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Verlag von Karl J. Trübner In Strassburg.
Behaghel, 0., Geschichte der deutschen Sprache. Mit einer
Karte. Der 2. Auflage 2. Abdruck. Lex. 80. IV, 131 S. 1902.
Geh. Ji 4.—, g-eb. Ji 5.—
Bremer, Otto, Ethnographie d e r g e r m a n i s c h e n Stämme. Mit
6 Karten. 2. Abdruck. Lex. 8^. XII, 216 S. 1904. Geh. c^ 6.-, geb. Ji 7.—
Brug'manu, Karl, Kurze vergleichende Grammatik der indo-
germanischen Sprachen. Auf Grund des fünf bändigen Grund-
risses der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen
von K.Brugmannu.B. Delbrück verfasst. Gr. 8^. XXII, 774 S. 1904.
Geh. <^ 18. — , geb. in Leinwand ^ 19.50, in Halbfranz c^ 21. —
Auch in 3 Lieferungen zu Jt 7.—, 7. — , 4.— , bezw. in Lein-
wandbänden zu Ji 8. — , 8. — , 5. — , zu haben.
Grundriss der germanischen Philologie unter Mitwirkung von K. von
Äniira, W. Arndt, O. Behaghel etc. Herausgegeben von Hermann
Paul. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage.
I. Band (vollständig). Lex. 8«. XVI, 1621 S. mit 1 Tafel und 3
Karten. 1901. Geh. c^ 25.—, in Halbfranz geb. ^ 28.—
IL Band, I. Abteilung, 1.— 3. Lieferung ä ^^ 4.—, 4. Lieferung
c^ 2,50; IL Abteilung: Metrik. Lex. 8». 259 S. 1905. Geh.c^4.— ,
in Halbfranz geb. J^ 6. —
III. Band (vollständig). Lex. 8«. XVII, 995 S. Mit 6 Karten. 1900.
Geh. JC 16.—, in Halbfranz geb. ^ 18.50
Grundriss der romanischen Philologie unter Mitwirkung v. G. Baist,
Th. Braga, H. Bresslau etc. Herausgegeben von Gustav G rö b e r.
I. Band, 2. verbesserte u. vermehrte Auflage. Mit4 Tafeln u. 13Karten.
Lex. 80. XVI, 1093 S. 1904-1906. Geh. JI 17.50, geb. Ji 20.—
ILBand, I.Abteil. Lex. 8«. VIII, 1286 S. 1902. Geh.=^ 20.— , geb. ^23.—
IL Band, 2. Abteil. Lex. 8^. VIII, 496 S. 1897. Geh. c^ 8.-, geb. Ji 10.—
ILBand, 3. Abteil. Lex. 8^. VIII, 603S. 1901. Geh.e^lO.-, geb.^12.—
Hoops, Johannes, Wald bäume und Kulturpflanzen im Ger-
manischen Altertum. Mit 8 Abbildungen im Text u. 1 Tafel. 8 o.
XVI, 689 S. 1905. Geh. Ji 16.-, geb. Ji 17.50
^(ugc, f^ricbric^, (Stl)mologi[d)eö Söörtcrbud) ber beutfcfien
'Spra3)e. 6. berbeffette unb bcrmei^rte Slufloge. 2. Slßbtucf. Öej:. 8<^.
XXVI, 510 ©. 1905. (25e^. Ji 8.—, geb. Ji 10.—
— — Vorgeschichte der altgermanischenDialekte. Miteinem
Anhang: Geschichte der gotischen Sprache. Der 2. verbess. Auflage
2. Abdruck. XI und (L Band) S. 323-517 und 10 S. Register. 1906.
Geh. Ji 4.50, geb. Ji 5.50
— — Geschichte der englischen Sprache. Mit Beiträgen von
D. Behrens und E. Einenkel. 2. verbesserte u. vermehrte Aufl. 2, Abdr.
Mit einer Karte. Lex. 8». IV, 237 S. 1904. Geh. Ji 5.50, geb. Ji 6.50
3Son Sut^er h\§> Seffing. ^pra(^gefcE)ic^t(ic^e ^uffä^e. 4. 5luf(.
80. X, 253 ®. mit einem ^ärtc^en. 1904. ®e^. Ji^.—, geb. Jif).—
9ftotix)elfdi. Ouetlen u. 2öort[c^a^ ber ©aunerfpradje u. ber ber=
tDanbten ®e{)eimfpracf)en. I. 9Rotft)elf(i)e§ Cluellen&ud). ®r. 8^. XVI,
495 ®. 1901. Ji 14.—
and Fred. Lutz, English Etymolog y. A select Glossary
serving as an Introduction to the History of the English Language.
80. VIII, 234 S. 1898. Geh. Ji 4.—, in Leinw. geb. Ji 4.50
^citft^rift für bcutft^c SSßortforfd^ung, tierauggeg. bon grtebric^ 5^luge.
33anb 1—7 unb ©rgänsungS^efte 5U 53anb 3 unb 6. 1901—1906. ^rei§
be§ ^anbe§ o^ne @rgän5ung§f)eft get). Ji 10.—, in |)al6fr. geB. Ji 12.50
Sabcuborf, OiU, |)iftortfc^e§ (^cfjlagmcirteröud). @tn"3$erfud). 8^.
XXIV, 365 ©. 1906. ©et). Ji 6.-, geö. Ji 1-
Verlag von Karl J. Trübner in Strassburg.
Koegel, Rudolf, Geschichte der deutschen Literatur bis zum
Ausgange des Mittelalters.
I.Band: Bis zur Mitte des XI. Jahrhunderts. I.Teil: Die stabreimende
Dichtung und die gotische Prosa. 8». XXIII, 343 S. 1894. Jt 10.-
Ergänzungsheft: Die altsächsische Genesis. 8^. X, 71S. 1895. Ji\ 80
2. Teil: Die endreimende Dichtung und die Prosa der althoch-
deutschen Zeit. 80. XX, 652 S. 1897. JC 16.—
Zusammen in einem Band, geb. in Halbfranz <Ji 31.50
— — und Wilhelm Brückner, Geschichte der althoch- und alt-
niederdeutschen Literatur. 2. verbesserte und vermehrte Aufl.
Lex. 80. IV, 132 S. 1901. Geh. Ji 3,—, in Leinw. geb. Jt 4.—
Meyer, Elard Hugo, Mythologie der Germanen. Gemeinfasslich
dargestellt. 8^. XII, 526 S. 1903. Mit einer Deckenzeiclmung von Prof.
Wilh. Trübner. Geh. ^4t 8.50, in Leinw. od. in Halbperg. geb. c^ 10.—
2)eutfrf)e ^olfSfunbe. äRit 17 5ia6ilbungen unb einer ^arte.
80. VIII, 362 @. 1898. @ef). Ji 6.—, in Öeinit). geb. ^ 6.50
— — S3abtfc^e§ 3Sol!§leßen im neunäet)nten ^af)rf)unbert. 80.
IX, 628 ©. 1900. ®e^. Ji 12.—, in Seiniü. gefi. Ji 13.—
Minor, Dr. J., Neuhochdeutsche Metrik. Ein Handbuch. 2. um-
gearb. Aufl. 8«. XIV, 537 S. 1902. Geh. c^ 10.— , in Leinw. geb. Ji 11.—
Mogk, Eugen, Germanische Mythologie. 2. verbesserte Auflage.
Lex. 80. VI, 177 S. 1898. Geh. Ji 4.50, in Leinw. geb. c^5.50
— — Geschichte der norwegisch-isländischen Literatur.
2. verb. Aufl. Lex. 80. VIII, 386 S. 1903. Geh. ^9.—, geb. «^ 10.—
Müller, Sophus, Nordische Altertumskunde nach Funden und
Denkmälern aus Dänemark und Schleswig gemeinfasslich dargestellt.
Deutsche Ausg. unter Mitw. des Verf. besorgt von Dr. 0. L. Jiriczek.
I. Band: Steinzeit— Bronzezeit. Mit 253 Abb. im Text, 2 Tat", und
1 Karte. 8 0. XII, 472 S. 1897. Geh. Ji 10.— in Leinw. geb. Ji IL—
IL Band: Eisenzeit. Mit 189 Abbildungen im Text und 2 Tafeln.
80. VI, 324 S. 1898. Geh. Ji l.~~, in Leinw. geb. Ji 8.—
— — Urgeschichte Europas. Grundzüge einer prähistorischen
Archaeologie. Deutsche Ausgabe unter Mitwirkung des Verfassers be-
sorgt von Otto Luitpold Jiriczek. Mit 3 Taf. in Farbendr. u. 160
Abb. im Text. 80. VIII, 204 S. 1905. Geh. Ji^.-, geh.Jil.—
Schrader, Otto, Reallexikon der indogermanischen Alter-
tumskunde. Grundzüge einer Kultur- u. Völkergeschichte Alt-
europas. Lex. 80. XL, 1048 S. 1901. Geh. ^ 27.—, in Hfr. geb. c^ 30.—
Syinons, B., Germanische Heldensage. 2. verbesserte Auflage.
Lex. 80. VI, 133 S. 1898. Geh. Ji 3.50, in Leinw. geb. Ji 4.50
Yogt, Friedrich, Geschichte der mittelhochdeutschen Litera-
tur. 2. verb. Aufl. 2. Abdr. Lex. 80. IV, 202 S. 1906.
Geh. Ji 4.50, geb. Ji 5.50
Wilmanns, W., DeutscheGrammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neu-
hochdeutsch.
I. Abteilung: Lautlehre. 2. verbesserte Aufl. Gr. 80. XVI, 425 S. ]897.
Geh. Ji 8.—, in Halbfranz geb. Ji 10.—
IL Abteilung: Wortbildung. 2. Auflage. Gr. 8«. XVI, 671 S. 1899.
Geh. ^ 12.50, in Halbfranz geb. ^ 15.—
IIL Abteilung: Flexion, I.Hälfte: Verbum. 1. u. 2. Aufl. Gr. 80.
X, 315 S. 1906. Geh. Ji 6.—
Winkel, Jan, te, Geschichte der niederländischen Sprache. 2.
verbesserte u. verm. Aufl. Mit 1 Karte. Lex. 80. IV, 152 S. 1898. ^ 5.—
— — Geschichte der niederländischen Literatur. 2. ver-
bess. u. verm. Aufl. Lex. 80. IV, 102 S. 1902. Geh. JC 2.50, geb. .A 3.50
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DEUTSCHE GRAMMATIK
III. ABTEILUNG: I. HÄLFTE.
DEUTSCHE GRAMMATIK
GOTISCH, ALT-, MITTEL- UND NEUHOCHDEUTSCH
VON
W. WILMANNS
O. PROFESSOR DER DEUTSCHEN SPRACHE UND LITERATUR
AN DER UNIVERSITÄT BONN.
DRITTE ABTEILUNG: FLEXION.
1. HÄLFTE: VERBUM.
ERSTE UND ZWEITE AUFLAGE.
STRASSBURG
VERLAG VON KARL J. TRÜBNER
1906.
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[Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.]
Vorrede.
Später als ich gewünscht und gehofft hatte, erscheint
der dritte Band meiner Grammatik, und mancher mag gezweifelt
haben, ob. ich ihn überhaupt werde erscheinen lassen. An
dem Willen hat es nie gefehlt, aber mancherlei Umstände des
äusseren und inneren Lebens, deren Darlegung ich mir und
dem Leser ersparen will, haben die Arbeit verzögert. Auch
jetzt erscheint nur der erste Teil des Bandes; doch darf ich
hoffen, dass der zweite, die Flexion des Nomens, in nicht zu
langer Zeit nachfolgen werde.
Wie in der Wortbildung, so habe ich es auch hier als
meine Aufgabe angesehen, nicht nur die Geschichte der Formen
sondern auch ihres Gebrauchs zu verfolgen, also einen Teil
dessen zu behandeln, was gewöhnlich der Syntax zugewiesen
wird. Dass dies zweckmässig ist, wird, wie ich hoffe, deutlich
hervortreten, wenn ich zur Behandlung der Syntax komme.
In den Literaturangaben bin ich nicht gleichmässig ver-
fahren. Zu den einzelnen Paragraphen der Formenlehre auf
die bekannten Hand- und Lehrbücher zu verweisen, erschien
mir überflüssig. Da für diesen Teil der Grammatik ein fest
begründetes, leicht übersichtliches System besteht, so wird
jeder, der über einzelnes weitere Belehrung sucht, sie ohne
Mühe zu finden wissen. Dagegen hielt ich in dem Teil, der
von dem Gebrauch der Formen handelt, regelmässige Ver-
weisungen für erwünscht. Die Bücher, die ich oft nur mit
Abkürzungen angeführt habe, sind die folgenden.
Behaghel, Der Gebrauch der Zeitformen im konjunktivischen
Nebensatz des Deutschen. Paderborn 1899.
El atz. Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der
historischen Entwickelung der deutschen Sprache. 2 Bde. 3. Aufl.
Karlsruhe 1895. 1896.
Bernhardt, Kurzgefasste gotische Grammatik. Hallea. S. 1885,
VI Vorrede.
Delbrück, Vergleichende Syntax der indogernianischcn
Sprachen [= Grundriss der vergleichenden Grammatik von K. Brug-
mann und B. Delbrück. Bd. 3—5]. Strassburg 1893-1900.
Erdmann, Grundzüge der deutschen Syntax nach ihrer ge-
schichtlichen Entwickelung. Stuttgart 1886.
Er d mann, Untersuchungen über die Syntax der Sprache
Otfrieds. Halle 1874. 1876 [OS.].
Mourek, Syntaxis slozenych vet v gotstine. [Syntax des
zusammengesetzten Satzes im Gotischen. Abh. der böhmischen
Kaiser Franz-Joseph-Akademie in Prag.] 1893.
Wunderlich, Der deutsche Satzbau. 2. Aufl. Stuttgart 1901.
Bonn, den 20. IMai 1906.
W. Wilmanns.
Inhalt.
Flexion des Verbums.
Vorbemerkung §1 S. 1. ßezeichnungder Person §2 S. 4. Die
Endungen des Aktivs § 3 S. 5; des Medio-Passivs § 4 S. 8. Die
gotischen Formen auf au § 5 S. 9. — Bezeiclinung des Modus.
Optativ. Imperativ. (Konjunktiv.) §6 S. 10. — Die Nominal-
formen des Verb ums. Infinitiv § 7. S. 12. Partizipia § 8 S. 13. —
Die Vorsilbe ga- § 9 S. 15. — Einteilung der Konjugation
§ 10 S. 18.
Starke Konjugation.
Thematische Verba. Tempusstämme. Präsens § 11 S. 19.
Perfektum § 12 S. 21. Augmenttempora § 13 S. 23. — Ablaut § 14
S. 24. — 1. Verba mit voll entwickeltem Ablaut. Ablaut-
reihen § 15 S. 25. Der e-Typus § 16 S. 26. Einfluss anl. Konso-
nanten auf den Ablaut § 17 S. 27. Tiefstufige Präsentia § 18
S. 28. Die 2 Sg. Prät im Westgermanischen § 19 S. 31. — 2. Verba
mit schwächer entwickeltem Ablaut. Ablautreihen § 20
S. 32. Beseitigung der Reduplikation § 21 S. 35. Ahd. Präterita
mit inl. r § 22 S. 38. — Spaltung und Umgestaltung der
Ablautreihen. Lautgesetzliche Änderungen § 23 S. 39. Form-
übertragungen in der älteren Sprache § 24 S. 41; im Nhd. Präte-
ritum § 25 S. 42; im Präsens §26 S. 45. Ausgleich konsonan-
tischer Verschiedenheiten. (Grammatischer Wechsel § 27 S. 46.) —
Die Flexionsendungen der thematischen Verba. Präsens
S. 28 S. 48. Präteritum § 29 S. 52. Die Nominalformen § 30 S. 54. -
Jüngere Entwickelung § 31 S. 54.
Athematische Verba (Verba auf -mi). Das Verbum sub-
stantivum §32. S. 56. tuon und die Endungen des schwachen
Präteritums §33,34 S. 59. stä7i und gän §35 S. 63. wiljan,
wollen § 36 S. 67. iddja {hiri) § 37 S. 69.
Schwache Konjugation.
Die charakteristischen Formen der schwachen Verba. Präteritum
§38 S. 70 Partizipium § 39 S. 72. Erste schwache Konju-
gation. Präsens § 40 S. 74. Mittelvokal im Prät. § 41 S. 77; im
Part. § 42 S. 80. Rückumlaut § 43 S. 81. — Jüngere Entwickelung
§ 44 S. 82. Berührung zwischen starker und schwacher Konjugation
VIII Inhalt.
§ 45 S. 83. — Zweite schwache Konjugation § 46 S. 84. —
Dritte schwache Konjugation. Präsens § 47 S. 87. Präte-
ritum und Partizipium §48 S. 89. — Vierte schwache Kon-
jugation §49 S. 90. — Jüngere Formen der schwachen Verba
§ 50 S. 91.
Präterito-Präsentia.
Ursprung § 51 S. 92. Flexion des Präsens § 52 S. 94. Jüngere
Entwickelung § 53 S. 95. Imperativ und Nominalformen § 54 S. 97.
Präteritum und Part. Prät. § 55 S. 99.
Gebrauch der Verbalformen.
Die Nominalformen des Verbums. Die Partizipia §56 S. 101.
Tempus des Part. § 57 S. 102. Genus und Subjekt des Part. § 58
S. 104. Part. Prät. die sich zu adjektivischem Gebrauch nicht
eignen § 59 S. 106. Syntaktische Verbindungen der Partizipia
§60 S. 108. Konkurrenz des Infinitivs §61 S. 109. — Der In-
finitiv. Vorbemerkung §62 S. 113. Der blosse Infinitiv.
Das Subjekt des Inf. ist Subjekt des regierenden Satzes § 63
S. 114; ein abhängiger Dativ § 64 S. 117; ein abhängiger Akku-
sativ § 65 S. 118. Akkusativ cum Infinitiv § 66, 67 S. 120. Das
Subjekt des Infinitivs ist nicht ausgedrückt § 68 S. 122. Der sub-
stantivierte Infinitiv §69 S. 123. — Der präpositionale In-
finitiv. Der Infinitiv mit zu § 70 S. 125; mit anderen Präpo-
sitionen § 71 S. 129. — Konkurrenz von Nebensätzen § 72 S. 131.
Partizipium und Infinitiv in zusammengesetzten Verbal-
formen. — Part. Präteriti in Passivformen. Vorbemerkung*
§ 73 S. 134. werde7i c. Part. § 74 S. 136. sein c. Part. § 75 S. 138.
Doppelt zusammengesetzte Passivformen § 76 S. 141. — Zu-
sammengesetzte Formen der Vergangenheit, sein c.
Part. § 77 S. 142. haben c. Part. § 78 S. 144. sein und haben bei
intransitiven Verben § 79 S. 147. Verba der Bewegung § 80, 81
S. 148. Verba des Werdens § 82 S. 152. sitzen, liegen, stehen,
bleiben, sein § 83 S. 154. RückbHck § 84 S. 158. — sein im Aktiv
transitiver Verba § 85 S. 159. — Infinitiv statt des Part. Prät.
§ 86 S. 161. — Zusammengesetzte Infinitive. Infinitiv Passivi
§ 87 S. 163. Aktiver Inf. in passiver Bedeutung § 88 S. 165. —
Inf. Perf. Akt. §89 S. 168. — Part. Präsentis in zusammen-
gesetzten Verbalformen § 90 S. 171. — Infinitiv in zusammen-
gesetzten Verbalformen. Bezeichnung des Futurums im Got.
und Ahd. § 91 S. 173. sein und werden mit dem Infinitiv § 92
S. 176. werden mit dem Inf. Perf. (Fut. II) § 93 S. 179.
Gebrauch der Tempora. Vorbemerkung §94 S. 180. Präteri-
tum in allgemein gültigen Sätzen § 95 S. 182. Präsens historicura
Inhalt. IX
§ 96 S. 184. — Präteritum und Perfektum § 97, 98 S. 186. Per-
tektum in Beziehung auf Gegenwart und Zukunft § 99 S. 191. —
Plusquamperfektum § 100 S. 193. ~ Futurum und Fut. II § 101
S. 195. — Das Tempus des irrealen Opt. Prät. § 102 S. 196. —
Tempus gebrauch in indirekten Sätzen; nach einem Prä-
sens und Präteritum § 103 S. 199; nach einem Perfektum und
aoristischen Präsens § 104 S. 202. Bezeichnung des relativen
Zeitverhältnisses § 105 S. 203. Konsekutio Temporum § 106
S. 205. - Vorsilbe ge- § 107, 108 S. 210.
Gebrauch der Modi. Indikativ § 109 S. 216.
Die subjektiven Modi im Hauptsatz. Imperativ und
Opt. Präs. als Voluntativ § 110 S. 219. Verba ohne Imperativ
§ 111 S. 222. Umschreibungen des Imperativs § 112 S. 223. —
Der Optativ Präsentis als Dubitativ, Deliberativ, Potentialis
§ 113 S. 225. — Der Optativ Präteriti als Irrealis in Aussage-
sätzen § 114 S. 227; in Wunschsätzen § 115 S. 230; als Deliberativ
§ 116 S. 232.
Die Modi im Nebensatz. Vorbemerkung § 117 S. 235. Der
Imperativ§ 118 S. 236. — Der Optativ in indirekten Sätzen.
Vorbemerkung § 119 S. 237. Indirekte Aussagesätze im Optativ
§ 120, 121 S. 238; im Indikativ § 122 S. 241. Indirekte Fragesätze.
Ergänzungsfragen im Optativ § 123 S. 245; im Indikativ § 124
S. 247. Jüngere Entwickelung § 125 S. 248. Entscheidungsfragen
§126 S. 249. — Opt. in Absichts- und Forderungssätzen
§ 127—129 S. 251. Jüngere Entwickelung. Umschreibungen § 130
S. 156. (Die Negation in Sätzen, die von Verben mit prohibitiver
Bedeutung abhängen § 131 S. 258.) — Opt. in konzessiven
Nebensätzen §132 S. 260. — Opt. in Relativsätzen nach
al und nach Superlativen §133 S. 263.
Der Optativ Präteriti als Irrealis in Bedingungssätzen
§ 134 S. 264; in anderen Sätzen § 135 S. 266.
Der Optativ in vergleichenden Nebensätzen; nach
einem Komparativ § 136 S. 268; nach g. faurpizei, ahd. er etc.
§ 137 S. 271; nach zu — ah dass § 138 S. 273; nach als oh § 139
S, 273. — Der Optativ unter dem Einfluss einer Negation
im Hauptsatz. Der abhängige Satz ist positiv § 140 S. 274;
negativ § 141 S. 278. (Gebrauch der Negation im abh. Satz
§ 142 S. 282.) Exzipierende Sätze § 143 S. 284.
Der Potentiale Optativ in Nebensätzen, die gewöhn-
lich im Indikativ stehen. Der Hauptsatz steht im Indikativ
§ 144 S. 287; im Imperativ oder Optativ § 145—147 S. 290; im
Irrealis § 148 S. 296.
Moduswechsel in koordinierten Sätzen § 149 S. 298.
Gebrauch des Passivs. Beschränkter Gebrauch der Passivformen
X Inhalt. — Berichtiffunffen.
ö'
§ 150 S. 302. Subjekt des Passivs § 151 S. 304. Konkurrenzen
§ 152 S. 305.
Gebrauch des Numerus. Kongruenz von Subjekt und Prädikat
§ 153 S. 305. Bezeichnung einer einzelnen Person durch den
Plural § 154 S. 310.
Gebrauch der Personalformen §155 S. 313.
Berichtigungen.
S. 49 Z. 14 1. 2. -ats statt 2. 3. -ats. — S. 53 Z. 6 1. 2. -uts st. 2. 3. -uts-,
(vgl. S. 7 und S. 305). — S. 75 Z. 4 von unten 1. Anz. 17, 65 st.
Anz. 17, 61.
Flexion des Verbums.
11. 1. In. allen indogermanischen Sprachen treten uns mehr
oder ^weniger entwickelte Konjiigationssysteme entgegen^ in
denen Person und Numerus, Tempus, Modus und Genus unter-
schieden werden. Eine lange Zeit muss erforderlich gewesen
sein, diese reich gegliederten Systeme auszubilden; die Fülle
von Sprachformen, die wir in den fertigen Sprachen vorfinden,
können nicht durch einen Schöpfungsakt ins Leben getreten
sein, und erst allmählich können sich die mannigfachen Formen
zu den Systemen zusammengeschoben haben, die wir jetzt
als Konjugationen bezeichnen.
2. Bei der Frage, wie weit das System schon in der
indogermanischen Ursprache ausgebildet war, ist zweierlei zu
unterscheiden: 1. welche Formen waren bereits im Idg. vor-
handen, und 2. wie verhielten sich diese Formen hinsichtlich
der Bedeutung. Man muss sich hüten, die Bedeutung, die wir
jetzt mit den Formen verbinden, als ihre ursprüngliche anzu-
sehen. Als etwas für das Verbum besonders charakteristisches
erscheint uns jetzt die Möglichkeit, durch seine Formen ver-
schiedene Zeitstufen zu bezeichnen — Zeitwort pflegen wir
es in unserer Sprache zu nennen — aber viele der Formen,
die späterhin zur Tempusunterscheidung dienen, hatten ur-
sprünglich einen ganz anderen Sinn ; sie dienten zur Bezeich-
nung der Aktionsart. Man bildete und brauchte andere
Formen, wenn man sich die Handlung in ihrem Verlauf vor-
stellte (imperfektive oder kursive Aktionsart), andere, wenn
man einen einzelnen Punkt, sei es den Ausgangs- oder End-
punkt der Handlung ins Auge fasste (perfektive oder termi-
native A.), wieder andere, wxnn die Handlung aus wiederholten
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik III. 1
Flexion des Verbums. [§ 1.
gleichen Akten bestand (iterative A.) ^). In den Flexions-
systemen mancher Sprachen haben sich solche Unterschiede
erhalten, in anderen sind sie untergegangen oder umgedeutet.
In dem Flexionssystem der germanischen Sprachen finden sie
keinen Ausdruck mehr. Wo wir einen Unterschied zwischen
verschiedenen Aktionsarten empfinden, liegt er im Verbum
selbst, nicht in der Flexion (§ 9. 82).
[o. Ein gleichmässig über alle Verba verbreitetes Flexions-
system gab und gibt es nicht. Je nach der Bedeutung der
Wurzel waren diese oder jene Formen gebildet. Bedeutungs-
entwickelung konnte dahin führen, dass gewisse Formen die
Funktion anderer übernahmen, so dass diese abstarben und
die Zahl der Formen vermindert wurde; sie konnte ander-
seits dazu führen, dass Formen, die ursprünglich nur für ge-
wisse Verba galten, oder nur von gewissen Stammformen ge-
bildet waren, auf andere übertragen wurden und sich neben
den älteren Bildungen festsetzten ; dann wurde das Flexions-
system erweitert; sie konnte endlich zur Vereinigung ver-
schiedener Wurzeln zu einem Paradigma führen, wie dies noch
jetzt bei unserem Verbum subst. der Fall ist.
<^4. Das Germanische hat von dem ererbten Formenreichtum
vieles fallen lassen; welche Bedeutung und Verbreitung aber
die Formen zu der Zeit hatten, da sie aufgegeben wurden,
und wie sich die überlebenden Formen in ihrer Bedeutung
zu ihnen verhielten, das ist eine Frage, die noch ungelöst ist
und nur auf dem Boden der vergleichenden Sprachforschung
behandelt werden kann^).
5. Unsere jetzige Sprache unterscheidet drei Personen,
zwei Numeri, zwei Tempora, drei Modi. Ebenso war im
wesentlichen schon das germanische Konjugationssystem ge-
gliedert; nur das Gotische bewahrt noch Eeste einer selb-
1) Über das Verhältnis von 'Aktionsart und Zeitstufe' im
aligemeinen handelt Her big, IF. 6, 157—268. Gegen seine Aus-
führungen richtet sich Meltzer, zur Lehre von den Aktionen, bes.
im Griechischen, IF. 17, 186—277. Zusammenfassend D elbr. 4, 14 f ,
dazu Streitberg'S Kritik in IF. Anz. 11, 57 f.
2) Vgl. den anregenden Aufsatz von Hirt, Über den Ursprung
der Verbalflexion im Indogermanischen. IF. 17, 36 — 84.
§ 1.] Flexion des Verbums. 3
ständigen Dualbildimg- und spärliche Überbleibsel eines Medio-
Passiys. Andere Formen, wie der Konjunktiv, die Augment-
Tempora und zwei mit s gebildete Tempora (Fut. und Aor.),
waren schon im ürgermanischen aufgegeben oder auf geringe
Reste eingeschränkt (§ 6 Anni. § 8 Anm. 3. § 13. 19.).
/6. Nicht alle Beziehungen, die wir in den Verbalformen
wahrnehmen, hat die Sprache durch besondere Elemente aus-
gedrückt. Die Suffixe, welche die Person bezeichnen, unter-
scheiden zugleich Numerus und Genus; nur der Bildung der
Modi und Tempora dienen noch andere Elemente ; doch werden
auch diese zum Teil schon durch die Personaleuduugen unter-
schieden. — <Die Personalendungen stehen stets an letzter
Stelle und geben dem Verbum sein eigentümliches Gepräge:
sie charakterisieren es in seiner wesentlichsten Funktion, als
Mittelpunkt des Prädikats (Verb, finitum). Die Elemente, die
den Modus bezeichnen, gehen der Personalendung voran. Die
Tempusunterscheidung wird auf mannigfache Weise gewonnen;
auf der Art ihrer Bildung beruht in erster Linie die Einteilung
der Verba in verschiedene Konjugationen. — Zu den Verbal-
formen ri^chnet man auch gewisse Nominalbildungen substan-
tivischer und adjektivischer Natur (Infinitiv und Partizipium).
Als Glieder des Konjugationssystems erscheinen sie teils da-
durch, dass sie von allen Verben oder von allen Verben einer be-
stimmten Art gebildet werden, teils dadurch, dass sie sich von den
übrigen Nominibus in ihrem syntaktischen Gebrauch unterscheiden.
(Y Wir betrachten zunächst die Elemente, die allen Verben
gemeinsam sind: die Mittel, durch welche Person und Modus
bezeichnet werden; dann die Suffixe der Nominalformen und lassen
darauf die Behandlung der verschiedenen Konjugationen folgen.
8. Personal- und Modus Suffixe bilden einen wesentlichen
Bestandteil der Flexionsendungen, sind aber damit nicht
identisch. Die Flexionsendungen beruhen vielfach auf einer
Verschmelzung jener Suffixe mit Bestandteilen des Stammes;
sie können nur im Anschluss an die einzelnen Konjugationen
behandelt werden. Hier kommt es auf die Personal- und
Modussuffixe an sich an, wie sie die Vergleichung der ver-
wandten Sprachen kennen lehrt.
4 Bezeichnung der Person. [§ 2.
Bezeichnung der Person^).
< 2. 1. Personalsuffixe bilden in den meisten Verbalformen
den letzten etymologisch abtrennbaren Bestandteil. Der blosse
Stamm zeigt sich nur in der 2 Sg. Imp. idg. "^neme, g. 7iim
und in der 1 Sg. Präs. idg. nemo, g. nima. Zwar unter-
scheiden sich die Endungen auch dieser Formen durch den
Ablaut des auslautenden Vokals, aber dieser Vokal ist keine
Personalendung, sondern gehört dem Stamm an. In diesen
beiden Formen liegen also möglichst einfache und gewiss ur-
alte Bildungen vor. Doch darf man daraus nicht schliessen,
dass man zuerst das Bedürfnis gefühlt habe, für die 1 Sg.
Präs. und 2 Sg. Imp. besondere Formen auszuprägen. Die
bestimmte Bedeutung, die diese Formen jetzt haben, erwuchs
ihnen erst durch die Bildung anderer Verbalformen. Nach-
dem in diesen die persönliche Beziehung durch besondere
Suffixe bezeichnet war, blieb die einfache Stammform für die
Fälle übrig, wo das Bedürfnis die persönliche Beziehung aus-
zudrücken am geringsten war: wenn der Redende von sich
selbst etwas aussagte, oder wenn er von dem Angeredeten
etwas forderte^).
\^. In den Formen, die Personalendungen haben, wird
dieselbe Person nicht immer durch dasselbe Suffix bezeichnet.
So weit die Endungen verwandt sind, zeigen sie bald eine
vollere, bald eine schwächere Gestalt; jene pflegt man als
primär, diese als sekundär zu bezeichnen; ob aber, wie
der Name andeutet, die sekundären Endungen aus den pri-
mären entstanden sind, dadurch dass das Verbum enklitisch
oder konjunkt stand, oder umgekehrt die primären aus den
sekundären, dadurch dass Partikeln angehängt wurden, ist
zweifelhaft'^). In den historischen Sprachen erschienen die
1) Brgm. 2, 1330 t Bethge S. 379 f.
2) Hirt (IF. 17, 50. 77 f.) rechnet für die 1 Sg. Präs. mit der
^Möglichkeit, dass sie ursprünglich auf -öm ausging, also ein Suffix
hatte. Und weiter wirft er die Frage auf, ob nicht in der 1 Sg.
und 3 Sg. Perf. auf idg. a, e endungslose Bildungen zu sehen seien.
Ablaut S. 155. IF. 17, 66.
3) Delbr. 4, 354. Hirt IF. 17, 74.
§ 3.] Die Endungen des Aktivs. 5
verschiedenen Endungen jedenfalls in fester Verbindung mit
gewissen Tempus- und Modusformen, so dass sie zu Mitteln
der Tempus- und Modusuntersclieidung* geworden" sind. Primäre
Endungen kamen dem Ind. Präs. zn, sekundäre dem Injunktiv
(§ 6, 2)j den Augmenttempora und dem Optativ. Der Ind.
Perf. hat im Dual und Plural sekundäre Endungen^ im Singular
eigentümliche, abweichend gebildete. Sehr eigentümliche En-
dungen, die zum Teil wesentlich anderen Ursprungs sind als
die übrigen Personalendungen, treten auch im Imperativ auf
(Brgm. II, 1330 f. 1315 f.).
/3. In den germanischen Sprachen erscheinen die Endungen
von Anfang an stark verstümmelt. Schon im Gotischen ist
von den ursprünglich auslautenden Konsonanten nur s erhalten;
verschwunden sind auch die ursprünglich auslautenden kurzen
Vokale (I § 149. 256). Wo wir also im Gotischen kurze
Vokale am Ende finden, können sie nicht ursprünglich sein,
und wo die Konsonanten p, d, m das Wort schliessen, muss
ihnen ursprünglich noch ein anderer Laut gefolgt sein.
[Anm. Manche Personalendungen scheinen auf Verwandtschaft
mit Pronominibus hinzuweisen; vgl. z. B. das m in der 1 Sg. und
PI. mit dem m in den Casus obliquis des persönlichen Pronomens,
das t in der 3. Sg'. und PI. mit dem Anlaut des Demonstrativums,
Aber die alte Ansicht, dass die Verbalformen durch eine Ver-
schmelzung der Verbalstämme mit den persönlichen Pronomen ent-
standen seien, hat sich als unhaltbar erwiesen, und noch weniger
haltbar ist die Anschauung, dass in der Verbindung von Verbal-
stamm und Endung das grammatische Verhältnis von Subjekt und
Prädikat Ausdruck gefunden habe (vgl. Brgm. II, 838 f.)i). Die ur-
sprünghche Bedeutung der Personalendungen ist uns unbekannt.
Dass das Verbalsystem nicht durch einen einheitlichen, auf die Be-
zeichnung der Person gerichteten Schöpfungsakt entstanden ist, er-
gibt sich schon daraus, dass für dieselbe Person verschiedene
Endungen gebraucht werden.
'^ 3. (Die Endungen des Aktivs.) 1 Sg. primär -m?, g. m\
z. B. gr. i-(TTr|-]ui, g. im ich bin, ahd. ö-im, gäm, stäm etc. —
1) Zum Teil sind die Formen des Verbum fin. zweifellos
nominalen Ursprungs. Neuerdings hat Hirt sogar die Hypothese
zu erweisen gesucht, dass das idg. Verbalsystem durchaus nominalen
Ursprungs sei.
Bezeichnung" der Person. [§ 3!
Sekundär -m, g-. — ; z. B. gr. e-qpepo-v, 1. sie-m, g\ tcuäda
(urgerm. ^tawidö-n). — Perf. a, g. — ; z. B. gr. oTba, g. i{;aif.
(2 Sg. primär -si, z. B. gr. ecr-ai. In den germanisclien
Sprachen musste sich je nach der Betonung s oder stimmhaftes
z ergeben. Für die Mehrzahl der Verba wäre, wenn nur die
idg. Betonung (Verners Gesetz) in Betracht kam, z zu erwarten,
und auf diese Form weist allgemein das An. Im Hochdeutschen
dagegen gilt umgekehrt allgemein stimmloses 5, vielleicht unter
dem Einfluss des oft inklinierten Pronomens. Welchen Laut
das Gotische voraussetzt, ist nicht zu erkennen, da im Gotischen
ausl. z wieder zu s verhärtet wurde. Formen mit enklitischem
-u oder -uh, welche die Entscheidung geben würden, fehlen. —
Sekundär s\ z. B. 1. sie-s, gr. e-cpepe-q, g. c<? <i z\ z. B. wileiSj
aber wüeiz-u. Im Hd. musste der Laut abfallen, und dem-
gemäss heisst es wili du willst, auch bäri du trügest (§ 19);
aber im allgemeinen haben die Formen, denen sekundäre
Endung zukommt, unter dem Einfluss der andern, oder auch
des enklitischen Pronomens s behauptet ; also ahd. 2 Sg. Opt.
heres, 2 Sg. Prät. hörtös du hörtest. — Perf. -tha, gr. oTaöa.
Diese Endung musste im Germ, nach /", Ji, s als t erscheinen,
g. parf-t bedarfst, ahd. mah-t kannst, fji-tars-t wagst; mit
dentalem Auslaut ss ergeben, in anderen Fällen zu p ver-
schoben werden; aber t ist verallgemeinert; z. B. g. warnt zu
icalrpan, qasf zu qipan, haust zu biudan, namt zu niman,
1^ Sg. primär -fi, gr. ecr-ii, ebenso, un verschoben nach
dem Lautgesetz, g. ahd. is-t. Sonst musste, je nach der Be-
tonung germ. p oder d eintreten. Das Got. und x\hd., nicht
das Ae., setzen allgemein d voraus; im Got. musste dies d
wieder stimmlos werden, also regelmässig hairip, söleip, aber
daneben auch bairid, taujid (Br. § 74 A. 1); im Hd. trat
Verschiebung zu t ein: birit, suochit. — Sekundär -t,
germ. — ; z. B. 1. sie-t, era-t, g. will er will, ahd. si er sei. —
Perf. -e, germ. — ; z. B. gr. oibe, g. wait.
lAnm. Die auffallende Erscheinung, dass im Hd. in der 2.
PersorT der stimmlose, in der 3. der stimmhafte Spirant zu all-
gemeiner Geltung gekommen ist, stützt die Annahme, dass der
Laut der 2. Pers. unter der Einwirkung des enkl. Pron. steht.
i? 3.] Die Eiidung-eu des Aktivs.
^1 Dil. Primär -iieSj -tios, ai. hJidrä-vas = g*. hairös
<C %erö-ues mit laiitgesetzlicher Unterdrückung' des kurzen
Vokales und Schwund des u im Langdiphthongen (vgl. Streit
berg §211). — Sekundär -ue. Diese Form ist im Got. nur
durch magit < majuue belegt; ob tt lang oder kurz ist, ist
nicht zu entscheiden. Eine Endung mit gedehntem Vokal,
-ue oder -uö setzt die 1 PL Opt. voraus, g. sitai-wa.
^2 Du. Primär -thes oder -thas, ak, hhdra-thas. Im
Germ, sollte man für idg. th p oder d, im Got. also als Endung
'ps erwarten, es lieisst aber -ts : nimats'^ Erklärung unsicher
(Streitberg § 211). — Sekundär -tom, gr. e-cpepe-iov. Diese
Endung hat man, doch schwerlich mit Eecht, in der hd. 2 PI.
Präs. (§ 28, 5) vermutet, als Dualendung ist sie im Germ, nicht
nachweisbar. Die Formen, in denen man sie erwarten sollte,
die 2 Du. Opt. und Perf. zeigen im Gotischen die primäre
Endung ts: 7iimai-ts, nemu-ts.
<{l PL Für die idg. Ursprache sind verschiedene Suffixe
vorauszusetzen: primär -mes, -mos (dor. qpepo-juec;, lat. feri-
mus), sekundär -men, -me (gr. e-qpepo-iuev, ai. d-hharä-ma).
Die gotische Indikativendung -m (bairam, herum) lässt sich
sowohl auf die primären als auf die sekundären Endungen
zurückführen, auf jene durch Unterdrückung des kurzen Vokals
und Assimilation von ms wie im Dativ Plur., auf diese durch
Schwund des auslautenden Konsonanten und Vokales. Auf
sekundäres -me mit gedehntem Vokal weist der Opt., g. hairai-
ma, herei-TYia.
Eine abweichende Bildung ist ahd. -mes. Dass diese
Endung nicht auf das primäre Suffix -mes zurückgeführt
werden kann, zeigt sowohl der lange Vokal als das ausl. .s.
Eine sichere Erklärung ist noch nicht gefunden. Wenn die
Form altes idg. Erbteil ist, so wäre als ursprüng'liche Endung -niesi
vorauszusetzen, und diese hätte ihre nächsten Verwandten in ai.
-masi und air. -mi. Das ai. -masi unterscheidet sich von der hoch-
deutschen Form durch die Quantität, das air. -mi lässt sich so-
wohl auf -mesi als auf -me.si zurückführen (Brgm. 2, 1354), könnte
also genau dieselbe Endung voraussetzen wie das Hochdeutsche.
Dass aber von allen germanischen Sprachen nur das Ahd. diese
mit dem Keltischen übereinstimmende Endung bewahrt haben sollte,
8 Bezeichnung der Person. [§ 4.
wäre doch sehr auffallend. Daher versuchte schon A. Kuhn in
seiner Zeitschrift 18, 832 f. die Form als eine junge hd. Bildung-
zu erklären, die durch Verschmelzung des Pron. pers. mit dem
Verbum entstanden sei. Doch ist auch diese Erklärung, die Paul
(PBb. 4, 421) anerkannte und neuerdings Hirt (IF. 17, 73) wieder
aufgenommen hat, sehr bedenklich und durch ähnliche Vorgänge in
jungen Mundarten (bair. tnw genirae, gemme mir = wir geben wir,
geben wir wir) nicht genügend gestützt.
r^ PI. Primär -the, sekundär -te. Ob der Unterschied
wirklich galt (Hirt IF. 17^ 69 f.) ist für uns gleichgültig. Für
das Germanische ist wie für die andern europäischen Sprachen
-te als ursprüngliche Endung vorauszusetzen ; vgl. gr. e-cpepe-re,
cpepoi-xe, Imp. cpepe-ie. Je nach der Betonung ergab sich
daraus jb oder d^ aber wie in der 3 Sg. setzen das Got. und
Hd. Verallgemeinerung des d voraus, das im Got. dann im
Auslaut regelrecht als p erscheint, im Hd. zu t verschoben-
ist: g. bairip, bairai-p, bertc-p, berei-p (aber qipi-d-uTiy icairpai-
d-uJi etc.); ahd. bere-t, beret etc.
\3 PI. Primär -nü, z. B. ai. bhdra-nti, dor, cpe'po vti;
daraus im Germanischen je nach der Betonung -np oder -nd.
Wie in der 3 8g. ist d im Got. und Hd., nicht aber im Ae.
As., verallgemeinert: g. baira-nd, ahd. bera-nt. — Nach einem
konsonantisch auslautenden unbetonten Stamm gilt idg. 'e7iti,
germ. -hid : g. s-ind, ahd. s-inf (Brgm. 2, 1369). Die Er-
weichung des Spiranten auch in dieser Form erklärt sich ver-
mutlich aus ihrem enklitischen Gebrauch. — Sekundär -7it,
-nt\ z. B. 1. si-nty fem nt, ferant. Im Germ, erscheint das
Suffix in der 3 PI. Prät. g. beru-n, ahd. bäru-ii. Im got.
Opt. ist es nach Analogie der 1 Du. und PI. zu -na erweitert:
bairai-na, berei-na. Ahd. bere-n^ bäri-n lassen sich sowohl
auf die einfache als auf die verlängerte Form zurückführen.
l4. (Die Endungen des Medio-Passivs.) Die eigentüm-
lichen Formen des Medio-Passivs sind in den germanischen
Sprachen früh untergegangen. Nur im Gotischen werden noch
einige gebildet und nur vom Präsensstamm. Im Perf., das
sich schon im Idg. seltener mit ihnen verband (Delbr. 4, 415),
fehlen sie ganz. Drei Formen kommen noch in Betracht: die
^ 5.] Die gotischen Formen auf au. 9
2 Sg*. lind die 3 Sg. und PI. Ihre Endungen standen zu
den aktiven in regelrechtem Ablautsverhältnis. Die primären
gingen im Medium auf -ai, im Aktiv auf -i aus, die sekundären
im Medium auf o, im Aktiv entbehrten sie des Vokals. Die
primären Endungen -sai, -tai, -ntai (gr. bi-bo-crai, qpepe-ai <<
*q)epe-crai, cpepe-xai, cpepo-viai) sind erhalten im got. Ind. haira-
zn, haira-da, haira-nda\ die sekundären -so, -tOy -nto (gr.
e-bi-bo-cro, qpepoi-o <C "^cpepoi-cro, cpepoi-vxo) sind im got. Opt.
erweitert zu -zauy -dau, -ndau: hairai-zau, hairaidau, hairai-
ndau (§ 5). Die Spiranten sind erweicht wie in der 3 Sg.
und PI. Akt. — Die 3 Sg. dient im Got. zugleich als 1 Sg.,
die 3 PL als 1 und 2 PI. (vgl. IF. 17, 71).
Anm. Vereinzelter Rest einer 1 Sg\ Präs. in an. heite ich
heisse (Sievers PBb. 6, 561 f.). — Über Spuren einer anderen sekun-
dären Endung- in der 2. Sg. (idg. -thes) s. §38,3.
/?.
[5. (Die gotischen Formen auf -au.) Das gotische Verbum
hat sieben auf -rt^t ausgehende Formen: 1 Sg. Opt. Akt. Präs.
und Prät. hairau, herjait\ die Formen des Opt. Med. hairai-
daitj bairaizau, bairaidau; die 3 Sg. und PL Imp. hairadaii
und hairandau. Von den übrigen germanischen Sprachen weist
nur noch das An. in der 1 Sg. Opt. Präs. auf die Endung au.
Eine sichere Erklärung fehlt und auch die jüngsten Unter-
suchungen von van Helten (PBb. 28, 546 f.) und von Walde und
Janko (IF. Anz. 15, 263) haben in diesem Punkte kaum gefördert.
Anm. Die 1 Sg. Opt. erklärte Paul (PBb. 4, 378) durch Kon-
traktion aus *öer<:yz/ ■< idg, hlieroim^ und Kluge (Grdr. P, 448) be-
zeichnet diese Erklärung als die einzig haltbare; abersiegestattet keine
Anwendung auf die andern Formen. — Hirt (IF. 1, 206. 6, 58 f. 7, 179)
nimmt an, dass au in diesen Formen nicht den Diphthongen, sondern
kurzes, offenes o bezeichne; bairau sei eine alte Konjunktivform,
idg. bheräm (g. aü verkürzt aus germ. -öm); die Imperative baira-
cJau, bairandau seien den ai. medialen Imperativen bhdra-täm,
hhära-ntäm gleichzustellen (vgl. Brgm. 2, 1328. 1325 A.). Aber dass
am sich zu au entwickelt habe, ist nicht nachweisbar und für den
Opt. Perf, und Medii fehlen auch die entsprechenden Grundformen. —
Nach einem dritten von Bethge S. 372 angenommenen Erklärungs-
versuch wäre eine Partikel u mit den Verbalformen verschmolzen.
Diese Annahme hat den Vorzugr, dass sie das au in allen Formen
auf gleiche Weise erklärt, auch die Lautentwickelung würde in
10 Bezeichnung- des Modus. [§ G.
den meisten keine Schwierigkeit machen, sowohl die medialen En-
dungen -.so, -to, -nfo als die Endung des Opt Perf. -ze-m und die
Imperativenduiig -töd (§6,2) würde, nachdem das germ. Auslaut-
gesetz die auslautenden Konsonanten beseitigt hatte, durch Ver-
schmelzung mit der Partikel u die vorliegenden Formen haben er-
geben können, nur hairait Hesse sich nicht wohl auf eine alte
Optativbildung zurückführen. Diese Form führt Bethge auf herö -\- u
zurück und nimmt hei^ö als „einen in konjunktivischer, später auch
optativischer Bedeutung verwandten Indikativ". Das Hauptbedenken
gegen diese Theorie ist, ob man überhaupt für das Germ, den Ge-
brauch der Partikel u voraussetzen darf.
Bezeichnung des Modus.
L6. 1. Unter den Formsystenien, die man als Modi be-
zeichnet, ist nur eins, das durch ein eigentümliches, deutlich
wahrnehmbares Suffix, durch ie oder I, charakterisiert ist, der
Optativ (Brgm. 2 § 938 f.). Nach unbetontem, athematischem
Tempusstamm gilt im Singular, wo das Suffix selbst den Tou
trug, ie, im Dual und Plural, wo die Personalendung betont
wurde, z: z. B. "^s-ie-m, ^s-ie-s, ""'s-ie-t'^ ^s-l-men, "^s-i-te. Im Ger-
manischen ist die unbetonte Form l verallgemeinert, so im
Opt. Prät. g. hereis, heri, hereima etc. und im athematischen
Präs. g. loileis, icili, ahd. sis, si etc. (vgl. 1. sim, sis, sit für
das ältere siem, sies, siet). Die Form ie ist im Germanischen
nur in undeutlichen Spuren erhalten [sijati § 32). ? erscheint
als zweiter Bestandteil des Diphthongen idg. oi, g. ai im Opt.
Präs. der thematischen Verba; g. hairais, hairai, hairaima
etc. — Über die Endung der 1 Sg. g. au s. § 5.
jz. Der Imperativ^) verdankt seine eigentümlichen.
Formen zum Teil der Einschränkung, welche die Funktion
uralter Formen von sehr w^eiter Bedeutung durch die Ent-
wicklung des Konjugationssystems erfahren hat. In der 2. Sg.
liegt der blosse Stamm vor, der, da er der Personalbezeichnung
entbehrte, ursprünglich nicht auf die 2. Person beschränkt ge-
wesen sein kann (§ 2). — In der Endung der 3 Sg. g. -dmi
ist trotz des unerklärten au, doch wohl das idg. Suffix -töd
anzuerkennen, das ursprünglich auch keine Personalendung,
1) Brgm. 2, 1316. 1323. 1325. Delbr. 4, 359 f.
§ G.] Optativ, Tniperativ, Konjunktiv. 11
sondern eine Partikel war, durch welche die in der 2 Sg'.
erhaltene Form differenziert wurde: gr. cpepeTuu, lat. ferto,
altl. auch noch mit d: estocl. Darnach wurde dann unter An-
lelinung* an die übrigen Pluralformen mit nt (Brgm. 2, 1325)
die 3 PI. gebildet; gr. (peßö-vjuj, 1. ferunto, g. hairandau. —
Die 1 und 2 PL g. bairam, hairip stimmen mit dem Indikativ
überein, dürfen aber nicht als Judikative angesehen werden;
denn der Indikativ konnte nicht Imperativisch gebraucht werden.
Vermutlich liegen den Bildungen alte Injunktivformen zu Grunde,
d. h. Verbalformen mit sekundären Endungen, an denen weder
Zeitstufe noch Modus zum Ausdruck kam, vielleicht die älteste
Form des Verb. fin. überhaupt (Brgm. 2, 1276 f. Delbr. 4,
354 f.); durch die sekundären Endungen also waren die im-
perativisch gebrauchten Injunktive von den Indikativen unter-
schieden* aber die germanischen Auslautgesetze machten sie
gleich. — Eine Form mit ausgesprochen primärer Endung
liegt dagegen in der 2 Du. g. hairats vor. Dass diese In-
dikativform imperativische Bedeutung annahm, war eine Folge
davon, dass in der 1. und 2. PI. die beiden Modi zusammen-
gefallen waren.
Anm.^ Eine alte Injunktivlorm haben die westgermanisclien
Sprachen auch in der 2 Sg", Prät. bewahrt; vielleicht auch in ahd.
ni curi noli, ni curet nolite (Brg-m. 2, 1278); doch ist zu bemerken,
dass neben citri ciiris begegnet, und im PI. ciirit älter zu sein scheint
al^ curet (Br. § 322 A. 2).
Anm. ^ Der Konjunlvtiv hat sich neben dem Indikativ
erst alhnählich zu einer besonderen Modusform entwickelt. Der
konjunktivischen P^unktion dienten im allgemeinen vollere Formen:
neben Indikativen ohne Themavokal wurden als Konjunktive Formen
mit Themavokal gebraucht, neben Indikativen mit Themavokal
Konjunktive mit gedehntem ä, e (ö). Aber die Elemente, die den
Konjunktiv charakterisieren, finden sich in allen Sprachen auch in
indikativischer Funktion. Im Germanischen ist der Konjunktiv als
besonderer Modus nicht erhalten; der Optativ hat seine Funktionen
übernommen (Bojunga IF. 2, 184—197) und in dem got. bairau ist
möglicherweise sogar eine Konjunktiv form in den Optativ auf-
genommen (§ 5 Anm.). Als Konjunktivbildung bezeichnet Brgm. 2,
908 f. wegen des Vokals ahd. tuom (vgl. § 33, 5). Eine Form des
kurzvokalischen Konjunktiv Perfekti sah J. Schmidt (KZ. 19, 290)
in g. ögs fürchte (§ 54), eine mit dem Indikativ zusammengefallene
12 Die Nominalformen des Verbums. [§ 7.
Konjunktivform Delbr. 4, 391 in dem g-ot. Imperativ hairam, während
andere diese Formen als Injunktive in Anspruch nehmen. Über
das genetische Verhältnis von Injunktiv und Konjunktiv s. Hirt,
IF. 12, 212 ff.
Die Nominal formen des Verbums.
(^. 1. Die Infinitive^) sind nach ihrem Ursprung- und
ihrer Bildung- Kasus von Nomina actionis. Eine gemeinsame
idg. Infinitivbildung gab es nicht; sie werden auf mannigfache
Weise mit eben solchen Suffixen gebildet wie gewöhnliche
Substantiva, unterscheiden sich von diesen aber dadurch, dass
sie sich dem für Substantiva im allgemeinen geltenden syn
taktischen Gebrauch entziehen, insbesondere nicht durch ad-
jektivische Attribute bestimmt werden, und dass sie in ihrer
Flexion beschränkt sind, in einer Kasusform erstarren. In der
engsten Beziehung zum Verbum erscheinen sie, wenn sie an
der Rektionsfähigkeit des Verbums und an der Unterscheidung
von Tempus und Genus teilnehmen.
\^ 2. Das Germanische hat nur einen Infinitiv. Eine Kasus-
form von Nom. act. auf -{0)710-, vermutlich der Akkusativ
(idg. -{o)no-m >> g. {a)n) hat sich als Infinitiv über alle Verba
verbreitet. Die gewöhnliche Endung ist -an-^ -n kommt den
athematischen auf einen Vokal ausgehenden Verben zu, z. B.
ahd. gä-n, Tiahe-n.
<^^. Die Nom. act. wurden zunächst nicht von einem Tempus-
stamm, sondern aus der Wurzel gebildet. Aber da das Suffix
-ono- in seinem ersten Vokal mit dem Themavokal überein-
stimmt, lehnten sich die germanischen Infinitive an die thema-
tischen Präsensstämme an und wurden nun auch von erweiterten
Präsensstämmen gebildet; z. ß. g. hid-j-an, fraili-n-an. — Der
Inf. der Präterito-Präsentia hat den schwachen Stamm des
Plurals; z, B. g. icitan zu wait, ivitum.
Anm. 1. In dem ursprünglich waltenden Unterschied zwischen
Präsens- und Infinitivstamm vermutet Streitberg § 198 den Anlass
zu mundartlichen Unterschieden, wie g. sitan^ ligan neben ahd.
mzzen, ligqen. Im Gotischen habe der Infinitiv die Umbildung des
1) Brgm. 2, 1^9)1. Delb. 4, 451.
§ 8.] Infinitiv und Partizipium. 13
Präs., im Hochdeutschen das Präs. die Umbildung des Infinitivs
veranlasst.
<4. In den westgermanischen Sprachen schliessen sich
den akkusativischen Infinitiven ein Genitiv und Dativ an, in
denen das Suffix -o7io- durch -io- erweitert ist, ahd. -annes,
-amie, as. -annias, -annea. Der Dativ ist die regelmässig*
nach der Präp. zu gebrauchte Infinitivform (Gerundium), seltner
und im Ae. nicht bezeugt ist der Genitiv (II § 303).
Anm. 2. Andere Suffixe, die in anderen idg*. Sprachen Mittel
der Infinitivbildung' geworden sind, kommen zwar auch im Ger-
manischen vor, aber nicht in Infinitiven. Zu den slavischen Infini-
tiven mit i^e-Suffix stellen sich Wörter wie g. sauhts Krankheit, fra-
gifts Verleihung* etc.; zum lat. Supinum auf -tum, -tu Substantiva
wie g. Ä:Msfw6- Prüfung, Beweis, daupus Tod (II §254,2); das Suffix
-men-, mit dem im Griechischen Infinitive wie i&-|uev-ai, bö-|uev-ai
gebildet sind, haben wir in Wörtern wie g. /diuma Gehör, skeitna
Leuchte, und mit ?o-Suffix erweitert in laulimuni Blitz, wituhni
Kenntnis (II S. 316).
/ 8. 1. Die Verbaladjektiva, die im Germanischen als
Parfictpia dem Verbalsystem angegliedert sind, werden auf
dreifache Art gebildet, mit nt-, n-, und ^Suffix.
Das nt-Snfüx, das zur Bildung der Part. Präs. dient,
wurde schon im Idg. zur Bildung aller aktiven Partizipia mit
Ausnahme des Part. Perf. gebraucht (Brgm. 2, 370, 886.
Streitberg § 164). Durch Verschiebung und grammatischen
Wechsel ergab sich daraus wc?-Suffix; z. B. g. giba-nd-s, salhö-
nd s. Ursprünglich folgten diese Adjektiva der konsonantischen
Deklination, doch nur in mehreren Wörtern, die ganz sub-
stantivische Natur angenommen haben, hat sich die alte Flexions-
weise zum Teil erhalten; z. B. nasjands Heiland (II § 266, 1);
ihr Femininum bildeten sie auf ^, z. B. g. frijöndi Freundin.
Als Partizipia erfuhren die Wörter eine Umbildung; im Gotischen
sind sie zu 7^-Stämmen erweitert, schliessen sich also der
schwachen Deklination an; im Hochdeutschen zu ja-Stämmen;
/. B. gebenti, salbönti. Starke Form behauptet sich im Got,
nur im N. Sg. neben der schwachen.
Die w^Partizipia schliessen sich stets dem Präsensstamm
14 Die Nominalformen des Verbums. [§ 8.
an; neben Prät.-Präs. zeigen sie wie die Infinitive den Vokal
des Plurals; z. B. witands.
Anm. 1. Verkürzung" langer Vokale, die vor nd von rechts-
wegen eintreten sollte, ist durch Systemzwang' vielfach behindert
oder aufgehoben (§ 46 f.).
Anm. 2. Schwundstufe des Suffixes, ^^, germ. unp- hat sich
nur in einigen isolierten Bildungen erhalten: g. timpus Zahn zu Wz.
ed essen; g. liulundi F. Höhle zu hilan (II § 266); ferner mit jfo-Suftix
erweitert in g". sunjis w Rhr <C*sundjis zu Wz. es sein und in dem
adverbialen G. PI. bisunja)ie ringsum.
12. Die Partizipia Präteriti werden auf zwei Arten
gebildet: die Adjektiva auf -eno-, -ono-, {-no-) haben sich als
Partizipia über alle starken Verba verbreitet, Adjektiva mit
dem Suffix to über die schwachen. Beide Suffixe dienen
auch in anderen Sprachen zur Partizipialbildung. Brgm. 2, 1420.
