographically in Japan (40-41).
It is important to note that the utilization of Nichiren messianic
doctrine depicted thus far is largely restricted to Nichiren Buddhism in its
traditional form, based on the Lotus Sutra and Nichiren's interpretations of
passages within it (38). Highly influential aspects of Nichiren thought also
enter into Ishiwara's theories via the transition of Nichiren Buddhism into
the national-religious ideology of "Nichirenism" in the nineteenth and
twentieth centuries, most notably at the hands of the Nichiren revivalist and
religious propagandist Tanaka Chigaku (41). Under Tanaka's recasting of
Nichiren thought, the principles of Nichiren are more strongly tied to the
fundamental characteristics of Japanese national life. The merging of these
53
two bodies of thought provides for a Nichiren world mission that invoh-es
the championing of the Japanese kokutai in the rest of the world as the
ultimate expression of human ideals and values. A Nichirenism that had
freshly cross-pollinated a sense of religious destiny and world mission with an
adherence to what were viewed as superior Japanese national values was fertile
soil in which Ishiwara's tlieory of impending cataclysmic war against the United
States could take root. In tliis new light, the widely unpopular 'foreign' elements
of liberal democratic and capitalistic ideology assumed a religious character as
threats to the Japanese divine mission — as opposed to being viewed as modern
challenges to a young, industrializing nation.
Ishiwara's sense of historical determinism was reinforced by his
own reading of the writings of the priest, Nichiren. Convinced that the fifth
five-hundred year period after the death of Buddha would be one of great
conflict between defenders of 'true' Buddhism and those who sought its
destruction, Nichiren prophesied a colossal global conflict that would end in
world harmony under the peaceful hegemony of "the Wonderful Law" (46).
As it appeared clear to Ishiwara that Nichiren's global conflict was to be between
Japan and the United States, it followed logically for him that there was a
pressing need for a total national mobilization in preparation for the Final
War, one that would whcjUy rearrange the nation's national priorities (48). In
Ishiwara's mind, Japan's national predicament necessitated a total mobilization
that involved the seizure and administration of vital natural resources in
greater East Asia, the spiritual and political unification of Asian peoples under
the Japanese nation, and a domestic political rejuvenation under the auspices
of a Showa Restoration. For Ishiwara Kanji, the path to total mobilization
was thus paved with a mixture of religious prediction and technical military-
analysis. The driving force of Ishiwara's thought was the theory of the Final
War, in which the historical determinism of the inevitable, colossal conflict
between East and West was injected with a strong dose of anti-determinist
free choice of action that theoretically allowed Japan to prepare for the war in
time. The action to be chosen was, in Ishiwara's eyes, a total mobilization of
the nation's strength; the "free choice" available to Japan's representative
government to embrace or decline this action was continuously contested by
Ishiwara and other members of the Japanese officer corps throughout
Ishiwara's career until he was eventually retired by the Army in 1 941 .
In analyzing Ernst Jiinger's theorization of the concept of total
mobilization for Germany, I wish to examine two works by Jiinger that were
written in the time period when Ishiwara Kanji was actively enhancing and
attempting to implement elements of his own theories involving total
mobilization. In Jiinger's 1930 essay "Total Mobilization" the author argues
for the absolute necessity of Germans to understand and accept the concept
of total mobilization as essential to the survival of the German nation.
54
Beginning with the nearly universal assertion of the time period that the First
World War was fundamentally different from any previous war due to its
highly industrialized, rationalized character, Jiinger theorizes about the
European history of conflict prior to the Great War as consisting of so-called
"cabinet wars" (1 25-1 26). In earlier times, these Kahiriette Kriege could be waged
by a monarch using 100,000 of his own subjects placed under "reliable
leadership", and if a batde were lost by the monarch "silence could be demanded
of the subject as the subject's first line of dut}^" (125-126).' In the era of
cabinet wars, the general populace felt themselves a part of the conflict only
insofar as they were forced to participate as combatants, or themselves suffered
damages in propert)- or life as a result of fighting in their localit)-. In both cases,
the number of subjects that were direcdy affected often remained relatively
low. The era of cabinet wars, Jiinger argues, even stretches into the second half
of the \9'^ century, despite the introduction of military conscription (126).
During this time monarchs could still plan, conduct, and win "conservative"
cabinet wars toward which the majorit)- of the \'olk was apathetic or even
hostile. Wliile demanding considerable resources, the mobilizations necessary'
for such relatively limited cabinet wars can only be deemed "partial" in nature.
At this point a distinction emerges in jiinger's assessment that is significant to
unlocking the logic of his argument: /j^?;//'^/ mobilization corresponds to the
essence of monarchy, for according to Jiinger, monarchical rulers much prefer
the longer-term, professional support of mercenaries in limited conflicts, as
these tN-pes of military struggles pose litde chance of the monarch losing his
entire kingdom (127). The modern broadening of participadon in a country's
mobilization process in the late nineteenth and early twentieth centuries to
include the middle classes and "masses" was not embraced enthusiasticaOy by
the regents, who saw such a widening of access to weaponn- and combat
experience as a threat to their power. As a result of the continual technical
modernizadon of German society, the prevention of ever wider participation
in national armament became ultimately impossible, resulting in the situation
where it is no longer merely professional mercenaries who defend the state,
but all men who are capable of bearing arms and being conscripted (127-128).
It is at this juncture that the critical figure of the "Worker" as well as
a salient definition of 'total mobilization' enters jiinger's text: just as the rise
of industrialized warfare made the monarchicallv-inspired age of localized
cabinet wars obsolete, so too does the need for massive armies and supplies
of armaments hark the dawn of the age of the Worker — and the decline of
bourgeois man ("Total Mobilization" 128; Worker 2?)). Modern industrial
warfare did not simply signify an increase in the phj^sical capacit}- for armies to
kill each other's soldiers, but more importandy a transformation of war from
a mere armed encounter into an gigantic technical operation process
{Arbeitspro^ss) that assumes the magnitude of a world historic event,
55
outstripping even the French Revolution in importance (128-129). For nations
to unfold the energies that modern warfare demands of them, Jiinger argues,
it no longer suffices to have the state's "sword arm" tltted and armed, but all
of national life itself, even down to its smallest nerves (129).-
The realization of this martial outfitting of the state is the task of
liinger's total mobilization, or "the act through which the widely-branched
and diversely-veined power grid of modern life is, by one grasp of the
switchboard, fed into the great current of martial energy" (129). The dawn of
industrial warfare therefore means at once the simultaneous rise of the Worker
as the most essential figure of the state, and the emergence oi totakMohibuachimg
as the means by which a state fully utilizes the potential of the Worker in every
aspect of his life. In this setting, Worker and Soldier become indistinguishable,
as each plies his specialized trade in a rationalized, modern society that is fully
outfitted for conflict.
It is interesting to note that Jiinger does not consider total
mobilization to have yet been accomplished at the time of his writing: the first
attempts during the Great War to force all of societ}' to serve the war effort
were never as deep and far-reacliing as was tmly necessar)' to satisfy the demands
of industrialized warfare. Furthermore, the C^erman leadership of the time
was dominated by the bourgeois order, and thus prevented total mobilization
from being implemented out of the self-interest of its own degeneracy ("Total
Mobilization" 129; Worker 40). More significant to jiinger than the inadequacy
of earlier policies, however, was his belief that, as terrible as the "material
battles" of the late First World War were, never had human society reached
such a modern state of being as at the time of Jiinger's essay. In contemporary
modern life, where ". . .in its merciless discipline, with its smoking and glowing
estuaries, the physics and metaphysics of its traffic, its motors, its aircraft and
million-resident cifies", there is "not one atom that is not at work" and "we
realize that even we, to our very core, are inextricably caught up in its frenzied
operation" ("Total Mobilization" 131).
In the midst of this modernity as described by the author, total
mobilization is "less achieved than it achieves itself" and is in times of both
war and peace the expression of the "mysterious and coercive demand to
which we are subjugated in the age of masses and machines" (131-132). This
description adds a sense of mysficism and incalculabilit}' to the concept of
total mobilization that appears to rob the individual, or even the collective, of
its agency, thus opening the door for a serious conceptual contradiction.
According to Jiinger, the "mysterious" phenomena of total industrialized
war and total mobilization affect each modern state in the same fashion,
regardless of whether the nation is German or non-German, democratically or
monarchically arranged, "advanced" or underdeveloped, or a victor or loser in
the Great War — total warfare tests the mettle of all nafions equally, as an
56
earthquake does the foundations of buildings (134-135).
The mysterious, determinist character of a Jiingerian, self-mobilizing
total mobilization affecting everyone equally conflicts with the author's call for
implementing total mobilization policies in order for Germany to be in a
position to wage industrial warfare. )unger's model also appears to conflict
with the agency he attributes to the "bourgeois order" when he attacks them
for being too decadent to implement total mobilization during the Great War.
Jiinger argues that in order for all the possibilities of total mobilization to be
achieved, the peacetime societ}' must already have molded its societal order to
fit the precepts of total mobilization (129-130). The author even includes
what appears to be an ominous warning for the ostensibly German reader that
"in many nadon-states of the postwar period, we see the new methods of
anTiament already being tailored to fit total mobilizadon" (130). In rounding
out the tension between industrial determinism and a call for the engagement
of all of modern society to totally mobilize itself, Jiinger places an emphasis
on the role of the people, claiming: "[The] technical aspect of total mobilization
is not the decisive one, but rather the willingness for mobilization" (132-133,
my emphasis).
Thus in Ernst jiinger's fashioning and usage of the concept "total
mobilization", one finds primarily an embrace of the commonly-used term
"Worker", which jiinger utilizes to signify the rise of the modern member of
societ}' to strategic significance. The Worker will prove decisive for the survival
of all industrialized nations — though the author is of course propagating
this view to Germans in particular. In [iingers theoretical framework, the
rational and calculable appear to be integrated with the mysterious and
intangible in a fashion that is vaguely similar to Ishiwara Kanji's blending of
rational thought and calculation with traditional mystical religious tradition.
Theoretical Weaknesses and the Relationship between Total Mobilization
and Democracy
Both Ishiwara Kanji and Ernst jiinger lived to witness the cataclysmic world
war that was capable of proving or disproving their theories. Neither man's
understanding of total mobilization was ever achieved. Peattie points out that
in Ishiwara 's case "the industrialization programs of the national defense state
never got started, the Showa Restoration never took place, [the] dream of an
East Asian League was never realized, and [the] vision of japan and America
locked in a Final War for the control of the destiny of the world was dispelled
by the realities of a collision between the two nations over the control of the
Pacific" (365-366). A close following of jiinger's own description of total
mobilization also results in the conclusion that the goals of his project were
not achieved in Ciermany's case, either. If the autobiography of the German
Minister of Armaments Albert Speer can be trusted in this regard, Germany's
57
attempts at wartime mobilization were reported to be rife with "labor problems,
unsolved raw materials questions, and court intrigues", as well as the Allied
bombing attacks on German cities (278).'
Ludolt Herbst confirms in his work, Dertotale Kiieg Hud die Ordnung
der Wiiischaft (Total War and the Orgaiiii^atioii of the Economy), that Jiinger's
precondition that total mobilization first be fully established in peacetime
societ)- was never met. The first serious official attempt at full implementation
of total mobilization came only late in the war, tollowing the )uly 1944 attempt
on Hider's life (343). At this point Joseph Goebbels was made "Reich Authorin,-
for the Total War Effort"'* with considerable new administrative powers. But,
as Otto Ohlendorf, chief of the Interior Sicherheitsdienst (SD) complained in
1944: "We did not enter this war with a concrete foundation. For example,
neither the W'ehrwachtnor the economy could be newly conceptualized according
to National Socialism" (344-345, my translation). Olilendort openly expressed
regret that Germany had not had the "possibilit)'" or the "time" to proceed in
as total a fashion as Josef Stalin was able to in the Soviet Union (345). In
addidon, Herbst also notes that the acute labor problems mentioned by ^Albert
Speer were not properlv eased by the available German women's work force
that was especially mobilized for this purpose (119; 123-124).
Regardless of whether the total mobilization projects in Germany
and |apan were truly Jiingerian or Ishiwarian in final practice, they ended in the
shared disaster of widespread urban destruction and unconditional surrender.
In addition, they shared a cmel irony: each theor)' of total mobilizadon discussed
here was developed by a respected, successflil military' intellectual who believed
that, in order for his country to prevail in a future global conflict, his countr}-
would have to implement an effective, totalizing mobilization, or all was lost.
Germany and Japan became aggressively active in global conflicts before
establishing total mobilization in the manner Junger and Ishiwara claimed to
be necessarv, however, and both countries lost disastrously as predicted.
This final section is not intended to provide a historiographic review
of how Germany and Japan failed to establish the necessary' industrial output
to defeat the Allies, but to focus instead upon X\\o similar theoretical weaknesses
found in Jiinger's and Ishiwara 's projects. Both theories contain contradictions
that are located in the tension between their deterministic character and their
militant call for the complete mobilization of societ}-, lest the nation meet with
disaster. In the case of Ishiwara's theoretical work, the path to establish total
mobilization in preparation for the Final War leads Japan into the ruinous
paradox of provoking the ver}- cataclysmic, far-reaching war for which Japan
first needed to establish total mobilization to have anv hope of prevailing.
This Pacific War, essentially brought abc^ut by Japan's aggressive militar}' policies
in China and East Asia for the acquisition of needed naairal resources, assured
the ultimate prevention of Japanese total mobilization. The actual result was
58
a grueling war against the United States in which U.S. industrial capacit}- to
produce vast amounts of militan' hardware gradually threw Japan back across
the Pacific, then buried it under a merciless onslaught ot conventional and
atomic aerial bombardment.
Ernst liinger's argument ior totak Wohilmachung contains a similar
contradiction: Jiinger argues that total mobilization is a process that creates
itself through the unstoppable encroachment of modernization and
industrialization upon human Uves, steadily making "each single Life more
into the life of a worker" (132). jiinger also argues, however, that Germany
must embrace and pursue total mobilization as a nation, and the masses
constituting the Volk must be characterized by a complete "willingness to
mobilize", so as to both be able to compete with other European states, and
not find itself again in the situation of fighting a war with only "partial
mobilization".
The theoretical weakness of each writer's total mobilization project
can be differentiated from one another bv identifying Ishiwara's mistake as a
performative contradiction, where Isliiwara finds himself theorizing that japan
should pursue preciseh- a foreign policy most likely to draw itself into a
disastrous, industrialized war it cannot win, in order to be prepared for a
coming apocalvpdc war which it is not yet prepared to fight. In contrast,
Jiinger's description of total mobilization is a conceptual contradiction, as it
fails to remain consistent in outlining total mobilization's nature as either
creadng itself out of the industrial-productive impulses of modernit)-, or
needing the embrace of the German people in order to be properly achieved.
The contradictions inherent in Ishiwara's and jiinger's theories each
result from the mixture of rational, scientifically-minded plannmg and
acknowledgement of the spiritual, prophetic, or mysterious character of human
life. Ishiwara's theoretization is clearly much more radically mystical, if one
adheres to the conventional nodon that there is no sciendfic reUabilit}' in
religious prophecy. It must be noted in this regard that jiinger is not at all
reliant upon notions of prophecy or spirituality, and instead finds a role for
the non-sciendfic 'mysterious' in his assessment of a bustling, industrialized
modernity that couples masses with machines. In addidon, Jiinger refrains
from predicdng the immediate inevitability of another Great \X ar.
W hat the two theories share in regards to internal weaknesses,
however, is the tendency to demand immediate implementadon of total
mobilization at the expense of the contemporan' parUamentar}- democradc
system. Ishiwara's and jiinger's theories each assumes that the very fate of the
nation — in Ishiwara's case, even the world — is at stake in the question of
whether or not each countn' could attain the level of mobiUzadon necessar)' to
survive a future war. Given the gravity- of the situation for the theorists, it
comes as little surprise that the secured future survival of the nadon should be
59
more highly valued than the continued existence of a parliamentarv' system for
which Ishiwara and Jiinger showed little allegiance. Both men's concepts for
their nations' futures seem to be necessarily aversive to democracy in order to
carr\' out their desired goal. In the case of Ernst jiinger, one sees the antagonistic
relationship between total mobilization and liberal democracy quite clearly
whenjiinger makes his case for the conformation of peacetime societ)- to the
precepts of complete mobilization (130). In this context Jiinger singles out
liberalism's ideal of individual liberte for elimination:
At this point actions can be taken such as the radical destruction of
the concept of 'individual freedom', which has been surely fa
questionable concept] from the beginning. We see this attack [on
individual freedom] — ^vvhich tendenc}- it is to declare that tliere should
exist nothing that is not a function of the state — first in countries
such as Russia and Italy, then in Germany. It is foreseeable that all
countries that hold claims on the world" will somehow earn,- out
[this attack on individual freedom] in (jrder to be equal to the task of
releasing new t}'pes of power. (130)
In this startlingly frank excerpt from Jiinger 's 1936 essay, Jiinger is claiming
that the National Socialist attack on individual freedom inside Germany is not
only cut from the same wood as those attacks on freedom witnessed in the
Soviet Union and fascist Italy, it represents a necessary, productive step in the
process of effectively unleashing the strengths of industrialization through
total mobilization.
Jiinger later connects utter state control over total mobilization (and
thus the populace) with the ability to conduct warfare more effectively and
avoid the revolutionan,- situation Germany experienced in late 1918: "The
more consistendy and deeply the war from the very beginning seizes the sum
of all strengths for itself, the more secure and undeviating it will be in its
course" (142). Clearly the eradication of parliamentar)' democracy and the
liberalist interpretation of individual freedom (also advocated in The Worker)
is not merely the hoped-for result of Jiinger's total mobilization, but a
prerequisite for its success. The fact that this contention might be the source of
another contradiction in Jiinger's argument (recall that Jiinger argues that the
process of modernization and industrialization affects each state in the same
way, regardless of whether it is democratically or monarchically organized) is
beside the point: The sum total of Jiinger's sentiments treat liberalism and its
alleged detrimental effects upon German society as compcMients of a 'foreign'
ideology.
Ishiwara Kanji's stance on the relationship between his idea oi a
Showa Restoration and liberal democratic institutions in Japan are similar to
those of Ernst Jiinger in their anti-liberal sentiment. Like Jiinger, Ishiwara
saw the "foreign", "imported" liberal ideals of the U.S. and \X estern European
60
democracies as serious detriments to his socier\-, quite apart from the question
of total mobilization. When tlie life-or-deatli question of total mobilization
is included in Ishi\\-ara's assessment of japan's prosperitA' and security; however,
the contours of his anti-liberal position become clearer, for the tenets of
liberalism and parUamentan demcjcracv are marked as hindrances to total
mobilization. The manner in which Ishiwara viewed liberal ideals as threats to
total mobilization included an interest in both the livelihood of the nation's
people as well as the makeup ot the nation's political system. Ishiwara viewed
with disgust the "immediate problems of social injustice" present in the
Japan (Peattie 228). According to Ishiwara, the ills of unemployment, the
high cost of living, and the low price of farm produce all could be traced back
to the inherent exploitative character of liberal capitalism, which had created a
tiny, extremely rich class of citizens that enjoyed economic so\ereignr\' over a
large class of destitute citizens languishing in poverty-.
For this reason, Ishiwara supported revolurionan,' systemic reforms
as a part of a Showa Restoration that barkened back to the Meiji Restoration in
its "antagonism toward the privileged classes, professed anti-capitalism, concern
for the rural population, fervent patriotism and a mystical belief in japan's
unique destiny" (228-229). The significance of this outward concern for the
masses and call to replace parhamentan democracy and capit;ilism with a "newer
system" lies in the fact that, like Ernst jiinger, Ishiwara Kanji viewed liberal
notions of individual freedom and democracy as being antithetic to total
mobilization. On the same token, both writers held that a totalitarian-st\led
system of government lent itself more effectively to the implementation of
total mobilization. While jiinger believed that the destruction of "individual
freedom" would greater enable a nation-state to unleash the new powers of
industrialization and modernization, Ishiwara envisioned his Showa
Restoration as "harnessing the nation's political energies along totalitarian
lines, including the creation of a single mass political organization and the
imposition of a thoroughly regimented economy to increase national
productivity-" (229).
Both jiinger's and Ishiwara's resistance to liberal democracy appear
to find its foundation in an essentially communal understanding of societ\-
that runs counter to liberalism's emphasis on individualism, which is perceived
to lead to decadence and selfishness. The subsequent totalitarian institutions
that arose in Germany and japan, however — seen bv each author as theoretically
most conducive to the implementation of their theories — proved to be
Germany's and japan's downfall. Though it is not the focus of this comparison
of Ishiwara and jiinger to suggest that the rejection or avoidance of democracy
necessarily invites national disaster, it is important to note that the nature of
the total mobilization programs theorized by these men during the 1930s
were inherentiy bellicose, given the pcjlitical context in which they were to be
61
implemented. Their emphatic rejection of liberal democratic institutions only
enhanced the programs' capacity to provoke conflict with the Western
democracies of France, England and the United States.
Conclusion
In comparing Ishiwara's and jiinger's conceptualizations of total
mobilization in the 1930s, it is surprising to find that neither author lays out
in technical detail how Germany or [apan is to go about radicalizing domestic
societ)- to most efficiendy produce war material or industrial goods in sufficient
quantity. Instead each writer approached the topic of mobilizadon in a much
more theoretical and vague manner, attempting to develop the factual, material-
based science of industrialization and technology, then blend it with generous
portions of traditional spiritualist thought (Nichiren Buddhism), or the
intangible mysteriousness of the relationship between modernity and the
human spirit's willingness to embrace it (the "willingness for mobilization"),
hi both cases the authors leave the most difficult, practical calculations of total
mobilization to others.
What makes the comparison of these two theorists of similar career
experience, intellectual development, patriotism, and ambifion most compelling
is their parallel search for the answer to the same question — how could Gemnany
or Japan, hopelessly out-produced by the industrial might of a country such
as the U.S., implement a program of national organizafion so as to ensure its
survival in a future that is likely to include an even more industrialized war
than the one of 1914-1918? In searching out answers to this question, both
Jiinger and Ishiwara established theories that were meant to simultaneously
combat the perceived evils of liberal institutions and completely mobilize
their societies in a manner that would enable victory in a future war both men
knew would be industrialized and catastrophic. Far from being purely scientific,
however, the strong elements of religious or near-mystical concepts in their
idea structures give the theories a contradictory character. In the end, no amount
of theoretical musing or self-ascribed foresight was enough to spare Jiinger
and Ishiwara from witnessing the disastrous effects their nations' wars ravaged
upon their homelands.
62
Endnotes
' This and all subsequent translations of Jiingcr citations are iny own.
- ".../)/.v in den feinstcn Lehensnerv."'
' Albert Speer became Minister of Armaments in early 1942.
" "ReichsbevoUmachtigcr fiir den totalcn Kricgseinsatz"
^ "...Lander, in denen Weltanspriiche iebendig sind..."
Works Cited
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Herbst, Ludolf. Der Totale Kiieg and die Ordnung der W'iiischaft: Die Kriegswiiischaft
ini Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945.
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Yamanouchi, Yasushi. "Total War and Social Integration: A Methodological
Introduction." Total War and 'Woderni^tion . Ed. Yasushi
Yamanouchi, 1. Victor Koschmann, and R\Tjichi Narita. New York:
Cornell Universit)' East Asia Program, 1998.
63
64
Die Ktinst ohne Aura
Boio'dkus Habitustheorie unci Benjamins Aujsat:^
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit
Andre Schuetze
Kein Zeitpunkt war giinstiger fiir die Entdeckung des Laokoon als das Jahr
1506. Papst war Julius II., der eine Neubegriindung des machtigen Roms
ersehnte und sich selbst in der Nachfolge der alten romischen Kaiser sah. Die
W'iederentdeckung des von Plinius d.A. als schonstes aller Kunstwerke
bezeichneten Laokoon wiirde ein Wink des Schicksals sein und konnte sein
Ziel auch auf symbolischer Ebene unterstreichen. Laokoon, dessen Flucht aus
Troja den Aufstieg Roms einlautete, wiirde als ein Zeichen des neuen
Anspruchs noch einmal in Rom erscheinen, und das herrlichste Meisterwerk
der Antike ware wieder im Besitz eines romischen Herrschers, des Papstes.
So ist es nicht verwunderlich, dass auf erste Geriichte bin, Giuliano da Sangallo
vom Papst personlich ausgeschickt wurde, um die neue Ausgrabung zu
erkunden. Als da Sangallo die Statue erbUckte, rief er sofort aus: „Das ist der
Laokoon, den Plinius erwahnt hat".' \'on diesem Augenblick an war diese
Laokoonstatue die beriihrnteste aller antiken Skulpturen.
Der antike Text hat den Laokoon mit dem Nimbus des
unvergleichlich Schonen versehen, noch bevor irgend jemand die Skulpturin
der ReaUtat sehen konnte. j\llein durch den Text des Plinius war der Laokoon
mit einer Aura umgeben, die ilin zum Meisterwerk erhob. Die Laokoongruppe
kann somit als ein friihes Beispiel der Auratisierung von Kunst gelten, denn
ob es sich dabei wirklich um die von Plinius gepriesene Statue handelt oder ob
Plinius das \X erk wirklich so hoch gelobt hat, ist dabei bis heute ungewiss.^
Der Begriff der Aura wairde zu einem der Schliisselbegriffe in Walter Benjamins
beruhmten Essay Das Kunstiverk im Zeitalter seiner technischen Keprodii^erbarkeit.
In der Geschichte hat sich - nach Benjamin - Kunst permanent im
Traditionszusammenhang mit dem Kultus befunden.' Durch die neuen
reproduktablen Kunstformen ergibt sich unter \'erlust von Aura aber erstmals
die Moglichkeit einer Loslosung und Eigenstandigkeit, die mit einer neuen
nichtkontemplativen Betrachtungsweise von Kunst einhergeht.
Das Konzept von Aura wird allerdings auch heute noch auf Kunst
angewandt. Mit Pierre Bourdieus soziologischer Sicht auf das Feld der Kunst
65
soil gezeigt werden, dass Aura als Distinktionsbegriff etablierter Kunst fungiert.
Aura ist ein im Feld der Kunst konstruierter Mehrvvert, der vor allem mit der
Herausbildung eines eigenstandigen autonomen Kunstfeldes und unter dem
Eintluss neuer reproduktionsfahiger Kunstformen wichtig wird.
In diesem Text soil zum Verstiindnis des kulturellen Feldbegriffes
Bourdieus zunachst eine generelle Ubersicht seiner Habitustheorie gegeben
werden. Im zweiten Teil wird Benjamins Kunstu-erkaufsatz eingehender
beschrieben. AnschHeBend wird auf die Entstehung des relativ autonomen
Feldes der Kunst eingegangen, wobei zu zeigen ist, dass Aura als
Distinktionsbediirfnis der oberen Klassen hier erstmals im Gescliichtsprozess
erscheint. Im Abschluss soil schlieBHch die historische Konstruktion des
Aurabegriffs untersucht werden.
1. Die Gesellschaft und die Kunst
Pierre Bourdieus GeseUschaftskonzept befasst sich vor allem mit dem Problem
der Reproduktion sozialer Schichten, deren Klassifikation nicht nur der
okonomischen Klassenlage tolgt, sondern auch der Stellung in der Mierarchie
von Prestige und Ehre, das heiBt nach dem Stand in der Gesellschaft.'* Der
Kapitalbegriff wie er etwa von Marx verwendet wird, muss bei Bourdieu
erganzt werden: „Er unterscheidet drei Kiipitalaiien: okonomisches Kapital,
Bildungskapital und soziales Kapital (Beziehungen zu Mitmenschen). ^\lle
drei Kapitalarten gelten Bourdieu kategorial als gleichwertig und als prinzipiell
konvertibel. Substantiell hebt er das okonomische und das Bildungskapital
besonders hervor. Die drei Kapitalarten finden sich jeweils in drei Formen: als
inkorporiertes (z.B. das W'issen um darstellende Kunst), als objektiviertes
(z.B. Bilder an der eigenen W'ohnzimmerwand) und als institutionalisiertes
Kapital (z.B. das Diplom einer Kunsthochschule).""'
Innerhalb des sozialen Raumes, der sich aus einer Vielzahl relativ
autonomer Felder, zum Beispiel dem wirtschaftlichen oder dem kiinstlerischen,
zusammensetzt, werden die sozialen Schichten laut Bourdieu durch
Klassifikationskampfe bestimmt, denn obwohl in den verschiedenen
Gesellschattsfeldern die unterschiedlichen Kapitalarten andere Rangfolgen
einnehmen konnen, sind sie strukturell und funktional doch insoweit homolog,
als dass in jedem Feld Kampfe um die Hierarchic der Klassen gefiihrt werden.
So gibt es immer Herrschende und Beherrschte und in einem permanenten
Kampf versuchen die Akteure ihre Stellung entweder zu wahren oder zu
verbessern. Ihre Positionen und die ihnen entsprechenden
Klassifikationskampfe sind aber nicht voraussetzungslos. In seinem \X erk Die
feinen IJ nterschiede gelang es Bourdieu nachzuweisen, dass die heutige soziale
Welt nichts weniger als freie Konkurrenz und Chancengleichheit bietet. Die
materielle Lage und das inkorporierte kulturelle Kapital, seinerseits wieder von
okonomischen Verhaltnissen abhangig, bieten Vorteile im jeweiligen Feld, die
66
von schlechtergestellten Akteuren nur schwerodergarnicht aufzuholen sind.
Als eine der stJirksten Klassenschranken kommt nach Bourdieu den
unterschiedlichen Lebensstilen der jeweiligen sozialen Schichten eine besondere
Bedeutung zu; nicht nur zwischen dem Luxusgeschmack der C )berklasse und
dem Notwendigkeitsgeschmack der Unterklasse kann differenziert werden,
sondern auch innerhalb der herrschenden Scliicht lassen sich unterschiedliche
Strukturen mit ihrem jeweiligen Bedeutungsgehalt ausmachen/' Eine Reihe
evidenter und signifikanter Zeichen, gerade in der AlltagsJisthetik und der
Bildung, ermoglichen eine relativ sichere, dabei schnelle und einfache
Zuordnung. So kann jede Haltung und AuBerung zu einer Klassifikation
benutzt werden, die Aufschluss gibt iiber die soziale Herkunft, denn wie
Bourdieu nachzuweisen versucht, ist jeder Lebensstil gebunden an existentielle
EnnvickJungsgrundlagen und damit an einen bestimmten Klassenhabitus.
„Der soziale Instinkt spi^irt seine Anhaltspunkte in dem System
von Zeichen auf, die - unendlich redundant auteinander bezogen —
jeder menschliche Korper an sich hat: KJeidung, Aussprache, Haltung,
Gang, Umgangsformen. L'nbewuBt registriert, begriinden sie
,Antipathien' und ,Svmpathien': noch die scheinbar spontansten
,Wahlver\vandtschaften' beruhen immer auf dem unbewuRten
EntschJiasseln expressiver Merkmale, deren jeweiiiger Sinn und Wert
sich nur aus dem Svstem ihrer klassenspezifischen \'arianten
erschlieBt ..."
Die Lebensstile der Unterklasse dienen dabei als Negativum, von dem sich die
herrschende Fraktion, doch auch das Kleinbiirgertum absetzen will. Die Mittel
derDistinktion sind aber faktisch der OberkJasse und den Intellektuellen, die
die Distinktionsstandards setzen vorbehalten. „Sie allein sind in der Lage, ihre
Lebensform zu einer Kunstform zu erheben."*
Eine explizite Bedeutung in der Unterscheidung und Distanzierung
nehmen die Kulturgiiter ein, da „... /// ihnen die Distinkfionsbe^dehiing objektiv
angelegt ist und bei jedem konsumtiven Akt ... durch die notwendig
vorausgesetzten okonomischen und kulturellen Aneignungsinstrumente
reaktiviert wird."" Der Distinktionsgewinn liber Kultur ist besonders hoch,
well zur Bestatigung in diesem Feld eine Reilie auBergewohnlicher Fahigkeiten
vorhanden sein miissen, die schon in sich Exklusivitat implizieren. Es handelt
sich um ein „statusmaBiges Herkunftskapital","' da die Bedingungen der
Aufnahme kulturellen Kapitals durch die jeweilige KJassensituation des
Umfeldes bestimmt ist.
Schon in friihester Kindheit wird kulturelle Kompetenz aus der
Nahe und \'ertrautheit der Familie zu Kulturgiitern, zur Bildung sowie zu
Konversation und Manieren erworben. Diese Erfahrungen konnen spater
durch die Schule noch erganzt werden. „Das inkorporierte kulturelle Kapital
der vorausgegangenen Generationen fungiert als eine Art VorschuB und
67
Vorsprung: indem es ... das Beispiel einer hi faniiliaren Mustern realisierten Kultur
ufid Bi/^/i/ig gewiihrleistet, wird .. von Anbeginn an und von Grund auf, d.h.
auf vollig unbewTiBte und unmerkliche Weise der Ervverb der Grundelemente
der legitimen Kultur ermoglicht ...""
Doch nicht nur den herrschendcn PVaktionen wird so ihre jeweilige
gesellschafdiche Identitat mitgegeben, sondern auch der beherrschten Klasse.
Ihr reproduzierter Gruppenhabitus, dem legitimierten der Oberklasse
widersprechend, wird ihnen in den hierarchischen Auseinandersetzungen zum
Nachteil, da sie sich in einer Sphare unbekannter und ungewohnter Werte
durchsetzen miissen. Fehler, mangelndes Wissen und Unsicherheit im
gesellschaftlichen Umgang mit der lierrschenden Fraktion fiihren in den Augen
der Oberschicht zu einer Selbstdeklassierung. Die Uneingeweihtheit in den
gesellschaftlichen Belangen und in den kiinstlerischen MaBstaben fiihrt zur
Scheu des sich nicht an seinem wahren Platze Befindiichen: „Obgleich nicht
nur der Kleinbiirger iiber sie verfiigt, erweist sich die typisch kleinbiirgerliche
Erfahrung der Sozialwelt zunachst ids Schiichternheit, als Gehemmtheit dessen,
dem in seinem Leib und seiner Sprache nicht wolil ist, der beides ... von auBen,
mit den Augen der anderen betrachtet, der sich fortwahrend iiberwacht, sich
kontroUiert und korrigiert ... und gerade durch seine verzweifelten Versuche
zur Wiederaneignung eines enttremdeten ,Seins- fiir- den- Anderen' sich dem
Zugriff der anderen preisgibt ..."'"
Die Distinktionsleistung der Kultur wird hauptsachlich von der
intellektuellen und kiinstlerischen Fraktion genutzt - zugleich gegen die
Unterklasse einerseits und gegen den Utilitarismus des Besitzbiirgertums
andererseits.'^ „Mit dem polarisierten Raum des Macht-Feldes sind somit
Spielregeln, Spielgewinne und Einsatze defmiert: zwischen den beiden
extremen Polen herrscht absolute Unvereinbarkeit. An beiden Tischen
gleichzeitig kann man nicht spielen; alles gewinnen zu wollen, geht nur um
den Preis, alles verlieren zu konnen."''*
Da den Protagonisten des kiinstlerischen Feldes zumeist die
fmanziellen Mittel einer kauflichen Aneignung legitimer Kulturgiiter fehlen,
miissen sie auf andere Strategien setzen. „Intellektuelle und Kiinsder haben
eine ausgepriigte Vorliebe fiir die riskantesten, aber auch eintriiglichsten
Distinktionsstrategien, die darin bestehen, durch Asthetisierung
unbedeutender oder ... solcher Gegenstiinde, die bereits in anderer Weise, von
anderen Klassen oder Klassentraktionen als Kunst behandelt worden sind,
ihre eigene Macht unter Beweis zu stellen".'^ Km hoheres kulturelles Kapital
ermoglicht ihnen mittels der relativen Autonomie des kiinstlerischen Feldes
einen Vorsprung zur materiell dominierenden Wasse: Sie konnen ihren eigenen
Geschmack als den wahrhaften durchsetzen. DcKh gelingt es der okonomisch
herrschendcn Schicht in der Regel schnelJ, den svmbolischen Gehalt neuer
Kulturgiiter gegen finanzielle Mittel einzutauschen und sich selbst den
68
immanenten Distinktionsgchalt nutzbar zu machen. SchlieBlich sind die
IntellektuelJen zwar aufgrund ihres kulturellen Kapitals Herrschende, jedoch
sind sie laut Bourdieu letztendlich gegen die Inhaber okonomischer und
politischer Macht zugleich auch Beherrschte.
2. Das Kunstwerk und die Produktion
Kunst ohne Aura - dies wird nach Walter Benjamins vielzitiertem Aufsatz Das
Kjinstiverk ini Zeitalter seiner techiiischeii Keprodu-:^erharkeit zur Problematik der
bestehenden Kunstauffassung in der Moderne. Im Geschichtsprozess setzt
sich nach Benjamin die Reproduktionsfahigkeit durch Technik in
unterschiedlichen Schiiben immer mehr durch. „Dic Griechen kannten nur
zwei Verfahren technischer Reproduktion von KunstAverken: den GuB und
die PrJigung".'^' Doch mit Holzschnitt und Buchdruck, mit Kupferstich und
Radierung gelangt die Reproduktionstechnik zu einer neuen Stufe, um
schlieBlich mit Photographie und Film eine grundsatzlich neue Qualitat zu
erreichen. Erstmals in der menschlichen Geschichte kann die bildliche
Reproduktion mit der Sprache mithalten, niihert sich die visuelle
Kommunikation der verbalen Kommunikation an. Benjamin rekurriert dabei
in seinem Aufsatz fast ausschlieBlich auf den Film als Beispiel der neuen
reproduktionsfiihigen und auf Reproduktion ausgclegten Kunstform.'
Die neue Qualitat der technischen Reproduktionsmogiichkeit auBert
sich ausdriicklicherweise in einem reziproken Emfluss auf die Kunst selbst.
Dieser Einfluss, der mit der \'ernichtung „des Traditionswertes am
Kulturerbe""^ durchaus zerstorerisch wirkt, wird von Benjamin allerdings auch
und vor allem kathartisch gesehen als die Chance fiir ein genuin erneuertes
Betrachtungsverhaltnis der Kunst gegeniiber.
Selbst die gelungenste Reprodukdon hat gegeniiber dem Original
im Idassischen Kunstverstandnis den Makel der Fiilschung. Der Reproduktion
fehlt das „Hier und Jetzt des Kunstwerks",' ' kurz die Aura. Die Einmaligkeit
eines Kunstwerks erst macht es zum Zeitobjekt der Historic, macht es zum
Zeugen von Veranderung an seiner eigenen Phvsis und zum „Gegenstand
einer Tradition, deren Verfolgung von dem Standort des Originals ausgehen
muB".^^' Die Betrachtung des vereinzelten Kunstobjekts, die Betrachtung dieses
durch seine erlebte Historizitat einmaligen Kunstwerkes wird so zum Ausloser
von Gedankenarbeit, wie es keiner seiner noch so getreuen Kopien gelingen
konnte. Nur das Original ist von diesem unsichtbaren und doch fiihlbarem
Glanz der Aura umgeben.
„Auf dem auratischen Schein", heiBt es bei Tiedemann, „beruht
auch jener 'schone Schein', den die idealistische Asthetik der Kunst zuschreibt.
An der modernen Kunst seit Baudelaire zeigt sich nun aber ein fortschreitender
Zerfall der Aura. Die technische Reproduzierbarkeit der Kunstwerke ersetzt
deren Kultwert durch den Ausstcllungswert".'' Die technische Reproduktion
69
entwertet den durch die inhjirente Selbstandigkeit des Kunstprodukts aurativen
Begriff der Echtheit: An die SteUe der Einmaligkeit tritt nun die der Masse."^^
Der Verfall der Aura ist fiir Benjamin gesellschaftlich bedingt und
Zeichen einer Krise, aber zugleich auch Zeichen einer Erneuerung der
Menschheit. „Mit der im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden
Industrialisierung der warenproduziercnden Gesellschaft wird liquidiert, was
einmal emphatisch Erfahrung hieB und immer auch Erfahrung von Aura war:
die Kommensurabilitat der Menschen mit den Gegenstanden ilirer Produktion
durch den ProzeB der Arbeit. Paradox von den eigenen Arbeitsbedingungen
'angewandte' Individuen- angewandt von Arbeitsbedingungen, welche nicht
sie schaffen, sondern die ihnen als Reproduktionsbedingungen des Kapitals
gegeniiberstehen - gelangen nur noch zu schockhaften Reizerlebnissen".^^
Fiir Benjamin sind die geseOschaftlichen Reproduktionsbedingungen
seiner Zeit allerdings schon moderner als die Produktion von Kunst oder
genauer von Kunstkridk, denn mit dem Film existiert eine Kunstrichtung, die
genau diese gesellschaftlichen Erfahrungen wiedergibt. Die Wertschatzung
des Kinematographen durch das Proletariat ist so fiir Benjamin kein Zeichen
von minoritiiren Kunstgeschmack, sondern vielmehr Ausdruck seiner sozialen
Fortschrittlichkeit: „Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwiirtig alles
gewohnte Verhalten Kunstwerken gegeniiber neugeboren hervorgeht. Die
QuantitJit ist in Qualitat umgeschlagen: Die sehr viel grb^eren Masseii der
Anteilnehmenden haben eine verdndetie Art des Anteih hen'orgebraclot. Es darf den
Betrachter nicht irre machen, daB dieser Anteil zuniichst in verrufener Gestalt
in Erscheinung tritt".""'
Versuche, die nun unter dem MaBstab der Reproduktionsfahigkeit
stehende Kunst wieder zu auratisieren, wie et\va mittels des Starkultes in der
Filmindustrie, sind fiir Benjamin deshalb ijberholt oder gar offen reaktioniir.
Im engen Zusammenhang damit steht fiir ihn die Asthetisierung der Polidk
durch den Faschismus, die schluBendlich im Krieg munden muss, denn:
„Nur der Krieg macht es moglich, die siimtlichen technischen Mittel der
Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhiiltnisse zu mobilisieren".^^
Stattdessen sieht Benjamin die Notwendigkeit der Politisierung der Kunst,
wie sie mittels einer modernen Kunstauffassung im Zeitalter der technischen
Reproduktionsfahigkeit von KunstAveri'cen moglich geworden ist. Die neuen
Kunstformen erfordern deshalb auch neue Rezeptionsweisen, die sich nicht
mehr allein in der kontemplativen Betrachtung erschopfen diirfen.
Die Reize der modernen Umwelt sind nach Benjamin nur noch durch
Gewohnung zu verarbeiten. Der Schockeffekt, den das neue Medium Film
bietet, ist deshalb die Kunstform, die dem modernen Leben und seinem
gesteigerten Anspruch an die Geistesgegenwart am ehesten
entspricht.-'\,Perceptions that once occasioned conscious reflection are now
the source of shock-impulses that consciousness must parry. In industrial
70
production no less than modern warfare, in street crowds and erotic encounters,
in amusement parks and gambling casinos, shock is the ver)- essence of modern
experience".^
Als Vorbild dient Benjamin dabei die Rezeption von Architektur,
die sowohl taktil als auch optisch erfolgt. Die Kontemplation des Betrachters
erfahrt Wer ein Gegensti.ick durch die taktile Gewohnheit, die sich nicht durch
Sammlung, sondern durch beilaufige Bemerkung auszeichnet. „Die Aufgaben,
welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen
\X ahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem VC'ege der bloBen Optik,
also der Kontemplation, gar nicht zu losen. Sie werden allmahlich nach
Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewohnung, bewaltigt".^^
Eine Totalitat des Kunstwerks ist unter den Gegebenheiten
technischer Reproduktion nicht mehr moglich. Mit Benjamins Beispiel des
Films wird dies verstandUch, denn statt einer Faust-Auffiihrung produziert
der Schauspieler nur noch Stiicke, die oftmals wiederholt und verschoben
werden konnen und die durch die Mogbchkeiten der Apparatur vorgegeben
und quasi getestet werden. Der Rezipient im Kino unterscheidet sich
dementsprechend vom PubUkum in einer Theaterauffiihrung durch seine
Haltung dem Darsteller gegeniiber, die nicht auf Einfiihlung in den
Schauspieler, sondern auf Einfiihlung in den Apparat beruht: Auch das
Publikum testet."*'
Aus dieser Haltung des Publikums ergibt sich ein zusiitzlicher
\X esensunterschied fiir die neue Kunst, denn jeder Rezipient kann nun den
Leistungen des Kiinsders als „halber Fachmann" beiwohnen.^'^ Und mehr
noch: Im Schrifttum beispielsweise ergibt sich durch die vielfakigen neuen
Publikationsmoglichkeiten, wie etu'a der Reportage, schon die Moglichkeit
selbst zum Autor zu werden. „Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor
und Publikum im Begriff, ihren grundsatzlichen Charakter zu verlieren. Sie
wird eine funktioneUe, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende
ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden".^' Lange vor Andy Warhol
schon bemerkt Benjamin den veranderten Stellenwert des modemen Kiinsders:
„]eder beutige Alensch k-ann einen Anspmch vorhringen, gefilmt :ru trerdenP^^ Mit der
Wochenschau bietet sich jedem Zuschauer die Moglichkeit, selbst zum
DarsteUer zu werden. Der Rezipient ist Sachverstandiger, ist es schon aufgrund
seines Daseins im Zeitalter des spezialisierten Arbeitsprozesses.
3. Der Kunstwert und die Autonomie
Benjamins Thesen entbehren nicht eines utopischen Grundzuges, fiihren
dabei allerdings ein Rir die Moderne aktuelles Definitionsproblem vor, namlich
iiber das, was Kunst scliluBendlich ausmacht. Es eroffnet sich die entscheidende
Frage, wie Kunst weiter funktionieren kann, wenn durch die Multiplizitat die
Authentizitat des Kunstwerks zur Disposition gesteUt wird. Oder mit anderen
71
Worten, was erhebt das entauratisierte Kunstvverk aus der Masse der techiiisch
reproduzierten Artefakte, wenn Kategorien wie Einzigartigkeit, Genialitiit,
Schopfertum oder Ewigkeitswert nicht mehr funktionieren?^^ Ohne diese
MaBstabe wird alles Kunst oder aber gar nichts.
Mit Bourdieus Habitustheorie habenwir nun bereits gesehen, dass Kunst als
eines dergroBten Distinktionsmerkmale zwischen den verschiedenen sozialen
Ebenen figuriert. Sieht Benjamin jeden als Fachmann, so sieht das Feld der
Kunst jeden AuBenstehenden als Dilettanten. Unter sozialistischen
Gesellschaftsbedingungen, wie von Benjamin angedacht, mag sich die Frage
einer schichtenspezifischen Distinguierung gar nicht erst stellen, unter den real
gegebenen Umstanden allerdings ist es unwahrscheinlich, dass durch die
gesellschaftlichen Elitentrager auf Kunst als Unterscheidungsform verzichtet
worden sein sollte.
Die Definitionslucke zwischen auratisierter, kultischer Kunst und
Kunst im technizistischen Zeitalter lasst sich mit Bourdieus Feldtheorie
iiberbriicken. In seinem Buch D/'e Kegthi der Kunst geXmgx es Bourdieu den
Prozess der zunehmenden Autonomisierung der Kunst und die allmahliche
Austarierung der Position ihrer einzelnen Akteure im 19. jahrhundert
aufzuzeichnen. Das Feld der Kunst trennt sich zunehmend vom Feld der
Macht, wird immer mehr zum im Luhmannschen Sinne autopoietischen
System mit eigenen, systemimanenten BewertungsmaBstaben.^'* Die Frage,
was Kunst ist, wird innerhalb dieses Feldes bewertet, mit zunehmender
AusschlieBlichkeit, so dass endlich die Einmischung feldexterner Kriterien
zum Anerkennungsverlust im Feld der Kunst selbst fiihren kann.
Dass dieser Prozess sich gerade im 19. Jahrhundert vollfuhrt, ist
entscheidend im Zusammenhang mit Benjamins These von der
entauratisierten Kunst im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Die
Masse der reproduzierten und reproduzierbaren Kunst zerstort, uie Benjamin
in seinem Aufsatz zeigt, das klassische Kunst\'erstandnis. Der Zugang der
Masse zur Kunst und damit die Entstehung eines Marktes fiir Kunst fiihrt
zunachst zu einer Vielzahl von Kunstartefakten und Kunststilen, die sich
immer wieder ablosen. Dieser „Pluralismus ist nicht, wie gewohnlich gemeint
wird, das Ergebnis einer natiirlichen, friiher nur durch soziale Zwange und
aufgezwungene Dogmen unterdriickten Vielheit individueller
Verhaltensweisen. Noch ist er einfach das Ergebnis der sozialen Differenzierung.
Er ist vielmehr mit dem Dauerbetrieb der modernen Bildungs- und
Kulturindustrie, mit der berufsmaBigen Vermehrung der Kulturintelligenz
und deren Allgegenwart in den Massenmedien und dazu durch die stiindige
'Ideenarbeit' der politischen Parteien und sonstigen Gruppen entstanden und
hat sich deshalb mit der internationalen Verflechtung noch gesteigert."^^
Dieser Pluralismus fuhrt allerdings auch zu einer Krise der Kunst,
besonders augenscheinlich in der Auseinandersetzung mit den neuen
72
artifiziellen Moglichkeiten wie der Photographie. Die Legitimitat der
Photographic als Kunst musstc im Feld der Kunst erst erworben werden.