/Die Partizipia der starken Verba erscheinen durch ihr
SuffiSr als die nächsten Verwandten der Infinitive; aber das
Suffix trug in ihnen den Ton ; daher haben sie grammatischen
Wechsel und tiefstufigen Vokal, wenn dieser überhaupt in der
Konjugation des Verbums vorkommt ; z. B. ahd. neman, ginovian;
zihan, gizujan\ ziohan, gizogan. Der dem n vorangehende
Vokal konnte sowohl auf der ersten als auf der zweiten Hoch-
stufe stehen. Jene ist verallgemeinert im An. undAe. ; diese
im Gotischen und Hochdeutschen (vgl. § 30). Eine Spar der
ersten Hochstufe im Gotischen zeigt das Adj. fiilgins verborgen
zu filhmi. Ohne Vokal erscheint das Suffix nur bei athe-
matischen, auf einen Vokal auslautenden Stämmen; z. B. ahd.
gi-tä-7i, und in isolierten Bildungen, die, wenn sie auch neben
starken Verben bestehen, doch nicht Partizipia sind; z. B. g.
us-lälc-n-s offen zu Mkan, harn JV. zu hairan, liugn N. Lüge zu
liugan, und mit assimiliertem n g. alls ganz, all zu ala7i aufwachsen.
'3. Mit dem Suffix -to wurden ebenso wie mit -ono zu-
nächst Adjektiva unmittelbar aus der Wurzel gebildet, dann
aber auch von charakterisierten Präsensstämmen, von kausa-
tiven und denominativen Verben (Brgm. 2, 205 f.). Als Parti-
zipia aber erscheinen diese Wörter nur neben Verben, die ein
^Präteritum bilden, gleichgültig ob es Wurzelverba oder ab-
geleitete sind, z. B. g. htigjan kaufen, hauhtay bauhfs; nasjan,
i? 9.] Die Vorsilbe ga. 15
nasida, nasips; salhöii, salhöda, salhöps. Wenn das Suffix
sich unmittelbar einer konsonantisch auslautenden Wurzel an-
schloss, traten die bekannten Störungen der Lautverschiebung-
ein; sonst unterliegt es der regelmässigen Verschiebung und
dem grammatischen Wechsel, war also ursprünglich betont.
Eine Ausnahme ist g. Tviinps (p) bekannt, ahd. Icund neben
g. 'kunds entsprossen, z. B. airpa-kunds (II § 412).
Anm. ^8v Nicht selten erscheinen die mit den Suffixen -ono
und -to gebildeten Wörter, auch wenn sie neben starken oder
schwachen Verben stehen, doch nicht als Partizipia, sei es. dass sie
durch jüng'ere Sprachentwickelung-, durch Änderung der Form oder
Bedeutung" den Charakter von Verbalformen verloren haben (§ 56),
sei es, dass sie aus einer Zeit stammen, ehe diese Adjektiva dem
Verbalsystem als Partizipia eingegliedert waren. Besonders be-
merkenswert ist der adjektivische Charakter der zu den Präterito-
Präsentia gehörigen mit ?^o-Suffix gebildeten Wörter (§ 55, 5).
Anm./4. Die Part. Prät. nehmen an der Rektion des Verb,
finitum nicht teil und stehen dadurch zu diesem in loserem Ver-
hältnis als der Infinitiv und das Part. Präs. ; zu den Verbalformen
rechnet man sie dennoch, weil sie zu allen Verben gebildet werden.
Andere Adjektiva, die so allgemeine Geltung nicht gewonnen haben,
«ieht man als Partizipia nicht an, mag auch der Verbalbegriff in
ihnen kaum weniger lebendig sein; vg'l. Bildungen wie g. lubja-leis
giftkundig, fra-lets freigelassen (11 § 309); g. paursus, ahd. durri,
g'. anda-nem.s, ahd. gi-ndmi angenehm (II § 310); g. ana-siuns sicht-
bar, ahd. selt-säni selten (II § 326); g. xakids streitsüchtig, ahd.
e^^al gef rassig (II § 321) u. a.
^4.nm. 5. Von andern Partizipialbildungen, die in den ver-
wandten Sprachen üblich sind, erscheinen im Germanischen nur
dürftige Spuren. Zur Bildung von Part. Perf. dienten die Suffixe
-ues- oder -uet- (Brgm. 2. 412), Von -uet- erscheint eine Ablautform
in g\ ireit-iröp-s Zeuge, zu ivait {vgl gr. eiöuuc;, eiböxoc;) ; ein zu -ues-
gehöriges Femininum (idg. -us-i, vgl. gr. eibuia) liegt vor in g'.
berus-jös die Eltern zu hairan. Andere Substantiva, die man hier-
her zieht in II § 252, Anm. 3. — Ein mediales Partizipium auf -meno-
hat Müllenhof f (ZfdA. 23, 1) in ii^min erkannt, idg. *e7'-men-os (vgl.
gr. öp.uevoc;) und dazu^ mit -io- w^eiter gebildet vermutlich der Name
Arminius (IF. 2, 173 f.).
Die Vorsilbe (ja.
/Ö. 1. Zur Bildung des Part. Prät. dient im Hoch-
deutschen bei vielen Verben ausser den Suffixen auch ein
16 Die Vorsilbe ga. [§ 9.
Präfix, die Vorsilbe ga-. Schon im Gotischen wird diese
Partikel oft als Mittel gebraucht, die perfektive Aktionsart
des Verbums auszudrücken (§ 107), und in diesem Sinne ver-
band sie sich auch mit dem Part. Prät. An und für sich kam
den mit den Suffixen -oyio und -to gebildeten Adjektiven per-
fektive Bedeutung nicht zu; aber insofern sie als Partizipia
dem Verbalsystem angegliedert wurden, verband sich mit ihnen
gewöhnlich die Vorstellung einer auf den Abschluss g-erichteten
Handlung und so wurde die Partikel ga- bei vielen Verben
der notwendige Begleiter des Participiums. Der zunehmende
Gebrauch der zusammengesetzten Pert'ekta und Plusquam-
perfekta, in denen das Part, fast stets diese Bedeutung hatte,
wird hauptsächlich die Erstarrung herbeigeführt haben.
2. Alte Bildungen, die ihre adjektivische Bedeutung be-
haupteten, hielten sich frei von der Partikel: ahd. eigan,
truTikan (II § 325, 1), hund, schuld (II § 384, 3), auch sv>
scaffan in der Bedeutung 'schwanger', und Komposita wie
altquetan, niwiboran, hlinthoran u. ä. (II § 132 A. 1). Ebenso
Verba, die schon an sich perfektiv aufgefasst zu werden
pflegen: einzelne Simplizia {queman, fi7idan, hringan^ meistens
werdan und vermutlich treffan) und die, welche mit unbe-
tonten Partikeln (6e-, (/e-, ver-^ er-, ent-, ze-) untrennbar zu-
sammengesetzt sind. Alle andern bilden schon im Ahd. ihr
Part, fast stets mit ga-.
Anm.^s, Partizipia, die später wieder in adjektivischen Gebrauch
übergehen, behalten natürlich die partizipiale Form, auch wenn wir
sie durativ brauchen; z B. geehrter Herr, ein geliebtes Kind.
3^ Aus dem in der Bedeutung wurzelnden Gegensatz
zwischen einfachen und zusammengesetzten Verben ergab sich
dann weiter ein anderes Prinzip, das vermutlich früh zur
Festsetzung der Formen mitgewirkt hat und im Nhd. zu voller
Herrschaft gekommen ist^). Da die nichtzusammengesetzten
Verba mit betonter, die untrennbar zusammengesetzten mit
unbetonter Silbe beginnen, so ergab sich die Regel, dass Verba,
1) Über das ^e-Partizipium im Nhd. handelt G. Maier (ZfdW.
1, 281—318) in einer nicht eben geschickten, aber doch förder-
lichen Abhandlung.
§ 9.] Die Vorsilbe ga. 17
die die erste Silbe betonen, die Partikel ge- annehmen, alle
übrigen entbehren. Im Mbd. heisst es noch Jcomen, funden,
worden, troffen, bräht und oft begegnen diese Formen auch
noch in der nhd. Literatur, bes. Jcommen; aber jetzt sind sie
aufgegeben. Nur worden hat sich im zusammengesetzten
Passiv der Umbildung entzogen. Über lä^en und heilen s. § 86.
A. Umgekehrt ist ge- beseitigt, wo es sich vor Verben
mit unbetonter erster Silbe fand, wie das im Mhd. nicht selten
bei den Verben auf -leren vorkommt z. B. gefurrieret (Germ.
11, 446), später auch hin und wieder bei einigen andern:
geprophezeit y gerumoret, gescharmutzelt (ZfdW. 1, 313 f.). —
Doppelte Bildung war gerechtfertigt und ist auch jetzt noch
gebräuchlich bei einigen, die verschiedene Betonung gestatten
(I § 351): frohlocken, fcill fahren und bei manchen mit miss-
zusammengesetzten Verben : gendsshilligt, gemisshandelt, ge-
missbraucht. (Die Betonung von miss-, die der älteren Sprache
fremd war, soll, wie Maier a. 0. S. 318 angibt, von Mittel-
deutschland ausgegangen sein.)
/5. Trennbare Partikelkomposita haben die Vorsilben na-
türlich vor dem Verb um: angegeben, abgegeben, aufgegeben
etc. Da sie aber dennoch als Einheit aufgefasst werden, ver-
anlassten sie, dass auch andere Komposita unrichtig geteilt
wurden, z. B. weisgesagt, brandgeschatzt, ratgeschlagt, hand-
gehabt, off engebahr et, missgedeutet, missgegriffen u. a. Aber
solche Missbildungen erkennt die jetzige Schriftsprache nicht
mehr an, auch nicht die mit miss-, die noch Adelung bei
manchen Verben als die korrekten P^ormen angesehen wissen
wollte a. 0. S. 303. 317). Anders gebildet als die angeführten
Verben ist loahrsagen, doch pflegt auch dieses als untrennbares
Kompositum behandelt zu werden.
^nm. 2. Die Durchführung der Regel wurde lange Zeit da-
durch gehemmt, dass in den oberdeutschen Mundarten seit der
mhd. Zeit die Vorsilbe auch da unterdrückt wurde, avo sie seit
alters berechtigt war. Der schwach betonte Vokal wurde synkopiert
und der Konsonant verstummte, indem er dem Anlaut des Verbums
assimiliert wurde (Whd. § 373. 405). Am leichtesten musste der
Schwund der Vorsilbe bei Verben mit Gaumenanlaut eintreten, und
dieser Art sind alle Belege, die das Mhd. Wb. 1, 490b anführt: gehen^
W. Wilmaniiii, Deutsche Grammatik. III. 2
18 Einteilung der Konjugation. [§ 10.
go^^en, kert, koufet, krönet, küsset-, anders nur bi^^en. Aber die
Bewegung blieb dabei nicht stehen. Schon im 12. Jh. finden sich
hin und wieder Partizipia, die ihr ge- vor andern Konsonanten ver-
loren haben (Kraus, Deutsche Gedichte X, 29), und im 14—16 Jh.
werden sie sehr häufig, auch ausserhalb Oberdeutschlands. Dann
wurden sie wieder zurückgedrängt. Dass die Wiederherstellung der
Silbe zu Entgleisungen führte, wie sie oben erwähnt sind, ist be-
greiflich ,
(Änm. 3. Die Verba, welche im Part, sich der Vorsilbe er-
wehrt haben, pflegen auch in andern Formen davon frei zu bleiben,
aber doch nicht durchaus. So braucht Walther 49, 35 das Prät.
getraf, Hartmann im Iwein die Infinitive gevinden und gebringen]
v. 1207 den mac nieman gesehen noch gevinden (Aa, bevinden bc,
vinden BDd); 2898 da^ si eins alten ivtbes rät gebringen mac ze
missetät (Ad, briiigen BDac). Auch werdeyi und treffen sind mit
ge- belegt, nie aber komen.
Einteilung der Konjugation.
/jlO. 1. Person, Genus und Modus werden bei allen
Verben fast in derselben Weise bezeichnet; dagegen treten in
der Bildung der Tempora und dem damit eng zusammen-
hängenden Ablaut starke Unterschiede hervor, die eine Ein-
teilung der Verba in verschiedene Konjugationen begründen
und erfordern.
v2. Je nach der Bildung des Präteritums unterscheidet
man starke und schwache Verba; eine dritte kleine Gruppe
sind die Präterito-Präsentia, d. h. Verba, die zu einer Perfekt-
forni mit präsentischer Bedeutung ein schwaches Präteritum
bilden. Die starke Konjugation ist die ältere; nur das starke
Perfektum ist ein Erbe aus idg. Zeit, das schwache Präteritum
ist_eine spezifisch germanische Bildung.
fS. Der Unterschied zwischen starken und schwachen
Verben berührt sich mit einem anderen, mit dem Unterschied
zwischen primären und sekundären Verben. Primäre Verba
nennt man solche, die aus der Wurzel gebildet, sekundäre
solche, die von Nominalstämmen abgeleitet sind. Auf der
Flexion der V^urzelverba beruht die starke Flexion, auf der
der abgeleiteten die schwache. Doch haben viele Verba, die
man als Denominativa nicht ansehen kann, sich schon in vor-
§ 11,] Tempusstämme. — Präsens. 19
liistoriscber Zeit der schwaeben Konjugation angeschlossen,
und umgekehrt sind wenigstens einige Verba, die ursprünglich
der schwachen Konjugation folgten, später in die starke über-
getreten. Von Anfang an sind in den germanischen Sprachen
die schwachen Verba den starken an Zahl weit überlegen,
und je länger um so stärker tritt das Übergewicht der schwachen
Verba hervor; alle jüngeren Ableitungen folgen der schwachen
Konjugation {II § 18 ff.).
Anm. Dass der Unterschied zwischen primären und sekundären
Verben sich nicht streng durchführen lässt, zeigt Bruguiann 2, 874 f.
<^. Auf der Verschiedenheit der Präsensbildung be-
ruht die Einteilung der starken Verba in thematische und
athematische. Der Präsensstamm der thematischen geht auf
Jenen auch in der Stammbildung der Nomina so häufigen Vokal
aus, der im Idg. je nach der Betonung als e oder o erscheint;
die athematisch en'eiitFdiren dieses Elenients. In den Personal-
endungen stimmen beide Klassen im allgemeinen überein, nur
in der 1. Singularis unterscheiden sie sich, indem die athe-
matischen die Endung -ini annehmen, die thematischen auf
den gedehnten Themavokal ausgehen (§ 3). Daher nennt man
diese auch Verba auf -ö, jene Verba auf mi. — Die thema-
tTSClfen Terba bilden seit urindoii:ermanischer Zeit die stärkste
Klasse fBrgm. 2, 913); in den germanischen Sprachen beherrscht
ihre Bildungsw^eise die Konjugation so stark, dass die übrigen,
in ihren Formen vielfach entstellt, nur als eine kleine Gruppe
unregelmässiger Verba erscheinen."]
Starke Konjugation.
Theniatische Verba.
j^ Tempusstämme.
111. (Präsens.) 1. Im Nhd. unterscheiden sich die Formen
<les starken Verbums zwar noch durch den Ablaut, zum Teil
auch durch den grammatischen Wechsel, im übrigen aber bleibt
der Stamm in allen Formen des Verbums unverändert, zeigt
keine Spuren der Ableitung und Weiterbildung und erscheint
so als fester, wurzelhafter Bestandteil. Aber die historische
20 Starke Konjugation; Thematische Verba. [§ 11.
und die vergleichende Grammatik lehren, dass ursprünglich
die Tempusstämme nicht durch Betonung und Ablaut, sondern
auch durch materielle Elemente, durch Präfixe und Suffixe,
von einander verschieden waren.
2. Besonders zeichneten sich die Präsensstämme durch
eine reiche Mannigfaltigkeit aus; derselben Wurzel konnten ver-
schiedene, drei, vier und mehr Präsensstämme entspriessen.
Wie diese Suffixe die Bedeutung der Wurzel näher bestimmten
oder modifizierten, hat die vergleichende Grammatik zu unter-
suchen. Zum Teil haben sie der Bestimmung der Aktionsart
gedient (Delbr. 4, 16 f.); die Zeitstufe zu bestimmen war nicht
ihr Zweck; als präsensbildend können sie nur insofern be-
zeichnet werden, als andere demselben Verbalsystem angehörige
Zeitformen ihrer entbehren. Die germanischen Sprachen haben
als charakteristisches Zeichen des Präsensstammes im allge-
meinen nur den Themavokal bewahrt. Zwar lässt die Ver-
gleichung der verwandten Sprachen, oft auch schon die Ver-
gleichung germanischer, aus derselben Wurzel entsprossener
Wörter erkennen, dass die auslautenden Konsonanten ursprüng-
lich Suffixe des Präsensstammes waren, oder dass auslautende
Konsonantverdoppelung, besonders II, nn, durch Assimilation
eines Präsenssuffixes entstanden sind (11 § 18); aber die Formen
sind dem Präsensstamme nicht mehr eigentümlich; sie haben
sich über das ganze Verbum verbreitet (Brgm. 2, § 891). Von
einer besonderen, das Präsens gegenüber den anderen Verbal-
formen charakterisierenden Bildung begegnen nur noch wenige
Spuren.
3. Am besten haben sich Präsensstämme mit j erhalten,
weil sie in der gleichen Form der schwachen Verba eine Stütze
fanden. Aber die meisten Verba dieser Art sind überhau])t
in die schwache Konjugation übergetreten, und die verhältnis-
mässig wenigen, die stark geblieben sind, zeigen zum Teil die
eigentümliche Präsensbildung nicht in allen Mundarten (vgl.
§ 7 Anm. 1). Übereinstimmend sind g. bidjan, ahd. bitten;
g. hafjan, ahd. heffen-, g. skapjan, ahd. scepJien schöpfen,
schaffen; g. hlahjan, ahd. lahlien (stV.) lachen; g. arjan,
ahd. e7Hen pflügen. Dagegen steht dem g. walisjan ahd.
§ 12.] Tempusstämme. 21
wahsan gegenüber, und umgekehrt den alid. sizzen, liggen,
siverjen, die teils durch die Konsonantverdoppelung, teils durch
flen Vokal i und den ümlat ein altes J-Präsens erkennen lassen,
g. sitan, Ugan, sivaran. Nur aus dem Gotischen zu belegen
sind frapjan verstehen, shapjan schaden, garapjan (?) zählen,
nur aus dem Hd. int-seffen verstehen, int-rihhen enthüllen.
y4. !^-Suffix im Präsensstamm zeigen g. frailman fragen,
Prät. frali\ g. keinan keimen, Prtz. us-Jcijans; ahd. hackan
{cJc < gn), Prät. buoh; ahd. giwahinen erwähnen, Frsitgiwuog. —
n-Jniix zeigt nur noch ein Verbum : g. standan, Prät. stop ;
ahd. stantan, stuont, selten stuot. Lateinische Verba mit einem
in die Wurzelsilbe aufgenommenen Nasale sind ziemlich häufig und
stehen öfters germanischen Verben ohne Nasal gegenüber: 1. findere:
g. beitan-^ tundere : stautan-^ fundere : giutan, prehendere : gitan\
fingere : deigan kneten , lambere : ahd. laffan. Lautgesetzlich ge-
schwunden ist der Nasal vor li in g. lueihan : 1. vincere, leifvan :
1. linquere'^ ebenso in g. peihan gedeihen, preihan dringen, fähan
fangen. In fälian hat das Ahd. im Präsens den Nasal verloren, im
Prät., in das er erst aus dem Präsens eingedrungen war, bewahrt
{fähan, fiang, gifangan) ; der Ausg'leich der Formen war also früher
eing'etreten als der Schwund des ii vor h.
^12. (Perfektum.) 1. Wie für den Präsensstamm der
Themavokal, so ist für den Perfektstamm die Reduplikation
das charakteristische Zeichen. Ursprünglich freilich diente die
Reduplikation ebensowenig zur Tempusbildung wie die Suffixe
des Präsensstammes; sie war vielmehr ein allgemeines Mittel
der Wortbildung, das sowohl in der Nominal- als in der Verbal-
bildung angewandt wurde; ursprünglich wohl nichts anderes
als Wiederholung des Wortes (II, 21 f.). Im Verbum aber
gewann sie dadurch eine besondere Bedeutung, Mass sie in
den Dienst der Tempusbildung gestellt und dazu benutzt wurde,
bestimmte typische Aktionsarten und weiter auch Zeitstufen
zu unterscheiden' (Brgm. 2, 845 f.). In dieser abstrakteren,
abgeleiteten Verwendung hat sie dann auch früh besondere
Formen angenommen.
N^2. Verba wie 1. murmurare, tintinnire enthalten als
Reduplikation noch die vollständige Wiederholung der Wurzel-
silbe; gewöhnlich aber ist die verbale Reduplikation unvoll-
22 Thematische Verba. [§ 12..
kommei], wiederholt die Konsonanten der Wurzelsilbe nur zum
Teil und zeigt selbständige Vokale. Schon im Idg. werden
die Vokale z und e auch vor Wurzeln gebraucht, denen diese
Vokale nicht zukommen; z. B. gr. Yi-yvo-juai, bi-bd-aKuu, 1. gi-
gno, si-sto'^ gr. Xe-Xom-a, 1. pe-pig-i etc. In der Verwendung'
dieser beiden Vokale war auch schon eine Unterscheidung der
Tempusstämme angebahnt, indem I in gewissen Präsens- und
Aoristklassen herrscht, e besonders und in weitem Umfang im
Perfektum gebraucht wurde. Allgemeine Geltung aber hat
die Reduplikation im Idg*. weder hier noch dort erreicht
(Brgm. 2 § 848).
— är^ie germanischen Sprachen haben die Präsens-
Reduplikation früh aufgegeben. Abgesehen von dem zweifel-
haften teta (§ 33, 6) hat sie sich nur in wenigen Verben, die
zur schwachen Konjugation übergetreten sind, erhalten, ohne
noch als Reduplikation empfunden zu werden (II § 13, 2).
[Um so deutlicher trat sie als charakteristisches Zeichen des
Perfektstammes hervor, und es ist wohl möglich, dass sie
als Mittel der Perfektbildung: in weiterem Umfang verwandt
wurde als im Idg. (§ 21). Dauernden Bestand aber g-ewann
sie auch im Perfektum nicht; nur in der ältesten germanischen
Sprache, im Gotischen, hat sie ein Teil der Verba als deut-
liches Mittel der Perfektbildung bewahrt.
/jTln der gotischen Reduplikation wird stets nur der
Anlaut der Wurzel wiederholt; von mehreren anlautenden Kon-
sonanten, nach einem seit uridg. Zeit bestehenden Gebrauch,
in der Regel nur der erste: gai-gröt ich weinte, fai-flöJc ich
klagte, sai-zlep ich schlief. Eine Ausnahme bilden, wie in
anderen idg. Sprachen, die Verbindungen st, sli, sp, die, wie
ihre Sonderstellung in der Lautverschiebung und ihre Ver-
wendung: in der Alliteration zeigt, als besonders eng empfunden
wurden: stai-stald ich besass, skai-sJcaid ich schied {sp ist
nicht belegt). Eine unlösliche Einheit bilden natürlich auch
die Labial-Gutturale: Jvöpan, hai-höp ich rühmte mich (Brgm.
2 § 476). — Als Vokal erscheint immer g\ cd, w^orin doch
w^ohl ein kurzer, dem idg. e entsprechender Laut anzuerkennen
ist. Wie es aber kommt, dass dieser e-Laut nicht wie sonst
§ 12.] Tempusstämme. — Aug-meiittempora. 23
im Gotischen zu i geworden ist, ist unklar. Lautgesetzlich ent-
wickelt wäre ai in Verben, die mit h und r anlauten; dass aber
diese, wie man anzunehmen pflegt^), die Form aller übrigen be-
stimmt haben sollten, ist wenig- wahrscheinlich.
^a<^er Ton lag nach der germanischen Akzentverschiebung
jedenfalls auf der Reduplikation; vorher vermutlich auf der
Wurzelsilbe. Dafür spricht die Erweichung des Spiranten in
g. sai-zlep und an. sera ich säte < se-zö. Wenn im Gotischen
von saian saisö gebildet wird und von slepan neben der an-
geführten Form auch sai-slep vorkommt, so erklärt sich das
aus dem Einfluss der Präsensformen.
^3. (Augmenttempora.) ^. Das Perfektum bezeichnete
nicht die Vergangenheit, sondern den erreichten Zustand (Delbr.
4, 177). Um die Vergangenheit zu bezeichnen, hatte die idg.
Ursprache ein Mittel in dem sogenannten Augment, einem
alten Adverbium, dem die Verbaltbrm sich enklitisch mit
sekundären Endungen anschloss (Brgm. 2, 859 f.). Solche
Augmenttempora konnten sowohl zum Präsens als zum Per-
fektum gebildet werden, doch ist das zum Perfektum gehörige
Präteritum, das Plusquamperfektum, nur im Arischen und
Griechischen sicher nachzuweisen (Brgni. 2, 1208). — Ein ver-
einzelter, verdunkelter Pest eines Augmenttempus liegt ver-
mutlich in g. iddja vor (§ 37).
S^ Noch weniger hat sich im Germanischen eine andere
Form erhalten, die im Idg. zur Bezeichnung der Vergangenheit
gebraucht wurde und in den verwandten Sprachen weite Ver-
breitung gefunden hat: der ^-Aorist, zu dem die griechischen
Aoriste auf -cra, lateinische Perfekta wie vexi, junxi, torsi
und die Konj. Imp. auf -reyn wie ferrem^ conderem, aniarem
gehören. Einen Pest dieser Bildung glauben manche in ahd.
scrirun sie schrien < *scrizun sehen zu dürfen (s. § 22).
13. Dass alle diese auf die Vergangenheit weisenden
Formen im Germanischen nicht zur Geltung gekommen sind.
setzt voraus, dass das Perfektum seine Bedeutung erweitert
hatte; es war aus einem Perfektum zu einem Präteritum ge-
1) Vgl. Kluge, Germ. Konj. S. 89. A. Osthoff, Perf. S. 276 f.
Brgm. 2, 12ö0 etc.
24 Thematische Verba. Einteilung. [§ 14.
worden oder verband vielmehr die Bedeutung beider und ent-
zog dadurch den andern Formen, die in den verwandten
Sprachen zu Mittehi präteritaler Bedeutung ausgebildet wurden,
den Boden.
/Anm. Von dem dem s-Aorist verwandten 6'-Futurum, dessen
Bildung gleichfalls in die idg. Sprachperiode hinaufreicht, findet
sich in den germanischen Sprachen keine Spur.
f:
14. (Ablaut.) 1. Neben den Suffixen und der Redupli-
kation dient auch der Ablaut zur Unterscheidung der Verbal-
formen. Dass man den Wurzelvokal verändert habe^ um Tem-
pusunterschiede oder überhaupt irgend welche Unterschiede
der Bedeutung auszudrücken^ ist nicht anzunehmen. Der Ablaut
muss durch irgend welche physiologische Momente hervor-
gerufen sein, unter denen zweifellos die Betonung die wesent-
lichste Rolle gespielt hat^). Die Unterschiede der Betonung
sind durch die germanische Akzentverschiebung aufgehoben;
der durch sie bewirkte Ablaut aber dauert fort.
12. Gewisse Verbalformen stimmen stets in ihrem Vokal
übereiir. nämlich 1. alle Präsensformen (Ind., Opt., Imp., Inf.
und Part. Präs.) ; 2. der Sg. Prät. (in den westgerm. Sprachen
nur die 1 und 3 Sg. Prät.); 3.^ PI. und Opt. Prät. (im West-
germ, auch die 2 Sg. Ind. Prät.) ; eine Sonderstellung kann
4. das Part. Prät. einnehmen. Diese vier Gruppen können
verschiedene V^okale haben, oft aber fallen auch mehrere zu-
sammen, namentlich die dritte und vierte, die zweite und
dritte, auch die erste und vierte-, aber die erste und zweite,
sowie die erste und dritte nur in Verben, denen der Ablaut
überhaupt fehlt. Der Unterschied zwischen Präsens- und
Perfektformen ist also überall gewahrt; er erscheint als der
wichtigste.
^3. Je nachdem der Ablaut mannigfacher oder dürftiger
entwickelt ist, kann man zwei Abteilungen bilden; in den
1) Über den Ablaut ist 1 § 162 ff. einiges gesagt. Seitdem
hat die Forschung nicht geruht. Die ganze Frage ist neu behandelt
von Hirt, Der idg. Ablaut, Strassburg 1900; vgl. dazu den kritischen
Bericht Hübschmanns in IF. Anz. ll, 24-56.
^ 15.] Verba mit voll entwickeltem Ablaut. 25
Verben der ersten zeigen die zweite und dritte Stammform
stets verschiedene Vokale, in der Regel auch die erste und
vierte^ in denen der anderen stimmen die zweite und dritte^
sowie die erste und vierte in ihrem Vokal überein. Die Verba
der ersten Abteilung zeigen mindestens drei verschiedene Vokale,
die der zweiten höchstens zwei.
1. Verba mit voll entwickeltem Ablaut.
/15. (Ablautreihen.) 1. Wir unterscheiden hier drei
Klassen, die im Gotischen durch folgende Verba repräsentiert
werden :
la. gihan, g(if^ gebum, gibans.
b. niman, nam, nemurn^ mimans.
c. liilpan, halp, hulpuniy hulpans.
bindan, band, bundum, bundans.
II. steigan, staig, stigmn, stigans.
IlL biugan, batig, bugum, bugans.
^iese drei Klassen bilden eine zusammengehörige Gruppe.
Sie repräsentieren den Typus, der sich in den aus e-Wurzeln
entsprossenen thematischen Verben mit Wurzelbetonung im
Präsens entwickelt hat. Den zahlreichen Verben dieser Art
kam von Hause aus in den Präsensformen die erste Hochstufe
(e) zu, im Sg. Prät. die zweite (o) ; Tiefstufe dagegen im
Plural und Optativ, sowie im Part. Perf.
[z. Die Vokalunterschiede der drei Klassen setzen nicht
verscKiedene Wurzellaute voraus, sondern erklären sich aus
dem Einfluss der benachbarten, besonders der nachfolgenden
Konsonanten. Den Vokalen der Hochstufe idg. e und o ent-
sprechen überall g. i und a. Rein treten sie in Kl. I hervor;
in Kl. II und III, wo ihnen i und u folgten, haben sich Diph-
thonge ergeben, in Kl. II ei und «i, in KL III ki und au.
Auf der Tiefstufe erscheinen in Kl. II und III i und u\ der
Wurzelvokal ist ganz verschwunden und i und u als silben-
bildende Vokale übrig geblieben. Vor Liquida und Nasal ist
für den geschwundenen oder stark reduzierten Vokal im Ger-
manischen u eingetreten, jedoch vor einfacher Liquida und
26 Thematische Verba mit voll entwickeltem Al)laut. [§ 15.
Nasal (Kl. I^) nur in der vierten Stammform, vor verdoppelten
oder mit einem andern Konsonanten verbundenen (Kl. I^) auch
in der dritten. Vor einfachem Verschluss- und Reibelaut (Kl. I^)
hat die Tiefstufe keinen eigenen Laut gewonnen; hier hat die
Entwickelung zu einem Vokal geführt, der mit der ersten
Hochstufe übereinstimmt. — Nicht als Ablaut 7A\ verstehen
ist das lange e^ das in der dritten Stammform der Kl. I^^ sehr
befremdend neben der Schwundstufe der übrigen Konjuga-
tionen steht.
a6. (Der e Typus.) 1. Die Frage nach dem Ursprung
des ^^ypus ist nach Scherers kräftiger Anregung oft behan-
delt und in neuerer Zeit namentlich durch Michels (IF. 4, 64 f )
und Streitberg (IF. 6, 148) gefördert worden i). AVahrscheinlich
entwickelten sich die Formen in der Weise, dass in regel-
mässig reduplizierten Perfektformen mit schwacher Wurzelstufe
zunächst der Eeduplikationsvokal gedehnt, dann der Wurzel-
anlaut aufgegeben wurde; aus '-ghe-ghehh- wurde, indem der un-
betonte Wurzelvokal schwand, durch Ersatzdehnung "^ghe-ghebh-,
dann '^ghehh-. An eine streng lautgesetzliche Entwicklung ist
dabei schwerlich zu denken; auch daran nicht, dass ein einzelnes
Vcrbum, in dem der anlautende Konsonant lautgesetzlich ge-
schwunden war (wie das Osthoff für die Wz. sed annimmt:
idg. sed < se-sd), Anlass und Muster der ganzen Umbildung
gewesen sei. Es fand vielmehr eine freie, von Lautgesetzen
unabhängige Umbildung statt. Man mied und beseitigte For-
men, in denen die regelmässige Entwicklung oft zu ganz un-
gewöhnlichen Konsonantverbindungen oder auch zu Gebilden
geführt hatte, die sich von den übrigen Formen desselben
Verbums weit entfernten, wie sich z. B. zu saihan, sah (Wz.
sehv) ein Plural g. "^sesqim, zu qipan, qap (Wz. gvet) ein
Plural g. '^qehtun hätte ergeben müssen (Brgm. 2, 1260). Die
Anfänge des e-Typus reichen jedenfalls bis in die idg. Vorzeit
hinauf, in welchen Etappen sich seine Entwicklung bis zu der
1) Vgl. ferner Brgm. 11,1214. 1280. Lorentz IF. 8, 69 ff. Hirt,
Ablaut S. 194 f.
§ 17.] Der e-Typus. 27
in den germanischen Sprachen erreichten Grenze vollzog-^
lässt sich nicht nachweisen^). — Aus dieser Auffassung des
^-Typus erklärt es sich, warum er sich nur in den Perfektis
entwickelte, denen Reduplikation zukam, nicht in den Präterito-
Präsentia, und nur in Wurzeln, in denen der Schwund des
Wurzelvokales keinen Sonanten zurückliess; also nicht in den
Verben P, II, III.
[Anm. Einen anderen Ursprung muss das auch im Singular
geltende § des Verbums üan haben: g. fr-et. ahd. ä^. Vermutlich
liegt hier eine alte Kontraktion der Beduplikation, die hier nur aus
dem Vokal e bestand, mit dem Wurzelanlaut vor. Eine andere
Ansicht vertritt Brugmann 2, 851. 1208. 1215.
/l7 (Einfluss anl. Konsonanten auf den Ablaut.) 1. Den
Klassen P und P folgen auch einige Verba, die nicht auf
Liquida oder Nasal ausgehen. Das Gotische bietet zwar nur
einen Beleg; von hrikan brechen lautet das Part. bruJcanSy
während doch von wrikan rächen ivrikans gebildet wird.
Aber im Ahd. heisst es girochan, und andere Verba, die im
Gotischen fehlen oder im Part, nicht belegt sind, schliessen
sich an, sowohl solche, die ursprünglich auf einen einfachen Kon-
sonanten ausgingen, auf ch < gerni. k und ff < germ. p : rechan
häufen (g. rikan), sprecliaii, sfechan, treclian schieben, stossen,
ziehen, treffaii\ als auch solche, die auf Doppelkonsonanten
oder Konsonantverbindungen auslauten : hrettcm ziehen, zücken,
flehtaii, fehtan, hrestan, dreskan, leskan, lirespan rupfen,
denen sich seit dem 11. Jh. screckan anreiht^). Alle diese
Verba ausser stechan und fehtan haben im Anlaut eine Liquida,
die meisten r, und es kann keinem Zweifel unterliegen, dass
unter ihrem Einfluss sich das u entwickelt hat, ebenso wie in
den Verben, die im Auslaut eine Liquida hatten; vehten hat
sich nach flehten, stechen nach den andern Verben auf -ecken
1) Hirt, Ablaut S. 194 f. nimmt an, dass ursprünglich e nur
in der 3 Fl. galt.
2) Das stV. ist aus dem schwachen scricken, scricta entstanden.
Br. § 341 A. 2. Auch für ar-leskit sind die Belege älter als für a?'-
loskan imd im As. hat das schwache Verbum sowohl transitive als
intransitive Bedeutung*. Scherer S. 244.
28 Thematische Verba mit voll entwickeltem Ablaut. [§ 18.
gerichtet. / Aber auffallend ist, dass anlautender Nasal die ent-
sprechende Wirkung nirgends, und anlautende Liquida nicht in
allen Verben zeigt; es heisst ahd. gi-tretan\ mhd. gQ-r^den gesiebt,
ge-kresen g-ekrochen ; (zu stredan aufwallen ist das Part, nicht be-
legt); ebenso ahd. gi-lesan, gi-pflegaii, er-, zer-lechen ausgetrocknet
und ahd. gi-nesan, gi-cnetan geknetet. Auffallend ferner die Art,
wie diese Verba den PI. und Opt. Prät. bilden. In allen, die mit
einer Konsonantverbindung' beginnen, sollte man wie in den Verben
der Cl. Ic u erwarten; aber solche Formen gelten zunächst nur für
die auf eine Konsonantverbindung ausgehenden Verba; belegt sind
sie im Ahd. von brettan, brestan, dreskan^ flehtan, fehtan. Dagegen
die mit einem einfachen Konsonanten im Auslaut folgen dem e-Typus
(Gl. Ib), also brechan, sprechan, rechan, treffan, stechan. Offenbar
liegt hier eine rein lautgesetzliche Entwicklung nicht vor; ana-
logische Einflüsse, wesentlich geleitet durch den Auslaut des Stammes,
haben die Formen bestimmt. — Auch später treten in diesen Verben
noch Verschiebungen ein. Im Prät. erscheint schon im Ahd. brästun
neben brustun (Br. § 338 A.) und im Mhd. ist die Form allgemein
anerkannt; ebenso scräken und auf oberdeutschem Gebiet auch
vähten, vlähten (md. vuhteii, vhihten). Im Part, stellt sich o für älteres
e ein : geloscn^ gepflogen neben dem regelmässigen gelesen, gepflegen,
und umgekehrt e für älteres o : gesteclien (ripuar.) neben gestochen.
<^nm. Unregelmässige Partizipia beg'egnen vereinzelt auch
von anderen Verben: ahd. gi-klenan zu klenan schmieren (Br. § 340
A. 2. 3); gi-hellan zu hellan (Br. § 337 A. 6); mhd. ge-dohsen zu
dehsen Flachs schwingen (Whd. § 348). Das Part, von kommen
lautet im Got. regelmässig qumans\ dagegen begegnet ahd. quoman
nur im Is. und vereinzelt in einigen Glossen; sonst heisst es in allen
älteren Quellen queman. Vermutlich hängt die Bildung dieser auf-
fallenden Form mit der Verdrängung des alten tiefstufigen Präsens
zusammen (§ 18).
/is. (Tiefstut'ige Präsentia i).) 1. Obwohl die thematischen
Verba den Akzent meist auf der Wurzelsilbe hatten, gab es im
Idg. nicht wenige, die den Themavokal betonten, sei es dass
•er unmittelbar auf die Wurzelsilbe folgte (Aorist-Präsentia)
oder zu einem Suffix gehörte {n, sJc, j). Dass die Zahl solcher
Verba auch im Germanischen nicht klein war, ist daraus zu
entnehmen, dass in einem Teil der westgermanischen Sprachen
1) Brgm. 2, 927 f. 932. 1000-1002. 1017. 1077 ff. Streitberg
S. 290-298.
§ 18.] Tiet'stufig-e Präsentia. 29-
in der Persoiialendung der 3 Sg. der stimmlose Spirant all-
gemeine Geltung hat (§ 3). Aber doch gibt es nur wenige
Verba die durch ihren Stammvokal auf die eigentümliche Bil-
dung des Präsens hinweisen. Zu Kl. I gehören einige Verba^.
in denen sich neben Liquida oder Nasal ti auf der Tiefstufe
entwickelt hat : g. truda, [trap, tredum], trudans, an. troda
treten-, das Part. Präs. wulands siedend: un-wuncmds betrübt,
sich nicht freuend. — (In Kl. III begegnen einige mit ü\ g.
lüJcany schliessen, ahd. sitgan, süfan. — In Kl. II entspricht dem
ü der dritten Klasse i: g. skeiiian scheinen, keinan keimen, ahd.
sivtnan schwinden, gi^lnan den Mund verziehen, knurren. Aber da
idg-. i und die Hochstufe ei in germ. i zusammenfallen, lassen diese
Verba die Tief stufe nicht erkennen. Nur die Bildung" mit ??-Suffix
lässt auf tieftoniges Präsens schliessen.
f. Der grammatische Wechsel, der sich im Perfektum
ein Zeichen der endbetonten Formen erhalten hat,
zeichnet die tiefstufigen Präsentia nirgends mehr aus; in allen
Formen gilt derselbe Konsonant: g. hi-leiban. ahd. hi-lihan (Wz.
leip kleben, vgl. gr. Xiirapöc; fett, Xnrapeiv beharren) und, falls g:ic
als grammatischer Wechsel anzusehen ist (I § 34 A.), ahd. sniicit es
schneit (Wz. .sneigh^, lat. ningit).
/3. Zuweilen gilt neben dem tief stufigen ein normales^
Präsens, neben g. trudan ahd. tretan\ neben an. knoda (swV.)
ahd. knetan, ebenso Formen mit und ohne grannuatischen
Wechsel: g. Imeiwan, ahd. nigan (Wv.. kneigh^); ahd. silian
seihen und sigan tröpfelnd niederfallen, versiegen (Wz. seikv). —
Auch für kommen sind alte Doppelformen an/Ainehmen (§ 37
Anm. 2. Sievers PBb. 8, 80 f. Osthoff Perf. S. 143), obwohl
die normalen Formen (g. qima, quiman, ahd. quimtt, queman)
im Gotischen allein begegnen und im Hochdeutschen durchaus
herrschen, cumu, coman findet sich, von ganz vereinzelten Bei-
spielen abgesehen, im 8. und 9. Jh. häufig nur im Tatian. Erst
später, als qui- und que- überhaupt dem Übergang in cu- und co-
unterlagen, verschwinden auch im Oberdeutschen die mit qu an-
lautenden Formen. Über das Part, queman s. § 17 Anm.
Anm. 1. Substantivische Partizipia zu tiefstufigen Präsentia :
g. hulu7idi F. Höhle zu hilan\ digarids der Former zu deigan kneten»
A. (Reihenwechsel.) Nicht selten sind Verba mit tief-
stufig^ra Präsens, weil sie von den normalen Ablautreihen ab-
30 Thematische Verba mit voll entwickeltem Ablaut. [§ 18.
wicben, umgebildet oder in die scliwaclie Konjugation über-
getreten i).
/Verba der 2. Klasse, die im Präsens i batten, scblossen
sieb den Verben der 1. Klasse an, die, wenn sie ibr Präsens
mit j bildeten oder auf eine Nasal Verbindung ausgingen, gleich-
falls in allen Präsensformen i hatten. Zu g. hidjan wurde ein
Prät. hap gebildet, obwohl das Wort zu einer ei-Wurzel ge-
hört (Wz. bheidh, vgl. gr. TreiGuu), also im Prät. eigentlich
^haip lauten sollte (vgl. gr. 7T€TTOi0a). Besonders haben viele
mit infigiertem oder suffigiertem Nasal sich der Kl. 1^ ange-
schlossen: g. siyqan sinken (Wz. ,<<eig''\ seik^', vgl. ahd. sinkan
neben sthan, sigan); g. stigqan stossen (Wz. steig '^')\ g. fra-slindan,
ahd, slintan schlingen (vgl. mbd. sliten gleiten) ; ahd. climhan klimmen,
klettern (vgl. ahd. clfban kleben, haften); g. windan winden (vgl.
1. viere):, ahd. sivintan schwinden, vergehen (vgl. ahd. sioman).
Brgm. 2 § 634. Ferner g. du-giyinan beginnen (Wz. gliei, Suffix
im), af-linnan aufhören, icinnan leiden, vielleicht auch g. rinnan
und hvinnan s. ßrgm. 2, § 654.
^nm. 2. Auch einige Verba, die in den meisten Präsensformen
germ. e haben, gehören zu ez-Wurzeln: g. gawidan binden, ahd.
icetan (Wz. nei, vgl. 1. riere)\ ahd. stehhan stechen (Wz, steig., vgl.
1. in-stigo, gr. ariSuj); ahd. denan kleben (Wz. glei, vgl. ^\o\ö<:, kleb-
riges Ol, YXid Leim, nhd. Klei Lehm). — Doppelbildungen; g. weihan
kämpfen, ahd. wthantero bellantium, ivigant Kämpfer neben ahd.
ubar-^rehan, an. vega bezwingen; ahd. swedan cremare neben an.
svvba sengen; mhd, kresen und krisen.
Anm. 3. Umgekehrt sind aus anderen Gründen einige Verba
der 1. Kl. in die zweite geraten. Got. J)reihan <C*pri7ihan sollte
eigentlich nach Kl. Ic gehen, aber dadurch, dass der Nasal vor Ji
schwand und ^ Ersatzdehnung erfuhr, entstand einTräsens, wie "es
die Verba der zweiten Klasse haben, und diesem schlössen sich nun
die Formen des Prät. an: Jträih, Jiraihum, praihans. In den west-
germanischen Sprachen, die statt ?i g im Auslaut haben, blieb das
Wort der Kl. Ic erhalten: ahd. dringan, dr-ang, drungun, gidrungan.
Allgemeiner ist derselbe Übergang in g. ga-peihan, ahd. gi-dthan
erfolgt, wo nur noch das ae. Part. je-dunje)i und das as. Kausa-
tivum thengian vollenden auf die ursprüngliche Bildung hinweisen.
5. Für die Verba mit tiefstufigem Präsens, die sich der
erste^n—schwaehen Konjugation anschlössen, darf wohl voraus-
1) Vgl. Streitberg § 105.
§ 19.] Die 2 Sg'. Prät. im Westgermanischen. 31
gesetzt werden, dass sie meistens ein zo-Präsens hatten, das
den Übertritt erleichterte; den Anlass aber gaben auch bei
ihnen in erster Linie offenbar die abnormen Ablautverhält-
nisse (§ 45).
^'-
[9. ^Die 2 Sg. Prät. im Westgermanischen.) Zu den
thematischen Präsensstämmen mit tiefstufigem Vokal gehört
auch die 2 Sg. Prät. in den westgermanischen Sprachen. In
der Verbindung mit sekundären Endungen ergaben diese Stämme
Formen, die in den griechischen starken Aoristen deutlich er-
halten sind: e-Xi7T-ov zu XeiTruü, e-qpuy-ov zu qpeuYUü etc. Das
Augment war ursprünglich nicht erforderlich. Da die Verbal-
formen überhaupt keine bestimmte Zeitstufe zum Ausdruck
brachten, konnten sie auch ohne die Partikel für die Ver-
gangenheit gebraucht werden. Nur in wenigen idg. Sprachen
sind die Augmenttempora zu einem festen Bestandteil des Kon-
jugationssystems geworden, und selbst im älteren Griechisch, in
der Sprache Homers, kann es bekanntlich noch fehlen (Brgm.
2, 866). Solche augmentlosen Aoristformen sind ahd. stigi,
Imgi'^ sie entsprechen genau griechischen Formen wie [e]-XiTT-
eq, [e]-cpuY-e(;. Die Bedeutung der Formen ermöglichte also
ihre Aufnahme in das Perfektum: der Umstand, dass im West-
germanischen die beiden Tempora in der 1 PI. lautgesetzlich zu-
sammengefallen waren, mag sie veranlasst haben (PBb. 23,
0I51). Aber nur in Kl. P, II, III hat die 2 Sg. Prät. diese
regelmässige Form mit vokalischer Tief stufe; die entsprechenden
Formen in den übrigen Klassen sind Analogiebildungen. Da
in jenen drei Klassen die 2 Sg. in ihrem Vokal mit dem Plur.
und Opt. Prät. übereinstimmte {{liulpi : liulpum, stigi : stigum,
hugi : hugum), so bildete man danach zu gehum, nemiim : gehi,
nemi, zu forum : fori, zu slepum : slepi. Auch dass in allen
diesen Formen der kurze Vokal einer ursprünglich letzten Silbe
bewahrt ist, beruht auf Formübertragung oder Systemzwang,
1) An der älteren Annahme, dass hugi, stigi eigentlich Optativ-
lormen seien, hält van Helten PBb. 28, 545 fest. Der indikativische
Gebrauch der ahd. 1 PI. auf -em bietet jedoch keine Stütze; vgl. § 28.
32 Verba mit schwächer entwickeltem oder fehlendem Ablaut. [§ 20.
eigentlich kommt er nur Formen mit kurzer Stammsilbe wie
stigi, hugi zu (I § 257).
2. Verba mit schwächer entwickeltem oder
fehlendem Ablaut.
/ 20. (Ablautreihen.) 1. Während die ersten drei Kon-
jugationen aus e-Wurzeln hervorgegangen sind, beruhen die
Typen, in denen der Ablaut schwächer entwickelt ist oder
fehlt, auf Wurzeln mit anderen Grund vokalen {a, ä, e), doch
haben sich auch manche zu e-Wurzeln gehörige Verba ihnen
angeschlossen. Drei Konjugationsforraen haben sich ergeben:
Verba mit Ablaut zwischen Präs. und Perf., Verba mit Ablaut
und Reduplikation, Verba ohne Ablaut mit Reduplikation; von
den letzteren führe ich die mit a als besondere Gruppe an.
Als Repräsentanten dieser Gruppen können folgende gotische
Verba dienen:
IV. faran, för, forum, fcirans.
Va. letan, lai-lot, lailotum, letans.
b. höpan, Jvwai-Jvöp, hai-höpum, höpans.
c. haldan, hai-hald, hai-haldum, haldans,
[Einige Pura haben für die geschlossenen Vokale e und ö die
offenen, durch ai und au bezeichneten Laute eintreten lassen; zu
Kl. Va gehören sciian säen und waian wehen, zu Kl. V^ lauan
lästern und hauan wohnen. Im PI. Prät. dieser Verba, wo man
gleichfalls au erwarten sollte, ist unter dem Einfluss des Singulars
ö zur Geltung gekommen. Streitberg* S. 74 Anm.
2. Der Vokalismus dieser Konjugationen gibt manches
Rätsel auf. In Kl. V^ und V'^ stehen die beiden ersten Stamm-
formen in normalem Verhältnis. Sie repräsentieren den Ab-
laut, der in e- und «- Wurzeln zu erwarten ist. In den e-Wurzeln
bezeichnen idg. e und ö die erste und zweite Hochstufe, in
den «-Wurzeln idg. a und ö. In Udan hat sich also der alte
Ablaut erhalten, in höpan ist er geschwunden, weil idg. ä
und ö in germanisch ö zusammenfallen. Aber wider die
Regel ist, dass die langen Vokale auch in der dritten und
vierten Stammform stehen, wo man n = idg. d erwarten sollte
(vgl. g. lats lässig, träge neben letan, ahd. sUff neben deiiaUj.
§ 20.] Abiautreihen. 3S
an. iaka, töJc neben g\ teJcan). Unregelmässig' ferner, dass
einige Verba wie im Präsens so auch im Präteritum e haben.
Zwar die meisten (letcm, gretan, 7'edan, teJcan, saian, waian)
haben 6, aber das Prät. von slepan lautet saizUp, und ent-
sprechend vermutlich von lüesan^'Ä^QYi, blasen balMes.
/3. Verwickelter liegen die Verhältnisse bei den Verben,
die a im Präsens haben (Kl. IV und V^). Dieser Vokal hat
nicht in allen Verben denselben Ursprung und Wert. Er konnte
sich in verschiedenen Ablautreihen, sowohl auf der Plochstufe
als auf der Tiefstufe entwickeln und nicht immer ist eine
sichere Entscheidung zu gewinnen. Denn verscliiedene Abiaut-
reiiien fallen in einzelnen Lauten zusammen, namentlich im Ger-
manischen (iclg. ä und ö>germ. ö, idg. a, o, 9 >> g-erm. a). Über
den Wert des Lautes in den folgenden Beispielen s. Streitberg S. 90 f.
95. 293).
a kann erstens Tiefstufe der Wurzeln mit langem Vokal
sein, idg. 9, ergab sich also im Präsens von Verben, die die
Endung betonten. Als Tiefstufe von e erscheint es z. B. in g.
Tiafjan heben, skapjan schaden, ahd. spanan locken. Als Tiefstufe
zu ä in g, skahan schaben, ahd. watan waten (vgl. 1. vädo), laffan
lecken (Wz. lab, vgl. 1. lambo. Brgm. 2, 999), auch in g. standan mit
?i-Infix. Als Tief stufe zu Ö in ahd. halihan und hackan (mit assi-
miliertem n-Suffix, vgl. gr. qpujTuj). — Das a kann aber auch Hoch-
oder Tiefstufe von «-Wurzeln sein, die im Idg. auf den Hoch-
stufen a und 0 entwickelten. Zu solchen Wurzeln gehören in
Kl. IV g. alaii aufwachsen (vgl. 1. alo), us-anan aushauchen; zu
Kl. Vc g. us-alpan veralten, saltan salzen, ivaldan walten, skaidan;
ahd. falla7i, hannan. — Endlich können die Verba mit a auch
zu e-Wurzeln gehören. So in Kl. IV g. faran, malan, graban,
slahan-, ahd. ghüaliinen (§11,4); in Kl. V^ g.blandan mischen; ahd.
scaltan stossen, spaltan, wallan wallen, aufkochen; icalzan. Unter
welchen Umständen sich in e- Wurzeln, in denen man für das
hochstufige Präsens e, g. i, für das tiefstufige vor Nasal und
Liquida u erwarten sollte, a ergab, ist noch nicht genügend
erklärt; s. Streitberg S. 293 Anm. Hirt PBb. 23, 303 f.
Anm. 1. Auch der grammatische Wechsel gibt über den Wert
des a keine sichere Auskunft. Wir finden stimmlose Spiranten aucli
in Verben, deren Vokal tiefstufiges Präsens voraussetzt, müssen also
annehmen, dass hier schon sehr früh Akzentverschiebungen einge-
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 3
34 Verba mit schwächer entwickeltem oder fehlendem Ablaut. [§ 20.
treten sind (Brgm. 2, 1076. 1078). Überhaupt ist nur in Avenig-en
Verben, die a im Präsens haben, grammatischer Wechsel zu kon-
statieren: g. skahan (Wz. skap, vgl. gr. öKdir-Tuu), haldan halten
(Präs. mit -to, vgl. gr. ßoü-KoA-oc; Brgm. 2, 1042), ferner g. skaidan
(aber ahd. sceidan <; *skaipan) und vielleicht noch dies oder jenes
andere. Viele zeigen stimmlosen Spiranten : g. .slahmi, Jnvahan,
hlahjan, hlapan, skapjan, frapjan, hafjan, ahd. lahan, gitvahinen,
inseffen und in Kl. Vc g. alpan, fähan, hähan, ebenso g. falpan,
ahd. faldan (sjijäter faltan).
->i: Die Verba, welche a im Präsens haben, bilden nun
zwei Gruppen. Die, welche auf einen einfachen Konsonanten
ausgehen, haben im Prät. Sg. und PI. o, im Part, a (Kl. IV),
die, in denen auf die AVurzel z, w, Z, n + Kons, folgen lassen
(Jiaitan, Jihmpcm, Jialdan, blandan, auch fähan und hähan,
in denen der Nasal geschwunden ist), haben in allen Formen
a (Kl. V^). Nur zum Teil lassen sich diese Formen als Er-
gebnis einer regelmässigen Lautentwickelung verstehen, ö in
der zweiten, a in der ersten und vierten Stammform käme
Verben aus e- und ö-Wurzeln mit tief stufigem Präsens zu; a
in der ersten und zweiten Stammform Verben aus «-Wurzeln.
Aber wie kommt es, dass wir ö auch in Verben aus a- und
e-Wurzeln und nicht nur im Sg. sondern auch im PI. Prät.
finden, und wie, dass in den Verben der Klasse V in der
dritten und vierten Stanunform derselbe Vokal gilt wie in
der ersten und zweiten?
h. Sichere Erklärungen für die mancherlei Unregel-
mässigkeiten, die wir in allen Reihen der 4. und 5. Klasse
wahrnehmen, sind noch nicht gefunden. Es ist sehr merk-
würdig, dass sich hier für die Formen, welche tiefe Vokal-
stufe voraussetzen, nirgends eine eigentümliche Vokalisation
ergeben hat; das Part, stimmt inmier mit dem Präs., der Plur.
und Opt. Prät. inuner mit dem Sg. Prät. überein; nur ahd.
siöerien schwören, dessen Part, im Ahd. stets gisworan lautet,
nie giswaran (Br. § 347 A. 4), zeigt eine selbständige Tief-
stufenform \). Hier müssen starke Formübertragungen statt-
1) Wahrscheinlich ist dies giswoi-an doch nur eine entartete
Form. Es ist zu beachten, dass 0. 4, 18, 15 die 3 Sg. Prät. suär
schreibt, als ob das Wort nach Kl. Jb ginge; dazu passt das Part.
gisworan.
§ 21.] Beseitigung" der Reduplikation. 35
gefunden haben; aber wir wissen nicht, wie sie zustande ge-
kommen sind. Selbst die Annahme, dass im Prät. der Vokal des
Sg. auf den PI. übertragen sei, ist nicht unbedenklich, da der
grammatische Wechsel, der hier überall auch im Sg. erscheint, um-
gekehrt auf Einfluss des PI. auf den Sg*. schliessen lässt: heffen,
Jiuob, huobun-, slahan, sluog, sluogun-^ fähan^ f^^ng^ fiengun etc.;
Spuren auch in faldan und sceid an (Bi\ §350 A. 3 352. A. 2); vgl.
Brgm. 2, 1215. J257.
Anm./^.' Unerklärt ist auch, warum g. arjan, ahd. erjen,
erren pflügen sein Perf. mit Reduplikation nach Kl. Vc bildet: g.
'■'ai-ar, ahd. ia7% iarun \ nach dem Auslaut der Wurzel sollte man
ör, uor erwarten. Andere Spuren, aus denen zii schliessen ist, dass
die Grenze zwischen reduplizierten und nicht reduplizierten Per-
fektis geschwankt hat, im Grdr. 1 2 437 § 172.
/ 21. (Beseitigung der Eeduplikation.) 1. Dass die Redupli-
kation einst nicht auf die Verba der 5. Kl. beschränkt war,
zeigt der ^-Typus in Kl. I^ und F* (§ 16); wie weit sie etwa
auch in anderen Verben gegolten hat, und ohne Einwirkung
auf die Stammsilbe aufgegeben ist, ist zweifelhaft i). Ebenso
ist nicht deutlich zu sehen, warum sie gerade in dem Umfang
bestehen blieb, in dem das Gotische sie anerkennt. Ein Faktor,
der sie schützte und begünstigte, mag das Streben nach einer
kräftigen Unterscheidung der Tempusstämme gewesen sein;
denn wir finden sie in allen Verben, denen der Ablaut fehlt.
Aber der einzige Faktor kann dies doch nicht gewesen sein,
<lenn in den Verben der Kl. V-^ gelten Reduplikation und
Ablaut nebeneinander.
/2. Das Gotische ist die einzige germanische Sprache, in
der sich die Reduplikation erhalten hat ; in den anderen finden
sich höchstens noch einige Spuren; im allgemeinen gilt in ihnen
statt der Reduplikation eine Art Ablaut. Je nach dem Prä-
1) Hirt, Ablaut S. 194 nimmt an, dass die Reduplikation, die
einst allgemein galt, schon im Uridg. im Singular geschwunden, im
Plural aber erhalten war, in der 3 PI. der Verba Jf^t» mit Dehn-
stufe e. Ausgleich der Formen habe im Germanischen bei den ab-
lautenden Verben zum allgemeinen Verlust der Reduplikation geführt;
nur in den Verben, in denen sich die Dehnstufe entwickelt hatte,
sei sie erhalten.
36 Verba mit schwächer entwickeltem oder fehlendem Ablaut. [§ 21.
sensvokal erscheint dieser Ablaut in zwei verschiedenen Formen,
in deren Abgrenzung die Sprachen nicht ganz übereinstimmen.
Im Ahd. haben die Verba, die einen hellen Vokal im Präsens
haben (g. e, a, ai), im Prät. gemeinhin ia, die, welche einen
dunkeln Vokal im Präsens haben (g. ö, cm), io oder, in Verben
die auf einen Labial ausgehen {loiifan, riiofan), im Ober-
deutschen iu (Br. § 354 A. 1). ia geht auf älteres ea, e zurück,
io {iu) auf älteres eo (eu). Später fallen beide in ie zusammen ;
doch kommt iu auch noch in mhd. Zeit vor {hiu ich hieb,
Muwe,n] Uuf, Hufen).
3. Wie diese neuen Ablautklassen entstanden sind, dar-
über "^nd die Meinungen geteilt. Neuerdings hat man die
Ansicht aufgestellt, dass sie mit den got. reduplizierten Per-
fektis überhaupt nichts zu tun haben, ihr Ausgangspunkt viel-
mehr in reduplikationslosen Perfektis mit Langdiphthongen zu
suchen sei ^). Ich halte die Hypothese für entbehrlich und
weniger wahrscheinlich als die ältere, gemeingültige Ansicht,
dass dieser jüngere Ablaut auf der Reduplikation beruht, und ^
dass alle germanischen Sprachen die Reduplikation in dem-l
selben Umfange anerkannten wie das Gotische. An eine rein
lautgesetzliche Entwickelung der abgeläuteten Formen aus
den gotischen reduplizierten ist freilich nicht zu denkenj
Formen wie g. hai-hlanditn, fai-faUun, hai-lilaupim, stau
stautun können nur durch eine sehr freie, an Lautgesetze
nicht gebundene Umbildung zu hlianttm, fiallun, liofun,
stio^un geworden sein. Erfolglos scheint mir auch das Be-
mühen, einzelne Verba, in denen die historischen Formen durch
lautgesetzliche Entwickelung entstanden sein könnten (z. B.
an. jök < g. ai-auk) aufzuspüren und auf sie dann gruppen-
weise die andern Verba zurückzuführen (so Bethge S. 361 I'.
Kluge, Grdr. P 437 u. a.). Gewiss wird nicht in allen Verben
die Umbildung zu gleicher Zeit zum Abschluss gebracht sein;
aber die Neigung zur Umbildung hat sich vermutlich bei allen
1) So namentlich Brugmann, IF. 6, 89 f.; dagegen Franck,
ZfdA. 40, 24. van Halten, PBb. 21, 445 ff. Bethge S. 363. Viel
Literatur verzeichnet Brgm. 2, 1204 A.; Schriften, welche die Um-
bildung behandeln Br. § 348 A. 1.
§ 21.] Beseitigung der Reduplikation. 37
zu gleiciier 55eit geltend g-emacht. Die Abnormität einer Bil-
dung, die sich nur in verhältnismässig wenigen Verben er-
halten hatte, und die Tonlosigkeit, der die Stammsilbe nach
der betonten kurzen Reduplikationssilbe verfiel, machen es
wohl begreiflich, dass durch allmähliche Schwächung der
Mittelsilbe Formen wie hai-Tiqitun zu ^hetun, liai-liqldun zu
"^heldun, hai-hlötun zu %leotun wurden. In Verben, die mit
einer Konsonantverbindung anfingen, trat diese in die betonte
erste Silbe, der Anlaut der unbetonten Stammsilbe verkümmerte
und verschwand schliesslich ganz, so dass sich wie in den
übrigen Verben ein gleichartiger, nur durch den Vokal unter-
schiedener Stamm im Präs. und Prät. ergab. Der Vokalklang
der alten Formen haftete noch in den Neubildungen. Nur
die hellen Vokale verschmolzen mit dem Vokal der Redupli-
kation zu einem, so viel wir sehen können, einheitlichen Laut-,
die dunkeln Vokale hielten sich als zweiter Bestandteil des
Dipthongen eo.
(4^ Dass nun die reduplizierten Formen, welche das
Hochdeutsche voraussetzt, in jeder Beziehung mit den gotischen
übereinstimmten, braucht man nicht anzunehmen und ist
wenigstens für die Verba V^ unwahrscheinlich. Im Gotischen
haben diese Verba in allen Formen des Prät. 6\ setzte das
Ahd. dieselbe Bildung voraus, so müsste sich hier der Diphthong
20 ergeben haben ; der kommt ihnen aber nicht zu. Im Gotischen
heisst es letmiy lailöt, lailötun, im Ahd. lä^an^ ^^(^3) lia^un.
ia muss in Perfektformen entstanden sein, in denen sich ent-
weder abweichend vom Gotischen die regelmässige Tiefstufe
der e-Reihe erhalten hatte {Hai-latun oder Heitun, Grdr. I-
437), oder in die der Präsensvokal e eingedrungen war, wie
in g, slepan, saizlep.
Anm. In den Verben mit hellem Vokal findet sich statt des
e, aus dem ahd. ia hervorgeht, vor Nasal oder Liquida -f Cons.
auch e, besonders im Ae., sei es, dass die Konsonantverbindung die
Entwickelung eines langen Vokals gehindert oder nachträglich zu
seiner Verkürzung- geführt hatte. Im Hd. sind solche Formen nur
spärlich nachzuweisen und nur vor Nasal, im Is. und in M. : kenc,
cjangun, in-fenc, arhenc (Br. § 350 A. 7). Wenn sich nachweisen
Hesse, dass sie einst allgemeine Geltung- gehabt haben, müssten aller-
38 Verba mit schwächer entwickeltem oder fehlendem Ablaut. [§ 22..
dings, wie Streitberg S. 331 annimmt, ahd. fiang, giang, hiang junge
Neubildungen sein; doch liegt dazu kein Grund vor (Franck,
ZfdA. 40, 29).
22. (Ahd. Präterita mit inl. r.) Einige deutliche Spuren
von der Fortdauer des Wurzelanlauts neben der Reduplikation
finden sich im An. und Ae. ; z. B. an. sera <C sezö (g. saisö,
ohne grammatischen Wechsel); ae. lieht (g. haihait), reorcl
(g. rairöp), leolc (g. lailaik); aber sehr zweifelhaft ist, ob
man auch einige ahd. Formen, Perfekta und Partizipia mit
inlautendem r, so zu deuten hat. In Betracht kommen die
Verba stö^an, scrötan schneiden, hluo^an opfern, hüan wohnen,
scrian, speiwan. Unter diesen Verben ist nur eins, in dem r
im Ahd . allgemein gültig ist : scrian, scrirun, giscriran ; erst
sehr spät tauchen entsprechende Formen von spiwan auf (Br.
§ 331 A. 3); nur vereinzelt begegnen r-Formen von den vier
ersten; in alten Glossen stero^, stero^un\ Mscrerot\ plerti^^tm,
capleru^^iy bei Ottfried hiruun, hiruwis (Br. § 354 A. 3). In
dem r der Verba stö^an, scrötan, hlö^an hat man nun einen
Rest des Wurzelanlauts der ursprünglich reduplizierten Form
vermutet. Zunächst sei die anlautende Konsonantverbindung
aus der Wurzelsilbe in die Reduplikation getreten, dann sei
das inl. s in stö^an und scrötayi durch lautgesetzliche Ent-
wickelung, das l in hlö^an durch Dissimilation zu r geworden
{stestö^un > stesö^un > stero^un\ beblö^^un, hlelö^^un, hie-
ro^^mi). Dieselbe Erklärung glaubte Osthoff (PBb. 8, 551)
auch auf scrian anwenden zu dürfen. Da aber bei diesem
Verbum im Germanischen überhaupt keine Reduplikation nach-
w^eisbar ist, fand eine andere Erklärung J. Schmidts (KZ.
25, 599) mehr Beifall. Dieser sah in scrirun einen alten
sigmatischen Aorist, die einzige Spur, die sich im germ. Verbuni
von diesem Tempus erhalten hätte. Weder die eine noch die
andere Erklärung Hess sich auf hiruun, hiruwis anwenden,
und ich glaube, dass sie auch bei den anderen Verben nicht
das richtige treffen, teile vielmehr die Ansicht Zarnckes
(PBb. 15, 350), dass dies r überhaupt kein etymologisch be-
rechtigter Laut ist, sondern ein Übergangslaut, der sich nach
kurzer offener Silbe einstellte (I § 157 Anm. 3). In den vier
§ 22.] Ahd. Präterita mit inl. r. 30
reduplizierten Verben setzt sein Gebrauch noch die zweisilbige
Aussprache der Stammsilbe voraus, da aber diese zweisilbige
Stammform früh zusammengezogen wurde, konnte auch der
Übergangslaut keinen Bestand haben. In scrirun, gisciran
dagegen, zwischen Stamm und Flexion, behauptete er sich,
weil hier keine Zusammenziehung stattfand, sphoan endlich,
dessen Stamm ursprünglich auf ic ausging, mag das spät
nachweisbare r unter der Einwirkung von scrian empfangen
haben (vgl. § 23 Anm.).
/Spaltung und Umgestaltung der Ablautreihen.
^^~^23. (Lautgesetzliche Änderungen.) 1. Die bisher be-
sprochenen Bildungen bringen noch nicht die ganze Mannig-
faltigkeit des Vokalismus in den starken Verben zur An-
schauung. Neben den aus der germanischen Zeit stammenden
Haupttypen entstehen durch die Lautgesetze der einzelnen
Sprachen neue Formen. Im Gotischen steht in Kl. I* neben
giban, gihans : saihan, saiTvans; in Kl. P neben nhnan,
numans : hairan, baurans; in Kl. P neben hilpan, hulpans :
hairgan, haurgans'^ in Kl. II neben stigum, sfigans : paihun,
paihans-^ in Kl. III neben hugiim, Jmgans : tauhun, taulians.
^2. Grössere Mannigfaltigkeit zeigt das Ahd., zum Teil,
weil alte Lautunterschiede, die im Gotischen nicht mehr wahr-
nehmbar sind, sich erhalten haben. (Der nur bedingte Über-
gang von e zu i, von u zu o, von ai zu e, von ati zu ö, end-
lich der Umlaut ergeben in den ersten 4 Klassen eine erheb-
lich grössere Zahl von Vokalreihen:
la. gehaUj gab, gäbum, gigeban.
bitten, bat, bätum, gibetan.
b. niiman, nam, nmnum, ginoman.
c. hei f an, half, hui f um, giholfan.
biiitan, bant, buntum, gibuntan.
IL stigan, steig, stigum, gistigan.
dihan, deh, diguni, gidigan.
IIL biogan, bong, bugum, gibogan.
ziohan, zöh, zugum, gizogan,
sügan, soug, sugum, gisogan.
40 Spaltung und Umg-estaltung der Ablautreihen, [§ 23.
IV. favarij fiioVy fuorum, gifaran.
^ heffen, huob, huobum, glhaban.
3. Ebenso ergeben sich im Hd. Unterschiede in den zu
derselben Stammform gehörigen Formen, e und i konkurrieren
in den Präsensformen der KL I {gibu, gibist, gihit, gib : geban
etc.); iu und io in Kl. III {biugu, biugist, biugit, biug : biogan
etc.); Umlaut scheidet die 2 und 3 Sg. Prät. von den übrigen
Präsensformen in Kl. IV und V^ {farii, feris, ferit, haltu,
heltist, heJtit; Br. § 350 A. 7); später auch in Kl. V'^ {släfe,
slcefest, slcefet\ Paul § 156 Anm.); ferner die 2 Sg. und den
Opt. Prät. vom PI. Prät. in Kl. I, III, IV {gcebe : gäben,
noeme : yimnen, hülfe : hülfen, biige : bugen, füere : fuoren).
/A. Neue Spaltungen bewirken die Lautveränderungen,
die die Sprache in der Entwicklung vom Mhd. zum Nhd. er-
fährt. Der Übergang von u zu o vor Doppelnasal scheidet
jetzt in Kl. P begonnen, geschwommen von gebunden. Wo
früher nur kurzer Vokal galt, stehen jetzt Formen mit kurzem
und gedehntem Laut einander gegenüber; so in Kl. I messen,
vergessen, sprechen, treffen : geben, lesen, sehen, stehlen, ge-
bären, loerden] in Kl. II gegriffen : geschrieben, gestiegen: in
Kl. III gegössen, geJcröclien, gesötten : gebögen, geschöben, ge-
böten', in Kl. IV gebacken, getcächsen : gefahren, geladen,
getragen. Auch Formen, die zu derselben Stammform ge-
hören, werden durch die nhd. Dehnung, da sie zunächst nur
in offener Silbe gilt, auseinander gerissen ; vgl. nehme, nimmst,
nimmt, nimm, trete : trittst, tritt; werde: wirst, wird; gebe:
gibet, Qtbt. gfo ; auch lese : list, Its.
ikwva. Einzelne Verba, die abweichende Vokale zeigen, sind
in der-Aiif Stellung dieser Reihen nicht in Betracht gezogen. Sie
mögen hier angeführt werden, g. hliggwan schlagen stimmt In
seinen Formen ganz zu Kl, Ic; aber da gg hier nicht eine Nasal-/
Verbindung, sondern geschärftes iv bezeichnet, ist das Verbum viel-
mehr VA\ Kl. III zu stellen: hliggican, hlaggiv, hliiggwum, bluggivans
wie biiigan, baug, htigiim, bugans. /Im Hd. erscheint das Doppel-i^
als ein Laut, der mehr als das einfache iv dazu neigt, sich dijjh-
thongisch mit dem vorhergehenden kurzen Vokal zu verbinden und
dann ganz zu verschwinden ; der Übergang von iu zu io kann
dabei nicht eintreten. Dem entsprechend heisst es ahd. bliuwan^
blou, blüwun, giblüivan. Ebenso hriuwan schmerzen, reuen, kiuwan
§ 24.
Formübertragungen in der älteren Sprache.
41
kauen, mhd. briuiven. Im Mhd. erscheint neben ilic auch ouw (Fl.
hlouicen) und iuic (PI. bliuiuen, Prtz. gehliutven). Br. § 334 A. 4. 5.
Paul § 159 A. 2.
^•. speüvan geht regelmässig nach Kl. II; dem entspriclit ahd.
spUvan, speg^ sphcun. gisphvan. Formen mit ü, die schon im Ahd.
im PI. Prät., im Mhd. auch im Präs. erscheinen, gehen vermutlich
auf eine andere Wurzelform zurück (Brg'm, 2 § 707 Anm. S. 1062.
Hirt, Ablaut S. 151). /_Dann stellt sich auch hier iutü für iiu ein (PI.
Prät. mhd. s;piiML:en, Prtz. gespiuiven, Inf. spiuicen), ferner im Prät.
spei neben sp^ und Formen mit r {spini, gespirn), nach der Ana-
logie von schrien (§ 22). — Für ahd. giUwaii^ das regelmässige
Part, von Ithaii, g. leiJvan erscheint im Mhd. geliuicen und geluJien.
Paul § 158 A. 2.
Ähnliche Formen wie von spiicen werden im Mhd. zu schrien
gebildef; im Sg. Prät. gelten sch^^ei^ und sehr e (ZfdA. 45, 30), im PI.
und Part, neben dem alten scrirn, gescrirn : schimitcen schrüwen,
geschrimven geschrüwen. Br. § 330 A. 3. 331 A. 3.
/Das Perf, von queniaii lautet im Ahd. bis ins 11. Jh. regel-
mässig quam^ quämen^ dann alem. mit Schwund des u chani, chämeji
(N.), unb im Bair. mit Trübung- des Vokals chom^ chömen. Br. § 340.
A. 3. c. Schröder, Kehr. S. 53. Zwierzina, Beobachtungen S. 502.
ZfdA. 44, 87 A. 263 A. — Ähnliche Doppelformen auch von queln
Qual leiden, queclen sagten.
Jüngere, nhd. Entartungen sind e>-ö in löschen (Ib), ie^il
in lügen, trüge)i^ küren lIII), e>ö in schtcören (und schöpfen IV).
124. (Formttbertrag-ungen in der älteren Sprache.) 1. So
tief die lantgesetzlichen Änderungen in die Ablautreihen ein-
greifen, so haben sie doch nur in einem Fall die Grenzen
zwischen ursprünglich verschiedenen Reihen aufgehoben. Indem
ia und io in ie übergehen {sliaf, stio^ > slief, stie^), fallen
schon im 9. Jh. die beiden Gruppen der ehemals redupli-
zierten Verba zusammen. Im übrigen hat die Lautent Wickelung
die Schranken immer nur an einzelnen Punkten niedergelegt.
Durch die Diphthongierung des i fallen im Nhd. einige Verba
der Kl. V^ in den Präsensformen mit Kl. II zusammen, heissen
und scheiden (mhd. heilen, scJieiden) mit steigen (mhd. sUgen)]
durch die Dehnung Verba der Kl. IV im Präs. und Part, mit
Kl. V*, fahren, tragen, laden etc. (mhd. färn etc.) mit raten,
schlafen, und umgekehrt durch Verkürzung lassen (mhd. lä^en
V^) mit tüachsen (IV). Aber wenn auch die Lautentwickelung
; ^-CCi
42 Spaltung' und Umgestaltung' der Ablautreihen. [§ 25..
die Hauptgebiete in ihrer Sonderheit bestehen liess, so hatte
sie doch ihre Widerstandsfähigkeit bedeutend gemindert. Durch
die Ausbildung neuer Grenzen wurden die einzelnen Gebiete
reicher gegliedert, die Mannigfaltigkeit der Typen wuchs, die
Zahl der Verba, die denselben Typus repräsentierten, wurde
kleiner, das ganze Konjugationssystem komplizierter und
schwieriger, der Boden immer günstiger für Formübertragungen.
2. Einige Entgleisungen traten, wie erwähnt, schon im Ahd.
ein : der Übertritt von Verben wie hrestan, flelitan aus Kl. V^ m
Kl. P (§ 17); die Part, queman, giklenan, gihellan (§11 Anm.),
gisicoran (§ 20, 5). In der mhd. Zeit begegnen ferner ge-
stechen, gepflogen für gestochen, gepflegen; luffen^ geloffen
neben liefen, geloufen u. e. a. Aber in grösserer Zahl treten
die Änderungen erst mit dem Verfall der mhd. Kunst- und
Literatursprache ein. Ursprung und Verbreitung solcher Neu-
bildungen im einzelnen zu verfolgen ist hier nicht der Ort^);
ich beschränke mich darauf, das Ergebnis der Bewegung, so
weit es in der nhd. Schriftsprache zur Anerkennung gekommen
ist, darzulegen.
_25. (Formübertragungen im Nhd. — Präteritum.) 1. Die
Grenzen, die in der älteren Zeit zwischen den vier Stamm-
1) Über die treibenden Kräfte s. von Bah der, ZfdPh. 32,
106 — 110. — Allerlei Material bietet Kehrein, Grammatik der
deutschen Sprache des 15 — 17. Jhs. Ferner Arbeiten, die die Sprache
einzelner Schriftsteller behandeln, wie C. Franke, Grundzüge der
Schriftsprache Luthers. Görlitz 1888. Hertel, Die Sprache Luthers
im Sermon von den guten Werken. ZfdPh. 29, 475 f. Fundinger^
Die Darstellung der Sprache des Erasmus Alberus: Laut- und Flexions-
lehre. Freiburg 1900. Baeseke, Die Sprache der Opitzschen Ge-
dichtsammlungen von 1624 und 1625. Leipzig 1899. Blan ckenburg.
Studien über die Sprache Abrahams a S. Clara. Halle 1897. Boucke^
P. Augustin Dornblüths Observationes. Freiburg 1895. — Spezial-
untersuchungen: Hertz, Beiträge zur Geschichte der regelmässigen
Konjugation. Halle 1886. Shumway, Das ablautende Verbum bei
Hans Sachs. Göttingen 1894. Ders., the verb in Thomas Murner
(1898. Americana Germanica 1,3,76-83. 1,4,1 — 30). James, Die
starken Präterita in den Werken des Hans Sachs. München 1894.
Kern, Das starke Verbum bei Grimm eishausen. Chicago 1898 (Jour-
nal of Germanic philology 1, vgl. ZfdPh. 32, 106-111).
§ 25.] Formübertragung-en im Nhd. — Präteritum. 4^
formen bestehen, sind nicht gleich stark ausgeprägt. Von
Anfang an fallen die 2. und 3. Stammform in Kl. IV und V^
die 3. und 4. in Kl. II, zum Teil auch in Kl. P, die 1. und
4. in Kl. P, IV und V zusammen; in allen Klassen dagegen
unterscheidet sich die erste Stammform von der zweiten und
dritten; die Grenze zwischen Präsens- und Präteritalformen ist
also am stärksten, und sie ist bis auf den heutigen Tag
nirgends durchbrochen.
[2. Am wenigsten hat sich der Ablaut zwischen der
zweiten und dritten Stammform, also zwischen Formen des^
Präteritum erhalten können. Sg. und PI. werden vielfach schon
im 15. Jh. in allen Teilen des Sprachgebiets ausgeglichen:
aber Luther erkennt die Bewegung noch nicht an und völlig
durchgedrungen ist sie erst im 17. Jh. Jetzt gelten verschie-
dene Formen nur noch in dem Verbum loerden {ward, imirden) ;.
in allen anderen gilt derselbe Laut, bald der Vokal des Sin-
gulars, bald der des Plurals, in nicht wenigen aber ein o, da&
ursprünglich weder dem Singular noch dem Plural zukam..
Der Vokal des Plurals hat in Kl. lab gesiegt; (mhd. a:ä, nhd.
ä). Der lange Vokal gilt nicht nur in Formen wie gab, las, nahm,
sondern auch vor Konsonanten und Konsonantverbindungen, vor
denen sonst Kürze bewahrt bleibt: ass, mass, hi^ach, traf, stach,,
schrak. Ebenso hat der Vokal des Plurals in Kl. II gesiegt (mhd.
ei oder e:i, nhd. i): biss, griff, stieg, trieb, gedieh, lieh, schrie,,
spie. — Der Vokal des Singulars gilt in Kl. Ic (mhd. a:u, nhd.
«): sie bargen, galten, halfen, icarben, geivannen, saniieii, banden,,
tranken. — Mit d bilden die Verba III ihr Präteritum, und zwar
nicht nur die auf Dental und h, denen von Anfang an 6 im Sg.
Prät. zukam, sondern auch alle anderen; (mhd. ö oder ou-.w, nhd.
d): sie boten, flohen, zogen, froren-, gössen, sotten; bogen, schoben,,
flogen, rochen. Ferner einige Verba der Kl. la, (mhd. a : «, nhd. ö):
gor, pflog, wob, wog; Kl. I^, schor, schicor, focht, flocht, losch, drosch
(drasch); Kl. Ic (mhd. a :u, nhd. o): quoll, erscholl, schwoll, glomm,
klomm, molk, .schmolz (borst neben barst); Kl. IV (mhd. uo, nhd. ö):
hob, ."ichicor neben hub, schwur. Alle diese Verba haben ö zu-
gleich im Part, und in den meisten Fällen ist das Part, wohl
der Ausgangspunkt für die Umbildung des Prät. gewesen.
Doch ist das Prät. nicht überall dem Part, gefolgt; vgl. brach,,
gebar, nahm,, stach, begann, schivam^n, galt, half, .schall, barg, barst
u. a. neben gebrochen, geboren, genommen etc.
44 Spaltung und Um »Gestaltung der Ablautreihen. [§ 25.
Anm._,I^ Das Part, ist überall da als Ausgangspunkt oder
wenigstens als wesentlicher Stützpunkt für die Umbildung des Prät.
anzusehen, wo sein o lautgesetzlich entwickelt ist oder schon in der
älteren Sprache galt; also in den Verben Ibc^ m, in gesworn (§ 20,5)
und auch in gepflogen (§ 17). Dagegen in den wenigen Verben la
und IV, die e oder a im Partizipium hatten, stellte sich das o zu-
nächst im Prät. ein. höh ist für huop eingetreten, ivog für wuoc,
eine md. unter dem Einfluss des anlautenden iv entstandene Form
für mhd. wac- ebenso wird tvob unter dem Einfluss des anl. w ent-
standen sein. In gor aber beruht das ö wohl auf mundartlicher
Aussprache des ä, das ebenso wie das r aus dem Plural in den
Singular gedrungen war (mhd. jesen, jas, järeii, gejesen).
/Änm. 2. In Übereinstimmung mit dem Part, gestanden ist
auch neben stund (mhd. stuont) ein Prät. stand aufgekommen, das
jetzt fast allgemein gebraucht wird. Weniger ist der Opt. stände
für stimde durchgedrungen.
3. Die 2 Sg". Prät. hat überall denselben Vokal wie die
1 und 3 und die Endung -est, ohne Umlaut; also gäbest, ge-
loamiest, zogest etc. für mhd. gcehe, gewimne, züge\ vgl. § ^1..
4l Auch der Optativ folgt in der Regel dem Indikativ,
nur dass er Umlaut verlangt. Wenn also der Ind. o ange-
nommen hat, wird der Opt. mit ö gebildet: böte, böge für
mhd. hüte, büge; höbe für mhd. hüebe; pflöge, wöbe, schöre,
flöchte, föchte, quölle, schmölze etc. Aber in der Kl. I^ ist
das dem a entsprechende ä nur vor Nasal + Kons, zu fester
Anerkennung gekommen: bände, fände, sänge, zwänge, tränke
etc. ^or Liq. + Kons, behauptet sich gewöhnlich das alte ü: hülfe,
stürbe, verdürbe, würbe, würde, .icürfe, (aber bärge und seit dem
18, Jh. auch hälfe neben hülfe)-, in andern braucht man ö (oder ä):
gölte (bis ins 17. Jh. auch gülte), schölte, börste, be-, emp-föhle (aber
auch bärste, gälte, schälte). Vor Doppelnasal ist ö der regelrechte
Vertreter von ü: begönne, gewö7ine, rön7ie, sonne, spönne, schtcöm^ne
(aber auch schwämme, gewänne). HDie Neigung zum ä ist un-
verkennbar, aber sie wurde gezügelt durch das Bestreben, die
Formen des Präsens und des Präteritums deutlich auseinander
zu halten. Neben binde, finde, smge fanden bände, fände, sänge
etc. ungestört Eingang, nicht aber hälfe, stärbe, gälte etc. neben
helfe, stei^be, gelte. Aus demselben Grunde meidet man von schivören
den Opt. Prät. schtvöre zu bilden, obwohl man im Ind. schwor neben
schwur zulässt. Schwankenden Formen geht man überhaupt
gern aus dem Wege.
§ 26.] Formübertragung-en im Präsens. 45-
Ib. Das Part. Prät. hat sich im allgemeinen in gesetz-
mässigen Bahnen gehalten. Formübertragung hat nur in den
wenigen Verben der Kl. I^ und IV stattgefunden, in denen e und
a durch o verdrängt sind (z. B. gewoben, gehobeii)-^ und in scheiden,
das aus der 5. in die 2. Kl. übergetreten ist; steige?! (mhd. sttgen):
gestiegen = scheiden : geschieden (mhd. gescheiden). Aber durch
die Änderungen, die im Prät. eingetreten sind, ist zum Teil
auch die Stellung des Part, zu den anderen Stammformen be-
troffen. In Kl. 11 und in den Verben, die den o-Typus an-
genommen haben, stimmt das Part, nicht nur mit dem PI.
Prät., sondern aucli mit dem Sg. überein; es fallen hier also,
was in der älteren Sprache nie der Fall ist, drei Stammformen
in ihrem Vokal zusammen.
Anm. Einige Partizipia haben als Adjektiva ihre ursprüng-
liche Form behalten : vertcegen, erhaben, bescheiden.
f26. (Formübertragungen im Präsens.) 1. In den zum
Präs^stamm gehörigen Formen ist der Wechsel von e mit i
in der Kl. I grösstenteils beseitigt. Die Neigung, alle Formen
mit e zu bilden, die im Mndl. ^ ganz verdrängt hat, ist auch
im Md. wahrzunehmen, in manchen Denkmälern aber auf die
1 Sg. beschränkt (Elisabeth Whd. § 348, Joh. von Neumarkt
AfdA. 6, 314) und nur in dieser im Nhd. durchgedrungen:
ich gebe, mhd. gibe. Die 2 und 3 Pers. haben vielfach noch
i: gibt, nimmt, isst, bricht, gilt, birgt, verdirbt usw. In an-
deren steht es weniger fest: schwiert, drischt, lischt, quillt;
fast ungebräuchlich ist schiert '.^ ganz untergegangen sind die
i-Formen von bewegen, weben, pflegen, gären, melken, zer-
schellen. Von genesen sind sowohl die Formen mit i als die
mit e ungebräuchlich.
(Anm. Der Wechsel von e und i hat bei ivegen zu einer
Spaltimg' in zwei durch die Bedeutung teilweise differenzierten
Verben geführt: icägen und iviegen. Für zemen ist aus der 3 Sg.
zimt ein swV. ziemen entstanden.
[2. Der entsprechende Wechsel von m (nhd. eu) und ie
in Kinil (biuge, biugest, biuget, biuc : biegen etc.) ist ganz
aufgegeben; ie hat sich über alle Formen verbreitet, zuerst
wieder im Md. Nur in der Dichtung werden noch Formen
wie fleugt, kreucht, fleuch für fliegt, kriecht, flieh{e) gebraucht.
46 Beseitigung konsonantischer Verschiedenheiten. [§ 27.
3. Dagegen ist der Umlaut in der 2 und 3 Sg. Ind. fest-
gebalten und mit grösserer Konsequenz als in der älteren
Sprache durchgeführt. Nur au entzieht sich ihm meistens; in
Kl. III in saugen (aber nicht in saufen) und in den jüngeren
schnauben, schrauhe7i; in Kl. V in hauen (aber nicht mehr
in laufen). Jcommst, kommt werden seit Adelung gemeinhin
als besser angesehen.
JAnm. 1. rufen und schaffen wurden ursprünglich stark und
schwach flektiert. Das Prät. von rufen wird jetzt nur noch stark
gebildet, das von schaffe)} stark oder schwach, Je nach der Be-
deutung. Im Präsens haben beide nur schwache Form, ohne
Umlaut.
Anm. 2. Schwache Verba, die nach der Analogie der
starken im Präsens nicht selten Vokalwandel eintreten lassen, sind
fragen, kaufen, fassen, früher auch stecken. Von fragen und
stecken sind auch starke Formen des Präteritums weit verbreitet
und in der Schriftsprache anerkannt. — Über andere Berührungen
zwischen sw. und stV. s. II §26. 27.
Xonsonantische Verschiedenheiten. (Grammatischer
Wech sei u. a.)
[27. 1. In vielen Verben unterscheiden sich die Formen
nicht nur durch den Vokal, sondern auch durch den konso-
nantischen Auslaut der Stammsilbe. Schon im Urgermanischen
waren, noch ehe sich die germanische Akzentuation festgesetzt
Iiatte, die stimmlosen Reibelaute in stimmhafte übergegangen,
germ. /', p, h, s (hd. f d, h, s) in h, d, g, z (hd. ??, f, g^ r).
Der stimmlose Laut kam dem Sg. Prät. und den betonten
Präsensstämmen zu, der stimmhafte dem PI. und Opt. Prät.
und dem Part. Prät. (I § 23, 3). Aber dieser 'grammatische
Wechsel' hat sich, da er doch nur einer Minderzahl von Verben
zukam, weniger behauptet als der Ablaut, am wenigsten im
Gotischen, das nur in einigen Präterito-Präsentia {parf, paur-
^um] aih, aihum oder aigum) noch einen Rest bewahrt hat.
Im Ahd. haben sich die alten Formen besser erhalten. Wenn
man von Verben absieht, die überhaupt nur spärlich belegt
sind, finden sich hier nur wenige, in denen jede Spur gram-
matischen Wechsels fehlt, namentlich hi-felhan (vgl. g\ fulgins
^ 27.1 Grammatischer Wechsel ii. a. 47
Adj.), gi-scehan, fliohan, hläsan. Aber vielfach sind doch auch
im Alul. die ursprünglichen Verhältnisse schon durch Fonn-
iibertragung' getrübt und die regelmässigen Formen einiger
Verba nar vereinzelt belegt.
\2. Am meisten waren die Formen des Perfektums dem
Ausgleich ausgesetzt. Iji den Verben der Kl. IV und V, bei
denen der konsonantische Unterschied durch den Ablaut nicht
miterstützt wird, gilt^ wenn sie grammatischen Wechsel über-
haupt bewahrt haben, der stimmhafte Spirant oder sein Ver-
treter auch in der 1 und 3 Sg. Prät., so bei slahan, dwahan,
Jahan, giwahinen (Br. § 346 A. 2), bei lieffen und intseffen
(Br. § 347 A. 1. 2), bei fähan und hälian (Br. § 350 A. 4).
Hier treten also alle Perfektformen mit g oder h den Präsens-
formen mit //. oder /' gegenüber. — /\m Mhd. tritt dasselbe
Verhältnis auch in Verben der Kl. II und III ein, indem durch
<lie \^erhä£tun^ des Auslautes der Wechsel von d : t aufgehoben
wird; so bei Uden, smden, mideu, sieden. Dagegen behauptet
sich in diesen Verben der Wechsel von h : g, s : r; z. B.
ziehen, zöh, zugen, gezogen; Verliesen, verlos, verlurn, ver-
lorn. Im Nhd. ist, wie der Ablaut, so auch der Wechsel der
Konsonanten im Präteritum allgemein beseitigt. — Das Part,
folgt immer dem Präteritum. Eine Ausnahme bildet nur das
junge Part, gewesen (§ 32, 6) neben loar, waren und das zum
Adjektiv gewordene gediegen neben gedieh, gediehen (mhd.
gedeh, gedigen).
/3. Langsamer vollzieht sich der Ausgleich zwischen Prä-
sens und Präteritum. Einige unterscheiden noch jetzt die
beiden Tempora: leiden, schneiden, sieden, ziehe7i, kiesen;
in anderen ist bald der Konsonant des Prät., bald der des
Präs. zur Alleinherrschaft gelangt. Schon im Ahd. gilt sicelgan,
iverban, faltan nehen sie elha7i, ivervan, faldan; hebe?i begegnet ver-
einzelt für lieffen. Erst im Nhd. hat sich der Ausgleich in derselben
Richtung vollzogen in friesen, Verliesen, jesen (nhd. gären), slahen,
hähen, fähen. Umgekehrt hat der Konsonant des Präs. gesiegt, zum
Teil schon im Mhd., in ahd. icerdan, wurtun, ivor'taw, findan,
funtuii, funtaii', midan, niitun, gimitan; ladan, — gilatan-, scei-
daii, — gisceitau] zihan, zigun, gizig aw, dihan, digun, gidiga7i;
^H'ehan, — gisewan; Wian, litvun, giliivan; lesan, lärun, gi-
48 Die Flexionsendungen der thematischen Verba. [§ 2<S.
leran\ ginesan^ ginärui}^ gineran^ die Formen, die erst im Nhd. ganz
aufgegeben sind, sind gesperrt gedruckt.
/4. Nicht wenige Verba, in denen grammatischer Wechsel
nachwtdsbar ist, sind ganz untergegangen oder in die schwache
Konjugation übergetreten : ahd. '^liiufan od. Viiuhan (Br. §334 A. 2) ;
r^int^effen, int-suab, mhd. entsebe?i einsehen-, ethä. quedan, quätun,
giquetan\i mhd. briden, breit, gebrJtTefi flechten; rtden, reit^
geriten drehen; ahd. gehan sagen, — gejegen; rilian, rigun,
g i vi g an\ icthan kämpfen — giwigan ; giicahinen, giicuoc, gi-
icagaii'^ sihan seihen, — bisiwan und bisigan\ riaan fallen, rir.un,
giriran-^ mhd. niesen^ nös^ nurn, genorn.
Anm. Ob md. geschägen : geschehen, sägen: sehen, geligen t
Wien -auf den alten grammatischen Wechsel von h : g zurückzuführen
sind, ist zweifelhaft. Für geschehen ist er im Ahd. nicht belegt,
fsehan und Iiha^i (g. saiJvan, leilvan) haben Wechsel von h : w.
:5. Änderungen im konsonantischen Anlaut der Stamm-
silbe, die lautgesetzlich entstehen mussten (Schwund von post-
konsonantischem w vor u)^ kamen nicht zur Entfaltung und
gingen leicht wieder unter: Part, hidungan zu dwingan (Br.
§ 336 A. 5); Prät. duog zu dwahan (Br. § 346 A. 2); suor
zu swerren (§ 347 A. 4). Über Jcomen s. § 23 Anm. — Ebenso
sind die Störungen^ welche die Schwäche der inl. Media im
Mhd. in einigen Verben hervorriet' {Utj git, quit, seit, hat,
häte u. a, Paul § 86) in den starken Verben wieder beseitigt.
Erhalten dagegen hat sich die 2 Sg. ivirst < idrdest, die in-
folge der durch die Synkope des e hervorgerufenen Konsonant-
häufung den Stammauslaut verloren hat. — Von dieser Form
und den Resten des grammatischen Wechsels abgesehen, wird
im Nhd. der Stamm des Verbums höchstens dadurch einiger-
massen verdunkelt, dass in synkopierten Formen Stammauslaut
und Flexionsendungen zusammenfallen {tritt, lädt, wird u. ä.)
und dass stimmhaftem Inlaut stimmloser Auslaut entspricht
(I § 282).
Die Flexionsendungen der thematischen Verba.
28. (Präsens.) 1. Wie die Wurzelsilbe der starken
Verba^ so unterlag auch der Themavokal dem Ablaut, und
zw^ar galt, wie es scheint^ e in der 2 Sg. Imp. und vor den
mit s und t anlautenden Personalendungen, in allen übrigen
§ 28.]
Präsens.
49
Formen o, ausser in der 1 Sg. Ind., die auf ö ausging*. Durch
diese Wandelbarkeit erscheint der Themavokal, obgleich er
eigentlich zum Stamme gehört, in den historischen Sprachen
doch als ein Teil der Endung; er bildet zusammen mit Per-
sonal- und Modussuffix gegenüber der Wurzelsilbe das ver-
änderliche, die Form bestimmende Element.
(2. Im Gotischen gelten folgende Endungen:
Aktivum.
Ind. Präs.
Imp.
Opt.
Sg. 1. -a
-au
2. -is
—
-als
3. -ip
-adau
-ai
l. 1. -ÖS
-aiwa
2. 3. -ats
-aits
PL 1. -am
-am
-aima
2. -ip
■ip
-aip
3. -and
-andau
-aina.
Medium.
Ind. Präs.
Opt.
Sg. 1. 3. -ada
-aidau
2. -aza
-aizau
PI. 1. 2. 3. -anda
-aindau
[Im allgemeinen zeigt der Themavokal die Gestalt, die
bei regelmässiger Entwickelung zu erwarten ist : a für idg. o,
i für idg. e. Regelmässig ist auch der Abfall des e in der
2 Sg. Imp., die Verkürzung des ö in der 1 Sg. Ind. und die
Verschmelzung des Themavokals mit dem Optativsuffix zu den
Diphthongen idg. oi, g. ai. Unregelmässig dagegen in mehreren
Formen a vor dentalen Lauten (2 Du., 3 Sg. Imp., 1. 2. 3
Ind. Med. Brgm. 2 § 1052). -6s in der 1 Du. setzt gedehntes
ö voraus {-ös <^'öues IF. 12,207). Über das rätselhafte -au
im Opt. s. § 5; über die Formen der J-Präsentia § 40.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik III. 4
50 Flexionsendungen der thematischen Verba. [S 28.
3.
Im Ahd. gelten
fol
gende
Endungen :
Ind.
Irap.
Opt.
Sg. 1.
-u
-e
2.
-is, -ist
-es
3.
-it
-e
Ind.
Imp.
PI.
PI. 1.
-umeSj -ames,
emes.
-umes
etc.
-em
-em, -en
-emes
2.
-et, -it^ -at
-et, -it
, -at
-et
3.
-ant, -ent
-en.
Die Endungen im Singular des Indikativs entsprechen
den gotischen; jedoch tritt in der 2. Person seit dem 9. Jh.
eine Erweiterung von -is zu -ist ein, zuerst im Fränkischen,
dann auch im Oberdeutschen. Den Anlass gaben einerseits
die enklitische Anlehnung des Pron. tJiu, du (gibistu), ander-
seits die Formen der Prät. -Präsentia, namentlich solche wie
weist, gitarst. In dem Verbum sein, das durch seine auxi-
liare Bedeutung den Prät.-Präs. am nächsten stand^ setzt sich
das t zuerst fest, dann im Ind. Präs. der andern Verba; erst
später im Opt. (Br. § 306 A. 5 § 379 A. 1).
l4. Wesentliche Abweichungen zeigt der Plural. In der
mit dem spezifisch hochdeutschen Suffix -mes gebildeten 1 PL
(§ 3) ist u als der älteste Vokal anzusehen; er war vor dem
labialen Nasal für idg. o eingetreten (vgl. g. dagam, ahd.
tagum). e kam zunächst wohl den j-Präsentia zu, kann dann
aber auch als allgemeine Bezeichnung des unbetonten Vokals
aufgefasst werden; denn dass die Mittelsilbe in diesen Formen
ganz schwach war, zeigt Otfried, der nie i'lemes betont,
sondern stets i'lemes. a wird einerseits aus der 3 PI. ein-
gedrungen sein (vgl. die 2 PI. und die Verbreitung des a im
Gotischen), anderseits aber auch durch Assimilation an den
Vokal der Stammsilbe veranlasst sein; Otfried braucht regel-
mässig -emes, nur in farames ist viermal a belegt (Br. § 313.
A. 2). — Die Formen auf -mes gehören ursprünglich dem
Ind. Präs. an, werden aber von Anfang an auch Imperativisch
gebraucht und dringen vielfach selbst in den Optativ und
das Präteritum, so dass sie in manchen Denkmälern überall
^ 28.] Präsens. 51
lieiTsclien (Br. § 307 A. 1). Dass sie imperativiscli gebraucht
wurden, ist leicht begreiflich, da bereits im Germanischen die
1 PI. Ind. und Imp. zusammengefallen waren (§ 6, 2). Der
Imperativische Gebrauch vermittelte dann weiter das Ein-
dringen der Formen in den Optativ, da beide Modi sich früh
in ihren Funktionen berührten (§110). Er vermittelte aber
auch umgekehrt das Eindringen der Optativform in den Indi-
kativ; denn da -mes im Ind. und Imp., -em im Opt. und Imp.
gebraucht wurde, ergab sich leicht eine vollkommene Gleich-
stellung der beiden Formen. Jedoch ist in der älteren Zeit,
solange die Sprache noch an dem ausl. m festhielt, die Über-
tragung von -em in den Ind. noch selten; nur vier Belege
lassen sich nachweisen; häufiger wird sie erst, als m in n
übergegangen war (Br. § 307. A. 5). Schon im 9. Jh. waren
die Formen auf -en im Ind. die herrschenden, so dass bei
Otfried -mes fast durchaus auf den Imperativ beschränkt ist,
dem diese Form ursprünglich gar nicht zukam (Br. § 313).
r~5. In der 2 PI. ist -et die gewöhnliche Endung; daneben
findet sich in den Monseer Fragmenten -it. Dass wir in dem
i nicht etwa die später übliche Bezeichnung des unbetonten,
charakterlosen Flexionslautes sehen dürfen, zeigt sein Einfluss
auf die Stammsilbe; es bewirkt wie in der 3 Sg. Übergang
von e zu i und Umlaut {quidit für quedet, ferit für faret).
Um das Verhältnis der beiden Formen zu erklären, hat man
teils angenommen, dass -it die echte Form, -et eine unter dem
Einfluss der 1 und 3 PI. entstandene Analogiebildung ist (IF.
9, 355); teils, dass umgekehrt -et ursprünglich und -it nach
Analogie der 3 Sg. gebildet ist (IF. 11, 197 f. 13, 125). Nach
einer dritten, verbreiteteren Ansicht wären beide Formen
lautgesetzlich entwickelt, -it wäre die gewöhnliche Endung
der 2 PL, idg. -ete (germ. -epi^ -idi, g. -ip, ahd. -it), -et da-
gegen eine alte Dualform mit Sekundärsuffix, idg. -tom (gr.
<pepeT0v) od. -tä, oder mit Primärsuffix, idg. -thös (g. hairats),
deren dunkler Vokal (o, ä, ö) die Entwickelung von e zu /
gehindert habe (Kögel, PBb. 8, 138. Brgm. 2 § 1035). Aber
sicher ist auch diese Erklärung nicht. Da wir nicht genau
wissen, unter welchen Bedingungen idg. -e in unbetonter Silbe
52 FlexionsenduDgen der thematischen Verba. [§ 29.
in i überging, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass
-ete sich nur in einem beschränkteren hochdeutschen Gebiete
zu -it entwickelt habe; vgl. Walde, Auslautgesetze S. 119. —
-at begegnet neben -et im älteren Alemannischen und ist wie
das a in der 1 PL aus dem Einfluss der 3 PL zu erklären.
Dieser Einfluss bewirkt sogar, dass auch das n in die 2 PL
aufgenommen wird, so dass -nt als Endung erscheint, und nicht
nur im Ind. Präs., sondern auch im Prät. und im Opt. (ge-
henty gähunt, gäbint), Spuren dieses Gebrauchs finden sich
bereits im 8. und 9. Jh. ; und im späteren Alemannischen von
Notker an, werden die Formen auf -nt allgemein gültig; im
Fränkischen kommen sie spärlich, im Bairischen fast gar
nicht vor (Br. § 308 A. 3). Im Ndd., Fries., Engl, fungiert
die Form der 3 PL nicht nur als 2, sondern auch als 1 PL
(vgl. das got. Med.).
/6. Der 3 PL kommt zunächst die Endung -ant zu: da-
neben entwickelt sich in den j-Präsentia -ent. Doch tritt diese
Scheidung nur in wenigen sehr alten Denkmälern reinlich
hervor; das Oberdeutsche neigt zu -antj das Fränkische zu
-ent, (so immer 0. T.); später wird -ent natürlich allgemein.
<7. Im Imperativ fehlt in der 2 Sg. das ursprünglich
ausL e im Hochdeutschen wie im Gotischen. Ob es, ehe es
abfiel, in i übergegangen war, darüber sind die Ansichten
geteilt; s. I § 254, 1 und Walde a. 0. — In der 1 PL ist die
dem got. -am entsprechende Endung ebensowenig nachweisbar
wie im Indikativ. — Die 2 PL stimmt wie schon im Got.
gleichfalls mit dem Ind. überein.
<C8. Im Optativ ist der Diphthong ai in e zusammen ge-
zogen. Im Auslaut (1. 3 Sg.) tritt dann weiter Verkürzung
zu e, oft auch, namentlich im Bairischen, Übergang in a ein. —
Dass den Formen auf -mes e nicht zukommt, ergibt sich daraus,
dass sie, wie bemerkt, eigentlich Indikativformen sind (Br.
§311 A. 3). — Welche Form der 1 Sg. Opt. ursprünglich zu-
grunde lag, ist nicht genau zu erkennen ; vgl. IF. 6,60 und §36, 2.
29. 2. Präteritum. 1. Im Gotischen gelten folgende
Endungen :
§ 29.] Präteritum und Nominalformen. 53
Ind. Opt.
Sg. 1. — -jau
2. -t -eis
3. — -i
Du. 1. -u -eiiva
Du. 2. 3. -uts -eits
PI. 1. -um -eima
2. -up -eip
3. -^t7^ -eina.
! Der "Bindevokal' ^f, der in den Formen des Du. und
PI. vor der Personalendung- erseheint, ist vermutlich die
Sehwundstufe eines Vokals, der ebenso wie der Themavokal
im Präsens zu gewissen Wurzeln gehörte, im Germanischen,
zunächst vielleicht vor Nasal und u, zu u entwickelt wurde ^).
2. Dass das t in der 2 Sg. eigentlich nur den Verben
gebührt, deren Stamm auf labiale od. gutturale Konsonanten
oder auf s ausgeht, ist § 3 bemerkt. — Eine auffallende Un-
regelmässigkeit ist; dass g. saian die 2 Sg. auf st bildet:
^aizSßßt (Lc. 19, 21). Bethge nimmt an (S. 384), dass die auf
Tangen Vokal ausgehenden Perfektstämme schon im Urg-ermanischen
im Singular die sekundären Endungen des Aorist angenommen
hatten (-w, -s, -t), das Perfektum von saian also *se-zö-n, se-zö-s,
se-zöt = g. saisö, *sais6s, saisö lautete (vgl. as. dedös du i tatest
§ 33, 5). Jedenfalls wird man das t in saisöst ebenso wie in haust
(von biudan, baup) und ivaist (von ivait) als jüngeren Zusatz an-
zusehen haben. — Über den Optativ ist nichts zu bemerken;
der Vokal vor der Personalendung ist Modussuffix (§ 6).
3. Im Ahd. gelten folgende Endungen:
Ind. Opt.
Sg.
1.
-i
2.
-i
-ts
3.
—
-i
PL
1.
-um,
-umeSy {-ames)
-im,
-i7nes
2.
-ut
~it
3.
-un
-in.
1) Brgm. 2, 1206 f. von Bradke IF. 8, 156. Hirt, Ablaut
S. 185. 6. Anders Brgm. 2, 1360. 1371 (vgl. 1^, 177).
54 Flexionsendungen der thematischen Verba. [§ 30.
/ über die 2 Sg. Ind., die stark vom Gotischen abweicht, s. § 19 ;
über die 1 Sg. Opt. vgl. § 28, 8; sonst ist nichts zu bemerken.
<^30. (Die Nominalformen.) 1. Den Endmigen sämt-
licher Nominalformen kam der Vokal a zu; im Gotischen gilt
es noch überall, im Hochdeutschen tritt in den J-Präsentia e
dafür ein, in schwach betonter Mittelsilbe neigt er früh zur
Entartung. Der Einfluss des vorangehenden j zeigt sich am
deutlichsten im Infinitiv, wo manche Denkmäler, auch Otfried,
scharf zwischen -an und -en scheiden: gehan, g. giban, aber
bitten, g. hidjan. Die Schwäche des Mittelvokals macht sich
am meisten im Part. Präs. geltend, w^eniger im Gerundium,
am wenigsten im Part. Prät., wo die unflektierten Formen den
alten Vokal auch in den flektierten schützen. Im Part. Präs,
herrscht die Form -enti in vielen Quellen, die im Inf. a be-
wahren; so mit wenigen Ausnahmen auch bei Otfried; also
faran : farenti. In den flektierten Formen des Part. Prät.
entartet a fast nur in fränkischen Quellen; z. B. bei Otfried:
giscrihene, gihaltenera, einhorono7i, gihaltinu, gisceidiner,
Formen, in denen der Einfluss der benachbarten Vokale, meist
des folgenden, deutlich wahrnehmbar ist. Spuren der Suffix-
form -eno- (§ 8), auf die der Umlaut im Afries. und Mnl. hin-
weist, darf man in diesen hd. Formen mit -in schwerlich an-
nehmen.
2. Die Erweichung von nt zu nd ist bei Notker in der
unflektierten Form und im Adverb des Part. Präs. gewöhnlich
schon durchgeführt: farende, farendo\ dagegen hält sich nt
meist noch in den flektierten Formen, wo j verschärfend auf
den vorhergehenden Konsonanten gewirkt hatte. Näheres bei
Br. § 314—316. § 258^
31. (Jüngere Entwickelung.) 1. Die Änderungen, welche
die Flexionsendungen in der jüngeren Sprache erfahren, sind
im allgemeinen die Folge ihrer Unbetontheit (I § 265 ff.i.
Nur zwei Formen haben die alte Grundlage verlassen. In der
l PI. ist -mes schon im Mhd. aufgegeben, und die 2 Sg. hat
im Präteritum nach dem Muster der anderen Tempora all-
§ 31.] Jüngere Entwickelung. 55
mählich die Endung- -est angenommen. Die Übertragung lässt
sich bis ins 12. und 11. Jh. verfolgen, doch sind die Formen
auf -e noch im 15. Jh. gar nicht selten; im Mhd. herrschen
sie durchaus. Der Vokal der Stammsilbe behauptet auch vor
der Endung- -est zunächst noch seine alte Form; die Aus-
gleichung- mit der 1 und 3 Sg. tritt im 14. Jh. ein. Whd.
§ 374. ■ — Die Unterdrückung des ausl. t in der 3 PI. Präs.
begegnet im Fränkischen bereits im 9. Jh., ist bei den Mittel-
deutschen des 12. und 13. Jhs. schon sehr häufig, und bei
den md. Prosaschriftstellern des 14. Jhs. völlig- Regel. Whd.
§ 369.
2. Das Part. Präs. fällt durch Assimilation des nd und
Apokope des auslautenden e {-ende ^ -ene, -en) vielfach mit
dem Infinitiv zusammen ^). Auch diese Entartung- begegnet
zuerst im Ndd. und Md., (einmal schon im Arnsteiner Marien-
ieich MSD. 38, 236), wurde dann aber in manchen Verbin-
dungen, in denen man das Part, als selbständiges Satzglied
nicht mehr fühlte, von der Schriftsprache angenommen (§ 61).
/Umgekehrt nahm der Infinitiv mit zu die Endung des
Partizipiums an und ging- als ein Part, necessitatis in attri-
butiven Gebrauch über {ein nicht zu ühersehender Umstand
u. dgl.). Die Berührung- mit dem lat. Gerundium, das schon
in der Benediktiner-Regel einmal durch diese Form wieder-
gegeben wird (Hattemer 98, 2 nuntianda — ze chundande),
wird die Entwickelung unterstützt haben, s. II § 385. Erd-
mann § 137.
<:^nm. Andere Formübertragungen sind in der Schriftsprache
nicht zu dauernder Geltung gekommen. Die 1 Sg. Ind. Präs. wird
nach dem Muster der schwachen Verba 2 und 3 auf -n gebildet,
besonders im Fränkischen. Whd. § 367. — Der 1 und 3 Sg. Prät.
wird nach dem Muster des schwachen Prät. e angehängt, eine Ge-
wohnheit, die sich besonders im späteren Mitteldeutschen weit ver-
breitet und in einem Verbum auch, von der jetzigen Schriftsprache
anerkannt ist: icurde neben ward. — Über e im Imperativ s. I § 281.
1) Mit besonderem Fleiss, aber nicht überall mit richtiger Be-
urteilung hat Bech diese Erscheinung verfolgt. ZfdW. 1, 81.
56 Athetnatische Verba, [§ 32.
Atliematische Yerba (Verba auf -mi).
S32. Die thematischen und atheraatischen Verba stimmen
in ihren Personalendungen überein, abgesehen von der 1 Sg.,
die jene auf -o^ diese auf -mi (germ. m) bilden. In der Stamm-
bildung unterscheiden sie sich durch den Themavokal und
dadurch, dass die athematischen ähnlich wie die Perfekta im
Sg. Ind. eine starke Stammform mit hochstufigem Vokal hatten,
im PI. und Du. Ind., so wie im Opt. eine schwache mit tief-
stufigem Vokal. Im Germanischen haben nur wenige Verba
charakteristische Formen bewahrt; namentlich das Verbum
substantivum und ahd. gen, sten, tuon\ ferner das Verbum
löollen und g. iddja. Andere haben sich unter den schwachen
Verben verloren (§ 46. 47). Je kleiner die Gruppe wurde,
um so weniger konnte sie starken Umbildungen widerstehen.
Das Verbum substantivum^).
\. Um das Verbum substantivum auszudrücken, werden
verschiedene Verbalwurzeln gebraucht ; im Gotischen die Wurzel
es und das thematische Verbum wisan bleiben, im Ahd. ausser-
dem ein j-Präsens der Wurzeln hlieu wachsen (idg. hhu-iiö),
zu der auch 1. fuij fio, gr. (pvöj etc. gehören (Brgm. 2, 907 f.).
Dass zu der Wurzel es kein Perfektum gebildet wurde, ist
vermutlich darin begründet, dass die durative Bedeutung
der Wurzel der Bedeutung der Perfektbildung widerstrebte
(Delbr. 4,256).
2. Ind. Präs.
g. Sg. im, is, ist. Du. siju, sijuts. PI. sljwm, sijup, sind.
ahd. Sg. him, bist, ist. PI. birum. birut, sint.
fAls regelmässige Formen der Wz. es mit primären Suffixen
erschemen g. im (< immi, es-mi), is (< esi oder es-si Brgm.
2, 701), ist (<< es-ti), sind (< s-enti). Der grammatische
Wechsel, den das d in dieser letzten Form bekundet, erklärt
sich aus dem enklitischen Gebrauch des Wortes. Die übrigen
Formen haben unter verschiedenen Einflüssen starke Um-
bildungen erfahren. Die Wurzel erscheint im Dual und Plural
1) Eine übersichtliche Darstellung und Literaturangaben ge-
währt F. Kuntze. ZfdU. 10,314—331.
§ 32.] Verbu, substantivum. 57
in derselben starken Stammform wie im Singular (vgl. Prtz.
gihans § 15, 2) und neben den primären Endungen gelten
sekundäre (Injunktiv-Formen), so dass sich Formen ergaben,
die dem Du. und PI. der Perfekta und der Präterito-Präsentia
ganz ähnlich waren. Im an. PI. erom erurrij erod eriid, ero
eru (< ^eziim, *ezup, ^^ezim) sind sie rein erhalten, im Hd.
in der 1 und 2 PI. unter Einfluss der Wz. hheu umgebildet. —
Regelmässige Formen des Präs. hhuiiö sind namentlich im
Ags. benutzt; im Ahd. stammt daher die 2 Sg. Mst, as. ags.
his <ilj}iu-isi\ (über das t in ahd. bist s. §28,3). Unregel-
mässige Bildungen sind dagegen ahd. him, hirumy hirut-^ sie
sind nach dem Verhältnis von is : his aus im, ^ezum, *ezup
gebildet. — Eine 3 PI. mit der Perfektendung -un {sindun,
sintun), die in einigen alten fränkischen Quellen, oft im As.
und Ae. erscheint, ist unter dem Einfluss von ^ezum, *ezud
entstanden. Die gotischen Dual- und Pluralformen sind ab-
weichend, wie es scheint, nach dem Optativ gebildet; davon
sogleich. ^
Anm.^l. Dass auch im Sg. Injunktivendung-en gebräuchlich
waren, ist daraus zu schliessen, dass die 3 Sg. ohne Personalendung'
erscheint. Im Hd. zwar scheint is überall auf jüngerer Entartung
zu beruhen — im Ahd. kommt die Form noch nicht vor — , aber im
as. ags. is und im an. es {<C es-t) scheint sie alt ererbt.
3. Opt. Präs.
g. sijau, sijaisy sijai etc.
ahd. st, sis, si; shn, sU, sin.
-/Im Hd. ist das Optativsuffix des Plurals / für das sin-
gularische ie eingetreten; im übrigen sind die Formen regel-
mässig gebildet, ganz übereinstimmend mit dem Opt. Prät.
Die gotischen Formen sind kühne Umbildungen der ursprüng-
lich nur für den Sg. des Opt. geltenden Formen s-ie-m s-iie-m,
s-ie-s s-iie-Sy s-ie-t s-iie-t. Man fasste sij- als Stamm und
verband damit die Endungen des Opt. Präs. der thematischen
Verba. — Dieser Stamm sij- ist dann auch in den Indikativ
übertragen und zur Bildung von sijuy sijuts, sijum, sijup be-
nutzt. Die Personalendungen stammen aus den untergegangenen
"^ez-ttm, "^ez-up.
Anm. 2. Alte partizipialc Bildungen der Wz. es liegen g.
58 Athematische Verba. [§ 32.
sunjis wahr, bisunjani ringsum zugrunde. Ein themavokalisches
s-out-, germ. sanpo- ist in ags. söÖ. an. sannr "wahr' erhalten; vgl.
§ 8 Anm. 2.
<4. toesan wird als Verb, subst. fast nur in den Formen
verwendet, die von den Wurzeln es und hheu nicht gebildet
werden, also namentlich im Prät., aber auch im Inf. und im
Part. Präs. In den finiten Präsensformen pflegt es sich als
Vollverbum in der Bedeutung ^bleiben, existieren, geschehen'
zu behaupten (Br. § 378 A. 1). — Der Imp. ist im Gotischen
noch nicht belegt, das Part. Prät. weder im Got. noch im
Ahd. Zur Vertretung des Imp. werden im Gotischen die
Optativformen sijais, sijai, sijaip herangezogen (Br. § 204
A. 2); dem Ahd. stehen eigentliche Imperativformen: iciSy
weset zu Gebote, doch begegnen daneben schon die Optativ-
formen sist und Sit in imperativischer Funktion (§ 111). Im
Mhd. ist dieser Gebrauch ganz gemein.
r
Anm. 3. Neben dem Imp. wis begegnet einmal schon mi
Ahd. (Br. §378 A. 3), öfter im Mhd. und noch jetzt in Mundarten
bis. Auf eine alte Imperativform der Wz, es, die eine ähnliche
Umgestaltung wie binnn, birut erfahren hätte, darf man die Form
schwerlich zurückführen (Brgm. 2, 1317); auch nicht durch den erst
jüngeren Lautübergang von tv zu b aus ivis herleiten ; Aäelmehr
wird ivis in Anlehnung an die 2 Sg. Ind. zu bis umgebildet sein
(DWb. 10, 242).