Hauptfrage, wie spater beim Film, war es, ob es sich bei dieser
reproduktionsbezogenen Technik iiberhaupt urn Kunst handein kann. „Der
Streit," so Benjamin, „der im \^erlauf des neunzehnten jahrhunderts zwischen
der Malerei und der Photographie um den Kunstwert ihrer Produkte
durchgefochten wurde, wirkt heute abwegig und verworren. Das spricht aber
nicht gegen seine Bedeutung, konnte sie vielmehr eher unterstreichen. In der
Tat war dieser Streit der Ausdruck einer weltgeschichtlichen Umwalzung, die
als solche keinem der beiden Partner bewuBt war. Indem das Zeitalter ihrer
technischen Reproduzierbarkeit die Kunst \on ihrem kultischem Fundament
loste, eriosch auf immer der Schein ihrer Autonomic".* Der Streit zwischen
den Kunstformen ist ein Legidmationsstreit iiber den Wert der Kunst. Als
auf Reproduktion angelegte und damit auf den Markt rekurrierende
Kunstform hat es die Photographie besonders schwer in der
Auseinandersetzung mit einem Ideenprinzip, das Benjamin als eine damalige
Antwort auf die Krise der Kunst benennt: das I'art pour I'ati.
Kunst um der Kunst willen, dies ist das Motto des sich zur
Autonomic bewcgenden Feldes der Kunst wie cs Bourdicu in Die Kegeln der
Kumtund anderen Texten beschreibt. Das Feld der Kunst errichtet spezifische
Strukturelemente, die hauptsachlich in Abgrcnzung zu anderen Feldcrn
cntstehen. Hauptargument der historischen Triiger dieser Entwicklung wird
das /W/)o«r /W-Bekenntnis, das feldexterne Strategien ausschlicBt. Unter
anderen Ausgangsvoraussctzungen hat auch Benjamin dieses
Autonomieprinzip des Kunstfcldcs cntdeckt, wenn er von der Emanzipation
des Kunstwerks \oxx\ parasitdren Daseiti a»i R/'/W spricht.'
Innerhalb des kiinstlerischen Feldes kommt cs dann zu einer wcitcren
Austarierung der Feldprotagonisten an den MaBstaben von svmbolischen
oder okonomischen Kapitalbesitz. Die Vielfiiltigkeit des kulturellen Feldes
mit seinen untcrschiedlichsten Stellungnahmen lasst sich nunmehr in dieser
Struktur vcrortcn. „Bei naherer Betrachtung zeigt auch dieser Pluralismus die
normativcn Ziige einer reprascntativen Kultur, die bindende
W'irklichkcitsdcutungen erzeugt. Form und Inhalt haben sich in der Modcrne
verjindert. Die reprascntativen \^orstellungen werden, statt von angebbarcn
Urhebern, meist in einem kaum durchschaubaren Nctzwerk der kulturellen
Arbeit wie anonym produzicrt, gerinnen kaum zu festcn Lehren und Dogmen,
erlauben Varianten, sind aber dennoch bindend."^*
Was aber alie Protagonisten des kulturellen Feldes eint, egal welchen
Standpunkt sie in diesem Feld einnehmen, ist die Definitionsmacht iiber die
kiinstlerische Produktion.^' Innerhalb des Feldes wird in einem standigen
Kampf iiber die Stellung von Kunst und Kiinsdern gestritten, aber nur und
ausschlieBlich den Teilnehmern des Feldes steht es zu, iiber Kunst zu urteilen,
73
das heiBt, sie zu legitimieren. |ede Stellungnahme von auBerhalb wird als die
AuBerung eines „Uneingeweihten" wahrgenommen und je nach Position im
Feld beachtet oder belachelt.
Das Feld der Kunst ist ein Markt der Stellungnahmen, allerdings ein
Markt, der nicht mit dem okonomischen gleichgesetzt werden kann. Im Feld
der Kunst kann es sich durcliaus auszahlen, antiokonomisch zu denken.
Kulturelles Kapital kann gerade dort erworben werden, wo es nicht von
okonomischen Grundsatzen befangen ist. Der von Benjamin als Beispiel
vorausschauender Kunst gebrauchte Dadaismus lieBe sich in seiner Abkehr
von der nierkantilen X^'enrertharkeit gerade unter dem Gesichtspunkt des
autonomen kiinstlerischen Feldes sehr genau untersuchen.*'
Unter diesem Aspekt ist das I'art pour rati eine Strategie des
kiinsderischen Feldes, um seine Autonomie zu wahren gegeniiber anderen
Feldern. l^'art poitr I'art etoitnci der Kunst erstmals eine Eigenstandigkeit und
Unabhangigkeit. Kunst wird dadurch zu einer wie Benjamin sagt „Theologie",
„die nicht nur jede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch
einen gegenstiindlichen Vorwoirf ablehnt"/'
Jeder unkiinstlerische Aspekt im Feld, das heiBt jedes Spielen mit
auBerfeldlichen Kapitalarten, kann mit der Bestrafung im eigenen Feld bedacht
werden. Jede AuBerung im Feld aber wird zum Positionierungsakt in einem
permanenten Machtkampf. Gerade kapitalarmere Protagonisten versuchen
dabei in Abgrenzung zu etablierten Kraften im Feld neue Kunstfelder zu
offnen, neue Strategien zu entwickeln, anerkannte Kunst zu entwerten,
minoritare Kunst zu etablieren, verachtete Kiinstler zu protegieren,
Akademiemitglieder zu diskreditieren. Unter den Bedingungen des Feldes
sind diese AuBerungen, wie beschrieben, die risikoreichsten, aber auch die im
Erfolgsfall ergiebigsten.
Der Aufstieg des Kinematographen zum Filmtheater, die
Etablierung des Ivinos zur Kunst wird unter der Beri.icksichtigung der
permanenten Avantgardisierung verstandlich.''^ Im Gegenzug wird aber auch
die gegenlaufige Aufladung etablierter Kunst mit Aura, ihre StiHsierung zum
Originalen und Einmaligen nachvollziehbar. Film ist als Kunstform noch zu
neu, noch zu sehr allein auf einen kommerziellen Aspekt ausgerichtet, als dass
er sich distinktiv erfolgreich fiir die oberen Klassen verwerten lieBe. Benjamin
bemerkt: „|e mehr niimlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich
vermindert, desto mehr fallen -wie das deutlich angesichts der Malerei sich
erweist — die kritische und die genieBende Haltung im Publikum auseinander.
Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich neue kritisiert man
mit Widerwillen".^^
Die gesellschaftliche Unbedeutenheit kann aber durchaus eine nur
scheinbare sein, wenn man sie nicht mit der Massenverbundenheit, sondern
ganz im Gegenteil gerade mit ihrcm elitaren Anspruch beschreibt. Die
74
Produktionsbedingung des Films aUerdings, die wie Benjamin aufzeigt, die
Reproduktion einschliefien muss, richtet das Kunstvverk Film auf einen
Massenmarkt aus und macht ihn damit — zunachst — unbrauchbar fiir
distinktive Strategien. Das „Entgegenkommen" moderner Kunstformen, das
Benjamin so begriiBt, schlielk diese geradezu vom Reservoir der Distinktionen
aus, da ihre Inkorporation viel zu einfach moglich ist.'^
Anders verhalt es sich mit kanonischer Kunst. „Die Aneignung eines
materiell gegebenen symbolischen Gegenstandes — wie eines Gemaldes —
potenziert den auszeichnenden Effekt des Eigentums und entwertet die rein
s\mbolische Aneignung zum symbolischen Ersaf:^. sich ein Kunstwerk aneignen
heiBt, sich ervveisen als exklusiver Inhaber des Gegenstandes ebenso wie des
wahrhaften Geschmacks an ihm, der sich damit verwandelt in die dingliche
Negation all derer, die nicht wert sind, ihn zu besitzen, weil ihnen die materiellen
oder symbolischen Mittel zur Aneignung fehlen, oder einfach ihr W'unsch
danach nicht stark genug war, ihm 'alles zu opfern'".''^ Der sichere habituelle,
sowohl inkorporierte als auch objektivierte, Umgang mit den Kunstwerken
erlaubt einen Riickschluss auf die eigene Position im Feld der Macht, zu dem
ja nach Bourdieu auch das Feld der Kunst gehort.
Die notige Inkorporation von Kunst ist auszeichnendes
Distinktionskapital in Abgrenzung zu den unteren Schichten als auch zu
vorherrschend okonomisch kapitalstarken Sozialschichten. Diese Abgrenzung
aber benotigt das echte Kunstwerk, da nur an ihm selbst die spezifische
Distinktion gebunden ist, denn nur was Seltenheitswert besitzt, kann
auszeichnen. „Die exldusive Aneignung 'unbezahlbarer' Werke ist der
ostentativen Zerstomng von Reichtum nicht unahnlich: die damit verbundene
legitime Demonstration von Reichtum ist stets zugleich eine Herausforderung
an all jene, die nicht fahig sind, zwischen Sein und Haben zu trennen und sich
zu interesselosem Handein aufzuschwingen, dieser hochsten Bewahrung
personlicher \'ortrefflichkeit"/'' Das Sammeln oder die habituelle Aneignung
reproduktabler Kunst wird damit zur negativen Auszeichnung des
Kleinbiirgers oder der unteren Mittelschichten allgemein/ Statt Gemalden
sammelt er Bildbande, statt Partituren besitzt er CD's, statt in die Galerie geht
er ins Museum und zeichnet sich gerade dabei durch einen kleinbiirgerUchen
Eifer auratischer Kunst gegeniiber aus. Die schichtspezifische Unerfahrenheit
mit Kunst, die nie inkorporiert und damit zum Habitus geworden ist, liiBt
den Kleinbiirger in einer permanenten Unsicherheit den Kategorisierungen
und W'ertschatzungskriterien der Kunstwerke gegeniiber verbleiben.
Das Verstiindnis fiir Kunst ist ein habituelles und damit sozial
reproduziertes. Kunst im Sinne auratischer Kunst wird somit zum alleinigen
Objekt der oberen Klassen. Was diese auratische Kunst aber ist, wird jeweils
und immer wieder neu im Feld der Kunst bestimmt. Nur Trager eines hohen
kuhureUen Kapitalwertes konnen als Berufungsinstanzen oder, wie Bourdieu
75
sagt, als Konsekrationsinstanzen wahrer Kunst fungieren. Die
Konsekrationsinstanzen konnen somit auch als Auratisierungsinstanzen
verstanden werden, als Instanzen die einem Artcfakt den Mehrwert einer
rituaiisdschen Betrachtungsweise zusprechen oder auch aberkennen konnen.
4. Die Aura und die Distinktion
Der zentrale Gedanke in Benjamins Kunsttiieorie ist die Aura. „Der Begriff
dient zunachst der gescliichtspliilosopliischen Besdmmung des von Menschen
Gemachten als eines an Natur Teilhabenden. Die Momente der Einmaligkeit
und Dauer einer Sache sowie das ihres Eingebettetseins in einen
sinnverleihenden Tradidonszusammenhang entziehen sie dem menschlichen
Zugriff und begriinden ihren 'Kultwert' ..."''* Nichtsdestoweniger muss
beachtet werden, dass es sich trotzdem bei Aura um etAvas Menschgemachtes
handelt, um etAvas Produziertes. Aura ist kein substanzielles Wesensmerkmal
eines Kunstwerks. Benjamins Detinidon der Aura als einer „Erscheinung der
Feme, so nah sie auch sein mag""*' unterstreicht in ihrer Abstrakdon die nodge
zusatzliche menscliliche GedankenJeistung bei der Rezepdon auradscher Kunst.
Erst der scheinbar immanente Assoziadonshorizont eines originalen, echten,
einmaligen Kunstwerks eroffnet das spezifisch auradsche, das es von anderen
Artefakten unterscheidet. Mit Bourdieu gesprochen: Aura ist der Effekt von
Distinkdon.
Aber erst mit der technischen Reprodukdon erscheint es evident, das
Original mit dem Attribut „echt" zu versehen. „Echtheit erscheint an dem
Punkt ihrer Ent\\dcklung, an dem es das Echte nicht mehr gibt".^'^ Der
Aurabegriff erlangt erst dann Bedeutung, wenn er durch seinen Seltenheitswert
in der Masse reproduktabler und reproduzierter Gegenstande als
Disdnkdonswert heraussticht. Kunst vor dem 19. Jahrhundert war zu sehr
mit dem Feld der Macht verwoben, um dem in der Kegel ohnehin originalen
Kunstwerk eine spezifische Erhohung durch ein Echtheitssignum
aufoktroyieren zu miissen. Kunst gehdrte zum Feld der Macht und war deshalb
kein Distinktionsmerkmal, sondern Disdnktionssignum. Wohl gab es Aura,
aber sie schien zu sehr essentiell, als dass sie einer besonderen Erwahnung
oder Beriicksichtigung bediirfte. „Echtheit ist ein nachtraglicher Effekt. Am
Anfang steht nicht das Original, sondern die Reprodukdon, die den Begriff
der Echtheit erst ermoglicht. Erst auf der Folie der Reproduzierbarkeit wird
Echtheit 'echt'. D.h. aber, daB die Echtheit von vorneherein unecht war, denn
sie hat ihren Ursprung nicht in sich selbst, wurzelt in nichts Echtem, sondern
in ihrem Gegenteil, der Reprodukdon. VC'ie Echtheit besdmmt sich auch Aura
wesendich durch ihren Verlust. Ihr Verfall stoBt der Aura nicht zu, er
konsdtuiert".'"
Aura ist kein „historisches Faktum, sondern eine
geschichtsphilosophische Konstrukdon".^^ Unter Beriicksichdgung des
76
philosophischen Denkens Benjamins von HistorizitJit als konstruktivem
Produkt menschlichen Denkens erlangt der Aurabegriff mehr Ivlarhcit als ein
geschichdiches Signum und zugleich als W'endepunkt sozialer Prozesse. „Der
Auravedust bedarf .. keiner weiteren Erklarung, well Aura selbst die Erklarung
ist. Sofern Benjamin versucht 'in ihrem Namen' Geschichte umzuschreiben,
ist sie ebenso Resultat erschiitterter Tradition wie der Akt, die Tat der
Erschiitterung. Deshalb ist Aura kein Begriff im klassischen, sondern eher im
Hegelschen Sinne: Akt und Resultat in eins. DaB ein Begriff wie Aura njimlich
iiberhaupt denkbar wurde, ist Zcichen davon, daB Kunst keine Aura mehr
hat"."
Erst mit der Autonomie des kiinstlerischen Feldes und der wohl
nicht rein zufaUig gleichzeitigen MogUchkeit der technischen Reproduktion ist
Aura zu verstehen.'''' Im Traditionszusammenhang des Kultus war Kunst
per se echt, in der nun verschobenen Einbettung von Kunst in einen
autonomen Kunstmarkt entv^'ickelte sich, wie Benjamin zeigt und kritisiert,
der Aurabegriff, der eine ritualfunktionelle Kunstauffassung in den Zeiten der
Siikularisierung ermoglicht: „mit der Sakularisierung der Kunst tritt die
Authentizitat an die Stelle des Kultwerts".^-^
Der Laokoon bietet ein friihzeitiges Exempel, \\'ie die Auratisierung
funktionieren kann. Anders als andere Skulpturen, die durch Ausgrabungen
wiederentdeckt wurden, musste die Laokoongruppe ihren Kunstwert nie
beweisen, da sie bereits durch die aLlseits anerkarinte Konsekrationsinstanz
Plinius zum schonsten aller Kunstwerke erhoben wurde. Kiinstler wie
Michelangelo festigten diesen Ruf dann weiter.
Fiir den entstehenden Kunstmarkt des 19.)ahrhunderts ist ein
solches Auratisierungsprogramm nicht mehr denkbar, da jedes Kunstvverk
sich erst im Feld der Kunst etablieren muss. Auch Konsekrationsinstanzen
stehen in diesem Feld der Entscheidungskampfe zur Disposition, auch sie
miissen sich etablieren. Eine einfache oder endgiiltige Bcstimmung des
Kunstwertes, gar die Qualifizierung zum schonsten Kunstwerk sind so nicht
mehr mogUch. Unter diesen Bcdingungen wird Aura aber nur um so kostbarer,
da Aura zur Erfahrung implizierter Konsekrationsurteile wird, die das
Kunstwerk zum Kunstwerk machen.
Die kiinstliche Auratisierung von Kunst ist in Benjamins Verstandnis
letztendlich ein Zeichen hintangehaltener Veranderung von
Eigentumsverhaltnissen. Mit Bourdieu aber lasst sich diese Genese des
Auratischen anhand seines Distinktionspotentials im entstehenden Feld der
Kunst nachvollziehen. Es wird deutlich, wie die Auratisierung von
Kunstw^erken mittels Positionierungskiimpfen im relativ autonomen Feld der
Kunst vonstatten geht. Aura dient dabei explizit den Distinktionsbediirfnissen
der Oberklasse, ist also im Endeffekt ein Auszeichnungsmerkmal der
differenten Eigentumsverhaltnisse in der Cjesellschaft. Unter diesen Umstanden
77
kann Aura aber kein kunstimmanentes Kriterium sein. Erst die
Bedeutungsmacht der Konsekrationsurteile schafft die Aura, die dem
Kunsrwerk hinwiederum ilir Distinktionspotential eroffnet. Kurz gefasst:
Der AurabegriiTmacht somit erst Sinn, wenn er als ein Distinktionsbegritf
notvvendig geworden ist.
Endnotes
' Die Berichte iiber die Entdeckung des Laokoons beruhen hauptsachlich auf einem
Brief des ebenfalls bei der Ausgrabung anwesenden Sohnes da Sangallos, Francesco.
Vgl. Settis, Laocoonte, Fama e Stile, 11 Of. (Eigene Ubertragung).
^Vgl. hier etwa Seymour Howard oder Bernard Andreae.
' Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 480.
" Vgl. Jurt: Literarisches Feld 79.
^ Hradil: System und Akteur 11 3f.
'■ Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede 298f.
Bourdieu: Die feinen Unterschiede 3'^4.
* Bourdieu: Die feinen Unterschiede 107.
' Bourdieu: Die feinen Unterschiede 355.
'" Bourdieu: Die feinen Unterschiede 127.
" Bourdieu: Die feinen Unterschiede 129.
'^ Bourdieu: Die feinen Unterschiede 331.
'^ Vgl. Dorner und Yogv. Literatursoziologie 106.
'^ Bourdieu: Flaubert 181.
'' Bourdieu: Die feinen Unterschiede 441.
"* Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 474.
''' Vgl. dazu etwa Eva Geulen: „Mit dem Film tritt Benjamin ein Gegenstand gegeniiber,
der technisch leistet, was ein fiindamentales Prinzip seiner Darstellung ist: die Gegenstande
sind nicht an sich gegeben, sondern ergeben sich erst in der Darstellung." (Geulen 1992,
585)
'* Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
478.
" Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
475.
^^ Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
476.
^' Tiedemann: Dialektik im Stillstand 58f
"^ Vgl.: Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit 477.
''^ Vgl.: Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit 478.
^■' Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
503.
-- Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 506.
In der FuBnote heiBt es zudem von Benjamin: „Der massenweisen
Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen" (Vgl.
FuBnote 32, in: Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit 506).
78
-* Nobert Bolz schreibt: „The cinema is the school of the new tactile apperception. It
functionalizes the shocking closeness, the principle of sensation." (Bolz und Mattson;
Farewell to the Gutenberg-Galax)' 117).
^' Buck-Morss: Aesthetics and Anaesthetics 16.
W'ahrscheinlich denkt Benjamin hier auch an Simmels beriihmten Aufsatz
„Die GroBstadte und das Geistesleben". In einer FuBnote bemerkt Benjamin: „Der
Film entspricht tiefgreifenden \'eranderungen des Apperzeptionsapparates —
\'eranderungen, wie sie im MaBstab der Privatexistenz jeder Passant im GroBstadtverkehr,
wie sie im geschichtlichen MaBstab jeder heutige Staatsbiirger erlebt" Benjamin: Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 503, FuBnote 29.
^* Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
505.
■^' Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit 488.
'" Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
492.
" Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter semer technischen Reproduzierbarkeit
492.
'- Benjamm: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprcjduzierbarkeit
493.
" Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit 473.
'■* \'gl. dazu etwa auch Tenbruck: „Fraglos jedoch ist die moderne Kultur durch die
radikalen Transformationen entstanden, die im 18. ]ahrhundert die fri.iheren Autoritaten
beiseite zu schieben begannen. Als eine grundsatzlich sakulare Kultur kennt sie kein
letztes Zentrum intellektueller Autoritat und iiberlaBt die letzten Hntscheidungen, wo
es um Tatsachen geht, der XX'issenschaft, und wo es um Moral und Religion geht, dem
individuellen Gewissen oder Belieben." (Tenbruck: Representative Kultur 41 f.) Das
heiBt, das Feld der Kunst trennt sich von anderen Feldern, wie dem der Macht oder
dem der Okonomie, weil es in seinem autonomen Status eigenen BewertungsmaBstaben
folgt. Kunstexterne Fragen werden dementsprechend auch nicht mehr durch Kunst
beantwortet, wohl aber als gesellschaftliches Phanomen durchaus noch behandelt.
" Tenbruck: Representative Kultur 44f.
"" Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
486.
'' X'gl.: Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Repr(5duzierbarkeit 481.
'* Tenbruck: Representative Kultur 46.
" Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst 346.
'"' \'gl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit 501 f.
"" Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
481.
''■Auch Benjamins eigene Position im Feld krinnte unter diesem Gesichtspunkt
genauer untersucht werden.
"'Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 497.
""X'gl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
476f
■"^Bourdieu: Die feinen Unterschiede 438.
'"'Bourdieu: Die feinen Unterschiede 441.
""Da die Unterschichten wegen ihres sozialen Abstandes nicht als Distinktionsziel
infrage kommen, werden sie als akulturell wahrgenommen und damit nicht zum
79
VergleichsmaBstab. Der Kleinbiirger, der im Versuch aufzusteigen sich an die
scheinbaren kulturellen Werte der oberen Klassen halt, ist die wahre ZieJgruppe der
Abgrenzung. Somit wird aber auch immer das, was der KJeinbiirger als Kunst empfindet
schon entwertet und der Lacherlichlieit preisgegeben. Dieses Kunstemptinden gilt
aber immer noch dem KJeinbiirger als Abgrenzung zu den Unterschichten.
■^^Tiedemann: Dialektik im Stillstand 58.
'"Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 480.
'"Geulen: Zeit zur Darstellung 600.
^'Geulen: Zeit zur Darstellung 598.
Vgl. dazu auch Benjamin: ,,'Hcht' war ein niittelalterliches Madonnenbild ja
zur Zeit seiner Anfertigung noch nicht; das wurde es im Laute der nachfolgenden
Jahrhunderte und am iippigsten vielleicht in dem vorigen." (Benjamin: Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 476, FuBnote 3).
"Geulen: Zeit zur Darstellung 597.
'^Geulen: Zeit zur Darstellung 599.
^"Erst die technische Reproduktion, also die Rekurrierung auf einen Markt, ermoglicht
die Unabhiingigkeit des Kiinstlers und damit die Autonomie des kiinstlerischen Feldes.
„So, wie das Interesse des Staates fiir die Kultur allmjihlich schwand (d.h. die Relev^anz
von Kultur fiir die Reproduktion politischer Macht abnahm), kam die Kultur langsam
in die Umlautlaahn einer anderen Macht, mit der die Intellektuellen sich nicht messen
konnten - der des Marktes. Literatur, die darstellenden Kiinste, Musik - in der Tat das
ganze Spektrum der Geisteswissenschaften - wurden allmahlich von der Last befreit,
eine ideologische Botschaft tragen zu miissen, und gingen immer fester als Unterhaltung
in den vom Markt gelenkten Konsum ein". (Baumann: Gesetzgeber und Interpreten
472). - Eine Leistung Bourdieus ist es, entgegen solch primitiver und pejorativer
Marktabhiingigkeit wie der von Baumann, mit semer Komponente unterschiedlicher
Kapitalarten, differente Strategien im Feld der Kunst darstellen zu konnen und damit
auf eine relative Autonomie des Feldes hinzuweisen. „Bourdieu verbindet nicht nur
— wie es seinem Selbstverstandnis und den Interpretationen seiner Theorie entspricht
- Marxsche und Webersche Elemente einer Klassentheorie. Er gibt dem Klassenbegriff
vielmehr - und das ist die Ausgangsthese - eine genuin kulturlbi^oretische \X'endun£'
(Eder: Klassentheorie als Gesellschaftstheorie 15).
^'Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 481,
FuBnote 8.
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81
82
Der Dichter ah Mullsammler
Zu einer poetologischen Figuration der Mifte/alfer-Ke^ieption
in Tankred Dorsts Merlin oder Das iviiste L^nd und Die
L^gende rom am/en Heinrich
BentGebert
I.
Die zweite Halfte des zwanzigsten )ahrhundcrts bezeugt nebcn fundainentalen
Krisen politischer Ideologiebildung ebenso tiefgreifende Erosionen
autoritativer Konzepte von Bildung. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der
Produktion und Rezeption literarischer Texte und ihrer jiingeren
Theoriedebatten: Nur wcniger Schritte bedurfte es vom strategisch
proklamierten 'Tod des Autors' (Roland Barthes) in Richtung eines
"postmodern dilettantism" (Leeder 51), um die emphatische Idee des
literarischen Werkes zugunsten von unpratentiosen Zeichenspielen in
diskursivem Rohmaterial aufzulosen.
Mindestens zwei Tendenzen sind fiir die deutsche Literatur seit den
1990er Jahren festgestelJt worden, die diesen Dekanonisierungsprozessen
gegenlaufig sind: zum einen ein erneuertes Interesse an realgeschichtlichen
Substraten (vgl. Kraft 11-15); zum anderen ambitionierte Versuche, dem
poetologischen Modell des poeta doctiis durch Hybridisierung literarischer
Textformen mit naturuissenschaftlichen oder historisch markierten Diskursen
wiederzubeleben (vgl. Leeder 2002; Bottiger 2000). Gelehrte
Dichtungsverstandnisse fmden so unter anderem in Durs Griinbeins
mehrfachen Pladoyers fiireine "Grammatik der Naturuissenschaften" (2006:
385)', Raoul Schrotts literaturgescliichdichen Einleitungstexten zu den Gedicht-
Ubertragungen der Hrfindung derPoesie (1997) ebenso wie in Thomas Klings
Wiederannaherungsversuchen an antike Dramadk im Rahmen seines Projekts
»Yor:^ithelehHng« (2005) zu neuer und selbstbe\\aisster Aktualitat.
Im Folgenden mochte ich anhand der mittelalterlichen Hvpotexte
von Tankred Dorsts Dramen Merlin oder Das iviiste hand (1 981) und Die I^gende
vom amien Heinrich (1996) eine weniger offenkundige, doch weitreichende
Metamorphose des^o^A^^/oc/^Juntersuchen: die Figur des Miillmanns. Seine
metaphorischen Anschlussstellen findet er in einer Vielzahl poetologischer
Positionsbestimmungen der jiingeren Literatur: "[V(^er am Ende des
83
zwanzigsten )ahrhunderts schreibt", konstatiert etwa Durs Griinbein in seinem
Essay Aweisenhafte Grojse (1990) zur Situation des postideologischen
Schriftstellers, "(ist] auf Miillhalden kiinstlichcr Paradiese ausgesetzt" (16);
bereits 1975 zahit Abfall in Rainer Werner Fassbinders Drama DerMiill, die
Stadt mid der Tod zu den zentralen BezugsgroBen sozialer
GroBstadttopographie. Wahrend virtuelle Massenmedien fiir den Erziihler
von Giinter Grass' Novelle Iw Krebsgcing (2002) alJenfalls "Infos [...] zum
WegschmeiBen" (8) produzieren, betrachtet Tankred Dorst in einem Gesprach
IJber das Schreihen von Theaterstikken den expliziten Rekurs aut literarische
Tradition als "Haufen Unrat" (30).
Bei aller Unterschiedlichkeit belegen diese exemplarischen
AuBerungen nicht nur, dass Miill liingst zu einer "zentralen Kulturmetapher"
(Kuchenbuch: 155) aufgestiegen ist;^ sie belegen insbesondere, dass sein
Wortfeld in metaphorischen Positionsbestimmungen produktiv wird, in denen
sich die jiingere deutsche Literatur poetologisch reflektiert. Gemeinsam ist
solchen Metaphern, dass sie die von rhetorischer Inventionstopik inspirierte
Bildungsidee der copia reriim disqualifiziert, die zur Produktion von Texten
eine Fiille (literar)historischer Schatze empfiehlt. Innerhalb solcher Poetokigien
lasst sich die Figur des Miillmanns gicichermaBen als Archaologe literarischer
Kultur wie als Nachlassverwalter obsolet gewordener Traditionsreferenz
ausmachen. Doch belegt das Wortfeld bedeutsame Verschiebungen elitiirer
Konzepte gelehrter Dichtung, decken sich seine Semantiken doch keineswegs
vollstiindig mit dem Profil von "TradidonsbUdung, Handwerklichkeit und
Arbeitsethos, Exklusivitat fur die Verstiindigen, Verhaftetsein an Reflexion
und Theorie", das fur die Figurationen despoeta doctmlndcx deutschen Literatur
des 20. Jahrhunderts reklamiert worden ist (Barner 728). Eher kennzeichnen
den Miillmann als poetologische Figuration solche Formen von
Traditionsreferenz, die Dichtungstradition in fragmentarischen Gestalten des
Verdrangten oder Vergessenen und iiber Gesten erinnerungskulturellen
Recyclings in Texten einspielen. Ihre semantischen Moglichkeiten gilt es im
Folgenden an zwei Beispielkomplexen zu beschreiben.
Wie in der Forschung wiedcrholt registriert worden ist, sind unter
den Dramen Tankred Dorsts vor allem solche Stiicke durch einen "Reichtum
an unverdeckten Widerspriichen" geprjigt (Knapp 1 986: 403), die mittelaltcrliche
Vorlagen adaptieren. Anstelle kohjirenter Szenarien in vermeintlich mythischer
"Zeitlosigkeit" (Karakus 344) entfalten diese Texte auf unterschiedliche Weise
ein kontrasdves "Oszillieren zwischen Geschichte und Phantastik" (Blanz/
Wertheimer 459), das handlungsbildend wird (Krohn 1968, Isjiapp 1988).
Dabei ist weitgehend unbeachtet gelieben, dass Variationen des Miillmanns
diese Stiicke ;ils Symbole solcher diskursiver und heterochroner "Widerspriiche"
(Knapp 1 986: 403) durchziehen.' Wie ich im Folgenden rekonstruieren mochte,
figurieren die Miillmanner der Dorstschen Dramen jedoch keineswegs als
84
passive Nebenfiguren. Vielmehr enveisen sie sich als Schlusselfiguren einer
Mittelalterrezeption, die jene "Art von produktiver Unordnung" ins Werk
setzen, die Walter Benjamin als das "praktische IZrinnern" des Sammlers
beschreibt (GS V,l: 280/271). Als Agenten individualer Iirinnerungsarbeit
und kulturellen Gedachtnisses haben sie zugleich entscheidcnden Anteil an
den Katalvsen und Peripetien der Dramenkonstruktionen, die iiber
literarhistorische Bezugsachsen laufen. \X'ie gestaltet Dorst die Rollen der
Miillmann-Figuren en detail? Zu welchen asthetischen Profilen und
dramentechnischen Funktionen tragen sie in den genannten Texten bei - und
in welchem Umfang? Durch Relektiire zweier an den Handlungsrandern
angesiedelter Szenen mochte ich diesen Fragen zu folgen versuchen.
II.
In der Tat verwundert, dass Dorst aus dem groBen Kreis namenloser
Nebenfiguren in Merlin odcr Das iiiisfe ] ^nd '^n?,^crcc\\nei den zwergwoichsigen
Miillmann Dagobert in svmbolischer Funktion heraushebt. Aus dem
Hintergrund des Hoflebens tritt der Diener unvermittelt als ubcrraschend
unterrichteter, asymmetrischer Beobachter hervor:
Dag< )Bfri Entscbuldigen Sie schon, daB ich eintrete! [...] Es werden
mich nicht viele hier erkennen (...] ich bin ja nur der Dagobert, der die
Abfalle wegschafft, der Miillmann. Aber Sie kenne ich, und Sie auch,
ich sehe, ich kenne ja fast alle! (Merlin 76)
Dagobert eskortiert den liebestrunkenen Artusritter Lancelot zuriick zur
Hofgesellschaft, von der er sich nahe dem "Komposthaufen" (ibid.)
zunickgezogen hatte, um in erotischer Ekstase Konigin Ciinevra zu beobachten.
Der unscheinbare Miillmann riickt mit seinem Auftreten dadurch in den Rang
eines Beobachters zweiter Ordnung. Seine besonderen Moglichkeiten, die
Tafelrunde unbeobachtet zu beobachten und ihr einen konfliktuosen
Handlungsimpuls zuzufiihrcn, verdankt sich dieser bevorzugten
Beobachtungs- oder Reflexionsposition, von der aus Dagobert die Schwelle
zwischen internem und externem Kommunikationsgefiige des Dramas auf
eine W'eise kreuzen kann, wie sie charakteristisch fur die variablen Positionen
des Rezipienten und des Autors ist. Der Miillmann Dagobert installiert als
changierende Beobachtungsfigur somit nicht nur eine Perspektive, wie sie
dem Zuschauer eignet; sie lasst sich umgekehrt auch als textimmanente
Dichterfigur lesen, insofern sie ein iisthetisches Verfahren des Sammelns und
Wiederaufbereitens praktiziert und retlektiert, das maBgeblich an der
Konstruktion der Dramentektonik beteiligt ist. Indem Dagobert in seiner
Auftrittsszene den ehebrecherischen I .iebhaber Lancelot zuriickfiihrt, fijgt er
der Tafelrunden-Harmonic zugleich ihr katastropliisches F^'erment ein, das eine
Kettenreaktion von Konflikten auslosen wird, die den liandlungskern von
85
Dorsts A/fr//>/ bestimmen (Krohn 1987: 17-22).
Diese Serie entfaltet sich als dichte Reiliung von Paradoxien natiirlicher
und formaler Figurenbeziehung, die Bindungsformen wie Fhe und Vaterschaft
auf der einen Seite mit individualisiertem Begehren (Lancelot/Ginevra) und
Streben nach Individuditat und personaler Autonomic (Teufel/Merlin; Artus/
Mordred; Lancelot/Galahad) auf der anderen Seite in unJosbaren Konflikten
von kollektiven und individualen Perspektiven oszillieren iassen. Dies
unterstreicht auch ein kontrastiver Vergleich mit Thomas Malorys Morfe d'Arihur
(postum 1485), einer der zentralen Quellentexte von Dorsts Merlin. Denn
wiihrend Maloiy die Heirat Arthurs mit der "most valiant and fairest damosel"
Guenivere (50) als Liebesheirat portraticrt, ist Dorsts Artus in erster Linie von
der moglichen iMitgift fasziniert, die ihm Merlin vor Augen fuhrt: "Den Tisch
muB ich haben! - Ginevra!" (Merlin 63). Die Idee der Tafelrunde tritt damit
noch vor ihrer Venvirklichung in Konfliktspannung zur Ebene individualer
Figurenbeziehung. Wiederum ist es der Miillmann Dagobert, der in einer
hausmeisteriichen Scheltrede die Produkte dieses Konfliktes von Idealitat und
Konkredon ironisch anspiclt:
Seitdem hier immer so viele an dem beriihmten Tisch
zusammensitzen, was meinen Sie, wie man das beim Abfall merkt!
Was Sie fiir Abfalle hinterlassen, - machen Sie sich gar keinen Begriff
von! Berge!
(Merlin 76)
Auch diese zweite Einschaltung beruhrt ein zentrales Thema des Merlin,
antizipiert der Abfall der Tafelrunde doch Artus' spiitere skeptische
Retrospektive auf die "neue Gesellschaft der Briiderlichkeit" (Merlin 1 32), mit
der er den endgiiltigen Ruin der Tafelrunde erklart: "Werden Ideen auch alt,
Merlin? Altern und sterben sie dahin wie die Menschen?" (ibid.) Es ist vor
allem Karl Immermanns Drama Merlin. Eine Myfhe (1832), dem Dorst das
Scheitern der Utopie pazifistischer Briiderlichkeit entlehnt. Wiihrend
Immermanns Artusritter auf ihrer Gralssuche in der "Einode" jedoch erst
zugrundegehen, nachdem ihre Leitfigur Merlin den verfiihrerischen Reizen
der Fee Niniana erliegt und dieser nachfolgt (649-669), entwirft Dorst das
Scheitern seiner Artusrunde als Ergebnis einer kollektiven Idealbildern
inharenten Tendenz zum Kollaps. AW/z/inszeniert in diesem Sinne nicht nur
Aufstieg und Fall eines singularen imaginiiren Konsensprojektes, sondern
eine Grundspannung utopischer Gesellschaftsentwiirfe: Einmal als politische
Realitat verwirklicht, erstarren diese zu Formen, die als Strukturen des
Establishment von Folgegenerationen wiederum utopisch unteriaufen werden,
die sich eines "Turm[s] von Vatern" (Merlin 1 32) zu entledigen suchen.'* Die
nicht zu arretierende Dialektik utopischer Entwiirfe wendet sich zu ihrer
Schattenseite, wenn Merlin sein Bemiihen verflucht, andere Menschen zu
Konzepten des Guten und deren prakdsche Realisation zu bewegen, und sich
86
schlieBlich zuriickzieht: "Ich will mit der verdammten \X eltgeschichte nichts
mehr zu tun haben!" (Merlin 205). In vernelmibaren .\nklangen an den Prediger
Salomo erscheint Merlin — wie auch Parzival in dessen \^erzweiflung — die
unabiinderlich auf Veriinderung driingende Welt als ein "wiistes Land [...]
bedeckt mit Kadavern, Unrat, Abfall" (ibid.). Damit schliefit sich der Kreis
poetologischer Metaphern nicht nur auf Ebene des Wortfeldes, sondern auch
auf Ebene der Konzeptstruktur: Hatten die einfiihrenden Worte des
Miillmanns Dagobert einerseits den produktiven, initiativen Aspekt von
Abfallorten akzentuiert (vgl. Merlin 76), so wendet das Dramenende den
zyklischen Strukturgedanken als \'ertall. Dagobert, der als Becjbachter mehrfacher
Ordnungen den Pferdemist der Artusrunde kompostiert, wird damit als eine
doppelsinnige semantische Kippfigur lesbar.
Doch ist die Figur des Miillsammlers nicht allein auf der thematischen
Ebene der hisfoire, sondern ebenso auf Ebene des discours \on Merlin oderDas
7iwj/f L^/7^ angesiedelt. Exemplarisch wird dies in Merlins "Erinnerungen an
die Zukunft" (Merlin 33) deutlich, einer weltgeschichtlichen \'ision in
Zeitraffung, in der Dorst mittelalterliche und moderne Diskurse und Themen
miteinander collagiert. \\ iederum erhebt sich Dorsts Text vor einem
\'organgermodell: Terence Hanburv Wliite's The Once und Fiittire King (1939),
einer Adaptation der (^uellcn Malorvs in melanchoHscher Einfarbung.' \Xle
Gerhard Knapp nachgczeichnet hat, streut White in seine Erzahlung
Gegenwartsreferenzen ein, um so das Artusreich als "friedliches Neben- und
Miteinander von Herrschern und Beherrschten" im Horizont einer zeitlosen,
quasi-mytliischen keltischen \'ergangenheit zu beschworen (Knapp 1988: 226-
228). Doch im Gegensatz zur "phantastisch-eskapistischefn] Pragung" (ibid.)
von Whites \'ersion streicht Dorst umgekehrt Bri^iche und Friktionen von
Zeiten deutlich heraus. Spriinge und harte Fiigungen von Zeitkontrasten
werden geradezu als asthetische Strategic greifbar: So fiihren Merlins
Zukunftsvisionen "Mister Neil Armstrong auf dem Mond" zusammen mit
"Organtransplantation" (Merlin 33) als Wissenschaftsidole der Zukunft vor
Augen; umgekehrt priifiguriert der Trojanische Krieg fiar Merlin die Schrecken
von "Menschen in Feuerofen" (Merlin 34) des 20. ]ahrhunderts. Die
nachfolgende Szene (Merlin 36-42) folgt jedoch eng Malon's Darstellung der
Vatergeneration Konig Uther Pendragons — Merlins Vorgeschichte mutet so
geradezu als Historisierung an, die im Szenenkontrast zur visuellen Zeiten-
Montage so einen kontrapunktischen Charakter gewinnt.
Ahnlich wie die magischen Transfigurationen Merlins bewirken solche
Zeitspriinge in Merlin oder Das n'iiste l^uid vaq\\i allein \'erfremdungseffekte.
Ginevras und Isoldes Schreibszenen und Austausch empfmdsamer
Liebesbriefe (Merlin 94-98) etwa stimulieren durchaus das Wirkungsziel des
delectare, wenn sie literarische Figuren und Diskurse offenkundig entfernter
Zeiten miteinander vermischen. Dorst selbst verweist in einem j\rbeitsgesprach
87
auf eine weitere Dimension dieser SchiclTtungstechnik, die mittelalterliche
Textmodelle und jijngste Gegenwartskultur in unruhigen Palimpsesten
aufeinanderschreibt, wenn er das ideale Kostiim Merlins beschreibt: "sein
Kostiim [soUte] aus Resten aus diesen Venvandlungen bestehen, da hangt
noch eine alte Feder, da ist ein Stiick Schulter noch aus Stein, da sieht man ein
Stiick blutiger Haut. Das hat er, der Schmutzkerl, nicht weggemacht" (1989a:
31). Dorst weist Merlin, dem Kiinsder der Menschheit,'' ein Fetzenkleid seiner
Individualgeschichte zu, das sich patchworkartig aus samtlichen Rollen
zusammensetzt, in deren Verhiillung er Parzival, Mordred und Gawain zu
leiten bemiiht ist. Die Vielfalt von Beziigen auf mittelalterliche und moderne
Diskurse reflektiert somit auch auf der Ebene des discours, dem Wie der
Darstellung, die vielgestaltig scheiternden Versuche Merlins, die Leitidee
menschlicher Zivilisadon auf jedem moglichen Weg und durch alle Zeiten
hindurch zu stabilisieren. "Das Stiick hat mit Zeit und Alterwerden zu tun",
vermerkt Dorst in einem Selbstdeutungsversuch lakonisch, "und eben auch
damit, was Gescliichte ist: daB man, wenn man sich mit der Geschichte einlJiBt,
[...] mit schuldig wird und das aber nicht sein mochte." Damit wird die
semantische Verbindung deutlich, die das Metaphernfeld >Abfall< und den
Miillmann als besondere poetologische Figuration an thematische und
asthetische Briiche koppeln: Anders als die Figuren des Archivars, des
Archaologen oder des ordnenden Sammlers ist der Miillmann als poetologische
Figur nicht riickbezogen auf latente oder imaginare Einheitskonzepte. In
beinahe karikaturesker Uberzeichung fiihrt ein solches Einheits- und
Ordnungsversprechen schlechthin, der Gral, den unschuldigen Sir Galahad in
nackten Wahnsinn und schlieBlich den Tod (Merlin 277-278). Merlin dagegen
- und ilim analog die Textur des Stiickes - iiberschreitet die asthedsche Einlieit
der Zeit, um die drohende Selbstausloschung der Menschheit zu verhindern.
Mit seinen erziihlenden Analepsen, Kommentaren und Sinnbildern (u.a. MerUn
100, 106, 190-192) sprengt Merlin oder Das wiiste I Miid %om\i als ein heterogenes
"Epos mit Dialogen" (Hinck) wiederholt dramatische Formerwartungen -
und bringt Fragmente einer Poetologie des Abfalls hervor, die Uberreste
literarischer Tradition und Ideengeschichte als rezitierbar, nicht aber als
reintegrierbar entwirft.
III.
Dieses "eklektische Verfahren" (Krohn 1992: 239) radikalisiert Dorsts I^ge/ule
vom armen Heiiirich, die wiederholt mittelhochdeutsche Zitate und
mittelenglische Lyrik in das \^on Hartmann von Aue iibernommene
Strukturmodell einschaltet. Trotz eines komplexen Spieles von Zeitstufen
und Texttraditionen betrachtet die Forschung das Drama, Einschatzungen
des Autorenduos nachfolgend,** als "auch ohne Kenntnisse der
zugrundeliegenden mittelhochdeutschen Novelle" verstandlich (Miiller/Eder/
88
Springeth 293). Doch lasst sich zeigen, dass Dorsts explizite Riickgriffe auf
seine mittelhochdeutsche Quelle durchaus als ein strategisches Mittel eingesetzt
sind, das den Zentralkonflikt und mit ihm Probleme von Authentizitat und
Identitat auf Ebene formaler Strukturen spiegelt. Die "Memento"
iiberschriebene vorletzte Szenc, die den Ritter Heinrich auf einer surrealistisch
dekontextualisierten Miillhaldc mit seiner Erinnerungsarbeit konfrontieren,
enthiillt dabei nicht nur Refcrcnz auf literarische Tradition als bedeutsames
Thema, sondern fiihrt dies wiederum eng mit Figurationen dcs Miillmanns.
VorderVergleichsfoUedes Hartmannschen exewp/f/wsvon "hochvart"
(1 51) und aufopferungsvoller Hingabe scheint Dorst zunijchst eine giinzlich
eigenstjindige Motivationsstruktur aufzubauen, die vom plot ihrer Vorlage
entkoppelt ist. Als die neunjahrige Elsa erfahrt, dass Heinrich mit der gottlichen
Strafe des Aussatzes geschlagen ist, ergreift sie die Gelegenheit zum Beistand,
um der patrozentrischen Enge ihres Elternhauses zu entkommen. In der
Bereitschaft, sich fiar den siindigen Adligen zu opfern, wUligt sie in die Reise
nach Salerno ein, wo Heinrichs Oberschreitungen durch ihren freiwilligen Tod
entsiahnt werden soil. Kaum abcr dass die Anerkennung ihrer Martyrerrolle
Elsas Selbstbewusstsein wecken, entspinnt sich zwischen ihr und Heinrich
intensive erotische Zuneigung. Die sich anbahnende dilemmatische Krise
versuchen beide nun auf je unterschiedliche W'eise zu verdriingen - Heinrich
mit der leuchtend ausgestalteten 1 loffnung, in die hofische Gesellschaft
zuriickkehren zu konnen, Elsa dagegen im Beharren auf ihrer Martyrerrolle,
die ihr eine eigenstiindige, geradezu transzendente Identitat zu gewahren
scheint. So setzten sie ihre Reise zum sarazenischen Arzt zunachst fort. Im
letzten Moment, bevor Elsa getotet wird — Dorst schlieBt hier an Hartmanns
Kombination von Handlungs- und Reflexionshohepunkt an -, realisiert
Heinrich jedoch, dass die Geschichte dergemeinsamen Reise seine gegenwartige
Identitat bereits in unumkehrbarer W'eise verandert hat und ebenso zukiinftig
verandern wird. Wie in der mittelhochdeutschen Legende wendet 1 leinrich
daraufhin die Hinrichtung ab und wird nach dieser Verzichtsleistung auf ebenso
wunderbare Weise vom Aussatz befreit.
Dorst schaltet vor diese endgiiltige anagnorisis einen bedeutsamen
Szenenwechsel, der seinen Protagonisten auf einer "Abfallhalde am Meer" zu
einem "Memento" (AH 88) zwingt. Dort durchstreift ein alter Mann als
ungliicklicher Wiederganger die Miilllandschaft:
Der .\lte Herr Wir suchen und suchen. Der Platz ist giinstig. AUes,
was Sie hier sehen, ist angeschwemmt [...]. Aber meine Sohne fmde
ich nicht. Sie sind untergegangen, leider. Knjf ^// der Fran hiniiber. Ich
kenne den Herrn gar nicht! Von unseren Sohnen ist er keiner, oder?
Zu Hehiricb: Wie heiBen Sie? (AH 90)
Sein schwindendes Gediichmis, das den Greis in permanente Gegenwart bannt
und zugleich beharrlich zwingt, Heinrichs Idendtat zu erfragen, ohne jedoch
89
dessen Antxvort jemals behalten zu kfinnen, venvandelt den Miillmann nicht
bloB in eine Allegoric von Einsamkeit und Vergessenheit. In ihm erkennt
Heinrich in aller Bestiirzung sein alter ego.
Alle X'ersuche Heinrichs, "vom eigenen Schatten sich zu betrein" (AH 86) und
sein zunehmendes Begehren nach zukiinttiger lebendiger Erfahrung
("unersattlich sehen und benennen" [AH 82]) werden durch die Erscheinung
des stygischen Schattens zutiefst in Frage gestellt, der weder sich zu erinnern
noch zu vergessen vermag. Der von Dorst vor allem in den Rahmenpartien
des Dramas eingesetzte Chor falJt daraufhin mit einer rhapsodischen Sequenz
von Erinnerungsbildern (AH 92-94) ein, die im nachdriicklichen Appell zur
Erinnerung kulminieren: "Ununterbrochen versuchen wir / im Erinnern uns
unseres Wesens zu versichern" (AH 94). AIs der MiiUgreis zur erneuerten
Frage nach Heinrichs Namen ansetzt, wird Heinrich schlagartig bewusst, dass
seine Erinnerung und seine Identitat unloslich mit Elsa verkniipft sind, und
eiJt zu ihr.