<(5. Auch in der jüngeren Sprache haben die Formen des
Verb, subst. noch manche Änderung erfahren. Das Verhältnis,
in dem die Formen der regelmässigen Verba zu einander
stehen, wies den Weg; das Ergebnis war die weitere Ver-
breitung der zur Wz. es gehörigen Formen. Schon im Ahd.
fallen die 3 PI. Opt. und der Inf. in vielen Verben (swV. 2
und 3) zusammen; daher wurde neben wesan ein Inf. sin ge-
bildet. Bei Otfried ist sin schon ebenso häufig wie lü'esan.
bei Notker hat es das Übergewicht. — Bei vielen Verben
(stV. 1^. 4. 5) unterscheiden sich ferner der Inf. und das
Part. Prät. nur durch die Vorsilbe ge- (geben : gegeben, varn :
gevarn, halten : gehalten); nach diesen Mustern werden im
Mhd. Formen für das Part, gewonnen (§ 53, 4) : gewesen zu
Wesen, gesin (namentlich alem., zuweilen auch md.) zu sin^
§ 33.] tuon und die Endungen des schwachen Präteritums. 59
gewesen verrät sich als junge Analogiebildung durch das Fehlen
des grammatischen Wechsels. — ^Das Part. Präs. lässt sich
von Anfang an in allen Verben auf den Infinitiv beziehen
(gehantl zu gehan etc.) ; danach ist das nhd. seiend an Stelle
des älteren wesende getreten. — Die 2 ^^. Imp. sei ist zur
2 PL Sit nach dem Muster von var : vart, stic : stiget, lä : lät
etc. gebildet und hat mit ihr die älteren Imperative verdrängt.
So sind die zu icesan gehörigen Formen jetzt auf das Prät.
und Part. Prät. beschränkt.
y 6. Auch die mit Hülfe der Wurzel hheu gebildeten Formen
wurden zurückgedrängt. In der 1 und 2 PI. werden hirn,
hirt in der bairisch-österreichischen Literatur des 12. Jh. noch
oft gebraucht-, im 13. Jh. erlöschen sie allmählich; die Optativ-
formen sin, Sit traten an ihre Stelle, wie ja damals in der 1
und 2 PL der Indikativ und Optativ überall zusammengefallen
waren. Nur in der 1 und 2 Sg. haben sich die mit h an-
lautenden Formen erhalten.
fl. Dazu kommen dann noch einige Änderungen, die mit
der Stammbildung nichts zu tun haben. Der Abfall des t in
der 3 PL, durch den diese mit der 1 PL zusammenfällt, führt
seit dem 13. Jh. auf md. Gebiet zu einer Vermischung von
sin und sint; beide Formen und die Kompromissbildung si7it
(nach der Diphthongierung: sei7i, sind, seint) werden in der
1 und 3 PL gebraucht; schliesslich ist sind zu allgemeiner
Anerkennung gekommen; bei Luther seit 1524 (Franke § 64). —
Der Optativ wird nach dem Muster der anderen Verba zwei-
silbig: sie od. sige, siest etc., Formen, die namentlich seit dem
14. Jh. waichern und in unserer jetzigen Sprache überall an-
erkannt sind, wo die Endung auf einen Konsonanten ausgeht:
ich, er sei, aber du seiest, wir, sie seien, ihr seiet \ ebenso
im Part, seiend] aber im Inf. sein, ebenso im Ind. ihr seit,
und gewöhnlich aach im Imp.
/tuon und die Endungen des schwachen Präteritums.
TSS. 1. Das Verbum tuon ist der Wz. dhe (gr. Ti-9ri-jui)
entsprossen ; als selbständiges Verbum haben es nur die west-
germanischen Sprachen bewahrt. — Im Präsens sollte man
'60 Atheraatische Verba. [§ 33.
bei regelmässiger, stammabstufender Flexion im Abel, etwa die
Formen täm, täs, tat, tum, tut, tunt erwarten, die jedoch
nirgends erscheinen. Gewöhnlich sind die Formen von einem
Stamme germ. dö gebildet, an den sich die Personalsuffixe
unmittelbar anschliessen, auch im Optativ; also:
Ind. tuon, tuos{t), tuot'^ tuomes od. tuon, tuot, fuont.
Opt. ttio, tuos{t), tuo] tuomes etc.
Imp. tuo, tuomes, tuot.
Inf. tuon, tuonne.
Part, tuonti.
Der unterschied zwischen Ind. und Opt. liegt hier also
wie bei den swV. 2 (§ 46) nur in den primären und sekun-
dären Personalendungen.
2. Aber neben diesen gewöhnlichen Formen erscheinen
andere, die sich nicht auf den einsilbigen Stamm dö zurück-
führen lassen. Im Alemannischen finden wir wie bei den
swV. 2 und 3 Optative, die von einem erweiterten Stamme
auf -öio gebildet sind. Sie begegnen namentlich bei Notker,
gewöhnlich ohne dass das i bezeichnet ist: tuoe, tuoest, tuoe,
tuoen, tuoent, tuoen, in den Psalmen aber auch mit j: tuoie,
tuoiest etc. (Br. § 380 A. 2). Dass dasj alt, und die Formen,
mögen sie auch, wie man anzunehmen pflegt, Analogiebildungen
sein, nicht ganz jung sind, zeigt der Umlaut: mhd. tüeje, ,
3. Ein dritter Stamm du mit den Endungen des the-
matischen Verbums erscheint besonders deutlich bei Otfried.
Die Kürze des ti wird durch das Metrum bezeugt: Sg. 2 P.
duisit) neben duas{t), 3 duit (neben dtiat); PI. 1 duen, 2
duet, 3 duent (daneben duant). Opt. Sg. 1 due, 2 duest,
3 due. PI. 3 dum. Imp. PI. 1 duemes, 2 duet. Zwei-
deutig ist der Inf. duan, duanne. — In Denkmälern, die die
Quantität des u nicht erkennen lassen oder es als lang be-
zeichnen, ist nicht zu entscheiden, ob solche Formen von dem
Stamme dö oder du gebildet sind; denn einerseits konnte der
Diphthong tio vor Vokalen zu ü zusammengezogen (Br. § 40
A. 4), anderseits aber auch ü in offener Tonsilbe zu ü ge-
dehnt werden (I § 240). Notker braucht diese Formen mit ü
neben solchen mit uo besonders im Opt.: tiie, tuest, tüe'.^
§ 33.] tuon und die Endungen des schwachen Präteritums. 61
tuen tüenty tuen ; zuweilen auch im Inf. und Part, tuen, tüenne^
tuende. Am festesten steht ö als ursprünglicher Vokal jeden-
falls im Sg. Ind. und in der 2 Sg. Imp.
/4. Auf einen vierten Stamm endlich weisen die mfränk.
2 und 3 Sg. deist, deit. Diese Formen sind entweder mit
den Endungen des thematischen Verbums zu dem alten idg.
Stamm dhe oder zu einem erweiterten Stamme dheio gebildet
(vgl. § 47);
^r: Eine befriedigende Erklärung der anderen Formen ist
noch nicht gewonnen. Der Stamm du kann seinen Ursprung nur
im Plural des Indikativs haben, und leicht begreiflich ist, dass
er sich mit den gewöhnlichen Endungen der thematischen
Verba verband; wie aber die Sprache zu dem Stamme dö
kam, ist eine offene Frage. Brugmanu (2, 908 f. 951 f. 1280) führt
ihn auf idg, dh-ä zurück und sieht darin eine anderwärts als Kon-
junktiv fungierende Form (1. con-dam, -dä-mus), in der die schwächste
Form der Wurzel mit einem unveränderlichen Suffix ä erweitert
sei. Hirt (Ablaut S. 47) bestreitet die Existenz eines solchen Suffixes,
führt die Form auf idg. dhö zurück und sieht darin eine Ablaut-
bildung, die sich im enklitischen Gebrauch des Verbums und zwar
zunächst im Präteritum ergeben habe (S. 158. 192).
< 6. Das Präteritum, ahd. teta, tätiy teta\ tätun, tätut,
tätun, Opt. täti etc., liesse sich als ein regelmässiges, nach
der Art der starken Verba gebildetes Perfektum auffassen, nur dass
in der 1 und 3 Sg. die Reduplikation erhalten und infolgedessen
der Vokal der Wurzelsilbe (ö) dem Auslautgesetze unterlegen
wäre. Ob die Formen aber wirklich auf diese Weise entstanden
sind, ist eine andere Frage ^). teta lässt sich jedenfalls auch
anders auffassen, als ein augmentloses Imperfektum des redupli-
zierten Präsensstammes (vgl. gr. e-ri-Griv), und diese Auffassung
wird bestätigt durch eine 2 Sg. dedös, die im As. neben
dädi erscheint und ihr gegenüber als alt und ursprünglich an-
zusehen ist; denn dädi ist ja zweifellos als eine junge Neu-
bildung zu dem Plural dädun anzusehen (§ 19). Im Singular
ist hiernach eine Perfektbildung nicht anzuerkennen. — Auch
im Plural und Optativ zeigt das As. Doppelformen, Formen
1) Dass man das d in tätun nicht ebenso wie das ä in gabu7i
erklären darf (§ 16), bemerken Lorentz IF. 8, 70 und Hirt, Ablaut S. 192.
62 Athematische Verba. [§ 34,
mit langem Rednplikatioiisvokal wie im Hd. und solclie mit
kurzem: dedun, dedi etc. Das Alter der ersteren wird durch
die Übereinstimmung des Westgermanischen mit den gotischen
Endungen im schwachen Präteritum verbürgt; die Formen mit
kurzem Vokal könnten Analogiebildungen nach dem Singular
sein, wie solche später im Hd. nachweisbar sind (Whd». § 362),
wahrscheinlicher aber ist, dass sie alte, zu demselben Tempus
wie dedös gehörige Formen sind. Entweder liegen also in
den Doppelformen zwei verschiedene Tempora vor, oder beide
gehen auf ein System von Formen zurück, die in der Redupli-
kationssilbe zum Teil langen, zum Teil kurzen Vokal hatten.
Dies nimmt Hirt (Ablaut S. 192) an, der durch sehr kühne
Konstruktionen die überlieferten Formen mit seinem Ablaut-
system in Einklang zu setzen sucht.
Anin. Im Mhd. reimt tete sowohl auf e (bete) als auf e {stete).
Diese doppelte Qualität des e lässt weder auf doppelten Ursprung
der Form, noch auf eine besondere Qualität des Reduplikations-
vokales schliessen (ZfdA. 44, 107); vermutlich ist das geschlossene e
als ein durch enklitische Pronomina veranlasster Umlaut anzusehen.
7. Das Part. Prät. lautet im Hd. getan, mit dem Vokal
der ersten Hochstufe (ahd. ä = idg. e). Im As. kommt neben
gidän auch gidön vor, eine Form, die später auch im Md. verbreitet
erscheint. Whd. § 362.
8. In der jüngeren Sprache sind die Formen zum Teil
nach der Analogie der regelmässigen Verba umgestaltet. Im
Präteritum kommt für die 2 Sg. tcete schon im Mhd. tätesit)
vor, später wird auch tet{e) durch tat ersetzt, nur im Volks-
lied ersclieint noch das alte tat. — Im Präsens begegnet schon
im Mhd. die 1 Sg. ohne auslautenden Nasal, tiio neben tuon.
Bindevokallose Formen pflegen noch jetzt vor konsonantischer
Endung im Ind., Imp. und Inf. gebraucht zu werden, die
Endungen der übrigen Formen werden wie beim thematischen
Verbum mit e gebildet.
34. (Die Endungen des schwachen Präteritums.) 1. Zum
Verbum tun gehören auch die Endungen des schwachen Prä-
teritums (vgl. § 38). Im Gotischen stimmen Du., PI. und
Optativ genau mit den reduplizierten Formen des selbständigen
Präteritums, wie wir es in den westgermanischen Sprachen
§ 35.] stän und gän. 63
finden, überein: g. -dedum, -dediip, -dediin; -dedjau, -dedeis
etc. = ahd. tätnm, tätnt, tätiin, täti, fdtis{t) etc. Im Singular
dagegen und in allen Formen der übrigen germanischen Sprachen
gelten reduplikationslose Formen. Sie müssen also entweder,
wie Hirt nachzuweisen sucht, in der Komposition die Redupli-
kation verloren haben, oder mit einem anderen Tempus der
Vergangenheit zusammengesetzt sein (vgl. § 19).
^^ Wie im Präsens weisen die Formen auf verschiedene
Stämme: de, dö und du.
Ind. Sg. g. -da, -des, -da.
ahd. -ta, -fös, -ta\ PL -tum, -tut, -tun.
'töm, -tot, -tön.
Opt. Sg. ahd. -ti, -tis, -ti; PL -tim etc.
In der 1 und 3 Sg. ist der auslautende lange Vokal
unter der Wirkung der Lautgesetze verkürzt. Die erste Person
ging ursprünglich vermutlich auf -ö (idg. -öm), die dritte auf
-e (idg. et) aus. Auf diesen unterschied weist das ürnord.:
1 Sg. tairido, worahto, 3 Sg. wtirte, orte. Der 2 Sg. kam
ursprünglich wie der dritten e zu, so dass zwischen den Formen
des Singulars ein ähnlicher Wechsel bestand wie im Präsens
der thematischen Verba. e in der 2 Sg. bezeugen ausser dem
Gotischen das An. und Ae.; auch im Isidor ist wenigstens
einmal -es überliefert: chi-minnerodes (minuisti). Aber früh
mag wHe im Präs. des selbständigen V^erbums das regelmässige
Verhältnis gestört sein. Im Hd. ist ö in der 2. Person allge-
mein gültig gew^orden, im Alemannischen und im Isidor sogar
in den Plural gedrungen. — Die schwächste Wurzelgestalt
zeigt im ßairischen und Fränkischen der Plural, und überall
der Optativ. Dass in der 1 und 3 Sg. Opt. das lange t be-
wahrt ist, während in den thematischen Verben i gilt, erklärt
sich daraus, dass in den meisten schwachen Präteritis der
Endung -ti eine unbetonte Mittelsilbe vorausging, der gegen-
über die letzte leicht einen Nebenton empfangen konnte.
stän und gä7i.
35. 1. Neben den thematischen Verben standa^i und
gangaii bestehen im Hochdeutschen und in anderen west-
64 Athematische Verba. [§ 35.
germanischen Sprachen die Verba stän und gchi. sfandan
und stdn stammen, wie auch immer die doppelte Bildung- zu
erklären sein mag*), aus derselben über das ganze idg. Sprach-
gebiet weit verbreiteten Wurzel stä. Dagegen ist das Ver-
hältnis von gangan zu gän unklar. Die Versuche, sie auf
denselben Ursprung zurückzuführen, haben wenig Wahrschein-
lichkeit, weder die Annahme, gän sei zu gangan nach dem
Muster von stän : standan geschaffen (Bethge S. 391), noch
die Behauptung Kluges gen sei aus einer Verbindung der
Vorsilbe ga mit der Wz. i gehen entstanden (vgl. Streitberg
S. 319). Aber auch die entgegengesetzte Annahme, beide
Verba seien grundverschieden {gangan = lit. zeng-iü ich schreite,
gä-n = ai. ja-hä-ti, gr. Ki-xri-jui ich treffe an, hole ein) be-
friedigt nicht, weil die beiden germanischen Verba nach Form
und Bedeutung zusammen zu gehören scheinen.
^(2. stantan und gangan können im Ahd. vollständig
durcht'lektiert werden-, stän und gän werden nur in einem
Teil der Präsensformen gebraucht. Die 2 Sg. Imp. wird
immer, der Opt. meist, im Alemannischen immer von gangan
und stantan gebildet: gang, stant, gange, stante etc. Erst
im Mhd. treten diese Formen zurück; am festesten behaupten
sie sich im Imp. und im Alemannischen (Whd. § 353. 357);
im Nhd. sind sie auf das Prät. beschränkt.
3. gän und stän stimmen in ihrer Flexion vollständig
überein. Die Personalendungen sind dieselben wie bei tuon-,
der ihnen vorangehende Vokal ist bald «, bald e, in der 2
und 3 Sg. Ind. auch ei. Die ei-Formen braucht Otfried, in
der 2 P. stets, in der 3 in der Regel, daneben gät, stät. e
gilt überall im Optativ: ge, gest, ge etc. In den übrigen
Formen hat das Alemannische ä, das Fränkische ä oder e,
das Bairische e, obwohl unter literarischem Einfluss auch in
mhd. bairischen Gedichten a-Formen als bequeme Reimworte
oft gebraucht werden^), ei in der 2 und 3 Sg. behauptet sich im
Mfrk. In der nhd. Schriftsprache gilt nur noch e und die
1) Vgl. Brgm. 2, 1002. 1043 und Hirt PBb. 23, 315 f. IF. 12, 197 f.
2) Bohnenberger, PBb. 22,209. Kraus und Zwierzina
in der Festgabe für Heinzel S. 152. 4G7.
§ 35.] stän und gän. 65
Flexion der thematischen Verba; der Bindevokal hat in Ver-
bindung mit dem silbentrennenden h in gehen und stehen
weitere Verbreitung' gefunden als in tun (§ 33, 8).
/4. Die Erklärung der Vokale macht grosse Schwierig-
keiten. Die a-Formen von stän lassen sich nicht unmittelbar
auf die Wurzel stä zurückführen, denn idg. a wird germ. ö;
ahd. stä- würde, w^enn die Form alt ist, idg., urgerm. ste vor-
aussetzen. Man vermutet, dass diese Form eine Neubildung
nach ghe, westgerm. gä sei, die durch die Übereinstimmung
beider Verba in einem Teil ihrer Formen, nämlich tiberall,
wo eine Verkürzung der langen Vokale eintreten musste, ver-
anlasst worden sei. — In den ei- und e-Formen sieht man
Kontraktionen der schwachen Wurzelstufe mit i (idg. d-i =
germ. ai) und geht hierbei teils von der Voraussetzung eines
J-Präsens {std-iö) ^), teils von den Formen des Optativs (vgl.
gr. axa-iri-v, cTTai-juev) oder eines optativischen Imperativs aus
(Bethge S. 390 f. Brgm. IF. 15, 126 f.). Die sehr auffallende
Erscheinung, dass dies ai im Hochdeutschen fast überall zu e
kontrahiert ist, was sonst doch nur im Auslaut und vor w, h, r
eintritt, erklärt man aus der unbetonten Stellung des Verbums
nach anderen Satzgliedern, besonders nach Partikeln. — Ich
zweifle, ob diese kühnen Konstruktionen zulässig sind, und
halte eine andere Erklärung, die ich früher versucht habe
(ZfdA. 33, 424 ff.), für wahrscheinlicher. Die offenbare Über-
einstimmung der Formen von tuon mit denen von gän und
stän weist den Weg. Ich nehme an, dass mit den alten athe-
matisch gebildeten Formen thematische, von den schwachen
Stämmen stäy gä gebildete, konkurrierten. In den athematischen
galt ä, ebenso entstand in den thematischen «, wenn die En-
dung a enthielt, e aus ä e, ai aus ä-i. Eine scharfe und all-
gemein gültige Sonderung des starken und schwachen Stammes
fand vermutlich schon vor der Kontraktion nicht mehr statt,
doch ist nach der Analogie von tuon anzunehmen, dass der
starke Stamm im Sg. Ind. herrschte, der schwache im Plural
und Optativ, in Otfrieds Mundart auch in der 2 und 3 Sg.
1) Bilduiig-en mit e und -lo haben sich auch sonst zu einem
Paradigma vereinigt (§ 47).
W. Wilmaniis, Deutsche Grammatik. III. 5
66 Athematische Verba. [§ 35.
Hiernach miisste sich im Optativ, dessen Endungen im Ahd.
sämmtlich e enthalten, überall e ergeben, wie denn tatsächlich
im Opt. durchaus die e-Formen gelten. Im PI. Ind., wo die
Endungen teils e, teils a enthalten, mussten beide Vokale ent-
stehen und zwar, wo die ursprüngliche Verteilung der Laute
bestand, in der 2 PL et (aus ä-et), in der 3 änt (aus a-ant);
wo dagegen ein Ausgleich erfolgt war, entweder e oder ä.
Otfried, der im starken Verbum überall e braucht {-en, -et,
-ent) zeigt dementsprechend bei diesen Verben überall e. In
der 2 und 3 Sg. Ind. ergab sich ei, wo diese Formen auf dem
schwachen Stamm beruhten, also bei Otfried; wo sie athe-
matisch von dem starken Stamm gebildet waren, hatten sie ä.
e konnte, wenn man nicht eine durch Unbetontheit des Verbums
veranlasste Kontraktion von ei annehmen will, in den Sg.
Ind. nur durch Formübertragung eindringen, ebenso in den In-
finitiv und das Part. Präs. Dass solche Formübertragungen
nicht ausbleiben konnten, ist selbstverständlich; doch ist zu
bemerken, dass in diesen Formen, namentlich im Infinitiv, das
regelmässige ä in der älteren Zeit die herrschende Form ist.
fb. Bei gän gewinnt ferner das Präsens Einfluss auf das
Präteritum. Den Formen gä-n, gä-st, gä-t eta. entsprechend
wird schon in spät-ahd. Zeit ein Prät. gie gebildet (Br. § 382, 3).
Im Mhd. ist die Form häufig und dringt selbst in den Plural
und Optativ ein. Ebenso begegnet im Part. Prät. gestän,
gegän neben gestanden, gegangen; und umgekehrt dringt der
Vokal des Prät. in das Präs. ein (Imp. genc, ginc neben ganc).
Schliesslich sind im Nhd. die Formen so geregelt, dass alle
Präsensformen von den kurzen Stämmen mit e und den ge-
wöhnlichen Endungen des Verbums, die Formen des Präte-
ritums von den erweiterten Stämmen gebildet werden.
rAnm. Ähnliche Formen, wie sie bei gän und stän alt her-
gebracht sind, entwickeln sich durch Unterdrückung des inl. h im
Ind. Präs. und im Inf. des Hülfszeitwortes haben: mhd. hän, hast,
hdt\ hän, hät^ hänt., Inf. hän. Die 3 Sg. hat kommt schon in dem
bairischen Petrusliede vor, öfter begegnen die Formen seit dem
11. Jh. (Br. §368 A. 4); im Mhd. sind sie sehr allgemein; die nhd.
Schriftsprache hat nur die 2 und 3 Sg. hast, hat anerkannt. — Auf-
fallender ist, dass auch von lä^en solche Formen gebildet wurden:
§ 36.] g. wiljan, ic ollen. 67
Ind. Präs. län (!), last od. Ice^it, lät od. Icet, län, lät, länt. Imp. lä,
lät. Inf. län. Prtc. gelän. Im Mhd. sind die Formen beliebt, ver-
einzelt kommen sie schon im Spät-ahd. vor, namentlich die 2 Imp.
lä oft bei Notker (Br. § 351 A. 2). — Auch in das Prät. dringt, wie
bei gän, dieser vokalisch auslautende Stamm ; die 1 und 3 Sg. lie
kommen schon vom 10. Jh. an hier und da vor. Im Mhd. schliessen
sich vie und hie zu vähen und hähen an. Dass diese Formen auch
in Gebieten erscheinen, wo die kontrahierten Infinitive vän und
Jiän nicht üblich waren, hat Zwierzina gezeigt (ZfdA. 45, 53 ff.);
ihre Bildung kann also auch nicht von den Infinitiven ausgegangen
sein, wenigstens nicht überall. Die Doppelform gienc : gie muss das
Muster gewesen sein, nach dem me, gie zu vie7ic, gienc geschaffen
Avurden.
g. wilja7i, wollen.
^6. 1. In g. wiljau, wileis, will, irileiwa etc. ist wahr-
scheinlich der Optativ eines athematischen Präsens zur Wurzel
uel erhalten. Der Indikativ ist untergegangen^ der Optativ
Eat, wie aus der Bedeutung des Verbums erklärlich ist, seine
Stelle eingenommen (Streitberg S. 345). Die Endungen zeigen
die regelmässigen Formen, wie sie auch im Perfektum der
thematischen Verba entwickelt sind. Bemerkenswert ist, dass
der Vokal der Stammsilbe wie im Lateinischen velim, velimus
auf erster Hochstufe steht, da man im Optativ Tiefstute er-
warten sollte, also g. 'houljau oder ^nljau (§ 32).
/^. Das Hochdeutsche weicht stark ab. Die alten Optativ-
tormen sind nur im Singular erhalten; im Plural und in dem
neu gebildeten Optativ treten als Ersatz Formen eines der
selben Wurzel entsprossenen aber ganz anders gebildeten Prä-
sens ein.
Ind. Sg. willu, will, wili.
PI. icellemes od. wellen^ wellet, irellent.
Opt. tvelle, wellest etc.
Inf. wellen. Prtz. wellenti.
Im Sg. entspricht die 3. Person genau der gotischen.
Auch die 2. ist regelmässig entwickelt; sie setzt die sekundäre
Personalendung s voraus, die dem Opt. von rechtswegen zukam,
im allgemeinen aber durch das primäre -si verdrängt ist (§ 3).
Abweichend und schwankend lautet die 1 Sg.; neben willu,
68 Athematische Verba. [§ 36.
mit dem u des Indikativs, steht icüley im Tat. auch willa.
Welche Endung die Form früher hatte, ist zweifelhaft; jeden-
falls muss sie wie im Gotischen j gehabt haben, denn
sie hat Konsonantverdoppelung', und anders gelautet haben
als die dritte Person, ein Zeichen, dass die Gleichheit der
beiden Personen, die sonst allgemein im hochdeutschen Verbum
herrscht, nicht auf einer rein lautgesetzlichen Entwickelung
beruht.
1^3. Für die richtige Beurteilung aller übrigen Formen
war von entscheidender Bedeutung der Nachweis Francks
(ZfdA. 25, 221), dass sie nicht, wie man früher annahm, e,
sondern umgelautetes e haben. Sie gehören also zu einem
Verbum g. waljan, ahd, wellen, das sich in der Bedeutung
Vählen' als^regeTmässiges schwaches Verbum bis heute er-
halten hat (PBb. 9, 564 f.). Präsensbildungen auf -eio- mit
zweiter Hochstufe erscheinen neben den Grundverben teils in
kausativer, teils in intensiver oder iterativer Bedeutung (Brgm.
2, 1147) und so konnte loaljan wohl das Paradigma toiljan
ergänzen. Auch im Inf. und Part, wird, abweichend von g.
wiljan. lüiljands, dies Verbum gebraucht.
(4. Im Präteritum hat g. wilda übereinstimmend mit den
Präsensformen den Vokal auf der ersten Hochstufe; im Hoch-
deutschen dagegen kommt icelta nur in wenigen alten Denk-
malern vor (Br. § 384 A. 1), die herrschende Form ist von
Anfang an wolta, also mit tiefstufigem Vokal, wie er auch
im Präteritum der Präterito-Präsentia gilt. — Das Part, wird,
gleichfalls in Übereinstimmung mit den Prät.-Präs. (§ 55), erst
spät gebildet (Whd. § 423); der älteren Sprache fehlte es.
J5^ Jüngere Umbildung. Die abnormen Bildungen im Sg.
Präs. mussten früh entarten; einerseits wirkte das Muster der
thematischen Verba, anderseits und nachhaltiger das der
Präterito-Präsentia. Nach jenen wurde zu der 1 Sg. willu
im rhein- und mittelfränkischen schon früh eine 3. loilit (so
stets bei Otfried), zuweilen auch (im Tatian) eine 2. idlis ge-
bildet. Nach dem Muster der Präterito-Präsentia wurde auf
die erste Person die Form der dritten übertragen und der
zweiten ein t angehängt, will steht schon mehrmals im Tatian
§ 37.] g". iddja {hiri). 69
und wird später, in der Form loile, teil, bei Notker und
Williram alleinherrschend; bei diesem begegnet auch dti wilt zu-
erst. Später tritt dann wie bei den Prät.-Präs. st für t ein.
j0l\m PI. und Opt. erscheint im fränkischen Gebiet früh
0 für e. Zwar im Js. heisst es ivellent, auch im T. kommt
noch einigemal e vor, aber sonst gilt in T. und 0. durchaus
o. Vielleicht ist o unter der doppelten Einwirkung des Prät.
iüolta und der benachbarten Konsonanten to und l an die
Stelle von e getreten. Sollten Formen mit alter Tiefstufe an-
zuerkennen sein, so dürften diese natürlich nicht auf "^ul-iö
zurückgeführt werden — daraus hätte *iDüUen entstehen
müssen — , sondern es müsste ein mit ?^-Suffix gebildeter
Präsensstamm zu Grunde liegen (Kluge PBb. 8, 515. Brgm.
2, 978). wellen behauptet sich im Oberdeutschen auch während
der mhd. Zeit; in der nhd. Schriftsprache sind die mittel-
fränkischen Formen zur Anerkennung gekommen. — Umlaut
im Opt. Prät. ist dem Mhd. nicht fremd, aber nicht durch-
gedrungen. — Über den Imperativ s. § 111.
g. iddja (hiri).
J37. g. iddja ist ein Präteritum zu Wz. ei gehen (vgl.
gr. ^H^O; ^4/ ^^^ verdoppeltes i. Aus der mit e erweiterten
Schwundstufe der Wurzel war mit den sekundären Personal-
endungen ein Tempus der Vergangenheit gebildet : idg. *iie-m,
-s, 'ty oder mit Augment *e-ie-m, -s, -t (vgl. ai. iyät und a-yät,
Brgm. 2, 861). Beide Formen mussten im Gotischen den^g.
iddja, iddjes, iddja ergeben. Im Plural und Optativ sind die
regelmässigen Formen verloren. Da das Wort in den Singular-
endungen mit dem schwachen Präteritum zusammenfiel, wurden
nach dessen Muster auch die übrigen Formen gebildet: iddje-
dtcm, iddjedup, iddjedun:, iddjedjau etc. Falls dem g. iddja
die augmentische Form zu Grunde liegt, würden wir in diesem
Wort den einzigen Rest eines augmentierten Tempus im Ger-
manischen haben; Streitberg S. 277^).
1) Über ags. eode^ das man dem got. iddja gleich zu stellen
pflegt, s. Sievers, Zum ags. Vokalismus (Lpz. 1900) S. 52 und
Holthausen IF. 14, 342.
70 Schwache Konjugation. [§ 38.
Anm. 1, Der Imperativ der Wz. e% idg\ ei, germ. l ist ver-
rautlicli in g. hiri erhalten ; dazu als alte Konjunktivformen hirjip,
hii'jats (Bethge § 204. 203a). Dagegen ist es unwahrscheinlich, dass
in mhd. gie eine alte Form des Verbums erhalten sei (Kögel, PBb.
9, 544).
Anm. 2. Auch zu der Wz. gevri^ gm, der unser Verbum kommen
entsprossen ist, gehörte ursprünglich ein athematisches Präsens
(Brgm. 2, 887. Sievers PBb. 8, 80). Aus dem Wechsel der beiden
Stammformen erklärt sich die Doppelbildung quiTnu, kumu (§ 18, 3). —
Über andere Verba, die in verwandten Sprachen ein mi-Präsens
hatten s. Kluge, Grdr. 2 1, § 166. 168. S. 433 ^1
Schwache Konjugation.
38. 1. Je nach der Präsensbilduug unterscheidet man drei,
im Gotischen vier schwache Konjugationen. Für die erste ist
j der charakteristische Laut, für die zweite 6, für die dritte
e {ai), für die vierte n. Die zweite und dritte gehen im Ahd.
in der 1 Sg. auf m aus und lassen daraus erivcnnen, dass
Verba auf -mi wesentlichen Einfluss auf ihre Bildung gehabt
haben^ die erste und vierte lassen auf j und n die Endungen
der thematischen Verba folgen. Die charaliteristischen Formen
für alle schwachen Verba aber sind das Präteritum und das
Partizipium Präteriti^).
2. (Bildung des Präteritums.) Lange Zeit hat die alte
Ansicht Bopps und Grimms, dass das schwache Präteritum
auf der Zusammensetzung eines Nomens mit Formen des Ver-
bums tun (Wz. dhe) beruhe, unbestritten gegolten, also iiasi-
da = Heilen od. Heilung tat, salhö-da Salbung tat etc. Aber
eine ßeihe von Formen, in denen sich die P]ndung des schwachen
Präteritums ohne Mittelvokal an die Wurzelsilbe schliesst,
lässt sich mit dieser Theorie nicht in Einklang bringen. Unter
den Präterito-Präsentia sind nur zwei, g. munda und slculda,
deren Endung sich auf idg. dh zurückführen liesse; in allen
andern, g. paurfta, aihta, öhta, toissa, ahd. muosa, g. daursta^
1) Lorentz, Über das schwache Präteritum des Germanischen
und verwandte Bildungen der Schwestersprachen. Leipzig 1894.
Michels IF. Anz. 6, 85. Löwe IF. 4, 365 f. 8,254.
§ 38.] Bildung' des Präteritums. 71
ebenso in g'. hauhta, hrähia, ptlhfa, jbähta, waurhta setzt teils
das t der Endung^ teils die Änderung, die der Stammauslaut
erfahren hat, idg. t oder th als Anlaut der Endung voraus. —
Der erste, der mit Nachdruck auf die Schwierigkeit dieser
Formen hinwies, war Begemann^), und alle Versuche, die man
auch später noch gemacht hat, diese Formen mit der Zusammen-
set/Aingstheorie in Einklang zu bringen, sind gescheitert.
3. Begemann stellte nun seinerseits die Ansicht auf, dass
das schwache Präteritum überhaupt nicht zusammengesetzt sei.
Aber dagegen sprach zu laut die grosse Übereinstimmung
zwischen den Endungen des schwachen Präteritums und den
Formen der Wz. dlie (§ 34). Man wird also, wie R. von Raumer
gleich nach dem Erscheinen von Begemanns Buch vermutete,
zwei verschiedene Ausgangspunkte für das germanische schwache
Präteritum anerkennen müssen. Zum Teil erwuchs es aus
Zusammensetzung mit der Wz. dhe, zum Teil aus Verbal-
formen, die mit if- oder f/i-Suffix gebildet waren. Was für
Formen das waren, darüber sind verschiedene Ansichten auf-
gestellt (Streitberg S. 334 f.); am wahrscheinlichsten ist die,
welche Wackernagel und Behaghel (KZ. 30, 313) begründet
haben.
4. In der 2 Sg. gab es neben dem Personalsut'fix -tha,
das in dem f des got. Perfektums erhalten ist, eine sekundäre
mediale Endung -tJies. Diese Endung ist im Griechischen der
Ausgangspunkt für die Bildung des schwachen Passiv-Aorists
gewiesen, im Germanischen für das schwache Präteritum, soweit
es nicht auf Zusammensetzung beruht. Indem das Griechische
zu -6riq die übrigen Personen -0r|v, -9r| etc. entwickelte, lehnte
es sich an die älteren Aoriste auf -r|v, -ri<;, -x] an (Brgm. 2,
1378. 962); das Germanische fand das Muster der Weiter-
bildungin dem zusammengesetzten Präteritum, mit dessen zweiter
Person die alte mediale Endung übereinstimmte; vgl. g. mun-des
{— ai. ma-thäs) mit dem Suffix -thes und g. salbö-des mit der2Sg.
der Wz. dhe. Wie 7.i\ salbö-des eine 3 Sg. salböda gehörte, so
bildete man zu mun-des eine 3 Sg. munda, und so die übrigen.
1) Begemann, Das schwache Präteritum der germanischen
Sprachen. Berlin 1873.
72 Die schwache Konjugation. [§ 39.
5. Die Greuzen, innerhalb deren das schwache Präte-
ritum zur Geltung- gekommen ist, sind im wesentlichen durch
die Präsensbildung- bestimmt. Wir finden es neben den Präterito-
Präsentia, neben allen Verben, die ihre Präsensformen mit e
und öj und neben fast allen, die sie m\i j und n bilden (Aus-
nahmen in § 11), sonst nur in ganz wenigen: g. briggan,
hrälita\ ahd. higinnan, Mgo7ida{bigonsta); hrühlian {g. hrüJcjan),
hriillta. Zu hringan und biginnan werden auch starke Präterita
gebildet (vgl. § 39, 1). brang brungan ist selten und ohne Dauer;
dagegen fand bigan im Mhd., gefördert durch das Reimbedürfnis,
weite Verbreitung (ZfdA. 8, 14. 45, 29).
6. Das Verbreitungsgebiet der beiden Formen, die im
schwachen Präteritum vereinigt sind, ist sehr verschieden.
Das ^Präteritum blieb auf wenige Verba beschränkt und ist
nur da anzunehmen, wo von Anfang an die Endung sich un-
mittelbar, ohne Mittelvokal an den Stamm anschloss: in den
Präterito-Präsentia, den eben angeführten Verben bi^mgan,
biginnan und binihhan und einem Teil der Verba auf -io (§ 41).
Auf das zusammengesetzte Präteritum, das ursprünglich nur
den denominativen Verben zukam, sind vernmtlich alle Präterita
zurückzuführen, in denen der Endung ein Mittelvokal ?, ö oder
e vorangeht.
6. Den Anlass, ein schwaches Präteritum auch von nicht
denominativen Verben zu bilden, gab bei den Präterito-Prä-
sentia der Umstand, dass ihnen ein Tempus der Vergangen-
heit fehlte; bei vielen andern darf man ein wesentlich mit-
wirkendes Moment darin sehen, dass ihr Vokal sich nicht in
die Ablautreihen der thematischen Verba fügte oder dass sie
in den Flexionsendungen des Präsens stark von der normalen
Bildung der ablautenden Verba abwichen. Dieses kommt für
die Verba der zweiten und dritten, jenes namentlich für die
der ersten und vierten Konjugation in Betracht (vgl. § 45. 49).
39. (Das Partizipium.) 1. Die zweite für das schwache
Verbum charakteristische Form ist das mit -to gebildete Parti-
zipium. Ursprünglich hatten die mit diesem Suffix gebil-
deten Verbaladjektiva mit dem schwachen Präteritum nichts
zu tun. Aber nachdem die beiden Formen durch die Laut-
f^ 39. j Das Partizipium. 73
Verschiebung' und den grammatischen Wechsel in ihrem Kon-
sonanten d zusammengefallen waren, traten sie in fruchtbare
Beziehung. Das zusammengesetzte Präteritum der Denominativa
förderte die Verbreitung der Verbaladjektiva, und wo neben
Wurzelverben Verbaladjektiva mit ^o-Suffix bestanden, beför-
derten umgekehrt diese die Bildung eines schwachen Präteritums.
Die Verbreitung des schwachen Präteritums über Wurzelverba,
namentlich über die Verba auf -eiö (§ 40), beruht sicher zum
guten Teil auf solchen Verbaladjektiven. Doch hatte ihre
Existenz die Bildung eines schwachen Präteritums nicht not-
wendig- zur Folge. Wir finden sie auch neben Verben mit
starkem Perfektum; z. B. g. clatips tot neben clhvan sterben;
un-sah-t-s unbestreitbar zu sakan\ ahd. alt alt (eig. heran-
gewachsen) zu g. alan etc. (II § 337, 1 2). und auch wo
ein schwaches Prät. und ein Verbaladjektiv auf -to neben
einander bestehen, weist zuweilen die Bedeutung auf die Selb-
ständigkeit der beiden Bildungen hin. Neben Verben, die ihr
Prät. von jeher ohne Mittelvokal bildeten, erscheinen die Verbal-
adjektiva auf -to in der Kegel nicht als Partizipia, sondern
als Adjektiva; so namentlich neben den Präterito-Präsentia
(§ 55, 5) und neben pagkjan und pugJcjan : anda-pähts be-
dächtig, vernünftig-, hauh-pühts hochmütig.
Anin. Wie das ^Partizipium nicht notwendig ein schwaches
Präteritum zur Folge hat, so steht umgekehrt neben higonda das
/^-Partizipium öz^wnntm; und das Part. \o\\hringan lautet wenigstens
in den ältesten hd. Denkmälern viel öfter hrungan als brdht.
2. Was die Betonung betrifft, so ordnete sich in den
zusammengesetzten Präterita vermutlich der verbale Bestand-
teil dem nominalen enklitisch unter (Streitb. S. 342); dagegen
ist für die 2 8g. auf -thes und für das Part, auf -to Suffix-
betonung als ursprünglich vorauszusetzen. In dem nicht zu-
sammengesetzten Präteritum sollte man also wie im Partizipium
grammatischen Wechsel erwarten, germ. d < idg. th, t\ und
dementsprechend heisst es auch g. sJculda, shiilds, munda,
toilda\ aber wider die Regel: g. kunpa, Hmpa, ahd. konda,
onda: Part. g. Jcunp, ahd. kund. Wie die i^usnahmen zu er-
klären sind, ist unsicher; vgl. Streitb. S. 340. Bethge S. 366.
370. 378.
74 Erste schwache Konjug'ation. [§ 40.
Erste schwache Konjugation.
40. (Präsens.) 1. Die schwachen Verba der ersten
Konjugation bilden ihre Präsensformen mit denselben Endungen
wie die starken Verba mit j' Präsens; ihre Flexion unterscheidet
sich von der der gewöhnlichen starken Verba (§ 28) im all-
gemeinen nur durch ein vorangehendes J; z. B. Ind. nas-ja,
ß^y 'J^P'-i ~j^''^> -jats\ -jam, -j'ip, -jand. Opt. nas-jau, -jais,
-jai etc. Eigentümliche Bildung zeigen nur wenige Formen.
Die Lautfolge ji erscheint nur im Gotischen, und nur in
Verben mit kurzer Stammsilbe*, Verba mit langer Stammsilbe
oder mit mehrsilbigem Stamm haben statt dessen ei\ also
2. 3 Sg. Ind. 7ias-jis, -jip, aber sand-eis, -ei]); mildl-eis, -eip;
2 PI. Ind. und Imp. 7ias-j/p, aber sand-eip, m'ikü-eip. Die
2 Sg. Imp. geht in allen Verben auf -ei aus: nas-ei, sand-ei
miJcil-ei. — Im Hochdeutschen, wo die Lautfolge ji nur in
der 2. 3 Sg. Ind. zu erwarten wäre, wird weder ji noch i
gebraucht, sondern kurz /; also ner-is, ner-it; sent-is, sent-it.
Ebenso im Imp. wer-i, sent-i. Ausserdem ist für das Hd. noch
zu bemerken, dass J folgendes a in e w^andelt und früh unter
Hinterlassung der bekannten Wirkungen (Umlaut und Kon-
sonantverdoppelung in der Stammsilbej schwindet. Für ein
Verbum wie waljan ergeben sich also folgende Formen: Ind.
wellii, tüelis, ivelit, wellemes, freuet, wellent\ Imp. iceli, wellet \
Opt. welle, welles etc.
2. Alle diese Formen, den got. Imperativ ausgenommen,
finden ihr genaues Gegenbild schon im Idg. (Streitberg S. 300 f.).
Es gab Verba auf io, die in ihrer Präsensflexion ganz mit
den thematischen Verben übereinstimmten (starre iejio-^W-
dungen); es gab andere, in denen neben den Vollstufen ie, io
die Tiefstufen / und i standen, und zwar / nach kurzer Stamm-
silbe, wie in alid. welis, welit (vgl. 1. capio, capis, caplt,
capimus, capitis, capiunt), l nach langer, wie in g. sökeis,
söJceip (vgl. 1. farcio, farcis, farcit, farcimus, farcitis, far-
ciunt). Und so könnte man annehmen, dass die germanische
Flexion auf einer Vereinigung dieser verschiedenen Form-
systeme beruhe. Aber der Imperativ auf ei widerspricht, denn
ein einsilbiges ie oder i hätten g. i ergeben müssen; g. ei
^ 40.1 Die Präsensformen. 75
setzt ein zweisilbiges eie oder iie voraus. Und noch andere
schwerwiegende Momente weisen auf zweisilbige Endungen.
3. Zahlreicher als die Verba auf io waren nämlich die,
welche vor der Endung io noch einen Vokal hatten, Verba auf
eio und von nominalen ejo und «-Stämmen abgeleitete auf eio und
iio, und zu diesen Verben gehören gerade die Gruppen, die
sich im Germanischen am lebenskräftigsten zeigten, zahlreiche
Denominativa, die Kausativa mit dem Vokal auf zweiter
Hochstufe (II § 33) und Intensiva mit Tiefstufenvokal (II § 35. 66).
Für alle diese Verba ergaben sich im Germanischen zunächst
zweisilbige Endungen ija, ijis, Ijip etc., und es ist schwer zu
glauben, dass sie spurlos den seltenen Bildungen mit ein-
silbiger Endung das Feld geräumt haben sollten. Ferner wäre
es sehr merkwürdig, wenn die schwachen Suffixstufen i und
l sich gerade nur in den Formen erhalten hätten, in denen
die thematischen Verben ein i in der Endung haben, im Got.
in der 2 und 3 Sg. und in der 2 PL, im Hd. nur in den
beiden ersteren. Diese Umstände deuten darauf hin, dass im
Germanischen eine spontane Entwickelung des zweisilbigen
Suffixes zum einsilbigen stattgefunden haben muss, mögen auch
die alt ererbten Formen von Verben auf io diese Entwickelung
gefördert und teilweise geleitet haben.
4. Zunächst ergab sich im Imperativ durch die Wirkungen
des Auslautgesetzes l aus iie'^). Dann muss in den Formen,
die dem Auslautgesetz nicht unterworfen waren, die zwei-
silbige Endung einsilbig geworden sein, sei es, dass ija, ije
durch Unterdrückung des ersten Vokales zu ja, je, oder, was
wahrscheinlicher und anzunehmen ist, durch Schwund des j
zunächst zu ia, ie, dann zu ja, je wurden. Es ist ganz natür-
lich, dass die Schwäche des inl. j, die im Ahd. den Laut auch
nach den betonten Stammsilben verschwinden lässt, sich früher
1) Um zti erklären, dass im Got. der Imp. auf -ei, der A. Sg.
der J(2-Stämme aber auf i ausgeht, nehmen Walde (Auslautgesetze
S. 147 f.) und Janko (IF. Anz. 17, 61) an, dass sökei nach Analogie
von 2. 3 Sg. sökeis, sökeip, und nach der Analogie des Imp. sökei
dann wieder nasei gebildet sei; für mich ebenso unglaublich wie für
ihre Rezensenten Jellinek und Michels.
76 Erste schwache Konjugation. [§ 41 .
in den unbetonten Endungen geltend machte. Doppelte FormeUj
je nachdem der erste oder der zweite Vokal schwächer betont
wurde, ergaben sich nach dem Schwund des inl. j aus iji'i
nach langer Stammsilbe wurde im Gotischen u zu i (soheip <
söldip), nach kurzer n zu ji {nasjip < ndsüp). Zweifelhaft
ist nur, ob man auch das kurze i im Hd. auf zweisilbiges
iii zurückführen darf. Aus li, i kann es natürlich nicht ent-
standen sein, wohl aber halte ich für möglich, dass im Hd.
die Form ji < // ebenso wie ja, je allgemeine Geltung ge-
wonnen hatte, und dassj vor dem i früher als sonst und ohne
die Wirkung, die sein späterer Schwund auf den vorhergehenden
Konsonanten ausübt, erloschen sei.
41. (Mittel vokal im Präteritum und Partizipium.) 1. Im
Präteritum lassen die schwachen Verba der ersten Konjugation
entweder wie die Präterito- Präsentia die Endungen unmittel-
bar auf die Stammsilbe folgen, oder sie verbinden die beiden
Elemente durch i. Die Formen mit Mittelvokal müssen von
den Verben ausgegangen sein, die ihr Präteritum durch Zu-
sammensetzung mit Nominalformen bildeten; Formen ohne
Mittelvokal kamen den Verben zu, von denen ein ^Präteritum
gebildet war.
2. Die Frage, wie es kam, dass gerade / zum Mittel-
vokal wurde, hat die Forschung oft beschäftigt. Denn mag
die Zusammensetzung in eine Zeit hinauf reichen, wo noch der
blosse Stamm des Nomens als abhängiges Satzglied gebraucht
werden konnte^), oder mag sie erfolgt sein, als die Kasus
bereits ausgebildet waren, ursprünglich müssen jedenfalls ver-
schiedene Laute in der Kompositionsfuge gestanden haben,
und weder die Stamm- noch die Kasusbildung hätten für die
Alleinherrschaft des i eine genügende Grundlage geboten.
1) Diese Annahme Hirts (IF. 17, 45) halte ich für sein* un-
wahrscheinhch. Dass die Formen der Substantivkomposition aus
so früher Zeit stammen und daraus zu erklären sind (a. 0. S. 43),
hatte ich übrigens II § 3. 399 schon mit klaren Worten ausgesprochen
und wohl jeder angenommen, der sich die Frage nach dem Ursprung
des Vokals in der Kompositionsfuge vorgelegt hatte.
§ 41.] Mittelvokal im Präterituni und Partizipium. 77
Dass neben ihm alle andern Laute verschwanden, ist zum Teil
wohl darin begründet, dass schon im Idg. sowohl neben Kausa-
tiven als neben Denominativen partizipiale Bildungen auf -ito-
bestanden ; mehr noch vermutlich in dem Verhältnis des Prät.
zum Präs. (vgl. Streitberg S. 341). Da die meisten Verba
unserer Konjugation im Präs. ursprünglich zweisilbige ija, ije,
iß hatten, erschien das erste unveränderliche i als Bestandteil
des Stammes und wurde als solcher auf das Präteritum über-
tragen. Die Mannigfaltigkeit, die hier gegolten hatte, unter-
lag der Einheit, die im Präsens herrschte. Die Partizipia auf
-ito aber werden es vorzugsweise erleichtert haben, dass die Form
des zusammengesetzten Präteritums, die bei den denominativen
Verben entsprungen war, auf die Kausativa übertragen wurde.
3. Die Endung -ida hatten bei weitem die meisten swV. 1.
angenommen; doch gab es auch einige ohne Mittelvokal, teils
solche, die ein ^Präteritum hatten, teils aber auch solche,
deren Präteritum nach Art der zusammengesetzten, also mit
c^Ä-Präteritum gebildet war. Zwar im Gotischen zeigen alle
Verba, die den Mittelvokal entbehren, durch die Änderungen
im Auslaut der Stammsilbe, dass sie ein ^Präteritum haben:
hugjan kaufen bauhta, hrükjan hrühta, waurkjan waurhta,
pagJcjan pähta, puglijan pühta, kaupatjan ohrfeigen kaupasta
(aber Part. ]{:aupatips). Aber gerade der umstand, dass alle
diese Verba eine Änderung ihres Stammauslauts erfahren haben,
lässt schliessen, dass das Gotische den ursprünglichen Zustand
nicht rein bewahrt hat. Denn warum sollte der kürzere Typus
nur solchen Verben zugekommen sein, in denen die Laut-
gesetze zu einer Änderung des Auslautes führen mussten? Es
ist vielmehr anzunehmen, dass diese Verba der Rest einer
grösseren Gruppe sind, dessen Endungen eben wegen der Än-
derung der Stammsilbe der Umbildung zu -ida widerstanden.
4. Welche Verba ursprünglich zu dieser Gruppe gehörten,
darüber gibt auch das Ahd. nur ungenügende Auskunft.
Während nämlich im Gotischen die Formen mit Mittelvokal
sich auf Kosten der andern ausgebreitet haben, ist das Um-
gekehrte in allen andern germanischen Sprachen geschehen.
Ein jüngeres westgermanisches Synkopierungsgesetz, das nach
78 Erste scliwache Konjug'atioii. [§ 41.
langer Stammsilbe die Unterdrückung des Mittelvokales be-
wirkte, hat dem kürzeren Typus ein weites Feld erobert.
Überall durchgeführt erscheint das Gesetz zwar nicht; in
manchen fränkischen Denkmälern, besonders im Is. überwiegt
wie im Gotischen das i-Präteritum, z. B. sendida, ar-aughida,
chi-deilida (ßr. § 363); aber im Oberdeutschen sind solche
Ausnahmen sehr selten. Ein Schluss auf die vor dem Syn-
kopierungsgesetz geltenden Formen ist also bei den Verben
mit langer Stammsilbe aus der Synkope allein nirgends zu
ziehen. Nur wo ältere Lautgesetze zu einer Veränderung des
Stammes geführt hatten, wie in dejiken dähta, dunicen dühta,
wurken loorhfa kann man auf eine aus alter Zeit ererbte
Form schliessen, aber solche Änderungen konnten nur in dem
^Präteritum eintreten. Wie weit etwa c?Ä-Präterita ohne
Mittelvokal vorhanden waren, darüber gibt die hd. Form lang-
stämmiger Verba keine Auskunft,
Ainii. ]. Selbst Lautverbiudungen, die im Gotischen ein t-Frät.
verbürgen, entbehren im Ahd. der Beweiskraft, weil sie durch die
hd. Lautverschiebung und jüngere Synkope entstanden sein können.
So kennen wir brühta aus dem Gotischen, suohta (g. sökidä) und
Tuohta aus andern germ. Sprachen als ^Präterita; im Hd. könnten
sie aus brühhita etc. entstanden sein.
Anm. 2. Dass worhta eine alte Bildung ist, erweisst ausser
den Konsonanten auch der Vokal o für u. Bei furhten forhta (g.
faurhtida) findet derselbe Wechsel statt, wird aber im Fränkischen
ausgeglichen, indem o auch in das Präsens dringt (Br. § 364 A. 1).
5. Zu den Verben mit langer Stammsilbe sind auch die auf
germ. p, t, Ic zu rechnen-, denn die Affrikaten und Spiranten,
die durch die hd. Lautverschiebung entstehen, bilden stets
Position (I § 238). Verba wie setzen sazta, stepfen staßa,
decken dalita oder dacta lassen also keine alten Bildungen
ohne Mittelvokal voraussetzen.
Anm. 3. Die Verba auf -akjan bilden synkopierte Präterita
mit ht besonders, wie es scheint, im Alemannischen, mit kt über-
wiegend im Bairischen und namentlich im Fränkischen. Bei 0.
heisst es immer wakta, thakta (oder wagta, thagtä)^ im Tat. kommt
nur ein wdhta vor (Br. § 362 A. 1).
Anm. 4. sazta, dacta sind anders gebildet als stafta^ dalita.
Diese sind regelmässig aus stafita^ dahhita entstanden. In dacta
muss entweder das k aus dem Präsens dekken in das Präteritum
i5 41.] Mittelvokal iin Präteritiiiii und Partizipium. 79
übertragen, oder die Synkope vor der Lautverschiebung erfolgt
sein. Über sazta s. Anm. 5.
6. Zu den langstämmigen gehören natürlich 2iViQ\igar{a)wen,
far{d)wen\ daher im Prät. regelrecht (mit Übergang von w
in o) garota, farota. — Ferner stehen ihnen ganz gleich
zweisilbige Stämme, deren erste Silbe kurz ist. So bildet 0.
mcihalen mahalta, Milden bilidta; dagegen antwurtita, an-
giistita, auch lougnita, hotthnita (Br. § 363 A. 3).
7. Mehr Auskunft, wie weit die Präterita ohne Mittel-
vokal schon der älteren Sprache angehörten, geben die Verba
mit kurzer Stammsilbe, die dem Synkopierungsgesetz nicht
unterliegen. Die meisten gehen auf -ita aus; z. B. nerien
nerita, friimmen frumita, dennen dehnen denita, knussen
zerstossen Jcnusita, leggen legita, Intswebhen einschläfern int-
swehita, frewen frewita. Jedoch bei den Verben auf germ.
d und l konkurrieren synkopierte und nicht synkopierte Formen :
retita und ratta\ zelita und zalta-^ ebenso bei quetten be-
griissen, scutten erschüttern, muUen zermsdmQUy wellen, seilen,
hüllen] bei einigen scheinen die Formen mit i, bei andern
die ohne i üblicher gewesen zu sein (Br. § 362 A. 3. 4). Ob
sie t- oder dh-Fräitevitmn gehabt haben, lassen die Verba auf
7 nicht erkennen, das Prät. der Verba auf t, germ. d dagegen,
lässt sich auf ein f-Präteritum nicht zurückführen, denn Dental
+ t hätte SS ergeben müssen. Dasselbe gilt dann noch für
ein Verbum auf germ. t, für das Prät. satte von setzen. Die
Form ist zwar im Ahd. noch nicht belegt, aber später im
Fränkischen, bis in das alemannische Gebiet hinein, verbreitet
lind sicher alt. Sie kann nur auf einem noch unverschobenen
.satda beruhen (PBb. 1, 141).
Anm. 5. Wenn satta einst gemeingültig war, würde auch
^'azta nicht unter dem Einfluss des Präsens aus sa^ida, satida ent-
standen sein, sondern müsste die Affrikata aus dem tt in satta, das
dem z folgende t nach dem Muster der übrigen Präterita em-
pfangen haben.
8. Das Hauptergebnis also ist, dass weder das Gotische
noch das Ahd. den umfang, den das Präteritum ohne Mittel-
vokal im Urgermanischen hatte, genau abgrenzen lassen. Im
Gotischen hat die Endung -ida ihr Gebiet erweitert und
80 Erste schwache Konjugation. [§ 42.
namentlich alle dh-Fräterhsi oline Mittelvokal verdrängt, im
Ahd. hat ein jüngeres Synkopierungsgesetz den kürzeren
Formen ein bedeutendes Übergewicht verschafft. Gleichwohl
zeigt das Ahd., dass nnabhängig von diesem Synkopierungs-
gesetz manche Verba, die im Got. auf -ida ausgehen, im
Präteritum den Mittelvokal entbehrten. Für einige andere
ist, wie Paul PBb. 7, 136 f. dargetan hat, aus den andern
germanischen Sprachen dasselbe zu erweisen. Dass sie aber
alle auch ohne Mittelvokal ins Leben getreten seien, möchte
ich nicht behaupten. Dass satte mit unverschobenem t
weit in das Verschiebungsgebiet hineinreicht, scheint mir
dafür zu sprechen, dass diese Form wenigstens ihren Mittel-
vokal erst spät verloren hat. Denn nur die Verbindung
td kann die Verschiebung verhindert haben und sie würde
sich schwerlich in ihrer Eigenart lange haben behaupten
können.
Anm. 6, Über die Änderungen, die der Auslaut des Stammes
in den jüngeren synkopierten Formen erfulir s. Br. § 363 A. 4.
42. (Partizipium.) 1. Partizipium und Präteritum stimmten
ursprünglich in dem Gebrauch des i fast ganz überein. Die
Verba, die ihr Präteritum ohne Mittelvokal bildeten, Hessen
auch im Partizipium das Suffix -to unmittelbar auf die Stamm-
silbe folgen, diejenigen, die i im Präteritum hatten, hatten es
auch im Partizipium. Im Gotischen wird dieses Verhältnis
nur durch l^atipatjan durchbrochen (Prät. 7{aupasta, Prtz.
Tcau])atips)\ im übrigen ist die Übereinstimmung gewahrt.
Partizipia ohne i kommen also ausser den Prät. -Präsentia und
dem Verbum hriggan nur den wenigen in § 41 angeführten
Verben zu. Belegt sind hauhts, vaurMs und in adjektivischem
Gebrauch -pälits und -pühis (Br. § 209).
2. Im Hochdeutschen ist diese Übereinstimmung ver-
loren. Da die Synkope nur den Vokal der Mittelsilbe betraf,
ergab sich ein unterschied zwischen der unflektierten Form
des Partizipiums einerseits und dem Präteritum und den flek-
tierten Partizipialformen anderseits. Während in jener sich
der Vokal behauptet, wird er in diesen unterdrückt; also:
§ 43.] Rückumlaut. 81
hörta gihörit, teilta giteiUt, thaJcta githelcit, scafta giscepfit,
ratta giretit. Dass zwischen den flektierten und unflektierten
Formen des Part, zuweilen Ausgleich eintritt, ist natürlich,
doch sind im Ahd. solche Beispiele noch selten. Nur bei den
kurzsilbigen auf l ist die Form ohne i auch im unflektierten
Part, etwas häufiger: zalta od. zelita^ gizelit od. gizalt; salta
od. selita, giselit od. gisalt (Br. § 365 A. 2. 3).
3. Der Gegensatz, den die Synkope des i zwischen den
flektierten und unflektierten Formen des Prtz. der meisten
Verba hervorrief, wirkte weiter zerstörend auf die kleine Zahl
von Verben, die ursprünglich ihr Prtz. ohne i gebildet hatten.
Bei den Prät.-Präsentia und bei hringan behauptet sich natür-
lich die alte Form, auch zu dünken wird regelmässig gidüht
gebildet, aber neben giworht erscheint im Oberdeutschen auch
giwurkit ; gidenkit ist sogar häufiger als gidäht und zu furhten
wird das Prtz. gifurhtit gebildet (Br. § 365 A. 4).
43. (Rückumlaut.) 1. Die synkopierten Präterita ent-
behren des Umlauts. Seit Grimm pflegt man diese Erscheinung
als Rückumlaut zu bezeichnen; nicht eben sachgemäss, denn
die Formen haben nie Umlaut gehabt; sie sind entstanden,
ehe i Umlaut bewirkte. Im Ahd. kann sich der Rückumlaut
natürlich nur bei Verben mit ä zeigen: denken, dähta, stellen
stalta, hengen hancta etc. ; im Mhd. zeigt es sich auch bei
anderen, z. B. wcenen wänte^ hceren hörte, füllen fulte,
grüenen gruonte etc.
2. Sehr bemerkenswert ist, dass bei diesen Verben auch
der Optativ reinen Vokal hat (I § 194). Nur die Verba, die
von jeher ein Prät. ohne i bildeten, erfahren, wie das Mhd.
zeigt, wenigstens zum Teil Umlaut; so namentlich die Prät.-
Präs. und hrcehte, dcehte, diuhte'^ (aber worhte, forhte, suolite,
hrühte). Im Md. wird er dann später nach der Analogie
dieser Verba und nach dem Verhältnis, das bei den starken
Verben zwischen dem Ind. und Opt. Prät. bestand, auch auf
andere übertragen; z. B. hrante hrente, stalte stelte, sogar
auf solche, die ursprünglich nach der 2. und 3. Konjugation
gingen; z. B. mechte für ahd. machöti. (Paul § 170 A. 2.)
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 6
82 Erste schwache Konjugation. [§ 44.
Anm. 1. Verba, bei denen der Umlaut durch den Vokal der
Ableitungssilben hervorgerufen wurde, haben natürlich keinen Rück-
umlaut; z. B. mhd. vüetern vüeterte (ahd. fuotiren).
Anm. 2. Der Vokalwechsel, der bei vielen Verben zwischen
Präs. und Prät. bestand, veranlasste analogische Neubildungen. Zu
enten, ahd. enteön begegnet im Mhd. ante, zu liuhten wird lühte
gebildet (vgl. nhd. erlaucht), obwohl hier iu nicht Umlaut von ü
sondern alter Diphthong ist (vgl. Höht). Und so entstehen auch die
md. Formen keren karte, leren lärte gelärt nach dem Muster von
bewceren (md. heweren) : bewärte.
44. (Jüngere Entwickeliing.) 1. Da J in den west-
germanischen Sprachen Verschärfung des vorangehenden Kon-
sonanten bewirkt, musste sich der Auslaut des Stammes in
demselben Verbum verschieden gestalten. Einfacher Kon-
sonant kommt der 2 und 3 Sg. Ind. Präs. und der 2 Sg.
Imp. zu, ebenso dem Prät. und Prtz. Prät., verschärfter den
übrigen Präsensformen. Aber diese Verschiedenheit konnte
sich nicht halten (I § 139). Nach langem Vokal wird die
Verdoppelung früh aufgegeben; nur in den ältesten ober-
deutscheu Denkmälern finden sich noch zahlreiche Spuren der
Verdoppelung: teillen^ hörran, wännarij auch nidirren; aber im
Fränkischen fehlt sie von Anfang an fast ganz (Br. § 359 A. 1).
2. Nach kurzem Vokal hängt das Schicksal der Ver-
doppelung von der Natur des Konsonanten ab. Bei den Verben
auf germ. p, t, Je dehnt sie sich über ihr ursprüngliches Gebiet
aus. In den Präsensformen gilt hier der verschärfte Konsonant
von Anfang an allgemein, also deckit, decchit nicht dehhit,
stepfit nicht steßt, setzit nicht se^^it (Br. § 358), und früh
dringt er auch in das Prät. ein; natürlich sind, da die Verba
meist Synkope haben (§ 41), die Beispiele selten; vgl. aber
Is. dhecchidön neben dhehhidön, setzida (Br. § 362 A. 1). Bei
den Verben, die auf einen andern Konsonanten ausgehen, wird
dagegen die Verdoppelung aufgegeben. Dem 8. und 9. Jh.
ist diese Erscheinung im allgemeinen noch fremd (eine auf-
fallende Sonderstellung nimmt der Tatian ein); häufig wird
sie im Sp.-ahd. (legen, frumen, zelen) und kommt dann zu
allgemeiner Geltung.
§ 45.] Berührung zwischen starker und schwacher Konjugation 8.'}
3. Auch der Unterschied zwischen dem iimgelauteten
Präs. und dem nicht umgelauteten Prät. wird allmählich be-
seitigt. Von den Verba pura sind schon im Mhd umgelautete
Präterita ganz gewöhnlich: säte oder ^ce^e, scejete; muote od.
müete, müejete; zuweilen begegnen sie auch von andern,
namentlich im Md. (Paul § 169 A. 1 vgl. ßr. § 358 A. 3
359 A. 4). Im Nhd. hat sich der Rückumlaut nur bei wenigen
Verben auf -ennen und -enden erhalten {brennen, Jcennen,
nennen, rennen', senden, wenden). Aber neben sandte,
wandte gilt auch sendete, wendete, und von schänden bildet
man nur noch schändete, geschändet. — Bei dünken hat der
Ausgleich von dünken dühte zu Doppelformen geführt. Neben
däuchte gilt dünkte, neben dünkt däucht. Das Prät. dunkete,
dünkte erscheint zuerst im 13. Jh. Der Umlaut in däuchte
(mhd. dühte, seit dem 14. Jh. auch deuhte Whd. § 38b) stammt
aus dem Optativ.
45. (Berührung zwischen starker und schwacher Kon-
jugation.) 1. Nur wenige Verba, die ein /Präsens bildeten,
folgen der starken Konjugation, fast nur solche, die sich in
die herrschenden Ablautreihen fügten, im Präsens e{i), im
Prät. a hatten (Kl. I) oder im Präs. a, im Prät. ö (Kl. IV).
Abnorme Ablautverhältnisse führten, wenn nicht wie bei hidjan
der Vokal verändert wurde (§ 18, 4), zum Übertritt in die
schwache Konjugation, d. h. zur Bildung eines schwachen
Präteritums. Dieser folgen namentlich die drei Hauptgruppen.
Für die Denominativa verstand sich das von selbst, denn sie
bildeten von Anfang an ihr Präteritum durch Zusammensetzung.
Die Kausativa und Intensiva folgten ihnen, nicht nur weil sie
in der Präsensbildung mit ihnen zusammengefallen waren (§ 40),
sondern auch weil ihr Vokalismus gewöhnlich nicht zu den
Ablautreihen der regelmässigen starken Verba passte; denn
diese haben im Präsens erste Hochstufe, die Kausativa aber
pflegen zweite Hochstufe, die Intensiva Tiefstufe zu haben.
Unter den Verben, die nicht zu diesen drei lebendigen Gruppen
gehören, sind besonders zahlreich die mit kurzem u, deren
Vokal in der normalen Präsensbildung keine Stütze fand:
84 Zweite schwache Konjugation, [§ 46.
g\ hugjan kaufen, huljan hüllen, paursjan dürsten, pugkjan dünken,
waurkjan wirken; ahd. giburjen sich ereig'nen, geschehen, gebühren,
gurten, mullen zermalmen, ita-rucchen rülpsen, scutten schütteln,
stungen stechen, würgen, zunten zünden. Andere Vokale sind
seltener: i z. B. in ahd. sicizzen (gr. ibiuu), ü in g. brükjan, iu in g.
siujan nähen, a in g. daddjan säugen^ hatjan hassen.
Anm. 1. g. Jvatjan anreizen, verloken konnte als Denomina-
tivum aufgefasst werden, vgl. an. fvatr neben Jvass-^ ebenso g. ahjan
glauben, ahd. tvunskeri (Brgm. 2, 1037), wirken (zu werc stN.) neben
wurken, spurnen calcitrare, offendere (zu sx)oro swM.) neben spirnen.
2. Einige Verba haben Doppelformen oder treten erst
allmählich zur schwachen Konjugation über. g. hröpjan rufen,
wöpjan laut rufen sind swV.; im Ahd. stehen starkes und schwaches
Präteritum neben einander: ruofta, ivuofta und 7nof, wiof, und dem-
entsprechend neben dem alten j-Präs. auch ruofan, wuofan ohne j.
Neben ahd. scepfen stV. schaffen, schöpfen erscheint in der Be-
deutung 'schaffen' auch ein Präs. scaffan, und umgekehrt wird zu
scepfen, aber sehr selten, ein sw. Prät. scafta gebildet (Br. § 347 A. 3).
3. g. saian (Wz. se) und icaian (Wz. we) sind redupli-
zierende Verba; im Hd. folgen sie wie alle Pura auf ä und
uo der schwachen Konjugation: ahd. säen, tcäen, bäen bähen,
bläen blähen, dräen drehen, knäeii kennen, kräen krähen, mäen
mähen, 7iäe7i nähen, tuen säugen (vgl. g\ da-ddjan); mhd. brceen
riechen, vlceen spülen, schrceen spritzen, sproeen stieben. — bluoen
blühen, druoen leiden, gluoen glühen, gruoen grünen, hluoen brüllen,
muoen mühen (g. Ttiöjan swV,), sj^uoen gelingen ; mhd. rüejen rudern,
nhd sprühen. Bremer PBb. 11,60. 278 f. Br. §359 A. 3.4.
Anm. 2. Dass die Wörter alte Wurzelverba sind, zeigen
nicht selten nominale Ableitungen, die nur zu Wurzelverben ge-
bildet werden; vgl. drden : drät, näen-.nät, mdenimäd, bluoen:
bluot, bluomo, gruoen : gruoni, siuioen : siut, soumo etc.
Anm. 3. Ob für g. saian, waian jf-Präs. anzunehmen ist,
darüber s. Streitb. S. 76.
Anm. 4. g. bauan zeigt Reste starker Flexion im Präs. (Br.
§ 179 A. 2), hd. büwen namentlich im Perf. (§ 22) und im Part, {ge-
büwen, regelmässig im Mhd,). Im Allgemeinen wird das Prät. schwach
gebildet, im Got. nach der dritten, im Hd, nach der ersten schwachen
Konjugation (Br. § 353 A. 3). — Von bläan sind im Ahd. noch Reste
eines st. Prät, erhalten (Br. § 351 A. 3),
Zweite schwache Konjugation.
46. 1. Im Gotischen haben die Verba dieser Konju-
gation in allen Präsensformen unmittelbar vor dem Personal-
§ 4G.] Die Präsensformen. 85
suffix den Vokal ö, auch in der 3 PI. und im Part. Präs.,
wo man vor n + Kons. Verkürzung des ö zu a erwarten
sollte. Selbst im Optativ findet sich nirgends eine Spur des
Optativsuffixes; es heisst salhös, salhö nicht salhais, salhai.
Genau entsprechende Formen werden auch im Ahd. gewöhn-
lich gebraucht, nur dass die 1 Sg. auf m ausgeht, also auf
athematische Verba auf -mi hinweist.
2. Im Idg. gab es primäre Verba, deren Stamm die
tiefste Wurzelstufe vor einem in allen Indikativformen unver-
änderlichen a zeigte. Ahd. tuon ist ein Repräsentant dieser
Verba, auch ahd. horön, 1. forare kann man dazu rechnen
und mit redupliziertem Präsens ahd. zittaröm ich zittere
< Hi-trö-mi (Brgm. 2, 951 f. 966). Auf die Flexion dieser
Verba lassen sich die germanischen Formen unschwer zurück-
führen. Dass vor n + Kons, die Verkürzung nicht eingetreten
ist, wäre aus dem Einfluss der übrigen Formen leicht zu er-
klären. Die got. 1 Sg. könnte das auslautende m nach dem
Muster der thematischen Verba aufgegeben haben (1 PI. hai-
ram : 1 Sg. haira = 1 PL salböm : 1 Sg. salhd{m). Auch die
Optative Hessen sich auf diese Verba auf a zurückführen,
wenn man annimmt, dass im Germanischen eine Konjunktiv-
bildung die Funktionen des Optativs übernommen habe; denn
in einem Teil der idg. Sprachen gilt unveränderliches ä auch
im Konjunktiv (Brgm. 2, 1295).
3. Aber wir finden in den westgermanischen Sprachen
Formen, die auf eine andere Grundlage hinweisen, auf Bil-
dungen mit zweisilbigen Endungen öja, öje etc. Verbreiteter
als im Hd. sind solche Formen im As. und namentlich im
Ags. Hier finden wir sie auch im Infinitiv und Indikativ,
im Hd. nur im Optativ und nicht auf dem ganzen Sprachgebiet.
Fast ganz fehlen sie, wo man sie am ersten erwarten sollte,
im Fränkischen (doch einmal im Is. hlüchisöe). Im Bairischen
aber kommen sie oft neben den kürzeren Formen vor, im
Alemannischen gelten sie fast ausschliesslich; also salhögey
salhögesty salhöge etc. {g ist die gewöhnliche Bezeichnung des
j vor folgendem e, meistens wird der schwache Laut gar nicht
geschrieben). Man hat diese alemannischen Optative als Neu-
86 Zweite schwache Konjug'ation. [§ 46.
Schöpfungen ansehen wollen (Brgm. 2, 1313); doch hat man
dazu keinen Grund, sie brauchen nicht jünger zu sein als die
entsprechenden Formen im Indikativ und haben ihren Ursprung-
wie die kürzeren Formen in der idg. Vorzeit.
4. Schon im Idg. gab es Denominativa auf -äio, die zu-
nächst von ä-StämmeUj dann aber auch von anderen gebildet
wurden. Im Germanischen haben sich diese Bildungen ausser-
ordentlich stark verbreitet, so dass ihre Formation im Hd.
schliesslich die ganze schwache Konjugation beherrscht (II § 57).
Neben den Bildungen auf -aio standen aber, gleichfalls schon
im Idg., solche ohne io und umgekehrt wurden zu primären
ä- Verben erweiterte Formen auf -äio gebildet. In beiden Arten
bestanden also kürzere und längere Stämme neben einander.
Wie sie im Urgermanischen verteilt waren, ist nicht ersicht-
lich-, aber dass die längeren nicht ganz erloschen waren,
zeigen die erwähnten Formen, und wenn sie im Gotischen
ganz fehlen und im Hd. auf den Optativ beschränkt sind, so
liegt jedenfalls die Annahme am nächsten, dass sie durch eine
ähnliche Lautentwickelung, wie sie sich für die swV. 1 er-
geben hat, beseitigt sind (vgl. IF. 12, 207). [Das schwache
j schwand in der unbetonten Endung und der zweite Vokal
wurde, wenn er sich dem Tone des ersten unterordnete, von
diesem verschlungen'). So begreift es sich, dass im Hd. nur
Optative mit zweisilbiger Endune: erscheinen; der lange Vokal
des Optativs behauptete seine Selbständigkeit natürlich besser
als die kurzen des Indikativs. Auch die got. 1 Sg. auf ö
und der lange Vokal vor n + Kons, brauchen nun nicht durch
Formübertragungen erklärt zu werden, sie ergaben sich aus
den kontrahierten Formen der Verba auf -äio. Nur das ö
des Optativs kann nicht auf der erweiterten Endung beruhen ;
-öjai- würde nicht durch Kontraktion zu ö geworden sein.
5. Das ^o-Partizipium wurde vom Verbalstamm, also mit
ö gebildet, und für das schwache Präteritum, das in diesen
Verben nur von den Denominativen ausgegangen sein kann,
1) Wenn in Bildungen auf -äio, -öio, Ho der lange Vokal zur
betonten Stammsilbe gehört, behauptet sich natürlich das j, und
damit fielen die Verba der 1. schwachen Konjugation zu (§ 45, 3).
§ 47.] Dritte schwache Koiijug-ation. Präsensformen. 87
ergab sich ö als Mittelvokal in derselben Weise wie i in
den swV. 1.
Über die spätere Abschwächung der Endungen s. I § 304;
über Doppelbildungen nach der 1. und 2. schwachen Konju-
gation II § 45 A. 47 A,
Dritte schwache Konjugation^).
47. 1. Die Flexion dieser Verba zeigt grosse Mannig-
faltigkeit und Verschiedenheit. Im Gotischen haben sie im
allgemeinen dieselben Endungen wie die starken Verba, nur
die 2 Sg. Imp. und die Formen die im starken Verbum i als
Themavokal haben, zeigen hier abweichend ai\ also lidbai
Imp., hahais 2 Sg. Ind., habaip 3 Sg. Ind., 2 PL Ind. und
Imp.; aber sonst übereinstimmend: Ind. haha, habam, Jiahand]
Opt. habau, hahais, hahai etc. Im Ahd. dagegen zeigen die
Formen der swV. 3 die grösste Ähnlichkeit mit denen der
swV. 2, nur dass, wo diese ö haben, hier überall e erscheint;
also: habem^ habes, habet etc. Auch die Doppelformen im
Optativ finden sich wieder, eje neben e, jedoch weniger verbreitet,
fast durchaus auf das Alemannische beschränkt (Br. § 310).
Ausserhalb beider Systeme stehen endlich gewisse Formen der
Verba haben, leben, sagen, die in der 2 und 3 Sg. neben -es,
-et auch -is, -it gestatten: hebis hebit, libis libit, segis segit
(Br. § 368 A. 2), so dass sich hier im Hd. Übereinstimmung
mit den starken Verben (aber auch mit den swV. 1) gerade
in den Formen zeigt, in denen das Gotische sie vermissen
lässt. Nur einmal (im Tat.) findet sich in den älteren hd.
Denkmälern eine dem g. haba entsprechende 1 Sg. habu.
Wenn bei N. meist alle Präsensformen von haben und sagen
in dieser V^eise gebildet sind, so sind das wohl erst jüngere
Analogiebildungen (Br. a. 0. Brgm. 2, 1064).
2. Obschon die Erklärung der Formen in neuerer Zeit
durch Bartholomae, Streitberg, Hirt u. a. bedeutend gefördert
1) Ältere Literatur verzeichnet Streitberg S. 306. Dazu noch:
T. E. Karsten, Beiträge zur Geschichte der e-Verba im Altger-
manischen. Heliiingfors 1897 (DLZ. 1898 S. 1297). Streitberg IF.
6, 153. Hirt IF. 10, 20. Ders., Ablaut S. 182.
88 Dritte schwache Konjugation. [§ 47.
ist, SO bleiben doch noch manche Zweifel und Bedenken. Es
gab im Idg. Verba, deren Formen teils athematisch von einem
Stamme auf e, teils von einem Stamme auf io gebildet wurden.
Im Griechischen und Baltisch-Slavischen sind die beiden Formen
so verteilt, dass io im Präsens, e ausserhalb des Präsens erscheint
(g. juaivojuai e)u6tvr|v, x«ipuj exdprjv) ; im Lateinischen dagegen und
im Germanischen ist e auch in Präsensformen üblich. (Brgm. 2,
1067.) Die lateinischen Verba auf -eo sind, die nächsten Verwandten
unserer swV. 3 und manches Verbum ist beiden Sprachen gernein-
sam: g'. hahan, 1. habere'^ g. ana-sila7i, 1. silere-^ g. wakan, l. vigere;
g. witan, 1. videre'^ ahd. lobön, 1. lubere, und mit grammatischem
Wechsel, also auf Suffixbetonung weisend, ahd. dagen. 1. tacere^).
Beiderlei Formen, die auf e und die auf io, haben ihren Ur-
sprung in Wurzeln auf ei, in denen je nach der Betonung die
Hochstufe ei oder die Tief stufe I galt. Aus ei ergaben sich
die Stämme auf e, denn ei wurde schon im Idg. vor den
meisten Konsonanten zu e; auf der Tiefstufe i beruhen die
Formen auf io. Ausser diesen dreien ist aber noch eine vierte
Form eio vorauszusetzen (Brgra. 2, 953. 1065), die ebenso zur
Hochstufe gebildet war wie io zur Tiefstufe.
Aus dem Stamm auf ei sind die 2 Sg. Imp. und die
kürzeren Optativformen herzuleiten. Im Optativ schwand i
vor dem Optativsuffix i und dies wurde mit dem vorangehenden
e zu ai = ahd. e, e kontrahiert.
Auf den erweiterten Stamm eio müssen nicht nur die
alemannischen Optative zurückgeführt werden, sondern auch
die gotischen Formen auf -aisj -aip in der 2 und 3 Sg. Ind.
und in der 2 PI. Imp. Auch hier schwand i vor dem fol-
genden i, so dass Kontraktion mit dem Themavokal erfolgte.
Der Stamm auf e ist vor konsonantischen Endungen be-
rechtigt; er herrscht daher im ahd. Indikativ, auf dessen
athematische Flexion das m in der l Sg. hinweist. Nur die
Formen auf -es, -et könnten wie die entsprechenden gotischen
auf eio zurückgeführt werden. Ünregelmässig ist e in der
3 PI. und im Part. Präs.; vor n + Kons, sollte es zu a ver-
1) Aus dem Griechischen lassen sich Aoriste auf y\ vergleichen:
g. munan, gr. luavfivai; g. pulan, g\\ TÄf|vai; ahd. dorren, gr. xepöfivai.
§ 48.] Präteritum und Partizipium. 89
kürzt sein; unter dem Einfluss der andern Formen hat es sich
behauptet. Die regelmässige Bildung zeigt das substantivische
Part, ßant zu g. fijan hassen. Auch im Gotischen muss die Bil-
dung aller Präsensformen, die nicht ai in der Endung haben,
von dem e-Stamm ausgegangen sein. Aber nur vor nd hat
er sich, mit der regelmässigen Verkürzung zu a, erhalten
(3 PL haband, Part, hahands). Die andern Formen (1 Sg.
haha, 1 PI. habam, Inf. haban) sind nach der Analogie der
starken Verba umgebildet, ein Vorgang, der wohl zu begreifen
ist, da im ganzen Optativ und in den eben angeführten Formen
die swV. 3 mit den starken zusammengefallen waren (Streit-
berg S. 308).
Auf dem zo-Stamm endlich beruhen ahd. hebisj segis,
libis etc.
Anm. Dass im got. Präsens der Stamm auf -eio nur in den
Formen erhalten ist, die i als Themavokal haben, wird darin be-
gründet sein, dass nur ei der Kontraktion unterlag", nicht ea. Die
Formen mit kontrahierter einsilbiger Endung hielt die Sprache fest,
die mit zweisilbiger Hess sie fallen, weil sie dem gemeingültigen
Typus aller Präsentia nicht entsprachen. Deutliche Spuren einer
Flexion ezo, ais^ aip zeigt das Ags. und As., z. B. as. hebbiu, habes
habas, häbed habad (die 2. und 3. ohne Umlaut, also ganz verschieden
von ahd. hebis, segis etc.). Die Endung der 1 P. ist jedenfalls aus
eio entstanden, entweder durch Unterdrückung des e oder des i:
ejo >> eo >> io. — Die auffallendste Form ist das vereinzelte ahd.
habu. Viel eher als diese Anlehnung an das starke Verbum sollte
man ein nach Art der swV. 1 gebildetes hebbiu erwarten.
48. (Präteritum und Partizipium.) 1. Denominativa, die
im Ahd. zahlreich gebildet werden (II § 53), gehörten ur-
sprünglich nicht zu dieser Klasse (Brgm 2, 1131). Die Formen
des zusammengesetzten Präteritums können also auf diese
Verba nur aus der ersten und zweiten Konjugation übertragen
sein. Dass dabei g. ai, ahd. e als Mittelvokal genommen
wurde, ist selbstverständlich. Doch ist zu bemerken, dass e
im Ahd. nicht so fest steht, wie ö in der zweiten Konjugation.
Nicht ganz selten tritt a dafür ein, und nicht nur in bairischen
Quellen, die auch sonst in unbetonter Silbe Neigung zu a
zeigen, sondern auch im Alemanuischen und Fränkischen
90 Vierte schwache Konjug-ation, [§ 49.
(Br. § 368 A. 1). Bei 0. findet sich a namentlich in der 3 Sg\
sagata,, erata^ wo man an Assimilation denken könnte ; zuweilen im
Inf. saganne, habanne, wo man Einfluss der starken Verba vermuten
könnte; ein paarmal aber auch im Part. Präs. wonanti, firmonanti
und in der 1 PL firmonames, wo a dem starken Verbum nicht ge-
mäss sein würde. Diese Neigung zum a muss also in der Natur
des Vokals begründet gewesen sein. — Die zu den |o-Stämmen
gehörigen Bildungen auf -ida, -ip sind im Gotischen, wie im
Präsens, ganz beseitigt, finden sich aber im Ahd. nicht ganz
selten bei denselben Verben, welche Spuren des fo-Stammes
im Präsens zeigen: hebita, segita, lihita, gihebit, gisegit (Br.
§ 369 A. 2).
2. Formen ohne Mittelvokal sind im Ahd. noch selten.
Neben habeta ist Jiapta belegt (Is. M.) ; 0. braucht die kurzen
Formen von fären und rämen (Br. § 368 A. 3) ; verbreiteter
ist hogta neben Jiogeta, doch wird von diesem Verbum das
Präsens nach der ersten Konjugation gebildet: huggen und
dem entsprechend auch hugita (Br. § 362 A. 4). Im As. gilt
bei den wenigen Verben, die der dritten Konjugation ver-
blieben sind, die kurze Form allgemein: habda, sagda, libda,
gihabd, gisagd, gilibd. Auf ^Präteritum kann keine von ihnen
beruhen (vgl. § 41, 8).
Anm. Doppelbildungen nach der 1. und 3. Konj. wären bei
diesen Verben, in denen ursprünglich e- und z-Stamm neben einander
bestanden, begreiflich, finden sich aber doch nur wenige: g. hatan,
ahd. ha^^en neben g. hatjan, ahd. hogeta neben hugita-^ vgl. auch
1. sedere neben ahd. {sitjan)^ sizzen. — Doppelbildungen nach der 2.
und 3. Konj. könnten, wie Streitberg S. 311, 313 annimmt, dadurch
veranlasst sein, dass ö und e in manchen Formen schon urgerm.
zu a verkürzt werden mussten. In den meisten Fällen aber, wo
von swV. 3 Bildungen nach der 2. schwachen Konjugation begegnen
(namentlich im As. und Ags.), sind sie jedenfalls erst durch den
jüngeren Verfall der dritten Konj. und die wachsende Herrschaft
der ö-Verba hervorgerufen. Einer besonderen Beurteilung unter-
liegen die Verba mit w-Suffix ; s. § 49.
Vierte schwache Konjugation.
49. 1. Die vierte schwache Konjugation tritt als eine
besondere Bildung nur im Gotischen deutlich hervor. Sie be-
ruht auf Verben, die ihren athematischen Präsensstamm aus
§ 50.] Vierte schwache Konjug'ation. — Jüngere Formen. 91
tiefstufiger Wurzelsilbe und dem Suffix nä, nd, n bildeten
(Brgm. 2,978. 990 f. Streitberg S. 313 f.). Hiernach wäre
im Sg. Präs. ö = idg. ä, im PI. a = idg. d, im Opt. ai zu
erwarten. Im Singular aber und in der 2 PL ist die regel-
mässige Bildung verloren. Da die Verba in den übrigen
Formen mit den thematischen Verben zusammengefallen waren,
haben sie ganz deren Flexion angenommen; thematische Verba
auf nejno (g. fraihna § 11) mögen die Umbildung noch be-
günstigt haben. Dass in früher Zeit ö im Sg. Präs. galt,
zeigt das Präteritum auf -öda\ denn nur das Präsens kann es
veranlasst haben, dass von diesen Verben ein schwaches Prä-
teritum nach Art der swV. 2 gebildet wurde. Das Part. Prät.
fehlt dieser Konjugation.
2. Während das Gotische zahlreiche Verba dieser Art
hervorgebracht hat (II § 55), sind sie im Hochdeutschen nicht
zu einer lebendigen Gruppe entwickelt. Die, welche vorhanden
waren, haben sich in der zweiten und dritten schwachen Kon-
jugation verloren. Der Anschluss an die zweite beruhte auf
den Präsensformen mit ö und dem Präteritum auf -öda, der
Anschluss an die dritte auf den Formen mit a und ai. Der
zweiten folgen namentlich Verba, in denen n dem Auslaut der
unbetonten Wurzelsilbe assimiliert ist; z. B. ahd. leckön lecken
(vgl. g. laigöriy gr. Xeixuu, Wz. leigh), zockön ziehen, reissen
(vgl. ziohan, 1. ducere, Wz. deuJc) (II § 66 f.). Andere haben
sich lieber der dritten angeschlossen, zu der sie durch ihre
intransitive Bedeutung in besonders nahem Verhältnis standen;
z. B. ahd. stornen bestürzt sein (vgl. 1. con-sternari), storchanen
erstarren (g. ga-staurknan)^ wesanen vertrocknen, trunkanen
trunken werden (vgl. II § 56). Auch Doppelbildungen fehlen
nicht, vgl. g. maurnan, ahd. ryiornen und as. Tnornön (ae.
murnan^ mornan stV.); ahd. ginön und ginen (ae, ;^inan
stV.); ahd. sih waniön und warnen sich hüten; as. hlinön
(1. inclinare) und ahd. Minen (vgl. § 48 Anm.).
Jüngere Formen der schwachen Verba.
50. Über die Änderungen, die der Verfall der Endungen
in der jüngeren Sprache hervorrief, verweise ich auf den
92 Präterito-Präsentia. [§ 51.
ersten Band § 265 f. 274. 281 ff. 303 f. 310. Hier sei
nur hervorgehoben, dass n in der 1 Sg. Präs. der swV. 2
und 3 bis ins 11. Jh. fest blieb, auch noch im Mhd. begegnet
und, besonders im Rheinfränkischen sogar auf andere Verba
übertragen wird (Br. § 305 A. 4. Whd. § 395). Am längsten
hat es sich, unterstützt durch ich gän, stän u. ä. in der zu-
sammengezogenen Form ich hän erhalten. Die Unterdrückung
des inl. h ist in diesem Verbum zuerst, schon im 9. Jh., in
der 3 Sg. hat bezeugt und greift seit dem 11. Jh. weiter um
sich (§ 35 Anm.). In den Formen des Präteritums (ahd.
habeta, hebita) führte sie zu einer grossen, schwer erklärbaren
Mannigfaltigkeit: mhd. häte, hcete (Opt. und Ind.), hete, hete
(nicht hete), heite, het, het, Met, auch hatte, hette, über deren
Verbreitung Zwierzina ZfdA. 44, 101 f. umfassende Erhebungen
angestellt hat. Erhalten haben sich von den Formen ohne h
mit Verkürzung des Vokales hast, hat und das Prät. hatte
(mhd. hast, hat, häte). In andern Verben, in denen ein Teil
der Formen den auslautenden Konsonanten verloren hatte, wie
in mhd. seit, seite von sagen, hat die nhd. Schriftsprache ihn
wieder hergestellt (I § 81). Nur ein paar alte ^Präterita be-
haupten ihre eigentümliche Form ; zu hri^igen gehört brachte,
zu denken dachte. Bei dünken hat der Ausgleich zu Doppel-
fornien geführt; § 44, 3.
Präterito-Präsentia.
51. 1. Mehrere Verba verbinden mit der Form des
Perfektums präsentische Bedeutung. Gemein germanisch sind
g. mag ich kann, ganali es genügt, skal ich soll, man ich
meine, kann ich weiss, ^arf ich bedarf, gadars ich wage,
wait ich weiss, daug es taugt, gamöt ich habe Raum, ich
kann, aih ich habe. Dazu kommen dann im Gotischen noch
lais ich weiss, ög ich fürchte, im Hd. an ich wünsche, gönne.
Eins dieser Verba ist gemein idg. : loait, gr. oTba, ai. veda,
ein reduplikationsloses Perfektum der Wz. ueid finden, sehen.
2. Da das Perfektum kein Tempus der Vergangenheit
war, sondern nur den Zustand des Vollendet- und Fertigseins
§ 51.] Präterito-Präsentia. 93
bezeichnete, so begreift man leicht, dass, wenn die zugehörigen
Präsensformen ausser Gebrauch kamen, oder, wie bei tüait,
Präsens und Perfektum in ihrer Bedeutung sich differenzierten,
das Perfektum ganz wie ein Präsens empfunden wurde. Doch
ist daraus, dass ein Verbum im Germanischen Perfektendungen
hat, nicht ohne weiteres zu schliessen, dass es wirklich ein
Perfektum ist. Denn auch athematische Präsenstämme stimmen
in einem Teil ihrer Formen mit dem Perfektum überein, im
Optativ (vgl. ahd. si und gähi) und in der Verbindung mit
sekundären Personalendungen auch im PI. Ind. (vgl. an. erum^
erud, eru § 32); und diese Übereinstimmung konnte den An-
lass geben, zu den scheinbaren Perfektformen einen dem Per-
fektum der starken Verba entsprechenden Singular zu bilden.
3. Bei einigen Prät.-Präsentia ist diese Erklärung not-
wendig, g. liiinnum wir können, wissen, Opt. Tiunnjau gehört,
wie sich aus dem nn und der Vergleichung altindischer Formen
ergibt, zweifellos zu einem athematischen, tiefstufigen mit n-
Suffix {näjnd oder neujnu) gebildeten Präs. der Wz. gen (vgl.
ai. Sg. jd-nä-mi, Fl. jä-m-mds Brgm. 2, 973. 1013); der dazu
gehörige Sg. kann, Jcant, 'kann ist eine germanische Neu-
bildung. Da kunnum, kunnjau in ihrer Form ganz mit dem
Perf. der stV. 1^ zusammenfielen, so schuf man nach diesem
Muster einen neuen Singular (kann : kunnum, kunnjau = wann :
wunnum, wunnjau). Ebenso ist vermutlich ahd. an, unnum
zu beurteilen, und wie Kluge (Grdr. 1 ^ 440) gesehen hat,
ahd. {darf), durfum, durfi. (vgl. ai. 1 Sg. trp-nö-mi, PI.
trp-nu-mds). Läge hier ein Perfektum vor, so wäre darf,
durhum, durbi zu erwarten oder, falls man annehmen wollte,
dass der grammatische Wechsel ausgeglichen sei, darf, durvum,
durvi (inl. v = germ. f, idg. p). Das f, das in diesen Formen
ganz fest steht (Br. § 139 A. 2), zeigt, dass verschärftes p
(pp < pn) zugrunde liegt. Gewöhnliche Perfektformen mit
regelmässigem grammatischen Wechsel zeigt dagegen g.parf,
paurhum, — Die angeführten Verba sind an ihrem ?2-Suffix
als zu Präsensstämmen gehörige Formen zu erkennen. Natür-
lich aber können auch Stämme, die durch kein Suffix er-
weitert sind, Formen von perfektischem Aussehen ergeben;
94 Präterito Präsentia, [§ 52.
dann aber sind sie im Germanischen als injunktive Präsens-
formen nicht zu erkennen. Über solche s. Brgm. 2, 909. 1260.
Anm. Inwiefern für die Prät.-Präs. Perfektbedeutung- an-
zunehmen ist, darüber s. Delbr. 4, 330 f.
52. (Flexion des Präsens.) 1. Was den Vokal der
Wurzelsilbe betrifft, so findet in den meisten zwischen Sin-
gular und Plural dasselbe Verhältnis wie im starken Verbum
statt: liann kunnum, parf paurbum, gadars gadaursum\
wait witum, daug *dugum (ahd. tugun) etc. Aber nirgends
erscheint der e-Typus. Es heisst mag magum, ganah ^ganauh-
uniy slcal sTculum, man munum. Daraus ist zu schliessen, dass
diese Formen nie redupliziert waren, sei es dass sie Injunktive
waren, wie man für munum annimmt, oder dass sie zu redupli-
kationslosen Perfektis gehörten; denn der e- Typus hat sich
nur im reduplizierten Perfektum entwickelt (§ 16). Bezeugt
durch die verwandten Sprachen ist die reduplikationslose
Perfekt-Bildung für wait. — Eine unregelmässige Bildung ist
jedenfalls mag magum. Das Wort gehört zu einer Wurzel
mit langem Vokal (vgl. gr. jurjxavri, dor. luäxavä) und sollte
sein Perfektum nach unserer vierten Konjugation bilden, also
*mög, ^mögum. Die Formen werden verschieden erklärt. Osthoff
(PBb. 15, 213) nimmt an, dass ein echtes Perl ^mög magum mit schwachem
Stamm im Plural zu Grunde liegt (vgl. §20,4), andere nehmen mit
Rücksicht auf aksl. m,ogq Umbildung eines thematischen Präsens
Tnagö an (Brgm. 2, 1255).
2. Mit der schwachen Vokalstufe ist grammatischer Wechsel
verbunden, den in diesen Verben auch das Gotische teilweise
bewahrt hat: parf paurhum, aih (aig) aigum {aihum). Für
ganah ist er aus dem Got. nicht zu belegen (vgl. ae. jenujon)-,
in gadars gadaursum ist er ausgeglichen.
3. Die Flexionsendungen der Prät.-Präsentia sind im
Gotischen ganz dieselben wie im starken Verbum; im Ahd.
unterscheiden sie sich dadurch, dass die 2 Sg. die alte Per-
fektform auf t bewahrt hat. Wie im starken Verbum gilt
das t unter allen Umständen, nicht nur nach Spiranten, sondern
auch nach anderen Lauten, die an und für sich die Ver-
schiebung zu p nicht hindern: kant^ sJcalt. Die Verba, die
§ 53.] Flexion des Präsens. 95
auf einen Dental auslauten, also in der 2 Sg. eigentlich auf
s ausgehen sollten, haben nach der Analogie der übrigen dem
s ein t angehängt: g. waist, ahd. weist, inuost. Nicht sicher
erklärt ist das st in ahd. Jcansty mhd. g-anst (vgl. § 55). Ahd.
gitarst ist natürlich nicht zu vergleichen. Zwar erscheint in
dieser Form neben der 1 Sg. gitar st als Endung, aber nur
weil diese das auslautende s verloren hat (g. gadars). — In
g. magt ist die lautgesetzliche Entwickelung des Stammauslauts
durch die Analogie der andern Formen gestört; ahd. regelmässig:
mäht. Die entsprechenden Formen von g. 6g, daug sind nicht belegt.
53. (Jüngere Entwickelung.) 1. Die Zahl der Prät.-
Präsentia ist mit der Zeit kleiner geworden, g. man, Jais,
dg fehlen im Hochdeutschen von Anfang an; ganah ist schon
im Ahd. selten und nur in dieser Form belegt; von aih kommt
nur noch der Plural und der Optativ vor, im Mhd. ist das
Wort, abgesehen von dem Adj. eigen, verschwunden; das
Nhd. hat auch getar aufgegeben, toug und g. an sind in die
schwache Konjugation tibergetreten, jenes mit dem Vokal des
Singulars, dieses mit dem Vokal des Plurals {ö < ü I § 225).
Von toug kommen schwache Formen schon seit dem 12. Jh.
auf (Whd. § 420); ähnliche Formen von andern, wie mage für
mag, sind nicht durchgedrungen. Erhalten sind als Prät.-
Präsentia mag, soll, 'kann, darf, weiss, muss. will hat sich
ihnen angeschlossen (§ 36).
2. mag zeigt in den ältesten hochdeutschen Quellen
Formen, die den gotischen genau entsprechen: mag, magum,
megi. Aber schon früh werden unter dem Einfluss der be-
nachbarten Laute und nach dem Muster von skal sJculum,
kann kunnum u. a. auch ablautende Formen gebildet; zu-
nächst im Plural, dessen Endungen u haben, darnach im Optativ;
O. braucht im PI. mugun, im Opt. aber noch stets megi. Im
Fränkischen zeigen sich die w-Formen zuerst (T. 0.); später
dringen sie auch in das Alemannische ein und sind bei N.
schon Regel (PI. mugen, Opt. muge). Am längsten halten
sich die alten «-Formen im Bairischen. Kraus, Festgabe für
Heinzel S. 150.
96 Präterito-Präsentia. [§ 5;^.
3. Neben scal begeg-nen in den westgermanischen Sprachen
früh Formen, in denen c unterdrückt ist. Man nimmt an,
dass sie aus uralter Zeit stammen und sich in Formen mit
schwächster Wurzelstufe {sei-) ergeben hatten (Pßb. 14, 295).
Doch sind auf hd. Gebiet im 8. und 9. Jh. die Formen mit
sc noch durchaus herrschend; erst seit dem 10. Jh. gewinnen
die mit s die Oberhand; in der mhd. Zeit halten sich sc und
scJi nur noch auf beschränktem Gebiet, namentlich im Bairischen
und Thüringischen (Br. § 374 A. 1.2. Whd. § 411). — Auch
der Vokal entartet, indem unter dem Einfluss des l a schon
im späteren Ahd. in o übergeht. N. braucht bereits sol, und
das ist im Mhd. die gewöhnliche Form; in fränkischen und
thüringischen Hss. und Urkunden herrscht sah noch im 13.
und 14. Jh. Aus dem Singular dringt dann seit dem 12. Jh.
das 0 auch in den Plural ein, gewinnt aber erst allmählich
Boden; die gewöhnlichen mhd. Formen sind solj suln (Whd.
§ 411).
4. Die 2 Sg. hat im Nhd. überall die Endung st. In
weist muost, Jccmst, gitarst erscheint im Hd. von Anfang an
st als Endung (§ 55, 3), die andern erhalten sie durch jüngere
Formübertragung, solst begegnet vereinzelt schon bei N.
(Br. § 374 A. 1), magst und darfst kommen seit dem 12. und
13. Jh. auf (Whd. § 409. 416).
5. Der Umlaut, der zunächst nur dem Optativ zukam,
dringt allmählich auch in den PI. Ind., so dass megen mügen^
dürferij müe^en etc. indikativisch und optativisch gebraucht
werden. Das Nhd. erkennt den Umlaut in allen seinen Prät.-
Präsentia an, ausser in sollen; wie weit dieser Ausgleich be-
reits im Mhd. eingetreten war, ist darum schwer zu erkennen,
weil gerade der Umlaut von u mangelhaft bezeichnet wird
und mancherlei mundartlichen Einschränkungen unterliegt. Dass
er dem Mhd. nicht fremd war, zeigt am deutlichsten der indi-
kativische Gebrauch von megen (Whd. § 409). — Dieser
Ausgleich zwischen Ind. und Opt. ist darum merkwürdig, weil
die Unterscheidung der beiden Formen durch den Umlaut im
Perf. der starken Verba fest steht und allmählich sogar in
die schwachen Verba eindringt (§ 43, 2). Brenners Vermutung
§ 54.] Imperativ und Nominalformen. 97
(PBb. 20, 84), dass der Umlaut durch enklitische Pronomina
veranlasst sei, hat Beifall gefunden und mag nicht unrichtig
sein. Doch dürfte auch der Umstand in Betracht zu ziehen
sein, dass diese Prät.-Präsentia eben nicht als Präterita, sondern
als Präsentia empfunden wurden, und im Präsens Ind. und
Opt. denselben Vokal haben (PBb. 15,212); dass die Form
des Opt. über die Indikativform siegte, hängt wohl mit der
Bedeutung der Verba zusammen (vgl. § 114,5). In nhd. sollen
hinderte die Anlehnung an ivollen, vielleicht auch das Z, dass
der Umlaut zur Geltung kam.
6. Ferner wird der Vokalismus dieser Verba dadurch
umgestaltet, dass im PL und Opt. u, ü durch o, ö bedrängt
wird. Bei suhi tritt diese Änderung zuerst ein; sie erklärt
sich hier aus dem Einfluss des Singulars; ergreift später aber
auch die andern Verba, namentlich im Md. und Alemannischen:
mögen, Jcon^ien, gönnen^ dorfen, torren, dogen und mögen,
'können etc. Teils haben hier die Formen der Präterita ein-
gewirkt, teils auch die mundartliche Neigung u, ü in o, ö über-
gehen zu lassen. In der nhd. Schriftsprache haben Plural
und Optativ stets den Umlaut des Vokals, der im Prät. gilt,
ü in dürfen, ö in mögen, können, {gönnen).
54. (Imperativ und Nominalformen.) 1. Der Bildung
von Imperativformen ist die Bedeutung der meisten Präterito-
Präsentia nicht günstig. Aber auch da, wo die Bedeutung
kein Hindernis bietet, fehlen sie in der älteren Sprache, denn
von Perfektstämmen werden im Germanischen keine Imperative
gebildet. Im Gotischen sind eigentliche Imperativformen zu
diesen Verben gar nicht belegt. Wo sich das Bedürfnis gel-
tend machte, imperativische Funktionen auszudrücken, treten
andere Formen zum Ersatz ein ; gewöhnlich, wie beim Verb,
substantivum, der Optativ, so die 2 PI. muneip, kunneip,
ögeip] einmal in der 2 Sg. eine alte Konjunktivform: ögs <.
idg. agh-e-s (Brgm. 2, 1282 vgl. § 6 Anm. 2). Im Hd. be-
gegnet zuerst der Imp. wi^^e, ici^^et, später im Mhd. auch
gunne nach der Analogie der schwachen Verba, zu denen g.
W. Wilinanns, Deutsche Grammatik III. 7
98 Präterito-Präsentia. [§ 54.
an übertritt^ und vereinzelt hunne (Whd. § 412. 413). Uns
sind gönne und loisse geläufig'.
2. Auch Infinitive und Partizipia wurden in den ger-
manischen Sprachen zu Perfektstämmen im allgemeinen nicht
gebildet. Wo sie neben den Prät. -Präsentia auftreten, zeigen
sie immer dieselben Endungen wie die zu Präsensstämmen
gehörigen Nominalformen, im Inf. -an, im Part, -ands; die
Stammsilbe stimmt immer mit dem Plural überein. Man wird
darin ein Zeichen des Einflusses, den Präsentia auf die Ge-
staltung der Prät.-Präs. geübt haben, anerkennen müssen-, von
den Verben, die auf einem Präsens beruhten oder Präsens-
und Perfektformen verbanden, gingen die Bildungen aus, die
sich dann analogisch über echte Perfekta verbreiteten.
3. Die Infinitive sind uns jetzt von allen Verben ge-
läufig. Im Gotischen sind belegt: munan, kunnan, gadaur-
san, witan, -aihan (nur einmal in fair-ailian)] im Ahd. magan
od. mugan, scolan, kunnafi, unnan^ -durfan (nur in M-
durfan)^ wi^^an, P]s fehlen also im Ahd. die Infinitive nicht
nur zu dem früh erloschenen ganali, und dem defektiven eigun,
sondern auch zu gitar, tong, miio^ und dem Simplex dai'f.
Im Mhd. kommen sie vor, aber selten und dürfen nur in
Kompositis.
4. Merkwürdig ist die Verbreitung der Part. Präs. Im
Gotischen sind sie für die meisten Verba zu belegen: magands,
7nunands, Jcunnands, paiirbands, witands, ögands (daneben
mit schwacher Wurzelstufe un-agands furchtlos), aigands\
weniger im Ahd. : maganti od. muganti, scolanti, kunnanti,
wi^^anti, toganti. Ob die Formen alle der lebendigen Rede
angehörten, lässt ihr seltener Gebrauch im Mhd. bezweifeln.
Nach den Angaben Weinholds waren geläufig mugende (me-
gende) und wi^^ende; bedurfende kommt hier und da im
13. Jh. vor, die übrigen sind jünger. Auch wir pflegen ausser
ioissend, all-, un wissend, vermögend, diese Partizipia nicht
zu gebrauchen. — Der Grund, dass der Inf. allgemein üblich
geworden ist, nicht das Part., liegt offenbar darin, dass nur
jener in zusammengesetzten Zeitformen gebraucht wird.
§ 55.] Präteritum und Part. Prät. 99
55. (Präteritum und Part. Prät.) 1. Als Tempus der
Vergangenheit wurde zu den Prät.-Präs. ein ^Präteritum nach
Art der schwachen Verha gebildet, überall ohne Mittelvokal
(§ 38, 2). Die Stammsilben zeigen denselben Vokal wie der
Plural, also schwache Vokalstufe. Wie im Hd. neben magun
ein jüngeres mugun tritt, so neben maJita mohta; doch braucht
N. neben mugen durchaus noch das ältere mahta. Über Be-
tonung und grammatischen Wechsel s. § 39, 2.
2. Die lautgesetzlichen Änderungen, welche die Verbin-
dung des Stammauslauts mit dem t der Endung verlangt,
sind meist eingetreten und festgehalten: g. mahtaj paurfta^
gadaursta, öhta, aihfa, wissa\ ahd. maJita od. mohta^ dorfta,
gitorsta, wisssa od. wessa, muosa. Aber gamöt bildet bereits
im Gotischen nach der Analogie der übrigen das Prät. gamösta
und im Ahd. erscheint neben wissa wessa auch wista westa;
erst später, zuerst bei Williram, auch muosta neben muosa
(Br. §371); doch bleiben die regelmässigen Formen auch im
Mhd. noch neben den jüngeren in Gebrauch. — Merkwürdig
lind nicht sicher erklärt ist das st in as. konsta, onsta, die
auch auf fränkischem Gebiet erscheinen. Erklärungsversuche
sind oft unternommen, zuletzt von Franck ZfdA. 46, 329 ff.
und Michels IF. 14, 228. Möglicherweise sind die Formen,
und ebenso die gemein westgermanische 2 Sg. kanst, ähnlich
zu erklären wie waist zu wait, baust zu hiudan u, a., nämlich
so, dass regelmässige Formen mit p oder d durch t erweitert
wurden und der dentale Spirant vor ^ in ^ überging (konsta <
konpta, konpa). — Im Nhd. ist -te die allein gültige Endung
geworden; auch das d, das im Mhd. namentlich nach n, aber
auch nach l gilt (künde, solde), ist aufgegeben.
Anm. Osthoff (Perf. S. 397 f.) sieht in ivissa einen 5-Aorist:
3 PI. wissun = i'aav (hom.) << Fibaav, 1 PL tvissum = fjaiuev << rj-FiöaiuGv;
vgl. Brgm. 2, 1186.
3. Auffallend ist, dass im Hd. in allen Formen dieser
Präterita u in o übergegangen ist, da doch allein die drei Formen
des Singulars Endungen haben, die diesen Übergang recht-
fertigen. Es heisst nicht nur scolta, gitorsta, dorfta, tohta^
mohta y sondern auch scoltim, gitorstun etc. und scolttnj
100 Präterito-Präsentia. [§ 55;
gitorstin etc.; ja sogar Iwnda Icondun, onda ondun, obwohl
sonst Nasalverbindungen den Übergang von u zu o hindern.
Nur bairische Quellen zeigen im Ahd. vereinzelt die Form
Jcunda (Br. § 373 A. 3). — Im Mhd. macht sich die Neigung
geltend, den Vokal im Fl. Präs. und im Prät. in Überein-
stimmung zu bringen und damit gewinnt ii weitere Verbreitung;
Tcunde, gunde werden die herrschenden Formen, muhte, sulde,
turste kommen vor, namentlich md. Im Nhd. ist diese Über-
einstimmung zwischen Präs. und Prät. durchaus Regel; ent-
weder gilt der gebrochene Vokal auch im Präs. {können
konnte, mögen mochte, sollen sollte), oder er ist auch im
Prät. aufgegeben {dürfeii durfte).
4. Beschränkter als der Übergang von u zu o war der
von i zu e. wissa ist die allgemein oberdeutsche Form, noch
bei N.; wessa und westa sind fränkisch (T. 0.)- Im Mhd.
halten sich die verschiedenen Formen; Gottfried reimt wiste
und weste. Hartmann fast nur loeste, Wolfram und Wirnt
brauchen messe (Zwierzina, Festgabe für Heinzel S. 444. 448.
ZfdA. 45, 95). Daneben kommen unter dem Einfluss des anl.
V) woste und wüste auf, die namentlich seit dem 14. Jh. sich
im Md. und Elsässischen verbreiten (Whd. § 419). Im Nhd.
ist wusste zur Anerkennung gekommen.
Umlaut im Opt. macht sich im Mhd. geltend und ist im
Nhd. allgemein geworden, ausser in sollen, das ebenso wie
wollen sowohl im Präs. wie im Prät. jetzt o verlangt.
5. Mit ^o-Suffix gebildete Verbaladjektiva begegnen im
Gotischen zu mehreren Prät. Präs.: mahts möglich, bi-nauhts
erlaubt, skulds schuldig, munds geglaubt, gehalten für (Lc.
3, 23), kunps bekannt, paurfts nötig, -weis weise, unwiss un-
gewiss; im Ahd. sculd, kund, dürft, gawiss. Aber diese
Wörter sind nicht sowohl Partizipia als Adjektiva, die neben
den Verben bestehen, aber nicht zum System der Verbal-
formen gehören, kimd, schuld, gewiss brauchen auch wir
noch adjektivisch. Eigentliche Partizipia auf t fehlten.
6. Dasselbe gilt von den sehr viel selteneren mit dem
Suffix -ono gebildeten Verbaladjektiven. Im Got. fehlen sie
ganz (yH^jpdft^h ajgjv N. Eigentum). Im Hd. ist am
§ 56.] Die Partizipia. 101
häufigsten alid. eigan; daneben kommt giwi^^an gnarus und
ungitorran inausum vor. gewi^^en begegnet auch im Mhd.;
jetzt hat sich nur noch eigen erhalten.
7. Die Bildung eigentlicher Partizipia beginnt erst in
der mhd. Zeit, zuweilen nach der starken^ Öfter nach der
schwachen Konjugation: gewist, gewest, gewi^^en; ^gegonnen,
gegunnen, erhunnen, enbunnen, gunnet, erhunnet, gegont, ge-
gönt, gegunst, gegonst'^ gekonst, erJcunnen, erkunnet; hedorfen,
bedorft; vermoht\ aber die Formen werden im allgemeinen
selten gebraucht, am wenigsten wo die Verba als Hülfszeit-
wörter stehen \). Die schwachen Partizipia der Hülfszeitwörter
sind erst im Nhd. zu einem festen Bestandteil des Konjugations-
systems geworden. — Über den Gebrauch des Infinitivs statt
des Part. s. § 86.
Grebraucli der Verbalformen.
Die Nominalformen des Yerbums.
Die Partizipia^).
56. 1. Ihrem Ursprung nach sind die Partizipia Ad-
jektiva, die, weil sie aus Verbalwurzeln entsprossen waren,
sich allmählich dem Verbalsystem angliederten und in frucht-
barem Wachstum über Verba aller Art verbreiteten. Durch
ihre nahe Beziehung zum Verbum erscheinen sie als eine be-
sondere Wortart, w^erden aber jeder Zeit leicht wieder ganz
zu Adjektiven, so dass sie ohne jede Empfindung der Zeit-
momente, die für das Verbum charakteristisch geworden sind,
gebraucht werden können. In Verbindungen wie eine reizende
Aussicht^ eine blendende Schönheit, eine leuchtende Farbe,
-eine zerstörte Stadt, ein ausgetrocknetes Flussbett bezeichnen
uns die Partizipia nur ruhende Zustände oder Eigenschaften
wie andere Adjektiva. Oft gibt der gotische Übersetzer ein
1) Whd. § 410 f. G. Maier, ZfdW. 1, 304 f.
2) Gr. 4, 64—71. 125-131. 1251 f. Erdmann § 132 f. Wunderlich
1, 120—128. Blatz 2, 597—625. Gering, Über den Gebrauch des
Part, im Gotischen. ZfdPh. 5, 294 ff. Matthias, Zur Geschichte der
deutschen Mittel Wortfügungen ZfdU. 11, 681.
102 Die Nominalformen des Verbums. [§ 57.
griechisches Partizipium durch ein Adjektivum wieder und
umgekehrt, und dasselbe Verhältnis zeigt sich zu jeder Zeit.
2. Den Charakter von Verbalformen verlieren die Parti-
zipia, wenn eigentümliche Entwickelung der Bedeutung oder
der Form den Zusammenhang zwischen ihnen und dem Verbum
überhaupt löst, oder wenn sie zu ihrem Verbum nicht in dem
Verhältnis stehen, das sich im allgemeinen zwischen ihnen
herausgebildet hat. Fälle der ersten Art sind in der Lehre
von der Wortbildung angeführt (II § 384, 4. § 325. 336) ;
andere kommen hier zur Sprache. Tempus, Genus und die in
der Bedeutung des Verbums wurzelnden syntaktischen Ver-
hältnisse kommen dabei in Betracht.
57. (Tempus.) 1. Nach den Suffixen wären dreierlei
Partizipia zu unterscheiden: nt-^, n- und ^Partizipia, doch fasst
man die beiden letzten unter demselben Namen zusammen,
weil ein Unterschied in ihrer Bedeutung nicht mehr wahr-
zunehmen ist. Die M^Partizipia nennt man Part. Präs., die
beiden andern Part. Prät. Die Form rechtfertigt den Namen
nur für die Tz^Partizipia, denn diese haben sich sämtlich dem
Präsensstamm angelehnt; die beiden andern nehmen in dem
Formensystem eine selbständige Stellung ein. Die i2-Partizipia
der starken Verba sind eine von den Tempusstämmen unab-
hängige Bildung, die nur zufällig bei einem Teil der Verba
dem PI. Prät. besonders nahe steht (bundum hundans, sti-
gum stigans, hudum hudans)\ die ^Partizipia der schwachen
Verba erscheinen zwar überall in enger Beziehung zum Prä-
teritum {nasida nasips, salhöda salböps, hahaida hahaips),
doch beruht diese enge Beziehung nicht auf ursprünglicher
Verwandtschaft (§ 39). Mit dem Präteritum haben beide
Formen keinen engeren Zusammenhang.
2. Was die Bedeutung betrifft, so bezeichnet das Part.
Präs. regelmässig eine unvollendete, das Part. Prät. gewöhn-
lich eine vollendete Handlung. Beide pflegen auf die Zeit
der Satzaussage bezogen zu werden, so dass das Part. Präs.
eine dieser gleichzeitige, das Part. Prät. eine ihr voran-
gegangene Handlung bezeichnet. Doch gelten diese Bestim-
§ 57,] Tempus der Partizipia. 103
mungen nicht unbedingt, namentlich nicht für das Part. Prät.
In Sätzen wie Mc. 1,13 jah was in pizai aupidai dage fidwör
tiguns, fraisans fram Satanin ('iTeipaZ;6|uevo^ utto toO Xaxava) ;
Mt. 11,7 raus fram wifida wagidata (KdXajuov uttö toO
dve'iuou crotXeuöjuevov) entspricht das g. Part. Prät. einem gr.
Part. Präs. (ZfdPh. 5, 295. 299) und bezeichnet eine der
Handlung des Verbum finitum gleichzeitige Handlung. Es
kann selbst auf einen Vorgang weisen, der später eingetreten
ist, nur vom Standpunkt des Redenden betrachtet der Ver-
gangenheit angehört; z. B. Mein verstorbener Freund dachte
■ anders darüber. Schon der {jetzt) geschlossene Landtag hat
darüber verhandelt. Ja es braucht nicht einmal eine abge-
schlossene Handlung zu bezeichnen, sondern kann von manchen
Verben ganz wie ein Part. Präs. eine währende Handlung
ausdrücken. Eine zerstörte Stadt ist eine Stadt, die man
zerstört hat; aber Verbindungen wie geschätzter Freund, ge-
ehrter Herr, geliebtes Kind entsprechen den Sätzen er wird
geschätzt, geliebt, geehrt. Ebenso er führt ein beicegtes
Leben, ist vom Fieber geplagt, allgemein geachtet \ die Stadt
ist auf einem Berge gelegen u. a. Eine solche zeitlich un-
begrenzte Bedeutung setzt der ahd. Gebrauch, das Präs. Pass.
durch icesan c. Part, wiederzugeben voraus (§ 73). Gewöhn-
lich aber wird das Part. Prät. auf eine vorangegangene Hand-
lung bezogen; andere fassen wir jetzt als Adjektiva auf.
3. Ähnliche Freiheit gestattete früher auch das Part.
Präs. Im Gotischen bezeichnet es oft, einem gr. Part. Aor.
oder Perf. entsprechend, eine der Handlung des Satzes voran-
gegangene Handlung; z. B. Mt. 6,6 galüJcands haurdai peinai
bidei du attin peinamma, KXeicrac; xfiv Gupav crou TrpocreuHai
TUJ TTttTpi (Tou. Jh. 6, 19 paruh farjandans swe spaurde-k-
jahegasaihand lesu, e\r|\aKÖTe<; ouv iIk; criabiouc; eiKOCTi
TievTe GeuüpoOaiv töv 'lr|crouv. Mc. 15, 46 jah usbugjands lein
jah usnimands ita biwand pamma, leinajah galagida ita in
hlaiwa, Kai a-^opäcac, cTivböva Kai KaGeXduv auxöv eveiXr|(Jev if}
aivbovi Kai KaieGriKev auiö ev |uvri|ueiuj. Auch späterhin führt
der Mangel eines Part. Prät. mit aktiver Bedeutung hin und
wieder zur Bildung ähnlicher Sätze; z. B. In Zug ans Land
104 Die Nominalformen des Verbums. [§ 58.
steigend kehrten wir im Ochsen ein (Goethe). Aber sie
widerstreiten dem Sprachgefühl. Wie das Part. Präs. in seiner
Form sich dem Präsens näher anschliesst als das Part. Prät.
dem Präteritum, so ist es auch in seiner Tempusbedeutung
gebundener als dieses.