Den Leitdiskurs des Stiickes und damit zugleich den dominanten
Reflexionshintergrund von Elsas und Heinrichs senthnental journey biJdet in
Dorsts hegende vom armen Heinncb die Frage nach der Moglichkeit des
"Authendschen [...] im Zeitalter der Simuladon" (AH 44). Ausdriicklich
formuliert sie die adlige Garten-Gesellschaft, die Elsa in Kostiimierung und
Pose einer chrisdichen Martyrerin zum asthedschen Objekt ausstaffiert, um
seine postmoderne Langeweile durch den Kitzel des religiosen Zitats zu
beleben.
Durch fein eingestreute und darum uniiberhorbare Bezugnahmen
auf den F^ypotext Hartmanns koppelt Dorst diese Unterscheidung von
Authendzitat und Simulation an die Semantik von Erinnerung. NX ie aus einer
textvergleichenden Synopse erhellt, gestaltet Dorst seine Adaptation als
dreiteilige Struktur. Die Eingangsszenen (AH 1-31) folgen in bemerkenswerter
Affmitat dem plot Hartmanns, um nach einem umfanglichen Exkurs (AH
32-81) schlieBlich mit der Opferszene in engen Parallelbezug zur mittelalterlichen
Vorlage zuriickzuschwenken (AH 81-99). Von geradezu determinativem
Quellenbezug entwickelt sich die Handlung iibcr radikale Emanzipation zu
gemaBigter Annaherung an die Textvorlage. Zuerst ist es der Chor, der Elsa in
insinuierendem Fliisterton zu Heinrichs Turmversteck und damit iiberhaupt
in die Sphiire der Handlung lockt (AH 9-14). Elsas Verwandlung vom
dialektalen Dorfmiidchen zur hochdeutschen Heldin voUzieht sich dabei
innerhalb weniger Zeilen, die den mittelhochdeutschen Text zitieren und
iibertragen:
Chor Salerno!
Elsa Salerno... waaB ich ned wos des is.
Chor Ez sol ze Salerne geschehen.
90
Elsa eni'acbt (ins derOhiiWcicht, plot-:ilich: Es soil in Salerno geschehen.
(AH 17-19)
Den Einfliisterungen des Chors gegeniiber ohnmiichtig (AH 20) verfallt Elsa
geradezu willenlos und "mechanisch" (ibid.) dem HartmannschenTextmodeU
der Blutopfer-Legende." Konsequent gestaltet Dorst Elsas Gehorsam
gegeniiber den Zitatimpulsen aus Hartmanns Hvpotext als Option, sich der
elterlichen Kontrolle zu entziehen — doch wird ebenfalls deutlich, dass ihr
Flucht\ersuch aus sos^ialer Determination nur um den Preis von textualer
Detewiination durcii ein prafiguriertes Rollenmodell gelingt. Deren Authentizitat
wird mehr und mehr traglich im \'erlaufe ihrer Reise: "Die blinde Glaubigkeit
des Mittelalters ist uns nun mal abhanden gekommen" (AH 51), seufzt die
postmoderne Adelsgesellschaft der "Labvrinth"-Szene (AH 43-61) mit
geradezu poetologischer Doppelschwingung. Elsas '''Dniperie \gerat\ ins
Kutschen'' (AH 56) — so lautet denn auch die unmittclbar tolgende
Regieanweisung, als der commedia dell'atie-Arnsi Fizzifagozzi und Heinrich ihr
Begehren nach indi\-idualisierter Fiebe vollends wecken. Im Hinblick auf ihren
mittelalterlichen Hvpotext ist Dorsts l^gende nun voUig entkoppelt, was auf
Ebene der Figuren wiederum von Reflexionen des ordosen Reisens und
Vergessens begleitet wird:
So weit schon gereist
so lang schon hah ichs
verges sen.
Ach reisen will ich
will unterwegs sein.
Ankommen aber
will ich nicht. (AH 73)
Erst als Heinrich das schmerzhafte Memento der Miillhalde dazu bewegt, seine
jiingste Geschichte anzuerkennen, versohnt Dorst seinen Text mit der Tradition
Hartmanns, was in einem zwischen fremdzeitlichem Echo und Cbertragung
pendelnden Hvmnus des Chores sinnfaUig wird:
Mein Herr, traut ihr Euch nicht zu,
einen fremden Tod zu ertragen?
- Herre min geturret ir
einen vremeden tot niht vertragen?
So viele \X orter gibt es doch!
- Sie sind verbraucht
Aber in so vielen Sprachcn
91
spncht doch der Mensch! (AH 97-98)
Im wortlichen Obersetzungsbezug auf Martmann schlieBt das Stuck:
nach siiezem lanclibe In einem langen seligen Leben
do besazen si geliche gewannen sie beide zugleich
daz ewige riche. das ewige Reich,
also muezez uns alien So moge es alien
ze jungest gevallen! am Ende geschehen.
(Hartmann 1514-1518) (Ali 99)
Dorsts Legende vow arweH Heinrich inszeniert damit in der A/t-z^/^/z/o-Szene, wie
eine Schwellensituadon des Eingedenkens von Vergessenheit sowohl auf der
Figurenebene als auch auf der Ebene des Textes selbst die Aufnahme
bestimmter ,Lasten der Vergangenheit' sdmuliert. Die paradoxe Pointe der
Schlusswendung besteht jedoch darin, bewusste Akte der Erinnerns als einzige
.\lternative zu determinierenden \ ergangenlieiten vorzufiihren. Die Mullhalde
wird zum Schauplatz dieser Umbesetzung.
IV.
So selektiv diese Annaherungsversuche an zwei Beispiele poetologischer
Konfigurarionen des Miillmanns auch sind, so zeigt sich mit ihnen doch, dass
die von Tankred Dorst vielfach aufgegriffene Metapher des ,uaisten Landes'
mit den uiederkehrenden Abfallorten seiner Stiicke konkrete Gestalt annimmt.
Auf mehreren Ebenen sind sie in die Dramenkonstruktionen eingelassen. In
der unscheinbaren Randfigur des Mullmanns Dagobert verdichtet Dorst das
zyklische Oszillieren von Ideologiekritik und Wiederkehr der Ideen als
Kernthema von Merlin oderDas wiiste Lcind. In Dorsts eklektischem X'erfahren
der Montage mittelalterlicher und neuzeidicherTextquellen zeichnet sich somit
eine fragmentarische Asthetik ab, die einem fragil gewordenen Konzept
geschichdicher Totalitiit korrespondiert, wie es Dorst in einem Gespriich uber
sein Drama Der verbotene Garten umreiBt: "Ich stelle die Realitat wie in einem
zerbrochenen Spiegel dar, aus Partikeln bestehend, die gar nicht
zusammengehoren. W enn man aber die Splitter zusammensetzt, dann ergibt
sich ein Bild der Zeit und ihre Auslegung" (1 989b: 313). Die lu-gende vom armen
Heinrich entfaltet die Figur des Mullmanns eben falls als eine Figur der
Peripherie, die jedoch als i\llegorie des Erinnerungsbewoisstseins eine dritte,
hybride Form von Identitat herauffiihrt. Im Gegensatz zu Dagobert nimmt
die Greisenfigur dabei allenfalls indirekten Bezug auf das traditionale Konzept
des Dichters als Erinnerungssubjekt, wirkt ihr dialektischer AnstoB zum
Eingedenken doch eher als Negativimpuls.
Es ware ein lohnender Versuch, diese Fragen iiber die hier
herangezogenen Texte hinauszuverfolgen. In Dorsts Dramen, die
mittelalterliche Vorlagen adaptieren, blitzen textuale Traditionen wae indi\-iduale
92
Geschichten in ihrer Bedeutsamkeit vornehmlich in solchen Momenten auf,
die sie dem \ ergessen zu iiberanuvorten drohen. Dicse Diaicktik tritt auch in
einem der jiingsten Stiicke Tankred Dorsts und Ursula Ehlers, Pnrcells Traum
von Kotus^Arfus (2004), als text- und handlungsbildend hervor: Hier ist es die
Ruinen-Kulisse eines al^bruchreifen Opernliauses, das zu einem
Kaufhauskomplex umgebaut werden soli, die zum Schauplatz der
\er\vandlung von Frosty Billy, einem obdachlosen Alkoholiker "aus der
Miilltonne" (Purcell 70), zum begabten Sanger und Dnden-Rezitator wird.
W'iederum spielen \'erhill und Produktivitat in einer poetologischen
Konfiguration zusammen, die als Mullhalde entworfen ist.
\'on Geselhchaft i>u Herhsf (1960) uber Eis^^eit (1973) und Herr Paul
(1994) bis zu den jiingsten Produktionen bilden Gedachtnis und Erinnerung
somit konstante Problemzusammenhange in der Dramatik Tankred Dorsts.
Es scheint jedoch den Stiicken expliziter literarhistorischer Erinnerungsarbeit
vorbehalten, L'nterbrechungen, Uberraschungen und choq/ies des Erinnerns
an die Sammlerfiguren des Mullmanns und des Miillbewohners zu binden,
die dadurch in Dorsts Theater der Zeiten Effekte der "memoire involontaire"
(Benjamin \',1: 280) freisetzen konnen.
Abbreviations
AH: Dorst, Tankred. Die Legende vom annen Heinnch. Mitarheit Vrsula Ehler.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996.
Merlin: Dorst, Tankred. Merlin oder Das wiiste Land. Mitarheit Ursula Ehler.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985.
Puree)]: Dorst, Tankred. Vurcells Traum von Komg Aiihus: Bin Nachtstikk.
Mitarheit Ursula Ehler. Frankfurt am Main: Insel, 2004.
Endnotes
' So Griinbein mi programmatischen SchiuBwort zum Gedichtband Schddelhasislektion
(1991). Ausfuhrlich entfaltet Griinbein das Programm einer an naturwissenschaftlicher
Physiologic und Anatomie orientierten Transformation von Literatur auch in seiner
Rede zur Entgegennahme des Georg-Biichner-Preises (1995: 7-25). Auf die
metaphorologische Tradition naturwissenschaftlicher Selbstbeschreibung von Dichtung
verweist Katrin Kohl (Kohl 2007: 298f. [zu Griinbein] und 302 [zu Gottfried Benn]).
^ Die komplexen Kulturtechniken des Deponierens, \ erbrennens, Verwertens, Vernichtens
und Reinigens, die hinter Abfalltechniken sichtbar werden, arbeitet ausfuhrlich die
Dissertation von Sonja WindmuUer auf: Die Kehrseite der Dinge. Miill, Ahfall, IV'egwerfen als
kultumnssenschaftliches Prohlem (2004).
^ Lediglich Walter Haug bemerkt beiliiufig die herausgehobene Stellung des „Mul]manns
Dagobert" in Dorsts Merlin (104). Zwar bilden ruinose Szenerien und baufiillige Gebaude
mehrfach den Hintergrund fiir Dorsts Inszenierung des \'erfails und des Todes, so euva
93
in Gesellschaft m Herbst {\96{)\ Der vtrbotene Garten {V)'61\ Kurlos {1990) oder HwPW (1994).
Auffalligerweise treten Miillmanner und deren V'ariationen jedoch nur in denjenigen
Stiicken als Reprasentadonsfiguren des X'erfalls in Erscheinung, die auf mittelalterlichen
Vorlagentexten basieren.
'' Fiir eine detailliertere Nachzeichnung dieser nur angedeuteten utopischen Zyklik in
Merlin vgl. McGowan (270).
^ Als ein sprechendes Indiz - unter vielen - belegen diese Tcndenz die „big tears" (35),
unter denen >X'hites Merlin die Lasten seiner prophetischen Fahigkeiten beklagt.
'' Tatsachlich ahnelt Merlins Bemiihen urn Parzival einem ,poetischen Experiment': ,Ja,
ich arbeite an ihm wie an einer Romantlgur" (Merlin 204).
' Zidert nach I-Crohn (198?: 22).
' Fiir Tankred Dorst und Ursula Ehler besteht der „Kern der Sache" in erster I.inie in
einer „Pubertatsgeschichte", umgesetzt in einer Reise zwischen Liebe und Tod, „die ja
bei Hartmann von Aue gar nicht vorkommt" (Dorst/Ehler 284).
' Dies beschreibt freilich nur die Perspektive, die Dorsts Adaptation immanent auf
Hartmanns Legende offnet. Wie bereits die Analysen Jean Fourquets (1961) und Kurt
Rubs (1971) gezeigt haben, hybridisiert Hartmanns Text unterschiedliche legendarische
Modelle und ist insofern weniger als eindeutiges Erzahlschema denn als kreativer
Montageversuch mit offenen Stellen zu betrachten - darin der Adaptation Dorsts durchaus
analog.
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97
98
Unerbittlich ziellos^
Messianische Zeif in Katharina Hackers
Die Habenichtse
Franz Fromholzer
1. Die Habenichtse. Zur Programmatik des Titels
Katharina Hackers Roman D/V Habenichtse aus dem |ahr 2006 fuhrt vor dem
Hintergrund der Ereignisse des 11. Septembers ganz unterschiedliche
Lebenslaufe zusammen. Zum einen sind da die Grafikerin Isabelle und der
Rechtsanwalt Jakob, die sich bei einer Part}- am 1 1 . September wiedertreffen,
heiraten und nach London ziehen - da jakobs Arbeitskollege Robert in New
York am 11. September todlich verungliickt ist. Jakob kann seinen Platz
einnehmen. Zum anderen Jim, ein Londoner Drogendealer, der seine Freundin
Mae am 11. September verpriigelt und mit dem Messer im Gesicht schwer
verletzt, weil sie beim Anbiick der einstiirzenden Tiirme hysterisch schluchzend
zusammen brach. Jim verHert die misshandelte Mae aus den Augen — sie
taucht unter, er wird sie nicht mehr wiederfinden. SchlieBlich Sara, ein von
ihrem arbeitslosen, alkoholsiichtigen Vater misshandeltes Kind, das durch
permanente Gewaltwillkiir entstellt und im Wachstum gehemmt ist. Sara
wird als Schandfleck der Familie weggesperrt, vor den Schulbehorden versteckt
und fristet ein hoffnungsloses Dasein in der XX'ohnung und im Garten. Die
drei unterschiedlichen Handlungsstriinge werden durch den gemeinsamen
W'ohnort der Protagonisten, die Lady Margaret Road in London,
zusammengefiihrt.
Vor dem Hintergrund des 11. Septembers bicibt dabei die Frage
nach dem Umgang mit der zentralen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der
Shoa, in Hackers Roman stets prasent, gewinnt gerade — wie gezeigt werden
soil - an Virulenz. Jakob befasst sich als Rechtsanwalt mit der Restitution
jiidischen Eigentums, das wahrend der Nazi-Herrschaft widerrechtlich usurpiert
wurde. Sein jiidischer Londoner Arbeitgeber Bentham woirde als Kind nach
England gescliickt. Isabelles Berliner Arbeitskollege und \'erehrer Andras, ein
ungarischer Jude, sieht sich permanent mit dem Schicksal seiner Vorfahren
und Verwandten konfrontiert und versucht der Erinnerung zu entgehen.
Diese iiberaus dichte Einbettung in die deutsch-jiidische Geschichte steht im
scharfen Gegensatz zum programmatischen Titel. Hackers Gegenwartsroman
99
bezeichnet die Generation der jetzt 30-Jahrigen, Jakob und Isabelle, als
Habenichtse. I.aut Grimms Worterbuch handelt es bei einem ,Habenichts' ja
um „eine imperativische bildung"', ein auswegloses \erwiesensein auf das
Nichts-Besitzen. „Katharina Hacker beschreibt eine Generation, die vergessen
hat, was das Leben ausmacht"', so Heike Hermann in Iiteraturkritik.de. Doch
wie ist diese lakonische Feststellungim Hinblickauf zwei sehrgut verdienende
Akademiker - double income, no kids - liberhaupt zu verstehen? Eine genauere
Analyse der Protagonistin Isabelle soil hieriiber Aufschluss geben.
2. Engel der Geschichte ohne Erinnerung - die Flaneurin Isabelle
„Cberall die Zeitungen mit den Fotos. Isabelle ging, in einem halblangen und
engen Rock, Turnschuhe an den FiiBen, bis zur Oranienburger StraBe — vor
der Synagoge standen mehr Polizisten als gewohnlich -, kehrte um, bog
schlieBlich in die Rosenthaler StraBe ein. [. . .] was soUte man denken, mit was
fur einem Gesicht herumlaufen?"^ (S. 12). Die Selbstv-erstandlichkeit, mit der
hier der 1 1 . September und bedrohlicher Antisemitismus als i\lltagsphanomene
beschrieben und zusammengedacht werden, spiegelt sich im ausdruckslosen,
unbeteiligten Gesicht Isabelles wider. Ihr Gesicht bleibt „glatt", „unschuldig"
(S.13). Ihre Freundin, die Fotografm Alexa, bezeichnet sie als „gealterte
Vierzehnjiihrige" (S. 14f.), Nacktfotos von IsabeDe besitzen die Anriichigkeit
von Kinderpornographie (Vgl. S. 1(18). Sie tritt auf als Frau ohne
Lebensgeschichte, ihr Verhaltnis zur Lebenszeit folgt den Gesetzen des
Geldmarkts, „als horte sie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, um in dem
schmalen Spalt dazwischen unberiihrt zu bleihen" (S. 14). Hier zeigt sich bei
Isabelle eine liistorische Verabscliiedung der postmodernen Zeitwahrnehmung,
die Hans-L'lrich Gumbrecht im Reallexikon ja wie folgt charakterisiert:
„Mit der Postmoderne wird die in der Moderne auf ein Minimum verengte
Gegenwart nun wieder zu einer breiten ,Gegenwart der Simultaneitaten'
ausgedehnt. Diese breite Gegenwart ist eine Dimension des Erlebens, X'erhaltens
und Handelns, in der die X'ergangenheit als bestandig abrufbar, reproduzierbar
- sozusagen ,in die Gegenwart importierbar' - zur \^erfugung steht, wahrend
Zukuntt - wo nicht als giinzlich verschlossen - als ungewiss und oft bedrolilich
erlebt wird."^
Gerade die stiindige Abrufl^arkeit der \'ergangenheit wird in Hackers
Roman radikal in Frage gestellt. Fur Isabelles jiidischen Arbeitskollegen i\ndras
erledigt sich jede Zeitrechnung, da diese nur „ein Rtnnsal, das sich als
Kontinuum ausgab" (S. 42) hinterliisst. Die Spur zuriack tn die Vergangenheit
scheint Andras verloren gegangen zu sein: „denn die Zeit und was in ihr
geschah war nie ein und dasselbe, nie eine Linie, die unregelmaBig verlaufen
mochte, sich aber zuriickverfolgen LieB" (S. 286). Fiir Magda gilt es gar, die
konsumentenfreundlich verpackten Zeitportionen (Vgl. S. 83) durch
Nichtbeachtung in ihrer Bedrohlichkeit zu cntwerten. Nur konsequent stuft
100
Isabelle das Jetzt der Gegenwart als ,,nicht kostbar" (S. 267) ein. Andras stellt
iiber Isabelle distanzierend test, sie habe „ein bemerkenswertes Talent selbst
da unbehelligt zu bleiben, wo etwas sie tatsiichlich traf " (S. 192). Unbehelligt
— „unverletzlich" (Ebd.) wandert Isabelle durch Berlin, spater durch London.
Ein auf sie zustiirzender Klavierfliigel hintedasst nur eine unsichtbare Xarbe
(Vgl. S. 44), ein beim Landemanover abbrechender Flugzeugfliigel entwickelt
sich eben nur fast zur Katastrophe (^"gl. S. Ill), das Abbrechen eines
Hiihnchentliigels schUeBlich, die erste Mahlzeit in London, durchfahrt sie wie
ein StromstoB, die vage Abnung der Moglichkeit einer Katastrophe (A\gl. S.
142). Yon der fiir Gumbrecht die Postmoderne so kennzeichnenden
Verschlossenheit oder gar BcdrohHchkeit der Zukunft kann nicht die Rede
sein: „die Zukunft mischte sich nicht ins Spiel, sie verwandelte sich in Gegenwart,
das war aUes" (S. 1 96).
IsabeUes Leben ist aus unerfmdLichen Griinden sozusagen auf einer
anderen Seinsebene engelsgleich angesiedelt, hat mit der WirkUchkeit der
Kriegsopfer in Afghanistan, Irak, den Gewaltopfern auf Londons StraBen
und in den Nachbarhausern nichts zu tun: „MeIleicht fielen morgen die ersten
Bomben. Vielleicht gab es die ersten Toten. Das Wetter war makeUos" (S. 1 52).
Ein nachtlicher \'ergewaltigungsversuch muss bei ihr scheitern, da genau im
richtigen Zeitpunkt der Polizeiwagen um die Ecke fahrt (A'gl. S. 170), kurze
Zeit spater ist der \'orfall fiir Isabelle „schon nicht mehr real" (S. 171), dem
Vergessen anheimgefallcn.
Die zerbrochenen Fliigel, Zeichen des Getriebenwerdens, enthiillen
ironisch die vermeintliche Sicherheit, mit der Isabelle ihr Leben abseits der
todlichen Katastrophen der W'eltgeschichte in einem irreal zeit- und
geschichtslosen Raum verwirklichen kann. Die Ambivalenz der Engels-Figur
erscheint zusatzlich biographisch verankert in der Berliner Bar Wiirgeengel, in
der Jakob und IsabeUe sich nach knapp zehn jahren am Vorabend des 11.
Septembers wiedertreffen. Der Wiirgeengel, eine Luther-\^erdeutschung nach
Exodus 12, 23, erschlug aUe Erstgeborenen Ag\-ptens und verschonte die mit
dem Blut des Opferlamms bestrichenen Hauser der IsraeUten. Das hebraische
passah bedeutet eben diesen „\^orubergang", den Voriibergang des
Wiirgeengels, der zugleich den W'eg in die Freiheit aus der ag^-ptischen
Gefangenschaft ebnet. \X ie der Leser in Hackers Roman erfahrt, verdanken
dabei sowohl Jakob als auch Isabelle ihr berufliches Einkommen dem Tod
anderer: Isabelles Einstieg in die Agentur wurde durch die testamentarische
Verfiigung der krebskranken Hanna ermoglicht (\^gl. S. 31), Jakob erhalt die
Londoner Stelle des am 1 1 . September in New \ brk ums Leben gekommenen
Robert. Das Bewusstsein der eigenen Gefahrdung und Rettung im Sinne
eines passah-Eingedenkens fehlt sowohl fakob als auch Isabelle. Dies wird
besonders deutlich bei Roberts Beerdigung, bei derjakob an einem leeren Sarg
steht, da Roberts Leiche nicht mehr gefunden woirde - in der Weltgeschichte
101
auch korperlich verschwand. Die Provokation des leeren Grabs, Zeichen
christlicher Auferstehung und eines Eintretens des Messias in die Gescliichte,
kann Jakob nicht zur Kenntnis nehmen. Das Abhandenkommen des toten
Robert, die vollige Ausloscliung seiner Existenz, stellt tiir den Juristen Jakob
cine rein materialistische Angelegenheit dar: der Tod sei, so Jakob, „ein Wechsel
der Besitzverhaltnisse. Was dem Toten gehort hat, geht in den Besitz anderer
liber" (S. 50), die Freundschaft zu Robert war „Zui:all" (S. 49). Diese radikale
Verweigerung einer Reflexion iiber das Eingreifen geschichtlicher Prozesse in
das individuelle Leben zeigt sich zudem bei )akob besonders drastisch, ja
skandalos: Jakob verdient sein Geld als Rechtsanwalt mit der Restitution
jiidischen Eigentums, das wahrend der Nazi-Herrschaft widerrechtlicli enteignet
wurde. Wahrend der Besitz der Opfer der Shoa vermeintlich wieder der
Gerechtigkeit zugefiihrt werden kann und soil, bleibt das Leben der
Ermordeten und Emigrierten im Bereich einer abstrakten Voraussetzung fiir
den Besitzverlust, letztlicli eine Leerstelle. Die GeschichtsschreibungderTater,
die ihre Opfer nicht nur physisch vernichten, sondern auch die Erinnerung an
sie ausloschen woUten, wird — so macht Hackers Roman am 11. September
deudich - in Vergangenheit und Gegenwart fortgeschrieben.
Zweifellos, die machtige mediale Geschichtsschreibung der Gegenwart
erstickt das Bewusstsein fiir die Realitat der Misshandelten und Getoteten in
Gleichgiiltigkeit, Gewohnheit und Vergessen. Die Habenichtse ist „ein
Gegenwartsroman, der uns die Lebenswirklichkcit der MittdreiBiger vor Augen
fiihrt, die die Welt zuweUen so distanziert betrachten, als siihen sie einen Film,
der sie nichts angeht."^ Ein genauerer Blick auf Isabelle soil nun aber zeigen,
dass gerade der Verlust der lebensgeschichdichen Dimension, der Erinnerung
an die Opfer und Toten, als soziale Depravation, ;ils Verlust an gesellschafdicher
Erkenntnis und als Handlungsschwachegedeutet werden muss.
Isabelle erscheint sowohl in Berlin als auch in London als rastlose
Spaziergiingerin und Passantin im GroBstadtdschungei — mit hohem
Turnschuhverbrauch. Ihr sich Treiben-Lassen durch die Menge wird von
Andras als „unerbittliche Ziellosigkeit" diagnostiziert (S. 110). Damit kann
und soli Isabelle hier als Aktualisierung von Walter Benjamins ,,Engel der
Geschichte" gelesen werden - in einer RezepdonsUnie wie sie Hannah Arendt
in ihrem viel diskutierten Walter-Benjamin-Essay begriindet hat. Hier heiBt es
iiber den „Engel der Geschichte":
„Es ist der Flaneur, der in den GroBstiidten durch die Menge in
betontem Ciegensatz zu ihrem hastigen, zielstrebigen Treiben ziellos
dahinschlendert, dem die Dinge sich in ihrer geheimen Bedeutung
enthiillen, an dem ,das wahre Bild der Vergangenheit' vorbeihuscht,
und der in der Erinnerung das Vorbeigehuschte um sich versammelt.
(...) In diesem Engel, den Benjamin in Klees Angelus Novus
crblickte, erlebt der Flaneur seine letzte Verkliirung. Denn wie der
102
Flaneur durch den Gestus des zwecklosen Schlenderns der Menge
auch dann den Riicken weist, wenn er von ihrgetrieben und mit ihr
fortgerissen wird, so wird der ,Engel der Geschichte', der nichts
betrachtet als das Triimmcrfeld der Vergangenheit, vom Sturm des
Fortschritts riicklings in die Zukunft geweht.'"'
Es konnen hier nur kurz einige wichtige Deutungsmoglichkeiten des ,Engels
der Geschichte' in Erinnerunggerufen werden. Benjamins Freund Gershom
Scholem hat in ihm den Menschen als allgemeines Wesen erkannt, von
Haselberg die geschichdiche Wirklichkeit, Kaiser identifiziert ihn als gottlichen
Boten des jiidischen Messianismus, Hering sieht im Engel die personifizierte
Theologie, die ohne polidsches W'issen zur Ohnmacht verdammt sei.
Hatte Walter Benjamin selbst gerade in seinem Karl-fCraus-Essay
den Engel der Geschichte zum Boten der Leidensgeschichte und Idealbild
einer rettend-destrukdven Maltunggegeniiber der Uberlieferung erkoren,^ so
erscheint die Kindfrau ohne Erinnerung — Isabelle — deren Ehemann Jakob
ohne W'iedersehen verschwainden gewesen ware „in der Gleichgiiltigkeit ihres
Vergessens" (S. 37), als geradezu polemisch eingesetzte Negativfolie des
verklarten Flaneurs: indem Isabelle nicht zum Slillstand gebracht werden kann,
wirkt sie als defizitjire Engelsfigur mit zerbrochenen Fliigeln, die dem
entfesselten, Triimmer werfenden Fortschritt nichts entgegenzusetzen hat.
Benjamins Engel hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Damitgreift
Benjamin auf Vorstellungen der jiidischen Mvstik zuriick, die Erlosung als
Wiederherstellung des urspriinglichen Ganzen, als Tikkun, begreifen. Die
futurisch gedachte Erlosung ist also Restitution des idealen Zustands der
Vergangenheit.'' Peter Szondi fasst deshalb Benjamins Denken pragnant als
„Hoffnung im Vergangenen""^'. Damit „gewinnt die Gegenwart jedoch ihren
Sinn erst im Verhaltnis zur Vergangenheit"" . Der im Anblick der Vergangenheit
zur Erstarrung gebrachte Engel erkennt im Blick zuriick die in der Gegenwart
neu ansetzende Katastrophe - „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe'"^. Die Gegenwart der
Vergangenheit gibt also an, „was die Glocke geschlagen hat"'\ Fiir Hackers
geschichts- und erinnerungslosen, blinden Engel Isabelle wird folgUch die
Gegenwart zur leeren Zeit, eine Jetztzeit, die sich der Korrektur der Irrtiimer
der Vergangenlieit und der ErschlieBung neuer Moglichkeiten verweigert. Ein
Beispiel aus dem Erleben der Flaneurin sei hierzu angefiihrt:
„und als sie ungeschickt aus dem Gewiihl herausschlingerte, sah sie
eine Blumenverkiiuferin, die aus Eimern die letzten StriiuBe packte,
hinter ihr erschien eine jiingere Frau, griff nach den Eimern, leerte
das Wasser mit einem Schwung auf die StraBe, sie kam Isabelle
seltsam bekannt vor, nur war sie diinn, fast mager, und als sie sich
aufrichtete und zur Seite drehte, sah Isabelle ihr Gesicht, entstellt
von einer Narbe, die von der Schliife bis zum Kinn reichte.
103
flammendrot, hasslich. Als wjire die Wunde nicht genug gewesen,
war sie schlecht verheilt, und das Gesicht war gezeichnet, ein Inbild
der Bosartigkeit, die Menschengesichter zerstorte. Aber vielleicht war
es ein Unfall, dachte Isabelle. In ihrem Erschrecken achtete sie nicht
daraut, dass die Altere sie beobachtete, naher kam, das Gesicht zomig,
verachtlich, und IsabeUe mit einer Handbewegung wegscheuchte,
ohne ein Wort zu sagen, wie man ein gaffendes Kind verjagt.'"'*
(S.174)
Hinter der durch die Flammenschrift der Narbe gezeichneten Frau vermutet
der Leser Isabelles Doppelgjingerin Mae, die nach der Gewaltattacke ihres
Freunds Jim untergetaucht ist. Geschichte als Unfall und Zufall. Maes Narbe
bleibt unverheilt, eine ungelesen zuriickgelassene Flammenschrift - vergessen.
Hier ist Anne Kraume zu widersprechen, die das unauffallige Schuldigwerden
an den Opfern der Gegenwart vom Umgang mit der deutschen Geschichte zu
trennen versucht.'^ Denn der an Nachgeborene und Zeitgenossen
gleichermaBen gerichtete ethische Imperativ gegeniiber den Opfern aus
Vergangenheit und Gegenwart fordert das Fingedenk-Werden, den Stillstand
des Engels. Denn „im Eingedenken war fiir die Juden ,jede Sekunde die kleine
Pforte, durch die der Messias treten konnte'""". Im Riickblick „sich vorzusteUen,
was sich der Uberlebende nicht \'orstellen kann"' ist damit auch eine Aufgabe
der Imagination angesichts einer nie endgiiltig tixierbaren Erinnerung. Mae,
die „noch immer die Toten sehe, die Lebenden, die aus den Fenstern sprangen,
in die Tiefe, dass sie ihre Schreie horen konne, dass sie horen konne, was die
Leute redeten, die in den Aufziigen und in den Fluren eingeschlossen waren"
(S. 28), verwirklicht in ihrer immer wieder geleisteten Imagination ein
Toteneingedenken, das sich als unertriiglicher Anspruch an die Gegenwart
herausstellt, dem mit Gewalt geantwortet wird. „RLickwarts miisste man gehen,
zuriicklaufen, zuriickspulen, was gewesen war bislang, um es zu loschen oder
zu bestatigen" (S. 173) wiinscht dagegen die in London orientierungslos
gewordene Flaneurin Isabelle. Die Preisgabe der erinnerten Vergangenheit als
Orientierung, der nicht zum Stillstand gebrachte Engel, entspricht der Negation
von Hoffnung fiir die Zukunft.
„Im genormten, denaturierten Dasein der groBstadtischen Massen",
so Briiggemann, „verliert der einzelne das Vermogcn der lirfahrung, das
integrative Vermogen, den geschichtlichen und lebensgeschichtlichen
Zusammenhang [...], er bekommt kein Bild mehr von sich."'** Die Nicht-
Passionsgeschichte Isabelles, ihr Dasein als erkenntnisunfahiger Habenichts
endet konsequenterweise im Typus der kinderlosen Ilausfrau, die noch dazu
naive iMnderbiicher bebildert und dabei auf das Haushaltsgeld ihres Mannes
angewiesen ist. Doch ist ihr mit dem misshandelten Madchen Sara eine
urdiebsame Nachbarin entgegengesteUt, die „den Anspruch auf ein inneres
Auge, das gegen das Vergessen focht" (S. 44) aufs Neue postuliert.
104
3. „Wundervoll gelingende kleine Bombenattentate". Sara ohne H
Unmittelbar mit dcm Einzug Isabclles in die Londoner VCohnung verbunden
ist das Erscheinen eines „Bucklicht Mannleins": ]akob, so helBt es in Kapitel
19, „\var erleichtert, dass vorderTiir- Isabelle schaute aus dem Fenster — das
kleine Miidchen nicht auftauchte, ein Bucklicht Mannlein, unheimlich" (S. 114).
Zweifellos verweist diese Figur, in der der Leser das misshandelte
Nachbarmadchen Sara erkennt, auf \X alter Benjamins Berliner Kiiidhf/tiiw 1900.
„Das Bucldicht Mannlein" ist in dicser miniaturhaften Autobiographie bzw.
Anti-Autobiographie Benjamins in alien Fassungen als Abschlusstext fixiert.
Das Mannlein wird, so Anja Lemke, „zur Figuration des Vergessens, sowohl
der Selbstvergessenheit als auch der mangelnden Aufmerksamkeit fiir die
Umgebung. Dieser Augenblick der Unachtsamkeit kann immer erst nachtraglich
wahrgenommen werden.'"''
Vergessen im Benjaminschen Sinne erhiilt eine bedrohliche
Dimension, es impliziert Selbstgefahrdung und soziale Unfahigkeit. Zugleich
aber ist Vergessen Voraussetzung der Erinnerung, damit eine Bedingung der
Offenbarung. Die erinnerte Vergangenheit ist durch das \'ergessen entstellt,
Kennzeichen der erinnerten, entstellten Vergangenheit ist der Buckel des
Mannleins. Wie wird nun Benjamins bucklicht Mannlein in I lackers Roman
neu interpretiert? Das bucklicht Mannlein ist hier ein Miidchen, im Wachstum
gehemmt, entstellt von den Schlagen des arbeitslosen Vaters, beschiitzt nur
vom Bruder Dave. Ihr engster Spielgefahrte ist die Katze Polly, mit der sie von
ihrem Bruder durch den Kosenamen „little cat" (S. 53) sogar gleichgesetzt
wird. Saras Spielplatz -Terrasse und Garten, vom \^ater als „Paradies" bezeichnet
(S. 53), erweisen sich als Orte standig bedrohter Existenz. Ihre Puppe wird
von einem breit grinsenden fremden Mann zwischen den Beinen am
Gartenzaun gepfahlt (S. 75), ihren Biiren findet sie mit aufgeplatztem Bauch
auf der Terrasse (S. 222). Benjamin hat sich in seinen zahlreichen Essays zu
Kinderspielzeug und Puppen dagegen gewehrt, dem Spielzeug den Status
eines autonomen Sonderlebens zuzugestehen,^^ sondern vielmehr von einer
Auseinandersetzung der Erwachsenen mit der Kindheit im Spielzeug
gesprochen (also nicht der Kinder mit den Erwachsenen).^' Die rein destruktive
Rolle, die hier Erwachsene in Saras Kindheit spielen, zeigt eine zerstorerische
Gesellschaftsordnung auf, die sich der Zukunft nicht verpflichtet Rihlt. Spielen,
so hat Benjamin provokant formuliert, sei „Verwandlung der erschiitterndsten
Erfahrung in Gewohnheit, das ist das Wesen des Spielens.""
Erschiitterndste Erfahrung in Gewohnheit zu verwandeln — diese
Wesensdefinition des Spielens enthiilt natiirlich auch eine hochst anarchische
Komponente. Benjamin zitiert geniisslich aus einem Aufsatz von Mynona
aus dem Jahr 1916: „Wundervoll gelingende kleine Bombenattentate mit
entzweigehenden, heilbaren Prinzen, Warenhauser mit automatisch
funktionierenden Brandstiftungen, Einbriichen, Diebstahlen. Auf vielerlei
105
W'eisen ermordbare Opfer - und die zu ihnen gehorenden Morder-Puppen —
mit alien einschlagigen Instrumenten, Guillotine und Galgen mochten
wenigstens meine Kleinen nicht mehr missen.' (. . .).""^ Dieser aUes andere als
harmlose Blick in die hausUche Kinderstube lasst uns in Saras Gartenwek vor
dem Hintergrund des 1 1 . September eine minimaUsusche Weltgeschichte
erkennen, eine Totalitat im Kleinen und Unscheinbaren, ebenso wie Dave Sara
die Vollkommenheit eines fast unsichtbaren Staubkorns schildert (A'gl. S.
1 36). VC'erfen wir einen Blick auf Saras alles andere als harmlose Spiele:
„Es ist das Under, fliisterte das Pferd schaudernd, du musst es
erschlagen, um den Zauber zu brechen, siehst du seine Augen, du
wirst niemals wachsen und groB werden, wenn sein Blick dich trifft,
es schlug die Augen auf, beide Augen, dunkelgriin, schlafrig, wenn
du je in die Schule willst wie alle anderen, ein kleiner Laut, als woUte
PoUy etwas sagen, schlafrig, aber das Pferd beschwor Sara, und so
hob sie die Arme, reckte sie hoch in den Himmel, um den Schlag
gegen den Feind zu fdhren, der den Kopf hob, zum Angriff bereit,
und Sara reckte sich, weiter hinauf, ein einziger Schritt noch nach
vorne, und dann schlug sie zu. PoUys Schrei zerriB die StiUe, mit
gestraubtem Fell jagte sie den Baum hinaus, fauchend, auf den
untersten Ast, der ihr keinen Halt hot, da sie mit dem verletzten
Hinterbein abglitt, miihsam auf die Mauer zukroch (..)" (S.224).
Mit Pollys \'erletzung durch Sara ist ihre gesellschaftUche Isolation beendet,
ihre Exodus in die Freiheit vorbereitet. Isabelle hat den \ brfall beobachtet,
klettert iiber den Gartenzaun und holt die Katze zu sich, liisst aber Sara
gleichgultig die regnerische Xacht liber im Garten. SchlieBlich verscheucht
Isabelle die lastige Katze, der Drogendealer jim totet Pollv, indem er sie an die
W and wirft. Jim, der sich Isabelle gegeniiber als personifizierter Tod (A'^gl. S.
266) stilisiert haite und selbst vom Todesengel bedroht wird (\'g\. S. 244),
zwingt schlieBlich mit offenem Messer Isabelle, dem blutenden, nach Urin
und Fakalien stinkenden Madchen Sara zu helfen.
Hier erscheint mir eine ganz bemerkenswerte Durchbrechung einer
sukzessiven Linie von Gewaltsteigerung vermittelt zu werden wie sie im Lied
Had Giidja voTgeztichnct ist. Bei Had Gadya handch es sich um ein p sach -
Lied, das am Fnde des seder-Mahls, also am 1. p sach -Abend, gesungen
wird.""* In dem 10-strophigen Lied kauft sich ein N'ater fur zwei zuzim ein
Kind; eine Katze frisst das Kind, ein Hund beiBt die Katze zu Tode, der
Hund wird von einem Stock geschlagen, der Stock wird vom Feuer verbrannt,
W'asser loscht das Feuer, ein Ochse tnnkt das W'asser, ein shohet schlachtet den
Ochsen, der Todesengel totet den shohet, schlieBlich loscht Gott den Todesengel
aus. Der Refrain „Had Gadya" (ein einziges Kind) wird von jiidischen
Kommentatoren allegorisch auf das unterdriickte jiidische Yolk bezogen.
Gott erscheint als \'ater, die Katze steht fiir Assyrien, der 1 lund fur Babylon,
106
der Stock fiir Persien, das Feuer fiir Makedonien, das \X asser fiir Rom usw. Das
Lied-Ende venveist auf die messianischc Errettung: Gott befreit das einzige
Kind. Had Gava reprasentiert nicht zuletzt auch eine Svmbiose deutsch-
judischen Zusammcnlebens, es scheint auf das deutsche Bankellied „Der
Herr der schickt den jockel aus" zuriickzugehen.-'' Indem in Hackers Roman
Die Habenichtse auf die gewalttatige Struktur der W'eltgeschichte und des
unterdriickten jiidischen \^olks zuriickgegriffen wird, werden dennoch
entscheidende \ eranderungen vorgenommen: Sara nimmt selbsttatig den
eigentlich in der Zukunft drohenden Stock in die Hand. Das Modell sich
wiederholender, aufschaukelnder (Tcwalt und Rache verliert seine Giiltigkeit.
Das Gebet, um das in Benjamins hncklicht Mdinikin das Miinnlein fiir sich
bittet, und das fiir Benjamin siikular als „naturliches Gebet der Seele"^'', als
Aufmerksamkeit formuliert werden muss, soil nun — wie aller Kreatur - der
Katze gelten (\^gl. S. 271).- Die Kausalkette der Gewalt ist durchbrochen,
indem eine Perspektivierung der C^pfer erzwoingen wird. Jim zwingt Isabelle,
Sara zu helfen. „Isabelles unberiihrt scheinendes Gesicht reizt ihn zu einer
grausamen Therapie der Konfrontation mit dem Leiden anderer.""* Jims
Therapie steigert sich zu einem Gerichtsverfahren iiber die Gleichgiiltigkeit
Isabelles, zu einem vorweggenommenen ]iingsten Gericht: „Aber es ist alles
aufgelistet, egal, ob einer es weiB oder nicht. Und ich habe dich gesehen" (S.
273), schlieBLich: „ich bringe dir bei, wie man etwas nicht vergisst" (S. 274).
Isabelles geschlossene Augen geben dabei „ein Totenreich fiir wenige Minuten"
preis (S. 273).
Die messianische Befreiung, die in HadCuidyaxon Gott erhofft wird,
reklamiert auch die rebellierende, die i\rme in den Himmel streckende Sara fiir
sich bereits in der Gegenwart - als Aufmerksamkeit und Forderung nach
Beachtung durch die Gesellschaft. „|ede Kindheit", so heiBt es in Die
Habenichtse, sei „eine Auflistung des Cberlebens und eine der Fremdheit, [. . .]
eine Geschichte des Exils und der Scham" (S. 44). Gefahrdung und Chance
zugleich liegen im Inneren der individuellen Kindheitserfahrung verborgen.
Benjamins Anliegen, im „Innern [der Kindheit F. R] spatere geschichtliche
Erfahrung zu priiformieren"^'', weist der Erinnerung an die eigene Kindheit
Schliisselfunktion fiir die Diagnose der Gegenwart zu. Die todlichen Spiele
der Erwachsenen in Saras Garten bezeugen Saras eminente Gefahrdung. Das
hucklicht Matinlein, die Figuration des Vergessens, das als Bedingung einer
einsetzenden Erinnerung gesehen werden muss, setzt fiir Isabelle die
uniiberwindliche Differenz zwischen Kindheit und Erwachsensein. Es
„v'erhindert auf diese \X eise den falschen Schein einer Kontinuitat von Kindheit
und Erwachsenenleben"'". Isabelle kann vor Sara, deren Mutter ihr Alter hat
(\'gl. S. 235), nicht weiter als Kind bestehen. Das lebenszeitliche und
geschichtliche Kontinuum ist durchbrochen. Saras Revoke erweist sich dabei
als messianisches Handeln in der Jetztzeit, sie nimmt das )iingste Gericht
107
vorweg. In Saras angezettelter Gartenrevolution zeigt sich die Verpflichtung
des Romans gegeniiber Benjamins monadologischem Verfahren. Es geht
nicht um stringent gekJarte Universalgeschichte: „den Blick statt auf die
luckenlose Folge der Ereignisse aut das cinzelne Glied dieser Kette zu richten
und an ihm in einem Augenblick des Verweilens monadoiogisch den
Gewaltzusammenhang der Totalitiit zu entziffern"^' — dies fiihrt der Roman
sowohl in der Auflosung der Gewaltkette des Had Gadja als auch in seiner
Kontexturierung mit dem 1 1 . September vor. Sara begriindet so „einen Begriff
der Gegenwart als >Jetztzeit<, in welcher Splitter der messianischen
eingesprengt sind."^^, wie Benjamin dies fordert. Schon Saras Name hiitte uns
ja stutzig machen miissen: „Sara ohne H" nennt sie ihr Bruder Dave. Dies
macht hellhorig. Veru'eist er doch auf Sara, die Frau Abrahams, der Gott noch
im hohen Alter ein Kind schenkt und dies mit einem neuen Namen besiegelt:
„Deine Frau Sarai soUst du nicht mehr Sarai nennen, sondern Sara (Herrin) soU
sie heiBen. Ich will sie segnen und dir auch von ihr einen Sohn geben. Ich
segne sie, so dass Volker aus ihr hervorgehen; Konige iiber Volker sollen ihr
entstammen." (Gen 17, 15f.)^^ Saras Name, der die Bedrohtheit ihrer Fixistenz
sinnfallig zum Ausdruck bringt („Manchmal verschwand der Name vollstiindig.
Sie selbst war noch da, aber der Name war verschwunden, wie das H." S. 53),
ist zugleich VerheiBung. Der dialektische Umschlag von Hoffnungslosigkeit
in zu realisierende Veranderung ist gerade fiir die Geschichtsphilosophie
Benjamins charakteristisch: „Der Zustand der tiefsten, hoffnungslosen
Entstellung, der der volligen Illusionslosigkeit, ist in Benjamins
geschichtstheoretischer Konstruktion der Zustand, in dem die Hotfnung auf
die Veranderung des Ganzen durch eine kiinftige Gesellschaft ihren Grund
hat."^"* Nicht eine Fort- und Festschreihung der Opfergeschichten gilt es also
zu leisten, sondern eine — auch gewalttiitige - Durchbrechung des
(Zeit)Kontinuums, die allein erst die Gegenwart wieder sinnhaft erfahrbar
macht.
Der Verlust von Vergangenheit und Gegenwart beschwort den
Einbruch der medial banalisierten, kommerziell verwerteten Gewalt in die
Lebenswirklichkeitgeradezu herauh Fiir Isabelle durchbrichtphysische Gewalt
das leere Zeitempfmden.-^ Gerade hier liegt die zentrale Provokation von
Hackers Generationenportrjit. Vor dieser bedrohlichen Gewaltkulisse soil
Benjamins Forderung, Splitter der messianischen Zeit in der Jetztzeit zu
begriinden, hier zum Schluss auch an Hackers Roman Die Hcibenicbtse
herangetragen werden. Imvieweit reflekdert letzdich der Roman das Dilemma,
leeres Zeitkontinuum wieder mit messianischer Jetztzeit zu erfiillen?
108
4. Messianische Zeit. Uber die Rcaktualisierung eines Benjaminschen
Zeitverstandnisses
Der Roman setzt — wie gezeigt — die Ereignisse des 1 1 . Septembers in engen
Kontext mit dem Schicksal des jiidischen Volkes: das Vorbeiziehen des
Wiirgeengels als Uberleben und Hrrettung aus Gefahr, das beim seder-Mahl
gesungene HadGadyaals Entwurf einer Gewaltitette, die durchbrochen vverden
kann. Inwieweit dieses zweifcUos streitbare Unterfangen, dem 1 1. September
die Struktur eines passah-Eingedenkens einzuschreiben, auch den Versuch
darstellt, sich von einer postmodernen ,Abdanknng der groBen Erzahlungen'
im Sinne Lyotards zu distanzicren, kann hicr nur zur Diskussion gestellt
werden.^''
Als bedeutsamer Referenztext des Romans erxveist sich zweifelsohne
das \Xerk Walter Benjamins. Benjamin hatte die Tlieologie in seiner beriihmten
ersten These V her den Beff'ilf der Geschichte d.h buckligen Zwergbezeichnet, der
„heute bekanntlich klein und hiisslich ist und sich ohnehin nicht darf blicken
lassen"^" und dennoch als „Meister im Schachspiel"^** der Geschichte fungieren
kann und muss. Benjamins messianisch aufgeladene letztzeit, die sich als in
der Gegenwart voUziehendes jiingstes Gericht begreift, stellt sich als radikale
Forderung an die „Habenichtse" der Gegenwart dar. So kann der Engel der
Geschichte in Isabelle nicht abdanken, ihm ist mit Mae eine Doppelgangerin
zur Seite gestellt, die entsetzt feststellt: „Und die Toten (. . .), die wir vergaBen,
rufen nach uns" (S. 28).
Bushs Rede nach dem 1 1 . September, dass nicht s sei, wie es war, ein
wirkungsmiichtiges Modell der Geschichtsschreibung, wird im R(Mnan hiiufig
variiert, enveist sich im Benjaminschen Sinne jedoch als undialektische
Ziellosigkeit der Geschichte. Diese undialektische Ziellc^sigkeit gilt es fiir
Benjamin zu dechiffrieren, stillzulegen. „Denn Benjamins Erkenntnismethode
des Eingcdenkens fixiert im Lichte der Erlosung vermittels dialektischer Bilder
diesen geschichtHchen Fortschritt als eine einzige Katastrophe, um damit die
Notwendigkeit zu begriinden, ihn abzubrechen und um die Chancen fiir
einen solchen Abbruch sichtbar zu machen. Diese Chancen, die jeweiligen Ur-
Spriinge der Befreiung, ergeben sich nicht in der Logik des Fortschritts, die
eine der Herrschaft ist, sondern f/;/-springen Wwgegen sie"^'^, so Thielen. Erst in
der Erkenntnis, dass alles so geblieben ist, wie es immer war, - dies die
Perspektive von Dave und Sara (\'gl. S. 222), setzt sich die Voraussetzung fiir
ein messianisch gedachtes „y\lles wird anders" - wie es der erste Satz des
Romans ja auch als programmatische Hoffnung postuliert. „CjroB und
revolutioniir ist nur das Kleine, das >Mindere<""'" konstatieren Gilles Deleuze
und Felix Guattari in ihrem Katlsa-Buch, das sich als Pladover „Fiir eine kleine
Literatur" versteht.
Dass damit dem ErzJihlen an sich eine eminent ethische Bedeutung
zugewiesen wird, kann hicr mit Wrweis auf Isabelles Kindhcitscrzahlung als
109
Wachwerden des inneren Auges (\^gl. S. 44) und der herausragenden RoUe des
Miirchens fiir Saras Aufbegehren (Vgl. S. 224) nur angedeutet werden. Nicht
zuletzt ist es ein Besuch der Theatervorstellung von Shakespeares King Lear,
der bei Isabelle mehr Schrecken hervorzurufen vermag als der
Vergewaltigungsversuch: der Biihnen-Narr wird zur realen Person, die Isabelle
nach der Vorstellung fluchend verfolgt, damit zwischen Wirklichkeit und
Fiktion, Biihne und Lebenswelt oszilliert, nicht fixiert oder verortet werden
kann. Das vom Tod her gedachte „Thou'U come >J0 more, never, never, never, never,
never''' KingLears macht Isabelle durch seine Enthiillung der Leere derjetztzeit
Angst - es ist die Perspektive eines vergebhch riickblickenden Denkens (\'gl. S.
167-169) - und damit die der einsetzenden Hrinnerung. Dieses komplexe
Ineinander von Fikdon und Wirklichkeit fiihrt im Vergewaldgungsversuch
auf die Spitze getrieben eine Wirklichkeit „im Modus der Zitathaftigkeit, der
Fiktionalitiit, der Tiefenlosigkeit"'" vor, die Gefahr und Gewalt als
potentiaUsierte Fiktion erscheinen lasst, eben als „nicht mehr real" (S. 171)
oder: „Auch das, was einem selber zustieB, loste sich auf" (S. 172). \X'enn hier
Fikdon miichtiger als gewalttiitige Wirklichkeit inszeniert wird, so um in der
Konfrontadon die FiktionaUtat der Wirklichkeit, ihre Oberflachenorienderung,^^
zu zerbrechen. Die kontrastive Perspektive der Opfer - „Schauspieler, dachte
Isabelle, aber das war es nicht, es war kein Schauspiel, nicht tiir )im und Sara"
(S. 298) - verfiigt iiber fiktionalisicrte Wirklichkeit nicht im Sinne der
Distanznahme und F^ntwirklichung, sondcrn verwirklicht das utopische
Potendal der Fiktion: „Der Lohn war die F'reiheit, der Lohn war ein goldener
Schatz, und jeder Wunsch ging in Erfiillung" (S. 224), so Saras Marchenglaube,
der damit auch ein Glaube an die Moglichkeit ihrer Befreiung ist.
Isabelle steht am Ende des Romans in [ims schweiBdurchtrankten
Ivlamotten als Benjaminscher Lumpensammler'*' vor ihrem verschlossenen
Haus. Die unerbittlich ziellose Flaneurin ist zum Stillstand, zum Eingedenken
gebracht. Doch sie blickt nicht zuriack in die \'ergangenheit, sondern in eine
verriegelte Zukunft. Die Beziehung mit Jakob ist zerbrochen. „Es wird anders
jetzt" sagt Jakob leise (S. 308). Die zicllos tortschreitende Zeit ist auch iiber
Jakob und Isabelle hinweggegangen. Die I loftnung des „alles wird anders" —
von Sara eingelost - findet im Romanende ihren dialektischen Umschlag.
„Nur scheinbar paradox stehen in dem Roman gerade die, welche wirklich
Verluste zu beklagen haben, nicht mit leeren Hiinden da. Sie wissen, was sie
besitzen, weil sie verloren haben."""
Erst im augenblickshaften Bruch mit der Kondnuitat der Zeit ist der
Exodus aus der Gefangenschatt von Erkenntnisblindheit und Gewalt moglich.
In Tel Aviv. Eine Stadten^hhmg heiBt es schlicht: „Zum Beispiel gibt es fast
jeden Tag einen Augenblick, in dem es moglich ware, beinahe alles zu
verandern.""*^ Diese diskontinuierliche Zeitauffassung ist nicht zuletzt auch
eine ,, ,geheime Verabredung' zwischen den Cjeschlechtern"'"'. So geht es im
110
Eingedenken an die Opfer der Geschichtskatastrophe weder um
Erinnerungsrituale noch um abstraktes Pflichtbewusstsein. Denn „\vahrend
die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeidiche ist, ist die
des Gewesenen zum ]etzt eine dialekdsche: nicht zeitlicher sondern bildlicher
Natur'"* Das Bild des Gewesenen im }etzt der Erkennbarkeit und des
Eingedenkens, die Konstellation von \'ergangenem und Gegenwardgen im
geschichtlichen Bild entfaltet „das Ciewesene zu seiner utopischen Aktualitiit"'*^'
macht messianische Jetztzeit realisierbar. Die Toten diirfen nicht abhanden
kommen.
Endnotes
' Deutsches Worterbuch. Hg. v. jacnb und \X ilhelm Grimm. Bd. 4,2. Leipzig 1877. Sp. 77.
^ Heike Hermann: Nur ein Stich in der Seele. In: literaturkritik.de 10 (2006).
' Den Romanzitaten liegt folgende Ausgabe zugrunde: Katharina Hacker: Die Habenichtse.
Frankfort a. M. *2006.
"• Hans-Ulrich Gumbrecht: Art. ,Pnstmoderne'. In: Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Hg. v. |an Dirk Miiller u.a. Bd. III. Berlin, New \brk 2003, S. 136-
140, hierS. 137.
' Heike Hermann: Nur ein Stich in der Seele [.\nm. II].
' Hannah .Arendt: Walter Benjamin. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula
I.udz. Muinchen 1989, S. 185-242, hier S. 202t'. Damit verdankt Isabciie nicht nur ihre
Stellung in der Agentur der verstorbenen Hanna, sondern schlichtweg ihre literarische
Existenz Hannah (Arendt).
Vgl. Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik
Walter Benjamins.Tiibingen 1987 (Studien zur deutschen Literatur 94), S. 213 Anm. 19.
' Vgl. Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Ders.: Gesammelte Schriften II. 1. Hg. v. Rolf
Tiedemann u. Hermann Schweppenhauser. Frankfurt a. M. 1977, S. 334-367, hier S. 367.
Die unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem von Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhauser herausgegebenen Gesammelten Schriften
Benjamins. Frankfurt a. M. 1972ff. werden im folgenden zitiert als GS.
' Vgl. Gershom Scholem: Die jiidische Mystik in ihren Hauptstromungen. Frankfurt a.
M. «2004, S. 294.
"• Vgl. Peter Szondi: Hoffnung im \'ergangenen. Uber Walter Benjamin. In: Ders.: Schriften
II. Redakdon Wolfgang Fietkau. Frankfurt a. M. 1978, S. 278-294.
" Stephane Moses: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig. Walter Benjamin.
Gershom Sholem. Frankfurt a. M. 1994, S. 137.
'2 Walter Benjamin: Uber den Begriff der Geschichte. In: GS 1.2, S. 691-704, hier S. 697.
" Ders.: Anmerkungen zu ,Uber den Begriff der Geschichte'. Benjamin-Archiv Ms 444.
In:GSI.3,S. 1250.
''' Benjamin gestand dabei gerade dem Kind wie dem Flaneur herausragende
mnemotechnische Fahigkeiten zu: „So memoriert der Flaneur wie ein Kind, so besteht
er hart wie das Alter auf seiner Weisheit." Walter Benjamin: Die Wiederkehr des Flaneurs.
In: Ders.: GS III, S. 194-199, hier S. 198.
'^ „War es in ihren beiden vorangegangenen Romanen, ,Der Bademeister' (2000) und
,Eine Art Liebe' (2003), noch eindeutiger um die deutsche NS A'ergangenheit und deren
Folgen gegangen, so spielt das jetzt nur noch sehr mittelbar eine Rnlle. Die Schuld, um
die es in dem Roman "Die Habenichtse" eigentlich geht, ist unautfalliger- und gerade
111
das macht ihn so radikal. Schuldig werden an sich selbst und an anderen, das kann man
niimlich auch, indem man gar nichts tut - das zeigt die traurige Geschichte von Isabelle
und )akob." Anne Kraume: So soil es sein. In: taz 16.03.2006.
'^ Stephane ^foses: Der Engel der Geschichte [Anm. XI], S. 159.
' Friedmar Apel: Erinnerung und VC'issen bei Saul Friediander und Katharina Hacker. In:
Das Gediichinis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur
des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Berlin 2006 (Zcitschrift
fiir dt. Philologie. Sonderheft 125), S. 176 182, hier S. 181.
'* Heinz Briiggemann: Fenster mit brennender Lampe in schadhafter Mauer — Riiume
und Augenbiicke in Walter Benjamins Berliner Kinilheit urn 1900. In: Ders.: Das andere
Fenster: Einblicke in Hauser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen
Wahrnehmungsform. Frankflirt a. M. 1989, S. 233-266, hier S. 264.
" Anja Lemke: Gedachtnisraume des Selbst. Walter Benjamms „Berliner Kintiheii um
neunzehnhundert". Wiirzburg 2005, S. 156.
^° Vgl. Walter Benjamin: Altes Spielzeug. In: GS IV. 1, S. 511515.
" Vgl. Ders.: Spielzeug und Spielen. In: GS III, S. 12^ 132, hier S. 128.
^Ebd. S. 131.
" Ders.: Altes Spielzeug [Anm. XX], S. 515.
^* Vgl. hierzu Art. ,Had Gadya'. In: Encj'clopedia Judaica. Bd. 7. Jerusalem 1971, Sp. 1048-
1050.
" Vgl. Ebd., Sp. 1048.
^^ Ders.: Franz Kat"ka. Zur zehnten W'iederkehr seines Todestages. In: GS II. 2, S. 409-438,
hier S. 432.
' Die Katze, mit der sowohl Sara (A'^gl. S. 53) als auch Mae (Vgl. S. 30) identifiziert werden,
vergegenwartigt fiir Andras nicht zuletzt die jiidische Geschichte (A'gl. S. 196f.).
^^ Friedmar Apel: Nichts wird gut. In: FAZ 2.10.2006.
^' Walter Benjamin: Vorwort zur , Berliner Ivindheit'. ,Fassung letzter Hand'. Zit. nach:
Bucklicht Mannlein und Engel der Geschichte. Walter Benjamin. Theoretiker der
Moderne. Eine Ausstelung des Werkbund Archivs im Martin Gropius-Bau 28. 12.1990
bis 28. April 1991. GieBen 1990. S. 39.
^ Anna Stiissi: Erinnerung an die Zukunft. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert". Gfittingen 1977, S. 61.
^' Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion [Anm. Vll], S. 220.
'^ Walter Benjamin: Cber den Begriff der Geschichte. Thesenanhang A In: GS 1.2, S. 704.
'^ "The change of her name from the original Sarai (a princess of her own people) to
Sarah devoted that henceforth she would be „a princess for all mankind" (Gen. R. 41:1).
[. ..] Sarah was originally barren, but a miracle was performed to her after her name was
changed from Sarai and her youth was restored (Gen R. 47:2)" Aaron Rothkoff: Art.
'Sarah'. In: Encyclopedia J udaica Bd. 14. Jerusalem 1971, Sp. 866-869, hier Sp. 868.
^'* Heinz Briiggemann: Fenster mit brennender Lampe in schadhafter Mauer [Anm.
XVIII1,S.S.250.
'' Vgl. den Vergewalugungsversuch S. 169f., das Aufschlagen Saras auf der Hauswand, das
als „ein winziger Riss" im Kontinuum wahrgenommen wird (S. 171), sowie Jims
gewalttatige Forcierung einer Hilfe fiir Sara (S. 273).
"' Jorg Magenau hatte bereits an Hackers Roman Eine Art Uebe die „Erh6hung einer
schicksalhaften jiidischen Heimatlosigkeit ins Myihisch Allgemeine" kritisiert. Vgl. Jorg
Magenau: Abel lebt, doch Kaim muB sterben. Ein Roman als Ubertragung: Katharina
Hackers jiidische Lebensgeschichte. In: FAZ 7.10.2003, S. LIO.
^' Walter Benjamin: Uber den Begriff der Geschichte. In: GS 1.2, S. 693.
'« Ebd.
" Helmut 'I'hielen: lungedenken und Erlosung. Walter Benjamin. Wiirzburg 2005, S. 23.
""^ Gilles Deleuze, Felix Guattari: Kafka. Fiir eine kleine Literatur. .\us dem Frz. ubersetzt
112
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■" Gerhard Regn: Postmodernc iintl Poetik der Oberfliiche. In: Postsirukturalismus -
Dekonstruktion - Postmodernc. Hg. v. Klaus W. Hempfer. Stuttgart 1992 (Text und
Kontext 9), S. 52-74, hier S. 70
"^ Zur Oberflache (.surface') als Fundierungskategorie der Postmoderne vgl. Frederic
)ameson: Postmoderne — zur Logik der Kultur im Spatkapitalismus. In: Andreas Huysen,
Klaus R. Scherpe: Postmoderne. Zeichen eines strukturcllen Wandels. Reinbek bei
Hamburg 1986, S. 45-102.
*^ „Die Methode der Verwendung besteht nicht euva im W'egraumen, sondern in der
Verwandlung des Abfalls: darin, dass es gar keinen Abfall gibt. Denn jedes Stiick Abfall
kann sich nach der destruktiven Arbeit des bucklicht Mannlein als Monade darstellen."
Marianne Schuller: Ent-Zweit - Zur Arbeit des „buck]icht Mannlein" in Walter Benjamins
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'*'' Katharina Hacker: Tel Aviv. Eine Stadterzahlung. Frankfurt a. M. ^2006, S. 133.
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116
Walking at the Abyss:
Writing in Crisis and the Imagery of Walking in Wolfgang
Borcherf's DrauBen vor der Tiir and Inge Miiller's Poetry
Sonja Wandelt
Die StraBe weitergehen! Leben sol! ich? Ich soil
weitergehen? (Borchert 1 9)
Wolfgang Borchert's famous post-war drama Dratifin rorrt'^rT/Vr poignantly
expresses the inabilit)' of the protagonist Beckmann to continue walking and
living after having experienced the atrocities of \X odd War II. The relentless
struggle of Beckmann to stay on the road - the road as a symbol of Life that
hauntingly pervades the drama — effectively reveals the feeling of paralysis at
the moment of crisis. Similarly the post-war poet Inge MiiUer, who barely
surnved the bombings of Berlin at the end of World War II, uses the imagery
of walking, running, and stumbling to articulate the daily effort in overcoming
the experience of crisis, also guilt, and trauma: "FuB vor FuB, muhsam"(Muller
102). In both authors' works the 'natural' act of walking as a basic and almost
automatic human activity has been disrupted through the overpowering
experience of war and death. The obsession with walking hence conveys the
writers' traumatic response, but also attempt to overcome the trauma. Both
Borchert's drama and Miiller's poetry are precarious walks at the abyss of
death.
Tlie theme of walking is indeed a familiar and prominent motif in
literary liistory. PhiHpp Lopate's essay "The pen on foot: The Literature of
Walking Around" and Peter StaUybrass' article "The Mystery of Walking"
provide excellent introductions into the literature of walking. The perhaps
most famous image of walking is the nineteenth centur)- idea of the "flaneur,"
the contemplative and solitary cit)' stroller.' The more recent example of W. G.
Sebald's The Rings of Saturn resonates profoundly with Lopate's interpretation
of the urban stroller: "The urban connoisseur is also an archaeologist of the
recently vanished past... Superimposed over the present edifice, he cannot
help seeing its former incarnation" (Lopate 185). Sebald's narrator ventures on
a walk at the British shore, which is described as a palimpsest and at several
moments presents the narrator with sights of pasmess and destruction. Similar
to Beckmann's and MiiUer's sensation of paralysis in response to war and
death, Sebald's narrator declares ". . .the paralyzing horror that had come at
17
various times when confronted with the traces of destruction, reaching far
back into the past. Perhaps it was because of this that, a year to the day after I
began my tour, 1 was taken into a hospital in Norwich in a state of almost
immobility" (Sebald 3). The ideas of mobilit)-, trauma, and memory are
intricately linked. In tact Sebald serves as a valuable point of connection between
the more traditional literature of walking, and the motif of walking in crisis.
The formerly natural act of walking, which inspires an engagement with the
outside world, becomes impossible in the moment of crisis and trauma.
Instead the individual has to struggle to regain mobility and to thus reclaim a
role as active participant in life. Sebald's novel presents both sides: the narrator's
engagement with outside stimulations and changes, and his inward
confrontation with anxiet}' and immobilit)'. Borchert's and Miiller's texts,
however, yet have to recover the 'natural' ability to walk and to face the outside
world, since they are still trapped in the paralyzing moment of crisis and
trauma.
This article seeks to read the imagery of walldng in Borchert's Dmujsen
rorderT/ir and in Inge Miiller's poetry as an expression of trauma and as an
exclamation of the urgent need for direction in the moment of crisis. Shoshana
Felman emphasizes the idea of direction and traveling in her book Testimony.
Crises of Witnessing in UteraUire, Psychoanalysis, and History \n her discussion of
Paul Celan's poetry, and Felman reminds readers of Celan's comment: "I have
written poems. . .so as to speak, to orient myself, to explore where I was and
was meant to go. . ." (Felman 25)}
In his work Jenseits des L/istprin-:(ips Freud famously proposed that
even though man's actions are primarily driven by a wish for pleasure fulfillment
- the pleasure principle - there are nevertheless dreams, events, and behaviors,
which cannot be explained in this way^ One of Freud's central examples is the
occurrence of traumatic dreams. In the following discussion of Borchert's
drama it is worthwhile to keep in mind that the English translation oiDraiifien
porderTii mho includes the original subtitle "The Dream." In fact, the whole
play has often been interpreted as a nightmarish dream, and one might even
suggest as an expression of Beckmann's psychic trauma.
As a consequence of traumatic experiences, the pleasure principle is
put out of action, and therefore allows for traumatic disorders. Freud
emphasizes the uncontrolled, compulsory, and repetitive nature of trauma,
which he explains as an attempt to master the stimulus that violendy penetrated
the protective shield of human consciousness retrospecdvely.'* By going back
to the moment of horrific fright and injury, the patient transforms the moment
of "Schreck" into a moment of "Angst."' "Diese Traume suchen die
Reizbewaltigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung
die Ursache der traumarischen Neurose geworden ist" (Freud 32). This time,
according to Freud, the inner defense system is prepared for the violent
118
intrusion, and is thus able "to bind"'' its protective forces and to confront the
outside assault. The patient is therefore able to transform from a passive
victim, who was suddenh' and vioienth' dismpted by external sways, into an
active participant, who is primed for the aggressive intrusion, and who is
hence able to master the situation.
I am convinced that this opposition of passivity and active agency,
which Freud proposes, will sc^undlv illuminate the reading of both Borchert's
and Miiller's work and their obsession with walking in the moment f)f crisis.
The original loss of masten' following the traumatic experience is substituted
elsewhere, here in the relentless and painful desire to resume the ability of
walking again.
Between Life and Death: Wolfang Borchert's Dranfien vor der Tiir
W olfgang Borchert's drama Dni//fM'i/ vor der Tiirw^s wntten onl\- two years after
the end of W orld W ar II and only one year before Borchert's untimely death,
and it has come to epitomize the despair and gloom of the immediate post-
war years in Germany, a time in German culture that is remembered as
"Trummerliteratur." Borchert tells the story of a soldier's homecoming to his
ruined hometown Hamburg after two years of imprisonment in Russia.
After fmding liis son dead and his wife in the arms of another man, Beckmann
throws himself into the water in an attempt to commit suicide. "\'et the river
Elbe tosses him back out and tells him to continue living. Becl-onann ventures
on a journey to find what is left of his tormer life. His parents, strong supporters
of the Nazi regime, committed suicide after Germany's capitulation. Utterly
disturbed, Beckmann then seeks to confront his former militan' superior, the
colonel, who during combat assigned Beckmann control over a group of
soldiers. .Ail of them died in battle. Beckmann feels paralyzed by his failure,
and is overpowered by his feeling of responsibiUtv The colonel, on the other
hand, has almost completely forgotten about the war, and leads a prosperous
life with his family amidst the ruins of destruction. He has moved on, and is
unwilling to be reminded of the war or to take on any responsibilit}' for his
actions in combat. Beckmann comes to realize that the hometown he has
returned to is an apocalyptic world of horror and destruction, yet its people
ha\e managed to adapt and to continue living. Beckmann, however, quickly
learns that he does not fit into this societ)' anymore, and he becomes the man
outside the door.
Dunng his passage through the ruins of Hamburg, Beckmann
frequendy expresses his inability to conunue walking and his desire to end his
life. The idea of stasis is further emphasized by the fact that Beckmann has an
injured leg, which he calls a 'souvenir' from war. Beckmann explains: "Mir
haben sie die Kniescheibe gestohlen. In Russland. Und nun muss ich mit
einem steiten Bein durch das Leben hinken. Und ich denke immer, es geht
riickwarts statt vonvarts" (Borchert 15). Beckmann's injury works as an
unsettling symbol of the everlasting presence of the war in Beckmann's life,
which also traps him in a state of trauma. Beckmann, overcome by grief,
horror, and the weight of responsibility, often feels unable to continue to
walk: "Aufstehen mag ich nicht mehr. . . Ich liege auf der StraBe und sterbe. Die
Lunge macht nicht mehr mit, das Herz macht nicht mehr mit und die Beine
nicht" (Borchert 41). It is only the mysterious character "Der Andere" who
pulls Beckmann back onto the road time and again: "Komm, die StraBe ist
hier oben" (Borchert 23), "Komm, hier ist deine StraBe" (Borchert 34),
"Komm, bleib oben, deine StraBe ist noch lang" (Borchert 38).
Beckmann's walk through his ruined hometown is a journey in a
realm between life and death. Borchert evokes the struggle of an individual
torn between the drive to live and the desire to die in an almost dream-like
state. The ending of the drama is unresolved. It is unclear whether Beckmann
ultimately decides to end his life or to take on the challenge of staying on the
road and thus to Uve. The enigmatic qualitv of the play's characters and motifs
invited ven diverse interpretations from hope to complete despair. This article
attempts to iUuminate the overall drama through ps\choanal\tic trauma theor}',
and thus reads the plav as the expression of post-traumatic disorder, a reading,
which is supported by the dream-like quality of the text and on the micro-level
most poignantly bv the image of walking. Beckmann is tormented by his
constant struggle to walk and explains his first suicide attempt in the following
way: "Ich konnte es nicht mehr aushalten dieses Gehumpel und Gehinke"
(Borchert 14).
In his work, Freud stresses the notion of involuntan' repetition-
compulsion as a sign of traumatic disorder. Interestingly, Borchert's drama
makes incessant use of various repetition devices both on a structural level,
and also in language. Beckmann repeatedly faces similar challenges and is literally
left standing outside the door several times. He stands before closed doors,
when he returns to his wife, he stands outside the apartment building his
parents formerly lived in and faces a closed door, and finally he is left standing
outside the colonel's house. Furthermore, the character Beckmann is doubled
by a similarly suicidal one-legged soldier, wh(j on his return home from Russia
finds his wife with another man, and then commits suicide. So not only does
die audience follow Beckmann's struggle of experiencing the same challenges
over and over in the play, but this story is even repeated in the life of another
character, another Beckmann. The use of repetidon is even more salient in
Borchert's language. "Der Andere" is Beckmann's constant companion
throughout the play, yet the dialogue between these two characters changes
very litde in the course of the play. Beckmann incessantly utters his wish to
leave the road and to commit suicide, while "der Andere" constandy forces
Beckmann to return to the road. The speeches of both characters vary only
120
little, and are often direct repetitions of previous statements.
The enigmatic and interesting character in Borchert's play is "Der
Andere," who functions as Beckmann's lite force. "Der Andere" is described as
having no face, onlv Beckmann can see or sense him, and nobody else. "Der
Andere" constantlv repeats his commands to continue on the road: "Steh auf,
sag ich! LebeI...Komm Beckmann, du musst weiter" (Borchert 41). While
Beckmann continuously threatens to kill himself, the character "Der Andere"
is an active force trying to keep Beckmann alive and walking. In the context of
Freud's trauma theory I would argue for two possible explanations of "Der
Andere." Beckmann is overpowered by the trauma of war, imprisonment,
guilt, and desolation. His only desire is to die, to follow his death drive
("Thanatos"). "Der Andere," on the other hand, comes to represent what
Freud calls "Eros," or the life instinct. In the moment of crisis and trauma the
split and conflict between these two separate instincts is visibly revealed.
Furthermore "Der Andere" has still preserved his agency, which Beckmann
through the experience of trauma has lost. Remember Freud's statement that
traumatic responses are an attempt to regain the previously lost sense of
master\- at the moment of shock. Beckmann is trapped in a position of
passivit\", emphasized through the imagery of his inability to walk and his
injured leg His repetitive-compulsive response in relentlessly confronting a
voice within him that calls him to cc^ntinue walking thus functions as
Beckmann's effort to overcome passivity and to become an acting subject
again. At the end of the play the character "Der Andere" has disappeared, and
Beckmann shouts: "W'b bist du, Anderer? Du bist doch sonst immer da!"
(Borchert 54). Even in a reading through the lens of psychoanalytic trauma
theory, the ending remains ambiguous and inconclusive. The disappearance
of "Der Andere" can be read as Beckmann's final recovery of mastery and
agency, or as the triumph of his death drive and Beckmann's ultimate death.
Inge Miiller: "FuB vor FuB" - Writing and Walking at the Abyss
The poet Inge Miiller never received full attention or appreciation tor her
powerful literan' wcjrk during her lifetime, and literan' scholars have on\\ recendy
rediscovered Inge Miiller's poetry. Her first collected poetry edition W enn ich
schoti sterben wnjs'yyi?, published in 1985, almost nventy years after her death.
Usually, discussions of Inge Miiller's poetry follow her biography very closely;
and, indeed, Mi^iller's poetry is intensely informed by her private life. The lyrical
voice of Miiller explicitl\' refers to her parents, her childhood, and her traumatic
experiences of death and devastation dunng the war. During the bombing of
Berlin Inge Miiller was buried under the nibble of a collapsed house for
almost three days. Wlien she was finally rescued, she found her parents dead.
Intimate moments in her tailed marriage to the renowned poet 1 ieiner Miiller
121
can equally be traced in her writings. Most prominently, however, scholars
relate her poetr)' to her final suicide in 1966 at the age of 41 years. Her ample
use of death imageries throughout her poems unquestionably invites this
reading, and Miiller's poetry indeed depicts a constant struggle between life
and death. "Die Gedichte geraten zu Experimenten auf Leben und Tod,"
according to one critic (Heydrich 823). Inge Miiller's mode of writing has also
been compared to the work of the better-known American poet Sylvia Plath,
who is often understood as a representative of "confessional" poetry. Plath's
now almost legendary suicide in 1963, only three years before Miiller's death
(also dirough gas), forms a very apparent, yet also uncanny, point of comparison
between these two otherwise ver)' different woman writers.
However this analysis of Miiller's poetry will try to avoid interpreting
her texts exclusively as ominous prophecies oi her seemingly inevitable suicide.
Instead the focus will be on Miiller's engagement with her own history, her
past, but also her wish for a future and her relentless quest to regain agency,
which is expressed in the frequent motif of walking. Inge Miiller's poetry will
be read as the expression of personal trauma, and as the compulsor}' repetition
of loss. Miiller ceaselessly stumbles and falls, but does not give up in her
attempt to walk. While the poet Miiller realizes the paralysis caused by her
traumatic experience of the war (and this also includes the acknowledgment
of responsibility and guilt), her poetr}' manifests the insistent attempt to
regain her mobility in order to be able to live.
MiiUer writes: "Schreiben wollt ich...Weitergehn" (Miiller 41). To
Inge Miiller the act of writing manifests a processing of history, a moving on,
or as the above quote suggests a 'walking on' from death and despair. Her text
acts as an exclamadon of unsettling grief and agony, and as a confrontation
with her traumatically overpowering experience of survival. Her poetry can
hence be perceived as an attempt to recuperate her lost sense of mastery,
control, and identit); and to regain the illusion of completeness, and also as an
endeavor to affirm life and survival. "Mit Gedichten entwirft sich Inge Miiller
die Vergewisserung zu leben," contends Jiirgen Verdofsky in his analysis of
Miiller's poetry (Verdofsky 196). And Verdofsky condnues with the chillingly
fitting image: "sie schreibt um ihr Leben" (Verdofsky 1 97). MiiUer realizes the
importance of writing and expression for her own life in the poem "Stufen,"
and in a voice of defeat she calls out: "Jetzt werd ich nicht mehr schreien - DaB
ich nicht ersticke am Leisesein!" (Miiller 113). Thus, the capitulation of
articulating and actively engaging with trauma through writing is equal to a
suffocating surrender and to ultimate death. In contrast, poetr\' means life:
"Leben, (Leben.) Leben." (Miiller 32). Yet it is still only life in parentheses, that
is, life full of uncertainties, complexides, and ambiguities.
Traumadc infractions initiate a lasting sense of passi\'it)' and conquest
in the consequend}' objectified individual (the \actim or patient), asserts
122
Sigmund Freud in his discussion of trauma. The insistent return of traumatic
responses is then explained as the urgent wish and desire to master the violent
stimulus retrospectiveh; and to regain control and mastery. Accordingly, Miiller's
poetry similar to Borchert's drama can be read as a struggle to reclaim agency,
and to rediscover her lost identity. A vivid example of this process is her poem
"Unterm Schutt III," in which she remembers the pivotal moment of sudden,
traumatic disruption, when a house collapsed on her and left her buried under
the rubble and trembling for survival for three days:
Als ich W'asser holte fiel ein I laus auf mich
W'ir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie. (Miiller 23)
In this remembrance of her ven' personal traumatic experience Inge Miiller
substantially changes her own role in the event. No longer is it the rubble of
the collapsed house that almost crashed her to death. Instead, Miiller recounts
how she and a dog that was trapped in the debris with her carried the house
until their final rescue. Thereby Miiller transforms herself from the (inactive
and defenseless) object of the event into a participating and vigorous subject.
Hence she is able to master the formerh- overpowering stimulus retrospectively.
The motif of wallcing works in a \er\- similar way.
The conflict or dichotomv between the subject's passivity and active
control is compellingly captured in the metaphor of walking and running,
which develops into a key motif in Miiller's work. j\lready on the most basic
level the idea of walking suggests vivacit\', movement, and implies an acting
subject. Thus, MiiUer's relendess, almost obsessive declarations of her abilit}'
to walk, but oftentimes also her struggle to do so ("W'enn ich stolpern muB"),
become expressions of her survival, her desire to recover control, and her
resolution to continue living, to move beyond and free herself from the tight
grip of her suffocating past. Several poems adopt this motif in their titles,
"Gehn," "Mein FuB," "Stufen," or "Bergsteigen". The list of references to
walking within the poems is extensive: "Ich lief und lief," "weitergehn," "von
SchwJiche starke Beine, meine, tragen mich herum," "Die Beine heben sich
wieder / Rennen," "der erste Schritt," "im Laufen um nicht aufzugeben,"
"Und ging FuB vor FuB wie aUe gehn," "sonst geht er nicht, der Ful^," "Laufen
hab ich gelernt." Every single step becomes a challenge and a struggle for
Miiller, "FuB vor FuB miihsam" (Miiller 102). The phrase "FuB vor FuB,"
which implies the constant awareness of ever\' single step, appears in several of
MiiUer's poems. In the poem "Tag" the narrator of the poem describes her
daily routine, and begins: "AuRvachen. Aufstehen / Den FuB vors Bett / Mut
oder Unlust / Konzentrieren" (Miiller 74). Oftentimes, Miiller expresses her
123
resignation and her surrender: "Laufen will ich niciit mehr" (Miiller 101). The
image of walking and running hence becomes a metaphor of Life and survival,
the inability to walk on the other hand a poignant symbol of death, yet
ultimately also liberation from the controlling presence of trauma. In the
poem "Der schwarze VX'agen" Aluller creates the picture of a black carriage - a
traditional metaphor of death - that comes to take people's lives. Only those,
who are able to run away quickly, will survive: "L'nd wer allein nicht laufen
kann / Den nimmt der Wagen mit" (Miiller 24). The dichotomy of active
involvement, which life demands, and the passivity of death and trauma
represents a perpetual conflict to Miiller. "Was liiuft bin ich / Was fallt bin auch
ich," declares the poet (Miiller 120). Midler's poems illustrate the language of
trauma: the tormenting tension between life and death, the uncontrolled, yet
relentless return to the moment of crisis, and her attempt to overcome her
passivit)', as indicated in the frequent references to walking.
The motif of walking in literature has a long histor\' and has taken
ver)' different shapes. This article invites to look at the imager\' of walking in
literature of crisis through a psychoanalytic reading of trauma theory. Freud's
concepts of trauma, repetition-compulsion, and his dichotomy of Thanatos
and Eros serve as focal points in the analysis of both Borchert's and Miiller's
work. Both texts reveal the protagonist's or narrator's fragile state at the abyss
of death, which is expressed in their obsession and at the same time difficulty
to walk. Miiller reminds readers in one of her poems: "Ich lief und lief. Wer
kann im Laufen weinen?" (Miiller 13).
Endnotes
' In his essay "On Some Motifs in Baudelaire" Walter Benjamin explores the image of
the 'flaneur' in Baudelaire's poetry in relation to the emerging phenomenon of the
crowd in urban settings. Benjamin illustrates both the fascination and at the same time
repulsion of the individual stroller with the crowd. Other intriguing texts in this
context are Edgar Allan Poe's story "A Man of the Crowd," Walt Whitman's poem "City
of Orgies," James Joyce's Ulysses, or Virginia Woolf's Mrs. Dalloivay
^ In recent years the study of memory and also trauma has attracted increasing attention,
and the concept of trauma has gradually moved from a merely clinical term to a cultural
notion. Influential texts on contemporary' trauma studies are the essay collection Trauma.
Explorations in Ahmory, published by Cathy Caruth in 1995, and Caruth's study Unclaimed
Experience. Trauma, Narralive, and History, published in 1996. Cathy Caruth emphasizes the
strong bond of trauma and (modern) history; "if PTSD [I'ost Traumatic Stress Disorder]
must be understood as a pathological symptom, then it is not so much a symptom of the
unconscious, as it is a symptom of history" (Caruth, Trauma 5). Both of Caruth's works
are heavily indebted to Freud's Jenseits des Lustpnnt^ips, which was written in 1920. Freud's
psychoanalytic approach to the phenomenon of trauma has had immense and enduring
impact on the study of traumatic neuroses in all fields. In her book Trauma. A Genealogy
the author Ruth Leys declares Sigmund Freud as a "founding figure in the
124
conceptualization of trauma" (Leys 18).
' In this context Freud devised his now legendarv dichotomy of ibaiiatns and ens.
■* Freud suggests the idea of a protective shield against harmful outside excitations and
influences which he regards as a vital part of the Living human being. He sees this image
supported in anatomic studies of the brain, which locate the human consciousness at
the outermost layer of the brain. See: Sigmund Freud, "jenseits des Lustprinzips,"
Gesammelte Schriften (Drei^ebuler hand) (Frankfurt: S. Fischer \'erlag, 1963) 23: "Es muss an
der Grenze von auBen und innen liegen, der AuBenwelt zugekehrt sein und die anderen
psychischen Systeme umhiillen."
'' Earlier in the text, Freud suggested that only "Schreck" (fright), namely the abruptness
and thus unexpectedness of an event could cause trauma. The integral defense
mechanism is subdued, if it is not given enough time to evaluate the stimuli, and hence
not able to prepare for them. According to Freud, once this vital shield is violently
penetrated from outside, trauma results: Solche Erregungen von auBen, die stark genug
sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heiBen wir traumatische...Ein Vorkommnis
wie das aufiere Trauma wird gewiB eine groBartige Storung im Energiebetrieb des
Organismus her\'orrufen und alle Abwehrmittel in Bewegung setzen. Aber das Lustprinzip
ist dabei zunachst auBer I<Lraft gesetzt. (Freud 29)
*" Cp. Freud's frequent usage of "Bindung."
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126
Jenseits des Organischen.
Schkiermachers religiose Geselligkeit ^viscben ,,natiirlicher
]/erbindung' und Institutionalitdt
Thomas Bdumler
Eine Politiscbe Kowciiitik hat es nie gegeben: So jedenfaOs lieBe sich Carl Schmitts
gleichnamige Polemik von 1919 zusammenfassen.' „In den
Selbstbespiegelungen der Romantiker liegt so wenig eine Sell:)Stobjektivienjng,
wie in ihrer Gemeinschai:tsphilosophie ein politischer Gedanke oder in ihren
geschichtlichen Konstrukrionen eine Synthese."^ Dem Romantiker sei „Politik
(...) so fremd wie Moral oder Logik."^ Dieses vemichtende Urteil hat fiir Schmitt
seinen Grund in einer romantischen Privilegierung der „unendlichen
Moglichkeiten" vor der „Bestimmtheit" der konkreten Entscheidung. Die
Romantiker zogen, so Schmitt, „den Zustand ewigen Werdens und nie sich
voUendender Moglichkeiten (...) der Beschranktheit konkreter W'irklichkeit vor.
Denn realisiert wird ja immer nur eine der unzjihligen Moglichkeiten, im
AugenbUck der Realisierung sind alle andern unendlichen Moglichkeiten
prakludiert.'"' Entscheidung sei also nicht moglich, ohne die „romantische
Situation aufzugeben."' Politik aber heiBt fiir Schmitt genau dieses:
Entscheidung, Setzung, Realisierung.
NaturgemaB haben die Romantiker selbst ihre politische Bedeutung
ganz anders eingeschiitzt. Nach dem \'erlust der traditionalen
Legitimationsmuster sozialer und p(jlitischer Ordnung durch die Franzosische
Revolution sahen sie in der Sozialphilosophie unvermittelt ihre literarischen
Kompetenzen wie Phantasie, EinbUdungskraft und das Experimentieren mit
Formen, gefragt. So waren etwa die iisthetischen Religionsvisionen der
Friihromantiker, wie sie sich in Friedrich Schlegels „Projekt einer literarischen
Bibel"^ oder in Novalis Die Christenheit oderEuropa ausdriickten, angesichts
eines durch den Zusammenbruch alter Ordnungen auseinander faUenden
und von den Revolutionskriegen heimgesuchten Europas, im Sinne ihrer
Zielsetzungen von neuer Einheitsstiftung und Homogenisierung keineswegs
unpoUtisch gemeint. „Europa soil durch die Religion vereinigt werden, aber
Europa wird fiir die nachsten Generationen nur in der Deutschen Schule
vorhanden seyn", heiBt es etwa in einer Notiz Schlegels, die zugleich anzeigt,
welche Rolle sich gerade deutsche Literaten bei diesen literarischen
Revolutionsprojekten zuschrieben. Man verstieg sich bisweilen zu der
Uberzeugung, auf lange Sicht die Franzosische Revolution an Wirkmachtigkeit
127
gar ubertreffen zu konnen. „Die heilige Revolution"** der Friihromantik hatte
ihren Ausloser dabei auch in der zunehmenden Ausdifferenzieaing einzelner
Lebensbereiche. Die damit einhergehende „Segmentierung und Partialisierung
der Menschen unter den Bedingungen der arbeitsteiJig-spezialisierten (. . .)
Gesellschaft"" lieB Re-lntegrationsbemiihungen als das Gebot der Stunde
erscheinen. Unter dem Dach der Religion, so wollten es die Friihromantiker,
sollte sowohl Europa seine kulturelJe Einheit wieder finden, als auch der
einzebe Mensch als „ganzer Mcnsch'"" wieder zu sich selbst kommen, „jenseits
aller utilitaren Zwecksetzungen"."
Matala de Mazza hat in ihrer Studie Der vetfasste Korperversucht, die
politischen Ambitionen der Romantiker ernst zu nehmen.'- Dabei hat sie das
Politische'^ der romantischen Schriften jedoch nicht in einer vagen
„Umgestaltung der Religion"'** ausgemacht, sondern priiziser in einer diese
Schriften durchziehenden Um-Schreibung„des christlichen Gedankens einer
Leibeinheit"'^ zur romantischen „Idee einer naturalen Gemeinschaft als
Korper"."' Die Bilder dieses idealen Kollektivkorpers wurden dabei in enger
Aniehnung an das „i\Iodell des Organismus" entwickelt, das die
„biomedizinischen Wissenschaften" am Ende des 18. Jahrhunderts
bereitsteUten.'' Damit sollte dieser kollektive Korper als „soziales Doppel"
des ,ganzen Menschen' ausgewiesen"^ und seine „Korperlichkeit" zudem
naturwissenschaftlich fundiert werden.'- Carl Schmitt hat auch im
Organismusgedanken nur ein Ausweichen der Romantiker in ein "hoheres
Drittes" gesehen, das Gegensiitze auflieben und damit Entscheidung unnotig
machen sollte.''^ Anders gewendet lasst sich die Politische Romantik aber vor
diesem Hintergrund auch als ein Projekt auffassen, das die (Re-)Naturalisierung
der sozialen Ordnung als Versuch einer Antwort auf die
Kontingenzerfahrungen der Franzosischen Revoludon betrieb.
Schleiermachers bekannte Rede// liber die Religion an die Gebildeten unter
ihren Verdchtern von 1799 sind im Kontext dieser „heiligen Revolution" der
Friihromantik entstanden.'' Das darin entwickelte Konzept religioser
Geselligkeit partizipiert dabei augenfallig am genannten
,Naturalisierungsprojekt'. Der vorliegende Aufsatz will jedoch zeigen, wie
Schleiermachers Arbeit an der Naturalisierung des Sozialen von Ansatzen eines
kulturalistischen Institutionendenkens durchkreuzt wird, das sich mit dem
Modell des natiirlichen Organismus nur schwer vertragt, und Schleiermacher
statt dessen in eine iaberraschende Nahe zur dezidiert anti-romandschen
negadven Anthropologic eines Cari Schmitt und Arnold Gehlen riickt.
Von diesem Befund ausgehend wird die Frage zu stellen sein, ob eine
Reduzierung der Polidschen Romandk insgesamt auf ein Ausweichen vor der
Entscheidung einerseits oder auf (Re-)Naturalisierungsbemuhungen des
Sozialen andererseits der „Gleichurspriinglichkeit von Romandk und polidscher
Moderne"-' tatsachlich angemessen Rechnung tragt.
128
I.
Schleiermachers Re(Je/! reagieren auf gleich zwei Revolutionen. Xeben der
Franzosischen Revolution sind sie vor allem gepragt von der epistemologischen
Revolution Kants. Dessen „vollstandige Destruktion der abendliindischen
Metaphvsik" hatte den ,Gottesgedanken' „aus dem Bereich moglicher
Erkenntnis ausgeschlossen"^^ und damit „Ontotheologie" praktisch unmoglich
gemacht.""* Schleiermacher unternimmt daher in seinen Reden den Versuch, die
Religion aus der W'ahrheitsfrage ganzlich herauszuhalten, indem er ihr Wesen
als vollig unabhangig von Metaphvsik und Moral bestimmt und stattdessen
im „unmittelbaren, erlebnismiiBigen Umgang des Menschen mit dem
Absoluten"-'' situiert. In der P^jlge wird „Gefuhl" im Gegensatz zu „\X issen"
zu einer zentralen Kategorie der Religion.'''
[Die Religion] begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu
bestimmen und zu erkliiren wie die Metaphvsik, sie begehrt nicht,
aus Kraft der Freiheit und der gottlichen Willkiir des Menschen es
fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist
weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefiihl.
Anschauen wiU sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen
und Ilandlungen will sie es andachtig belauschen, von seinen
unmittelbarcn Eintliissen will sie sich in kindlicher Passintat ergreifen
und erfiillen lassen. (...) sie will im Menschen nicht weniger als in
allem andern F.inzelnen und Imdlichen das L nendliche sehen, dessen
Abdruck, dessen Darstellung.'
Die religiose Anschauung als „das unmittelbare Transparentwerden des
Endlichen ftir das L'nendliche"^'' ist dabei in ihrem Kern als eine hoch
individuelle, subjektive und priisentische Angelegenheit eines Ich konzipiert,
die sich weder in einer philosophisch-theologischen Systematik, noch auch
nur in W'brte fassen lasst:
Anschauung ist und bleibt immer etwas Einzelnes, Abgesondcrtes,
die unmittelbare W ahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und
in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das
Geschaft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die
ReUgion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und
Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und
Gefiihlen bleibt sie stehen (...). Ein System von Anschauungen,
konnt Ihr Euch selbst er^vas W'underLicheres denken? Lassen sich
Ansichten, und gar j\nsichten des L nendlichen in ein System bringen?
Konnt Ihr sagen, man muB dieses so sehen, weil man jenes so
sehen muBte? Dicht hinter Euch, dicht neben Euch mag einer stehen,
und alles kann ihm anders erscheinen.-"
In einem solchen Religionskonzept, so konnte man meinen, ist eigentlich
kein Platz tiir eine allgemein verbindliche Reprasentation des rcligiosen
129
Gegenstandes. „leder Mensch" triigt hier „eine religiose Welt in sich, und
keine" gleicht der anderen.*' Aber auch das individuell-prasentische religiose
Erleben selbst entzieht sich seiner Natur nach der adaquaten
Kommunizierbarkeit. Und doch ist Schleiermacher als Frlihromantiker auch
und vor alkm an Kommunikation und Gemeinschattsstittung interessiert.
Es ist nun eine besondere Pointe der vierten Rede, wenn Sclileiermacher gerade
aus dem individueU-mvsdschen Charakter der religiosen Erfahrung religiose
Mitteilung und Gemeinschaftsbildung als anthropologische Notwendigkeiten
ableitet.
Ist die Religion einmal, so muB sie notwendig auch gesellig sein: es
liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz
vorziiglich in der ihrigen. (...) In der bestandigen (...) Wechseluirkung,
worin er mit den iibrigen seiner Gattung steht, soU er alles auBern
und mitteilen, was in ihm ist, und je hettiger ihn etwas bewegt, je
iruiiger es sein Wesen durchdringt, desto starker wirkt auch der Trieb,
die Kraft desselben auch auBer sich an andern anzuschauen, um sich
vor sich selbst zu legidmieren, daB ihm nichts als Menschliches
begegnet sei. (...)
was zu seinen Sinnen eingeht, was seine Gefiihie aufregt, dariiber
will er Zeugen, daran will er Teilnehmer haben. (...) W'ie sollte er
gerade das in sich testhaltcn wollen, was ihn am stiirksten aus sich
heraustreibt und ihm nichts s(j sehr einpriigt als dieses, daB er sich
selbst aus sich aUein nicht erkennen kann?''
Schleiermachers religioser Mensch setzt sich ins \ erhaltnis zu anderen aus
einer epistemologischen Krise heraus. Am Beginn der religiosen Mitteilung
steht ein anthropologischer Mangel. Das unbeherrschbar Uberwaltigende der
mystischen Erfahrung ist es, was ihn zum Reden treibt, denn was ihn in der
religiosen Schau „bewegt", bleibt ihm zunachst selbst dunkel, ja es ,pragt ihm
nichts so sehr ein' „als dieses, daB er sich selbst aus sich allein nicht erkennen
kann". Erst wenn er sein Inneres ,auBert' und die W'irkung seiner AuBerung
„auBer sich an andern anzuschauen" vermag, legidmiert und stabilisiert sich
das eigene diffuse Erleben und Fiihlen in der Gewissheit, „daB ihm nichts als
Menschliches begegnet sei." Nicht reine „Innerlichkeitskultur"^^ ist es also,
was im Zentrum von Schleiermachers Religionskonzept steht. Vielmehr
verlangen schon die unmittelbarsten religiosen Gefiihie eine erste
Objektivierung, indem sie auch auf andere iibertragen werden soUen. Nur
iiber das AuBen der Anderen scheint ein Zugang zum eigenen Inneren
iiberhaupt moglich zu sein.
Ist so die Begrenztheit des Menschen in Sachen Religion der
Ausgangspunkt fiir religiose Mitteilung, so ist es eben diese Begrenztheit, die
dem religiosen Redner „auch Horer verschafft":
Bei keiner Art zu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so
130
lebhaftes Getiihl von seiner ganzlichen Unfjihigkeit, ihren
Gegenstand jemals zu erschopfen, als bei der Religion. Sein Sinn fiir
sie ist nicht so bald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und
seine Schranken fiihlt; er ist sich bewoiBt, nur einen kleinen Teil von
ihr zu Limspannen, und was er nicht unmittelbar erreichen kann, will
er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrnehmen. Darum
interessiert ihn jede AuBerung derselben, und seine Erganzung
suchend, lauscht er auf jeden Ton, den er tiir den ihrigen erkennt. So
organisiert sich gegenseitige Mitteilung, so ist Reden und Horen
jedem gleich unentbehrlich.^''
Im „BewuBtsein der PartikularitJit der eigenen Erlebnis- und
Symbolisierungsgestalt"^"' liegt die Offenheit fur die religiosen AuBerungen
Anderer begriindet. Der Theologe Ulrich Barth hat darin eines der
„modernisierungstheoretischen Elemente" in Schleiermachers Keden
ausgemacht, da mit dieser Konstruktion religiose Toleranz ins W'esen der
Religion selbst verlegt werde."