58. (Genus und Subjekt der Partizipia.) 1. Die Part.
Präs. haben regelmässig aktive Bedeutung, die Part. Prät. teils
aktive, teils passive; aktive, wenn sie zu intransitiven, passive
wenn sie zu transitiven Verben gehören. Die aktiven Parti-
zipia dienen zur näheren Bestimmung von Substantiven, die
das Subjekt der Handlung sind: die rauschende Woge, die
Woge rauscht'^ eine verblühte Blume, die Blume verblüht',
die passiven zur näheren Bestimmung solcher, die das Objekt
der Handlung sind: der gefällte Baum, den Baum fällen.
Partizipiale Bildungen, die sich diesen Bestimmungen nicht
fügen, erscheinen als Adjektiva.
2. Partizipia Prät. transitiver Verba mit aktiver Be-
deutung sind nicht häufig und beruhen meistens auf absolutem,
also intransitivem Gebrauch der Verba: g. df^ugkans trunken,
ahd. bitrogan einer der betrügt, giwi^^an einer der weiss,
foragiwi^^an providus, mhd. genoj^en (vom Jagdhund) einer
der genossen hat, bescheiden verständig (einer der zu scheiden
weiss), verswigen schweigsam, nhd. belesen, ein gedienter
Soldat (der gedient hat, meritus), ein gelernter Schneider,
einem bedient sein = behülflich sein (DWb. 1, 1231) und daher
der Bediente. Auf einen jetzt erloschenen reflexiven Gebrauch
(vgl. § 59) sind zurückzuführen: nhd. erfahren und verdient
(bene meritus, sich verdienen = sich verdient machen)
Anm. 1. Anderer Art sind Wörter wie beredt, gewillt, gesinnt.
II § 338.
Anm. 2. Da die Part, transitiver Verba passive Bedeutung
haben, können sie nicht ein Objekt regieren. Unrichtig, obschon
ziemlich gebräuchlich, sind daher Verbindungen wie: 'eine statt-
gehabte od. stattgefundene Versanimlung\
3. Öfter werden Partizipia Präs. auf ein Substantivum
bezogen, das nicht Subjekt der Handlung ist. Doch sind
solche Fälle aus dem Gotischen kaum nachzuweisen (vgl.
§ 58.] Genus und Subjekt der Partizipia. 105
ZfdPh. 5, 297), und wo sie im Hochdeutschen begegnen, han-
delt es sich nicht um die Bedeutung eines Partizipiums über-
haupt, sondern nur in gewissen Verbindungen. In manchen kann
man das Partizipium auf ein unbestimmtes persönliches Subjekt
beziehen; ahd. vallandiu suht, mhd. vallende suht, der vallend siech-
tuom, da^ vallend übel, Fallsucht, Epilepsie ist die Krankheit, bei
der man hinfällt (1. morbus caducus)'^ mhd. schameiide arbeit Müh-
sal, deren man sich schämen muss. In andern bezieht es sich auf
ein bestimmtes persönliches Subjekt; z. B. mhd. alle mtne lebenden
tage so lange ich lebe, in ir lebenden jdren in den Jahren, die sie
erlebt hatte. Passivisch lässt sich auffassen mhd. mit windender
hant od. mit icindenden henden, auch ansehende^ leit ein Leid, das
man sieht oder das gesehen wird, sichtbar zu Tage Hegt; nhd. eme
melkende Kuh, essende und trinkende Waare. Wieder anders mhd.
der minnende unsin (MF. 117,33) die Liebesraserei, die Raserei, die
mit dem Minnen verbunden ist; diu minnende not Liebesgram,
sterbendiu stccere Todesnot.
4. Wie andere Ableitungssilben (vgl. z. B. -hoere II § 377)
kann also auch das Suffix des Partizipiums dazu dienen,
Wörter mit verschiedenem Sinn auszuprägen; aber das sehr
bestimmte Verhältnis, das im allgemeinen zwischen dem Part,
und dem Verb. fin. besteht, hemmt die freie Bedeutungs-
entwickelung, die wir bei andern Suffixen gewahren. Im
älteren Nhd. treten solche unregelmässigen Verbindungen oft
auf; nur wenige sind geblieben: eine schwindelnde Höhe eine
Höhe bei der einem schwindelt, eine sitzende Lebensiveise, mit
spielender Leichtigkeit dh. mit einer L., als ob man spielte, auch
wohl der alte Ausdruck bei nachtschlafe7ider Zeit (Gr. 4, 907) und
bes. ausneh7nend (auch ndl. uitnemende, mndl. ütnemende) ein aus-
nehmender Erfolg, dh. ein E., der ausg"enonimen, ausser Vergleich
gestellt werden muss. Einige lehnen sich an verbale Verbindungen
an: die stillschweigende Bedingung (stillschweigend bedingen), der
meistbietende Verkauf (meistbietend verkaufen), ein reissender Ab-
satz od. Abgang (reissend abgehen vgl. Anm. 4). Andere sind ver-
altet und mehr oder weniger anstössig: zu seiner vorhabenden Meise,
eme ivohlschlafende Nacht wünschen, eine erstaunende Menge (frz.
etonnante quantite); andere würden uns ganz lächerlich klingen,
z. ß. eine durstende Hitze, zitternde Kälte, errötende Unverschämt-
heit, obwohl sie mit schwindelnde Höhe wesentlich gleich sind. Vgl.
frz. cafe chantant, soiree dansante u. ä.
Anm. 3. Der scheinbar passive Gebrauch von betreffend be-
ruht auf Ellipse des Objekts und Bedeutungsentwickelung. Regel-
106 Die Nominalformen des Verbums. [§ 59.
massig", in aktiver Bedeutung: der diese Sache betreff ende Umstand^
dann: der betreffende Umstand = der in Betracht kommende Um-
stand, und darnach die betreffende Behörde.
Anm. 4. meistbietend verkaufen^ reissend. Absatz finden wider-
sprechen der Regel, dass adverbiale Partizipia im aktiven Satz das-
selbe Subjekt wie das Verbum finitum verlangen.
Anm. 5, Part. Präs. reflexiver Verba werden zuweilen ohne
Fron. refl. gebraucht (Blatz 2, 602), in der gewöhnlichen Rede aber
nur, wenn sie ganz zu Adjektiven geworden sind: ein herablassender
Herr, eine hingebende Freundschaft:, vgl. § 59, 2.
59. (Verba, deren Part. Prät. sich zu adjektivischem
Gebrauch nicht eignet.) 1. Obwohl die Partizipia aus Ad-
jektiven hervorgegangen sind, können doch nicht alle adjek-
tivisch gebraucht vs^erden. Die Part. Prät. eignen sich dazu
nur, wenn sie einen durch die Handlung des Verbums herbei-
geführten Zustand bezeichnen. In diesem Sinne werden sie
von allen transitiven Verben gebildet, von intiansitiven aber
nur dann, wenn sie bezeichnen, dass das Subjekt durch die
Handlung in einen gewissen Zustand gerät, d. h. wenn sie
perfektive Bedeutung haben (vgl. § 77). Man sagt: der ge-
fällte Baum, ein verkommener Mensch, aber nicht ei7ie ge-
hlühte Blume, gezahnte Khider\ man sagt: eine gesprungene
Saite, ein entlaufener Sklave, aber nicht ei^i gesprungenes
Kind, ein gelaufener Sklave. Partizipia von reflexiven
Verben, von imperfektiven Intransitiven und unpersönlichen
Verben werden im allgemeinen nur in den zusammengesetzten
Zeiten gebraucht, nicht als Adjektiva. Werden sie aber als
Adjektiva gebraucht so pflegen sie ihren verbalen Charakter
zu verlieren und ganz als Adjektiva empfunden zu werden.
2. Ziemlich häufig sind solche Partizipia von reflexiven
Verben:
g. anda-pähts einer der sich zu bedenken pflegt, fratvaurhts
sündhaft {sis fraiüaurkjan)\ nihd. wol bedäht, vernie^^en, verwcenet
anmassend, verwegen frisch entschlossen (zu sich verwegen), ver-
sonnen besonnen, verstanden verständig (zu sich versten), verlegen
einer der zu lange müssig gelegen hat und daher untauglich ge-
worden ist (zu sich verligen), vergangen einer der sich verirrt hat;
nhd. erkältet einer der sich erkältet hat, erhitzt, ergeben, besonnen,
bemüht, bestrebt, bescheiden, betrunken, verliebt, verirrt, verbissen
§ 59.] Partizipium und Adjektivum. 107
einer der sich in etwas verbissen hat, gewandt der sich zu wenden
versteht (vgl. frz. tourne, tournure), entschlossen der sich rasch ent-
schliesst, ein erklärter Liebhaber, ausgesprochener Feind, gesetztes
Wesen u. a. (Blatz 2, 609).
Anm. 1. Unstatthaft ist die Verbindung des Part, mit dem
refl. Pron. z. B. der Freudenschrei der sich so plötzlich Gefundenen'^
ein sich schon längst fühlbar gemachtes Bedürfnis (vgl. § 58 Anm ).
3. Zu imperfektiven Intransitivis gehören: g.hauh-,mikil-
fiühts hochmütig, paurfts nötig-, brauchbar (zu paurban c. Gen.);
mhd. verlogen lügenhaft, verge^;^en vergesslich, verruochet unbe-
kümmert, sorglos, enbi^i^en einer der gefrühstückt hat, gesivoren
einer der geschworen hat, geriiot in Ruhe g'elassen, ruhig, gewegen
einer der hilft {zu giivegen), nhd. gewogen^ mhd. geriten zu Pferde;
nhd. beritte7i. Auch ahd. gilegan situs, gise^^an angesessen, wola
gise^^an idoneus sind hierher zu rechnen. Denn die Verba ligen
und sitzen haben zwar auch perfektive Bedeutung und werden in-
folge dessen mit sein verbunden, die genannten Adjektiva aber
gehören offenbar zu den imperfektiv aufgefassten Verben (vgl.
§ 83 Anm, § 57, 2). — Zu dem unpersönlichen g. mik paurseips gehört
paursips durstig.
Anm. 2. Ahd. gidionöt mancipatus, humiliatus, untardeonöt
subditus ist nicht als Part, zu dionön, sondern als selbständige Bil-
dung anzusehen.
4. Als eine besondere Gruppe sind die mit un- zusammen-
gesetzten Partizipia Prät. zu erwähnen, die im Mhd. nicht
selten in einer dem positiven Partizipium nicht entsprechenden
Weise gebraucht w^erden : ungesungen sin nicht singen^ unge-
reiet beliben nicht zum Tanze kommen, ungesprochen gän
ohne zu sprechen etc. (vgl. § 61, 9). Daher noch jetzt: un-
gegessen, ungetrunJcen aufbrechen, ohne gegessen, getrunken
zu haben. — Dass diese Wörter in loserem Verhältnis zum
Verbum fin. stehen, zeigt sich schon darin, dass sie nicht wie
das Verbum durch ne, sondern mit un- negiert werden. Wir
empfinden sie ganz als Adjektiva und unterscheiden: er ist
ungebttndeji, unbestraft und nicht gebunden, nicht bestraft
{er ist dafür nicht bestraft loordem, nicht unbestraft worden).
Im Mhd. stehen sie in Verbindung mit sein dem Wert eines
negierten Verbums wenigstens noch nahe; z. B. Parz. 767,28
ob dir u7igeldnet wcere wenn dir nicht gelohnt würde, wenn
du ohne Lohn bliebest. Loh. 5565 dem was ungeholfen dem
wurde nicht geholfen, er blieb ohne Hülfe; aber zur Bildung*
108 Die Nominalformen des Verbums. [§ 60.
eigentlicher Passivformen mit loerden sind sie auch im Mhd.
nicht geeignet.
60. (Syntaktische Verbindungen der Partizipia.) 1. Par-
tizipia, die ihren verbalen Charakter behalten, unterscheiden
sich von den Adjektiven namentlich in zwei Punkten. Einmal
sind sie infolge ihrer verbalen Natur mehr geeignet, mit näheren
Bestimmungen bekleidet zu werden, sodann werden sie öfter
durch Pausen und Wortstellung als relativ selbständige Teile
der Rede bezeichnet, so dass sie gewissermassen die Bedeutung
von Sätzen gewinnen. Zwar sind auch die Adjektiva von
diesem Gebrauch nicht ausgeschlossen, wie z. B. bei Walther
46, 10 Adjektiva und Partizipia nebeneinander stehen: swä
ein edeliu schoene frouwe reine, wol gekleidet unde wol
gebunden, durch kurzewile zuo vil Muten get, hovelichen
höhgemuot, niht eine, umhesehende ein wenic under
stunden etc.; aber durch ihren verbalen Charakter eignen
sich vor allem die Partizipia zu diesem satzartigen Gebrauch,
mögen sie allein stehen, z. B. als meine Hunde, wutentbrannt,
an seinen Bauch mit grimmigen Bissen sich warfen, oder
nähere Bestimmungen bei sich haben; z. B. Hier hausete der
Wurm und lag, den Raub erspähend, Nacht und Tag. Sehr
kräftig hat sich der Gebrauch satzartiger Partizipia im Griechi-
schen und Lateinischen entfaltet, am freiesten äussert er sich
in den absoluten Partizipialkonstruktionen.
2. In den germanischen Sprachen finden sich zu den
absoluten Partizipien nur geringe Ansätze; andere, die sich
der Konstruktion des Satzes einfügen (appositive Partizipia),
begegnen häufig zu jeder Zeit, gehören aber doch mehr der
Kunst- und Schriftsprache an und stehen oft sichtlich unter
dem Einfluss fremder Originale und Muster. In der gewöhn-
lichen Rede pflegen Partizipia nur gebraucht zu werden, wenn
sie sich als attributive oder prädikative Bestimmungen dem
Satzgefüge fest eingliedern. Im prädikativen Gebrauch er-
scheinen die Partizipia dem Verbum des Satzes je nach dem
Bedeutungsverhältnis bald mehr bald weniger eng verbunden.
In Sätzen wie: Er gi^ig pfeifend aus dem Zimmer, suchte
§ 61.] Partizipium Präs. Konkurrenz des Infinitivs. lOO"
schwimmend das Land zu erreichen, lag gefesselt am Boden;
ich stand gelehnet an den Mast, sass in Gedanken versunken,
sah ihn gerettet, glaubte mich getäuscht empfinden wir beide
Glieder als selbständige Satzteile. In andern verschmelzen sie
zur Einheit, am meisten in den zusammengesetzten Zeitformen,
in denen die Verba sein, imrden, haben neben Part. Prät. zu
Htilfszeitwörtern herabsinken (§ 73). Einige andere Verba
stehen diesen nahe; besonders hervorgehoben sei kommen,
das zunächst im Prät., dann auch im Präs. mit einem Part.
Prät. verbunden wurde. Im Mhd. waren diese Verbindungen sehr
beliebt geworden und auch jetzt beg'egnen sie oft in der Literatur
und in der Umgangssprache: er kommt geschlichen, gegangen, ge-
ritten, angerausclit, angesungen. Kommt ein Vöglein geflogen (Gr.
4, 9. Blatz 2, 618). In manchen andern Fällen zeigt sich die enge
Verbindung eines Part. Prät. mit dem Verbum fin. nur in gewissen
Redensarten: verloren gehen, es steht geschrieben, verborgen halten,
gefangen h., gefangen nehmen, sich gefangen geben, etivas ange-
schleppt bringen, geschenkt kriegen od. bekommen u. a. Ähnliche
Verbindungen mit dem Part. Präs. haben sich nicht erhalten. Nur
als Adjektivum behauptet es sich neben sein (vgl. § 90). — Über die
satzartigen Partizipia ist im folgenden Bande, über die absoluten
auch in der Kasuslehre zu handeln.
61. (Konkurrenz des Infinitivs.)^) In manchen Ver-
bindungen, in denen das Partizipium früher möglich war, hat
die Sprache es aufgegeben. Wenn es sich als Subjekt oder
Objekt auffassen lässt, brauchen wir statt seiner den Infinitiv
oder Nebensätze mit dass, wie, ivenn.
2. Mit dem Part. Präs. konkurriert der Infinitiv bei
manchen Verben von Anfang an und ist wohl als das der
deutschen Sprache gemässere anzusehen ; prädikativ gebrauchte
Part. Präs. waren in der älteren Sprache offenbar wenig be-
liebt, wenn auch die Übersetzer sie nach dem Muster ihrer
Vorlagen oft genug zulassen^). In anderen Verbindungen tritt
der Infinitiv erst später ein und beruht dann meistens auf dem
Verfall der partizipialen Endung (§31).
1) Gr. 4, 125 ff. Gering ZfdPh. 5, 423 f. Blatz 2,559.
2) Kick, Das prädikative Part. Präs, im Ahd. Bonn 1905.
110 Die Nominalformen des Verbums. [§ 61.
3. Zunächst finden wir den Infinitiv bei einigen transi-
tiven Verben der Bedeutung 'erkennen, wahrneb men, tun*.
Im Got. steht Lc. 8,46 neben ufkunnan das Part.: ufkunpa onaht
usgaggandein us mis (^HeX0oOöav), im Tat. c. 60, 6 an der ent-
sprechenden Stelle neben dem synonymen wi^^an der Infinitiv: ih
tvei^ megin fon raii^ ü^gangan, wie im lat. novi virtutem exiisse\
ebenso bei 0. 3, 14, 36 ih irkanta thia kraft Mar faran fona mir. —
Neben hören brauchen wir den Inf. wie 0. 1,25,15 then fater hört
er sprechan; 2, 13, 5; im Got. steht das Part. Mc. 14, 58 gahausidedun
qipandan ina (X-^yo^tgc;) und so öfter bei den ahd. Übersetzern nach
dem Original. — sehaii verbindet der Übersetzer des Tatian nur
6 mal mit dem Infinitiv, 40 mal mit dem Part., immer der Vorlage
entsprechend ; aber schon im Got. erscheint bei diesem Verbum zu-
weilen der Inf. statt des gr. Part, und Otfried braucht das Part,
nur noch einmal (5, 13, 32), sehr oft den Inf. Gleichwohl erscheint
uns bei diesem Verbum das Part, erträglicher als bei hören, weil
wir bei hören mehr als bei sehen die Tätigkeit als Objekt zu em-
pfinden pflegen. Ebenso haben sich bei finden beide Konstruk-
tionen gehalten, wie sie schon im Ahd. und Mhd. vorkommen; z. B.
Iw. 282 den ich da stende vant; Wh. 305, 3 sumeltche vant man släfen.
4. Bei ahd. lä^an findet sich ein Part, nur vereinzelt; nicht
selten, auch in originaler Rede, bei tuon, gituon-, öfter jedoch
auch bei diesen der Infinitiv, und der Inf. stellt sich dann später
im Mhd. auch bei machen, schaffen, vrumen ein. Erhalten hat er
sich nur bei machen, z. B, er macht viel von sich reden\ das macht
mich lachen, und selbst bei diesem Wort klingt er uns meistens
einigermassen fremd. Vielleicht steht die jetzige Konstruktion, ob-
wohl in altem Boden wurzelnd, doch unter französischem Einfluss
[tun ist auf den auxiliaren Gebrauch beschränkt; s. § 61, 8). —
Jung, auf dem Verfall des Partizipiums beruhend, ist der In-
finitiv bei h ab 6 71 (z. B. Er hat eine Feder am Hut stecken)
und einigen andern transitiven Verben, bei denen er nicht
durchgedrungen ist. Gr. 4, 627 f. Bech S. 102 f.
5. Wo der Infinitiv neben intransitiven Verben für das
Partizipium eintritt, ist er wohl überall auf die Verstümmelung
des Part, zurückzuführen. Eine stattliche Reihe solcher Ver-
bindungen zählt Bech ZfdW. 1, 88 ff. auf, nur wenige haben
sich erhalten. Die weiteste Verbreitung hat der Infinitiv
neben werden gefunden, in dem umschreibenden Futurum
(§ 92). Formelhaft beschränkt sind die Infinitivverbindungen
mit bleiben] wir sagen sitzen, stehen, liegen, stecken, haften.
§ 61.] Partizipium Präteriti. Konkurrenz des Infinitivs. 111
Tdehen bleiben, aber nicht essen, trinken, schlafen bleiben.
Sonst gilt er nur noch in einzehien Redensarten, wie betteln
gehn, spazieren gehen, fahren, reiten. Ungewöhnlich: Der Her-
zog Milan schlafen lag in einer Eiche Schatten (ühland); anders
schlafen gehen s. § 63, 7).
Anm. 1. Bemerkenswert ist, dass im Got. zwar heilan und
gaandjan mit dem Part, verbunden sind, das synonyme siveiban
aber Lc. 7,45 mit dem Infinitiv: ni swaif bikukjan fötuns meinans
(oö bieXeiirev KaTaqpiXoOaa) ; vgl. duginnan und anastödjan c, Inf.
und Gering ZfdPh. 5, 429.
6. Mannigfaltiger sind die Verbindungen, in denen ein
Part. Prät., das als Subjekt oder Objekt aufgefasst werden
kann, aufgegeben und durch den Infinitiv ersetzt ist. Parti-
zipium und Infinitiv sind nicht gleichbedeutend; jenes be-
zeichnet die Handlung als abgeschlossen, dieser als unvollendet.
Zuweilen sind beide Auffassungen und demgemäss auch jetzt
noch beide Formen gestattet. So bei heissen und nennen :
Das heisst, nenne ich gearbeitet oder arbeiten. Dann in
Sätzen, in denen das Part, den Charakter eines unvollkommenen
Satzes hat: Frisch gewagt ist halb gewonnen. Aufgeschoben
ist nicht aufgehoben. (Nur der formelhafte Charakter hindert
hier die Umsetzung in den Infinitiv.) Auch mit abhängigem
Akkusativ, der deutlich auf den elliptischen Gebrauch des
Part, hinweist: Das Messe den BocJc zum Gärtner gesetzt,
Gut vei'loren etwas verloren, Ehre verlor eii viel verloren,
Mut verloren alles verloren. (Gr. 4, 127. 129. 1256. ßlatz
2,623)1).
7. Aufgegeben ist das Part, als Subjekt neben Aus-
drücken wie ist gut, leicht, schwer, lieb, nützlich, neben sollen,
taugen, helfen'.^ z. B. Herb. 4141 loa^ sol lenger hie gelegen wozu
soll man hier länger liegen. Wig. 74, 20 ica;^ touc nü m^r davon
geseit. Iw. 4711 da^ ist also guot vermiten es wäre ebenso gut,
dies zu vermeiden. Trist. 148, 37 da^ in vil sivcere was vernomen.
292, 30 da;^ mir lieber ivcBre der truhsce^e ze manne genomen wenn
ich nähme. Walther 106, 6 wa^ sol diu rede bescfioenet. MSH,
2, 214 1> 7iiht hilf et al der werkte hört gekoufet es hilft nichts . . zu
1) Doppelte Konstruktion, Part. Prät. und passivischer Inf.,
mit merklich verschiedenem Sinn bei sehen : ich sah ihn gebunden,
ihn binden. Part, und Inf. dienen hier der Tempusunterscheidung.
112 Die Nominalformen des Verbums. [§ 61.
kaufen, dass oder wenn man kauft. Auch jetzt noch: Das ist leicht
gesagt^ leicht getan, wo wir freilich dazu neigen leicht als Adverb
zu fassen (vgl. das ist bald gesagt und Gr. 4, 129). — Seltener als
Objekt: Wh. 67, 10 wa^ loolt ich swerts umb dich gegart. MSH.
3,65 b nü hän ich oft hört gesaget. Wh. 275,8 die^ im da heten
lä^en üf der tavelen gestanden, hatten stehen lassen. Wolfdietrich D
VIII, 70 schcene frouwe^ hetstu dir geholfen län, hättest du dir helfen
lassen 1). Auffallender, weil neben dem Part, das handelnde Subjekt
steht. Nib. 585, 6 ob in diu edele vrouive het lä^en da^ getan, wenn
sie ihn das hätte tun lassen. Der Grund^ dass in solchen Ver-
bindungen das Part, aufgegeben ist, liegt darin, dass wir
durch das Part. Prät. nicht nur eine vollendete, sondern zu-
gleich eine der Vergangenheit angehörige Handlung zu be-
zeichnen pflegen (§ 57). Wo der Zusammenhang diese Be-
deutung verlangt, lässt es sich nicht durch den Inf. ersetzen;
z. B. MF. 137,3 wa^ sol daß golt begraben bedeutet nicht:
w^as nützt es Gold zu begraben, sondern v^as nützt begrabenes
Gold, Gold, w^enn es begraben ist. Ebenso: Das wäre eben
so gut unterblieben, besser verschioiegen u. ä.
8. Auch neben tuon {machen, frumen, schaffen) begeg-
net einigemal schon im Ahd., oft im Mhd. ein Part. Prät., das
später durch den Infinitiv ersetzt w^ird^). Doch wird diese
Verbindung, in der tun zu einem inhaltsleeren Auxiliare wird,
jetzt in der Schriftsprache im allgemeinen vermieden; wir
brauchen das blosse Verbum; z. B. Trist. 274, 7 ich tuon 7iäch iu
gesant ich sende nach euch. MSH. 1, 357^ wer tuot seiiden man
von sorge erlöst. Parz. 26, 30 si iccenent, da^ i'n schlief erslagen.
Nur wenn wir, um das Verbum hervorzuheben, den Infinitiv
an die Spitze des Satzes stellen oder mit nichts als verbinden,
verzichten wir ungern auf die Umschreibung: Schwätzen tut
er. Er tut nichts als schwätze7i; selbst bei Verben, die gar
kein tun bezeichnen: Schlafen tut er. Regnen tut's. Auch
in Gedichten im Volkston, namentlich die Form tat = mhd.
tete\ z. B. er tat sie freundlich grüssen (§ 33, 8).
1) Vgl. auch Sätze in denen ein Adjektivum neben lä^en steht;
z. B. 0. 3,24,21 ni lä^ thir i^ ser. 5,8,32 in muate lä^ thir i^
heiQ. Parz. 159, 2 lä^ dir min laster leit. Der abhängige Dativ
zeigt, dass diese Verbindungen au.f Ellipse von sin beruhen.
2) Gr. 4. 127 f. 94 f. Wunderlich 1, 167 f.
§ 62. Infinitiv. 113
Anm. 2. Das auxiliare tuon mit dem Inf. ist im guten Mhd.
noch selten; z.B. Walther 6,2 da;^ si uns tuon hewarn (vgl. §69
Anm.). Auch Luther braucht es nicht. Aber andere bedienen sich
seiner gern, so schon um 1400 Hugo von Montfort (AfdA. 24, 209).
Im 17. Jh. verspottet es A. Gryphius (Heyse 1, 780). Sehr beliebt
ist die Konstruktion im Mnl. und im Engl., dem Ags. aber ebenso
fremd wie dem Ahd.
9. Besonders zu erwähnen sind auch hier die mit un-
zusammengesetzten Partizipia. Sie behaupten sich bei lassen
und bleiben: ungestraft, unbelohnt, unerwähnt, unberücksichtigt
lassen oder bleiben, jedoch nur, wenn sie sich in passivem
Sinn prädikativ auf das Objekt oder Subjekt beziehen lassen.
Also wohl in Sätzen wie 0. 2, A, 9 er tliär niheina stigilla ni firlia^
ouh unfirslagana. Bit, 1300 der helt lie^ ungezürnet daQ\ aber nicht
in solchen, wo sie aktive Bedeutung haben (§59,4); auch nicht in
solchen, wo sie, wenn man sie mit Paul § 291 passivisch oder neu-
tral fasst, nicht prädikativ sondern absolut stehen; z. B. Walther
96, 20 dem ungedienet ie vil wol gelanc (ohne dass gedient war od.
ohne dass er gedient hatte), j. Tit. 5189 ungevräget bin ich von
dannen gescheiden (ohne dass eine Frage stattgefunden hatte od.
ohne dass Ich gefragt hatte), oder endlich in solchen, wo sie selbst
die Stelle des Objekts einnehmen MF. 205^ 8 ich wil ir ungevluochet
län ; 208, 3 si wil mir ungelönet lau.
Infinitiv^).
62. 1. Infinitive werden in den germanischen Sprachen
nur zum Präsensstamme gebildet und von uns als aktivische
Präsensformen empfunden. Ursprünglich aber hatten sie wie
andere Nomina aktionis kein bestimmtes Verhältnis zum Genus
und Tempus Verbi; erst dadurch, dass wie zum Verbum finitum
auch zu ihnen zusammengesetzte Formen gebildet wurden
{finden, gefunden haben, gefunden werden etc.), ist ihre Be-
1) Gr. 4, 90-124. Wunderlich 1, 378-384. Bernhardt, Gr.
§ 186-191. Paul § 293—300. Blatz 2,547-597. - Köhler, der syn-
taktische Gebrauch des Infinitivs im Gotischen. Germ. 12, 421 ff.
A. Denecke, Der Gebrauch des Infinitivs bei den ahd. Übersetzern
des 8. und 9. Jh. Lpz. 1881 (Diss.). S. vonMonsterberg-Münckenau,
Der Infinitiv in den Epen Hartmanns von Aue. Breslau 1885. Ders.,
Der Inf. nach neuen und den Präterito-Präsentia in den Epen
Hartmanns. ZfdPh. 18, 1 f. 144 f. 301 f.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. IIl. 8
114 Die Nominalformen des Verbums. [§ 63.
deutung- bestimmter g-eworden (§ 87 ff.). — Die ostgermanischen
Sprachen besitzen nur den mit dem Suffix -{o)no- gebildeten
Infinitiv, der seiner Form nach als Akkusativ anzusehen ist;
die westgermanischen haben daneben einen durch ^o-Suffix
erweiterten Stamm, von dem ein Dativ und Genitiv gebildet
werden (§ 7). Doch ist der Genitiv verhältnismässig selten
und neigt von jeher zu substantivischer Bedeutung (vgl. § 69, 5
und II § 303, 3). Verbale Kraft und Lebendigkeit zeigen nur
die beiden anderen sehr oft gebrauchten Infinitivformen.
2. In der Regel dient der Infinitiv wie die Casus obliqui
zur Ergänzung oder näheren Bestimmung eines andern Wortes,
besonders des Verb, finitum und dieser Gebrauch ist für die
germanischen Sprachen als der ursprüngliche anzusehen. Die
Verwendung, die er als Prädikat an Stelle des Verb. fin.
findet, beruht, obwohl Ähnliches schon in der idg. Ursprache
vorkam (Delb. 4,453), auf jüngerer Entwickelung und kommt
hier nicht in Betracht.
3. Mit dem regierenden Wort wird der Infinitiv ent-
weder unmittelbar verbunden oder durch eine Präposition (im
An. at, im Got. du, in den westgermanischen Sprachen zu).
Die ostgermanischen Sprachen müssen in beiden Fällen die
mit dem Suffix -{p)no- gebildete Infinitivform brauchen, die
westgermanischen lassen auf die Präposition den Dativ der
mit *o -Suffix erweiterten Form folgen (Gerundium).
63. 1. Das Gebiet des blossen Infinitivs war in den ger-
manischen Sprachen nicht klein und erhielt durch das Zurück-
weichen des Partizipiums noch einigen Zuwachs (§ 61). Stärker
aber war dieEinbusse, die er durch das Vordringen konkurrierender
Konstruktionen erfuhr, namentlich durch den Infinitiv mit zu,
der jetzt fast überall gilt, wo früher der blosse Infinitiv ge-
braucht werden konnte. Ob dieser sich behauptet hat, hängt
wesentlich von dem Verhältnis seines Subjekts zum regierenden
Satz ab; unter diesem Gesichtspunkt sind also die Änderungen
des Sprachgebrauchs zu verfolgen.
2, Am besten hat der Infinitiv stand gehalten, wenn sein
Subjekt zugleich Subjekt des regierenden Satzes ist. Gewöhn-
§ 63.] Der blosse Infinitiv. 115
lieh hängt er von einem Verbum ab, dem er sich bald enger
anschliesst, wie ein ergänzendes Objekt, bald loser, wie eine
adverbiale Bestimmung. Als Ergänzung erscheint der In-
finitiv z. B. neben g. mag, skal, parf ich habe nötig (e'xuu
dvcxYKriv) ; imljan, loaljan, frijön^ sökjan, ganiman lernen, us-
daudjan sich beeifern, hiarhaidjan nach etwas streben, mia-
nanpjan sich erkühnen; munan, ög, wenjan, galaubjan, pugk-
jan, wait verstehen (1 Thess. 4, 4), wissen (Lc. 4, 41), ufarmunön
vergessen (Mc. 8,14), galiaitan versprechen; duginnmi^ du-
stödjan anfangen, sweiban aufhören (§ 61 Anm. 1); ebenso nach
den Reflexiven laisjan sik lernen (1 Tim. b, 13), skaman siJc
(Lc. 16, 3). Die meisten dieser Verba bezeichnen die Richtung
auf eine Tätigkeit, so dass der Infinitiv nicht auf eine Tat-
sache, sondern auf etwas Vorgestelltes, Zukünftiges hinweist.
In diesem Sinne wird er auch bei haban gebraucht; Lc. 14, 14 ni
liaband usgildan pus^ öuk ^xo^'^i'^ dvTaTroboOvai aoi; das Verbum dient
im Gotischen sogar zur Futururaschreibung (§ 91).
3. Dem Wert einer adverbialen Bestimmung des
Zieles steht der Infinitiv näher bei den Verben der Bewegung:
g. qiman, gaggan, galeipan, urrinna7i, sniioan eilen (1 Kor-
9,25), faursniwan (Mc. 14,8), sniumjan (1 Thess. 2, 17). In
demselben Sinne bei insaihan (Lc. 1, 25), atsaihan (Mt. 6, 1),
gaweisön besuchen (Lc. 1, 78).
4. Ähnliche Bedeutung und Mannigfaltigkeit zeigen die
Verba, die im Deutschen den blossen Infinitiv regiereu. Manche,
die das Gotische besitzt, fehlen natürlich, andere treten dafür
ein, z. B. gerön begehren, zilön streben, ilen eilen, denken,
gedenken, lernen^ trüwen getrauen, mhd. geniochen, swern,
geloben, pflegen. Bei manchen mag es Zufall sein, dass sie
im Gotischen nicht mit dem Infinitiv belegt sind z. B. bei
gadars\ bei andern hängt es offenbar mit der Bedeutung zu-
sammen, g. hann ich weiss, kenne, erkenne regiert keinen Infini-
tiv, wohl aber ahd. Uan in der Bedeutung zu etwas befähigt sein;
doch ist auch im Ahd. der Infinitiv zunächst noch selten, bei Otfried
begegnet er nur zweimal nach negiertem Ican: 1,1,120 ist ther fir-
neman zj ni kunni. 4,5,10 ni kan inan bimtdan^). g". gamöt ich
finde Platz ist nicht geeignet, den Infinitiv zu regieren, wohl aber
1) OS. II S. 202; vgl. Kahl, ZfdPh. 22,11 f.
116 Die Nominalformen des Verbums. [§ 63.
ahd. muo^ in der abgeleiteten Bedeutung 'ich bin im stände, in
der Lage.'
5. Mit einem Inf. des Zieles, wie die Verba der Be-
wegung, wird im Ahd. stantan sich stellen verbunden, das
ganz in die Bedeutung "anfangen' übergeht (vgl. das verwandte
g. dust6djan)\ oft bei Otfried, aber auch sonst, z. B. Hild. 8
fragen gistuont. Selbst bei wesan braucht 0. einmal den Inf. in
diesem Sinne 2, 14, 100 si wärun in thero bürg, koufen iro nötdurf
(OS. 1 § 335).
Anm. Zum Teil treten die regierenden Verba so sehr hinter den
abhängigen zurück, dass sie als Hülfsverba erscheinen; als Hülfsverba
des Tempus (§91), od^v^-Q^Modus {können, mögen, sollen qIq. §112), oder
der Aktionsart (g. dugmnan, ahd. biginnan, girätan, gistantan etc.).
6. Konkurrenz des Inf. mit zu ist bei manchen Verben
früh wahrnehmbar (§ 70), und im Hochdeutschen schwin-
det allmählich der Unterschied, der ursprünglich zwischen
beiden Konstruktionen bestand. Bei biginnan, denken, gerön, gan-
gan, queman begegnet schon im Ahd. statt des blossen Infinitivs
auch der präpositionale, im Mhd, auch bei geruochen, pflegen, tlen
u. a. (Gr. 4, 108. Blatz 2, 581 f.). Zuweilen stehen beide Formen
nebeneinander (§ 70,5). Im Nhd. verlangen die meisten Verba,
die in der älteren Sprache den blossen Inf. regieren konnten,
oder würden haben regieren können, wenn sie die jetzige Be-
deutung gehabt hätten, die Präposition; so suchen, begehren,
wünschen, lieben, pflegen, wagen, streben', kommefi, eilen-, scheinen
(erst nhd.), meinen, wähnen, denken, glauben, wissen, vergessen;
hoffen, fürchten', versprechen, geloben, leugnen', haben [er hat zu tun),
anfangen, unternehmen, untei'lassen, aufhören-, sich beeifern, sich
getrauen, sich schämen u. a.
7. Nur bei wenigen hat sich der blosse Infinitiv be-
hauptet: bei den Prät. -Präsentia ausser wissen, also bei mögeriy
Icönnen, dürfen, sollen, müssen und bei wollen und lernen]
doch verbinden wir lernen mit dem Inf. mit zu, wenn nicht das
Objekt, sondern das Ziel des Lernens bezeichnet werden soll; z.B.
Ich habe ohne dich zu leben noch nicht gelernt (vgl. helfen § 64, 2).
V^eniger üblich und formelhaft beschränkt ist der Infinitiv bei
den Verben der Bewegung, am häufigsten noch bei gehen:
schlafen, baden gehen, auch einJcaufen g. u. ä. In demselben
Sinne bei sein in Verbindungen wie : er ist baden, Schlittschuh
laufen, wo man jedoch leicht das Part, gegangen ergänzt
§ 64.] Der blosse Infinitiv. 117
(§ 92, 1). Dazu kommen dann noch einige Verba, in denen
der Infinitiv für das Part, eingetreten ist oder im Sinne eines
Part, gebraucht wird (§ 61).
8. Infinitive, die von einem Nomen abhängen und das-
selbe Subjekt haben wie der regierende Satz, begegnen im
Gotischen hin und wieder; z. B. Mt. 27, 15 biühts was fraletan,
eiuOGei dTioAueiv, ebenso bei mahteigs ist 2 Kor. 9, 8; manwus im
2 Kor. 12,14; gawilja ist 1 Kor. 7,13; oft bei skulds ist bei, |ue\\ei
(§ 87, 2). Neben einem Substantivum z. B. Jh. 19, 10 waldufni aih
ushi'amjan puk, eEouaiav ^iy^yu öxaupOüaai öe; ebenso bei lustu hahan
Phil. 1, 23, überall in Übereinstimmung mit dem griechischen
Original. Im Ahd. sind solche Verbindungen sehr selten, selbst
bei den Übersetzern (Gr. 4, 102). Nur neben giwon ist scheint
der blosse Infinitiv geläufig; dafür bietet auch Otfried zwei
Beispiele (1,17,43. 4,16,10). Sonst wird der Inf. mit zn
gebraucht; z.B. Tat. c. 197,8 ih haben giwalt thih zi irhähanne,
potestatem habeo crucifigere te; auch neben giwon, z. B. Tat. c.
199, 1 was giwon ther grdvo zi forlä^^anne, consuerat praeses dimittere
(g. biühts was fraletan). Später gilt überall der präpositionale In-
finitiv (§ 70, 4). — Über du hast gut reden s. Gr. 4, 102.
64. Wenn der Infinitiv ein anderes Subjekt hat als
der regierende Satz, so kann es entweder in einem Dativ oder
Akkusativ ausgedrückt werden oder es kann unbezeichnet
bleiben.
1. Der Dativ lässt sich überall als abhängig von dem
regierenden Prädikat auffassen; so bei g. uslaubjan erlauben,
anabiudan gebieten, qipan und meljan (im Sinne von befehlen),
gihan (z. B. Mc. 15, 23 gebun imma driglian wein; Rom. 15, 5
gibai izwis pata samö frapjan). Ferner neben einigen un-
persönlichen Ausdrücken, wo dann der Infinitiv als Subjekt
erscheint, bei galeikan gefallen (Lc. 1,3 galelkaida jah mis
meljan, eboSe Kdjuoi ypdqpeiv), öfters bei wairpan (z. B. Mc.
2, 23 jah warp pairhgaggan imma pairh atisl{, Kai eYeveio
TrapairopeueaGai auxov), bei passivisch gebrauchten Transitivis,
wie Mc. 4, 11 izwis atgiban ist Jcunnan rüna u)nTv beborai
TViuvai TÖ luucfTripiov, und namentlich bei nominalen Prädikaten :
Mc. 9, 5 göp ist iinsis her wisan, KaXöv ecriiv f|juä(; ujbe eivai.
118 Die Nominalformen des Verbums. [§ 65.
Lc. 18, 25 rapizö ist ulbandau pairh pairkö neplös pairhga-
leipan, euKOTTUiiepov ecriiv Kd|ur|\ov . . bieXGeiv; und nach einem
Substantiv Rom. 13, 11 mel ist uns urreisan ujpa fijLiä(^
eYepOrjvai.
2. Auch im Hochdeutschen finden sich solche Kon-
struktionen, aber überall gilt schon im Ahd. neben dem blossen
Infinitiv der Inf. mit zu. So bei gibiotan, gehan, Mlfariy
rätan, den unpersönlichen ist irloubit, gilimphit oportet, licet
und namentlich bei Nominibus; z.B. Tat. c. 91.2 guot ist
uns Tiir zi wesanne (§ 70, 3).
3. Jetzt wird bei Verben wie erlauben, gestatten, be-
fehlen, raten, gebieten, geben {zu essen, zu tr. geben), mir
gefällt, geMhrt, ziemt, genügt:^ mir ist gut, nützlich, leicht,
schwer u. ä. immer der Infinitiv mit zu oder ein Satz mit
dass gebraucht. Nur bei helfen hat sich der blosse Inf. neben
dem Inf. mit zu mit ähnlicher Unterscheidung wie bei lernen (§ 63, 7)
gehalten; der blosse Inf. bezeichnet das Objekt, der Inf. mit zu das
Ziel; vgl. er half mir arbeiten (bei der Arbeit); er half ihm (ver-
half ihm dazu) sich tvieder zurecht zu finden.
Qb. 1. Wie der Dativ so lässt sich neben manchen In-
finitiven auch der Akkusativ als Objekt des regierenden
Verbums auffassen, so bei bidjan, baidjan zwingen, insand-
jan, laisjan lehren, galatjan und warjan hindern, afhug-
Jan betören, gasaihan, dömjan beurteilen, afaikan leugnen;
z. B. 1 Kor. 1, 17 insandida 7nik daupjan. Gal. 3, 1 hicas izwis
afhugida sunjai ni ufhausjan. Gal. 5, 7 has izwis galatida sunjai
ni ufhausjan. Mc. 1.*^, 29 gasaihip pata wairpan TaÖTa ^\v6\x^va.
Phil. 3, 8 all dömja sleipa tvisan, riYo^iiiai Trdvxa Zrijuiav etvai. Gal.
2, 14 haiwa piudös baideis judaiwiskön muc; Tct g9vr| dvaTKd^eic;
ioubaiZieiv, oder passivisch, wo dann natürlich für den Akk. der
Nom. eintritt Gal. 2, 3 baidips was bimaitan r\va-^K6.oQr\ 7repiT|uri0f|vai.
2. Aber dies Doppel Verhältnis findet nicht überall statt;
wir finden Akkusative, die nicht als Objekt des regierenden
Verbums angesehen werden können, taujan und waurJcjan
z. B. sind transitive Verba, aber in Sätzen wie Mc. 7, 37
baudans gataujip hausjan und Jh. 6, 10 waurheip pans mans
anaJcumbjan bezeichnen nicht die Akkusative das eigentliche
Objekt (nicht Taube und Menschen werden gemacht), sondern
die Infinitive hausjan und anakumbjan\ die Akkusative be-
§ 65.] Akk. c. Infinitiv. 119
zeichnen das Subjekt der Infinitive. Ebenso ist das Doppel-
verhältnis gelöst Phil. 2, 26 Tiausidedup ina siuJcan, auTÖv
^a0r|Kevai; Mt. 8, 18 haihait galeipan sipönjans seinans hin-
dar mar ein] denn in dem Sinne, in dem hier hausjan und
haitan gebraucht sind, könnten sie einen persönlichen Akku-
sativ nicht regieren; ähnlich bei letan und fraletan. Hier
haben wir also die Konstruktion, die man als Akk. c. Inf. zu
bezeichnen pflegt. So ist auch 2 Kor. 6, 1 zu beurteilen: bidjan-
dans ni sware anst gudis niman izwis\ denn wenn man hier auch
izwis als Objekt zu hidjandans nehmen könnte, so zeigt doch die
Wortstellung, dass es nicht so aufgefasst wurde.
3. Solche Akk. c. Inf. finden sich ferner bei qipan,
wiljan, sökjan, munan, loenjan, rahnjaiiy hugjmi, galauhjan
(nur Lc. 20,6), witan (nur Lc. 4,41); einmal auch neben
anahiudanj das sonst den Dat. regiert: 1 Tim. 6,13 ana-
hiuda . . fastan puk pö ancdmsn^ TrapaYfeWuu . . xripficrai (Je
i\\v evTo\r|v. — Dass diese Konstruktion dem Goten nicht
ungeläufig w^ar, zeigt sich namentlich darin, dass er zuweilen
sogar, wenn das regierende Verbum und der Infinitiv dasselbe
Subjekt haben, ohne Not und abweichend vom Griechischen
dem Infinitiv das Fron. refl. als Subjekt hinzufügt; z. B.
1 Kor. 16, 7 wenja mik saljan, eXniloj eTrijueivai (vgl. 1. spero
me manere)\ ebenso bei munan. sökjan, rahnjan.
4. Fast immer aber hängt der gotische Akk. c. Inf. von
einem persönlichen aktiven Verbum ab; neben unpersönlichen
Ausdrücken begegnet er ganz selten (Beruh. § 189), und war
der gotischen Sprache offenbar nicht gemäss. Dies zeigt sich
darin, dass, wenn der Infinitiv von dem unpersönlichen warp
es begab sich und von adjektivischen Prädikaten abhängt,
der griechische Akkusativ durch einen der Satzkonstruktion
sich einfügenden Dativ ersetzt wird (Beispiele in § 64, 1).
Vereinzelte Ausnahmen sind z. B. Lc. 4, 36 ivarp afslaupnan allans,
eTevexo edjußoc; eiri irdvTac;, wo vielleicht ana vor allans ausgefallen
ist, und Lc. 16, 17 azetizö ist himin jah airpa hindarleipari pau wi-
tödis ainana ivrit gadriusan, wo die unpersönlichen Subjekte dem
Dativ widerstanden.
Anm. Als Nachahmung griechischer Weise sieht man den
Akk. c. Inf. an, der wie nach gr. oiaxe nicht selten nach siüaswS
120 Die Nominalformen des Verbums. [§ 66.
swaei, sive, gebrauciit wird (Bernh. § 191 und zu Mc. 4, 1; vgl. jedoch
Mourek § 159).
6Q. 1. In ähnlicher Freiheit wie die gotische Über-
setzung lässt die an. Poesie und Prosa den Akk. c. Inf. zu;
sehr beschränkt dagegen ist sein Gebrauch im As. und Ags.
(Gr. 4, 120). Wie weit er im Hochdeutschen heimisch war,
ist schwer zu erkennen, weil die einzelnen Denkmäler stark
von einander abweichen. Otfried zeigt ihn nur bei wenigen
Verben und nur bei solchen, die auch ohne Beifügung des
Inf. einen Akk. gestatten (OS. 1 § 338) ; bei einigen Verben
der Willensäusserung: lä^an, hei^an und hitten^ denen sich
senten anschliesst, bei den Verben sehan und hören und je
einmal bei irkennen und dem unpersönlichen mih güustit:
3, 14, 36 ih irJcanta . . thia kraft Mar faran fona mir\ 1, 1, 10
then lesan ij gilusti. Sehr zahlreich dagegen sind die Akk.
c. Inf. bei Notker. Er braucht die Konstruktion nicht nur
neben gituon und vielen Verben der Willensäusserung, der
Wahrnehmung, des Denkens und des Affektes, sondern auch
nach Verben der Meinungsäusserung, die bei 0. ganz fehlen,
nach cheden, sagen, sprechen, scriben, lougnen, antumrten,
zihen, hezeichenen, ougen (beweisen), und selbst über das
Gotische hinausgreifend auch oft bei unpersönlichen Aus-
drücken: i^ dunchit, wola skhiet, ij giskihit, offen ist, ist
wola chunt, ist not, sito was etc. (die Belege OS. 1 § 344).
'Notker tut unserer Sprache nicht leicht Gewalt an' (Gr. 4, 116)^
auch braucht er die Konstruktion nicht nur im Anschluss an
das lateinische Original, 'sondern auch frei und selbständig,
wo dieses keinen Anlass dazu bot, am kühnsten in den Über-
setzungen der logischen Schriften des Aristoteles' (OS. a. O.),
aber doch wird man wohl annehmen müssen, dass seine Sprache
und vermutlich auch die Sprache der gelehrten Kreise, denen
er angehörte, unter dem Einfluss des Lateinischen den Ge-
brauch der Konstruktion über seine ursprünglichen Grenzen
hinausgetrieben hatte.
2. Auch bei den mhd. Dichtern, die im ganzen nur
wenige Beispiele bieten (vgl. § 67, 3), ist lateinischer Einfluss
§ 67.] Akk. c. Infinitiv. 121
nicht überall ausgeschlosseiij z. B. nicht bei Herbort von Fritslar
und dem Verfasser des Passionais. Noch weniger im Zeit-
alter des Humanismus, wo er sich bei manchen Autoren stark
und bis in die klassische Literaturperiode fortwirkend geltend
macht ^). Aber wie stark auch die Einwirkung der lateinischen
Schulsprache gewesen sein mag, so hat man doch anderseits
zu bedenken, dass auch dem Germanischen von Anfang an
der Akk. c. Inf. nicht fremd war, und dass man keinen Grund
hat, für den ahd. Gebrauch so enge Grenzen vorauszusetzen,
wie wir im Heliand und im Ags. finden.
Anm. Selbst wo dasselbe Subjekt bleibt, steht zuweilen, wie
im Gotischen (§65,3) der Akk. c. Inf. Tat. c. 230,3 wäntun sih
geist gisehan existimabant se spiritum videre. Notker Ps. 2, 28, 30
er sih saget kot sin, se deum esse dixit. 2, 355, 1 er chad sih fluiden
sin herza dixit se invenire ; und im Mhd. Mone 6. 408, 642 si enpfant
sich in ir Übe ein kint tragen.
67. 1. In der jetzigen Sprache gilt der Akkusativ nur
da, wo er von dem regierenden Verbum abhängig ist, und
nur wenige Verba gestatten neben dem abhängigen Kasus den
blossen Infinitiv, andere verlangen den Infinitiv mit zu, oder
statt des Infinitivs einen abhängigen Satz (§ 72j. Der blosse
Infinitiv behauptet sich bei lassen, heissen, lehren und im
Sinne eines Part. Präs. (§61) bei sehen und hören, finden,
fühlen, haben, machen. Neben den sechs ersten ist der
Inf. seit alters üblich, neben fühlen, das sich den Verben der
Wahrnehmung anschloss, erst im Mhd. spärlich belegt; über
inachen und haben s. §61,4. In einzelnen Wendungen begeg-
nen auch sonst noch Akk. c. Inf.: sich schlafen legen, die Kinder
schlafen legen (vgl. mhd. tragen Gr. 4, 101), die Kinder schlafen
schicken. Bei heissen findet sich auch der Inf. mit zu, öfter bei
lehren, das schon im Ahd. mit zi vorkommt. Bei diesem Verbum
brauchen wir beide Konstruktionen mit ähnlicher Unterscheidung
wie bei helfeji (§64,3): Er lehrte ihn lesen und schreiben (Objekt).
Kr lehrte ihn bescheiden aufzutreten (Ziel).
2. Der blosse Infinitiv bezeichnet die engste Beziehung
zwischen dem regierenden Verbum und dem Infinitiv; der In-
1) Beleg-e Gr. 4, 119. Heyse 2, 697 f. Kehrein, Gram, des
15—17. Jh. II, § 38; vgl. auch § 67, 3.
122 Die Nominalformen des Verbums. [§ 68..
finitiv mit zu ist da eingetreten, wo die Beziehung- zum
Akkusativ enger als zum Infinitiv empfunden wurde, der In-
finitiv also nur nähere Bestimmung zu einem transitiven Verbum
war. So brauchen wir ihn neben hüten, mahnen, nötigen,
zwingen, schicken und neben den unpersönlichen mich gelüstet,
mich verdriesst, wo nach älterem Sprachgebrauch der blosse
Infinitiv möglich war; z. B. 0. 2, 14, 109 ih santa iwih arnön. Wig.
84, 9 diu küniginne bat den riter mit ir varn. Walther 109, 4 mich
mant singen ir vil werder gruo^. Kanzler MSH. 2, 390^ swer iuch
hetwunge hin scheiden ü^ der edelen rät, da^ wurde im Ithte guot.
Hadloub MSH. 2, 308 1> ticinge si min noch genäde hdn. Gen. 4804
söne lustet micJi mere leben. Anno 694 dö bidrö^ ine lebi^i längere.
Bei manchen kommt auch schon in der älteren Sprache der Inf.
mit zu vor, bei ahd. manön, senten, mich lustet, mhd. ')nich bedriuzet
(Gr. 4, 108 f.).
3. Versagt ist uns der Infinitiv bei glauben, meinen,
denken, wähnen, wissen, wenn er ein anderes Subjekt hat.
Ferner bei sagen, mitteilen, auch bei hören, wenn es nicht
die sinnliche Wahrnehmung bezeichnet-, also in Sätzen wie
0.3,14,36 ih irkanta thia kraft faran fona mir. Ecke 211,4 er
wcßnet bi dem gewcefen dtn dich minen bruoder Ecken sin. Gudr.
634, 4 ich hoere uns geste binngen (hospites nobis afferri). Bit. 5164
ich hortin ivol den ersten sin. 7290 ja gehörte ich noch nie m^r
s6 manegen edeln wigant durch hoves iver komen in ein lant. 8345
lobt ich Verliesen iuch diu marc, gelobte ich, dass ihr die Pferde
verlieren sollt. Andere ahd. mhd. Beispiele Gr. 4, 116 ff. Im altern
Nhd. konnte in solchen Sätzen der Inf. mit zu stehen, also Akk.
c. Inf. (Germ. 32, 359 f., Blatz 2, 582 f.), wir brauchen Nebensätze
mit dass.
68. Endlich ist noch des Falles zu gedenken, dass der
Infinitiv zwar ein anderes Subjekt voraussetzt als das regierende
Verbum, dieses Subjekt aber nicht ausgedrückt ist. Der Ge-
brauch des blossen Infinitivs unterliegt dann denselben Be-
schränkungen, wie wenn es durch einen Dativ oder Akkusativ
bezeichnet ist. Der blosse Infinitiv gilt also z. B. nach hören und
lassen: Er hörte [jemand] klopfen, er Hess [den Kutscher] an-
spannen etc. Dagegen könnten wir ihn nicht brauchen in Sätzen
wie Lc. 16,32 faginön skuld tvas, xctpfjvai ^6ei; Tat. c. 69,4 oba i^
irloubit si in samba^tag icola tuon odo ubilo, si licet sabbato bene
facere an male; 0. 3, 23, 15 si santun zi Kriste, künden iro ser. Hier
§ 69.] Substantivierter Infinitiv. 123
müssten wir den Inf. mit zu brauchen; ebenso: er bat einzutreten,
gebot aufzubrechen, ich bitte zu bedenken, rate zu ivarten, es ist
leicht zu sagen etc.
Über die passive Ikdeutiing subjektloser Infinitive s. § 88.
69. (Substantivierter Infinitiv.) 1. Eine neue Grundlage
gewann der blosse Infinitiv in der allmählich durchdringenden
Neigung, den Infinitiv als Substantiv zu gebrauchen. Von
Anfang an lässt sich der Infinitiv neben nominalen Prädikaten
als Subjekt, öfter neben verbalen als Objekt auffassen, aber
da er auch in solchen Verbindungen seine verbale Bedeutung
behält, bleibt im ganzen der Unterschied zwischen diesen In-
finitiven und substantivischen Subjekten und Objekten doch
sehr fühlbar. Nur selten verleugnet in der älteren Sprache
der Infinitiv seine verbale Natur und erscheint als ein gewöhn-
liches Substantivum, zum Teil, besonders im Gotischen, unter
offenbarer Einwirkung fremder Originale (II § 303). Uns ist
dagegen der substantivische Gebrauch und die substantivische
Auffassung eines Infinitivs ganz geläufig, mag er durch eine
nähere Bestimmung (Präposition, Artikel, attributives Adjektiv,
abhängigen Genitiv) als Substantivum gekennzeichnet sein oder
nicht. Wie man mit deutlich substantiviertem Inf. sagt: Er
unterrichtet im Rechnen und Schreiben, so auch: Er lehrt
Rechnen und Schreiben.
2. Aber so deutlich wir im ganzen den Unterschied
zwischen verbalem und substantivischem Infinitiv empfinden,
so findet eine scharfe Abgrenzung doch nicht statt, und daher
ist auch schwer zu bestimmen, wann der Einfluss der Sub-
stantivierung auf den Gebrauch des Infinitivs beginnt. Aber
das ist klar, dass der substantivische Infinitiv in demselben
Masse zunimmt, als der verbale durch den Infinitiv mit zu
verdrängt und auf wenige Verbindungen eingeschränkt wird.
Man darf wohl annehmen, dass schon im Mhd. tiberall wo der
Inf. mit zu dem blossen Infinitiv den Rang streitig macht,
in diesem substantivische Auffassung wirksam ist; z. B.
Nib. 1145,4 so ist iu alreste von schulden sorgen (ze sorgen A) ge-
schehen. Walther 124, 27 uns ist eidoubet trüren und fröude gar
benomen. Nib. 1185, 2 clagen unde weinen rnir iemer zceme ba^
124 Die Nominalformen des Verbiims, [§ 69.
123,1 ivie zceme uns mit iu strUen\ (dagegen A^erbal mit ze: 1776,2
uns zimet disiu sorge (Subjekt!) ensamt ze tragene\ 2044, 1 im zceme
niht ze dagene). Freid. 155, 19 sU Äkers niht ivil erwinden, so ist
öejjer schern dan schinden (passivisch: geschoren zu werden),
3. Wir unterscheiden: Es ist hesser zu heiraten als zu
bremien, und : Heiraten ist besser als Brennen. In dem ersten
Satz sind die Infinitive Verbalformen, in dem andern neigen
wir zu substantivischer Auffassung. Aber schwerlich wäre
diese für das gotische hatizö ist liugan pau intundnan (1 Kor.
1, 9) gerechtfertigt. Eher für das Mhd. bei H. von Melk Prl.
175 he^^er st gehien danne brinnen, be^^er st toben danne
loinnen. Denn im Mhd. ist substantivierter Infinitiv als Sub-
jekt auch neben solchen Prädikaten ganz gewöhnlich, die auf
einen verbalen Infinitiv überhaupt nicht bezogen werden können;
z. B. Walther 124, 22 tanzen unde singen zergät mit sorgen gar.
28, 27 sol liegen witze sin, so pfiegent si tugendelöser witze. Freid.
138, 15 Bi hunden und hi katzefi was ie btzen unde kratzen. 86, 12
Geben tuot dem milten ba^ dan enphähen, wi^^et da^. Als Objekt
z. B. Berthold 146, 20 da^ ir getriuweliche machet, niht halbem ver-
stelt, noch ander untriuwe darzuo tuot, här unde wollen mischen
noch zerdenen ü^er einarider. 529, 33 so gtt man dir dekeine gndde,
niwan gelten unde wider geben nach rehte. Andere ältere und
jüngere Belege bei Blatz 2, 551 f. 554 f.
Anm. Auch dem Inf. neben dem auxiliaren tuon (§ 61 A. 2)
lag ursprünglich wohl oft substantivische Auffassung zu Grunde;
z. B. Kudr. 1065, 4 klagen si dö beide von ir dienste herzelichen
täten. 1484, 2 wer stt ir juncvrouwe, diu uns vrägen tuot. Nib.