Zunachst einmal soUte jedoch hierdie so sich ot^cinisierende re\ig\6st
Mitteilung beim Wort genommen werden: In der „V(echselwirkung" von
Reden und Horen, Innen und AuBen, Geben und Nehmen soil niimlich vor
allem jenes Ganze entstehen, das urn 1800 „in der naturphilosophischen
Spekulation und eben auch im romantischen Denken des Politischen
,Organismus' heiBt.""' W'ie die Wechselwirkung von Physis und Intellekt,
Leib und Seele nach den biomedizinischen W'issenschaften dieser Zeit den
„ganzen Menschen" konstituiert,' so soil aus der wechselseitigen religiosen
Mitteilung auch das Ganze der ,wahren Kirche"** hervorgehen.
Doch welcher Art genau hat diese Mitteilung zu sein, um einen
religiosen Organismus buchstablich ins Leben rufen zu konnen? Einer
zeitt)'pischen „Sehnsucht nach der Stimme""*' folgend, aber auch in einer Linie
mit der paulinischen Opposition von Geist und Buchstaben, werden in der
vierten Rede Biicher als zur Mitteilung der Religion ungeeignet verworfen.
Stattdessen prasentiert sich die in der Geniezeit ansonsten so geschmahte
Rhetorik als ideales Medium der Religion:
in einem groBeren Stil muB die Mitteilung der Religion geschehen,
und eine andere Art von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist,
muB daraus entstehen. Es gebiahrt sich, aut das Hochste, was die
Sprache erreichen kann, auch die ganze Fiille und Pracht der
menschlichen Rede zu verwenden, nicht als ob es irgend einen
Schmuck gabe, dessen die Religion nicht entbehren konnte, sondern
weil es unheilig und leichtsinnig ware, nicht zu zeigen, daB alles
zusammen genommen wird, um sie in angemessener Kraft und
Wiirde darzustellen. Darum ist es unmoglich, Religion anders
auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung
131
und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend den Dienst aller
Kiinste, welche der fliichtigen und beweglichen Rede beistehen
konnen. Darum offnet sich auch nicht anders der Mund desjenigen,
dessen Herz ihrer voll ist, als vor einer Versammlung, wo mannigfaltig
wirken kann, was so stattlich ausgerustet hervortritt/"
Die enge Verkniipfung von Rhetorik und Religion fur sich genommen ist
zunachst einmal wenig iiberraschend. Schleiermacher kann hier an eine Tradition
ankniipfen, die auch die Genieiisthetik nie in Frage stellen wollte (weil sie sich
uberhaupt nicht ftir sie interessierte): die ars pniedicandi, die Kunst des Predigens,
die im Mittelalter zur Erweiterung des klassischen rhetorischen Lehrgebaudes
beitrug/' Interessant dagegen ist, welches der genera dicendi die Keden
vorschreiben/' Anders als in Schleiermachers sehr viel spiiter entworfenen
Theorie der religmen Kede^' wird hier dem religiosen Redner niimUch nicht das
genus hiwiile seiner Einfachheit und Sachlichkeit halber anempfohlen. Vielmehr
setzt Schleiermacher offensichtlich auf den schweren omatns („die ganze Fiille
und Pracht der menschUchen Rede") des genus sublime („in einem grofieren
Stil"). Diesem schweren omatns oblag es dabei seit jeher, iiber die reiche
Verwendung von Tropen und Figuren vor allem starke Affekte aufzuregen.
Das movere und eben nicht das docere (die propositionale Vermitdung) ist sein
Metier. Darum soU auch eine Versammlung der richtige Ort fiir die religiose
Mitteilung sein, weil dort „mannigfaltig wirken kann, was so stattJich ausgeriistet
[ornare = ausriisten) hervortritt."'*"' Uber rhetorische Wirkung also soil sich
der religiose KoUektivkorper aufbauen, denn „eine andere Art von Gesellschaft
[...] muB daraus entstehen."
Ich wollte, ich konnte Euch ein Bild machen von dem reichen,
schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes, wenn ihre Burger
zusammenkommen (...). Wenn einer hervortiitt vor den iibrigen,
ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung, die ihn berechtigt (...) es
ist freie Regung des Geistes, Gefiihl der herzlichsten Einigkeit jedes
mit alien und der vollkommensten Gleichheit, gemeinschaftliche
Vernichtung jedes Zuerst und Zuletzt und aller irdischen Ordnung.
Er tritt hervor, um seine eigne Anschauung hinzustelJen, als Objekt
fiir die iibrigen, sie hinzufiihren in die Gegend der Religion, wo er
einheimisch ist, und seine heiligen Gefiihle ihnen einzuimpfen (...)
und wenn er zuriickkehrt von seinen Wanderungen durchs
Universum in sich selbst, so ist sein Herz und das eines jeden nur
der gemeinschaftliche Schauplatz desselben Gefuhls.'*'
Dieses Bild einer Gottesstadt ist in Teilen einer griechischen Polls
nachempfunden.""' Das Bild entwirft das Ideal einer Gemeinschaft der Gleichen,
als deren Sdfterin die Religion erscheint. Religiose Gemeinschaft wird so in
eine Alternativperspektive zu den Gleichheitsidealen der Franzosischen
Revolution gestellt, und zwar als vor-institutionelle Gemeinschatt (ohne
132
„Amt", „Verabredung") — oder auch als Cjemeinschaft nach der Vernichtung
alles Institutionellen („\'ernichtung...allcr irdischen Ordnung").
Das ist die Einwirkung religioser Menschen auf einander, das ihre
natiirliche und ewige Verbindung. (...) das voUendetste Resultat der
menschlichen Geselligkeit (...) ihnen mehrwert (...), als Euer irdisches
politisches Band, welches doch nur ein erzwaingenes, vergangliches,
interimistisches W'erk ist."*
Nur iiber rhetorische Affekterregung jedoch, die alle Herzen zum „Schauplatz
desselben Gefiihls" zu machen versteht, kann diese anti-institutionelle
„naturliche und ewige Verbindung" entstehen, nur iiber rhetorische W'irkung
bildet sich der organische Gemeinschaftskorper, der sich in dieser Perspektive
vor allem iiber Leidenschaften und AtYekte als sozialer Korper selbst erfahrt.''*
Doch gerade dieses im Fiihlen Erfahrbare ist es, was die romantische
Gemeinschaft als vermeintlich eigentliche, „naturliche" gegeniiber dem
„erzwungene[n]" „interimistische[n] W'erk" der Institutionen ausweisen soil.
II.
Die anti-institutionelle Tendenz von Schleiermachers Kedeti ist oft
hervorgehoben worden.^' Die vierte Rede bestiitigt hierbei auch den
Schmitt'schen Vorwoirf der romantischen Favorisierung des Unbestimmten,
denn „eine \'ersammlung sei vor |dem Redner] und keine Gemeine; ein Redner
sei er fiir alle, die horen wollen, aber nicht ein Hirt fur eine bestimmte I lerde.""'"
Ein genauer Blick auf die Struktur der Affekt-Kommunikation, in der diese
anti-institutionelle Prasenzgemeinschaft bei ScWeiermachcr hergestellt werden
soil, legt jedoch paradoxerweise zutage, dass sie als rhetorische Affekt-
Kommunikation selbst die Struktur einer Institution widerspiegelt, und zwar
die Institution des romischen Gerichts.
Dieser Befund bedarf etwas ausfiihrlicherer Erlauterungen:''' Die
„Urszene" der lateinischen Rhetorik ist die Szene vor Gericht. Vor allem fiar
dieses kommunikative settiue^ schiieben Cicero, QuintHian und andere Rhetoriker
der Antike. Da Rhetorik Kede imch Regeln ist, sind die Regeln, wie sie die antiken
Klassiker formulieren, freilich auf den Rahmen zugeschnitten, in dem
rhetorische Performanz zu ihrer Zeit vor allem stattfand. Dies gilt auch fur die
Regeln rhetorischer Affektion und Selbstaffektion. Die zentrale Regel hier
„besagt: Affizierung des anderen setz|t] Selbstaffizierung voraus.""''^ Was
Schleiermachers religiosen Redner angeht, so konnte man annehmen, erledigt
sich diese Regel als Kegel fiir ihn von selbst, scheint es doch die affektive
Uberwaltigung der mystischen Erfahrung zu sein, die ihn allererst zum Reden
treibt.
Auch die Rcjllenkonstellationen der Gerichtsrhetorik scheinen sich
erheblich von den kommunikativen Bedingungen des religiosen Redners zu
unterscheiden. In der Affekt-Kommunikation vor Gericht sind, nach Riidiger
133
Campe, „mindestens drei Personen im Spiel: der Redner, der affizieren will
und sich selbst atfiziert; der Richter, der affiziert werden soil; und die Person
der ProzeBpartei, fur die der Redner auftritt und an deren Geschichte oder
Gestalt, Charakter oder Affekt er sich affiziert."^^
Lasst sich der Richter, „der atfiziert werden soO", in Schleiermachers
Affekt-Kommunikation noch strukturell durch die Horer, das Publikum des
religiosen Redners ersetzen, erscheint die Figur der Prozesspartei, an der der
Redner sich affiziert, kJar als eine zu viel.
Doch ein Blick auf Schleiermachers spezifisches Darstellungskonzept,
das er gleich in der ersten seiner fiinf Reden entwickelt und das auch die
Struktur fur die ,religiose Mittetlung' in der vierten Rede vorgibt, belehrt eines
Besseren. Hicr muss Schleiermachers idealer Mystiker
nach jedem Ausfluge seines Geistes ins Unendliche den Eindruck,
den es ihm gegeben hat, hinstellen auBer sich, als einen mittelbaren
Gegenstand in Bildern oder Worten, um ihn selbst aufs neue in eine
andere Gestalt und in eine endliche CjroBe verwanclelt zu genieBen,
und er muB also auch unwillkiirlich und gleichsam begeistert — denn
er tiite es, wenn auch niemand da ware, — das was ihm begegnet ist,
fiir andere darstellen, als Dichter oder Seher, als Redner oder als
Kiinstler.""*
Nicht die affektive Uberwaltigung der eigenen priisentischen Erfahrunggeht
dem Reden unmittelbar voraus, sondern die Affizierung am „auBer sich"
hingestellten Kinciruck („um ihn selbst aufs neue (...) zu genieBen"), der ein
„mittelbarer Gegenstand" und im Vergleich zur eigentlichen Erfahrung eine
voUig „andere Gestalt" ist. Erst in einem zweiten Schritt, der nicht einmal
notwendig erscheint („denn er thiite es (die Selbstaffizierung am Anderen der
eigenen Erfahrung], wenn auch niemand da ware") geht es um das Darstellen
„fiar Andere", um sie zum selben „GenuB" zu fiihren.
Wie also die Prozesspartei im romischen Rechtsverfahren selbst
keinen Platz und kein Stimmrecht hatte, sondern aUein durch den Redner
vertreten werden konnte, der ilire ,fremde Sache' zur eigenen machte, so blcibt
auch in der religiosen Affekt-Kommunikation das Eigentliche der Erfahnmg
des Ich unausgesprochen. Das Ich affiziert sich dagegen an der „andere[n]
Gestalt" der eigenen Erfahrung, am „fremden Bild und der fremden Sache
seiner selbst"^^, um das solchermaBen Fremde dann wiedemm zur Sache der
eigenen Rede zu machen.
ELs ist das Paradox rhetorischer Gemeinschaftsstiftung bei
Schleiermacher, dass ausgerechnet diese „Umwegigkeit der rhetorischen
Regeln"'*", iiber die nur Un-Eigentliches zur Sprache gebracht werden kann,
am Aufbau vermeintlich eigentlicher Ciemeinschaft beteiligt ist. Diese
eigentliche Gemeinschaft wiederum, die sich in der Prasenz geteilter Atfekte
als organischer Korper erlebt, wird den „erz\vaingene|n]" Institutionen der
134
Gesellschaft entgegengesetzt gedacht. Dabei ist die Struktur der
affekterzeugenden Rede, „|d|ie fremde zur eigenen Sache [zu] machen", in
den Worten Riidiger Campes „Rede des Subjekts unter Bedingungen zuerst
der gerichtlichen Institution, dann (...) von Institutionalitat iiberhaupt."""
III.
Diese Heimsuchung einer naturalen Gefiihlsgemeinschaft durch die Institution
konnte nun vielleicht als intcrpretatorische Spitzfindigkeit abgetan werden,
wenn nicht Schleietmacher selbst in seiner fiinften und letzten Rede iiberraschend
zum Institutionentheoretiker v^airde. Ist es ihm in den Reden zuvor um das
permanente Werden des ,unendlichen Ganzen'""*^ der Religion in der
Wechselseitigkeit religioser Mitteilung zu tun, so geht es ihm am Ende doch
vor allem um eine Apotheose des Christentums als „des HerrUchsten (...) was
es bis jetzt gibt in der Religion""''. Diese abschUeBende Apotheose erfordcrt
aber, der endlichen Konkretheit einer bestimmten sozialen Formation den
Charakter des Notwendigen zu verleihen. In der Herleitung der Nf)t\vendigkeit
spielt dabei einmal mehr die Darstellungsfrage cine zentrale RoUe:
die Religion (...) ist ihrem Begriff und ihrem Wesen nach auch fiir
den Verstand ein IJnendlichcs und UnermeBliches; sie muB also ein
Prinzip, sich zu individuaLsieren, in sich haben, weil sie sonst garnicht
dasein und wahrgenommen werden konnte; eine unendliche Menge
cndlicher und bestimmter Formen, in denen sie sich offenbart,
miissen wir also postulieren und autsuchen .''"
Die „WirkJichkeit"'^'' der Religion ist angesichts des Unendiichen nur in endUcher
Bestimmtheit zu haben, da, wie es auch schon in der vierten Rede heiBt,
iiberall gar nichts als erwas AUgemcines und Unbestimmtes, sondern
nur als etwas Einzelnes und in einer durchaus bestimmten Gestalt
wirklich gegeben und mitgeteilt werden kann, weil es sonst nicht
Etwas, sondern in der Tat Nichts ware.''"
Nicht nur wird damit der Status des Unendiichen als Schleiermachers eigendicher
Gegenstand der Religion prekiir, da das Unendliche als nicht Denkbares und
nicht Mitteilbares fiir sich genommen keine ReaUtat beanspruchen kann. In
Schleiermachers Lob der Bestimmtheit konnte vielmehr auch (]arl Schmitt
einstimmen, zumal das Zustandekommen dieser Bestimmtheit in Form der
„positiven ReUgionen'"'"* jegHche Naturalisierungsbemiihung hinter sich lasst
und stattdessen nichts als arbitrare Dezision demonstriert. Denn eine konkrete
Religion
kann nicht anders zu Stande gebracht werden, als dadurch, daB irgend
eine einzelne Anschauung des Universums aus freier WiUkiir — denn
anders kann es nicht geschehen weil eine jede gleiche Anspriiche
darauf hatte - zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht und
alles darin auf sie bezogen wird. Dadurch kommt auf einmal ein
135
bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze;
alles wird fixiert was vorher vieldeutig und unbestdmmt war; von
den unendlich vielen verschiedenen Ansichten und Beziehungen
einzelner Elemente, welche alle moglich waren und alle dargesteUt
werden sollten, wird durch jede solche Formadon eine durchaus
realisiert; alle einzelnen Elemente erscheinen nun von einer
gleichnamigen Seite, von der, welche jenem Mittelpunkt zugekehrt
ist, und alle Geiiihle erhalten eben dadurch einen gemeinschatdichen
Ton und werden lebendiger und eingreitender in einander.'''*
Alles was Schmitt der Politischen Romantik abgesprochen hatte,
Vereinseitigung, Fixierung, den Ausschluss der unendlichen Moglichkeiten
fiir eine arbitrare Realisierung, findet sich hicr in einer Art fruhromantischen
Priifiguration eines kulturalistischen Instituti(jnendenkens, das nur schlecht
zur freien Wechselwirkung des Organismusmodells passen will.
Frappant ahnliche Denktlguren, die Integration menschlicher
Gesellschatten betreffend, lassen sich dagegen bei dem Carl Schmitt nahe
stehenden konservativen Institutionendenker Arnold Gehlen beobachten:
Dies ist die „Integration einer Gesellschaft": das System aufeinander
bezogener, je vereinseitigter Aspekte der Welt und des Verhaltens
darin. Eine Kultur ware chaotisch, in der die konstitutionelle
Plastizitat der menschlichen Antriebe, die unendliche potentielle
Yariabilitat der Handlungen und die L'nerschcjptlichkeit der
Dingansichten zur Geltung kjimen. Sie ware im hochsten Grade
unstabil.''^
Die Institutionen einer Gesellschaft sind es also, welche
das Handeln nach auBen und das \''erhalten gegeneinander auf Dauer
stellen; auch die hochsten geisdgen Synthesen, die idees directrices,
dauem nur so lange, wie die Institutionen, in denen sie gelebt werden.
Diese Stabilisierung besteht darin, dass die Menschen sich je zu ganz
bestimmten, vereinseitigten, perspektivischen Inhalten der Aufienwelt,
ihrer eigenen menschlichen Natur und ihrer Denkbarkeiten
entscheiden, und dass sie diese Entscheidungen eben durch ihre
Institutionen hindurch festhalten.''*'
Dezisionistische Akte der arbitraren Vereinseitigung in einer Umwelt potentiell
unendlicher VariabUitat stabilisieren Religionen ebenso wie ganze Kulturen.
Dass auch Schleiermacher selbst die Schaffung von Bestimmtheit als Schaffung
von Kultur im Gegensatz zu einer Natur verstand, die nun plotzlich als defizitar
erscheint, geht dabei aus seiner Polemik gegen die so genannte natiirliche
Religion hervor:
Wozu sie da ist, mogen die Gotter wissen, es miiBte denn sein, um
zu zeigen, daB auch das Unbestimmte auf eine gewisse Weise
existieren kann. Eigentlich aber ist es doch nur ein W'arten aut die
136
Existenz (...) Hochstens ist sie Naturreligion in dem Sinne, wie man
auch sonst,\venn man von Xaturpliilosophie und Natuq^oesie redet,
den AuBerungen des rohen Instinkts diesen Namen vorsetzt, um
sie von der Kunst und BOdung zu unterscheiden.''
Letztlich ist bei Gehlen wie bei Schleiermacher diese arbitrare Bestimmtheit
sozialer Form unverzichtbare anthropologische Notwendigkeit. Schon die
,religi6se Mitteilung' der vierten Rede hatte gezeigt, dass auch das romantische
Individuum nur iiber das AuBen einen stabiJen Zugang zum eigenen Inneren
findet. Und auch Gehlen ist an der Stabilisierung eines Ich gelegen, dessen
„schreckenerregende Plastizitiit und Nichttestgestelitheit"'^''* im Naturzustand
er unablassig beklagt. Am Ende geht Schleiermacher nun so weit, die religiose
Individualitiit, die viele im Zentrum seines Religionskonzepts sehen,*'" nur
innerhalb einer ,bestimmten I-'f)rm der Religion' iiberhaupt Gestalt annehmen
zu lassen:
So wie kein Mensch als Individuum zur Existenz kommen kann,
ohne zugleich durch denselben Aktus auch in eine Welt, in eine
bestimmte Ordnung der Dinge und unter einzelne Gegenstande
versetzt zu werden, so kann auch ein religioser Mensch zu seiner
hulividualitiit nicht gclangen, er wohne denn durch dieselbe Handlung
sich auch ein in irgend eine bestimmte Form der Religion. "
Neuere Forschungen zur Politischen Romantik haben „die
Gleichurspriinglichkcit von Rtmiantik und politischer Moderne" ernst zu
nehmen versucht und in romantischen Texten „eine \ orgeschichte entziffert,
die sich in den jiingsten Theorien des Politischen weiterschreibt." '
Endnotes
' Carl Schmitt, Politische Romantik, Miinchen, Leipzig 1919.
2 Ebd. 70.
' Ebd. 143.
" Ebd. 60.
5 Ebd. 100.
' Vgl. dazu Ethel Matala de Mazza, Derveifasste Korper. Zum Vrojekt einer organiscben Gemeinschaft
in der Politischen Romantik, Freiburg i.B. 1999, 173-210.
Zit. nach Matala de Mazza, Der verfasste Koi-per, Ml.
* So auch der Titel einer Studie von Hermann Timm, Die heilige Revolution. Das religiose
Totalitdtskonr^pt der Friihromantik. Schleiermacher - Novalis — Friedrich Schlegel, Frankfurt a.M.
1978.
' Kurt Nowak, Schleiermacher und die Friihromantik. Fine iiieraturgeschichtliche Studie ^um
romantischen Religionsverstdndnis und Menschenhild am Ende des 18. fahrhunderts in Deutschland,
Gottingen 1986, 268.
'" Zur Anthropologic des „ganzen Menschen" im spaten 18. lahrhundert vgl. Hans-
Jiirgen Schings (Hg.), Der gan^e Mensch. Anthropologie und Uteratur im 18. Jabrhundert, DFG-
Symposion 1992, Stuttgart, Weimar 1994.
" Nowak, Friihromantik, 229.
137
'^ Matala de Mazza, Der verfassk Korper.
" Ziim Begriff des Politischen vgl. die Beitrage in Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza,
AJbrecht Koschorke (Hg.), Das Polilischf. Fipinrikhren des so-:^ialen Korpers iiach der Romantik,
MQnchen 2003.
'^ Kurt Nowak, Schleiermacher. Leberi, Werk iind W'trkiins,, Gottingen 2001, 101.
" Matala de Mazza, Der veifasste Korper, 40.
"> Ebd. 17.
" Ebd. 41.
'8 Ebd. 122.
"Ebd. 41.
^ Schmitt, Politische Romantik, 80.
^' Nowak, Schleiermacher, 101.
" Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza, „Einleitung: Zwischen Verkorperung and
Ereignis. Zum Andauern der Romantik im Denken des Pcjlitischen", in: Hebekus, Matala
de Mazza, Koschorke (Hg.), Das Politische, 7-22, hier: 13.
^' Ulrich Barth, „Schleiermachers Keden als religionstheoretisches
Modernisierungsprogramm", in: Silvio Vietta, Dirk Kemper (Hg.), Asthetische Modenie in
Europa. Gno/d^iiige tind Problems^tisammenbdnge sett der Rnnumtik, Miinchen 1997, 441-474, hier
453f.
« Ebd. 454.
25 Ebd. 455.
2-^ Ebd.
2' Friedrich Schleiermacher, IJber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren I 'erdchtern, hg.
von Rudolf Otto, Gottingen *2002, 49.
^ Barth, Modernisierungsprogramm, 462.
2' Schleiermacher, Religion, 54f.
^ Nowak, Schleiermacher, 103.
^' Schleiermacher, Religion, 127f.
^^ Barth, Modernisierungsprogramm, 449.
^^ Schleiermacher, Religion, 128.
^ Barth, Modernisierungsprogramm, 462.
" ebd. 473f.
^' Hebekus, Matala de Mazza, Einleitung, 9.
'' vgl. Matala de Mazza, Der verfasste Korper, 4 If, 108, 111.
^ vgl. Schleiermacher, Religion, 135.
" Hans-Georg Pott, „Die Sehnsucht nach der Stimme. Das Problem der Oralitat in der
Literatur urn 1800 (Holderlin, Goethe, Schleiermacher)", in: Alfred Messerli, Roger
Charder (Hg.), Lesen tmd Schreiben in Europa 1500-1900. \^ergleichende Perspektiven, Basel 2000,
517-532.
■" Schleiermacher, Religion, 129.
■" vgl. Wolfgang G. Mijller, „Rhetorik", in: Ansgar Niinning (Hg.), Mel-:iler Lexikon Ijteratiir
und Kulturtheorie, Stuttgart, \Xeimar 1998, 464.
"^ eine gute Zusammenfassung der Lehre von den Stilarten bietei Manfred Fuhrmann,
Die antike Rhetorik. Eine EJnfiihrung, Diisseldorf, Zurich "2003, 114-145.
■" vgl. hierzu Norbert Gutenberg, „Uber das Rhetorische und das Asthedsche - .Ansichten
Schleiermachers", in: Rhetorik. Em Internationales fahrbuch 19 (2000), 68-91, hier: 85-91.
" Hervorhebung von mir
■*' Schleiermacher, Religion, 129f.
*'' Schleiermachers Rhetorik-Auffassung gilt u.a. als an der „athenische[n] Polis-Rlnetonk"
orientiert, vgl. Gutenberg, Uber das Rhet<5rische, 82.
■" Schleiermacher, Religion, 130f.
■"* vgl. Matala de Mazza, Der rerj'asste Korper, 17.
138
■" „Eine starke Abneigung gegen das Institutionelle" konstatiert nicht nur Takashi Yahaba,
„Holderlin und Schleiermacher. Suche nach einer neuen Gemeinschaft", in: Uteratur
unci Kulturhermeneiitik. Beitriige der Tatesbina-Symposien 1994 und 1995, Miinchen 1996, 23-36,
hier 26. \'gl. auch Barth, Modernisierungsprogramm, 474 und Nowak, Schleiermacher, 107.
*" Schleiermacher, Reiigion, 154.
"vgl. zum Folgenden Riidiger Campe, „Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-
anthropologische Naherung ausgehend von Quintilian ,histitutio oratorid VI 1-2" in: Josef
Kopperschmidt (Hg.), BJjetorische Antljropologie. Studien ^um Homo rljetoricus, Miinchen 2000,
135-152.
" ebd. 138.
"ebd. 139.
*'' Schleiermacher, Religion, 25.
" Campe, Affizieren, 142.
« ebd. 137.
5' ebd. 144.
" Schleiermacher, Religion, 133.
5' ebd. 199.
<* ebd. 165.
''' ebd. 166.
'•'' ebd. 133.
"ebd. 169.
" ebd. 176.
'^ Arnold Gehlen, Umensch und Spulkullur. Philosophtsche Ergebnisse und Ausstigen, Frankfurt
a.M. 19^5, 21.
"^ ebd. 88f
*^ Schleiermacher, Religion, 185.
'^ Gehlen, Urmensch und Spdtkultur, 88.
" vgl. erw'a Barth, Modernisierungsprogramm, 474.
™ Schleiermacher, Religion, 182.
" Hebekus, Matala de Mazza, Einleitung, 13.
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140
Tradition und Dekonstruktion in Elfriede
Jelineks Burgtheater und Prasident Abendwind
Viktoria Heifer
Experiment mit der Tradition
Elfriede Jelineks Bmpheater {\9%5) und Prasident Abendwind {\9^1) stehen als
Experimentstiicke in der osterreichischen literarischen Tradition des
Volkstheaters, das in Wien seit der Metternich-Ara bis heute fordebt. Zwar
arbeitet Jelinek mit Sprachnuancierungen einer „sublimen Serenitat, Ironic
und Satire",' ihre Stiicke verfolgen dennoch andere Ziele als einfache
Unterhaltung einer Wiener Satire oder eines Altwienerischen \'olksstucks. Nach
Aussage der Autorin ist die ,6sterreichische Literaturtradition''^ mit einem
starken Sprachbewusstsein verbunden, jedoch zwingen die modernen
Produktionsbedingungen des osterreichiscben Markts die zeitgenossischen
Autoren zur Anpassung an cincn gesamtdeutschen Sprachraum: Da der
osterreichische Sprachfundus, reich an ,Austriazismen', im groBeren
deutschspracliigen kulturellen Rahmen nicht mehr vorhanden ist, ist er fiir die
Autorin nicht mehr ausbaufahig.'' Die Sprachtradition des Wiener X'olkstheaters
wird daher nur in wenigen ihrer Stiicke als RaritJit wiederbelebt:
Bei mir ist es ein fast schon pathetisches Moment, wenn ich meine
osterreichische Tradition betone und mich dieser verstarkt zuwende,
ohne jetzt - und das ist mir sehr wichtig - in ein Volkstiimeln zu
geraten/
In einem Interview bezeichnete sich Jelinek als eine „eminent osterreichische
Autorin"\ die in einer Tradition von Nestroy ijber jura Soyfer und Kraus bis
zur Wiener Gruppe, die in ihrem Theater ebenfalls die volkstheatralische
Tradition aufgreift, stehe. Tatsachlich aber lassen sich nur wenige ihrer Werke in
die Reihe dieser Literaturtradition einordnen. Eher ist ein kritischer und
experimenteller Umgang mit der osterreichischen Schreibtradition zu
beobachten: Seit der ReaUsmusdebatte zwischen der Wiener und der Grazer
Gruppe in den 1960er jahren, sowie der Widerstandsaktion der Kiinsder in
den 1980er jahren gegen restaurativ ausgerichtetc politische Bestrebungen
woirde der Begriff ,Tradition' zum wichtigen Streitthema sowohl in der Politik
als auch in der Kunst/' Jelineks Dramen RHrafhecifer und Pnis/dcnt Abendwind
sind ganz oder teihveise als Adaptionen aus dem Wiener Volkstheatergenre
wiederzuerkennen; sie lassen sich zuglcich zu den Werken der Widerstandskunst
141
einordnen, die in den 1980er Jahren gegen restaurativ ausgerichtete
Traditionsbestrebungen in Osterreich kampften. Das ambivalente
OsterreichbUd sowohl in der Offentlichkeit als auch in der Kunst war damals
eine Folge einer \^erleugnungspolitik der W'aldheim-Ara.''
Die beiden kritischen Stiicke von Jelinek fiihrten ihr eigenes
Auffiihrungsverbot in Osterreich herbei: Eine wortliche Rezeption und
Deutung woirde im BurgtheaterTih ein Angriff auf noch lebende Personen, wie
auf Paula VC'essely und Attila Horbiger und im Prasident Abendmnd -Sini den
damaligen Bundesprasident Kurt Waldheim, gedeutet. Es handelt sich in
diesen beiden Stiicken um textimmanente Denunziationen mittels der
Montage. Hierbei denkt man hinsiciidich der Phraseologie an eine Analogic
zwischen Jelinek und dem satirischen Volksdichter und -Schauspieler Johann
Nepomuk Nestroy sowie zwischen jelinek und dem polemischen Publizist
Karl Kraus.
Die Montage speziell im Drama setzt sich nach der Definidon von
Wolfgang Seibel aus einem „bereits vorgegebenen Sprech- oder Textmaterial"
zusammen, das zu einem erst „konstituierten Stiickganzen'"^ wird, in dem
Walter Benjamin in Bezug auf Kraus' Technik einerseits eine Potenz der
Destruktion, andererseits eine produktive Kraft der Freisetzung durch die
Entstellung sieht:
[Man erkennt] daB es keine idealistische, sondern nur erne
materialisdsche Befreiung vom Mythos gibt und nicht Reinheit im
L'rsprung der Kreatur steht, sondern die Reinigung, das hat in dem
realen Humanismus von Kraus seine Spuren am spatesten
hinterlassen. Erst der Verzweifelnde entdeckt im Zitat die Kraft:
nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang
zu reiBen, zu zerstoren; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daB
einiges aus diesem Zeitraum iiberdauert - weil man es namlich aus
ihm herausschlug."'
Ein wichtiger Unterschied besteht zwischen jelinek und Kraus in der
Intentionalitiit: Kraus erstrebte im Sinne eines humanistischen Ideales eine
jSprach-Reimgung'": die Sprache sollte auf ihren sogenannten „Ursprung"'^
hinweisenund sich so entmachten. Eine scjlche purifizierende Funkdon bleibt
der Sprache in jelineks Texten erspart, denn ihre phrasenhafte Sprache tragt
sich gewissermaBen mit der Zitation entleert fort.'"* Bei Jelinek wird aber statt
einem Prozess der Sprachbereinigung mittels der Montage eine
sprachexperimentelle De(kon)struktion am Text vollzogen: Aus einer
vorgegebenen Sprache werden zugunsten der Denunziadon nicht nur direkt
ubernommene Montagetextgebilde, sondern auch Wortneuschopfungen,
Wortkalauer, Verballhornungen und andere experimentelle Sprachformen
erschaffen.
Diese „mehr oder weniger bewxissten" Techniken, zusammengefasst
142
im Begriff der Intertextualitat, machen sich bemerkbar, wenn in irgendeiner
Weise konkxet greifbare Bcziige auf einzelne „Pratexte" gemacht werden.''*
Dabei kormen semantisch-ideologische Differenzen zwischen Text und Pratext
vorkommen, die sich als intertextual incompatibilities selbst als
Intertextualitatssignale einschreiben lassen: Spuren der fremden Texte
verschwinden dadurch und syntaktische Anomalien und GrammatikverstoBe
machen sich im Text erkennbar, die selbst in Textsvntax und Textgrammatik
als Mittel einer Sinnverschiebung oder im weitesten Sinne bei den Stiicken
Jelineks als Mittel einer Sinnentleerung fungieren.'' Das Moment der
De(kon)struktion im W'erk Elfriede )elineks wird fiir den Rezipienten anhand
der intertextuellen und sprachexperimentellen Arbeit ersichtlich, die ja
bekanntlich bis zum Grade einer Ausloschung und Zertriimmerung ausgeiibt
werden kann und jelineks Absicht nach auch ausgeiibt werden sollte.'^
Die Sprachartistik jelineks in beiden \X erken ist eine Technik, die
stark mit Pratexten arbeitet und unterschiedliche Herstellungsverfahren
auf\veist.'^ Die Autorin beschreibt ilire Sprachprogrammatik folgendermaBen:
Ich arbeite gewissermaBen Unguistisch am Text, indem ich W'orter,
die schleimig und verxvaschen [et\va] die taschistische Ideologie
transportierten, zu Wortneuschopfungen umwandelte,
Neologismen, die die ganze Brutalitat des Faschismus enthiillen,
ohne daB das einzelne Wort im Zusammenhang etwas bedeuten
muB [...]. Meine Arbeitsweise funktioniert, wenn es mir gelingt, die
Sprache zum Sprechen zu bringen, durch Montage von Siitzen, die
verschiedene Sprachen miteinander konfrontiert, aber auch durch
Veranderung von W'orten oder Buchstaben, die im Idiom vcrhiiUte
Aussagen entlarvt.'*"
Neologismen, Wbrtwiederholungen, Sprachfetzen, Kommutationen,
rhetorische Figuren der Pohphonie, Homonvmie und Homophonie verweisen
im Text nicht nur auf eine Struktur, die Sprache auf Sprache autl:)aut, also auf
eine Entstellung oder Umschreibung und damit zwangslaufig aut eine
Sinnverschiebung, sondern auch auf W'ortkonstruktionen, die immer wieder
an unterschiedlichen SteUen und in unterschiedlichen \ ariationen im Text
auftauchen. Das eigentliche Anliegen der Autorin ist nach eigener Erklarung
einerseits eine sprachOche ,Entmvthologisierung' oder die Entschleierung und
Zertriimmerung des Mvthos — im Sinne des friihen Roland Barthes — ,
andererseits aber eine sprachliche Sinnendeerung und spielerische Umstellung
und Variierung dieses Sprachmaterials - im Sinne der Iterabilitiit des Zeichens
lacques Derridas — , die folglich um die Entkernung des Sinnes und um neue
Sinngebung zugleich bemiiht ist.
Laut eigener Aussage der Autorin ruft diese kontrollierte und
idcologisch gepragte Sprache sie zum ijberwiegend sprachexperimentellen W'ierk
auf, daher zur sprachlichen De(kon)struktion einer Sprache, die im Kontext
143
der nationalsozialistischen Vergangenheitsbewaltigung noch volkisch-
ideologische Traditionen pflegt.''^ Die kritische Hinterfragung der Sprache als
Nazi-Erbe wurde bekanntlich von Adorno bereits in den 1960er Jahren
angesprochen, worauf Jelineks Sprachkritik auch aufbaut.'" Die
propagandistische Nazi-Sprache wird bei Jelineks also aus seinem Kontext
gerissen, entstellt und dabei selbst spielerisch sinnentleert. Die Mythen ,Volk',
,Heimat', ,Osterreich' und zugleich die volkisch-ideologische Sprache werden
zur Zielscheibe der De(kon)struktion, denn dadurch gelingt es der Autorin,
die enge politische Relation zwischen „Sprache und Volkheit"-' zum Vorschein
zu bringen.
In diesem Autsatz wird die Frage aufgeworfen, inwiefern die
erstrebten und zugleich widerstrebten Momente einer volkstheatralischen
Schreibtradition als eigentliche Mittel einer de(kon)struktivistischen
Schreibpraxis in jelineks Stiicken aufgezeigt werden konnen: Die \'erdoppelung
des Traditionsverstandnisses, Riickgrift und Uberwindung zugleich, wiirde
somit das ambivalente Verhaltms Osterreichs zu seinen W'urzeln signalisieren,
was Jelinek als Inversion einsetzt. Mit der Wiederbelebung des traditioneUen
Volkstheater versucht sie in den Stiicken Bitrgtheater und Prasident Abendmnd
die restaurativen Traditionsbestrebungen, die seit dem Anschluss 1938 in der
Kunst fordeben, zu bekampfen.
Bitrgtheater: Hoftheater und Volksbuhne
Das Ineinanderschieben vom \\ iener Hoftheater und den osterreichischen
Kasperl deutet auf den Inversionsmechanismus jelineks im Bitrgtheater. zwei
Elemente der barocken und josephinischen osterreicliischen Theatertradidon
werden im Stiick ineinandergeschoben, wodurch das Institut des Wiener
Burgtheaters"^ de(kon)struiert werden kann. Die auf der W'ebseite der Autorin
gefundene Bildmontage zu dem Stiick"' demonstriert, dass das Verschmelzen
zweier Ebenen zugleich eine L'mkehrung doppelbodiger Traditionswerte
bedeutet: eine X^erschiebung von hoher Kunst des biirgerlichen Schauspiels
zur niedrigen V'olksunterhaltung mit Hanswursdaden und Bernardoniaden.
Aus theaterhistorischer Sicht stoBen wir auf alte Genres: Das szenische
Nachspielen des Lebens sozial hohergestellter Personen - wie dies in der
Posse Biir^beaterdurch das Nachspielen von Tlieaterstiicken und Filmrepertoire
der Nazistaatsschauspieler der \X essely-Familie geschieht — ist eine traditionelle
Methode des barocken Stegreifspieles des italienischen Commedia dell'Arte
im 16. Jahrhundert und zugleich die Slapstick-Technik des Altwiener
Volkstheaters seit dem 18. Jahrhundert. Die Bildmontage spiegelt das Grotesk-
Instrumentarium doppelbodiger \Xerte in jelineks Stiick wider, wovon im
Drama in Bezug auf die Darstellung der Wesselys, die sich als
Nazistaatsschauspieler zunachst angepasst und spater ,entnazitlziert' batten,
reichlich gebrauch gemacht wird.
144
Auf der sprachlichen Ebene findet im Stiick Biirgtheafertmt Endar\aing der
Sprache statt, die v(jlkstumliche und zugleich volkische Tradidonen pflegt,
durcli die Montage eines h\ briden Materials von volkstiimlichen Sprichwortem,
pathetischen Parolen und von Filmdteln nationalsozialistischer Heimatfilme
aus dem Anfang der 1940er Jahre sowie von klischierten Operettenstiicken
und Wienerliedern/'* Andererseits wird die Denunziation gehandhabt: dutch
Zitadon und Nachspielen von Schauspielerrollen und Filmsequenzen, die
„direkt am Schneidedsch"""' nationalsozialistischer Heimatfilme aus den 40er
lahren entnommen worden sind. Es vollzieht sich im Moment der
Umkippsituadon im zweiten Teil des Dramas, als W ien von der roten Armee
belagert wird, eine ekstatische und radikale Sprachzertriimmerung. Diese wird
im allegorischen Zwischenspiel des ersten Teiles bildlich durch die Demontage
der Raimund'schen Alpenkonigfigur und im zweiten Teil durch den
Selbstmordversuch der Burgtheaterschauspieleriigur Kathe untermauert (dabei
angespielt auf den \ ersuch einer doppelten ,Entnazifizierung\ niimlich der
Institution des Wiener Burgtheaters und der Schauspielerdvnastie der
\Xessel_\familie)-^'.
KATHE ersterbeiid: Mir wirds gar wunderlich ums 1 icrz. Der Feldstein!
Hier, sehen wir ihn uns an! Gewachsen ist er aus Millionen Herzen
von uns alien. LaBt mich flugs das Notigste gestalten. W'enns ihr
mich nicht gestalten laBts, wcrde ich sufurt wieder bewaiBtlos. Ich
habe diesen scheensten oiler Berufe erlernt. Itzo tue ich jeden
zerschmettern, der mich an meiner Berufsausiebung behindern tut.
LoBts mich Menschenbildner sein! Wos? Es loBts mich nicht? Xun,
so schwinden mir eben erneut die Sinne. sie n'irdhm'ufstlosr
In dieser TextsteUe, in der Kathe vor ihrem Selbstmordversuch an die W'elt
appelliert, werden zwei Ebenen ineinander geschoben: Heimatpathos, das im
nationalsozialistischen Film Heimkehr (1941) postuliert wurde, und
Schauspieleipathos des Burgtheaterensembles. Der Mvthos von poUtisch
korrekter Schauspielinstitution wird dekonstruiert: die interpretatorische
Verschiebung lasst die nationalsozialistisch-ideologischen Ansatze des
propagandisdschen Heimatfilms in die ,schone' Schauspielkunst uberflieBen.
SoIcheTextstellen findet man im Drama auf unterschiedHchster Weise wieder:
Uberleitungen, \^erschiebungen und \ ermischungen. Im GriUparzerzitat aus
Konig Ottokars Gliick und liiide (1 825), auf das jeUnek am Ende des ersten
Teiles des Dramas zuriickgreift, wird auf diese Weise der Ruf eines der
meistgespielten Stiicke zu Beginn der 1940er ]ahre dementiert: Die
„6sterreichische Selbstbeweihrauchcrung"'" wird hierbei mit phonologischer
List parodiert, denn der \'ersuch der Zerschlagung dieser Nazi-Kitsch-Tradidon
geschieht durch eine feine, linguisdsche Sprachzertriimmerung und eine
vehemente W'erteumlagerung zugleich. Selbst der Abschluss schmiickt das
Stiick nicht: in der W'ortsvmphonie sind fiir de(kon)strukdve Zwecke gelaufige
145
Worter nationalsozialistischer Spielfdmc mit geliiufigen volkstiimlichen und
dialektalen Mundarten hybridisiert.
Prasident Abendwind: Prasident und Kannibale
Die Montage zu diesem Stiick'^'' mit dem lesenden Kasperi fungiert im Kontext
der Entstehungsgeschichte des Stiickes als Anspielung auf die Yergangenheit
und Gegenwart Osterreichs^^: Wie eine Geschichte aus einem Buch wird das
marchenhafte Bild eines wirtschaftlich boomenden Osterreichs im satirisch-
grotesken Stiick Jelineks verzerrt nacherzahlt: Land im Wirtschaftswunder
erscheint als eine Touristeninsel im Dienste des staatlichen Kannibalismus:
Im „Wurschtimperium" des Priisidenten boomt hocligradig der kapitalistische
Auslandermarkt im Dienste einer - wie schon bei Nestroy —
Menschenkonservierung und daher einer Menschenausbeutung.
Sprachlich gesehen wird im satirischen Dramolett PnisidentAbendmnd
eine Denunziation der Prasidentenfigur - in Anspielung auf die braune
Yergangenheit des kandidierenden Bundesprasidenten Waldheims im Dritten
Reich - durch das satirische Sprachspiel nestroyscher Priigung und durch die
Entstellung von eingebetteten Idiomen einer volkstiimlichen und volkischen
Sprache durchgefiihrt." Die Paraphrasierung von Nestroys groteskem Stiick
Hdiiptling Ahendmnd oder das gran lie he Festniahl (1862) zu jelineks Prasident
Abendmnd war eine Auftragsarbeit tiir das Literaturhaus Berlin. Aus der
nestroyschen Posse der Anthropophagie '~ wurden vier Stiicke im Dienste des
experimentellen Tlieaters geschiieben.'*'* Abgesehen vom Unterscliied des Grades
der Theatralitat zwischen Nestroys Faschingsburleske und der sprachlich
farcierten Groteske jelineks hat Pnisident Ahendwiud d^AS sprachstilistische Spiel
mit den Homonymen und llomophonen, Alliterationen, Tautologien,
Paranomasien dennoch mit Nestroy gemein. Idiomatische und floskelhafte
Formen sowie neologische Komposita aus einer vom Dialekt endehnten
Sprache der Kannibalen fiigen sich in [elineks Groteske - wie Nestroys
Sprachdiftusion — zu einer hochgradig artifiziellen Sprachkomposition
zusammen, die ihrerseits im Text eine stiindige W'erteverschiebung im
okonomischen, ideologischen und sexuellen Sinn bewirkt. Dies wird auch im
Zitat aus Johann StrauB' ¥ledermaiis (1 874) am Ende des Stiickes deutlich, das
anschlicBend des Gegessenwerdens vom Abendwind, kollektiv - wie auch die
Symphonie im Bmgtheater— vorgetragen wird:
Gliickiich ist, wer vergisst, / was doch nicht zu andern ist. FriBt die
Braut / ungeschaut / friBt den Mann / gleich is tan! / FriBt alle Leut,
/ ob dumm, ob gescheut! / Schaun sich dann selber im Fernsehn an.
/ Nimmst mit Appedt dein Yolk zum Fressen mit. / Sogar der
arme Mann / stolz wird Nahrung dann / von an gwissen Herrn, /
der friBt Menschen gern. / Gliickiich ist, / wer vergiBt / was doch
noch zu andern ist. . . usw.^"*
146
Intention der Autorin
Die spielerisch-subversivcn Bildmontagen Jelineks sind im Be2ug auf die
dekonstruktive Methode mit dem methodisch-experimentellen Verfahren der
Montage der Wiener Gruppe^^ verwandt. Hierbei ist die Analogie zwischen
)elineks Kasperladaption^'' und Konrad Bayers kaspeii aw elektnscheii stnbl. Ein
avantgardistisches Medientheater (1957), in dem der Kasperl gleichfalls als eine
Symbolfigur fungieren soil, ersichtlich.^^ Selbst Jelineks Ich liehe Osterreich (2000)
lasst sich ebenfalls in die Adaptionsreihe einreihen, in welcher der Kasperl
zumeist mit politisch beladenem Hintergrund subversiert eingesetzt wird.
Eine Bedeutungsverschiebung mit der Montage kann in diesen Stiicken
„spontan assoziativ, spiclerisch subversiv""*" sein, wenn die Sinnerwartung
des Rezipienten durchgebrochen wird. In dieser Hinsicht woirde Jelinek in den
friihen fahren von der textuellen und visuellen Montage der Wiener Gruppe
stark inspiriert.
Im Mittelpunkt Bildmontagen zu den Stucken Bitrgtheater und
Priisidcnf Ahendif/nd w'xxd der Lcsevorgang mit dem Kasperl und seinem Buch
inszeniert. Die Figur des lesenden Kasperls tritt zugleich als Epigone auf und
signaUsiert selbst dieses Handein: Das Nacherzahlen bedeutet hier keine
tbeatralische Mimesis, was die Programmatik einer grotesk-derben
Stegreifkomik bedeuten wiJrde, sondern ein Umdichten von einem bereits
bestehenden Textmaterial: Die Vorgeschichten der Wesselys und Waldheims
im Rahmen volkstheatraliscber Zurschaustellung.
jelineks Thema ist in diesen sowie in zahlreichen anderen Werken
das sprachliche BloBstellen von ehemaligen Akteuren des Nationalsozialismus.
AhnUch wie im Stiick Wolken.Heiw (1988), das eine radikale Montage aus
Texten von Holderkn, KJeist, Fichte, Hegel, Heidegger und Ausziigen aus
Briefen der RAF-Haftlinge ist, sowie wie im weniger bekannten Stiick Der
tansendjdhrige Vosten oder Der Germanist (2003), das auf der Basis von Franz
Schuberts Singspielen Dervierjdhrige Vosten (1 81 5) und Die Ziri/lingsbriider {\^\^)
entstanden ist, wird die sich ,fortpf!anzende' ideologisch gepriigte Sprache
zum Mittel des Zertriimmerungsprozesses.
Das im Text stiindig stattfindende Versprechen und Stottern bzw.
die sich aktualisierende „Sprachschiebung des Schauspulas"^" signaUsiert diesen
textimmanenten und automatistischen Fortgang eines de(kon)struktiven
Sprachprozesses. Die Denunziation wird daher nicht bildUch-real, sondern
sprachlich-experimentell vorgenommen und auf bildlicher Ebene mit der
Figurendemontage sowie der online veroffentlichten Bildmontagen
untermauert. Die Relation zwischen den verschiedenen Ebenen der
Sprachtradition, zwischen der Sprache des ,Yolkes' und der Gattung des
,Volksstiicks', bedeuten hier keine erzielte Symbiose, sondern ein Ineinander-
und Obereinandergehen des I leterogenen, ein Entschleierungsmechanismus:
Der Volks- und Staatsschauspieler, sein Mittel die Sprache, genauer:
147
sein Repertoire, das alltagssprachlich und aktuell ideologisch
durchsetzt, die Vermischung des Heterogenen quasi selbsttatig
ausfiihrt. [...] Die Loslosung scheinbar disfunktionaler Sprach-
Etiiden von der Handlung, die Exhibition der Sprachvirtuositat an
der Rampe, wird [...] zum Mittel der Selbst-Denunziation des
Schauspielers.*
Interessant ware nach einer Autorinstanz in den Texten zu suchen. In der
Videoaufzeichnung von Jelineks Rede Im Abseifs (2004) zur
Nobelpreisverleihung wird der Zusammenhang zwischen Autorschaft und
Sprache gesucht und eine Relation von Distanz und Nahe aufgestellt:
Es ist kein willkiirlicher Vorgang, das mit Sprache Sprechen, es ist
einer, der unwillkiirlich willkiirlich ist, ob man will oder nicht. Die
Sprache weiB, was sie will. Gut fiir sie, ich weiB es namlich nicht, und
ich weiB die Namen nicht. Das Gerede, das Reden iiberhaupt redet
jetzt dort driiben weiter, denn es ist immer ein Weiterreden, ohne
Anfang und Ende, aber es ist kein Sprechen. Es redet also dort
driiben, wo sich immer die anderen authalten, weil sie sich nicht
aufhalten wollen, sie sind sehr beschiiftigt. Dort driiben nur sie. Ich
nicht.^'
In Jelineks online verotfentlichten Xestroy-Essay sich wit der Sprache spielen
(2001) wird cbenfalls indirekt aut diese spielerische \'ermittlertunktion der
Sprache verwiesen:
Nestrov ist ein verspielter Autur, glaube ich, er spielt sich (ja: sich!)
mit der Sprache, in die er sich einmal hineinbnngt und dann wieder
herausnimmt. Er zwiingt sich hinein, schmeiBt ein bissel mit den
Wbrten und Satzen herum, dann liiBt er sie wieder fallen, und dann
sagen sie oline Umschweife: was los ist. W as sich irgendwo losgerissen
hat.^-
Der Hinweis „(ja: sich!)" der Autorin iiber Nestroys Sprach- und
Schauspielerartistik signalisiert die selbstiindige Sprechinstanz der nestroyschen
Sprache. Jelineks Adaption von Nestroy ermoglicht im Stiick dieses autonome
Sprachexperiment: eine i\nnaherung und gleichzeitige Abgrenzung, eine Nahe
und gleichzeitige Distanz zum eigenen Schreibvorgang. Die Textoperation in
den beiden osterreichischen Satiren erweist sich durch das Montageverfahren
und durch das sprachstilistische Experimentieren wie ein autonomes
de(kon)struktives „Spiel""'^ — im Sinne Demdas - mit den heterogenen Ebenen
der Traditionsvorstellungen. Dieses „Spier', das eine „Permutation oder
Transformation" im Text ermoglicht, wird jedoch von einem „Zentrum"
begrenzt, wodurch die endlose Kette der traditionsbeladenen Sprachebenen,
die in immer wieder neueren \^ariationen ineinander geschoben werden,
vorangetrieben wird.""
In Burgtheattr und Prasident Abeudwiiid wird versucht, eine
148
De(kon)struktion tradierter Formen anhand ciner avancierten Kunstsprache'*^
zu bewerkstelJigen, die sich zwar an osterreichische sprachexperimentelle
Traditionen anschlieBt, sich davon aber zugleich abgrenzt. Dabei wird durch
die intertextuelle Methode der Montage im poststrukturalisdschen Sinne
eine Hinterfragung totalitiirer Strukturen in der Sprache der Traditionen selbst
erprobt. Das Zitieren von tradierten Phrasen und Floskeln und die Anderung
sprachlicher und semantischer Konstrukdonen werden zum Mittel einer
spielerischen Entstellung, Aufsprengung und \'erschiebung verfestigter
Sinnkonstruktionen, was dem einen Zweck dienen sf)llte: das doppelbodige
Traditionsverstiindnis uber volkstiimliche und volkische Kunst, spielerisch
zu hinteri:'ragen.
Endnotes
' Gesprach zwischen Franz Stadler und Elfriede Jelinek: Franz Stadler, Mit sozialem
Blick und scharfer Zunge, in: Die Volksstimme von 24.08.1986, 7.
^ Diese Tradition weist hinsichtlich der experimentellen Stilistik und der verstarkten
Anwendung der Sprachmontage eine Kontinuitat ausgehend von johann Nepomuk
Nestroy iiber Karl Kraus bis eigentlich zur Wiener Gruppe auf. \'gl. Margaret Sander,
Textherstellungsverfahren bei Elfriede jelinek (= Epistemata 179), W'iirzburg 1996, 19-
26.
' Kurt Palm, Hg., hurgtheater, Ziiolfelduteu, Bliit, Besiicbsi^eit. Vier osterreichische Stiicke,
^X■ien 1987, 227-233, bes. 230.
'' \'gl. Palm, Burgtheater, wie Anm. 3, 229- 230.
' Stadler, Mit sozialem Blick, wie Anm. 1., 7.
'' \'iktoria Heifer: (Dis-)Kontinuitat zur osterreichischen Tradition in Elfriede [elineks
Biirgtheater und Prasident Aheiidirhid, in: Claus Zittel u. Marian Holona, Hg., Positionen der
lelinek-Forschung (= )ahrbuch tiir Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 74), Bern u.
a. 2008, S. 315-330.
Die Kridk der Kunstler an einer Reminiszenz osterreichischer Tradidon in den 1980er
Jahren (wie z. B. auch bei Heinz R. Unger, Felix Mitterer und Thomas Bernhard) lasst
sich aus historischer Sicht einerseits als Folge der kurz zuriickliegenden faschistoid
gepragten osterreichischen Vergangenheit und andererseits als Gegenreaktion zum
nationalistisch und restaurativ ausgerichteten Theaterbetrieb bis zur sogenannten
W'aldheim-Affare erklaren.
" Einerseits war die Rede der Schriftsteller iiber ein Osterreich, das seine NS-\ ergangenheit
mit dem sogenannten ,Opfermythos' zu leugnen suchte, andererseits iiber die ,Osterreich-
Ideologie' in der Literatur und Kunst, die im restaurativ-konservativen Sinne eine
ehrenwiirdige osterreichische Kultur propagierte und gegen einen \'erlust des
nadonalisuschen Stellenwerts des Wiener Burgtheaters protesderte. \'gl. Klaus Zeyringer,
Osterreichische Literatur seit 1945: Uberblicke, Einschnitte, Wegmarken, Innsbruck
2001, 79. u. 175; Ders., Innerlichkeit und Offentlichkeit: osterreichische Literatur der
achtziger jahre, Tiibingen 1992, 95 152.
' Wolfgang Seibel, Die Formenwelt der Fertigteile. Kiinstlerische Montagetechnik und
ihre Anwendung im Drama, Wiirzburg 1988, 131.
'" Walter Benjamin: Karl Kraus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11/ 1. hg. \: Rolf Tiedemann
u. Hermann Schweppenhauser, Frankfurt a. Main 1977, 334-367, hier 365.
" Thematisiert wird die ,Sprachreinigung' bekanntlich im Gedicht Die Sprache (1925) von
Karl Ivraus, in dem es heiBt, dass die Sprache - durch das Montageverfahren des Autors
149
- von der „Dirne" zur „Jungfrau" werde.
'^ Die Konzeption vom „Ursprung" spielt sich in der Lyrik v«n Kraus leitmotivisch
durch: Eine zeitlose und naturnahe Gegemvelt steht im Kontrast zur verbrecherischen
Zeim^elt der GeselJschaft. Vgl. Kurt Krolop: Dichtung und Sadre bei Karl Kraus, in: Kurt
Ivrolop, Hg., Kommentare zu Karl Ivraus. Beiheft zur dreibandigcn Kari-Kraus-Auswahl,
Berlin 1978, 89-127, bes. 95-96.
'^ Zur Gemeinsamkeit von Montagestrukturen von Kraus' Die let:^ten Tage der Menschheit
und Jelineks Burgtbeater ziihle ich z. B. exkJamative Phrasen, kommutierte Gedichtzitate
und typische, verballhornte Wiener Musik- und Liedzitate aus der Zeit der Monarchie
bzw. des Nationalsozialismus. Die Referenzbeziige werden sowohl bei Kraus als auch
bei Jelinek meistens ohne Markierung suspendiert, wodurch das Zitat krvptisch wird
und fiir den Leser zumeist unkenntlich bleibt.
'" Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualitiit, in: Manfred Pfister u. L'lrich Broich,
Hg., Intertextualitat. Formen, Funkdonen, anglisdsche Fallstudien, Tiibingen 1985, 1-30,
hier 15.
'' Vgl. dazu: Michael Riffaterre, The Semiotics of Poetry, London 1980, 100, 130 u. 165.
'^ Die Lust an der sprachlichen Dekonstruktion der Autorin wird im programmatischen
Essay „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein" thematisiert. In: TheaterZeitschrift 7
(1984), 14-16.
'' Vgl. Marie-Therese Kerschbaumer, Bemerkungen zu Elfriede Jelineks Burgtbeater, in:
diess.. Fur mich hat das Lesen etwas mit Fliessen zu tun...Gedanken zum Lesen und
Schreiben von Literatur, W'ien 1989, 143 163; Sander: Textherstellungsverfahren, wie
Anm. 2., 41-46.
'* Jelinek, Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, wie Anm. 16., 16.
" Jelinek sagt, dass sich diese Tradidon in der Theaterinszenierung des Wiener Burgtheater
bis zur Ara Peymann fortsetzt und in den deutsch-osterreichischen Fernsehserien
weiterlebt, wie etwa im Schlosshotel Orth (1996-2004). Vgl. dazu das Interview mit Elfriede
Jelinek. In: Harald Friedl, Hg., Die Tiefe der Tinte, Salzburg 1990, 27 51, hier 44.
^^ Vgl. Zitat dazu: „Der Faschismus war nicht bloB die Verschworung, die er auch war,
sondern entsprang in einer machtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Die
Sprache gewahrte ihm Asyl; in ihr auBert das fortschwelende Unheil sich so, als ware es
das Heil." Indem die Sprache des „Plebiszitare[n] und Elitare[n]" raffiniert gemischt
wurde, UTirde eine Sprache der Propaganda erschaffen. In: Theodor W'. Adorno, ]argori
der Eigeiitlichkeit, Frankfurt a. Main 1964, 8-9.
^' Elfriede Jelinek: Burgtbeater, in: Ute Nyssen, Hg., Theaterstiicke, Koln 1984, 113.
^ Das um 1710 in der Wiener Vorstadt entstandene Alt- Wiener Volksstiick war ein eng
lokal gebundenes, volksnahes Pendant zum biirgerlichen Trauerspiel, das seit seiner
Entstehungszeit parallel zum klassischen Repertoire des Wiener Burgtheaters exisderte.
Vgl. Manfred Brauneck, Theatedexikon, Hamburg 1986, 48. Theaterhistorisch gesehen
wurde im Wiener Burgtheater seit dem 19. Jahrhundert das Ziel verfolgt, die Ausbildung
einer nationalen Theaterkultur biirgerlichen Zuschnitts im Dienste einer asthenschen
Erziehung und moralischen Beforderung zu stellen. Diese Funktion von Reprasentanz
hoher kultureller Werte wurde im Dritten Reich beibehalten, wofiir jedoch das
Repertoire indoktriniert wurde. Stiicke des barocken Volkstheaters und Stiicke des
Klassizismus wurden zum Zwecke einer arischen Kultur einvernahmt und streckenweise
umgeschrieben. Vgl. Margret Dietrich, Das Burgtheater und sein Publikum, Bd. 1, W'ien
1976,675-707.
^' Siehe Webseite der Autorin: u-\\-w.elfriedejelinek.de, unter Burgtheater
^■' Recherche zu den Zitaten aus Filmen und Operettenstiicken: Evelyn AnnuB, Elfriede
Jelinek - Theater des Nachlebens, Munchen 2005, 104-135; Sabine Perthold, Elfriede
Jelineks dramatisches Werk. Theater jenseits konventioneller Gattungsbegriffe,
unveroffendichte phil. Diss., Universitiit W'ien 1991.
150
" Zum Montageverfahren im Stiick Bttrgtheater sagt die Autorin in einem Interview, dass
die Figuren eigentlich Kunstfiguren und die Dialoge eigentiich Montagen sind: „Das
meiste [wurde] direkt am Schneidetisch aus Filmen entnommen. Es ist mir darum
gegangen, die Kontinuitiit der verkommenen ideologischen Sprache - von Nazifilmen
iiber die Heimatfilme der fiinfziger Jahre bis bin zu beutigen Familienserien oder auch
pbilharmonischen Konzertprogrammen - aufzuzeigen, diesen mythologisierenden
Einbeitsbrei, der iiber alles gegossen wird." In: Stadler, ^Lt sozialem Blick, wie Anm. 1.,
7.
"'' Zur Entnazifizierungsgeschichte der Burgtheaterschauspieler: Hans Daiber, Deiitsches
Theater seit 1945, Stuttgart 1976, 43-50.
- Elfriede Jelinek, Burgtheater, wie Anm. 21., 149. Vgl. das Zitat aus dem nationalsozialistisch-
propagandistischen Spielfilm Heimkehr (1941): „Und in der Nacht, in unseren Betten,
wenn wir da aufwachen aus'm Schlaf, da wird das Herz in 'nem siiBem Schreck plotzlich
wissen, wir schlafen ja mitten in Deutschland, daheim und zuhause, und ringsum ist die
trostliche Nacht, und ringsum da schlagen Miilionen deutsche Herzen und pochen in
einem fort leise: daheim bist du, Mensch, daheim, daheim bei den Deinen. Dann wird
uns ganz wunderlich sein ums Herz, dass die Krume des Ackers und das Stiick Lehm
und der Feldstein und das Zittergras und der schwankende Halm, der Haselnussstrauch
und die Baume, dass das alles deutsch ist, wie wir selber, zugehorig zu uns, weils ja
gewachsen is aus den Miilionen Herzen der Deutschen, die eingegangen sind in die
Erde und zur deutschen Erde geworden sind." In: Gerald Trimmel, Der
nationalsozialistische Spielfilm Heimkehr. Strategien der Manipulation und Propaganda
(9.5.2003), in: URL: http//:www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/studium/kultur/
film/heimkehr.pdf (1.09.2006).
•^ \'gl. GiJnter Grack, Wiener Schmiih, Elfriede Jelineks Bitrglhealer beim Theatertreffen,
in: Der Tagesspiegel vom 18.05.1986.
^' Siehe die XX'ebseite der Autorin: www.elfriedejelinek.de, unter Prasideiit Abendifind.
^ \'gl. dazu das Zitat von Sigfrid Loffler: „Spatestens die Waldheim-Debatte der achtziger
Jahre war der AnstoB, daf? die Osterreicher ihre Erfolgmythen zu problematisieren und
ihre Geschichtsliigen reihenweise zu revidieren begannen, vom Opfermythos bis zum
Marchen von der Sozialharmonisierung. Auch ohne die Vergesslichkeitsleitungen des
\ erdranger Prasidenten ware die Zeit reif dafiir gewesen, dafi nun die Enkelgeneration
die Geschjiftsgrundlagen der Firma Osterreich II kritisch iiberpriift. Seither gilt Osterreich
als beides zugleich: Succes Stor\' und Liigengebilde." In: Sigfrid Loffler, Kritiken —
Portraits - Glossen, \X ien 1995, 43.
" Vgl. Angela Gulielmetti, Hduptling Aheiidnitid und Prdsideiif Abendivnid. Nestroy und
Elfriede Jelinek, in: Nestroyana. Blatter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft (1997),
H. 1/2. 39-49.
'^ Anthropophagie war auf der Stegreifbiihne und im Commedia dell'Arte ein beliebtes
Motiv, was noch auf die robe und derbe Unterhaltung vorstadtischer Tierkampfe
zuriickzufiihren ist.
" Die Autoren waren Elfriede Jelinek, Helmut Eisendle, Libuse Monikova und Oskar
Pastior. Vgl. Herbert Wiesner: Nachwort, in: ders., Hg., Anthropophagen im Abendwind,
(=Texte aus dem Literaturhaus Berlin 2), Berlin 1998, 113.
'" Elfriede Jelinek: Prdsident Ahenduiiid, in: Heinz Ludwig Arnold, Hg., Text und Kritik, H.
117, Miinchen ^1999, 34. Vgl. das bekannte Zitat aus dem Libretto der Operette Die
Fledermaiis: „Gliicklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu iindern ist." \'on lelinek wird
das Wort „nicht" zum Schluss in Hinblick auf die Kandidatur Waldheims als
Bundesprasident auf „noch" geandert.
'" Das urspriingliche dadaistische Prinzip der Text und Bildmontage wurde in der
medieniibergreifenden Kunst der Wiener Gruppe, wie z. B. in der visuellen Lyrik, in
den 195lier und 1960er |ahren wiederbclebt. Eine X'erfremdung in den
15:
sprachexperimentellen Gedichten und flappenings wurde bei H. C. Artniann, Gerhard
Riihm, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner und bei Oswald Wiener methodisch gesehen
durch das Ineinandergleiten und Aufeinanderschieben verschiedener
Bedeutungsebenen, die selbst mit Tradition beladen warden, sowie durch das mediale
Crossover einer Montage oder Collage erreicht. \'gl. Walter Buchebner, Hg., Die Wiener
Gruppe, Wien u. Koln 198"'.
'* Kasperl als osterreichisches Spezitlkum taucht bereits in |elineks triihen Roman mr
stud lockvogel, baby! (1970) auf.
^' Zum Montageverfahren der Wiener Gruppe: Andre Bucher, Die szenischen Texte der
Wiener Gruppe (= Ziiricher Germanistische Studien 31), Bern u. a. 1992; .\lbert Berger,
Zur Sprachiisthetik der Wiener Avantgarde, in: Buchebner, Die \X lener Gruppe, wie
Anm. 36., 30-45.
'' Vgl. Bucher, Die szenischen Texte, wie Anm. 38., 49.
" Elfriede Jelinek, Burgtheater, wie Anm. 21., 130.
■* Vgl. Hubert Lengauer, jenseits vom Volk: Elfriede Jelineks ,Posse mit Gesang' burglheater,
in: Ursula Hassel u. Herbert Herzmann, Hg., Das zeitgenossische deutschsprachige
\olksstack, TCibingen 1992, 217-228, hier 219.
■" Elfriede Jelinek: //// Abseils (9.1.2005), in: URL: http://our\vorld. CompuServe. com/
homepages/elfriede/ (1.09.2006).
"^ Elfriede jelinek: sich wit der Spracbe spieleii, in: URL: http://ourworld.compuserve.com/
homepages/elfriede/ (1.09.2006.). \'gl. auch Yasmin Hoffman: Hier lacht sich die Sprache
selbst aus. Sprachsatire bei Elfriede )elmek, m: Kurt Bartsch u. Giinther Hofler, Hg.,
Elfriede Jelinek, Graz 1991, 41-45.
*^ Derrida weist auf die Ambiguitat der Sprache hin, die Zwangstrukturen eines
hierarchischen und wertenden Systems ,wahr' und ,falsch' zu stabilisieren suchen. An
der Stelle eines Realitatsdefmierens kommt der Begriff des „Spiels", worunter Derrida
die „Abwesenheit eines Zentrums" versteht. In: Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen
und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Ders.: Die Schrift und die
Differen-:^ Frankfurt a. Main 1972, 'MIA'M.
"" Ebd., 422-423.
*^ Elfriede Jelinek, Burglhea/er, wie Anm. 21., 102. Vgl. dazu auch die Aussage der Autorin:
„Ein simpler Naturalismus ist nicht imstande, aUe Aspekte der Wirklichkeit so abzubilden,
da(5 sie als veranderbar erkannt werden kann, sondern liefert vielleicht ein plattes
Abziehbild." In: Josef Hermann Sauter: Interview mit Elfriede Jelinek, in: Weimarer
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Zeyringer, Klaus: Inncrlichkeit und OtYentlichkeit: osterreichische Literatur
der achtzigcr lahrc, Tubingen: 1 992, 95- 1 52.
,55
156
Das Verblassen des Unsichtbaren
Schillers dsthetische Briefe nach den X^eiwirrungen von
TorkJ^ und dem beschddigten "Leben Adornos
Manuel Clemens
Es gibt einen alten Witz, in dem eine Schulklasse einen Aufsatz iiber Faulheit
schreibt. Am Ende erhalt derjenige die beste Note, der nur ein leeres Heft
abgibt und auf die letzte Seite geschrieben hat: „Das ist Faulheit!" Ahnlich
verhalt es sich auch mit der zweckfreien Bildungsidee. W'enn man ihren Zweck
angeben miisste, wiirde man auch am liebsten nur ein unbeschriebenes Heft
abgegeben. Allerdings nicht aus Faulheit, sondern weil gerade diese
Unsichtbarkeit und Unbestimmbarkeit die W'irkung des Zweckfreien am besten
darstellen wiirde.
Auch Schillers Bildungstheorie in seinen Bnejhi iiber die dsthetische
Ei'r^ehtmgdes Menscheu hat die unbestimmte zweckfreie W'irkung der schonen
Kiinste zur Grundlage. Es soil jedoch am Beispiel von Robert Musils
Antibildungsroman Die X^erwirrungen des Zoglitigs Tor/e/f und der Bildungskritik
Theodor VC; Adornos gezeigt werden, dass es gerade die Zweckfreiheit ist,
welche naher bestimmt werden miisste, um Kunst wirkungsvoll einsetzen zu
konnen. Der Titel dieses Aufsatzes - Das Verblassen des Unsichtbare/? - steht fiir
dieses Problem. Mit dem „Unsichtbaren" ist die Wirkung des Zweckfreien in
einer zweckrational denkenden GeseUschaft gemeint. Mit „Verblassen", dass
diese unsichtbare Wirkung vom zweckrationalen Denken nur noch selten
erkannt und geschatzt werden kann, weil dem konkreten sichtbaren Zweck der
Vorranggegeben wird. Konkret und sichtbar ist dieser Zweck, da er im Vorfeld
geplant und angestrebt werden kann. Gegeniiber Kreativitat ist er resistent,
Neues und Unbekanntes wiirde in diesem starren Ablauf als Fehler angesehen.
Das Unsichtbare und Zweckfreie ist dagegen ein offener Prozess, sein Zweck
ist nicht sichtbar, da er sich wahrend eines Prozesses ergibt, sich immer wieder
verandert und erst im Nachliinein benannt werden kann. \X ahrend das Sichtbare
beherrscht werden kann, beinhaltet das Unsichtbare Riitselhaftes und stellt
dutch seine Offenheit Identitiit und W'eltbild in Frage. Wie das Zweckfreie
gegeniiber dem Zweckrationalen zur Geltung gelangen kann, ist das Thema
dieses Essays.
Zuerst wird anhand xon Schillers asthetischen Briefen
herausgearbeitet, wie er den fiir das UbermaB an RationaUtat verantwordiche
157
Formtrieb durch die lebendige W'irkung dcs Sttjfftriebs ausgleichcn und im
daraus resultierenden Spiel das zweckfreie Menschsein und moralisch Gute
verwirklichen mochte. AnschlieBend sollen Die \''envirntiigt;>i des Zoglings ToiieJ^
die beiden Schwachpunkte dieses Erziehungsprogramms darstellen. TodeB
steht dabei fiir den von Schiller kritisierten dekadenten Kunstmenschen, der
sich z\var tur das Zweckfreie sensibilisieren liisst, es jedoch nicht aut das Leben
und moralische Handeln iibertragen kann. TorleB' Gegenspieler, Beineberg
und Reiting, reprasenderen dagegen den Bildungsbiirger, bei dem die Kunst
nicht einmal in der Privatsphare wirkt, weil er auch dort dem biirgerlichen
Realitatsprinzip nicht nachgeben kann und iiberhaupt nicht an der
ausgleichenden Wirkung des Stofftriebs interessiert ist. Beide Punkte sollen
im letzten Teil durch die Bildungskridk Adornos genauer analysiert werden.
Anhand seiner Theorie der Halbbilduiig sollen TorleB' Gespriich mit seinem
MathematikJehrer und seine Rechtferdgungsrede am Ende des Romans
deutlich werden lassen, wieso sein Spiel mit der Kunst nur ftir ein Zwischenspiel
reicht, da es im prakdschen Leben aufliort und sich mit den zweckrationalen
Anforderungen der Gesellschaft arrangiert. Adornos Stiidien ^uffi autoriUiren
Charakter sollen vor dem Hintergrund seiner Aufklarungskridk ausfiihren,
woher bei Beineberg und Reiting das Desinteresse fur Kunst bzw. die
Zufriedenheit ohne Kunst kommt. Die Antwort soil in ihrer Lust auf Intrigen
und Sadismus gesucht werden, wodurch sie Schillers Spieltrieb in ein Gegenspiel
verwandeln und sich die lebendige sinnliche Erfahrung iiber den Umweg der
Bekampfung derjenigen gewahren, deren Leben freier und unkontrollierter ist
als ihres. Am Ende soil deutlich werden, dass das Zweckfreie in einer
zweckradonal denkenden Gesellschaft nur bestehen und wirken kann, wenn
es sich durch die ihr entgegenstehende Denkweise vermittelt, was bedeutet,
dass es als Zwischenschritt den Zweck ihrer Zweckfreiheit angeben miisste,
bevor es beansprucht zu wirken.
L Schillers asthetische Briefe
Schiller beginnt seine iisthedschen Briefe mit einer Kridk an der Aufklarung. Er
kridsiert, dass durch den i.ibermaBigen Glauben an die Leistungen der Vernunft
der wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Nutzen zu einem Idol
der Zeit geworden ist und der Schonheit und Kunst keine nennenswerte
Bedeutung mehr fiir das \Xbhl der Menschen zugesprochen wird. Die Folge
hiervon ist die Herausbildung eines Menschentypus, der unter dem Diktat
von Spezialisierung und zweck-instrumentellem Denken steht, was eine
problematische X'erarmung seiner Personlichkeit darstellt. Fiir Schiller ist der
alleinige Glaube an die Vernunft nicht der \Xcg zu einer freien, besseren
Gesellschaft. E> erkennt zwar ihre Leistungen an und mochte sie auch nicht
riickgangig machen, sieht in ihr aber bereits auch die W'urzeln fiir zahlreiche
Probleme und keinesfalls das alleimge Mittel zur Umsetzung der Ideale der
158
AufkJarung. Bestes Beispiel ist hierfiir die Franzosische Revolutdon. Sie war die
Tat einer bloB „theoretischen Kultur'", die nicht in die Herzen der Menschen
vorgedrungen ist. Diese waren der plotzlichen auBeren Freiheit innerlich noch
nicht gewachsen, konnten sie nicht mit Leben erfiiUen und lieBen sie sogar in
Brutalitat ausarten. Schiller schliigt deshalb einen entgegengesetzten \X eg ein:
Auf dem Weg zur aufgeklarten Gesellschaft stellt er die Kunst vor Revolution,
Wissenschaft und Philosophie. Der Grundgedanke hierbei: Ist der Mensch
erst einmal fiir die sanfte Kraft des Schonen sensibilisiert, ubertreibt er es mit
den Errungenschaften der modernen Zivilisation nicht und kann das Gute im
EinkJang mit der Natur umsetzen.
Im weiteren Verlauf arbeitet Schiller diese ausgleichende Funktion
der Kunst heraus, welche in letzter Konsequenz zur \'eredelung des Menschen
fiihren soil. Fiir Schiller gibt es zwei Typen von Menschen, auf welche die
Kunst ihren positiven Flinfluss ausiiben soil: Einerseits soil sie den „\\'ilden",
den Unterschichtsmenschen, dessen Geftihle iiber seine GrundsJitze herrschen,
von seinem wilden Triebleben befreien und ihm zeigen, dass die Natur nicht
der unumschrankte Herrscher sein kann, ihn gewissermaBen fiir die
Errungenschaften der Zivilisation sensibilisieren. Der „Barbar" wiederum
zerstort durch seine Grundsatze seine Gefiihle. Er verspottet und entehrt die
Natur und erkennt nur die Vernunft als seinen Herrscher an. Er ist der
Kulturmensch, dessen \'erstandeskraft zwar hoch entwickclt ist, ihn jedoch
einseitig dominiert. Schlimmer noch: Die Kultur hat ihn nicht nur schlecht
erzogen, sie ist auch die Quelle seiner Erschlaffung. Die Aufklarung des
N'^erstandes hatte keinen veredelnden Einfluss, im Gegenteil, ihr
Bildungsprozess woirde zu einer „moralischen Tvrannei"". Ihre Grundsatze
wurden zwar aufgenommen, jedoch nicht umgesetzt, da sie der Natur des
Menschen entgegengesetzt sind. Bildung, Aufklarung und jeder Versuch zur
\ eredelung des Menschen bleiben so stets theoretisch und konnen nicht in die
Praxis umgesetzt werden. An dieser SteUe wird bereits das zentrale Problem
von Schillers Abhandlung deutlich: W'ie kann der Ubergang von der Natur-
zur Vernunftherrschaft gestaltet werden, ohne dass dies beim Kulturmenschen
zur Erschlaffung fiihrt, weil dessen sinnUche Bediirfnisse zu stark von der
Vernunft dominiert werden? Um diesen Ubergang so reibungslos wie mogUch
zu gestalten, muss ein drittes Medium durchgefiihrt werden, welches einerseits
die Natur in ihre Grenzen und andererseits den \'erstand in die seinigen
verweist. Diesen vermittelndcn Charakter besitzt fiir Schiller die Kunst.
Kunst hat das Potential, den absoluten, harmonischen Menschen,
bei dem die sinnliche Welt und die Sittengesetze im Einklang miteinander
stehen, auszubilden. Sie erreicht somit, dass das Sittengesetz auf natiirliche
Weise von Menschen gewollt und nicht von der Vernunft diktiert wird. W'ie
kann sie eine solche Aufgabe leisten? Sie muss das Emptlndungsvermogen,
welches durch ein UbermaB an \'crnunft in den Hintergrund geriet, wieder
159
schulen. Diese Sensibilisierung fiir das Schone verfeinert dann gleichzeitig die
Sitten, da ein guter Geschmack gleichzusetzen ist mit „Klarheit des Verstandes,
Regsamkeit des Gefiihls Liberalitiit und W'urde des Betragens'". Da jedoch die
Realitat zeigt, dass der Sinn tiir Sclionheit nicht nur zum Guten, sondern auch
zur Dekadenz gefiihrt hat oder einfach wirkungslos war, mochte Schiller im
weiteren Verlauf seiner Abhandlung die Schonheit nicht mehr aus der
Erfahrung ableiten, sondern sie im reinen Verstandesbegritt suchen, welcher
ihre positive Kraft transzendental beweisen wiirde. Der theoretische Teil
schildert die eben behandelten Probleme der Gesellschaft und die Wirkung
der Kunst in allgemeiner Form. Das Kernstuck dieses Beweises ist die
Unterscheidung zwischen Stoff- und Formtrieb: (a) Der Stofftrieb geht von
der sinnlichen Natur des Menschen aus und erschafft somit die Moglichkeit
zum Betrachten und Empfmden der Welt. F> fiihrt aber stets nur zu einem
formlosen Inhalt in der Zeit, der so pur ist, dass er nicht wahrgenommen
werden kann. Dem Stofftrieb fehlt die Verstandestatigkeit; er ist blind. Jedoch
hat er die Moglichkeit, leere Abstraktionen mit Leben zu fiillen und die
unterdrijckte Natur wieder hervorzurufen. (b) Der Formtrieb wiederum geht
von der verniinftigen Natur im Menschen aus und hebt die Zeit und die
Veriinderung auf Er will, dass das Verniinftige immer und ewig ist, und ruft
deshalb Wahrheit und Gesetz ins Leben. Der Formtrieb herrscht, er ist das
reine Objekt in uns. Er ist die hochste Erscheinung des Seins, da er die
Wirklichkeit nach ewig gijltigen Gesetzen ordnet, und hebt die Menschen
vom durftigen Reich der Sinne zum Ideenreich, welches hoch uber der Realitat
thront. Ohne den Stofftrieb ist er aber nur ein leeres Vermogen.
Der Bildungsprozess des Menschen muss sich hauptsachlich auf
das harmonische Zusammenspiel von Stoff- und Formtrieb im Menschen
konzentrieren. Da er durch die Kunst organisiert wird, steht sie im Mttelpunkt
von Schillers BiJdungstheorie. Ihr kommen dabei zwei Aufgaben zu, die beide
die verlorene Einheit des Menschen mit der Natur wiederherstellen soUen:
Ihr |der Kultur - M.C.] Geschiift ist also doppelt: erstlich: die
Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Fre)heit zu verw^ahren: zweytens:
die Personlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicher zu
stellen. jenes erreicht sie durch Ausbildungdes Gefiihlsvermogens,
dieses durch die Ausbildung des Vernunftvermogens.'*
Das perfekte Zusammenspiel zwischen Stoff- und Formtrieb bezeichnet
Schiller als die Entstehung des „Spieltriebs". F^r ist das harmonische Ideal,
welches der Mensch immer nur anstreben, jedcjch nie erreichen kann. In diesem
Streben erfahrt er die „Idee seiner Menschheit"'. Der Stofftrieb ist auf Leben
ausgerichtet, der Formtrieb auf Gestalt; zusammen im Spieltrieb erganzen sie
sich zur „lebenden Gestalt"'', was der Schonheit gleichkommt. Hier ist der
Mensch frei von Materie und Gesetz, er befmdet sich genau in der Mitte von
beiden, was bedeutet, dass er sich ihren Zwiingen entzogen hat. Zuvor waren
160
beide Triebe strengstens darauf bedacht, sich zu venvirklichen, jetzt reagieren
sie entspannter. Anschauung und Welt, Gesetz und Ptlicht notigen den
Menschen nicht mehr. Mit anderen W'orten:
Indem es mit Ideen in Ciemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche
einen Ernst, weiJ es klein wird, und indem es mit der Emphndung
zusammentrifft, legt das Nothwendige den seinigen ab, weil es leicht
wird.'
Schonheit ist heiter und der alltaglichen Ernsthaftigkeit mit ihrem Zwang zur
Entfremdung enthoben. Angesichts dieser Erfahrung empfindet der Mensch
eine Harmonie mit sich selbst, da er die Erfahrung seiner moglichen \'ollendung
macht: „der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". Dieser Zustand der
„hochsten Ruhe und der hochsten Bewegung" fiihrt zu einer hochst
angenehmen Riihrung, „fur welche der \'erstand keinen Begriff " mehr hat.*
Im Spiel ist der Mensch in dem von Schiller gesuchten „asthetischen
Zustand"". Da Schonheit zweckfrei ist, erlebt er hier in der Einbildungskraft
seine absolute Freiheit. Er ist weder durch die Gesetze der Natur noch durch
die Gesetze der \ernunft bestimmt. Beide befinden sich hier in einem
Schwebezustand und schcnken dem Menschen eine zweite Schopfung, weil er
von alien Pflichten, von Moral und Aufldarung befreit ist. Er erlebt durch
dieses Gliicksversprechen seinen personlichen Wert und kann aus sich machen,
was er will. Die Natur hat ihm „die Frevheit zu sein, was er seyn soU,
voUkommen zurijckgegeben"'". Diesen zweckfreien Zustand beschreibt Scliiller
folgendermaBen:
jeder andere Zustand, in den wir kommen konnen, weist uns auf
einen vorhergehenden zurlick und bedarf zu seiner Aufldarung eines
folgenden; nur der asthetische ist ein Ganzes in sich selbst, da er alle
BedingLingen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt.
Hier allein fiihlen wir uns wie aus der Zeit gerissen; und unsre
Menschheit auBert sich mit einer Reinheit und Integritat, als hatte sie
von der Einwirkung auBrer Kriifte noch keinen Abbruch getan.^'
Dieser asthedsche Zustand und nicht die \^ernunft bereitet auf sittliches
Handeln vor. Schiller dreht hier Kants Lehre vom kategorischen Imperativ
um: Nicht die Vernunft macht uns zu einem moralischen W'esen, sondern die
Erfahrung von Schonheit. Dominiert die \ ernunft den \X eg der Aufklarung,
so wird sie lediglich eine theoredsche Kultur hervorbringen, in der Sittengesetze
gelernt, aber nicht befolgt werden. Schiller mochte den Menschen mit der
Schonheit zuniichst fiir das Cnite sensibilisieren, damit er es sich aus der Tiefe
seiner ganzen Person herbeiwiinscht und somit spater die Gesetze der Moral
aus einem inneren Bedi.irtnis heraus befolgen kann, als ware es sein eigener
W'unsch. Da das Sittengesetz jetzt nicht mehr aus der \'ernunft diktiert wird,
sondern aus dem Spieltrieb, d.h aus der Natur des Menschen kommt, kann es
mit der Lcichtigkeit eines Gefiihls gelebt werden:
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Durch die iisthetische Gemuthsstimmung wird also die
SelbstthJitigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit
eroffnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen
Grenzen gebrochen, und der physische Mensch soweit veredelt, dass
nunmehr der Geistige sich nach Gesetzen der Freyheit aus demselben
bloB zu entwickeln braucht.'-
II. Die Verwirrungen des Zoglings TorleB
Den Antibildungsroman Die Veiwhrnngen des Zogling TorkJ^xon Robert Musil
mochte ich als eine moderne literarische Beschreibung der problematischen
Punkte von Schillers Bildungstheorie lesen. Der in ihm geschilderte raue Alltag
eines Militar-Konvikts kontrastiert sehr anschaulich Schillers Idealismus. Ein
Blick auf die sensible und hochintelligente Hauptfigur TorleB soil zeigen, dass
der Ausgleich zwischen Stoff- und Formtrieb weit problematischer ist als in
den asthetischen Briefen beschrieben, da der asthetische Zustand nicht
automadsch mit dem moralischen Zustand gleichzusetzen ist. Seine brutalen
und intriganten Gegenspieler Beineberg und Reidng stehen dagegen fiir die
Schwierigkeit, den asthetischen Zustand iiberhaupt zu erreichen, da sie nicht
an der ausgleichenden W'irkung des Stofftriebs interessiert sind.
TorleB wird im Verlauf der Handlung von Stoff- und Formtrieb,
von Gefiihl und Verstand durchgeschiittelt. Dies fiihrt zu einem inneren
Bildungsprozess, an dessen Ende jedoch nur die subtile Ausbildung seines
asthetischen Vermogens und nicht eine genauso intensive EnKvicklung seines
moralischen Bewusstseins steht.
Zu Beginn der Handlung ist TorleB mit einem vornehmen Prinzen
befreundet, dessen sensibles und schiichternes W'esen ihn anzieht. Selbst der
Klang seiner Stimme und noch sein Schweigen zeugen fur TorleB eindrucksvoll
von der „vollen .\rt envas Seelisch-Menschliches zu sein"'\ Seine Begegnungen
mit ihm sind fiir ihn eine einzigartige Id\ lie, da er sich in dem abgelegenen
Internat nicht wohl fiihlt. In dem Moment aber, in dem sich in TorleB der
Formtrieb etwas hcftiger regt als sein Stofftrieb, zerbricht ihre Freundschaft,
als er sich iaber den tiefgliiubigen Prinzen lustig macht. Darautliin schlieBt er
sich gelangweilt von Schule und BiJdung den rauen Fiihrerfiguren Beineberg
und Reiting an und wenig spater wird er in eine ihrer wiJden Geschichten
hineingezogen: Basini, ein schwacher und diimmlicher iNhtschiiler, wird von
Reiting des Diebstahls iibertuhrt; anstatt jedoch seine Tat der Schulleitung zu
melden, beschlieBen Beineberg und Reiting ihn zu iiberwachen, mit dem Ziel,
ihn zu einem ehrlichen Menschen zu erziehen. In W irklichkeit bedeutet dieser
vorgebliche Besserungsversuch jedoch, dass beide Basini qualen und sexuell
missbrauchen wollen. TorleB ist davon ebenso fasziniert wie angewidert. Er
beginnt Basini neugierig zu beobachten, da er durch ihn die Gelegenheit
bekommt, die bisher nur schemenhaft wahrgenommene \Xfelt des Neuen,
162
Bosen und Triebhaften aus nachster Nahe zu ergriinden. Basiiii ist hierfiir sein
StLidienobjekt und er beobachtet ihn ohne Mideid. Am deutlichsten wird
dies, als er Basini direkt fragt, wie er den - fiir TorleB in seiner Xaivitat
unbegreiflichen - Diebstahl begehen konnte und die Misshandlungen ertragt.
Basini, der darautliin keine Antwort weifi, wird immer verzweifelter und TorleB,
der keine Erkenntnis gewinnt, immer wiitender. Er befiehit ihm daraufliin,
sich nackt auszuziehen, was TorleB schlieBlich sinnlich uberwaltigt. Und
\X ahrend der vollig verangstigte Basini nackt vor ihm steht, kann sich TorleB
der Entziickung, des Reizes, der vom nackten, schonen Korper ausgeht, nicht
entziehen. Er fiihlt sich bei diesem Anblick an groBe Kunst\\-erke erinnert und
wahrend Basini zittert, genieBt er diesen Anblick. \'on Mitleid, welches sich
nach Schiller zur gleichen Zeit wie der Kunstsinn regen sollte, fehit hier jede
Spur.
Beineberg und Reiting haben nicht das Problem, verwirrt zu sein.
Beinebergglaubt so felsenfest an seine esoterischen Spekuladonen, dass es fiir
ihn keine Geheimnisse und \erwunderungen mehrgeben kann. Seine Ideen
scheint er sich wiUkiirlich angeeignet und mehr abgespeichert als verstanden zu
haben und er iibertragt sie uninspiriert und ncrvtotcnd auf alles, was ihm
begegnet. Auch Reiting befindet sich jenseits eines vitalen Bildungsprozesses.
Sein Machtbediirtnis braucht iiberhaupt keine ideologische (irundlage. Er
erobert unreflektiert durch sein gewinnendes W'esen und seine ebenso geniale
wie rijcksichtslose Intriganz. Beide bewegen sich auf Grund ihre Pragmadsmus
und Machiavellismus mit Leichtigkeit in der Welt, wahrend TorleB vom
Irrationalen iiberwaltig wird und es ijberall als eine unsichtbare Kraft
wahrnimmt, die ihn standig einem drohenden Ich-\"elst ausliefert.
Am Ende des Romans hat TorleB jedoch wieder an Klarheit und
Selbstbewusstsein gewonnen: Beinebergs Ideen erscheinen ihm lacherlich,
ebenso Reidngs Machtanspruch. )edoch kampft er mit seinem Protest nicht
fiir Basini. Dass er ihn jemals in Schutz nehmen wiirde, schHeBt TorleB mehr
oder weniger aus: „Melleicht wiirde ich es doch tun, aber mir ist die ganze
Cieschichte langweilig."''' Er trennt sich von seinen Kameraden, weil er bemerkt
hat, dass seine Beobachtung ihrer QuJilereien an Basini nicht mehr zu seiner
Selbstfindungbeitragen kann.
i\ls sich spiiter auch TorleB fiir die Misshandlungen an Basini vor der
SchuUeitung rechttertigen muss und keine Eridarung fiir sein fniheres Interesse
an Basini findet, flieht er aus dem Konvikt. i\m nachsten Tag wird er allerdings
schon wieder aufgegriffen und vor die versammelte Lehrerschaft gebracht, die
von ihm verlangt, sein \'erhalten gegeniiber Basini zu rechtfertigen. Als sich
TorleB jedoch weigert, bei der aUgemeinen Komodie, die alle Schuld auf Basini
schiebt, mitzuspielen und stattdessen selbstbewusst von seinen Verwirrungen
zwischen Radonalitiit und Irradonalitiit berichtet, wird er von den Lehrern
nicht verstanden und ebenfalls aus dem Internat endassen.
163
Sein neues Sclbstbewusstsein lost seine X'erwirrungen auf. Vor imaginaren
Zahlen, dem Unendlichen oder Basini und seiner Sexualitat hat er nun keine
^\ngst mehr. Er weiB, dass sich hinter ihnen keine zweite, fremde Welt verbirgt,
sondern dass der Grund fiir das Fremdwerden dieser Dinge lediglich eine
„\vechselnde seelische Perspektive"'^ ist. TorleB kann nun die alltagliche helle
Welt sehen, wenn er sie sehen mochte, und wenn ihm die dunkle geheimnisvolle
Welt erscheint, kann er sie zulassen. Alit der Integration beider Seiten der
Wirklichkeit ist dann auch seine EntwickJung - wie der Erzahler berichtet -
„abgeschlossen""'; durch die Kombination von Fijhlen und Denken hort er
auf zu ratseln und kann schlieBlich handeln. Als er friiher die Welt als Ganzes
wahrnehmen und verstehen woUte, wurde sie fiir ihn zu einem „endlosen
Knoten"' , an dem er jedes Mai scheiterte: „Es war, als ob er eine unaufhorliche
Division durchfiihren miisste, bei der immer wieder ein hartnackiger Rest
heraussprang".'^ j\m Ende erkennt er, dass es nicht moglich ist, die Wahrheiten
der Moral, Mathematik, der Religion oder der Kunst gleichzeitig in ein Weltbild
zusammenzufassen. Er kann immer nur einen individuellen Standpunkt
einnehmen und nicht von einem absoluten Punkt aus die Welt betrachten.
Seine Verwirrungen hatten fur ihn mit den unterschiedlichen Perspektiven auf
die Wirklichkeit zu tun und als er dies erkennt, entscheidet er sich ausschliefilich
fiir die asthetische, da sie seinem Wesen am niichsten steht.
Danach wird es ruhiger urn TorleB. Der Erzahler berichtet, er wird
spater ein „junger Mann von sehr feinem und emptindsamem Cieiste. Er
zaWte dann zu jenen asthetisch-intellektuellen Naturen, welchen die Beachtung
der Gesetze und wohl auch teilweise der offentlichen Moral eine Beruhigung
gewahrt, well sie dadurch enthoben sind, iiber etwas Grobes, von dem feineren
seelischen Geschehen Weitabliegendes nachdenken zu miissen".'" Kunst,
Musik und Literatur haben fiir ihn somit nur den Zweck, das Wachstum
seiner Seele und seines Cieistes zu befordern, eine Verbindung zum alltaglichen
Leben haben sie allerdings nicht: Sie verschwinden, „\venn wir Akten schreiben,
Maschinen bauen, in den Zirkus gehen oder den hundert anderen ahnlichen
Beschaftigungen folgen".'" Deshalb ist ihm seine asthedsche Bildung auch
nur „Zierat, an dem man sich leicht verletze"-', sie fiihrt zu schonen
Augenblicken und F>innerungen, die man vor anderen lieber geheim halt.
III. Adorno und TorleB
Anhand von Theodor VC'. Adornos Analvsen iiber das Scheitern des
Bildungshumanismus sollen die beiden Grundgedanken aus dem letzten
Abschnitt konkretisiert werden. Die DUdektik dtr A/ifkldnin^ und vor allem
sein Aufsatz iiber die Tbeoiie der Halbbdditng werden herangezogen, um den
widerspriichlichen Biklungsprozess von TorleB zu analysieren. Es sollgenauer
erortert werden, was TorleB' Verwirrungen beendet hat. Dafiir sind sein
Gesprach mit dem Mathematiklehrer und seine Konfrontation mit seinen
164
Lehrern von groBer Bedeutung. Diese beiden StelJen soUen zeigen, dass sich
TorleB' \ erwirrungen auflosen, als er den Anspruch autgibt, seine intuitiv-
dichterische Welt mit der rationalen zu vereinbaren, und sich somit dem
biirgerlichen Realitatsprinzip unterordnet, welches fiir seine Gefiihlskalte
verantwordich ist. Adornos Stud/en ■:{um autoritcireii ChunikJer soWen detaillierter
darstellen, wieso Beineberg und Reiting einen Bildungsprozess von \ omherein
blockieren. Die Antwort soil in ihrer Lust auf Intrigen und Sadismus gesucht
werden, womit sie alles bekampfen, was freier und unkontrollierter als ihr
cigenes Leben ist.
Adorno beginnt seine Aufklarungskritik am Beginn der
Menschheitsgeschichte, als die Ich-Identitjit nur schwach ausgebildet ist und
der Mensch zum groBen Teil noch der Macht der Natur unterliegt. Ziel der
Aufklarung ist es, den Menschen aus dieser Herrschaft zu befreien und ihn als
Souveriin einzusetzen. Dies sichert zwar sein Uberleben, jedoch, so Adornos
Kritik, konzentriert sich der Mensch in diesem Prozess zu sehr aut seinen
\'erstand - das begriffliche Denken -, so dass er die Xatur, und somit auch
seine Sinnlichkeit, mehr und mehr aus seinem Leben ausklammert. Damit
wird dem zweckrationalen Denken alle Tiiren geoffnet. Der gleiche Prozess
wiederholt sich auch in der Bildung. Sie hatte die Moglichkeit, zweckfrei zu
sein, fiir personliche Bediirfnisse und der W'ertschatzung des
Inkommensurablen zu sensibilisieren, unterliegt jedoch in einer zweckrational
denkenden Gesellschaft „der .\llgegenwart des entfremdeten Geistes""" und
spaltet so ebenfalls Sinnlichkeit von sich ab. Dies fiihrt dazu, dass Bildung
selbst zweckrational wird und vom Biirgertum zur Emanzipation gegeniiber
dem Adel, zur Berufsaustuhrung, als massenverkaufliche Ware"' oder als
Statussymbol genutzt werden kann und stets den Beigeschmack hat, bloB
langweiliger Schulstoff zu sein. Diese Art von Bildung bzw. Halbbildung ist
der „Todfeind"-'* von Bildung, da sie nicht aufklart, sondern lediglich auf eine
enttremdete Rolle in einer entfremdeten Gesellschaft vorbereitet.