716,4 der ir vil grölen milte wart in da danken getan \ (vgl, 1107,2
dö wart ein scho^ne danken mit vli^e da getä7i, wo der Artikel und
das Adj. schcene den Inf. als Subst. charakterisieren).
4. Die zwischen Verbum und Substantivum schwankende
Doppelnatur des Infinitivs gestattet auch bei substantivischer
Auffassung die Verbindung mit näheren Bestimmungen, die
eigentlich nur dem Verbum zukommen (Adverb und Objekt)^);
z. B. Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun. Das heisst
nicht Gott vertrauen, das heisst Gott versuchen. Und so auch
früher, z. B. Freid. 1, 5 Gote dienen äne wanc deist aller
wtsheit anevanc. Ja es finden sich in der älteren Literatur zu-
weilen Verbindungen, die uns befremden: Nib. 296,3 ir wart er-
1) Gr. 4, 716.
§ 70.] Der präpositionale Infinitiv. 125
loubet küssen den wcetlichen man. 729, 4 dö ivart vil michel grüe^en
die lieben geste {den liehen gesten D) getan. 570, 2 güetlichen um-
bevähen tvas da vil bereit von Sifrides armen da^ minnecliche kint ;
(vgl. § 71). — Über das Pron. refl. neben substantivierten Infinitiven
s. II § 303 Anm. 2.
5. Halb substantivischen Charakter trägt auch der Genitiv
des Infinitivs, der neben dem blossen Infinitiv zuweilen von
Wörtern abhängt, die den Genitiv regieren; z.B. 0.5,7,21
mag mich gilusten weinönnes. 5, 13, 25 Petrus sär tJies sindes
higonda swimmannes. Ebenso im Mhd. Der tiuvel irret dich
betendes (= betennes), er irret dich bihtendes. Der Jcünec
sich vrägens sümte niht. Du wirst niemer vehtens sat (Blatz
2, 582. 590). Auch in diesen Genitiven lebt die Rektionskraft
des Verbums fort: Ir nigens si begunden, lehne hän si
ha^^ens keinen rät, kann nicht umhin sie zu hassen.
Der präpositionale Infinitiv.
70. 1. Der Infinitiv mit zu bezeichnet eine losere Ver-
bindung als der blosse Infinitiv; er dient wie präpositionale
Verbindungen überhaupt ursprünglich nicht zur Ergänzung,
sondern nur zur näheren Bestimmung, ist also auch von der
Bedeutung des regierenden Wortes weniger abhängig. Im
Gotischen ist das noch deutlich wahrnehmbar. Hier bezeichnet
der Infinitiv mit du gewöhnlich Absicht und Zweck ; z. B. Mt.
27, 7 usbauhtedun äkr Jcasjins du usfilhan, i^TÖpacrav tov axpöv
ToO KepajueoK; eicg xacpriv. Mt. 6, 1 atsaihip armaiön izwara ni
taujan in andwairpja manne du saihan im, TTp6(; tö 9ea0f)vai
auToTc;; zuweilen auch Ergebnis und Wirkung. Aber eine
scharfe Scheidung von dem blossen Infinitiv findet nicht statt,
da einerseits auch dieser sich nicht selten als eine losere Be-
stimmung auffassen lässt (§ 63, 3), und anderseits auch der
Inf. mit du zuweilen als Ergänzung des regierenden Wortes
erscheint; z. B. Mc. 3, 14 jah gawaurhta twalif du wisan
mip sis, eTToirjcrev öuubeKa iva oicriv juex' auiuj; hier ist nicht
twalif das eigentliche Objekt von waurhta, sondern wisan
(§ 65, 2). Insbesondere pflegt schon im Gotischen du zu
stehen, wenn sich der Infinitiv ergänzend an Substantiva an-
schliesst (vgl. § 63, 8) ; z. B. Lc. l, 9 hlauts imma urrann du saljan,
126 Die Nominalformen des Verbums. [§ 70.
^^XaxGv Tou Gufiiaaai. Lc. 1,57 usfullnöda mel du bairan, k-n\r\aQY\ 6
Xpövoc; TOU T€Keiv auTrjv. Lc, 2, 21 usfullnodedun dagös du himaitan
ina, €^z\y\GQr\(3ü.v ai r)|uepai xoO TrepiT€|ui€iv auTÖv.
2. Am deutlichsten zeigt sich sowohl der Unterschied als
auch die Ähnlichkeit der beiden Konstruktionen^ wenn sie
von demselben Wort abhängen (Beruh. §190); z.B. Jh. 12, 13
urrunnun wipragamötjan imma, e\c, dTrdvTriöiv; Mc. 4, 3 urrmin sa
saiands du saian, toö o-rretpai. Mc. 3, 15 insandida ins merjan, Kripvjo-
aeiv: Lc. 4, 18 insandida mik du ganasjan, idaaöGai. Mc. 15, 23
gebun imma drigkan icein, irieTv: Jh. 6,31 hlaif us himina gaf im
du matjan, qpaYeiv. Mc, 2, 10 waldufni habaip sunus maus aflötan
fraivaurhtins: 3, 15 haban waldufni du hailjan, toO GepairGÖeiv. Der
blosse Infinitiv und der Inf. mit du verhalten sich hier ähn-
lich wie jetzt der Inf. mit zu und der mit um zu. An an-
deren Stellen jedoch tritt ein solcher Unterschied nicht hervor;
z. B. Lc. 8, 31 ei ni anabudi im. galeipan, \xf\ eiriTaSr) auxoic; dTueXGeiv:
Lc. 4, 10 aggilum anabiudip du gafastan puk, ö.'^jkXoic, evTeXeixai tou
biacpuXdSai oe (Gr. 4, 106).
3. Weniger als im Gotischen hat der Infinitiv mit zu
im Hochdeutschen die Bedeutung einer adverbialen Bestimmung.
Von Anfang an erscheint er hier öfter als eine notwendige
Ergänzung des regierenden Wortes und beschränkt in dieser
abstrakteren Bedeutung den blossen Infinitiv allmählich auf
ein sehr kleines Gebiet (§ 63, 6. § 64, 3. § 67, 2). Es vollzieht
sich beim Infinitiv also derselbe Prozess wie beim Substan-
tivum: präpositionale Verbindungen nehmen den Charakter er-
gänzender Objekte an und verdrängen die einfachen Kasus.
Selbst mit Verben, deren Bedeutung der Präposition zu eigent-
lich widerstrebt: von etwas abstehen, ablassen^ einen abhalten^
verschmähen^ sich weigern, sich entwöhnen kann er ver-
bunden werden.
Besonders pflegt von Anfang an auch im Hochdeutschen
die Präposition zur Verbindung des Infinitivs mit einem Sub-
stantivum oder Adjektivum gebraucht zu werden (§ 63, 8);
z. B. 0. 1, 4, 51 uns sint kint zi beranne daga furifarane. N. Bth.
1, 168, 22 habo ih zU je ougenne. N. Bth. 1, 64, 20 ili tuon dir stata
ze sprechenne. Tat. c. 199, 1 was giwon zi forlä^anne. Tat. c. 161, 3
garo bin zi faranne etc. Nach unpersönlichen Sätzen: 0, 2,9,73
lang ist i^ zi saganne. Tat. c, 54, 6 w'edar ist ödira zi quedanne . .
§ 70.] Der präpositionale Infinitiv. 127
odo zi quedanne, quid est facilius dicere au dicere (vgl. g. Mt. 9, 5
az§tiz6 ist qipan). Tat. c. 106, 4 ödira ist olbentün thuruh loh näl-
dün zi faranne (Akk. c. Inf. wie im Lateinischen facilius est ca-
melum per foramen acus transire; dagegen g. Lc. 8, 25 rapizö ist
ulhandau . . galeipan). Auch bei unpersönlichen Verben steht
fast ausschliesslich der Inf. mit zi (§ 64,3); bei gilimphit licet,
oportet kommt beides vor, aber der Inf. mit zi ist das gewöhnliche.
Ebenso steht er bei touc: N. Ps. 85, 5 (2, 355; 10) ica^ übe imo ne
tohta ze lebenne\ scal (= nützt) 0. 3,20,124 wag scal es so zi frä-
genne\ lüirdit 0. ad Lud. 21 oba ig ward gi fehtanne wenn es zum
Kampfe kam ; oft bei mnir gescUiht ^ z. B. Iw. 6653 stt mir ze strttenne
geschiht.
4. Als ergänzendes Satzglied hat sich der Infinitiv mit
zu auf Kosten des blossen Infinitivs allmählich weit verbreitet ^) ;
dagegen ist er als adverbiale Bestimmung zurückgewichen.
Um Absicht und Zweck zu bezeichnen, wird er zwar auch
jetzt noch oft genug gebraucht, namentlich nach Verben der
Bewegung. Sätze wie 0. 1,4, 63 santa er mih von himile thiz selba
thir zi saganne. 1, 9, 7 si quämun al zisamane thag kindilln zi se-
hanne. Tat, c. 185, 7 giengut ir mit suey^ton inti mit stangon mih
zi fähanne u. a. entsprechen auch unserm Gebrauch. Aber je
weniger das regierende Wort einer Ergänzung bedarf, um so
weniger genügt uns die alte Weise; wir fügen eine neue Prä-
position hinzu, brauchen umzu (§ 71), oder einen Satz; z. B.
0. 3, 7, 64 sie blyent sär zerthorrenne sie blühen, um gleich zu ver-
dorren. N. Cap. 1, 784, 10 ziu si iro froivun etetcag neliege släfen,
iro scöni ze behalteime, damit sie ihre Schönheit behielte, gratia
servandi decoris. Nur durch umzu wird noch deutlich Absicht
und Zweck bezeichnet. Wo beide Konstruktionen möglich
sind, ist der Unterschied deutlich zu empfinden: Er eilte uns
■ZU befreien] — um uns zu befreien. Er plagte sich, das
Unternehmen ivieder in Gang zu setzen ; — um zu setzen.
5. Fremder ist uns der Inf. mit zu geworden, wo er die
Wirkung bezeichnet; z. B. Er. 5586 im ze sehenne er in sluoc,
so dass er es sah. Gudr. 499, 3 dag ma^i des fluivers ivint sluoe üg
herten helmen ze sehenne schoenen frouwen^ so dass sie es sehen
konnten. Nib. 382, 3 sin Salden da niht stin den fremden an ze
sehenne.
1) Die wichtigsten Bedeutungsgruppen der regierenden Verba
bezeichnet Blatz 2, 577; ebenso gibt er reichlich Beispiele.
128 Die Nomin alforrnen des Verbums. [§ 70.
6. Eine eigentümliche Bedeutong" gewinnt der Inf. mit
zu in Verbindung mit sein\ mit der Vorstellung des Zieles,
auf das die Präposition hinweist, verbindet sich die Vor-
stellung der Notwendigkeit. Dem Gotischen ist dieser Ge-
brauch unbekannt, im Hochdeutschen finden wir ihn von An-
fang an, sowohl unpersönlich z. B. Hym. 17, 1 za petönne ist,
orandum est, Js. 35, 19 nist zi chilauhanne non creditur; als
auch neben bestimmtem Subjekt, z. B. Js. 19, 12 ni sindun zi
chilaubanne, non credendi sunt. Tat. c. 93, 1 mannes sun ist
zi sellenne in hant manno (tradendus est). Ebenso später bei
stehn und bleiben, auch bei scheinen : es steht zu erwarten,
bleibt noch zu erledigen, scheint lüohl zu bedenken. Ähn-
liche Bedeutung nimmt haben mit dem Inf. mit zu an: Tat.
c. 138, 8 ih haben thi?^ sihioa^ zi quedanne, habeo tibi aliquid
dicere. — Aus dem prädikativen Gebrauch dieses Infinitivs
erwächst später das Part, necessitatis; vgl. § 31.
7. Seine verbale Natur behauptet der Infinitiv mit zu
besser als der blosse Infinitiv; doch nimmt auch er, besonders
wenn er auf eine bestimmte handelnde Person nicht bezogen
wird, leicht substantivischen Charakter an und geht Verbin-
dungen ein, in denen er nicht als verbale Ergänzung des
Prädikats, sondern als Subjekt oder Objekt erscheint. Verbal
und abhängig z. B. in dem Satze: Es war deine Pflicht, dem
Verlassenen beizustehen-^ als Subjekt und mehr substantivisch:
Dem Verlassenen beizustehen ist Pflicht. Ebenso : Zu dienen
ist des Weibes Los. Den Reichtum zu verschmähen^ ist auch Reich-
tum. Niedrig nenne dem, Glück zu schmeicheln, schändlich, seine
Gunst zu erbetteln. Und SO oft in der jetzigen Sprache, aber
auch schon im Mhd. bei Bruder Berthold: ej ist so gar ein
verworren^ dinc von der e ze reden. Also auch hier kon-
kurriert der Inf. mit zu mit dem blossen Infinitiv. — Zuweilen
stehen beide Formen nebeneinander; z.B. 0.2,4,5 thö sleih ther
färäri irfindan, wer er wäri, tha^ zi irsuachenne ubar al. Tat. c.
21,6 in gilimphit wahsan, mih zi Tninniröne. Berth. 72,30 Eg ist
vil be^^er ein jär ze brennen in dem vegeviur, dan iemer und iemer
brinnen in der helle. Gehorchen ist mein Loos und nicht zu denken
(Goethe). Kraus, Deutsche Gedichte XI, 176 Anm. Blatz 2, 575.
587. 589. 552 Anm. 4.
§ 71.] Präpositionale Infinitive {um zu). 129
Anm. Im Gotischen tritt unter dem Einfluss des Originals
zuweilen sogar der Artikel vor den Infinitiv mit du-^ Mc. 9, 10. 12, 33.
71. (Andere Präpositionen.) 1. Die Präposition zu ist
die einzige, mit der der Infinitiv sich seit alter Zeit verbindet,
die einzige, neben der er seine verbale Natur frei entfaltet.
Andere Verbindungen tauchen erst im Mhd. auf. So begegnet
er neben äne: Wolfr. Lied. 4,29 er muo^ et hinnen halde
und äne sümen sich:, neben üf: Kelin MSH. 3, 408^ Algast
der wolte riten üf stelen\ öfters neben durch-. Iw. 4293 dö
ich dar Jcom durch Magen, um zu klagen. Iw. 6265 da^ ist
durch vrägen getan. Offenbar hängt dieser Gebrauch wieder
mit der Sitte zusammen, den Infinitiv zu substantivieren (§ 69);
aber die verbale Natur ist doch noch lebendig genug, um ein
Objekt zuzulassen. In dem aus Wolfram angeführten Beispiel
hängt das Pron. refl. vom Infinitiv ab, ein Substantivum Iw. 7736
dö vlöh man unde wip durch behalten den lip. Parz. 790, 4 lac ge-
brochen undr ir füe^en durch den luft süe^en, um die Luft zu
versüssen; und noch auffallender in einer Chronik des 15 Jh. (Gr.
4,756) La7idgraf Ludwig von Hessen hiess der abenteuerliche Land-
graf, um sein leicht uf setzen Land und Leut, dh. weil er Land und
Leute so leichtsinnig aufs Spiel setzte.
2. Häufig sind solche Verbindungen des blossen Infini-
tivs mit Präpositionen nicht und keine ist zu dauernder An-
erkennung gekommen. Wo wir den Infinitiv mit einer andern
Präposition als zu verbinden, empfinden wir ihn ganz als
Substantivum: ohne Zaudern, mit Klagen und Weinen u. ä.
3. Dagegen haben einige Konstruktionen Geltung ge-
wonnen, in denen vor dem Inf. mit zu noch eine andere Prä-
position erscheint. Zuerst finden wir so einigemal durch
gebraucht: Klage 1168 durch ir heil ze m^ren. Tit. 154,4 durch
die Schrift ü^ ze l'esenne. Auch im Mnl. begegnet diese Verbindung
(Martin zu Tit. a. 0.); aber im Deutschen behauptet sie sich nicht.
Sehr viel später und ohne Zusammenhang mit der älteren
Konstruktion tritt in derselben Bedeutung umzu auf. Im
Mhd. noch kein Beispiel, auch nicht bei Luther, wohl aber
im Mnl. Beobachtungen über die Verbreitung der Konstruktion
im Hochdeutschen, die vielleicht mit dem Einfluss ndl. Literatur
im 17. Jh. zusammenhängt, fehlen. Jetzt wird der Inf. mit
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 9
130 Die Nominalformen des Verbums. Infinitiv. [§ 71.
umzu sehr oft gebraucht, um eine Absicht zu bezeichnen,
jedoch nur, wenn nicht schon der regierende Satz den Infinitiv
als Ergänzung verlangt. Es heisst: Ich beabsichtigte ihn zu
besuchen'^ er gebot zu schweigen; aber: Hier bin ich, {um)
dir ein Wort zu sagen. Alle flohen, um ihr Leben zu retten.
Ferner brauchen wir die Konstruktion nach Adjektiven, welche
durch gradbestimmende Adverbia wie genug, zu u. ä. näher
bestimmt sind: Er ist alt genug, {um) sich selbst zu raten\
zu edel, {um) sich zu rächen. Und selbst die Bedeutung einer
Zielbestimmung, die in diesen Verbindungen noch gilt, hat
die Sprache schliesslich fallen lassen. Oft bezeichnet der In-
finitiv mit iimzu nur noch eine zeitliche Folge; z. B. Der
Rhein war bis zur Mitte des Monats gestiegen, um dann rasch
loieder zu fallen. Blatz 2, 1143.
4. Wie om te wird im Ndl. zonder te und im Anschluss
daran auch im Hd. vorübergehend sonder zu, dann ohne zu
gebraucht. Dieses ist sehr üblich geworden und dient dazu
negative Bestimmungen der Art und Weise zu bezeichnen: Er
ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Er hehrte heim, ohne
ih7i gefunden zu haben. Der Blitz schlug ein, ohne zu
zünden. — Endlich lässt sich auch noch die unechte Präp.
anstatt mit dem Inf. verbinden. — In den verwandten
Sprachen sind noch andere ähnliche Verbindungen allmählich
aufgekommen, von denen das neunordische for at, das eng-
lische for to hervorgehoben werden mögen, das auch in rhei-
nischen Mundarten vorkommt.
5. Was den Ursprung dieser Verbindungen betrifft, so
erklärt Paul (Wb. 481^^) umzu durch eine "Verschiebung der
Gliederung'. In einem Satze wie: "Er arbeitet, um sein Brot
zu verdienen^ sei um sein Bi'ot ursprünglich von er arbeitet
abhängig gewesen, und dazu sei dann zu verdienen als weitere
Bestimmung getreten. Allmählich habe man den Akk. nicht
von um, sondern vorn Infinitiv abhängig gedacht, und infolge-
dessen seien dann um und zu in nähere Beziehung zu einander
getreten, so dass dann weiter auch Sätze ohne Akkusativ ge-
bildet werden konnten : Er arbeitet, um zu lehen. Das mag
richtig sein; vielleicht aber hatte die Konstruktion doch noch
§ 72.] Konkurrenz von Nebensätzen. 131
einen andern Ausgangspunkt, nämlicli den, dass man ebenso
wie den blossen Infinitiv auch den Inf. mit zti nebst seinen
näheren Bestimmungen als Einheit auffasste^) und durch die
Präposition dem regierenden Satze anschloss. Zunächst wurden
jedenfalls die Präpositionen so gebraucht, welche die auf
Zweck und Absicht hinweisende Bedeutung- des Inf. mit zu
nur stärker hervorhoben und gewissermassen neu belebten (so
fasst Grimm die Sache auf), also durch, um, für\ später
folgten dann andere.
72. (Konkurrenz von Nebensätzen.) 1. Mit den Infini-
tiven konkurrieren von Anfang an abhängige Sätze, nament-
lich Sätze mit g. ei, patei, hd. da^-^ z. B. Mc. 10, 14 letip
p6 barna gaggan du mis: Mc. 11,16 ni lailöt, eihaspairh-
berei Jcas pairh pö alh. Lc. 4, 41 loissedun silban Xristu Ina
wisan : Mt. 9, 6 ei witeip, patei waldufni habaip sa siinus
maus. Das Verhältnis der beiden Konstruktionen ist noch
nicht genauer verfolgt-). Jetzt hängt der Gehrauch der einen
oder anderen Konstruktion in erster Linie davon ab, ob das
Subjekt des abhängigen Verbums im regierenden Satze vor-
kommt oder nicht.
2. Da die Sprache den absoluten Akk. c. Infinitiv nicht
anerkennt (§ 66), kann der Infinitiv im allgemeinen nur ge-
braucht werden, wenn sein Subjekt im Hauptsatz vorkommt,
sei es als Subjekt oder als Kasus obliquus; z. B. Ich ivünsche
ihn zu sprechen. Er befahl mir zu warten. Er hiess mich
^chweige7i. Kommt das Subjekt des abhängigen Verbums im
regierenden Satz nicht vor, so kann der Infinitiv nur dann
1) Wie eng im Hochdeutschen von jeher die Verbindung des
Infinitivs mit der Präposition zu aufgefasst wurde, zeigt die Ge-
wohnheit der alten Schreiber, beide Wörter auch in der Schrift zu
verbinden. Im Gotischen konnten sie noch durch andere Satz-
glieder getrennt werden; z.B. Phil. 4,10 gapaihup du faur mik
frapjan. Rom. 7, 5 winnöns waurhtedun . . du ala^an hairan daupau.
Im Hochdeutschen sind sie unlösbar (Gr. 4, 106 Nachtr.).
2) Vgl. Mourek §86. 171. 172. Blatz 2, 1141 f. 1145. Heysc
2, 680 ff.
132 Die Nominalformen des Verbums. Infinitiv. [§ 72.
gebraucht werden^ wenn sein Subjekt eine unbestimmte oder
aus dem Zusammenhang leicht erkennbare Person ist und die
Bedeutung des regierenden Satzes für den Infinitiv notwendig
ein anderes Subjekt voraussetzt (vgl. § 87, 3); z. B. Es ist Pflicht
dem Unter' drückten beizustehen = dass man beistehe. Es ist nicht
gut allein zu sein. Ich bitte {dich) zu bedenken. Gestatten Sie {rnir)
die Geschichte zu erzählen. Ebenso : Er befahl zu öffnen = dass
man öffne, oder dass geöffnet iverde. Die Polizei hat verordnet., die
Strassen zu sprengen. Aber nicht in demselben Sinne: Erwünschte
zu öffnen^ die Polizei verlangte die Strassen zu sprengen. Denn
befehlen und verordnen verlangen für das abhängige Verbum ein
anderes Subjekt, nicht aber ivünschen und verlängert. Diese lassen
sich ebenso gut auf eine Handlung- desselben Subjektes beziehen
und deshalb pflegen wir das Subjekt des regierenden Satzes auch
als Subjekt des Infinitivs vorauszusetzen. Der Satz: Ich wünsche
wohl gespeist zu haben = dass Sie wohl gespeist haben, ist fehlerhaft.
unpersönliche (subjektlose) Verba können nach Verben,
die ein persönliches Subjekt haben, oder die Beziehung auf
eine Person voraussetzen, die wir als Subjekt des abhängigen
Verbums anzusehen pflegen, nicht im Infinitiv stehen. Man
kann wohl sagen: Mich fängt an zu frieren. Es scheint zu regnen.
Aber nicht: Ich hoffe zu regnen. Es ist nützlich zu regnen, sondern:
dass es regnen wird, dass es regnet.
3. Ob für den Infinitiv ein Sat:-'. mit dass eintreten kann,,
hängt von der Bedeutung des regierenden Satzes oder Wortes
ab. Liegt es in dessen Natur, dass das abhängige Verbum
notwendig dasselbe Subjekt hat, so behauptet sich der Infini-
tiv unbestritten. Nach mögen^ können, .wlle7i, dürfen, müssen,.
nach anfangen, beginnen, aufhören; vermögen, pflegen, geruhen,,
wagen, suchen, versuchen, sich bemühen, unterlassen, sich weigern,
sich scheuen, sich getrauen, dem persönlichen scheinen u. a. brauchen
wir keinen dassS&iz. Ebenso nicht nach Verbindungen wie ich
habe Lust, den Trieb, die Neigung, die Fähigkeit, die Pflicht, Ge-
legenheit, Zeit, besitze die Kunst, die Geschicklichkeit-, bin fähig,
bereit, begierig, bin es müde u. ä.
Anm. 1. Auch in Sätzen wie: Die Nachricht war mir an-
genehm zu hören. Die Speise ist gut zu essen. Das Unglück ist
schwer zu ertragen u. ä., in denen das Subjekt zugleich Objekt des
abhängigen Verbums ist, steht der Infinitiv fest, obwohl er hier,
wenn man ihn aktivisch auffasst {vg\. §88,3), ein anderes Subjekt
als der regierende Satz hat.
§ 72.] Konkurrenz von Nebensätzen. 133
4. Gestattet dagegen die Bedeutung des regierenden
Satzes für das abhängige Verbum sowohl dasselbe wie ein
anderes Subjekt, so sind, wenn das abhängige Verbum das-
selbe Subjekt hat, beide Konstruktionen möglich. Also nach
glauben, wähnen, sich einbilden, hoffen, fürchten^ sich freuen'^ z. B,
Ich glaube mich nicht zu irren, glaube dass ich mich nicht irre.
Ebenso wenn das Subjekt des abhängigen Verbums durch
einen vom regierenden Wort abhängigen Dativ oder Akkusativ
ausgedrückt ist oder ausgedrückt werden kann, nach befehlen,
gebieten, verbieten, tvehren, erlauben, raten\ bitten, ermahnen, nötigen,
zwingen-, z.B. er bat uns zu bleiben, dass wir noch etwas blieben.
Jedoch ist heissen (= befehlen) auf den Infinitiv beschränkt.
5. Wie nach manchen Verben stets der Infinitiv gebraucht
wird, so verlangen andere, auch wenn das abhängige Verbum
dasselbe Subjekt hat, stets einen Satz mit dass. Im Latei-
nischen regieren die Verba declarandi den Akk. c. Inf.; im
Deutschen werden sie verschieden konstruiert. Den Infinitiv ge-
statten behaupten, versichern, beteuern, leugnen, bekennen, gestehen]
versprechen, verheissen, geloben, schwören; einen Objektsatz mit
dass verlangen sagen, mitteilen, melden, berichten, erzählen, ver-
künden, ankündigen u. a. Die Verschiedenheit ist in der Bedeutung
der Wörter begründet. Einen Satz mit dass müssen wir brauchen,
wo zwischen dem regierenden Subjekt und dem abhängigen
Verbum das kalte Verhältnis reiner Objektivität waltet, der
Infinitiv mit zu ist gestattet, wo sich ein persönliches, sub-
jektives Moment einmischt. — Ähnlich verhalten sich in Be-
deutung und Konstruktion: glauben, wähnen, meinen, sich einbilden,
sich schmeicheln, sich erinnern gegenüber wahrnehmen, bemerken,
sich etwas vorstellen, einsehen, erkennen, begreifen. — Einige
Verba werden hiernach je nach der Auffassung verschieden
konstruiert: Er weiss, dass er Jcrank ist. Er vergass, dass
er mir Dank schuldete. Ich dachte nicht daran, dass ich
es versprochen hatte. Dagegen mit dem Infinitiv (nach Ab-
satz 2): Er weiss sich zu benehmen^ vergass mir zu danken-.,
dachte daran (= gedachte, beabsichtigte), ihn zu verlassen.
Anm. 2. In anderer Weise scheiden sich die Konstruktionen
von sehen, hören, fühlen. Als Verba der sinnlichen Wahrnehmung
gestatten sie den Infinitiv (§ 67) ; in abg-eleiteter Bedeutung ver-
langen sie dass: Ich hörte, dass er verreist sei. Ich sah, dass es zu
spät war. Ich fühlte, dass ich ihn gekränkt hatte.
134 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 73.
Anoi. 3. Bei der Untersuchung, wie weit die Gesichtspunkte^
die jetzt gelten, die Sprache auch früher beherrscht und in ihrer
Entwickelung geleitet haben, wird darauf zu achten sein, ob die
Unfähigkeit, Genus und Tempus am Infinitiv zu unterscheiden
(§ 87. 89) den Gebrauch eines Nebensatzes veranlasst hat, also in
Sätzen wie Mt. 6, 7 pugkeip im ei andhausjaindau. Philem. 22
wSnja auk ei f7mgihaidau izivis. Vgl. § 89,5.
6. Für die Infinitive mit um zti, ohne zu, anstatt zu
lassen sich immer abhängige Sätze brauchen. Mit ohne zu,
anstatt zu konkurriert ohne dass, anstatt dass. Neben um
zu stand früher das im 17. Jh. untergegangene um dass
(Paul Wb. 90^); w^ir brauchen statt dessen damit od. auf dass,
nach Adjektiven mit zu : als dass. Nötig sind diese Sätze im
allgemeinen, wenn das abhängige Verbum ein anderes Subjekt
hat als der regierende Satz. Nur der Infinitiv mit um zu kann
auch in diesem Falle zuweilen unbedenklich gebraucht werden,
namentlich wenn er ein unbestimmtes persönliches Subjekt voraus-
setzt; z. B. Es ist zu kalt, um im Freien zu sitzen; oder wenn sein
Subjekt aus einem abhängigen Dativ oder Akkusativ des re-
gierenden Satzes ergänzt werden kann; z. B. Er rief mich an, um
ihm, zu helfen. Er gab ihm einen Brief, um ihn auf die Post zu
bringen. Aber nicht: Er fesselte ihn, U7n nicht zu enttceichen. Er
band den Baum an, utn grade zu wachsen; vgl. Heyse 1, 902. 2, 701 f.
Anm. Blatz 2,1142.
Partizipium und Infinitiv
in zusammengesetzten Yerbalformen.
Das Part. Prät. in zusammengesetzten Passivformen i).
73. 1. Schon im Gotischen werden prädikative Ver-
bindungen des Partizipiums Prät. mit wisan und wairpan zur
Ergänzung und Vertretung passiver Formen gebraucht, im
Hochdeutschen sind sie das einzige Mittel das Passiv aus-
zudrücken. Da die Partizipia ilirem Ursprung nach Adjektiva
sind, konnten sie auch in diesen Verbindungen ursprünglich
nur als Adjektiva empfunden werden. Aber früh verschmolzen
sie mit den Hülfsverben zur Einheit, so dass sie nicht mehr
1) Gr. 4, 9 f. Erdmann § 134. Gering ZfdPh. 5, 408 f. Wunder-
lich 1, 138. Paul § 288. — Cuny, Der temporale Wert der Passiv-
umschreibungen im Ahd. Bonn 1906 (Diss.).
§ 73.] Passivformen. 135
selbständig als prädikative Adjektiva, sondern zusammen mit
den Verben als verbale Prädikate empfunden wurden oder
empfunden werden konnten. In dem Satze : Die Bäume sind
gefällt, können wir gefällt ganz adjektivisch als Zustands-
bezeichnung auffassen; aber wenn man sagt: Gestern sind
wieder einige Bäume gefällt, bezeichnet uns das Prädikat
nicht einen Zustand^ sondern eine Handlung, der das Subjekt
unterworfen ist.
2. Für die Entwickelung verbaler Bedeutung waren die
Verbindungen mit werdanj das den Eintritt in den durch das
Part, bezeichneten Zustand ausdrückte, offenbar geeigneter
als die mit wesan, die das Beharren in diesem Zustande be-
zeichneten; und jetzt werden sämtliche Passivformen, wenn
die verbale Auffassung deutlich empfunden wird und zum
Ausdruck gebracht werden soll, mit werden gebildet, auch
das Perf. und Plusq. {ist, was — worden). Zweifellos aber
konnten, wie noch jetzt, so schon im Ahd. auch die Verbin-
dungen mit wesan verbal aufgefasst w^erden. Die Erwähnung
des Subjekts der Handlung neben ihnen, auch gewisse Adverbia
weisen darauf hin; z. B. 0. 1, 4, 28 ist gibet thinag fon druh-
tine gihörta^. 1, 8, 25 si birit sun zei^an, ther ofto ist uns
gihei^an. Eine scharfe Grenze zwischen adjektivischer und
verbaler Auffassung lässt sich jedoch nicht ziehen.
3. In der Verbindung mit werdan wird ferner die Be-
deutung des Hülfszeitwortes modifiziert. Es verliert seine ur-
sprüngliche perfektive Bedeutung, weist nicht mehr auf den
Eintritt in einen Zustand hin, sondern drückt wie wesan auch
das Beharren in demselben aus. Der Baum wird gefällt be-
deutet nicht, dass der Baum unter die Einwirkung des Füllens
gerät, sondern dass er sich unter ihr befindet. Die Verwen-
dung von lüirdit c. Part, als gewöhnliches Präsens bezeichnet,
dass diese Bedeutungsentwickelung sich vollzogen hat (§ 74, 1).
4. Die Tempusunterscheidung konnte zunächst nur im
Verbum liegen; ist und wirdit c. Part, waren Präsentia, was
und ward c. Part. Präterita. Aber da das Part, gewöhnlich
perfektisch als Ergebnis einer vorangegangenen Handlung auf-
gefasst wird, so lag in den Verbindungen mit wesan der Keim
136 Zusammeng'esetzte Verbalformen. [§ 74.
zu weiterer Tempusunterscbeidung*; sie wurden zu Zeitformen
der Vergangenheit. Im absoluten Gebrauch, d. h. wenn das
Tempus vom Zeitpunkt der Rede aus bestimmt wird, gewann
ist c. Part, die Bedeutung* eines Perf., im relativen Gebrauch,
wenn das Tempus auf einen Zeitpunkt der Zukunft oder der
Vergangenheit bezogen wurde, gewann in Beziehung auf die
Zukunft ist c. Part, die Bedeutung eines Fut. II, in Beziehung
auf die Vergangenheit was c. Part, die eines Plq. Selbst-
verständlich aber können die zusammengesetzten Formen diese
Bedeutung nur gewinnen, wenn das Part, als Ergebnis einer
abgeschlossenen Handlung, d. h. perfektisch, nicht wenn es als
Ergebnis einer noch fortlaufenden Handlung, d. h. präsentisch
aufgefasst wird. Der Satz: Die Stadt ist zerstört, bedeutet
etwas ganz anderes als die Stadt wird zerstört'^ dagegen be-
deutet der Satz: Der Mann ist verachtet wesentlich dasselbe
wie der Mann wird verachtet. In der Verbindung ist zer-
stört ist das Partizipium perfektisch, in der Verbindung ist
verachtet präsentisch zu verstehen. Zu diesem präsentischen
Gebrauch des Partizipiums neigt die Sprache besonders in Wunsch-,
Forderungs- und Absichtssätzen, in denen man nicht sowohl die
Handlung als das Ergebnis der Handlung im Auge hat. Wo sie
im einfachen Aussagesatz stehen, wie in dem eben angeführten Bei-
spiel, fassen wir sie überhaupt nicht verbal, sondern adjektivisch
auf (§ 57).
Anm. Für die mit luerdan zusammengesetzten Formen kommt
die Unterscheidung von perfektischem und präsentischem Part,
wenig in Betracht, da, wie man auch das Part, auffassen mag, die
Bedeutung des Hilfszeitwortes es hindert, in der Verbindung den
Ausdruck einer abgeschlossenen Handlung zu sehen. Beziehung
auf die Vergangenheit kann hier nur durch das Verbum fin. aus-
gedrückt werden.
74. Über die Geschichte der beiden Arten von Zu-
sammensetzungen sei folgendes bemerkt:
1. {werdan c. Part.) Umschreibungen mit wairpan
braucht der Gote im Präsens selten, denn da standen ihm noch
die einfachen Formen zu Gebote. Aber wie er das Futurum
des imperfektiven wisan öfters durch loairpan wiedergibt (gr.
laojuai = wairpa § 91), so hat er an einigen wenigen Stellen
-§ 74.] Passivformen mit werdcni. 137
auch die Verbindung- von wairpan mit dem Part, benutzt, um
das fehlende Futurum auszudrücken ; im Ind. Lc. 14, 12 ibai auf-
tö . . wairpip pus usguldan \xr\noi:e . . Y^vriarixai aoi dvTairööoiLia ;
und, neben einer einfachen Passivform, Phil. 1, 20 unte ni waihtai
gaaitüisköps wairpa ak mikiljada Xristus, 6ti ^v cuöevl aiöxvjv0r]ao-
|uai, dWd |ueYaXuv9ria€Tai Xpiöxöc;. Ebenso im Optativ 1 Kor. 9, 27
ibai uskusans tvairpau, juriirojc; döÖKiiuoc; Y^vuj|uai; Mc. 9, 12 ei frakunps
wairpai, i'va ^Houbevojer). — In futurischcm Sinne werden diese
Formen auch in den älteren hochdeutschen Denkmälern (Is.
Tat. 0.) vorzugsweise gebraucht. Bei Otfried, der sie über-
haupt nicht oft anwendet, kommt der Indikativ nur dreimal in
Sätzen von allgemeiner Geltung, also nicht zur Bezeichnung der
eigentlichen Gegenwart vor: 3,16,37, wo von der Beschneidung die
Rede ist: wirdit thaQ ouJi äna wän ofto in samha^dag gidän. Ferner
% 12, 48. 5, 6, 61. Dagegen in Notkers Boetius erscheint wirdit
c. Part, als ein ganz geläufiges Mittel der Präsensumschreibung-,
in der die eigentümliche Bedeutung von werdan unter-
gegangen ist.
2. warp c. Part, wurde schon im Gotischen oft ge-
braucht, um das fehlende Prät. des Passivs auszudrücken, und
natürlich nicht nur in dem Sinne unseres Imperfektums, son-
dern, wie das Prät. des aktiven Verbums auch da, wo wir
das Perf. oder Plq. zu setzen pflegen; das Plq. z. B. Mc. 1, 14
ip afar patei atgibans warp Johannes, qam Jesus, luexd bk xö irapa-
boöfjvai ; das Perf. z. B. Mt. 27, 8 duppe haitans warp akrs jains
äkrs blöpis und hina dag, daher ist derselbige Acker genannt
(^KXyi9r|) der Blutacker, bis auf den heutigen Tag. Jh. 13, 31 nu
gaswiraids warp sunus nians jah gup hauhips ist in imma, nun
ist des Menschen Sohn verklärt und Gott ist verklärt in ihm (im
Griechischen heidemal kho^doQr]). 16,21 bipS gabaurans ist barn
(öxav hk YGvvTiöri, aber in /": cum natus fuerit infans), ni panaseips
gaman pizös aglöns faura fahedai, unt§. gabaurans warp manna,
wenn sie geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der
Freude willen, dass ein Mensch geboren ist. — Ähnlich ist es
auch zunächst im Hd. So würden wir die mit sein gebildeten
Zusammensetzungen brauchen 0. 1, 17, 39 so er giiuisso thär bifand,
war druhtin krist giboran ward (geboren war), J thäht {'er sär . .
mihhilo unkusti. 1,20,1 s6 H^röd ther kuning thö bifand, tha^ er
fon in bidrogan ward, inbran er sär\ ebenso 3,22^67. 5,11,25.
Und im Opt. 1, 17, 13 wärun fräg&nti, war er giboran wurti ; eben-
so 1, 17, 17. 34. Doch sind solche Stellen nicht eben häufig. In N.'s
138 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 75.
Boetius findet sich der Opt. sehr selten, der Indikativ kaum
an einer Stelle, die unserem Sprachgebrauch, der ja auch
vielfach sowohl das Imp., als das Perf. oder Plq. gestattet,
widerstrebte (Cuny S. 17 f.). Den Optativ witrti braucht auch
Notker noch einigemal in indirekten Sätzen, wo wir tcäre
setzen würden (1,134,20. 336,2).
75. {icesan c. Part.) 1. Die Bedeutung der mit wesan
zusammengesetzten Formen hängt, wie bemerkt (§ 73, 4j,
wesentlich davon ab, ob das Partizipium perfektisch als Er-
gebnis einer vorangegangenen, oder präsentisch als Ergebnis
einer fortlaufenden Handlung aufgefasst wird. Perfektische
Auffassung des Part, ttberwiegt in den Verbindungen mit
wesan von Anfang an und kam je länger um so mehr zur
Geltung, ist c. Part, weist also in der Regel auf eine Hand-
lung, die vor dem Zeitpunkt der Gegenwart oder Zukunft,
was c. Part, auf eine Handlung, die vor einem Zeitpunkt der
Vergangenheit ihren Abschluss gefunden hat. Verbindungen,
in denen das Part, präsentische Bedeutung hatte, wurden, seit-
dem werdan seine perfektive, auf den Eintritt der Handlung
hinweisende Bedeutung verloren hatte, durch werdan c. Part,
zurückgedrängt.
2. Im Gotischen findet sich neben dem Präs. ist das
Part, natürlich selten in präsentischer Bedeutung, aus dem-
selben Grunde, aus dem die Präsensformen von wairpan nur
selten zur Passivbildung benutzt werden. Nur drei Stellen
sind, anzuführen: 2 Kor. 1, 4 gaprafstidai sijum, TTapaKa\ou|Lie9a;
Eph. 2, 22 mipgatimridai sijup, auvoiKoöo|LieiöOe; Phil. 1, 23 dishabaip
im, öuvdxojuai. An zwei anderen Stellen, wo die Verbindung gleich-
falls einem griechischen Präsens entspricht, ist sie perfektisch auf-
zufassen: Gal. 4^,20 afslaupips im, dTropoO^ai (eigentlich: ich bin in
Angst versetzt) ; 2 Kor. 7, 4 ufarfulHps im. fahedais, imep-irepiaaeüo^ai
Tir) x^pö (eig. ich ich bin überfüllt mit Freude).
3. Öfter fehlt dem Part, neben dem Prät. was die per-
fektische Bedeutung: Mc. 1,6 jah daupidai wesun allai in Jaur-
dane aJvai, Kai i^anxitovTO TrdvTe^; Lc. 7, 12 ushaurans was naus, e2e-
KO|uiz;eTo TcGvriKuüq; Mc. 1, 9 jah daupips icas fram Johanne, Kai eßaTi-
TiaGri ; 1 Kor. 11,23 Jesus in pizaiei naht galewips was, ev rj vukti
uapebibeTO. In solchen Sätzen würden wir ward c. Part, setzen. —
§ 75.] Passivformen mit wesan. 139'
Besonders gern wurden die Verbindungen mit tviscm in Ab-
sichtssätzen gebraucht (§73,4); z.B. Lc. 2,3 iddjedun ei
melidai weseina, eTropeüovio dTT0Ypdcpea6ai; Mc. 3, 9 qap ei
sJcip liahaip wesi, emev iva TiXoidpiov TrpoaKapTeprj.
4. Im Hochdeutschen begegnet das Part, in präsentischer
Bedeutung auffallend oft im Tatian. Die Verbindung mit dem
Präs. ist gibt ein lateinisches Präsens oder Futurum, die mit
was ein lateinisches Imperfektum oder erzählendes Perfektum
wieder; z. B. c. 145,19 sterron fallent fon himile inti megin himilo
sint giruorit, et virtutes coelorum commovebuntur ; 47, 7 kind thesses
rthhes sint furworphan in thia ü^arün finstarnessi, eiicientiir in
tenebras exteriores; c. 49,2 senu arstorhaner was gitragan (wie im
Gotischen), efferebatur; c. 78, 3 inti loärun bisicihhan in imo, et
scandalizabantur in eo; c. 3, 3 thö siu thiu gisah, icas gitruobit, quae
cum vidisset, turbata est; c. 14, 4 senu thö aroffonöia tcärun imo
himila, ecce aperti sunt ei coeli. Viel seltner ist der Gebrauch
in anderen Denkmälern. Im Isidor lässt sich ist c. Part, fast
immer perfektisch auffassen, auch da wo es einem lateinischen
Präsens entspricht; z. B. 23, 12 In dhemu heilegin Daniheles
cMscribe ist umbi dJiea Christes chumft ernustliihho araughitj
in Danihele tempus adventus eins certissime ostenditur. Beide
Tempora, Präs. und Perf. sind hier berechtigt; das Zeugnis
Daniels hat bekundet und bekundet immer noch. Ebenso 3, 6
ist armärit, 3, 9 ist chichundit, 5, 30 ist chiquhedan etc. — icas c. Part,
kommt im Is. überhaupt nicht vor, der Opt. wäri nur einmal, in
perfektischer Bedeutung (35. 14). Auch Otfried hat das präsen-
tische Partizipium nicht oft gebraucht. Er bezeichnet damit
einen in der Gegenwart oder Zukunft fortdauernden Zustand: 1, 3, 14
bi thiu ist er gieret nü so frani, ist oder wird er nun so hoch ge-
ehrt; 1, 4, 36 fon reve thero muater so ist er io giicihter, wird er
geheiligt sein; besonders in Sätzen von allgemeiner Geltung: 2, 21, 44
ther thär afur so ni duat, . . . gizelit sint themo in thräti allo thio
undäti^ dem werden alle seine Untaten angerechnet; b,2\,^ ist
ferro irdriban fon himile ü^, ther andereyno nimit sina^ hüs. Ebenso
neben dem Opt: 2,17, 19 ni mag iß werdan, tha^ ir stt giborgan,
dass ihr verborgen bleib t; und namentlich in Absichtssätzen: 1,19,14
tha^ iß . . baß firholan wäri, verborgen bliebe; 3,12,39 thaß then
thie duri sin bidän, verschlossen bleiben; vgl. auch 1,1,40. 3,26,29.
5, 3, 5 und 2, 24, 39 Firdrtb fon uns allo missidäti . . thaß wir maiia-
houbit zi thinen sin gifuagit, dass wir armen Knechte den deinen
zugezählt werden. — was c. Part, hat bei 0. stets den Wert des Plq.
140 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 75.
5. Am dauerhaftesten ist das präsentische Partizipium
neben dem Opt. si in Hauptsätzen, die Wunsch oder Forderung
ausdrücken, obwohl werde auch hier nicht ausgeschlossen ist;
z. B. 0. 4, 4, 47 giwthit st er filu fram. 4, 19, 47 sts himunigöt thuruh
th'en himilisgen got. 5, 3, 9 sin mtno brusti gisegonöt. 5, 3, 15 s% ih
biseganöt etc., nur zweimal begeg-net iverdan: 1,2,31 irßrrit wärde
halo .sfn; 5, 16, 32 gidoufit werden alle. Im Weissenburger Kate-
chismus und im Freisinger Paternoster heisst es kaivthit si namo
dtn, sanctificetur nomen tuum; bei Notker, wie bei uns, din namo
werde geheüigot\ aber anderwärts (Boetius 1;,290, 4): tvala st da^
fernomen, hoc tantum perspexisse sufficiat. Und auch uns ist
dieser Gebrauch von si geläufig geblieben: Gott sei geloht
und gedankt \ Verflucht sei, wer . . .; gesegnet sei die Frucht
deines Leibes (vgl. § 137). — In der 2. Person des Imperativs
ist uns werden überhaupt versagt, obschon die Formen ge-
legentlich gebildet werden nicht nur in lateinischen Gramma-
tiken (amare werde geliebt), sondern auch in der Literatur. Zwar
wenn im Tat. c. 103, 3 das lateinische in his ergo venite et curamini
durch in then cumet ir inti werdet giheilit wiedergegeben ist, so
mag der Übersetzer den Opt. gemeint haben; eine deutliche Imperativ-
form aber begegnet im Parz. 267,20 wirt erslagen, bei Berthold:
nim da^ kriuze U7id ivirt erslagen, und so auch zuweilen im Nhd.^).
Jedoch sind diese Formen nicht zu allgemeiner Anerkennung ge-
kommen; wenn wir den Imperativ des Passivs überhaupt bilden,
brauchen wir sein-. Sei mir gegrüsst. Seid umschlungen,
Millionenl oder, wenn wir eine Handlung ins Auge fassen,
Umschreibung mit lassen: Lass dich doch überzeugen. Lasset
euch nicht verführen.
6. In Notkers Boetius halten sich sowohl die mit icer-
dan wie die mit ivesan zusammengesetzten Formen schon fast
ganz in den Schranken, die ihnen noch jetzt gezogen sind.
Die Passivforraen wird gebunden, ward geb., ist geb., war
geb. verhalten sich zu einander wie die aktiven bindet, band,
hat geb., hatte geb. Während ursprünglich die mit werden
und sein gebildeten Formen verschiedene Aktionsarten bezeich-
neten, Eintritt und Beharren, so bezeichnen sie nunmehr ver-
schiedene Tempora; jene Präsens und Imperf., diese Perf.
und Plq. — Über den Inf. Pass. s. § 87.
1) Wunderlich 1, 262 A. 2. Blatz 2, 535 f.
§ 76] Jüngere Passivformen. 141
76. (Jüngere Passivformen.) 1. Die Passivformen, über
die das Ahd. verfügte, beschränkten sich auf die Verbindung
des Partizipiums mit den einfachen Formen von wesan und
werdan. Erst erheblich später verband man das Part, auch
mit den jüngeren zusammengesetzten. Neben ich wirde, ward
gebunden traten ich bin, was gebunden worden, neben ich
bin, was gebunden : ich bin, was gebunden gewesen. Vor dem
13. Jh. sind solche Verbindungen nicht, nachgewiesen; die ältesten
sind für werden Parz. 57,29 nü was e^ ouch über des järes zil da^
Gahmuret geprlset vil was worden-, j. Tit. 885, 1 mit reimen
sint disiu lider worden geme^^en 7'ehter lenge', für sin: K. von
Würzb. Troj. 16937 ich hin begraben gewesen (Gr. 4, 162 A.).
2. Das Formensystem des Passivs wurde durch diese
Bildungen nicht nur erweitert, sondern auch einigermassen
modifiziert. Die mit den zusammengesetzten Formen von
werden gebildeten Tempora des Perf. und Plq. schränktea
einerseits die unbestimmte temporale Bedeutung des alten
Präteritums er ward gebunden ein ; anderseits übten sie Ein-
fluss auf die Auffassung des Partizipiums in den Verbindungen
mit sein. Je mehr man sich daran gewöhnte, die umständ-
licheren Bildungen mit ist, war ■-■- worden als Perf. und Plq.
zu gebrauchen, um so mehr wurde diese Bedeutung den mit
sein gebildeten Formen entzogen. Der adjektivische Wert,
den das Part, neben sein nie verloren hatte, tritt also in ihnea
wieder entschiedener hervor. Zwar brauchen wir sie — nach
Wunderlichs Beobachtung (1, 146) namentlich in Norddeutsch-
land — noch oft genug als verbale Prädikate, um eine Hand-
lung zu bezeichnen; aber als die eigentlichen Verbalformen
empfinden wir doch die mit iverden zusammengesetzten; neben
sein hat das Part, überall mehr den Charakter eines prädi-
kativen Adjektivums, am meisten natürlich in den doppelt zu-
sammengesetzten Formen er ist oder war gebunden geioesen.
Er ist gezwungen worden bezeichnet eine Handlung der Ver-
gangenheit, er ist gezwungen gewesen einen Zustand der Ver-
gangenheit, er ist geziüungen kann beides bezeichnen. — ün-
historisch, aber dem jetzigen Sprachgefühl entsprechend könnte
man sagen: 'Wir bilden das Passivum mit iverden, können
aber in den Formen der Vergangenheit worden fortlassen*.
142 Zusammengesetzte Verbalform eii. [§ 77.
3. Die mit ist, tvar — worden zusainmengesetzteD Formen
der Vergangenheit verbreiten sich alhnählich im 14. und 15. Jh.,
begegnen jedoch noch in Luthers Bibel nicht oft (Weigand,
ZfdA. Ij 587 f.). Die letzte V'ermehrung passiver Formen er-
folgte, als man mit dem Hülfszeitwort loerden auch die passiven
Infinitive, die selbst junge Bildungen waren (§ 87), verband
und damit Formen für das Futurum und den Konditional ge-
wann. Hiernach stellt sich das ganze System passiver Formen
so dar:
Ind. Opt.
Präs. wird gebunden werde gebunden.
Imp. ward geb. würde geb.
würde geb. werden.
Fut. wird geb. werden werde geb. werden.
Perf. ist geb. (worden) sei geb. (worden).
Plqp. war geb. (worden) wäre geb. (worden).
würde geb. (worden) sein.
Fut. II wird geb. (worden) sein werde geb. (worden) sein.
Part. Prät. in zusammengesetzten Formen der Vergangenheit.
77. {wesan c. Part.)^) 1. Wie die Partizipia transitiver
Verba, so können auch die vieler Intransitiva prädikativ auf
das Subjekt bezogen werden. Beide bezeichnen einen durch
die Handlung des Verbums herbeigeführten Zustand, das Part,
der Transitiva einen Zustand, der durch die Tätigkeit eines
andern herbeigeführt ist, z. B. er ist getötet'^ das Part, der
Intransitiva einen Zustand, in den das Subjekt durch die
Handlung von selbst gerät; z. B. er ist gestorben. Dass diese
Bedeutung nur dem Part, perfektiver Intransitiva zukam, ist
§ 59 bemerkt, und daraus folgt, wie Behaghel in der ZfdPh.
32, 72 zuerst erkannt hat, dass die Bildung zusammengesetzter
Tempusformen mit sein nur solchen Verben zukommt. Per-
1) Gr. 4, 149 f. Erdmann § 147 f. Wunderlich I, 195 f. Wein-
hold § 487 f. H. Paul, Die Umschreibung^en des Perfektums im
Deutschen mit haben und sein. München 1902 (Abh. der K. bayr.
Ak. d. W. I. Kl. XXII, 1). J. Dieninghoff, Die Umschreibungen
aktiver Vergangenheit mit dem Part. Prät. im Ahd. Bonn 1904 (Diss.).
§ 77.] Formen der Vergangenheit (luesan c. Part.). 143
fektive Intransitiva, lautet die Regel, bilden ihr Perfektum
mit sei7i, imperfektive mit haben. Genaueres über die Grenze
zwischen beiden Formen in § 79 ff.
2. Während zur Bildung des Passivs beide Hülfsverba
tc'esan und werdan gebraucht werden und tmrdan schliesslich
die Herrschaft gewinnt, kommt werdan für die Bildung der
aktiven Tempusformen kaum in Betracht; im Gotischen er-
scheint es nie, im Hochdeutschen ganz selten. Ein Präsens
wirdit quoman (er wird ein gekommener d. h. er kommt) ist
nirgends belegt; nur der Infinitiv werdan begegnet einmal:
Is. 31, 3 chundida . ., dlia^s ir quhoman scolda tverdan tes-
tabatur . . esse venturum. Öfter kommen Präterita wie ward
quomaii, ward icortan etc. vor, aber auch sie sterben bald
ab ^). — Dass diese mit werdan zusammengesetzten Formen
nicht wie im Passiv zu einem festen Bestandteil des Konju-
gationssystems wurden, ist offenbar darin begründet, dass es
hier für Präs. und Prät. die einfachen Tempusformen quimitj
quam gab, neben denen die zusammengesetzten überflüssig
waren.
3. In den mit wesan zusammengesetzten Formen dagegen
gewann die Sprache zwei neue Tempora, ein Perfektum und
Plusquamperfektum, wie im Passiv. Schon für das Gotische
ist dieser Gebrauch wohl anzunehmen. Zwar in dem Satze
Jh. 9, 21 silha usicaJisans ist, ina fraihnip auiöq fiXiKiav e'xei,
auTÖv epojTricraTe steht uswahsans noch ganz als prädikatives
Adjektivum, \\\Q,vf\\' erwachsen zu gebrauchen pflegen; dagegen
Mc. 1,33 so haiirgs alla garunnana tcas at daura, x\ ttöXk;
öXr| eTTicruvriYjuevri fjv rrpö«; t\\v Öupav wird der Gote wie wir
das Part, als Ausdruck verbaler Tätigkeit und infolgedessen
was garunnana als ein zusammengesetztes Tempus der Ver-
gangenheit empfunden haben. Wie im Ahd. diese Formen
allmählich geläufig werden, lassen Dieninghoffs Zusammen-
stellungen deutlich erkennen. Bei weitem die meisten Verba
sind mit Partikeln zusammengesetzt oder verbunden, die auf
das Ziel der verbalen Tätigkeit hinweisen, und wo solche
1) Dieninghoff S. 8 f. Gr. 4, 7. 156 Anm.
144 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 78.
Partikeln fehlen^ bekundet die Vorsilbe ga- die perfektive Auf-
fassung-. Nur queman entbehrt diese Partikel immer, werdan
fast immer, weil diese Verba an und für sich perfektiv auf-
gefasst zu werden pflegen. Dieninghoff S. 11 f.
Anm. Der perfektische Wert einer Verbindung des Parti-
zipiums mit sein erlischt natürlich wie im Passiv (§ 76, 2), wenn wir
das Part, nicht verbal, als Abschluss einer Handlung auffassen,
sondern adjektivisch als Zustandsbezeichnung, wie jenes got. uswah-
sans, nhd. erivachsen. Ob diese oder jene Auffassung gilt, hängt
vom Sprachgebrauch ab und ist nicht immer sicher zu entscheiden.
Partizipia, die oft ganz adjektivisch gebraucht werden, sind ahd.
irholgan, gidigan, gilegan, gise^^an\ vgl. § 83 Anm. 1.
78. (haben c. Part.) 1. In demselben Sinne, in dem das
Part, transitivei- Verba neben ivesan und werdan auf das
Subjekt bezogen wird, kann es neben eigan und haben auf
das Objekt bezogen werden. Aus jenen Verbindungen erwuchsen
die Passivformen, aus diesen zusammengesetzte Tempusformen
des Aktivs. Im Gotischen kommen solche Formen noch nicht
vor; wo wir dort ein Part, neben haban finden, behauptet
sich hahan als Vollverbum, der Akkusativ hängt von ihm ab,
das Part, ist nur prädikative Bestimmung. So 1 Tim. 4,2;
oder Lc. 19,20 im Gleichnis vom ungetreuen Knecht: frauja,
sai sa skatts peins, panei habaida galagidana in fanin\ das
heisst nicht Men ich in mein Tuch gelegt hatte', sondern fiv
eixov d7roK6i)uevriv ev cToubapiuj, den ich bewahrte, bei Seite
gelegt in meinem Tuche. Ganz ebenso ist das Part, an der
entsprechenden Stelle im Tatian gebraucht: c. 151,7 thia ih
habeta gihaltana in suei^duohe^ quam habui repositam in
sudario. Ebenso Tat. c. 102, 2 (Lc. 13, 6) pMgboum habeta
sum giflanzötan, arborem fici habebat quidam plantatam; das
heisst nicht: ^er hatte einen Feigenbaum gepflanzt', sondern,
wie Luther übersetzt: ^Es hatte einer einen Feigenbaum, der
war gepflanzt in seinem Weinberge'. Dagegen wenn es Tat.
c. 149,4 heisst: senu, nu andero ßmvi ubar tha^ haben
gistriunitf et ecce alia quinque superlucratus sum, so bedeutet
das augenscheinlich nicht: 'ich besitze fünf andere als ge-
wonnene', was der ursprüngliche Sinn der Verbindung war,
§ 78.] Formen der Vergangenheit {haben c. Part.). 145
soiidern: ^fünf andere habe ich gewonnen'; d. b. das Objekt
hängt nicht mehr von ich habe ab, sondern von der zu einer
Einheit /Aisanmiengesetzten Verbindung ich habe gewonnen.
Noch deutlicher ist der Gebrauch der zusammengesetzten
Tempusform Tat. c. 28,1 (Mt. 4, 28): 'Wer ein Weib ansieht,
ihrer zu begehren, in habet sia forlegana in sinemo herzen,
jam moechatus est eam (got. ju gahörinöda izai)\ hier w^äre
es widersinnig sia als Objekt aufzufassen. Ebenso 0. 5, 7, 29
sie eigun mir ginomanan liabon druhtin minan. Wie hier
wird haben in allen andern germanischen Sprachen ausser im
Gotischen zur Bildung zusammengesetzter Zeitformen gebraucht,
und ebenso in den romanischen, gewiss nicht zufällig (Gr.
4, 153 f.).
2. Ob die Formen mit eigan oder haben gebildet sind,
macht für die Bedeutung keinen Unterschied, doch scheint,
wo beide Wörter im Gebrauch sind, zunächst eigan als das
geeignetere Mittel, den abstrakten Sinn des Hülfszeitw^ortes
auszudrücken, empfunden zu sein. Wenigstens wendet Otfried,
so weit die Formen von eigan überhaupt noch erhalten sind,
nur diese an (OS. 2 § 379). Aber Notker lässt überall neben
eigan auch haben zu und bei Williram ist das defektive Verbum
ganz verschwunden. Im Ags. und An. begegnet überhaupt nur
haben als Hülfszeitwort.