Einen erfolgreichen Bildungsprozess sieht Adorno in der Ausbildung
des mimetischen \'ermogens. Mimesis bedeutet, dass sich der Mensch wieder
so weit der Natur ahnlich macht, bis er ein gesundes MaB an Rationalitat
erreicht hat. Damit ist Mimesis mit Schillers Spieltrieb vergleichbar: Durch das
Nachahmen der auBeren Natur wird der Stofftrieb im Menschen wieder
lebendig, ohne das Selbst vollig aufzulosen. Der Formtrieb wird dadurch
eingeschrankt und das zweckrationale Denken schwacher. In diesem Zustand
akzeptiert der Mensch das L'nbekannte und entzieht sich nicht vollkommen
der Macht der Naair. Die Natur steht beim mimetisch empfindenden Menschen
stets im Mittelpunkt und cr kann sich ihr nicht durch \'erdinglichungentziehen.
Die Ich-Identitiit ist dadurch nicht verhiirtet, sondern gibt einen Teil ihrer
Souveranitiit ab und das Ich ist bereit, sich dem Fremden hinzugeben und
Kontrolle aufzugebcn, um wieder etwas vom Nichtidentischen,
165
Unidentifizierbaren und Ratselhatten der Welt wahrnehmen zu konnen. In
der Dialektik der Aiijkldrnng bezeichnet Adorno diesen Ausgleich als das
„Eingedenken der Natur im Subiekt"-\ Dadurch lieBe sich das schadlicbe
ObermaB an Rationalitat veriernen, was wiederum das instrumenteUe Denken
verringern wiirde. So wiirde Lebendigkeit im Umgang mit der Umwelt und
der von ihr geforderten BiJdung gewonnen; das Individuum konnte seine
eigentlichen Interessen verfolgen und Bildung konnte wieder verinnerlicht
und nicht bloB zum instrumentellen Gebrauch iibergestiilpt werden.
Die Bildung am Militiir-Konvikt ist Halbbildung. Am Ende der
Schulzeit soil nicht der kritische Denker stehen, sondern der staats- und
autoritatsglaubige Untertan. TorleB unterscheidet sich jedoch von diesem Milieu
und man konnte in ihm an vielen Stellen des Romans den Schi.iler erkennen,
den Adorno so sehr v^ermisst:
Weil kaum mehr ein Junge sich traumt, einmal ein groBer Dichter
oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich,
iibertreiben gesagt, unter den Erwachsenen keine groBen
okonomischen Theoreiiker, am Ende keine wahrhafte politische
Spontaneitat mehr.-^''
TorleB konnte unter anderen Umstiinden dieser kreadve Theoretiker werden.
Doch wahrend Adorno in der Beschiiftigung mit Literatur und Kunst eine
unreglementierte Schulung von Phantasie und Kreativitat sieht, die sich spater
auch auf andere Bereiche in der Gesellschaft ausdehnen kann, scheint man
diese Fahigkeit am Konvikt aber nicht begiinstigen zu woUen:
Diese Illusion, dieser Trick zugunsten der Entwicklung fehlte am
Institute. Denn dort waren in den Buchersammlungen zwar die
IsJassiker enthalten, aber diese galten als langweiiig, und sonst fanden
sich nur sentimentale Novellenbiinde und witzlose
Militarhumoresken."
Dies wirkt sich auch auf den Bildungsprozess von TorleB aus. Das Ende
seiner Verwirrungen und die dadurch gefundene Ich-Identitiit sind mit dem
Prozess der Ich-Findung und den Entsagungen im Zivilisaticjnsprozess
vergleichbar: Am Beginn der Handlung ist TorleB' Selbst noch nicht eindeutig
ausgebildet. Seine Verwirrungen resultieren aus den ratselhaften sinnlichen
Empfindungen, welche auch fiir seine Sprachkrise verantwortlich sind. Da er
seine Empfindungen und Erkenntnisse nicht adaquat ausdriicken kann —
„Die Worte sagen nichts, oder vielmehr sie sagen etwas anderes"'^ - ist sein
Selbst geschwacht und er kann sich die NX'elt nicht untertan machen. Dieses
mimetische Verhaltnis zur Welt wird aber im Laufe der Handlung immer
mehr zuriickgedrangt. Dieser Vorgang ist zuniichst notwendig, da T6rle(5 nur
so sich entwickeln kann und zu handeln lernt. Deshalb muss er das, was sich
von „auBerhalb vorbereitet und von feme herannaht" und „wie ein nebliges
Meer voll riesenhafter, wechselnder Gestalten" ist, „klar und klein" und in
166
„menschlichcn Dimensionen und menschlichen Linien" verstehbar machen.
Allerdings kann dieser Prozess auch iibertrieben werden, wenn „sich aUe Bilder
der Ereignisse zusammendriicken miissen, um in den Menschen
einzugehen"'^'\ Dieser Punkt wird erreicht, wenn - wie in der Aufklarung - zu
viel rationalisiert wird und im Anschluss daran die „Dialektik der Aufklarung",
d.h. das Umschlagen der Aufklaning in ihr Gegenteil, erfolgt. Im Gesprach
mit seinem Mathematiklehrer ist dieser Hohepunkt erreicht. An dieser StelJe
des Romans wird sichtbar, wie TorleB ontogenetisch noch einmal den gleichen
Prozess wie phylogenetisch ciie gesamte Menschheit durchmacht und seine
Freiheit zugunsten der Anforderungen der Umwelt so sehr einschrankt, dass
er sich grundlegend verandert. Fiir Adorno kommt dies einer gewalttatigen
Entsagung gleich: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun miissen, bis
das Selbst, der identische, zweckgerichtete, mannliche Charakter des Menschen
geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt."'*'^
Im Vorfeld dieses Gesprachs ist TorleB vom Phiinomen der
Unendlichkeit und der Unvorstellbarkeit der imaginaren Zahlen verwirrt.
Wahrend eines Spaziergangs im Schulpark erlebt er die Idee der Unendlichkeit
nicht aus der abstrakten Perspektive der Mathematik, sondern als lebendige
Erfahrung. Obwohl seiner hohen Sensibilitiit und seinem romantischen
Empfinden bereits Gefiihlskalte beigemischt ist, kann er hier die sinnliche
Sphiire noch auf andere W'irklichkeitsbereiche ausdehnen und kommt so
Adornos Postulat eines mimetischen Bewusstseins nach. Der Begriff
„Unendlichkeit" verliert fiir ihn seine abstrakte Harmlosigkeit und er erkennt
zum ersten Mai mit Schrecken wieder, „wie hoch eigentiich der Himmel sei"
und wie dieser dadurch seine ganze vernichtende Kraft „entfesselt"^' zu haben
scheint. Die Natur hat den verdinglichenden Begriff aufgesprengt:
So lag TorleB und war ganz eingesponnen von Erinnerungen, aus
denen wie fremde Bliiten seltsame Gedanken wuchsen. jene
AugenbUcke, die keiner vergisst, Situationen, wo der Zusammenhang
versagt, der sonst unser Leben so liackenlos in unserem Verstande
abspiegeln lasst, als liefen sie parallel und mit gleicher Geschwindigkeit
nebeneinander her [...].^'
Durch seine starke Sinnlichkeit und seine Fahigkeit zu staunen sieht er iiberall
eine unsichtbare zweite Realitat und fragt sich: „Die Welt ist fiir mich voll
lautloser Stimmcn: ich bin daher ein Seher oder ein IlaUuzinierter?"^'* Er kann
diese zweite Realitat aber nur als ein „Etwas!"'''' wahrnehmen, von dem er
„nur die Vision seiner Visionen""*^ sieht, da sie sich der Abstraktion oder dem
ReaUtiitsprinzip entzieht.
Auch bei seiner Verwunderung iiber die imaginaren Zahlen scheint
er der Abstraktion mit seiner sinnlichen Erfahrung zu begegnen, indem er
versucht, die Eigenschaft dieser negativen und nur in der Vorstellung
existierenden und dennoch zu positiven Resultaten kommenden Zahlen auf
167
das Leben und Wahrnehmen zu ubertragen:
In solch einer Rechnung sind am Anfang ganz solide Zahlen [...].
Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hiingen
miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt. 1st das
nicht wie eine Briicke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler
vorhanden sind und die man dennoch so sicher liberschreitet, als ob
sie ganz dastiinde? [...] Das eigentlich Unheimliche ist mir aber die
Kraft, die in solch einer Rechnung steckt und einen so festhalt, daB
man doch wieder richtig landet.^''
Fasziniert von dieser unheimlich-transzendent anmutenden Wirkung, bittet
TorleB seinen Mathematiklehrer um ein Gespriich. Dieser scheint ihn jedoch
uberhaupt nicht zu verstehen und unterbricht ihn schon nach kurzer Zeit:
„Sehen Sie, Sie sprachen von dem Eingreifen transzendenter, hm ja ...
transzendent nennt man das, — Faktoren ... " Er spricht Torlel5 die Hinzunahme
der Sinnlichkeit zur Mathematik ab und verweist ihn darauf, „daB solche
mathematische Begriffe eben rein mathematische Denknotwendigkeiten
sind".^" TorleB' Probleme sind fiir ihn lediglich Scheinprobleme. Ahnliche
Denknotwendigkeiten gibt es fiir ihn auch in der Kantschen Philosophic, die
auch hier wiederum „eben alles bestimmen, ohne daB sie selbst so ohne
weiteres einzusehen wiiren".^** TorleB' Bikiungsl^emiihungen begegnen hier
der Halbbildung, die er verinnerlichen soil. Der entfremdete Lehrer gibt
entfremdete Bildung weiter. Er negiert die Transzendenz in der Mathematik
und sagt im gleichen Atemzug, dass er von ihr nichts versteht: „Ich bin
eigentlich nicht recht befugt, da einzugreifen, es gehort nicht zu meinem
Gegenstande."^' Er beruft sich auf Kant, obwohl es unklar ist, ob er ihn
iiberhaupt gelesen hat.*' Somit gabe es gute Griinde fiir TorleB, skeptisch zu
bleiben, da die angeblichen Denknotwendigkeiten uberhaupt nicht begriindet
werden und ihre UnumstoBlichkeit dadurch ahnlich riitselhaft bleibt wie das
Geheimnis derimaginaren Zahlen.
Auch sind TorleB' intuitive Annaherung an die Mathematik und die
Ubertragung seiner Probleme und Ratsel auf dieses Gebiet keinesfalJs so
abwegig, wie es von einem Bewusstsein, das iiberall nach Denknotwendigkeiten
sucht, das Unendlichc auf Endliches und das imaginiire auf Sichtbares reduziert,
dargestellt wird. In Mythologie und Religion haben Zahlensvmbole
selbstverstiindlich sinnbildliche Bedeutung und lassen die Geheimnisse der
Welt und des Lebens erkennen.'" Auch ist die gesamte Kunstgeschichte von
mathematischen GesetzmaBigkeiten beeinflusst, wobei sie einerseits die
sinnliche Erfahrung ordnet und andererseits mit ihrer Theorie die Kunst
inspiriert.'*'^ Im Surrealismus kommt es sogar zur Verschmelzung zwischen
Mathematik und Kunst, wie sie auch TorleB erlebt: Mathematische und
kiinstlerische W'ahrheiten haben hier gleichermaBen ihren Ursprung im
Intuitiven und Unbewussten, gehen zwar in der Analyse der Realitat
168
unterschiedliche Wege, treffen sich aber wieder am hochsten Punkt ihrer
Abstraktion bzw. Einbildungskraft, da sie beide an der Cberxvindung der
empirischen Realitat - dem Surrealen — interessiert sind/"*
Deshalb ist TorleB' EinsteUung zur Mathematik weniger vervvirrt,
vielmehr kommt er hier der von Adorno geforderten Mimesis bzw. dem
Zulassen des Stofftriebs nach. Die Natur bricht hier in seine abstrakten
Gedanken ein. Er Eihlt das I'nheimliche der imaginjiren Zahlen und sein
Abstraktionsvermogen wird geschwacht. Seine gesamte SinnJichkeit wehrt sich,
in der Mathematik etwas zu sehen, was keine sinnliche Entsprechung hat.
Intuitiv strebt er nach einer Mathematik, die seinem Ixben Sinn und ErkJjirung
liefert. Das Gleiche gilt auch fiir TorlelV Problem mit der Unendlichkeit. Fiir
den Mathematiklehrer ist sie nur in der Mathematik von Relevanz; fiir TorleB
entspricht sie auch einer konkreten Erfahrung, wenn er in den Himmel schaut.
Auch hier zeigt sich, dass die Natur noch Macht auf TorleB ausiiben kann und
er offen fiir mvstische Erlebnisse ist.**^
TorleB handelt hier ganz im Sinne der humanistischen
Bildungstheorie und muss gleichzeitig an ihr leiden. Fiir Humboldt ist Bildung
nur in der Entfremdung'*^ von der gewohnten Umwelt moglich. Das Subjekt
braucht eine Welt auBerhalb seines Selbst, welche vorgestellt und bearbeitet
wcrden kann. Es muss sie ohne Vorurteile, Schablonen oder Angst an sich
heranlassen, um in lebendiger, unreglementierter Auseinandersetzung mit ilir
seine eigene Personlichkcit zu entwickeln. Diese Art der Erfahaing ist nur in
der Entfremdung moglich. Nur in diesem Zustand kann der Mensch
Unbekanntes erfahren, welches nicht dutch eine Methode kontroUiert ist und
die Kraft hat, sein Selbstverstiindnis zu veriindern. KontroUiert wird die neue
Erfahrung erst, wenn sie dem Subjekt wieder verstiindlich und in seine
vorherigen Erfahrungen eingeordnet wird. Dies geschieht in der „Riickkehr
aus der Entfremdung"""', welche Bildung konstituiert. Der Geist driickt dann
dem Neuen seinen Stempel auf, die Mannigfaltigkeit der Gegenstande wird
geordnet und begrifflich zuganglich gemacht. Dies ist fiir die Bildung des
Menschen unerlasslich; er muss immer darauf achten, „dass er in dieser
Entfremdung nicht sich verliere, sondern vielmehr von allem, was er auBer
sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltatige Warme in sein
Inneres zuriickstrahle"^ und „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes,
den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fiihig zu machen".''*
Somit muss Bildung das ehemals Entfremdete in Begriffen aufbewahren; die
Riickkehr aus der Entfremdung ist die Bildung von Begriffen, welche die
Summe aller Erfahamgen darstellen. Diese Form der zweckfreien Bildung hat
Kir Humbfjldt zum Ziel, dass der Heranwachsende durch die Erfahrung seiner
eigenen Individualitat und musischen Anlagen immer einen Gegenpol zu
seiner Rolle in der den personlichen Interessen zuwiderlaufenden
zweckrationalen Gesellschaft besitzt und sich sozusagen in seine Enklave
169
zuriickziehen kann, damit er sich wieder selbst erlebt und ihr nicht voUig
ausgeliefert ist. Bildung sichert somit das (Jberleben des autonomen
Individuums in einer ihm entgegenstehenden Gesellschatt.
Fiir Adorno ist es jedoch gerade der Zwang, dass die lebendige
Bildungserfahrung am Schluss in Begriffe aufgehen muss, der die
Humboldtsche Bildungskonzeption problematisch macht. Die Absolutheit
des Begrifts begriindet schlieBlich das instrumentelJe Denken. Somit enthiilt
die biargerliche Bildungstheorie selbst ein UbermaB an Rationalitat und
Entfremdung und gibt sich deshalb mit dem Erleben von Freiheit in einem
Schonraum zufrieden. Damit steht die humanisdsche Bildungsidee nicht fiir
Aufklarung, sondern fiir das Scheitern der Autlvliirung - die Emanzipation
des Biirgertums kommt iiber eine zweckfreie Enklave nicht hinaus und da die
Enklave die Moglichkeit zu einem gliicklichen Leben ohne die Veranderung
der gesellschaftliche Zustande suggeriert, zementiert sie die ungerechte
Gesellschaft.
An diesen W'iderspriichen leidet auch TorleB: Seine gewohnte
Umwelt wird ihm fremd und es kommt zu neuen Sicht- und Lebensweisen.
Als er diese jedoch versucht in sein Leben zu integrieren — man konnte in
Anspielung auf Humboldt von einer „Riickkehr aus den Verwirrungen"
sprechen - macht er die Erfahrung, dass dies nicht moglich ist und er seine
Bildung nur halb in der asthedzistischen Enklave leben darf. Die Auslebung
seines Spicltriebs wird auf ein Zwischenspiel reduziert, weil im Leben alles
dem Realitatsprinzip untergeordnet werden muss. Dieser Prozess vollzieht
sich langsam und widerspruchlich nach dem Gespriich mit dem
Mathemadldehrer: Gleich nach der Lnterhaltung akzepdert er Kant „als letztes
Wort der Philosophic", das jedes weitere philosophische Ratseln zwecklos
mache, wenn man ihn erst einmal richtig verstanden hat. Auch vernichtet er
seine selbst verfassten Gedichte, da er jetzt nur noch das gelten lassen mochte,
was ihm eindeuuge Klarheit verschafft. Er scheitert zwar an der Schwierigkeit
der Kantschen Philosophic und nachts im Traum meldet sich seine Sinnlichkeit
wieder, als sich Kant und sein Mathematiklehrer liicherlich und unbeholfen in
ihrer viel zu engen Verstandeswelt bewegen. Als er in der Nacht kurz aus
seincm Traum erwacht, nimmt er wieder deutlich seine Sinnlichkeit wahr und
fiihlt sich dadurch dem reinen X'erstandesmenschen iiberlegen: „Er kam sich
unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen vor, und zum ersten Mai
fiihlte er, daB er in seiner Sinnlichkeit [...| etwas hatte, daB [...] ihn wie eine
hochste, versteckteste Mauer gegen aUe fremde Klugheit schiitze.""'' Dennoch
mochte er am nachsten Morgen seine Gedanken klar und deutlich
philosophisch ordnen, um die Ausloser seiner \'erwirrungen ein tiir alle Mai
verstehen und bewiiltigen zu konnen. [edoch scheitert dieser zwanghafte
Versuch genauso wie seine Kant-Lektiire. 1 loffnungslos beginnt er nun, sich
vom Internatsleben zuriickzuziehen. Er ftihlt sich darautliin „ermudet" in
170
den „\\Tnkligen Gemachern der Siiinlichkeit"'^' und mochte seine ganzen Fragen
an sich und die Welt nicht mehr ordnen, sondern vergessen. In ihm ist eine
„Sehnsucht nach friedlicher \x-rtiefung""' und Sicherheit, der er allcs lebendige
Chaos opfern mochte:
Nur so darf es kommen! Nur so! fiihlte TorieB, und iiber alle Angst
und alle Bedenken sprang die Uberzeugung hinweg, dass er alles
daransetzen miisse, diesen Seelenzustand zu erreichen.'"
I'nd wahrend sich die Ereignisse um Basini iibersti^irzen, berichtet der ErzaWer
plotzlich von einem gliicklichen TorieB, der, distanziert \ on allem, ein neues
Leben often vor sich sieht. Seine Entwicklung ist nun abgesclilossen, er mochte
weniger Sinnlichkeit ausleben und „dieses noch wortlose, iiberxvaltigende
Gefiihl entschuldigt alles, was geschehen war"."^
Dieses Ende seiner \'en\irrungen hat etwas Riitselliaftes. Der Erzahler
berichtet davon, ohne diesen Prozess zu erklaren. Fast so, als konnten die
unsichtbaren Ausloser der Verwirrungen auch wieder unsichtbar verschwinden,
da man sie eh nicht ernst nehmen muss. Eigentlich werden TorieB' Erlebnisse
erst zu diesem Zeitpunkt eindeutig zu \ erwirrungen. Davor konnten sie auch
viel positiver als „Erfahrungen" bezeichnet werden, denen TorieB neugierig
begegnet und versucht, in sein Leben zu integrieren. Erst als er sie aus
iiberzeugter Formtriebperspektive als lastige \ erwirrungen wahrnimmt,
beendet er sie durch eine — auf hohem sinnlichem Niveau stattfindende —
Versohnung mit der\'ernunft. Das Heft mit seinen personlichen Erlebnissen
erscheint ihm dann nur noch als Erinnerung an \'ergangenes:
[...] er las nicht darin. Er strich mit der Hand iiber die Seiten und ihm
war, daB ein feiner Duft aus ihnen aufsteige [...]. Es war die mit
W'ehmut gemischte Ziirtlichkeit, die wir einer abgeschlossenen
Vergangenheit entgegenbringen [...].^
Die mit \\ ehmut gemischte Zartlichkeit richtet sich auf das friihere UbermaB
an Sinnlichkeit, Unendlichkeit und Unvorstellbarkeit. Auch wenn TorieB sich
von seinem Mathematiklehrer missverstanden fiihlt, erkennt er hier die
begrenzten Denknotwendigkeiten an, da sie sein Leben erleichtern. Dies wird
besonders in seiner Rechtfertigungsrede vor seinen Lehrern deutlich, als er
nicht mehr seine geballte Sinnlichkeit, sondern nur noch die Distinguiertheit
seiner Denknotwendigkeiten verteidigt.
\'erlangte er vom Mathematiklehrer noch, dass er seine Spekulationen
ernst nimmt, so ist seine Sorge vor dem Gesprach mit den Lehrern vielmehr,
wie er sie als ein notwendiges Ubel seines Reifungsprozesses verstandlich
machen kann: „\X'ie sollte er ihnen das auseinandersetzen? Diesen dunklen,
geheimnisvollen Weg, den er gegangen?"""' Deshalb flieht er zunachst aus dem
Konvikt, doch als er aufgegriffen wird und schlieBlich vor den Lehren steht,
schildert er ihnen in einer ^hschung aus Mut und Cbermut seinen Konflikt
zwischen Radonalitat und Irrationalitat, denn: „Es reizte ihn formlich, von
171
sich zu sprechen unci seine Gedanken an diesen Kopten zu versuchen."^''
Doch die Lehrer verstehen seine unstrukturierte Rede iiber „Ungeheueres,
„gar nicht \'orstellbares" und „erwas Wunderliches""" nicht. IJnd umso mehr
sie ihn nicht verstehen, umso mehr hat TorleB Vergnugen daran. Er tiihlt sich
ihnen iiberlegen, da er sein Inneres fur reicher und erfahrener halt. Sie kommen
ihm wie lacherliche Figuren vor, die iiberhaupt nichts vom menschlichen
Seelenleben verstehen. Er fiihlt sich vor ihnen als „ganzer Mensch"'- und am
Ende seiner Verwirrungen steht eine Verteidigungsrede: „Ich kann es nicht
anders sagen, als das ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe".^'^ Jedoch verteidigt
er nicht den alten TorleB, sondern den neuen, der die Konsequenzen der
biirgerlichen GeseUschaft ubernommen hat. Er wiederholt die Antwort seines
Mathematiklehrers, die ihn damals noch nicht iiberzeugte. Jetzt, wo er das
Realitatsprinzip geschluckt hat, haben die Dinge fiir ihn immer noch zwei
Seiten — eine alltagUche und eine verborgene — , aber er versucht sie nicht mehr
gleichzeitig wahrzunehmen, sondern trennt sie voneinander. Dies wird vor
aUem deudich, als er iiber die imaginiiren Zahlen spricht:
Vielleicht habe ich mich mit den irrationalen Zahlen geirrt; wenn ich
sie gewissermaBen der Mathematik entlang denke, sind sie mir
natiirlich, wenn ich sie geradeaus in ihrer Sonderbarkeit ansehe,
kommen sie mir unmoglich vor."'
Am Schluss schildert er, wie er sich in Zukunft verhalten wird:
Ich weiB: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer
bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen.
Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen .... Und
werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen ....'''
Somit hat er die Kunstenklave der biirgerlichen GeseUschaft verinnerlicht und
seine Ich-Identitiit wird dadurch verhiirteter. Er unterscheidet sich jetzt nicht
mehr durch Mimesis bzw. das Zulassen des Stofftriebs von seinen Lehrern,
sondern im Glauben, intelligenter zu sein und es mit der Kunst in der Enklave
ernster zu meinen als sie. Fiir die Zeit seiner Verwirrungen, in der das Sinnliche
iiberall leben, beleben und wiederbeleben sollte, schiimt er sich nun:
Er wusste nun zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden; — er hatte
es eigentlich immer gewusst, und nur ein schwerer Traum war
verwischend iiber diese Grenzen hingeflutet, und er schamte sich
dieser Venvirrung [...].'''
Die unsichtbare und geheimnisvolle W'irkung der Sinnlichkeit ist fiir ihn im
Alltag verblasst und er kann sie nun in seiner „kuhlefn] Gelassenheit'"'^ nur
noch „einseitig schongeisdg zugescharft"''"' zur Geltung kommen lassen.
Beineberg und Reiting sind im Gegensatz zu TorleB vollig in
Halbbildung verstrickt. Wahrend TorleB zeigt, dass iisthetische Erziehung
nicht unbedingt \eredelt, aber dennoch bildet, stehen sie fiir das Scheitern von
Bildung iiberhaupt und weisen auf ein weiteres Hauptproblem des
172
BiJdungshumanismus hin: Bildung kann nicht nur im Laufe ihres Prozesses
ihr Ziel verfelilen, sondern dieser Prozess kann auch von Anfang an venveigert
werden. Beineberg und Rciting stchen fiir diese \'er\veigerung, weil sie, in
Schillers Terminologie, sich nicht darum bemiihen, den Formtrieb durch
Stothrieb zu maBigen, und die Dominanz des Fonntriebs auch nicht als
problematisch ansehen. Sie fiihlen sich woW in ihrer dominanten RoUe, bringen
den groBten Teil ihrer Energie fiir Intrigen und sadistisclie Spiele auf, wissen
sich in einer gesellschaftlich guten Position, verdriingen ihre sinnlichen
Bediirfnisse und zweifeln nicht an dem, was sie tun.
Im Antisemitismus-Kapitel der Dialektik der Aiifklmnng'M\7\\%\^r\.
Adorno diese autoritiire Charakterstruktur und beschreibt damit sehr
anschaulich die mogliche Brutalitat des forrntriebgesteuerten Menschen. Der
Antisemit hasst die Juden, weil sie in der zweckrationalen Ciesellschaftsordnung
zweckfreier leben konnen als er. Diese X'erachtung ist Ausdruck seines eigenen
Selbsthasses. Da er standig seine sinnlichen Bediirfnisse unterdriickt, fiihlt er
sich beim Anblick schutzloser Mincmtaten, die sich nicht so stark an die
vorherrschende Gesellschaftsordnung angepasst haben und oft sogar noch
erfolgreicher sind als er selbst, provoziert. Er erinnert sich dabei an seine
Entsagungen im ZiviJisationsprozess und realisiert schmerzhaft, dass er sich
nie wirkliche Entspannung und Erfiillunggonnt. Er kann das herrschaftsfreie
Gliick der I uden nicht ertragen, welches zu Beginn der Aufklarung fiir jeden in
Aussicht gestellt wurde, jedoch lediglich fiir Einzelne in Erfiillung ging: „Der
Gedanke an Gliick ohne Macht ist unertraglich, weil es iiberhaupt erst Gliick
ware."*'"' Sein Gliick, das Zulassen des Stofftriebs, erlebt er nun im Hass. Es ist
die einzige Moglichkeit, das Unterdriickte zu leben, ohne sich selbst und die
Gesellschaft, sprich das Realitiitsprinzip, in Frage zu stellen. Er kann das
Realitatsprinzip niemals direkt umgehen, weil er zu viel Autoritat verinnerlicht
hat; in der freien Auslebung der Lust wiirde der Schutz der Autoritat wegfallen
und Angst verursachen. So tendiert er einerseits stets zu Einfachheit,
Kritiklosigkeit, Stereotypie, einem „zwanghaften Uberrealismus'"^'^ und
Halbbildung und lebt seine Trieljbediirfnisse andererseits an der \X ut dariiber
aus, dass andere sich von diesen iiberschaubaren Mustern nicht einengen lassen.
Dies findet, in unterschiedlichen Abstufungen, auch bei Beineberg
und Reiting statt. Sie haben sich der strengen Internatsordnung untergeordnet
und iibernehmen die dort propagierten soldatischen Tugenden wie
Autoritatsglaubigkeit, Pflichterfiillung und Gehorsam. Gegen die NiveUierung
von individuellem Empfmden und kritischem Denken wehren sie sich nicht.
Auch nicht gegen die Tabuisierung der Sexualitiit. Reiting mochte sogar noch
barter werden und ist bekannt dafiir, „daB er fast taglich an irgendeinem
endegenen Orte, sei es gegen eine \X and, sei es gegen einen Baum oder einen
Tisch, boxte, um seine Arme zu stiirken und seine Hiinde durch Schwielen
abzuharten". Selbst in seinen geheimen Tagebiichern verarbeitet er keine
173
personlichen Erlebnisse, Gedanken oder Triiume, sondern schreibt dort seine
geplanten Intrigen nieder, um fiir seine spatere Rolle in der Gesellschaft zu
iiben. Seine einzige \'ision sind „Staatsstreiche"''~. Beinebergs philosophische
Spekulationen vedetzen ebentalls nicht die Internatsordnung und man Iconnt
sich gut vorstelJen, dass er seine Theorien zur Uberwindung der Naturgesetze
spater auch seinen Soldaten eintrichtern woirde, um sic im Kampf anzuspomen.
Mochte TodeB sich mit ihm iiber seine \'er\virrungen austauschen, wird er
immer wieder von ihm angefahren, dass seine Spekulationen zu nichts tuhren
woirden.^^ Diese Triebunterdriickung fiihrt jedoch zu Ersatzhandlungen und
an Basini toben sich Beineberg und Reiting deshalb aus. Er ist ihr Siindenbock
fiir ihre unterdriickte Sinnlichkeit. Er ist der schutzlose AuBenseiter, der weniger
dem Realitatssinn gehorcht und deshalb alle W'ut auf sich zieht: TorleB
beschreibt ihn als dumm und ohne Moral, stellt aber auch test, dass er iiber
eine „Art koketter Liebenswijrdigkeit verfiigt". Die Alisshandlungen scheinen
ihm weniger auszumachen, da er masochistische Neigungen hat. Schwach ist
er auch in TorleB' Beschreibung als dieser „\veiche, trage Bewegungen und
weibische Gesichtsziige"**" an ihm feststellt. Beineberg und Reiting stehen
exemplarisch fur das Scheitern von Schillers Bildungstheorie. Sie haben kein
Interesse, Form- und Stofftrieb miteinander zu versohnen, well sie auf der
Beuaisstseinsebene kein Bediirfnis danach haben. Holen sie dieses Bediirfnis
dann unbewTisst nach, sensibilisiert ihr Spieltrieb sie nicht fiir das Gute, sondern
ist selbst zutiefst unmoralisch; ihr Spiel ist in Wirklichkeit ein perfides
Gegenspiel. W'ie ihr autoritarer Charakter dennoch fiir die schonen Kiinste
und das zweckfreie Denken sensibilisiert vverden konnte, soil im nachsten
Abschnitt skizziert werden.
IV. Kritik an Schillers Bildungstheorie
Trotz des enormen Einflusses, welche die asthetischen Briefe auf das
Bildungswesen hatten, lieBe sich auch heute immer noch die gleiche Frage
stellen, wie Schiller sie im 8. Brief formuliert, als er die W'irkungslosigkeit der
Aufklarung auf die moralische Entwicklung des Menschen betrachtet: „\Xbran
liegt es, daB wir immer noch Barbaren sind?" Man konnte es auch anders
formulieren und fragen, woran es Uegt, dass die schonen Kiinste noch immer
nicht die harmonisierende W'irkung haben, die Schiller ihnen zuschreibt.
Hundert }ahre nach dem Erscheinen seiner Briefe - so lange soUte es dauern,
bis Stoff- und Formtrieb in ein ausgcglichenes Zusammenspiel geraten - taUt
die Kulturkritik nicht anders aus: Musil schrieb seinen Torlefs, aus Schillers
Barbar woirde der allgegenwartig beklagte Bildungsphilister, das Phanomen
der Entfremdung in der modernen Gesellschaft wurde von Max W eber und
Georg Simmel eingehend theoretisiert und Schillers These, dass es die Kultur
selbst ist, welche auch die Kultudeistungen wieder zerstoren kann, wurde
zum Allgemeingut und fand eine pointierte Beschreibung in Horkheimers
174
und Adornos Diakktik der Aufkliirmig. Alphabetisierung und \'olksbildung
haben zwar zur \'erbreitung der Kunst gcfiihrt, jedoch lie(5en sie gleichzeitig
auch eine banale Massenkultur entstehen, deren Ziel nicht Aufklarung, sondern
ein kommerzieller Gewinn ist, und die Gvmnasien fingen angesichts der
Anforderungen der Industrialisierung an, von Bildung zu Ausbildung
iiberzLigehen, indem sie mehr technische Facher statt alte Sprachen zu
unterrichten begannen. Und heute, envas mehr als 200 Jahre nach Schillers
Brieten, stehen wir immer noch vor den gleichen Problemen.
Das Hauptpnjblem stcllt die Tatsache dar, dass die Kunst das
einseitige Fortschreiten der Rationalitat nicht stoppen konnte. Der Stofftrieb
konnte den Formtrieb nicht mehr einholen, die sanfte Kraft des Schonen
blieb wirkungslos gegeni^iber der Produktixitat des instrumentellen Denkens.
Schiller stellt der Yernunft das Reich der Kiinste gegenijber und glaubt, dass
diese die Moglichkeit haben, die \'ernunh zu domestizieren, wenn nur das
Potential der Kunst so gut wie moglich begriindet wird. Deshalb unternimmt
er den \ ersuch, ihr W'esen transzendental zu begriinden, als er eingesteht, dass
ihre positive W'irkung empirisch nicht zu belegen ist. Die gleiche Absicherung
sucht er auch, als er die W'irkung des asthetischen Zustands nicht nur
anthropologisch begriindet, sondern ihn auch im historischen Prozess der
Menschheitsgeschichte nachweist. " Er bestimmt also auf eine eindrucksvolle
Art und Weise das Wesen der Kunst, begriindet ihr Potential unschlagbar und
hofft, dass diese Stichhaltigkeit beim „Fremdling in der Sinnenwelt" zu einer
„totalen Revolution in seiner ganzen Emptlndungsweise" ' fiihrt. Jedoch
entwickelt dieser Fremdling keine „Freude am Schein, die Neigung zum Putz
und zum Spiele" '^, sondern liisst, wie Beineberg und Reiting, autoritar alles
Sinnliche an sich abprallen.
Eine Gesellschaft, in der nichts erfolgreicher ist als Erfolg bzw. nichts
zweckdienUcher ist als der Zweck, hat in der Regel keinen Platz flir das zweckfreie
Spiel der Kunst. Dem Fremdling der Kunstwelt bleiben die schonen Kiinste
fremd, auch wenn ihre W'irkung transzendental nachgewiesen ist. Eine
Gesellschaft, die sich dem sichtbaren Nutzen verschrieben hat, kann das Reich
des Unsichtbaren nicht plotzlich als hochst befriedigend erfaliren. Scliiller bringt
die zweckrationale Gesellschaft zu schnell mit der ihr entgegengesetzten Sphare
in Kontakt und verhindert so ihre W'irkung. Er miisste die Kunst schiitzen,
be\-or er sie in ein ilir feindliches Gebiet scliickt. Da Stoff- und Fomitrieb nicht
einfach zum Spieltrieb harmonisieren, miisste gefragt werden, wer diesen
\ larmonisierungsprozess durchsetzcn konnte, den die iibermachtige \^ernunft
verhindert. Da die X'ernunft dominiert und die Kunst ihr gegeniiber machtlos
ist, kann es nur die \'ernunft sein. Die schonen Kiinste diirfen deshalb nicht
nach ihrer Eigengesetzlichkeit in die Gesellschaft eingefiihrt werden. Sie miissen
zunachst nach den allgegenwartigen zweckrationalen Gesetzen vermittelt
werden, um ernst genommen zu werden. Es kann daher zunachst nur die
175
Vernunft sein, die fiir Kunst sensibilisiert und den Stofftrieb in Gang setzt.
Sie muss die Wirkung und Notwendigkeit der Kunst in der Sprache des
vorherrschenden instrumentellen Denkens beschreiben, d.h. immer nur so
viel Stofftrieb zulassen, wie vom Formtrieb als zweckhaft verstanden werden
kann. Orientieren konnte man sich dabei an Adomos Konzeption von Mimesis.
Wird sie bei ihm gebraucht, urn das Denken mit der Natur auszugleichen, so
ware hier ihre Aufgabe, ELnfiililung in den falschen gesellschaftlichen Zustand
zu erreichen, von dem die Menschen ebenso beherrscht werden wie ehemals
von der Natur. Sie wiirde fiir die Denkweise des instrumentellen Bewusstseins
„sensibilisieren", seine Voraussetzungen, GesetzmaBigkeiten und Grenzen
erkennen konnen und hatte die Moglichkeit, einen Bereich zu finden, in dem
sich Zweckfreilieit und Zweckrationalitiit treffen. Der Stofftrieb konnte dann
einfiihlsam, d.h. durch einen Vorrang der zunjichst einmal uniiberwindlichen
ZweckrationalitJit, eingefiihrt werden. Das sich zwischen Stoff- und Formtrieb
befindende Zwischenreich des „schonen Scheins" wiirde so nicht idealistisch
verkliirt wahrgenommen werden, sondern als ein Bereich, welcher so wenig
Aufmerksamkeit findet wie der Zwischenraum, den man betreten muss, um
von einem Raum in einen anderen zu gelangen. Kommt zu viel Stofftrieb auf
einmal, so wird er nicht zum Ausgleichen des Formtriebs benutzt, sondern
bekampft. Beineberg und Reiting bekampfen ihn, indem sie Basini qualen,
und der Antisemit, indem er die juden hasst. Dieser Vorgang lieBe sich, im
Sinne Adomos, als eine falsche Mimesis bczeichnen. Im Gegensatz zur echtcn
Mimesis, wo sich der Mensch bis zu einem gewisse Grad der Natur wieder
ahnlich macht, um das zweckrationale Denken zu reduzieren, macht er sich in
der falschen Mimesis zwar auch der Natur ahnlich, aber sozusagen der schlechten
Natur, die das Bose in ihm hervorruft. Die \ leilsamkeit des Stofftriebs kann
hier, ahnlich wie die Aufkliirung, in ihr Gegenteil umschlagen.
Auch TorleB konnte dadurch erreicht werden. /Vllerdings miisste er
nicht fiir die Erfahrung des Stofftriebs sensibilisiert werden, sondern die bereits
zugelassene Kunsterfahrung miisste vitalisiert werden. Diese Vitalisierung
konnte durch Reflexion auf den unternommencn Bildungsprozess stattfinden.
Auch Adorno halt nach dem Scheitern der Bildung an Bildung fest, da sich der
Mensch nur durch sie bilden kann. Seine Hoffnung ist, dass der Mensch die
Fahigkeit entwickelt, kritisch auf seinen Bildungsprozess zuriickzuschauen,
und dadurch das Bewusstsein seiner eigenen Naturhaftigkeit und der dieser
Tatsache entgegenstehenden Halbbildung erhalt: „Die Kraft dazu aber wiichst
dem Geist nirgendwoher zu als aus dem, was einmal Bildung war". Deshalb
hat der Mensch die schwierige Aufgabe, „an Bildung festzuhalten, nachdem
die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat keine andere Moglichkeit des
Uberlebens als die kntische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie
notwendig wurde". ' Da dieser Prozess nicht ohne weiteres beginnt und
automatisch selbstkritisch vediiuft, ware eine Analyse des Zweckfreien ein
176
geeigneter Ausgangspunkt. Sie mirde die Kunst in einem neuen Kontext
darstellen und den schwer zu erfassenden Bereich des Schonen marginal
rationalisieren, um dcm Verstand einen Ausgangspunkt fiir seine Reflexion
zu liefern.
Die Hoffnung konnte aussehen, wie es Adorno in der Negatiren
Dialekfik formuliert: „Die Utopie der Erkenntnis ware, das Begrifflose mit
Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen." ■* Man miisste versuchen,
mit dem instrumentellen Denken iiber das instrumentelle Denken
hinauszugehen, ohne es ihm gleichzutun. Dies lieBe sich auf die
widerspriichliche Formel bringen, dass asthetisclie Bildung den Wert des
Zweckfreien am besten vermitteln kann, indem sie den Zweck ihrer
Zweckfreiheit erklart. So konnte der erst im Nachhinein zu benenne Zweck
eines offenen Prozesses deutlich werden. TorleB' Unverstandnis iiber die
Wirkung der imaginiiren Zalilen lieBe sich auch auf den unsichtbar-riitselhaften
Prozess der Erfahrung des Zweckfreien iibertragen: „Ist das nicht wie eine
BriJcke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man
dennoch so sicher iiberschreitet, als ob sie ganz dastiinde? Fiir mich hat so eine
Rechnung etwas Schwindliges; als ob es ein Stiick des Wages weiB Gott wohin
ginge."^' Der Zweck der Zweckfreiheit wiirde den unsichtbaren W'eg iiber
diese Briicke beschreiben und erldiiren, wieso das leere Heft iiber ihre Wirkung
in Wirklichkeit mit unsichtbarer Tinte beschrieben ist.
Endnotes
' Friedrich Schiller: Uber die asthetische Erziehung des Menschen (in einer Reihe von
Briefen), Stuttgart 2000, 5. Brief.
2 Ebd.
' Ebd., 10. Brief.
' Ebd., 13. Brief
^ Ebd.
'■ Ebd., 15. Brief
' Ebd.
8 Ebd., 20. Brief
' Ebd., 21. Brief
'» Ebd.
" Ebd., 22. Brief
'2 Ebd., 23. Brief
'^ Robert Musil: Die Verwirrungen des Zoglings TorleB, Hamburg 2005, S. 13.
•^ Ebd.
■' Ebd., S. 198.
"^Ebd., S. 194.
" Ebd., S. 92.
'« Ebd.
" Ebd., S. 158.
20Ebd., S. 159.
177
2' Ebd., S. 160.
^ Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hrsg.
von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1972, S. 93.
" Das Aufkommen der Massenkultur ist in Musils Erstlingsroman sicherlich noch kein
Thema. Jedoch kann man in der Art, wie Beineberg sich mit dem Buddhismus beschafugt,
Ahnlichkeiten zur kommerziellen \'erflachung in religiosen/esoterischen Bestsellern
erkennen.
^^ Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 111.
^^ Theodor W. Adorno: Dialekdk der .\ufklarung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/
M. 1998,5.47.
^ Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 106.
" TorieB, S. 15.
2« Ebd., S. 88.
^Ebd.,S. 151.
^ Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild, in: Gesammelte W'erke, Bd. 10.1, hrsg. von Rolf
Tiedemann, Frankfurt/M. 1976, S. 318.
" TorleB, S. 87 f
" Ebd., S. 90.
"Ebd., S. 126.
^ Ebd.
" Ebd., S. 128.
"• Ebd., S. 104.
^'Ebd., S. 108.
5«Ebd., S. 109.
'' Ebd., S. 108.
■^ Die Ausgabe seines Kant-Buchs ist ein teurer „Renomierband" (TorleB, S. 109), der in
der Regel nicht zum Lesen gekauft uoirde, sondern um als Bildungs- und Statussymbol
an einer gut sichtbaren Stelle im Haus aufgestellt zu werden. Wittman beschreibt sie als
„Buch- und Grabdenkmaler". (Reinhard W'ittmann: Geschichte des deutschen
Buchhandels. Ein Oberblick, Miinchen 1991, S. 249.) Dass es TorleB mit seiner Kant-
Lektiire ernsthaft ist, verdeutlicht in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass er sich
eine, lediglich fiir Gebrauchszwecke bestimmte, billige „Reclamausgabe" kauft (Ebd., S.
113)).
"" Vgl. Franz Carl Endres und Annemarie Schimmel: Das Geheimnis der Zahl.
Zahlensymbolik im Vergleich, Koln 1985.
■•^ Vgl. Karl Menninger: Mathemadk und Kunst, Gottingen 1959.
■" Vgl. Gabriele Werner: Mathematik im Surrcalismus. Man Ray, Max F>nst, Dorothea
Tanning, Marburg 2002.
** In der mittelalterlichen Mystik wurde die Erfahrung des Unendlichen als eine Briicke
zum Ubersinnlichen begriffen. (Vgl. Nikolaus von Kues: De docta ignorantia, Boblingen
2004, S. 9.) Auch das sprachkritische Eingangsmotto von Musils Roman stammt aus
einem mysuschen W'erk, namlich aus Maurice Maeterlinck: Schatz der Armen, Jena 1906.
*' Entfremdung im 1 iumboldtschen Sinne memt hier, dass dem Heranwachsenden
seine Identitat und L'mwelt fremd werden, weil er in ihnen liigenschaften und \^organge
entdeckt, die ihn zunachst verwirren.
'"' Diese Formel fiir die neuhumanistische Bildungsidee libernehme ich von Giinter
Buck: Riickwege aus der Entfremdung. Studien zur deutschen Bildungsphilosophie,
Munchen 1984, S. 17.
""^ Wilhelm von Humboldt: Theorie zur Bildung des Menschen (Bruchstiick), m: W'erke,
Bd. 1: Schriften zur Anthropologic und Geschichte, hrsg. von Andreas Flitner und
Klaus Giel, Darmstadt 1980, S. 237.
"** \Xilhelm von Humboldt: Lber die \'erschiedenheit des menschlichen Sprachbaues
178
und ihren EinfluR auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Werke,
Bd. 7.1, hrsg. von j\Jbert Leitzmann, Berlin 1907, S. 45f.
"'Ebd., S. 123.
5" Ebd., S. 162.
5' Ebd., S. 182.
" Ebd.
"Ebd., S. 187.
» Ebd.
"Ebd., S. 188.
^"■Ebd., S. 190.
" Ebd.
5«Ebd., S. 187.
'"Ebd., S. 193.
'•"Ebd., S. 195.
''' Ebd., S. 196.
'•2Ebd.,S. 199.
" Ebd.
"Ebd., S. 159.
" Adorno, Dialektik der Autllarung, S. 181.
"' Theodor W. Adorno: Studicn zum autoritiiren Charakter, Frankfurt/M. 1995, S. 335.
'"' TorleB, S. 54 f.
"" Vgl. Ebd., S. 105.
'" Ebd., S. 70f.
'" Vgl. Schiller, Uber die iisthetische Erziehung des Menschen, 24. Brief.
'' Ebd., 6. und 27. Brief.
^2 Ebd., 26. Brief.
'' Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 121.
'* Theodor VC. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 2003, S. 21.
" TorleB, S. 104.
Literaturverzeichnis
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Bd. 8, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1972.
Adorno, Theodor W.: Ohne LeitbiJd, in: Gesammelte Werke, Bd. 10.1, hrsg.
von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1976.
Adorno, Theodor, W.: Studien zum autoritiiren Charakter, Frankfurt/M. 1 995
Adorno, Theodor \X'.: Dialektik der Aufldiirung. PhiJosophische Fragmente,
Frankfurt/M. 1998.
Adorno, Theodor W: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 2U03.
Buck, Giinter: Rtickwege aus der Entfremdung. Studien zur deutschen
179
Bildungsphilosophie, Miinchen 1984.
Endres, Franz Carl und Schimmel, Annemarie: Das Geheimnis der Zahl.
Zahlensymbolik im Vergleich, Koln 1985.
I lumboldt, Wilhelm von: Uber die Verschiedenheit des menschlichen
Sprachbaues und ihren Einflufi auf die geistige Entwicklung des
Menschengesclilechts, in: Werke, Bd. 7. 1 , hrsg. von iVlbert Leitzmann,
Berlin 1907.
Humboldt, Wilhelm von: Theorie zur Bildung des Menschen (Bruchstiick),
in: Werke, Bd. 1 : Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hrsg.
von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1980.
Kues, Nikolaus von: De docta ignorantia, Boblingen 2004.
Maeterlinck, Maurice: Schatz der Armen, Jena 1906.
Menninger, Karl: Mathematik und Kunst, Gottingen 1959.
Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zoglings TorleB, Hamburg 2005.
Schiller, Friedrich: Uber die iisthetische Erziehung des Menschen (in einer
Reihe von Briefen), Stuttgart 2000.
Werner, Gabriele: Mathematik im SurreaUsmus. Man Ray, Max Ernst, Dorotliea
Tanning, Marburg 2002.
180
INTERVIEW
Ein Interview mit Marc Rothemund
Katharina Leduc
Trotz seines Erfolges bleibt der Regisseur Marc Rothemund mit beiden Beinen
aut dem Boden, obwohl seine drei Filme Lj)ve Scenes from Plautet Eatfb (Das
merkn'urdige \^erhalten gescblechtsreifer Gro^stadter ^//r Paarungs^if)^ Ants in the
Pants (Haife J/oigs) und das Drama Sophie Scholl — the Pinal Days {Sophie Scholl
— die let^fen Page) mehr als eine Millionen Zuschauer im Kino anzogen. AJs
passionierter Sportier vergleicht Rothemund das Filmemachen gerne mit
FuBbalJ: "Ein )ahr gewinnt das Team eine Trophae, die nachste Saison konnen
sie schon wieder verlieren. Xach dem Spiel ist vor dem Spiel, nach dem Film ist
vor dem Film".
Marc Rothemund war fiir drei Monate in der Kiinsderresidenz "\"illa
Aurora" in Pacific Palisades, um hier an seiiiem neuen Projekt "Rosa Parks" zu
arbeiten.
NGR: Kannst Du bitte etwas iiber die Idee zu Deinem Filmprojekt "Rosa
Parks" erzahlen.
M.R.: Schon lange fasziniert mich die Geschichte von Rosa Parks. Ich
beabsichtige eine detaillierte Recherche und die Frstellung eines Drehbuchs
iiber die Zeit, in der Rosa Parks sich weigerte, ihren Platz im Montgomer\- Bus
tiir einen \\ eiI3en zu riiumen. Ihre Festnahme fiihrte zu einer der groBten und
erfolgreichsten Massenbewegungen gegen Rassismus. Fiir ihre Zivilcourage
und ihre Standhaftigkeit wurde sie vom Time Magazin zu einer der zwanzig
einfluBreichsten Personen des 20. jahrhunderts gewahlt.
Die Gescliichte soil mit einer Pretitle-Szene 1 943 beginnen, in der wir
Rosa Parks und ihre Familie als auch ihren W'ohnort und die Gesellschatt in
i\Iabama kennenlernen.
An jenem verregneten Tag im )ahre 1943 stieg sie durch den
Vordereingang in einen offentlichen Bus. Der Fahrer, James Blake, betahl ihr,
nochmals auszusteigen und durch den Hintereingang einzusteigen. Sie stieg
tiurch den \brdereLngang aus, lieB ihr Portemonnaie fallen und setzte sich fiir
181
einen Moment auf einen Sitz, der fiir weiBe Fahrgaste reserviert war, um ihr
Portemonnaie aufzuheben. Dies machte den Busfahrer so wiitend, dass er sie
zwang auszusteigen, und ohne sie losfuhr. Rosa ging mehr als fiinf Meilen
zu FuB durch den Regen.
Die Hauptgeschichte spielt am 1. Dezember 1955. Sie bestieg wieder
einen oftentlichen Montgomen' Bus, zahlte den Fahrpreis und setzte sich auf
einen freien Platz in der ersten Reihe der fiir Farbige reser^^erten Sektion. Diese
war ungefahr in der Mitte des Busses und direkt hinter den zehn reservierten
Reihen fiir die weiBen Fahrgaste. Bis dahin hatte Rosa noch nicht bemerkt,
dass der Busfahrer der selbe Mann war, James Blake, der sie 1943 durch den
Regen laufen lieB. Nach einigen Haltestellen bemerkte der Busfahrer, dass
zwei, drei weiBe Fahrgaste Stehplatze haben. Er hielt an und verschob das
„colored section sign" hinter den Sitz von Rosa Parks. Er forderte auf riide,
respekdose Art und Weise vier Farbige auf, ihren Platz fur die weiBen Fahrgaste
freizumachen. Der farbige Mann neben Rosa stand auf, machte seinen Platz
frei. Auch Rosa stand auf, doch nur um auf den neben ihr frei gewordenen
Fensterplatz zu rutschen. Sie weigerte sich, in den neu gekennzeichneten Bereich
fiir Farbige zu wechseln.
Blake: „\X hy don t you stand up?"
Rosa: "I don t think I should have to stand up!"
Blake:"\X ill you stand up!?"
Rosa: "No, I am not!"
Blake: "^X'ell, if \'ou don t stand up, I m going to have to call the
police and have arrested vou!"
Rosa: "You may do that!"
Die weitere Geschichte soil nun auch die verschiedenen Charaktere der
beteiligten Menschen beschreiben. L'nd wie sie auf diesen „zivilen
Ungehorsam" reagierten: Der Busfahrer James Blake, der Polizist, der UPI-
Journalist Nicholas C. Chriss, der auf dem beriihmten Foto neben ihr sitzt,
nachdem viele den stehenden Bus verlassen batten und natiirlich auch die
anderen farbigen und weiBen Fahrgaste, soUen wichtige Rollen in dem Film
spielen. Ein Querschnitt des damaligen, teils auch heutigen Amerikas.
Es gibt sehr viel Recherchematerial, Polizeiakten, Rosa Parks
Biographic „My Stor)", den Artikel des Journalisten, die Berichte vieler
Augenzeugen.
182
Im dritten Akt beabsichtige ich zur Zeit die Geschehnisse nach ihrer
Abfiihrung erhobenen Hauptes aus dem Bus zu erzahlen. Die durch Fotos
dokumenderte erkennungsdienstliche Behandlung im Polizeire^^e^, das \'erh6r
durch die staatliche Behorde, ihre Heimkehr in den Kreis ihrer Familie und
ihrer Freunde, und auch den kurzen Gerichtsprozess.
Das Ende dieses Filmes beginnt mit ihrer FreiJassung aus dem
Gericht, ihrer emotionalen Freude und der Anerkennung ihrer Freunde,
miindend in Original Footage und einer kurzen Beschreibung des „Montgomen'
Bus Boycott". Hieriiber intbrmieren wir entweder mit voice over oder
Schrifttafehi iiber die positiven Auswirkungen auf die Gcsellschaft und die
Ehnmgen, die Rosa Parks erhiclt.
Ob ich dem Film einen Rahmen gebe, (z.B wie in „Titanic", „Litde
Big Man") oder die Geschichte noch mehr auf die \'orkommnisse im Bus
konzentriere, statt im dritten Akt den Bus zu verlassen, oder andere Stilmittel
oder Erzahlzeiten verwende, mochte ich mir noch often lassen.
NCR: Dieses neue Projekt "Rosa Parks" stellt wie Dein Drama Sophie
Scholl eine Art Portrait einer einzelnen Person dar - ist es fur Dich
interessanter, eine Portraitskizze anzufertigen oder scheint Dir eine
Komodie mit zwischenmenschlichen Beziehungsproblemen genauso
leicht?
M.R.: Ich arbeite mit verschiedenen Genre und Gescliichten. Das hat nicht nur
mit der Tendenz des Zuschauers, die kategorisieren, zu tun. Ich habe nicht
einen einzelnen meiner Filme gemacht, um irgendjemandem irgendwas zu
beweisen. Das W'ichtigste ist, dass mein Team und ich alles gegeben haben,
was wir konnen. Als Regisseur frage ich mich selbst: Finde ich etwas
unterhaltsam, beriihrt mich das? W'enn ich anfange iiber all die Leute
nachzudenken, die einen Film gut finden sollen, dann habe ich bereits verloren.
Ich glaube, ein leichtes, unterhaltsames Sujet ist genauso schwierig zu realisieren
als eine dramatische Geschichte. Ich bin deswegen erstaunt iiber die engstirnige
Sichtweise mit der kreative, professionelle Leute in Deutscliland kategorisieren.
Nach meinem ersten 90minuten Spielfilm bekam ich standig Angebote fiir
Kriminalgeschichten; romantische Komodien kamen en masse nach Das
merkn'iirdige \'erhalten geschkchtsreifer GrojSstadter ^a Paamngs^eit, Teenager
Komodien nach Harte Jungs und seit dem Erfolg Sophie Scholl - Die let^en
Tage bekomme ich historisches Material iiber die Nazizeit.
Aber ich suche standig nach neuen Herausforderungen. Das Leben
soUte nicht monoton und einspurig sein. So versuche ich, mein Leben und
meine Arbeit so extrem und so vieltliltig wie moglich zu gestalten. Sch!ie(31ich
beinlialtet das Leben Licht und Schatten, Lachen und Tranen.
83
NGR: Du hattest den internationalen Durchbruch 2006 mit Deinem
Film "Sophie Scholl - die letzten Tage". Damals warst Du zur Oscar
Nominierung als bester fremdsprachiger Film in Los Angeles. Wie
waren Deine Erfahrungen? Warst Du bzw. das Team enttauscht, dass der
siidafrikanische Film "Tsotsi" iiber einen jungen StraBenrauber den
begehrten Filmpreis holte?
M.R,: Null komma nuU Enttiiuschung, wir waren total gliicklich. Es war eher
eine Erfiillung cines Traums. Seit 30 Jahren habe ich das Spektakel im Fernsehen
verfolgt. Wenn man dann einmal selbst auf dem roten Teppich nur wenige
Meter neben Will Smith oder Keira Knighdey steht, dann kann kein Gefiihl
der EnttJiuschung aufkommen, da freut man sich die ganze Zeit nur. Nach der
Gala haben die Leute Schlange gestanden, um uns zu giatulieren: Jodie Foster,
Angelica Huston, Jennifer Lopez...
Ich war beeindruckt, dass selbst die Holh-woodstars nervos sind,
sobald sie auf die Biihne miissen. Wenn die schon so stottern und Herzinfarkt
gefahrdet sind, dann will man da gar nicht hoch...
Und auBerdem: An dem grolkn Applaus im Saal merkt man, dass
wir nah dran waren, die Welt hat uns gesehen.
NGR: Interessant an Deinem Film "Sophie Scholl" ist, dass das Thema
der Studentengruppe aus Miinchen ja nicht unbedingt neu ist - 1982 gab
es den bereits erfolgreichen Film "Die WeiBc Rose" von Michael
Verhoeven. Dein Film ist jedoch nicht auf die gesamte Studentengruppe
gerichtet, sondern beleuchtet kammerspielartig das Schicksal von Sophie
SchoU. Dabei stiitzt Du Dich auf die originalen Verhor-Aufzeichnungen.
Wie kommt es, dass niemand vor Dir auf diese Idee gekommen ist und
was fasziniert Dich an genau diesem Verhor?
M.R.: Michael Voerhoeven's Film "Die WeiBe Rose" beschrcibt die Entwicklung
der Studentengruppe. Die dramatischen Ereignisse, gefolgt von der Verhaftung
der Mitglieder, nehmen den Hauptteil des Films ein. Der Film endet mit der
Inhaftierung von Sophie Scholl.
Genau hier kniipft unser Film an: wir begleiten Sophie in ihre
emotionale, turbulente Todesreise in den letzten tiinf Tagen. W'ir haben das
Verhor rekonstruiert und haben den beriichtigten "Blutsnchter" Roland Freisler
zum Leben gebracht. W'ir beschreiben Sophies Gefangnisaufenthalt in
Stadelheim, ihre letzte Zigarette, ihren Abschied von ihren Eltern, ihr letztes
Essen, ihr Gebet, ihre Hinrichtung.
Aber was vielleicht diesen Film von alien anderen vorhergehenden
Filmen iiber Sophie Scholl absetzt, ist die Tatsache, dass wir Dokumente mit
einbezogen haben, die noch bis vor zwanzigjahren unzugangUch waren, die
Originale des Gestapo-Verhors waren bis in die 1 980er Jahre nicht vorhanden.
184
Diese ehemalig unpublizierten Dokumente waren fiir jahre in Ostdeutschen
Archiven versteckt und wurden erst 1990 zuganglich gemacht. Besonders das
\"erhor von Sophie Scholl war unglaublich spannend. Was mich personlich
faszinierte war die Tatsache, dass der Beamte der Gestapo, Robert Mohr, ein
\'erh6rspezialist mit sechsundzwanzigjahriger Erfahrung, Sophie nach seiner
ersten, fiinfstUndigen Befragung tatsachlich ihre I'nschuld geglaubt hat. Fiir
fiinf Stunden hort sie ihm zu, ohne mit der W'imper zu zucken, ohne im
falschen Moment zu zogern. Eine unglaubliche Entdeckung.
Robert Mohr war eine interessante Figur. Vor unserem lilm hat sich
fast niemand die Miihe gemacht, ilin zu recherchieren. \X'ir haben seinen Sohn,
Willv Mohr, der nun 83 jahre alt ist, fiir vier Stunden interview! und haben
einen tiefen Einblick in Robert Mohrs Charakter gewonnen.
\X'ir hatten auch die Chance mit Else Gebels [sie war mit Sophie in
einer Zelle] Neffen zu sprechen. Eine andere wichtigc Zeugin war Elisabeth
Hartnagel, Sophies jiingere Schwester, die spiiter Sophies Brautigam Fritz
Hartnagel heiratete. Sie hat fiir uns auch ihre privaten Archive geoffnet.
j\ll diese Zeitzeugen gaben uns zusatzlichen Riicldialt in unserem Bemiihen,
unsere Geschichte so authentisch wie moglich zu erziihlen.
NGR: Was ist Deiner Meinung nach die wichtigste Einstellung zu einem
Thema, das verfilmt werden soil?
M.R.: Der entscheidende Aspekt von Pilmen ist die gemeinsame Erfahrung.
Ich mochte keinen Film fiir 5000 Insiders machen; ich will den Zuschauer mit
mir auf eine Reise nehmen, will ihn unterhalten.
In der \'orbereitungsphase gehe ich sicher, dass ich die richugen
Leute fiir das Projekt gewinne, die gemeinsame Version entwickle, so dass wir
aUe in die gleiche Richtung ziehen. Aber sicher heifit das auch, dass ich meinen
Weg in meine eigene Richtung lenken muss.
Ich respektiere Kreadvitat beim Team und bin often fiir Idccn und
Anregungen: \^or allem hore ich auf das, was andere fiihlen oder auf das, was
die Abteilungsleiter sagen. Ich achte auf ihre kreativen Einsatze und priife, wie
sehr sie in meine eigenen Ideen und Gefiihle passen. Aber wenn es urn die
Realisierung geht und darum, zu entscheiden, kann ich hatt in DiszipUn sein.
Ich bin Kosmopolit mit einem groBen Interesse am Rest der Welt. So bin ich
zweifellos neugierig auf die Filmkultur verschiedener Lander, auch wenn Dinge
sich sehr haufig gleichen, wo immer Filme gedreht werden. Europa oder
Amerika - wo immer man ist: Filmemachen exisdert. Und manchmal wiirde
ich gerne herausfinden, wie es als Regisseur ist, mit einem Budget von 100
Millionen zu spielen und aUes zu haben, was man braucht. Ich wiirde es nicht
als meinen Plan bezeichnen, aber es ware eine tolle Erfahrung. In Deutschland
ist es schon ein Alptraum, wenn man einen halben Tag langer filmt als
185
urspriinglich geplant.
NGR: Hast Du einen typischen Werdegang absolviert, wie man es sich
vorstellt, mit Filmakademie oder Filmstudium?
M.R.: Nachdem ich als Fahrer, Script-girl, Aufnahmeleiter und Regieassistent
zehn Jahre lang das Handwerk geiibt und Erfahrungen gesammelt habe, bin
ich nun Regisseur fiir Kino- und Fernsehfilme.
Ich musste umgehend nach der Schule nach Berlin ziehen, um die
Bundeswehr zu umgehen. Damals, 1988, stand noch die Mauer, und Berliner
mussten nicht dienen, da das Alliiertengesetz gait.
Nach dreizehn Schuljahren wollte ich auch nicht weitere vierjahre an
der Filmhochschule studieren, sondern mich Ueber in der Praxis hocharbeiten.
Als Regisseur arbeitet man am Drehbuch mit und am Drehort inszeniert man
Schauspieler und biindelt die Ideen weiterer Mitarbeiter hinter der Kamera.
Oder iiberzeugt die Anderen von den eigenen Ideen bzw. kombiniert sie. Und
nach Drehschluss endfertigt man den Film mit einem Schnittmeister, einem
Komponisten, einem Mischmeister etc.
Disziplm, Handwerk, Talent, Lust, Gluck und Leidenschaft sind
von Noten, wobei man nicht vergessen darf, dass Leidenschaft leiden schaft.
Ich hatte mir nicht vorgenommen Regisseur zu werden, sondern erstmal
einen Einstieg auf unterster Stufe zu bekommen, und dann jeden Tag meine
Aufgaben so gut als nur moglich zu erledigen. Um dann zu sehen, ob diese
Berufsrichtung iiberhaupt die richtige ist und ich bestehen und mich weiter
hoch arbeiten kann. Francois Truffaut meinte, er ware nur Regisseur geworden,
weil man da tolle Frauen kennenlemen kann. Und das ist ja auch eine Motivation.
NGR: Hast Du ein bestimmtes Ziel, das Du als Regisseur erreichen
mochtest?
M.R.: Ich habe mir nie eine X'orgabe als Ziel gesetzt, aber ich habe immer alles
ausprobiert, um zu sehen, ob mir etwas SpaB macht - von einem Film zum
nachsten denken. I^tztendlich hat jede fieberhafte Atmosphjire am Set meinen
Charakter gebildet; die Leidenschaft, aber auch die Krise. Ein guter Arbeitstag
ist reine Emotion.
Ich denke eher von einem Tag zum nachsten. Aber wenn ich in zehn
Jahren nach einem Lottogewinn, mit einer toUen Frau und aulgeweckten,
frechen Kindern und sportlicher Ciesundheit irgendwo in einem 1 lauschen
mit MeerbUck und Ciarten meine Zeit verbringen diirfte, wiirde ich wohl nicht
nein sagen.
Das Leben ist lang und ein ewiges auf und ab, ein ewiger Wechsel
zwischen Licht und Schatten, Freud und Schmerz, Lachen und \Xeinen. Aber
186
nach Schatten kommt meist l.icht usw. Mein Vatcr meinte damals, dass
Probleme niemals auflioren wiirden, es kamen immcr wieder neue, egal in
welchem Alter, und am Besten man gewohnt sich daran und nimmt sie als
Herausforderungen.
Und auch dass es ohne Gliicksstern nicht gcht, und man notfalls
versuchen miisse, sich das Gliick hartnackig und ausdauernd zu erarbeiten,
bzw. wenn das Gliick dann kommt, noch nicht aufgegeben zu haben. Kann
man ja mal driiber nachdenken, vor allem als Atheist, wie ich auch einer bin.
Aber mich lasst das Gefiihl nicht los, dass man nicht nur viel Gliick haben,
sondern auch viel, viel harte Arbeit dafiir investieren miisste. Fiir Reichtum
und Luxus sind eigentlich kiinsderische Bemfe nicht wirklich die richtigen. Ich
schlieBe abermals mit W'orten meines Yaters: Und ist cier Handel noch so
klein, bringt er mehr als Arbeit ein.
187
REVIEWS
Lars Koch (Hg.)
Modernisierung ah Amerikanisierungf
Entwicklungslinien der westdentschen Kultur
1945-1960 (unter Mitarbeit von Petra Tallafuss).
Bielefeld: Transcript, 2007.
Rezension von Hans Jorg Schmidt
„Modernisierung als Amerikanisierung?" ist die leitende FragesteLlung, der
der von Lars Koch unter Mitarbeit von Petra Tallafuss herausgegebene Band
„Modernisierung als Amerikanisieaing? F.nuvicklungsUnien derwestdeutschen
Kultur 1945-1960" auf verschiedenen Feldern nachforscht. Literatur, Publi2istik,
Film, Darstellende Kunst, Design, Fernsehen, Musik, Theater, (Medien-)
Anthropologie, Philosophic und Kulturtheorie sind die Themenkreise, die
ein nahezu kanonisiertes Spektrum medienkulturwissenschaftlicher
Anniiherungsweisen zur Leitfrage in einem themenorientierten
Forschungsiiberblick vereint. Gemcinsam mit Petra Tallafuss geht Koch in
der Finfiihrung auf die urspriinglich normative Geladenheit des
Amerikanisierungsparadigmas ein und konturiert die „Umkodierung" des
Begriffes in der diskursiven Dynamik hin zur wissenschaftlichen
Analysekategorie vor dem Ilintergrund zunehmender gesellschaftlicher
Differenzierungstendenzen. Hiermit sensibilisiert der Band fiir die
Kontextualisierung der Begrifflichkeiten angesichts des jeweiligen
Forschungsgegenstandes.
Aus Sicht geschichtswissenschaftlicher Narratologie setzt sich Axel
Srl)/7(/fmk der zunachst eher produkttransferierten „Amerikanisierung" und
deren Interferenzen mit friihzeitig kursierenden Amerikabildern auseinander.
Schildt fragt mit berechtigten Zweifeln danach, ob das Ende des Zweiten
Weltkrieges als die „Stunde der ,Amerikanisierung"' gesehen werden kann.
Als Phasierungshilfe ist das Jahr 1 945 sicherlich ein wichtiges, da sich hernach
die Intensitiit der amerikanischen EinfJiisse von eher im bilateralen Austausch
flottierenden weichen Faktoren auf vermehrt unidirektionale Faktizitiiten
189
veranderte, aber schnell nach 1 945 seitens der USA auch die weichen Faktoren
als unabdingbares Agens einer wertbasierten (Re-) Education erkannt wurden.
Sabine Kyora karrn anhand einer „lnventur" der literarischen Texte zwischen
1945 und 1960 einsichtig machen, dass zunehmende Experimentierfreude
zur Neupositionierung der westdeutschen Literatur fiihrte, die mit der
Transzendierung des Realismus eines j\nders, Boll oder Richter durch Autoren
wie Walser, Grass, Johnson oder Riihmkorf einherging. Und Waltraud ,Wara'
Wende betont in ihrem Beitrag die Bedeutung und mediale Inszenierung der
Luftbriicke wiihrend der Blockade Berlins als initialen Moment des Wandels,
der die Amerikaner in KoUektivitat „von Siegern und Besatzern zu Beschiitzern
und Freunden [werden lasst], wobei die Massenmedien nicht nur als mentaler
Seismograph modifizierter Einstellungen und veranderter Gefuhle zu sehen
sind, sondern gleichzeitig immer auch als gewichtiger Generator fiir die
Festigung oder den Wandel von Freund- und Feinprojektionen, Urteilen und
VorurteiJen, Angsten und Hoffnungen" (69).
Imvs Koch widmet sich dem Film. Gerade anhand des so genannten
Triimmerfilms wird dessen gesellschafdiche Funktion deutlich. Auch der
Kriegsfilm reiht sich in diese die zeitt)'pischen Problemlagen verhandelnde
Tendenz „einer verbindlichen Verortung des Kriegsgeschehens im sozial-
kommunikativen und kulturellen Gedachtnis der westdeutschen
NachkriegsgeseUschaft" (98) ein. Der Heimat- und Ferienfilm setzt sich liiervon
ab, doch bietet er in seinem Binnendiskurs einen Bezugspunkt tiir die „Suche
nach Echtheit und Authentizitat in Zeiten des Umbruchs" (99), wohingegen
der Gegenwarts- und Zeitfilm im Stile Heinz Erhardts ein optimistisches
Deutungsmuster unter der Ebene „staatspolitischer Gesellschaftspflege" parat
halt (103).
Auch Knut Hickethier stcllt die Auseinandersetzung mit dem
Fernsehen unter die leitende Fragestellung, in welchem Verhaltnis das in den
50er Jahren aufkommende Medium zu „Amerikanisierung" und
Modernisierung steht. Dabei hebt er sowohl die modernisierungsbefordernde
Wirkung als auch die Rolle des Mediums in der Vervvestlichung der
Bundesrepublik hervor. Weniger eine direkte Intentionalitat, sondern vielmehr
eine generell auf moderne Technik und modernes Leben bezogene mentale
Haltung sei ausschlaggebend gewesen fiir die Modernisierungsleistung des
Fernsehens, die vor allem in der Kreation von Unterhaltung als
gesellschaftlichem Integrationsfaktorgeronnen sei.
y4«fl'm/j-X/w>/xf/-j Beitrag betrachtet Adornos, Gehlens und Plessners
diskursive Einlassungen zur Medien-Anthropologie der 50er Jahre, indem er
die AuBerungen der Autorentrias in ihrer gemeinsamen fundamentalistischen
Asthetik als kulturlvritisches Komplement und wissenschattliches Element
der Verarbeitung von Moderne und Modernisierung versteht. Ir/nela Schneider
blickt auf die beiden sich sukzessierenden Begritfspaare „Medialisierung/
190
Amerikanisierung" und „Gl<jb;ilisieaing/ Lokalisierung". Mittels semantischer
Begriffsarchaologie kindiert sie ihre Ausfiihrungen fiir drei verdichtete Phasen:
fiir die Amerikanisierungsdebatte im Zusammenhang mit dem US-Spielfdm
in den 20er [ahren, fiir die permutierende W'iederholung dieser im
Fernsehzeitalter der 60er ]ahre und tur den Ubergang von der
Amerikanisierungsdebatte auf die Begritflichkeit der Gkjbalisierung seit den
80er jahren.
Enka Fischer-] Jcbte leistet einen Bcitrag zur Funktionsbestimmung
des Theaters in der Nachkriegszeit. L'nterhakung — Verstorung- Orientierung
sind die Marksteine ihrer Analyse. Das Ankniipfen an Spielgewohnheiten vor
der Zasur des Nationalsozialismus kennzeichnete den Zeitraum bis zur
\X ahrungsreform, vvelche dann allerdings fiir eine Abwendung vom Ideellen
sorgte. Als Reaktion hierauf sind etwa kleinere Formen wie Zimmertheater
und Studiobiihne entstanden. Und die Klassiker, die nach Wiedereroffnung
bzw. Neubau erster groBerer Hauser auf das Programm kamen, wurden der
Umgebung sowohl in ihrer Architektonik als auch in ihrer Intentionalisierung
angenahert.
Albrechf Riethff/iiller untersucht die deutsche Leitkultur Musik vor
dem Hintergrund des Leitbildes USA. Als Insignium deutscher Musikkultur
nimmt er das 1951 reaktivierte Bayreuth als Ausgangspunkt der
Oszillationsbeziehungen, stellt dann aber die Auswirkungen dereinflussreicher
werdenden Kulturindustrialisierungsbewegung dar. Als Resultat seiner
Untersuchung fasst Riethmiiller zusammen: „Im Unterschied zu der
nimmermiiden Hvpertrophierung der deutschen Kunstmusik als Musik
schlechthin bestand eine reeducation im Bereich von Musik, wenn es denn eine
gegeben hat, in der Anglifizierung der Populjirmusik" (232).
Sahiene Autsch untersucht anhand der Documenta 2 den
Zusammenhang von „Abstraktion als \X eltsprache" und „Amerikanisierung".
Vor allem in den „HaItungen und Habituaksierungen, durch die sich eine
Ausstellungsatmosphare formieren konnte, iiber die letztlich die Begegnung
mit Kunst initiiert und erfahrbar wurde", sieht Autsch die wesentlichen
Einfliisse einer iiber „mental maps" transponierten „v\merikanisierung" (249).
Ftiedhelm Scharf' wendet sich dem Design und der modernistischen
Formgebung zu. Stark verbunden ist der zunehmende Formenreichtum mit
der Wiedererlangung industrieller Ressourcen. In der Rezeption des Bauhauses
in den USA und in der internationalen Ausrichtung deutscher Designschulen
zeigt sich die \'er\vobenheit zwischen Bundesrepublik und USA, die
wegbereitend wurde fiir die globale „Transmedialitat von unterschiedlichsten
Gebieten der Gestaltung" (274).
Kasper Mciase beschlieBt den Band mit seinem Beitrag zum Thema
„Massenkultur, Demokratie und verordnete \^er\vestlichung". Er kontrastiert
zeitgenossische Kulturdiagnosen der westdeutschen Gesellschaft mit den
191
nachholenden Extrapolationen. Anhand des Diskurses um Massenkultur und
„mass culture" kann er zeigen, dass wesendiche Begrifflichkeiten aus Sicht der
historischen Semantik nicht iibereinsdmrnen, obgleich oft von einer groBen
sachkulturellen Korreladon ausgegangen wird.
Deutlich wird aus der Gesamtsicht der Beitrage, dass die Analysekategorie
„Amerikanisierung" zu enggefasst ist, um alie angesprochenen Phanomene
zu klassifizieren, sie sich jedoch aufgrund ihres normativen Grundgehalts tiir
cine diskursretlexive Beobachtungsweise durchaus eignet. In einer
nachholenden Dynamik wurden wesentliche Kulturtelder durch den
produktbasierten Transfer von habituellen Lebensstilen modernisiert. Zudem
konnte iiber die diskursive Auseinandersetzung mit dem kulturkritisch
gepragten Amerikanisierungsbegriff ein Beitrag zur Normalisierung
Westdeutschlands geleistet werden.
192
Ehlich, Konrad
Sprache und sprachliches Handeln
Band 1 : Vragmatik und Sprachtheorie.
Band 2: Vro^duren des sprachlichen Handelns.
Band 3: Diskurs — Narration — Text — Schrift.
Berlin/New York: De Gruyter Oktober 2007.
Rezension von EIke Montanari
Seit Beginn der 70er jahre wairde in Deutschland die „Funktionale Pragmatik"
(FP) entwickelt; Konrad F.hlich, von 1992-2007 Vorstand des Insdtuts fiir
Deutsch als Fremdsprache/Transnationale Germanistik der Ludwig-
Maximilians-Universitat Miinchen, war dabei einer der maBgeblichen
Wissenschafder. Er suchte, neue Grundkategorien flir die Analyse von Sprache
nutzbar zu machen, oft in Kooperation und Diskussion mit Kolleginnen
und Kollegen wie jochen Rehbein und Angelika Redder. Die dafiir von ihm
verfassten Texte entstanden haufig in der Form des Aufsatzes, einige davon
an „vergleichs\veise endegenen Publikationsorten" veroffendicht, wae der Autor
in der Einleitung formuliert. Der Walter de Gruyter- Verlag hat es 2007
unternommen, eine breite Auswahl der Schriften herauszubringen und der
wissenschaftlichen ()tTendichkeit gesammelt vcrfugbar zu machen. S(j wairden
von dem Mitbegriinder der FP 86 Texte zusammengestellt, die zwischen den
Jahren 1972 und 2006 erstveroffentlicht wurden. Unter Mitarbeit von Diana
Kiihndel und \X encke Borde wurden sie in drei Bande gefasst.
Band 1 : „Pragmadk und Sprachtheorie" versammelt grundlegende
Publikationen zu Fragen der Funkdonalcn Pragmatik. Die „Ziele und Verfahren
funktional-pragmatischer Kommunikationsanalyse" sind dabei Titel und
Gegenstand des allerersten Aufsatzes der Sammlung. Dieser Ardkel verweist
schon allein durch seine exponierte Posidon auf die empirische Orientierung
dieser Ausrichtung von Sprachwissenschaft. Der Sicht auf Sprache als Svstem
wird die Auffassung von Sprache als Handlung gegenubcrgestellt, das Profd
funkdonal-pragmadscher Herangehensweise wird in diesem W'erkteil in
kritischer Auseinandersetzung mit den Hauptlinien der
sprachwissenschaftlichen Theoriebildung entwickelt.
Der Folgeband beschaftigt sich mit „Prozeduren sprachlichen
193
Handelns" und sammelt Uberlegungen und Analysen zu deiktischen,
operativen und expeditivcn Prozeduren wie Deixis und Anaphern,
Determination und den Interjektionen wie dem deutschen „HM". Wie diese
Analysen auf literarische Sprache angewendet werden konnen, zeigen
Untersuchungen an Schriften \^on Goethe und Eichendorff.
„Diskurs - Narration - Text - Schrift" ist der Titel des dritten und
abschlieBenden Teiles. Diskurse in unterschiedlichen Handlungsfeldern wie
Schule, Wirtschatt und Religion bilden einen Schwerpunkt der in diesem
Teilband enthaltenen Analysen. Arbeiten zu alltagssprachlichen Erzahlungen
sind hier versammelt, ebenso wie Analysen institutioneller Kommunikation.
Der Begriff „Text" wird systematisch aus den Bediirfnissen sprachiichen
Handelns heraus entwickelt.
Die drei Bande steUen erstmals zentrale Aufsiitze eines der wichtigsten
Vertreter und Begriinder dieses pragmatischen Paradigmas zusamtnen; sie
folgen dem international anerkannten Autor zeitlich durch seine
Publikationstatigkeit in mehr als dreiBig Jahren und inhaltlich von den
grundlegenden Uberlegungen bis zu den Anwendungen bei der Analyse
sprachlicher Handlungen. In der Zusammenstellung ist es gelungen, eine
aufeinander aufbauende Zusammenstellung \^on Einzeltexten zu schaffen,
eine sich steigernde Linie von grundsatzlichen Fragen zu detaillierten Analysen,
von theoretischer Basis zu Untersuchungen einzelner Phanomene. Damit ist
dieser Band fiir Studium, Forschung und Lehre gut geeignet, sich iibcr
Funktionale Pragmatik einen Uberblick zu verschaffen und sich mit dieser
Pragmatik auseinander zu setzen. Indem Ehlich eine „reflektierte Empirie"
(Einleitung, S.4) vorschlagt, enthalt seine Herangehensweise an
sprachwissenschaftliche Fragestellungen gerade mit Blick auf jiingere
Entwicklungen in einer Linguistik, die sich Daten und Empirie wieder verstarkt
zuwendet, wichtige Anregungen und hiltt, das eigene wissenschaftliche
Vorgehen methodisch zu reflektieren.
194
PfeuBer, Ulrike.
Aufbriich aus dem heschddigten Leben. Die
Verwendung von Phraseologismen im
literarischen Text am Beispiel von Arno
Schmidts Nobodaddy's Kinder.
Bielefeld: Aisthesis, 2007.
Rezension von Nils Bernstein
Im Grunde kann die Phraseologie auf eine fast hundertjahrige
Entstehungsgeschichte zuriickblicken, die 1 909 mit dem Erscheinen des 'Traite
de stilistique fran^aise' von Charies Bally begann. Doch erst seit den 70er
Jahren wurde sie zunehmend in die deutsche und so auch westeuropaische
Linguisdk integriert, wobei sie lange Zeit als Stiefkind der Lexikologie betrachtet
wurde. Die Phraseologie untersucht feste Mehrworr\'erbindungen, die eine
semantische Transformation erfahren haben, also Idiomatizitat auhveisen.
Von einer Randstellung dieser Forschungsrichtung kann heute nur
noch bedingt die Rede sein. Germanistische Einfuhrungen in die Phraseologie,
etwa von Wolfgang Fleischer (1997), Christine Palm (1997) und Harald Burger
(2007) wurden bereits mehrmals aufgelegt. Die namhaften Phraseologieforscher
H. Burger, D Dobrovol'skij, P. Kiihn, N. R. Norrick konnten 2007 ein
umfangreiches zweibandiges Handbuch der Phraseologie in der renommierten
Reihe der Mandbiicher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Bd.
28.1. und 2) herausgeben. Dennoch werden die sprachwissenschaftlichen
Erkenntnisse in der Literaturwissenschaft nur langsam umgesetzt.
Ein wichdger Schritt hin zur literaturwissenschaftlichen Integration
phraseologischer Fragestellungen ist mit der 2007 veroffentlichten Dissertation
von Ulrike PreuBer gemacht worden. Die Autorin versteht es als PUotprojekt
— , dessen Desideratcharakter sie mogUcherweise etwas zu hiiufig betont -, und
es ist in der Tat die erste umfassende Untersuchung dieser Art zum Einsatz
von Phraseologismen im literarischen Werk eines Autors. In diesem auch im
wortlichen Sinne ausgezeichneten Buch - PreuBer wurde der Dissertationspreis
der Westfalisch-Lippischen Universitatsgesellschaft verHehen - wird das
literarische VXerk Arno Schmidts (1914-1979) mit dem Fokus auf die
Romantrilogie Nobodaddy's Kinder mchi aUein als Fundus fiir phraseologische
195
Mehrwornerbindungen aufgefasst, sondern aufgefundene Phraseologismen
werden stets kontextsensitiv erortert. Somit wird einerseits die in der
sprachwissenschafdichen Phraseologieforschung vorherrschende Tendenz, das
Werk eines Autors als Archiv fur Phraseologismen auirzufassen, sensibilisiert.
Andererseits kann die interpretationsentfaltende W'irkung der Untersuchung
von Mehrwortverbindungen literaturwissenschaftlich produktiv und
nachvollziehbar umgesetzt werden, da terminologisch exakte Aussagen zu
den genannten Schriften Schmidts ermoglicht werden. Der Zugewinn dieser
Arbeit zu den drei Kurzromanen Brand's hiaide (1947), Schmir^^e Spiegel \xnd
Aus dew Leben eines Fauns (beide 1951) sind daher auf Seiten der
Sprachwissenschaft als auch der Literaturwissenschaft zu verbuchen.
Nach Vorbemerkung und Einleitung definiert PreuBer zuniichst
gerafft zentrale Kategorien fiar Phraseologismen wie Polylexikalitat
(Alehrgliedrigkeit), graduelle Festigkeit und Idiomatizitat (semantische
Transformation). Dabei paraphrasiert sie zentrale Thesen, ohne sich allzu lange
bei Einzeldarstellungen der Forschungsgeschichte aufzuhiilten. Fiir die weitere
Gliederung von Phraseologismusklassifikationen wird das syntaktische dem
semantischen Gliederungssystem vorgezogen. Somit wird zwischen
nominalen, verbalen, adjektivischen und attnbutiven Phraseologismen
differenziert. Dariiber hinaus fmden auch davon abweichende Muster
defmitorische Erwahnung. Dazu zahlt PreuBer etwa gefliigelte Worte,
Zwillingsformeln und Sprichworter. Bei gefliigelten Worten greift sie nicht
allein auf eine der Neuauflagen von Biichmanns 'Gefliigelten Worten' zuriick,
sondern beriicksichtigt zudem - weim auch nicht ganz abgesicherte — Lemmata
diverser Internetseiten (z.B. alle-sprichwoerter.de oder zitate-welt.de). Dadurch
kann die immer problematische Kategorie der Landlaufigkeit gefliigelter Wbrte
auch mit Berufung auf dem breiten Publikum zugiingliche und gestaltbare
Quellen stichhaltig belegt werden.
Im anschlieBenden, fur eine Untersuchung zu Phraseologismen etwas
zu umfangreichen dritten Kapitel werden grundlegende Charakteristika im
>X'erk von Schmidt dargestellt. Dennoch sind diese fiir die weitere Interpretation
wichtig, da etwa auf den Zusammenhang zwischen subjektiver und objektiver
Realitat, zwischen Realismus und Geist-W'elt bei der in Kapitel 5 darzulegenden
Funktion von Phraseologismen zuriickgegriffen werden muss. Die Autorin
geht bei der Darstellung der Poetologie auch auf die bei Schmidt verwendete
Sprache naher ein, was selbstredend unmittelbar in Beziehung zu der
Einflechtung von phraseologischem Material steht. PreuBer eroffnet einen
iiber die Trilogie hinausgehenden Blick auf die stiUstische und narratologische
Gestaltung von Schmidts Gesamtwerk, wodurch das Buch nicht allein fiir
Phraseologieforschende Interessantes zu bieten hat.
Die kontextsensitive Untersuchung zu Phraseologismen in Schmidts
Romantrilogie wird in zwei gesonderten Kapitcln unternommen: In einem
196
Kapitel werden die Phraseologismen angeRihrt und mit Kontext ziticit. Darauf
paraphrasiert PreuBer - leider bisweilen sehr ausgiebig — den Kontext und
erlautert mogliche charakterisierende Riickschlusse, die durch den Gebrauch
der Phraseokjgismen nahe gelegt werden. In einem daran anschlieBenden
Kapitel werden weitere Funktionen der Phraseologismen erklart. Neben der
bereits erwahnten Charakterisierung der Personen lasst sich auch die Stdlisierung
miindlicher Authentizitiit erkennen. Viele Phraseologismen werden tendenziell
im miindlichen Ausdruck bemiiht. Ihre Verwendung in literarischen Texten
kann befremdlich anmuten, zumal sie dort und so auch bei Schmidt oftmals
modifiziert, expandiert oder remotiviert (also wortlich verstanden) werden.
Schmidt stellt durch den gehauften Gebrauch von Phraseologismen eine
unmittelbarere und authentischere Atmosphare her, die den Rezipienten
direkter anzusprechen vermag, so die Schlussfolgerung. Zudem werden die
Leser durch Literaturzitate nicht kanonisierter Literatur angehalten, den Kontext
dieser Zitate selbst zu erortern. Schmidt suggeriere dadurch eine
Neukanonisierung randstandiger Literatur und erhebe den quasi didaktischen
Anspruch, die alludierten Autoren zu lesen.
In der Tat sind durch Kenntnisse der zitierten Literatur wichtige
Folgerungen mogHch. Der vergleichende Blick auf relevante Parallelstellen in
Schmidts Gesamtwerk ist dabei hilfreich. W'enn etwa eine wenig bekannte
phraseologisierungsfahige Zwillingsformel auf ein Gedicht von Longfellow
zuriickgefiihrt wird ('in eddies and dimples'), findet in dem vorUegenden
Buch sowohl dessen pol}^alente Zitation in Am de/// Lelmi eiiies Fh/auah auch
in Schmidts BerechmiHseii II Erwahnung. Weitere produktive Umsetzungen
interpretationsentfaltender Kenntnis von Phraseologismen belegt PreuBer
eindrucksvoll an dem Zitat 'La belle femme sans merci' in Scbn>ar^ Spiegel (^.
287ff). Kennt man den literaturgeschichtlichen Kontext dieses auf Alain Chartier
zuriickgehenden Titels fiir eine \'erserzahlung von 1490, so kann zunachst
Lisa aus Schmidts Roman mit dem Prototvpen der 'gnadenlosen Schonen'
intertextuell in Beziehung gesetzt werden. AuBerdem kann durch Kenntnis
des Zitats der weitere llandlungsverlaufantizipiert werden. Denn durch die
Prototypisierung der beiden Charaktere auf den 'schmachtcnden Liebhaber'
und die 'gnadenlose Schone' wird im Vorfeld angekiindigt, dass Lisa den
namenlosen Erzjihler von Schwan^e Spiegel zuriickweisen wird. Der
literaturgeschichtliche Weitblick wird erfreuHcherweise durchgehend beibehalten.
Dabei wird dort, wo man eher einschliigigere Nachsclilagewerke erwartet hatte,
leider gelegentlich auf weniger verliissliche Internetquellen wie etwa
wilvipedia.org hingewiesen. Ein Blick auf in Schmidts TriJogie vorkommende
phraseologisierungsfahige Wendungen, die bestimmte Kriterien wie
Zweigliedrigkeit, Reim, vMliteration oder andere die Memorierbarkeit fordernde
Bedingungen aufweisen miissen, rundet das fiinfte Kapitel ab.
BisweiJen ware wiinschenswert, dass PreuBer die neu bearbeiteten
197
Auflagen verschiedener Biicher venvendet hiitte, etwa bei Palms oder Burgers
Einfiihrungen in die Phraseologie. Leider lag der umfangreiche HSK-Band
zur Phraseologie noch nicht vor und konnte nicht in die Bibliographic
aufgenommen werden. Ob die Autorin aber tatsachlich zu differenzierteren
Aussagen gekommen ware, wenn sic auf diesen oder etwa auf die aktuelle
dritte und nicht die zweite Auflage von BuBmanns 'Lexikon der
Sprachwissenschaft' zuriickgegriffen hatte, ist ein miiBiges Nachsinnen; zumal
man auch in der Neuaui:lage von BuBmanns viel bemiihtem Lexikon vergebens
nach einem Eintrag zu Phraseologismen oder Phraseologie sucht. PreuBer hat
somit diese offenbar noch nicht giinzlich wahrgenommene linguistische
Teildisziplin, die Phraseologie, mit ihrer aufschlussreichen Untersuchung
angemessen ins Zentrum des Interesses riicken konnen und cin exemplarisches
Pilotprojekt zur Integration phraseologischer Terminologie in die
literaturwissenschaft vorgelegt.
198
CONTRIBUTORS
Nils Bernstein is a PhD-Student, studying with Prof. Dr. Mati'as Martinez at
the Universit)' of Wuppertal. 1 lis topic is Phraseo/ogiswen im Werk von Ernst Jaiidl
imd NicanorPcvra. In 2U06 and 2UU7 he worked as a Language Assistant of the
DAAD at the Universidad de Chile in Santiago. He is currendy working as an
assistant lecturer at the University of W uppertal.
Thomas Baumler studied Gennan Literature, Political Science and Histor\' at
the Universit)^ of Konstanz, Germany. He has studied at both at Harvard
L'niversit}', and at Brown Universit}'. As a PhD candidate in German Literature
he is currendy employed in the Collaborative Research Centre (SFB) "Norm
and Symbol" in Konstanz.
Manuel Clemens studied Cultural Studies and Philosophy in Frankfurt
(Oder) and Paris. He graduated in 2005 with a diploma thesis on Adorno's
notion of experience. Before joining Yale he spent a year as a Visiting Research
Student in the German Department at Stanford University.
Franz Fromholzer studied Germanic Studies, History und Spanish in
Regensburg, Augsburg und Valladolid. He was a research assistant at the
Institute of Nenere de/itschf ] Jtcnifnnrissenschaf} in Augsburg, from 2006 to
2007.
Bent Gebert studied Germanic Studies, Philosophy und European Literature
in Freiburg, Konstanz and Oxford (2005 Master of Studies). He finished his
Staatsexamen in 2007 in Freiburg. He is a reseach assistant since 2007 at the
Deutschen Seminar of the University of Freiburg.
Viktoria Heifer studied Neitere dentsche Uteratimrissenscbaft, Theater Studies,
and Transnational Germanic Studies at the Ludwig-Maximilians-Universitiit
in Munich, where she is currendy working on her dissertation. She is an assistant
at the Centre International de Formation Europeenne in Munich.
Katharina Maria Herrmann studied German Studies and Romance Studies
between 1 999-2006 in Saarbrucken and Metz. Since 2002 she is employed as an
assistant of Dr. Anke-Marie Lohmeier (Universitat des Saarlandes, Neuere
dentsche J^Jteratnnrissenschtiff) .
199
Andrew J. Mills is a Ph.D. smdent in Germanic Studies at Indiana University-
and currently serves as Lecturer in the Dept. of Modern Languages and
Literatures at Southwestern Universirv in Georgetown, TX. His research interests
include 19'*'- and 20'^-centur)' depictions of violence in German literature, and
1 9'''-centur\- German and German-Jewish university student lite.
Elke Montanari is writing her dissertation about the topic Deiitscbenrerb mid
Mehrsprachigkeit - Genus und Determination in kindlichen Yii^dblungen at the
Ludwig-Maximilians-Universitiit in Munich. Her research interests are
multilingualism and language acquisition.
Hans Jorg Schmidt studied at the Universities of Heidelberg, Dresden,
Groningen, Miinchen and Speyer. He finished his dissertation in 20U7 with
the topic: „Die deutsche Freiheit". Geschichte eines kollektiven semantischen
Sonderbewusstseins.
Andre Schiitze is a graduate student pursuing his PhD in Germanic Languages
and Literature at UCL^\. His previous studies were conducted in Berlin and
Rome. He received his Magister from Humboldt-Universitat Berlin, where his
main concentrations included German Literature, Political Science and Sociology
His MA thesis is [ ^topie und Paranoia. Aspekte der Paranoia in der utopischen IJteratur.
David Wachter has studied German and Comparative Literature, Philosophy
and Sociology in Bonn, Cincinnati and Berlin. His M.A. thesis focused on
decadence in Nietzsche and Benjamin (Cincinnati 2002) and his Magister thesis
on Musil's anthropology (Berlin 2005). He is currently writing his PhD thesis
at the FU Berlin on Essayism and Contingency in Musil, Kracauer and Benn.
Sonja Wandelt graduated from the University of Hamburg, with a M.A.
degree in American Literature. NXTiile studying at Rutgers Universit}-, NJ, she
received a Certificate in Women's Studies. She is current!} persuing her PhD in
Comparative Literature at the Universit)- of Illinois, Urbana - Champaign.
In the last issue of NGR, \'ol. 22, we have misspelled H.C. Erik Midelfort's
name. \X'e would like to apologize for this mistake.
200
ABOUT THE ARTIST
Matthias Kebelmann, born in Riidersdorf/Berlin, has been studying since
2003 at the Kunsthochschule BerlinAXeissensee. In addition to graphic design,
he works mainly with changes and interferences in existing rooms and their
Genius Loci. The pictures on the cover and back of this issue are from 'Raum
W 10' which was done in 2006 for a group show at the Kunsthochschule
Berlin-Weissensee. His most recent installation, 'Raum 1 319', was displayed at
the Fifth Berliner Kunstsalon in October (jf this vear.
Exhibitions:
06/2005 - ,Architektur ohne Grenzen' - REmigration, Gruppenausstellung,
St. Petersburg, Russland
07/2005 - jahresausstellung - Kunsthochschule Weissensee, Berlin
02/2006 - ,the best among us' - 100° Festival, Gruppenausstellung, Hebbel
am Ufer, Berlin
07/2006 -Jahresausstellung - Kunsthochschule Weissensee, Berlin
04/2008 - ,Plauener Spitze' , Kunsthochschule Weissensee, EinzelaussteUung,
Berlin
06-07/2004 - ,leerstelle' - Sommerakademie Kastanienalle, Gruppenausstellung,
Berlin
09/2005 - ,daheim' - Kastanienalle/Oderberger, Gruppenausstellung, Berlin
10/2008 - 5. Berliner Kunstsalon, Kunstmesse, Berlin
Contact;
aots 1 24(a^hotmail.de
201
UNIVERSITY OF CALIFORNIA-LOS ANGELES
L 009 981 411 3
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Amerikanisierung? Enfwicklungslinien der wesfdeufschen Kulfur 1 945- 1 96Cy'-
(2007) i
-- EIke Montanari on Konrad Ehlichs Sprache und sprachliches Handein'-'
Band 1-3 (2007) I
:,^ - Nils Bernstein on Ulrike PreuBers Aufbruch aus dem beschddigfenil
^.;| Leben. Die Verwendung von Phraseologismen im liferarischen Text arvi]
M 6e;sp/e/ von Arno Schm/dfs Nobodaddy's Kinder (2007) j
Cover Art by Matthias Kebelmann