3. In den ältesten hochdeutschen Denkmälern kommen
die umschreibenden P^ormen nicht oft vor, in manchen gar
nicht. Den ältesten Beleg gewährt die Exhortatio: intfan-
gan eigut accepistis; im ganzen Tatian finden sich nur die
beiden angeführten (c. 105,2 habes managiu guot gisaztiu
ist mindestens zweifelhaft), häufiger werden sie bei Otfried,
zahllos sind sie bei Notker. Aber wichtiger als die Gesamt-
zahl der Belege ist es, die einzelnen Bedeutungsgruppen zu
verfolgen. Aus dem Ursprung der Form folgt, dass sie zu-
nächst nur von solchen Verben gebildet werden konnte, deren
Objekt ein Bezitztum des Subjekts ist, z. B. eUras erwerben,
ein Haus bauen, seinen Acker bestelle^i etc., denn das Verbum
haben, von dem der Akkusativ ursprünglich abhing, setzt ja
ein Besitzverhältnis voraus. Aber Tat, c. 2^^ 1 zeigt, dass
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 10
146 Zusammen g'esetzte Verbalformen der Vergangenheit. [§ 78.
diese Grenze schon in der ersten Hälfte des 9. Jh. über-
schritten war; von jedem Verbum, das ein transitives Objekt
regierte, konnten zusammengesetzte Zeitformen gebildet werden.
Sehr bald finden wir sie dann auch in Sätzen, deren Verbum
statt des Objekts einen abhängigen Satz regierte, (z. ß. 0.
1, 5, 39), oder einen Genitiv (erst bei Notker, z. B. 1, 26, 13 des
er hegunnen JiaMtä), endlich auch in solchen, deren Verbum
jeder objektiven Ergänzung ermangelt. Diese Erweiterung des
Gebrauchs auf objektlose Sätze lag nahe, wenn das Verbum,
obschon es in dem vorliegenden Fall absolut gebraucht war,
doch eine Bedeutung hatte, die die Ergänzung eines Objekts
gestattete; z. B. Notker 1, 44, 24 also du nü vernomen habest.
Schliesslich aber wurden die Formen auch von rein intransi-
tiven Verben gebildet, natürlich nur von solchen, die sich der
Verbindung mit sein entzogen hatten, also von den imper-
fektiven, ziellosen. Beispiele dieser Art bei Notker, z. B.
1, 8, 19 wanda si mir aber nü geswichen habet \ 2, 151, 4
wanda ih dir gesundot haho etc. Dieninghoff, S. 15 f.
4. Mit diesem letzten Schritt hatte die Sprache für Verba
jeder Art die Möglichkeit erreicht, ein gleichmässiges System
von Tempusformen auszubilden. Im Passiv und Aktiv, bei
transitiven und intransitiven Verben standen vier Formen zur
Unterscheidung von Präsens und Präteritum, Perfektum und
Plusquamperfektum zu Gebote. Zuerst war dieser Reichtum
im Passiv erreicht, dann bei perfektiven Intransitiven und bei
Transitiven, zuletzt bei imperfektiven Intransitiven. Aber doch
waren nicht alle Verba gleich geeignet zur Bildung zusammen-
gesetzter Formen; denn die Voraussetzung dafür war die Exi-
stenz eines Part. Prät. und dies war gewiss nicht von allen
Verben üblich. Von vielen intransitiven Verben wird das
Part, nur in den zusammengesetzten Formen gebraucht (§ 59, 1)
und erst die Verbreitung dieser wird den Anlass zu seiner
Bildung gegeben haben. Die allmähliche Vermehrung der
Partizipia ist noch nicht beobachtet; bekannt ist, dass im
Gotischen Part. Prät. nur von sehr wenigen intransitiven Verben
belegt sind (ZfdPh. 5, 301 AfdA. 14, 286) und dass sie den
Präterito-Präsentia und dem Verbum subst. noch im Ahd.
§ 79.] sein und haben bei intransitiven Verben. 147
fehlen. Ja in gewissen Verbindungen sind die mit dein Part.
Prät. zusammengesetzten Zeitformen noch jetzt nicht durch-
gedrungen (§ 86).
5. Dass zum Imperativ zusammengesetzte Formen der
Vergangenheit im allgemeinen nicht gebildet werden, ist in
der Bedeutung des Modus begründet; doch kommen sie hin
und wieder vor, schon im Mhd. Blatz 2, 535. Erdm. § 161.
sein und haben bei intransitiven Verben.
79. 1 . Dass von einem Teil der intransitiven Verba zu-
sammengesetzte Zeitformen mit sei7i gebildet wurden, war in
ihrer perfektiven Bedeutung begründet; dass diese Form nicht
auf die übrigen Intransitiva übertragen wurde, darin, dass
daneben zusammengesetzte Formen mit haben entstanden, die
in ihrer grossen Masse die imperfektiven Intransitiva in ihre
Bahn zogen. Auffallend aber ist, dass auch in der Folgezeit
die perfektiven Intransitiva ihre Sonderstellung behaupteten.
Denn nachdem die Verbindung des Partizipiums mit dem
Hülfszeitwort zur blossen Zeitform geworden war, schien die
Aktionsart, die ursprünglich den Gebrauch geregelt hatte,
gleichgültig. Wenn trotzdem die alte Grenze im ganzen er-
halten und noch heute wohl zu erkennen ist, so liegt der
Grund darin, dass andere, lebendigere Bedeutungsmomente sie
auf lange Strecken stützten und sicherten. Wo dieser Schutz
fehlte, sind auch Verschiebungen eingetreten.
2. Die beiden Verba, die im Ahd. am frühesten und
häufigsten in zusammengesetzten Zeitformen mit sein vor-
kommen, sind queman und i€erdan\ fast die Hälfte aller Be-
lege kommt auf diese beiden Verba (Dieninghoff S. 9). Sie
können zugleich als Repräsentanten der beiden umfassendsten
Bedeutungsgruppen perfektiver Intransitiva dienen; kommen
ist ein Verbum der Bewegung, werden (ursprünglich gleich-
falls ein Verbum der Bewegung) bezeichnet den Eintritt des
Subjekts in einen neuen Zustand. Diesen beiden Gruppen ge-
hören fast alle Verba an, die zusammengesetzte Tempora mit
sein bilden. Wie sich der Gebrauch bei den einzelnen Verben
J48 Zusammengesetzte Verbalformen der Vergangenheit. [§ 80.
gestaltet bat, kann hier nicht verfolgt werdend; einige all-
gemeinere Züge werden am besten hervortreten, wenn wir die
beiden Hauptgruppen ins Auge fassen.
80. (Verba der Bewegung.) 1. Verba der Bewegung
können an und für sich perfektiv und imperfektiv aufgefasst
werden. Wenn wir uns die Tätigkeit als solche vorstellen,
sind sie imperfektiv, wenn wir Ende oder Ziel der Bewegung
im Auge haben, perfektiv. Bei kommen pflegt sich perfektive
Auffassung schon mit dem Verbum an sich zu verbinden,
bei andern findet sie ihren Ausdruck in Raumpartikeln oder
adverbialen Bestimmungen; neben solchen also erscheint das
Perfektum mit sein, ohne sie mit haben; vgl. Wir haben
getanzt : sie sind aus dem Hause getanzt. Wir haben ge-
rudert, gesegelt, geschicommen : ivir sind über den See ge-
rudert etc. Er hat geioanM, getaumelt : ist aus der Tür
gewankt. Der Vogel hat geflattert : er ist ins Nest geflattert.
Die Bienen haben geschwärmt : sie sind ausgeschicärmt etc.
2. Aber nicht immer hängt in der jetzigen Sprache der
Gebrauch von sein und haben von der perfektiven Bedeutung
ab. Der alten Regel gemäss heisst es Kehr. 5056 nü hän ich un-
rehte gevarn ich bin verkehrt g*efahren, habe mich verirrt. Herb.
220 er hete gevarn durch diu laut. Hamle MSH. 1,112 b da^ ich
mtne vüe^e setzen müe^e^ da min vrouwe hat gegän. Hartman MF.
210, 15 der [der Welt] hacken hän ich manegen tac gelaufen nach.
Schönbach, Pred. 1,58,1 also hat uns unser hej're Jesus Christus
vor gevlogen. Erec 6680 und wcere ich gewesen hl, ich hete geflohen.
Laurin 1509 die vor gevlohen häten, die sluogen wider genöte. Oft
auch noch bei Luther: 2 Kor. 12, 18 haben tcir nicht in einerlei
fufsstapfen gegangen. Hiob 38, 16 bist du in den grund des meeres
konien und hast in den fufsstapfen der tiefen geivandelt. Gal. 2,2
auff dasz ich nicht vergeblich lieffe oder gelaufl^en hatte. 4 Mos.
22, 33 die eselin hat mich gesehen und mir dreimal geivichen. Wir
würden in allen diesen Sätzen sein brauchen. Offenbar ist statt
des alten Gesichtspunktes ein neuer zur Geltung gekommen:
wir brauchen sein, wenn wir eine Ortsveränderung des Subjekts
1) Vgl. Gr. 4, 160 ff. Wunderlich 1, 206 f. und namentlich die
inhaltreiche Abhandlung Pauls (s. § 77 Fussn.).
§ 80.] sein und haben bei Verben der Bewegung. 149
als Resultat der Beweg-ung ansehen, mag das Verbum per-
fektiv oder imperfektiv sein. Da bei allen Verben der Be-
wegung, wenn sie perfektiv aufgefasst werden, eine Orts-
veränderung des Subjekts eintritt, hatte man sich daran
gewöhnt, darin das wesentliche Moment für den Gebrauch von
sein /AI erblicken und Hess es demgemäss auch bei imper-
fektiven Verben zu. Besonders deutlich zeigt sich dieser neue
Gesichtspunkt bei folgen. Im Mhd. wurde das Verbum immer mit
haben verbunden; auch Luther konstruiert es fast immer so und
viele Belege bieten auch noch die folgenden Jahrhunderte; aber
seit dem 15. Jh. zeigt sich neben haben auch sein, und hat schliess-
lich jenes fast ganz verdrängt. Nur wenn das Verbum in über-
tragenem Sinne und ohne dativische Bestimmung gebraucht ist,
behauptet sich noch haben, also in Sätzen wie: Das Kind hat gefolgt
(Paul S. 190).
Anm. Selbst neben Zielbestimmungen kommt haben vor;
z. B. Nib. 393, 4 durch wes liebe die helde her gevarn hän. 2029, 4
wand ich vriuntltche in ditze lant geriten hän. Konrads Silvester
1291 wand er mit sinen pf äffen hete vor Constanttne dar geflohen.
Eine Trübung des Sprachgefühls braucht man deshalb nicht anzu-
nehmen; denn die Erwähnung- des Zieles schliesst die imperfektive
Vorstellung nicht unbedingt aus (Paul S. 18'2. 187).
3. haben gilt also im allgemeinen nur noch da, wo die
Bewegung nicht auf eine Ortsveränderung hinzielt; und selbst
in diesem Gebiet ist es nicht mehr ganz sicher. In dem Satze:
Die Fahnen, die so lustig im, Winde geflogen hatten (Immermann)
können wir haben nicht durch sein ersetzen. Auch Nib. 232, 3, wo
es von den turnierenden Helden heisst: die recken von dem JRtne,
die habent so gerite7i widerspricht unserem Gebrauch nicht. Ebenso
lassen wir haben in dem Satze Lessings (M. v. B.) gelten: Der Kutscher
hatte in Wien zehn Jahre gefahren. Aber: die Uhr hat gut ge-
gangen sagt man kaum, obwohl die Uhr sich gar nicht vom Platze
bewegt, und auch das mundartlich noch verbreitete: es hat (ihm)
gut gegangen wird von der Schriftsprache nicht anerkannt. Der
weit überwiegende Gebrauch von sein hat bei dem Verbum 'gehen'
haben ganz verdrängt. — varan wird in der älteren Sprache in der
Bedeutung sich benehmen, verfahren regelmässig mit haben ver-
bunden; z, B. N. Boeth. 1,98,30 sid si wider in ba^ habe gevaren
danne wider andere; ebenso mhd. mite varn und selbst im Nhd.
verfahren mit; z. B. von Schiller: Ma7i hat zu rasch verfahren. Ja
würdig hast du stets mit uns verfahren. Jetzt folgt das Wort dem
Simplex und verlangt sein.
150 Zusammengesetzte Verbalformen der Vergangenheit. [§ 81.
81. 1. Manche Verba sind erst durch Bedeutungswandel
zu intransitiven Bewegungsverben geworden; so sprengen,
rennen, setzen, kehren, lenken, streichen, streifen, schweifen,
landen (mhd. lenden), rücken, dringen, jagen, in See stechen',
ferner treiben, stürzen, ziehen, stossen, schlagen, treten,
brechen, reissen, eilen, gelangen, eintreffen. Es ist begreif-
lich, dass man solche Verba noch mit haben verbunden findet,
wo man sie doch schon als intransitive Bewegungsverba auf-
fassen kann oder muss, sei es dass die alte Bedeutung noch
nicht ganz erloschen, oder dass die in ihr wurzelnde Form in
der Sprache festgehalten ist. So findet sich unserem Gebrauch
widersprechend in älterer und neuerer Literatur haben namentlich
bei treten: Pass. 390,88 ich habe getreten vor got. 316,24 hete ein
böte hin getreten. Kenner 14660 heten si kristen glouben bekant, si
heten niemer davon getreten, und so auch noch später. Ebenso bei
eilen: Luther Hiob 31, 5 hat mein Fuss geeilet zum Betrug. A. S.
Clara er hat zu Pferde dahin geeilt', bei eintreffen: Lessing: Hat
meine traurige Ahnung eingetroffen P Schiller: So hat also doch
unsere Prophezeiung eingetroffen. In diesen Sätzen würden wir
jetzt sein brauchen.
2. Wo sich haben neben sein gehalten hat, regelt sich
der Gebrauch nach denselben Gesichtspunkten wie bei den
ursprünglichen Bewegungsverben. Wenn wir in dem Verbum
nur den Ausdruck einer Tätigkeit oder eines Vorganges sehn,
gilt haben, sein erscheint um so notwendiger, je mehr wir
die Ortsveränderung des Subjekts im Auge haben; vgl. z. B»
Der Habicht hat auf Tauben gestossen ; er hat an den Tisch
gestossen : Das Schiff ist auf den Grund gestossen \ und über-
tragen: er ist auf Schwierigkeiten gestossen. Sie haben
gejagt {= geeilt), dass Kies und Funken stoben : Die Reiter
sind aus der Stadt gejagt. Ich habe auf einen Stein getreten :
Er ist eingetreten, abgetreten, ans Fenster getreten. Der
Blitz hat eingeschlagen : Er ist hingeschlagen (= hingefallen).
Auch in Sätzen, in denen wir beide Verba brauchen können,
bleibt oft ein merklicher Unterschied fühlbar; z.B. Er ist fort-
gerückt, mir näher gerückt : er ist od. hat gerückt {= Platz gemacht).
Der Schiffer hat od. ist abgestossen. Die Flotte hat od. i.st gelandete
Fr hat od. ist über den Bach gesetzt. Das Heer hat od. ist über-
gesetzt. Er hat od. ist mit dem Kopf auf geschlagen. Übertragene
§ 81.] sein und haben bei Verben der Bewegung. 151
Bedeutung schützt und fördert begreiflicher Weise den Ge-
brauch von haben'^ vgl. Z>er Feind ist in die Stadt gedrungen-.
Er hat od. ist in mich gedrungen; hat darauf ged7mnge7i. Der
Kutscher ist od. hat soeben in den Hof eingelenkt : Er hat einge-
lenkt (= nachgegeben). — In allen angeführten Beispielen hat
das mit sein verbundene Verbum perfektive Bedeutung. Dass
aber wie bei den ursprünglich intransitiven Bewegungsverben
jetzt nicht die Perfektivität der Handlung, sondern die Orts-
veränderung des Subjekts den Ausschlag gibt, zeigen einige
andere. Bei reisen ist der Gebrauch von haben noch nicht ganz
aufgegeben. Wir können noch, wie Goethe gelegenthch, sagen:
ein Mann, der erst in Handels-, dann in politischen Geschäften viel
gereist hatte, aber das gewöhnliche ist doch gereist ivar. Auch bei
rennen ist die alte Bedeutung, in der es z. B. in der Zimmerschen
Chronik I, 272, 17 steht: so haben acht graven und freiherren gerannt
und gestochen, fast ganz verloren und demnach sein allgemein
geworden, auch in Verbindungen, in denen das Verbum durchaus
nicht perfektiv aufgefasst wird. Adelung verzeichnet bei diesem
Wort noch haben.
3. Die umgekehrte Entwickelung, dass bei einem Verbum
der Bewegung durch Bedeutungswandel sich haben für sein
festgesetzt hat, ist selten. Wie vallen wurde das Kompositum
ge Valien ursprünglich mit sin verbunden, auch in der Bedeutung
placere; z. B. W. Gast 11221 ich wcen da^ alle^ sin gesanc st got
niht s6 wol gevallen. Ebenso missevallen : Krone 11084 da^ ej den
fürsten allen wcere harte missevallen. Jetzt brauchen wir haben. —
fortfahren in eigentlicher Bedeutung verlangt sein, in über-
tragener wird es mit sein und haben verbunden. Er ist in od. mit
seinem Wagen fortgefahren. Er ist od. hat in od. mit seinem Vor-
trage fortgefahren \ aber nur: Er hat fortgefahren zu reden:, denn
durch die Verbindung mit dem Infinitiv hat das Verbum sich weiter
von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt,
Anm. Wie sich der Bedeutungswandel bei den einzelnen
Verben vollzogen hat, ist nicht immer leicht und sicher zu erkennen
und kommt hier nicht in Betracht, reisen (^von reisa abgeleitet)
bedeutet eigentl. eine Fahrt unternehmen, eilen sich beeifern, ein-
treffen ins Schwarze treffen, langen, gelangen sich erstrecken bis
zu einem Punkte, die Hand wonach ausstrecken. Nicht wenige sind
dadurch aus Transitiven zu Intransitiven geworden, dass man sich
gewöhnte, ein Objekt als selbstverständlich fortzulassen, so rennen,
landen, lenken, aufbrechen. Zu intransitiven Bewegungsverben sind
dann die meisten jedenfalls durch häufige Verbindung mit adver-
152 Zusammengesetzte Verbalformen der Vergangenheit. [§ 82.
bialen Bestimmungen der Richtung geworden, die in der jüngeren
Sprache ja geradezu ein Mittel geworden sind, Verba, die an und
für sich keine Bewegungsverba sind, zu solchen umzuschaffen : Er
ist abgedampft, eine Dame ist an uns vorüber gerauscht, ein Blitz
ist herab vom Himmel geflammt etc. Paul S. 198 f.
4. Als eine besondere Gruppe sind die Verba anzuführen,
bei denen die Verschiedenheit der Bedeutung mit einena eigen-
tümlichen Wechsel des Subjekts zusammenhängt. Verba, die
an und für sieh keine Bewegung bezeichnen, erscheinen als
Bewegungsverba, wenn das Subjekt zum Ausgangspunkt der
Tätigkeit gemacht wird ; vgl. Das Eisen, das Feuer hat Funken
gesprüht : Funken sind aus dem Feuer gesprüht. Er hat Wasser od.
Tnit Wasser gesp>ritzt : Das Wasser ist aus der Röhre gespritzt. Er
hat Blut geschivitzt ; Ihm, ist Blut aus dem Leibe geschwitzt. Der
Kessel hat geleckt : Das Wasser ist aus dem Kessel geleckt. Und
umgekehrt können Bewegungsverba diese Bedeutung verlieren,
wenn der Gegenstand, der der Ausgangspunkt der Bewegung
ist, zum Subjekt gemacht wird : Das Wasser ist aus dem Topfe
gelaufen, geronnen : Der Topf hat gelaufen. Der Schwei.ss ist von
der Stirne getrieft : Die Stirne hat von Schweiss getrieft. Das Wasser
ist aus der Röhre geflossen : Die Röhre hat geflosseji. Bei solchen
Verben bleiben haben und sein scharf geschieden. Wenn es
heisst: Das Fass ist ausgelaufen, leer gelaufen, obwohl laufen hier
doch keine Bewegung des Subjekts bezeichnet, so ist das darin
begründet, dass in diesem Satze das Prädikat eine Änderung des
Zustandes bezeichnet, also in die zweite Hauptgruppe fällt.
5. Endlich seien noch einige Verba erwähnt, die nicht
sowohl eine räumliche Bewegung als eine räumliche Ausdehnung
des Subjekts bezeichnen. Bei ihnen schwankt der Gebrauch.
Gewöhnlich braucht man sein: Das Feuer ist aufgeflackert, auf-
gelodert, es hat od. ist aufgeflammt. Das Wasser ist empor gewallt,
aber übertragen: Sein Herz hat hoch aufgewallt (Paul S. 198). —
Andere, bei denen man weniger die räumliche Änderung als eine
Änderung der Beschaffenheit des Subjekts im Auge hat, führen zu
der zweiten Hauptgruppe hinüber. Bei ihnen wird sein gebraucht
und das Partizipium nähert sich dem Adjektivum ; Das Wasser, die
Fäs.se sind geschwollen; die Haut ist eingeschrumpft; das Zahn-
fleisch ist geschwunden etc. Über ehitvurzeln s. Paul S. 171.
82. (Verba des Werdens.) 1. Die zweite grosse Gruppe
von intransitiven Verben, die ihr Perfektum mit sein bilden,
§ 82.] sein und haben bei Verben des Werdens. 153
sind Verba des Werdens, Verba, die nicht eine äussere Be-
wegung^ sondern eine Entwickelung von innen heraus be-
zeichnen. An und für sich kommt ihnen perfektive Bedeutung
ebensowenig zu wie den Verben der Bewegung. Aber die
meisten pflegen doch perfektiv gebraucht zu werden, bezeich-
nen nicht nur ein Werden, sondern ein Werden zu etwas, den
Übergang zu einem neuen Zustand oder einer neuen Tätigkeit.
Gewöhnlich sind diese Verba, besonders in der jüngeren
Sprache, mit Partikeln zusammengesetzt, entweder untrenn-
bar mit unbetonten Vorsilben, z.B. genesen, gefrieren, eutblühen,
-brennen, -schlafen, •schlunime7^n, namentlich mit er (Ingressiv): er-
beben, -blühen, -frieren, -glänzen, -glimmen, -glühen, -klingen, löschen,
-schallen, -schrecken, -staunen, sticken, tönen, -zitte7^7i und mit v er -
(effektiv): verblüheti, -brenne?!, -dampfen, -derben, -dorre7i, -dunstefi,
-dursten, -harschen, -hungern, -glimmen, -glüheii, -klingen, -krachen,
-löschen, -m^odern, -rauchen, -schallen, -schimmeln, -schmachten, -siegen,
-wesen\ oder trennbar: auf-leben, -wachen, -tauen-^ abbrennen,
-welken; an-brennen\ ein-frieren, -nicken, -schlafen, -schrumpfen.
Viele sind von Nominibus abg-eleitet, die den Zustand bezeichnen,
dem die Entwickelung- zustrebt; z. B. altern, bleichen, fauleii, trock-
nen, und viele mit er- und ver-: erblassen, -bleiche^!, -blinden,
-grimmen, -kalten, -kranken, -lahmen, -matten, -i^öten, -schlaffen,
-starken, -starren, -warmen\ ver-armen, -kalken, -kohle^i, -knöchern,
-rohen, -sauern, -stummen, -tvelken, -icilde^m. Bei anderen er-
füllen prädikative Bestimmungen diesen Zweck, besonders bei
werden: gross werden, stark w., zu nicht e., zu Wasser
werden; nur selten drücken einfache, unabgeleitete Verba an
sich diesen Sinn aus: ste7^ben, bersten, schmelzen', ebenso
einige, die auch in anderem Sinne gebraucht werden: Der
Strick ist gerissen ; das Messer ist gebrochen ; die Saite ist
gesprungen: das Wasser ist gefroren, (dagegen: es hat ge-
froren [= war unter 0^], mich hat gefroren). Alle diese Verba
pflegen perfektiv aufgefasst und demgemäss mit sein verbunden
zu werden. Nur wenige fassen wir auch imperfektiv auf und
verbinden sie dann mit haben : Er hat gealtert ; sein Haar
hat gebleicht-, die Wunde hat gut geheilt; die Wäsche hat
gut getrocknet. Die Verbindung mit sein bezeichnet, dass
das Subjekt den Zustand, auf den das Verbum hinweist, er-
reicht, die mit haben, dass es sich ihm nur genähert hat.
154 Zusammengesetzte Verbalformen der Vergangenheit. [§ 83.
2. Aber wie bei den Verben der Bewegung setzt auch
bei denen des Werdens der Gebrauch von sein nicht immer
perfektive Auffassung voraus. wachsen^ schicinden, schiessen
(= schnell emporwachsen), gedeihen, schwellen, gälten, arten nach,
geraten, missraten, glücken bezeichnen zwar auch eine Entwickelung
des Subjekts, weisen aber nicht bestimmt auf den Eintritt in einen
anderen Zustand, und demgemäss kommt bei manchen von ihnen
in früherer Zeit auch haben vor; so bei raten (Paul S. 168): Erec
2914 sin sun der schöne wol geraten hat (istät); im älteren Nhd.
auch bei gelingen, misslingen, glücken (a. 0. S. 168 f.), wachsen
(a. 0. S. 181); bei arten nach, gären brauchen wir jetzt noch beide
HülfszeitM'örter: Er hat od. ist nach seinem Vater geartet. Der
Wein hat gegoren, (und übertragen: Es hat im Volke gegärt), da-
gegen: Der Wein ist zu Essig gegoren. Bei den andern aber ist
nur sein üblich, der Gebrauch des Verbums also über seine ur-
sprünglichen Grenzen ausg'edehnt.
3. Umgekehrt haben einige Verba, deren Bildung und
Bedeutung perfektive Auffassung voraussetzen Hesse, haben
angenommen. Bei verzagen und verzweifeln finden wir haben
neben sein schon im Mhd., jetzt gilt es allein (a. 0. S. 171). Das
Partizipium dieser Verba hat neben sein rein adjektivische Bedeutung,
kann also nicht mehr der Bildung des Perfektums dienen, tagen
wird im Mhd. nur mit sin verbunden; jetzt wie dämmern, dunkeln
stets mit haben (a. 0. S. 204).
Anm. Es liegt in der Bedeutung der Verba des Werdens,
dass ihre zusammengesetzten Formen nicht in demselben Masse wie
die der Bewegungsverba geeignet sind, die Vergang-enheit zu be-
zeichnen. Während wir in Sätzen wie: Er ist abgereist, ausgegangen,
geflohen etc. das Prädikat als Vorgang* der Vergangenheit auf-
zufassen pflegen, neigen wir in solchen wie: Die Blume ist ver-
blüht:, die Flamme ist verloschen:, das Wasser ist gefroren dazu,
das Prädikat als Zustand der Gegenwart, das Partizipium als Ad-
jektivum aufzufassen. Verbale Auffassung und Beziehung auf die
Vergangenheit ist keineswegs ausgeschlossen, ebensowenig wie bei
den mit sein gebildeten passivischen Perfektformen (vgl. z. B. er ist
gestorben : Er ist tot)\ aber sie liegt uns oft ferner und findet in
der Sprache keinen bestimmten Ausdruck. Formen mit ist worden,
die im Passiv das Perfektum als einen Vorgang der Vergangenheit
bestimmt bezeichnen, fehlen hier.
83. {sitzen, liegen^ steJiv, bleiben, sein,) 1. Noch sind
einige Verba zu erwähnen, die sich nicht wohl in die beiden
§ 83.] sein und haben bei sitzen, liegen^ stehen. 155
grossen Gruppen einfügen und manche Eigentümlichkeit zeigen.
Von besonderem Interesse wegen des Unterschieds zwischen
Süd- und norddeutschem Gebrauch sind die Verba liegen^
sitzen^ stehen (Paul S. 172). Diese Verba konnten sowohl
imperfektiv als Ruheverba gebraucht werden {— 1. cubare^
sedere, stare)^ als auch perfektiv zur Bezeichnung des Über-
ganges in die Ruhelage (= 1. cumbere, sidere, sistere), und
dieser doppelten Bedeutung entsprechend sollte man auch
doppelte Perfektbildung mit haben und sein erwarten. In der
Tat finden wir in der älteren Sprache auch beide Formen, doch
wird gewöhnlich auch bei imperfektiver Auffassung sin gebraucht.
z. B. Wh. 201,25 mit kilchenvarwem velle ivas er üf einer hackebanc
die naht gelegen (hatte er gelegen). Pass. K. 460, 31 dö si und ir
man ensamt gese^^en wären an der e ein ganzem jär. Parz. 589, 9
(eine Säule) s6 grö;^, froun Camillen sarc wcer drüfe ivol gestanden
(hätte wohl darauf gestanden, darauf stehen können); auch von
Luther, z. B. Jh. 11, 17 das er schon vier tage im grabe gelegen ivar.
Mc. 11,2 ein füllen, auf welchem nie kein mensch gesessen ist. Jer.
18,20 lüie ich für dir gesta72den bin. haben begegnet im Mhd. im
ganzen selten ; z. B. Reinmar MF. 152, 4 so ist mir also wol ze muote,
als der bt frouwen hat [BC, iiit E] gelegen. Parz. 563, 20 ich hän für
war hie gese^^en manic jär. Reim, von Zweter 60, 7 ich hän däbl
gestanden wnd gese^^en. In Stiddeutschland ist sein ganz all-
gemein geworden, so dass wie im Präsens so auch im Präte-
ritum dieselbe Form in beiden Bedeutungen gebraucht wird.
In Norddeutschland dagegen ist die perfektive Bedeutung und
mit ihr die Verbindung mit sein aufgegeben. Wir brauchen
die Verba nur als Ruheverba und bilden demgemäss ihr Perf.
mit hahefi.
Anm. 1. Da gelegen und gesessen zu den Partizipien gehören,
die von jeher rein adjektivisch g-ebraucht werden konnten (§ 77
Anm.), so konnten ist gilegan, ist gise^^an auch die Bedeutung*
eines imperfektiven Präsens, icas gilegan, gise^^an die Bedeutung
eines imperfektiven Präteritums haben (§ 73,4); z. B. Notker Ps. 8,2
(2, 20, 24) da;^ du da gise^^an bist ad dexteram patris = dass du da
sitzest. Nib. 325, 1 e^ was ein küneginne gesessen über s^ (sie sass
da, wohnte da). Iw. 89 ouch was gelegen däbt der zuhtlose Keit.
Auch wir brauchen die Worte noch adjektiviseh {gesessen freilich
nur noch in Kompositis wie angesessen, erbgesessen):, 'die Stadt ist
am Meere gelegen' und 'liegt am Meere' sind wesentlich gleich.
Mit dieser adjektivischen Bedeutung* der Partizipia war dann weiter
156 Zusammeng-esetzte Verbalformen der Yerg-angenheit. [§ 83.
die Möglichkeit gegeben, die Formen was güegari, was gise^^an im
Sinne eines imperfektiven Plusquamperfektums (= hatte gel., ges.)
zu gebrauchen, denn icas konnte wie jedes Präteritum ursprünglich
sowohl als Imperfektum wie als Plusquamperfektum gebraucht
werden. Dies Verhältnis mag dazu beigetragen haben, dass im
Oberdeutschen der Gebrauch von haben bei sitzen und liegen nicht
aufkam.
2. Für die Komposita ist der Gebrauch der Simplizia
natürlich nicht massgebend ; es kommt auf ihre eigene Be-
deutung- an. Zwar in Süddeutschland werden auch von ihnen
<iie zusammengesetzten Formen allgemein mit seiii g-ebildet,
mögen sie Bewegungs- oder Ruheverba sein; in Norddeutsch-
land dagegen haben sich beide Formen im ganzen mit regel-
rechter Unterscheidung erhalten. Bei den imperfektiven Ruhe-
verben brauchen wir haben : einem anliegen, einer' Sache obliegen,
aufliegen, ausliegen\ bevorstehen, dahinstehen, entgegen-, vor-., ivider-
zurückstehen\ bei den perfektiven Bewegungs verben sein: Der Reiter
ist aufgesessen, abgesessen:, er ist aufgestanden, auferstanden, es ist
eiitstanden. Doch sind bei einigen durch Verdunkelung der
ursprünglichen Bedeutung Verschiebungen eingetreten. Perfektiv
Avaren ursprünglich mhd. beiigen liegen bleiben (namentlich tot
beiigen), besitzen sitzen bleiben, gestän und bestän stehen bleiben;
nur das letztere hat sich erhalten, aber in wesentlich modifizierter
Bedeutung, und deshalb schliesslich die Verbindung mit sin auf-
gegeben. Im Mhd. gilt sin, z.B. Nib. 1066,3 b% im (dem Schatze)
wcere Kriemhilt hendeblög bestän. 2266, 4 alles mines tröstes des bin
ich eine bestän; ebenso noch im Nhd. Luther: bestanden ist das reich
nicht durch eigne Kraft: Lessing: tcie oft bin ich darauf bestanden:,
Goethe; die früher erwähnte Gesellschaft war noch im^ner bestan-
den:, jetzt brauchen wir haben. Denselben Wandel hat beistehen
erfahren, eigentlich 'einem beitreten', (mhd. gewöhnlich bi gestän);
zustehen = gebühren (eigentlich 'zu Teil werden, widerfahren').
Schwankend ist der Gebrauch bei anstehen (= zaudern) : er hat od.
ist angestanden (gewöhnlich sagen wir Anstand nehmen). Auch er
hat für ihn einge.standen ist nicht unerhört, und vielfach belegt:
er hat unterlegen (so auch Adelung).
3. bleiben (Paul 8. 169) war nach seiner ursprüng-
lichen Bedeutung- (kleben bleiben) ein perfektives Verbum und
kann auch in seinen jüngeren abgeleiteten Bedeutungen per-
fektiv gebraucht werden ; in unserer jetzigen Sprache nament-
lich neben Infinitiven: haften, hangen, hieben, steckeyi bleiben.
§ 83.] sein und haben bei bleiben und sein. 157
seltner neben einem nominalen Prädikat: übrig bleiben, Sieger
bleiben. Er blieb Sieger steht einem: Er wurde Sieger nahe
und im Schwedischen und Dänischen hat bleiben ganz die
Bedeutung- von werden angenommen. Im Deutsehen aber be-
zeichnet das Verbum gewöhnlich das Beharren in einem Zu-
stande, wird also imperfektiv aufgefasst: zu Hause bleiben,
unvermählt bleiben, sitzen bleiben; trotzdem bilden wir das
Perfektum nie mit haben. Dass der in der ursprüng-lichen Be-
deutung des Verbums wurzelnde Gebrauch von sein sich unbestritten
behauptet hat, dazu mag beigetragen haben, dass oft auch da, wo
das Verbum imperfektiv gebraucht ist, die Vorstellung veränderter
Verhältnisse im Hintergrunde steht. Wir brauchen bleiben oft da^
wo eintretende Umstände eine Änderung hätten erwarten lassen;
z. B. er blieb sitzen, wenn die Umstände ein Aufstehen hätten herbei-
führen sollen.
Anm. 2. Auch einige andere Ruheverba werden gelegentlich
als perfektive Verba aufgefasst und mit sein verbunden. An liegen,
sitzen, stehen reihen sich knien und hocken an (Paul S. 172), an
bleiben : kleben (a. 0. S. 178), hangen und stecken (S. 204), sowie be-^
verharren.
4. Eine sehr auffallende Erscheinung ist, dass das Verbum
sein trotz seiner imperfektiven Bedeutung im Hochdeutschen
stets mit sein verbunden ist (Paul S. 205). Wie bereits Grimm
(4, 169 f. Nachträge 1261) bemerkt hat, herrscht im An., Ags.,
Altfries, haben, ebenso im Mnd. und Mnl. Auch in md. Ge-
bieten ist es anfangs gar nicht so selten; vereinzelt kommt es
noch bei Luther vor. ich bin gewesen od. gesin hat seinen
eigentlichen Sitz im Oberdeutschen, hat dann aber auch im
Niederdeutschen und selbst in niederländischen Mundarten Fuss
gefasst. Die Möglichkeit zu dieser auffallenden Verbindung' war
damit gegeben, dass sie überhaupt jung ist; die Partizipia getvesen,
gewest, ge.stn sind junge Sprachschöpfungen, die das Ahd. noch gar
nicht kennt. Die zusammengesetzten Perfektformen, müssen wir
schliessen, entstanden erst zu einer Zeit, da im Sprachgefühl das
Moment, das zunächst den Gebrauch von haben und sein bestimmt
hatte, die Unterscheidung perfektiver und imperfektiver Aktionsart,
nicht mehr zur Geltung kam. Zu gunsten der Verbindung ich bin
gewesen entschied vermutlich der Umstand, dass das Verbum sein
so oft mit einem prädikativen Nomen verbunden wird. Sowohl in
den passiven Formen als bei den Verben des Werdens standen die
158 Zusammengesetzte Verbalformen der Vergangenheit. [§ 84.
Partizipia einem prädikativen Adjektivum nahe, und da hier sein
als Hülfszeitwort fungierte, trat es auch in die Verbindungen mit
sein ein. Das nächste Muster bot jedenfalls werden-^ wie er wird
gross, er ist gross neben einander stehen, so bildete man nach er
ist gross geworden auch: er ist gross gewesen.
Anm. o. Auffallend ist auch, dass trouraen im Mhd. fast immer
mit sin verbunden ist (Paul S. 181 f.), z. B. Nib. 1449, 3 mir ist ge-
troumet htnte von angestllcher not, wie alle^ da^ gefügele in dem
lande wcere tot. Im Nhd. hat das Verbum, das keiner der beiden
Hauptgruppen angehört, haben angenommen.
84. (Rückblick.) 1. Die intransitiven Verba stimmea
in der Bildung ihrer zusammengesetzten Formen bald mit dem
Passiv der transitiven überein, bald folgen sie dem Aktiv.
Die Scheidung hing zunächst davon ab, ob man sie perfektiv
oder imperfektiv auffasste. Dann aber verwischt sich dieser
Unterschied. Perfektive Verba verbinden sich, auch ohne dass
ihre perfektive Auffassung sich ändert, zuweilen mit haheriy
öfter imperfektive mit sein. Eine neue Anschauung zeigt sich
wirksam, sein verbindet sich mit Prädikaten, die auf das
Subjekt zurückwirken, eine Änderung des Ortes oder Zustandes
herbeiführen; haben mit solchen, die von jeder Rückwirkung
frei nur als Wesensäusserung des Subjekts aufgefasst werden.
Bei diesen findet also zwischen dem Subjekt und Prädikat
ein ähnliches Verhältnis statt wie beim Aktiv, bei jenen ein
ähnliches wie beim Passiv der transitiven Verba, und so ist
zu vermuten, dass die feste Unterscheidung der beiden Formen
bei den transitiven Verben die Änderung des Gebrauchs bei
den intransitiven geleitet hat. Aktivische Auffassung des Sub-
jekts förderte den Gebrauch von haben, passivische den Gebrauch
von sein. — Die Reflexiva, die in der Mitte zwischen
aktiven und passiven Verben stehen, folgen im Deutschen durch-
aus dem Aktiv, im Französischen dem Passiv.
2. Zu strenger Durchführung kam auch dieser Gesichts-
punkt nicht. Es gibt einige intransitive Verba, die ihre zu-
sammengesetzten Formen mit sein bilden, obschon das Subjekt
keine Änderung des Ortes oder Zustandes erfährt, und um-
gekehrt. Denn wenn auch die Sprache darnach strebte, die
§ 85.] sein im Aktiv transitiver Verba. 159
zusammengesetzten Formen der Transitiva und Intransitiva
tibereinstimmend zu gestalten, so blieb doch immer ein deutlich
gefühlter Unterschied bestehen, wie sich darin zeigt, dass die
neue passivische Perfektbildung mit ist worden den Intransi-
tiven nicht zuteil wurde.
Anm. Im ganzen hat die Entwickelung der Sprache dazu
geführt, dass sein öfter über seine natürlichen Grenzen vorgedrungen
ist als haben', ganz besonders weit geht die Baseler Mundart. Binz
(Zur Syntax der Baselstädtischen Ma. S. 70) gibt an, dass die Verba,
welche die Ruhe an einem Ort ausdrücken, das Perf. mit si bilden. Man
sagt: i bi irn Heu gschlofe, si sind im klai Basel gewohnt \ nur wenn
eine Ortsbestimmung nicht hinzugefügt ist, wird haben bei schlafen
und wohnen gebraucht (Paul S. 205). — Umgekehrt fehlt es in der
Übergangszeit vom Mhd. zum Nhd. nicht an Verbindungen mithaben,
die von der Hauptrichtung der Sprachentwickelung abweichen.
(Paul S. 193). Der Festsetzung eines Sprachgebrauchs geht natur-
gemäss ein Zustand der Unsicherheit und des Schwankens voran.
sein im Aktiv transitiver Verba.
85. 1. In den zusammengesetzten Formen der transi-
tiven Verben sind haben und sein im allgemeinen scharf ge-
sondert; sie verlangen im Aktiv haben, im Passiv sein. Aber
bei Partikelkompositis, die von intransitiven Verben der Be-
wegung gebildet sind, finden sich nicht selten Ausnahmen
(Paul S. 206).
Dass intransitive Verba in der Komposition transitiv
werden, setzt im allgemeinen untrennbare Komposition voraus
und solche untrennbaren Komposita werden zunächst mit den
Partikeln gebildet, die zu unbetonten Vorsilben geworden sind;
z. B. einen Vorteil erschleichen, ein Fest begehen, viel Geld
verreisen etc.; dann aber auch mit Partikeln, die sich als
selbständige Wörter erhalten haben; z. B. ein Land durch-
reisen, durchlaufen, durchstr eichen y durchwandern; umgehen,
umfahren; übergehen, hintergehen. Die Verba der ersten
Art bilden ihr Perfektum immer mit haben, und haben kommt
von rechtswegen auch den andern zu; doch finden sich einige
von ihnen auch bei guten Schriftstellern hin und wieder mit
sein verbunden; z. B. von dort aus bin ich Frankreich hi zwei
Richtungen durchreist (H. Kleist). Er ist diese Länder nicht durch-
160 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 85.
flogen (Fichte). Ich hiii die Stadt umfahren und umgangen (Goethe).
Er mag die übrigen um so viel eher übergangen sein (Lessing).
2. Dass Intransitiva, die iin feste Zusammensetzung mit
einer Partikel eingegangen sind, transitiv werden, ist im all-
gemeinen selten^ aber nicht ausgeschlossen. Namentlich für
Verbindungen mit an ist der Gebrauch schon früh bezeugt.
Wir brauchen so anfallen, angehen, anwandeln, eingehen,
einschlagen, also Verbindungen mit an und ein. Diesen Ver-
bindungen, in denen das Verbum seine Selbständigkeit be-
hauptet, gebührt von rechtswegen sein\ aber der Einfluss der
übrigen Transitiva hat daneben haben zur Geltung gebracht,
bald mehr bald weniger. Er hat od. ist mich um Geld ange-
gangen. Eine üble Laune hat od. ist ihn angeivandelt. Wir pflegen
zu sagen : Er ist eine Wette, Verpflichtungen eingegangen (notwendig
natürlich: Er ist darauf eingegangen); aber Goethe schreibt ein-
mal: Sie haben einen Wettstreit eingegangen. Umgekehrt pflegen
wir zu sagen : Er hat einen Weg eingeschlagen ; aber Lessing schreibt :
ob ich nicht viel lieber einen anderen Weg eingeschlagen iväre.
Durchaus notwendig ist uns haben bei anfallen (aggredi); aber
Trist. 1396 ouive nü minne und ouwe ma7i\ loie stt ir mich gevallen
an mit so maneger arebeit; und in anderem Sinn 5213 die stete und
diu kastei diu in wären angevallen von stnen vordem allen (Gr. 4, 165).
Anm, 1. Auch Beispiele für den transitiven Gebrauch anderer
unfester Zusammensetzungen finden sich, namentlich mit durch:
durchgehen, -wandeln., -tcandern, -laufen u. a. oft auch einen vorbei
od. vorübergehen-, aber der Gebrauch widersteht uns. Er ist mich
vorbeigegangen:, icir sind das ganze Land durchgewandert ist dem
Sprachgefühl fast ebenso wenig gemäss, wie er hat mich vorbei-
gegangen, wir haben das ganze Land durchgewandert. Nicht das
Hülfszeitwort erregt den Hauptanstoss, sondern der transitive Ge
brauch. — Gemeingültig ist: Der Lehrer geht mit den Schülern die
Arbeit durch; das Perf. bildet man bald mit sein, bald mit haben.
Anm. 2. Verbindungen wie : Er ist drei Meilen, drei Stunden
gegangen; ich bin den Weg schon oft gegangen; er ist die neue
Strasse gefahren, geritten widersprechen der Regel nicht; denn die
Akkusative, die Raum und Zeit bezeichnen oder das Terrain, über
das sich die Bewegung erstreckt, sind keine Objekte. Auch ich
bins vergessen ist keine Ausnahme von der Regel; denn 1. ist es
hier nicht Akk., sondern Gen. und 2. ist vergessen als Adjektiv an-
zusehen (vgl. ehr-, Pflicht-, gottvergessen; § 59, 3).
§ 86.] Der Infinitiv statt des Part. Prät. 161
Der Infinitiv statt des Part. Prät.
86. 1. Wir sagen ich habe gekonnt, aber nicht: Ich
habe dich sehen gekonnt, sondern: Ich habe dich sehen können^
statt des Partizipiums brauchen wir den Infinitiv. Dieser
'Ersatzinfinitiv' ist uns nur bei den Verben geläufig, die den
blossen Infinitiv regieren: bei den Präterito-Präsentia ausser
loissen, also bei können, mögen, dürfen^ sollen, nfiüssew, dann
bei loollen und lassen', bei helfen, heissen; sehen, hören, fühlen'^
lernen und lehren. Auch tun und machen konnten so gebraucht
werden: Wir haben nach dir schicken tun (H. Sachs). Ihr
habt mich weidlich schwitzen machen (Goethe); doch pflegen
wir die Verbindung dieser Verba mit dem Infinitiv zu ver-
meiden (§61, 4). — Neben dem Infinitiv mit zu lassen wir den
Ersatzinfinitiv nur allenfalls bei brauchen zu, das sich durch seine
Bedeutung den Präterito-Präsentia anschliesst (vgl. namentlich dürfen),
nach weit verbreitetem mundartlichem Gebrauch auch mit dem blossen
Infinitiv verbunden wird und sogar die Form der Präterito-Präs.
annimmt: 'Das brauch{t) er nicht {zu) tun. Das hätte er nicht {zu)
tun brauchen'. In der älteren nhd. Literatur findet sich auch der
Infinitiv von ivi.ssen., pflegen, anfangen, z. B. so hat man unsere
Mu.'ien zu malen pflegen (Opitz). Hat Rom, sein siebenbergicht Haupt
sonst nirgends hinzulegen tcis.sen (Lohenstein). In noch weiterem
Umfang*, selbst bei Verben, die ihr Perfektum mit sein bilden, erkennt
das Ndl. diesen Gebrauch an, z. B. Hij heeft dat trachten te doen.
Hij is blijven .^itaan. Hij is gaan bedelen. Den übrigen ger-
manischen Sprachen ist er fremd.
2. Im Hochdeutschen reichen die ersten Spuren des Ge-
brauchs nicht über das 13. Jh. zurück: Trist. 6801 durch
welchen list hast du da^ schif sus lä^en gän. 16341 si
hcete im heilen machen ein uninneclicheg hüselin. Gudr.
637,3 ich hän des hoeren jehen. Rabensch. 98,4 ir habt
ej oße hoeren sagen, wozu Martin aus einem mittelrheinischen
Gedichte des 14. Jh. vergleicht: Ich hän si hören nennen.
Das hän ich von eme hören jen.
3. Den Ursprung dieses eigentümlichen Gebrauchs ver-
mutete Grimm nach Lachmanns Vorgang in der irrtümlichen
1) Gr. 4, 168 f. Erdm. § 153. Wunderlich 1, 240 f. Blatz 2, 612 f.
Merkes, Beiträge zur Lehre vom Gebrauch des Infinitivs (Leipzig
1896) S. 31 f. AfdA. 23, 249 f. 29, 29 f. G. Maier ZfdW. 1, 304 f.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik III. H
162 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 86.
Auffassung- partizipialer Formen. In Sätzen wie er hat in
komen län, er hat in heilen Jcomen seien län und heizen
eigentlich Partizipia ohne ge- (Gr. 2, 847. Whd. § 373), die
man als Infinitive aufgefasst habe. Diese Erklärung ist öfters
angezweifelt, aber wie die Ausführungen G. Maiers (ZfdW.
1, 304 f.) zeigen, mit Unrecht. Man muss nur bedenken, dass
die Konstruktion in einer Zeit aufkam, da die Unterdrückung
der Vorsilbe ge- bereits weit verbreitet war, und dass dadurch
nicht nur bei den drei Verben lassen, heissen, sehen, sondern
auch bei wollen und den Präterito-Präsentia Infinitiv und
Partizipium zusammenfielen. Denn als das Bedürfnis genauerer
Tempusunterscheidung auch bei diesen Verben zur Bildung-
zusammengesetzter Zeitformen führte, wurde das Part, zunächst
sowohl stark als schwach, mit und ohne ge- gebildet {geiüollt
und gewolleny mocht und gemögen, dorft und gedoj^fen), ohne
ge- namentlich da, wo sie als Hilfszeitwörter vor dem Infinitiv
standen. Dass diese Scheininfinitive dann als wirkliche Infini-
tive aufgefasst wurden und andere Verba wie helfen, hören,
lehren, lernen, die wie jene den blossen Infinitiv regierten,
nach sich zogen, ist begreiflich. In der Infinitivform des ab-
hängigen Verbums fanden die Scheininfiuitive eine natürliche
Stütze. Nur in dieser Verbindung haben sich die starken
Partizipia der Prät.-Präsentia gehalten.
4. Zur Alleinherrschaft ist der Infinitiv nicht gekommen;
am festesten wurzelt er bei den Prät.-Präs. und bei wollen.
Wenn man von persönlichen Liebhabereien einzelner Autoren
absieht, die, wie Rückert, den Infinitiv geflissentlich meiden,
erscheint er in der Literatur des 18. und 19. Jh. durchaus
als das Normale. Auch bei lassen brauchen wir fast immer
den Infinitiv; nur wo es in seiner ursprünglichen Bedeutung =
^loslassen' steht, lassen wir uns das Part, gefallen, nicht aber
wo es die Bedeutung von 'zulassen, bewirken' hat. In dem
Satze: Die Mutter hat ihr Kind taufen lassen ist der Inf.
notwendig; in dem Satze : Sie hat es fallen lassen würde auch
gelassen angehen. Nicht so entschieden herrscht der Infinitiv
bei den übrigen Verben, bei helfen, heissen etc. und unver-
kennbar ist die Neigung zur einen oder andern Form bei den
■§ 87.] Partizipium Präteriti in zusammengesetzten Iiifinitivformen. 163
einzelnen Verben nicht gleich stark; (vgl. AfdA. 23,252). In
passiven Konstruktionen braucht man den Infinitiv nie; vgl.
Man hatte alle Bedenken fallen lassen : Alle Bedenken waren
fallen gelassen.
Anm. Mit der eigentümlichen Konstruktion verbinden sich
Eigentümlichkeiten in der Wortstellung. Ursprünglich ging, wie es
scheint, der regierende Infinitiv immer dem abhängigen voran. So
in allen mhd. Beispielen, die oben angeführt sind, und so auch noch
oft im älteren Nhd. ; z.B. Luther: kein Turck het Welschlandt so
mugen vortei^ben-^ wir würden sagen: 'Kein Türke hätte Wälschland
so verderben können'. Die ältere Stellung lassen wir namentlich
dann noch zu, wenn der abhängige Infinitiv zusammengesetzt, oder
auch, wenn er durch andere Satzglieder näher bestimmt ist: das
Haus hätte können verkauft werden. Er hätte vor Schrecken mögen
in die Erde sinken. Das gewöhnliche ist aber, dass der regierende
Infinitiv an das Ende tritt. Diese Endstellung behauptet nun der
Ersatzinfinitiv auch im Nebensatz, der sonst dem Verbum finitum
die letzte Stelle einräumt. Wir können nicht sagen: Wenn ich ihn
sehen können hätte, sondern nur: Wenn ich ihn hätte seheyi können.
Ebenso wenn das Hülfszeitwort haben selbst im Infinitiv steht: Er
lüird. ihn haben sehen können^ nicht: Er wird, ihn sehen können
.haben. Und mit diesem Inf. Perf. verbindet sich die weitere Eigen-
tümlichkeit, dass die Präp. zu immer vor dem Ersatzinfinitiv steht,
nicht, wie sie von rechtswegen sollte, vor haben. Der Niederländer
sagt richtig": Ik geloof het te hebben kunnen doen; wir können
weder: Ich glaube es zu haben können tun sagen, noch: Ich glaube
es tun können zu haben:, sondern: Ich glaube es haben tun zu
können. Er scheint ihn nicht haben sehen zu können. Ich freue
mich ihn habeii begrüssen zu dürfen etc.
Partizipium Präteriti in zusammengesetzten Infinitivformen.
87. (Der Infinitiv Passivi.)^) 1. Da das germanische
Verbum für den Infinitiv nur eine Form hatte, konnten an
ihm die Unterschiede des Genus und Tempus nicht ausgedrückt
werden. Wir empfinden und brauchen ihn in der Regel als
^ine aktive präsentische Form, und so war es auch schon im
Gotischen. Trotzdem kann er in gewissen Fällen dazu dienen,
einen lat. oder gr. Infinitiv Passivi wiederzugeben ; z. B.
Lc. 8, 55 anabaud izai gihan mat, er gebot ihr Speise zu
1) Gr. 4, 57 f.
164 Zusammengesetzte Verbalform en. [§ ST.
geben, bieiaEev auxrj boGfivai qpaYtiv. Lc.2, 1 urrann gagrefts,,
gameljan allana midjungard, i^lveio boTjua dTrofpdqpeaOai
iräcTav xrjv oiKOujuevTiv. Denn da der Infinitiv in diesen Satzes
auf ein unbestimmtes persönliches Subjekt bezogen ist (§ 68),
gewinnt er den Wert einer passiven Form, die ja gleichfalls
eine Handlung ohne Rücksicht auf das handelnde Subjekt
ausdrückt (§ 150,2): er gebot, dass man ihr Speise gehe =
dass ihr Speise gegeben würde.
2. Infinitive Passivi, die sich auf ein bestimmtes Subjekt
beziehen, musste der Gote auf andere Weise wiederzugeben
versuchen. Zuweilen bot sich ihm ein passendes intransitives
Verbum dar, z. B. Lc. 9, 22 usqiman für diTGKTavGfjvai, 2 Kor. 10, 15
mikünan für laeYaXuvGfivai, 1 Kor. 7, 9 intundnan für irupouaGai. Ge-
legentlich hilft auch das Reflexivum aus: Lc. 6, 17 qemun hailjan
sik, r|X9ov iaOfivai. Öfter braucht er statt des Infinitivs einen Satz,
z. B. Gal. 2, 17 sökjandans ei garaihtai dömjaindau, Z;riToOvT€<; hx-
Kaiuuefivai. Zuweilen, aber nur selten, wendet er dieümschreibung
mit ivairpan an; z. B. Lc. 9, 22 skal sunus maus . . uskusans
fram sinistam loairpan, bei tov uiov toO dvGpuuTTOU diroboKi-
juacrGfjvai dirö tujv Ttpecf ßuxepuuv ; nur einmal, in der Unterschrift
des ersten Korintherbriefes, die mit wisan (ZfdPh. 5, 419f.).
3. An manchen Stellen ist der Infinitiv doch auch in
passivischer Bedeutung gebraucht, dh. so, dass das Subjekt
oder Objekt des regierenden Satzes, auf das er bezogen wird,
nicht Subjekt sondern Objekt der Infinitivhandlung ist; z. B
Lc. 2, 5 urrann pan Jös^f anatneljan mip Mariin, dveßr] d-TTOYpdcpea-
Gai; Lc. 5, 15 garunnun hiuhmans managai hausjön Jah leikinön,
auvyipxovTO öxXoi iroWoi dKoueiv kqi GepaireuGaOai, wo aktiver und
passiver Infinitiv neben einander stehen; 1 Kor. 11,6 agl ist qinön
du kapillön, aiaxpöv yuvaiKl tö KCipaöGai. Mc. 9, 45 göp pus ist ga-
leipan in lihain haltornma pau ticans fötuns habandin gaivairpan
in gaiainnan, ßXriGqvai eic; Tr\v jeevvav. Auch der Infinitiv mit du:
Mt. 26, 2 sa sunus mans atgibada du ushramjan eic; tö öTaupuuGfjvai.
Ja es kann solchen Infinitiven der oblique Kasus hinzugefügt
werden, durch den neben dem Passiv die handelnde Person
bezeichnet zu werden pflegt, der Dativ oder die Präposition
fram\ z.B. Mt. 6, 1 atsaihip ormaiön ni taujan in and.icairpja
manne du saihan im, Trpöc; tö GeaGfivai auToiq. Lc. 16, 22 warp pan
gasiüiltan pamma unledin jah briggan fram ag gilu7n, efiveio
].] Der passive Infinitiv im Hochdeutschen. 165
he dTToGavelv Kai ctTrevexOnvai uttö tOuv äj-i4Xujv. Einmal sog-ar neben
dem transitiven Objekt: 2 Kor. 1,16 tvilda frani izwis gasandjan
mik, 6ßouX.ö|uriv uqp' ufiüüv Trpo7Te|uq)0fivai. Aber solche Konstruktionen
sind eher als Notbehelfe des Übersetzers anzusehen, als dass
daraus zu schliessen wäre, dem gotischen Infinitiv sei noch
die unbestimmte, aktiver und passiver Auffassung gleich zu-
gängliche Bedeutung eines Nomen actionis eigen gewesen.
Geläufige Verbindungen mit passivem Infinitiv sind mahts im,
skulds im giban = possum, debeo dari neben mag, sJcal gihan
possum, debeo dare. Aber die Unterscheidung zeigt auch
hier, dass der Infinitiv an sich zu passiver Bedeutung nicht
geeignet war.
88. (Der passive Infinitiv im Hochdeutschen.) 1. Dass
im Gotischen eine geläufige Umschreibung für den Infinitiv
Passivi fehlt, hängt jedenfalls damit zusammen, dass eine
solche auch für die finiten Präsensformen noch nicht aus-
gebildet war (§74 f.); im Hochdeutschen sind schon in den
ältesten Denkmälern Umschreibungen mit loesan und werdan
belegt, z. B. keunfrewlt wesan, chiboran werdhan etc. Doch
scheinen sie erst allmählich geläufig zu werden. Zwar bei
den Übersetzern finden wir sie oft, aber bei Otfried kommt
nur zweimal ein Infinitiv Pass. vor: 2, 3, 20 wio mag tha^ sin
firlougnit\ 3, 14, 38 thiu selba dät sin ni mohta tliö firJiolan
sin. — Eine genaue temporale Unterscheidung der beiden
Formen ist im Tatian noch nicht durchgeführt, werdan c.
Part, hat natürlich immer die Bedeutung des Inf. Präs.; in
demselben Sinn begegnet aber oft auch toesan c. Part. z. B.
c. 112,2 mugut ir gitoufit wesan, potestis baptizari; c. 90, 4
gilimflt inan arslagan wesan, oportet eum occidi; c. 145, 1
thanne thisu ellu biginnent gientöt wesan, cum haec omnia
incipient consummari. Dagegen braucht Notker beide Formen,
und zwar sehr oft, in derselben Bedeutung wie wir, werdan
um auf eine Handlung der Gegenwart oder Zukunft, wesan
um auf eine Handlung der Vergangenheit hinzuweisen. Neben
sein c. Part, trat dann später den Formen des Verb, finitum
entsprechend noch worden sein. Aber obschon nun Passiv-
166 Zusammen j^esetzte Verbalformen. [§ 88.
formen des Infinitivs zu Gebote stehen, wenden wir sie doch
nicht in allen Fällen an^ wo wir ihn passivisch auffassen
oder auffassen können. Der Grund liegt in dem vorhin er-
wähnten Verhältnis des auf ein unbestimmtes persönliches
Subjekt bezüglichen Infinitivs zum Passivum.
2. Passivische Auffassung dieses unbestimmten Infinitivs
macht sich besonders nach den Verben lassen, heissen, sehen,
hören geltend. Selbst Objekte die von ihm abhängen, hindern
die passivische Auffassung nicht; z. B. Wie hörten sprechen.
Ich sah die Tür öffnen. Er Hess die Tür sprengen. Und
dieser Bedeutung gemäss kann dann wie schon im Gotischen
das Subjekt des Infinitivs durch die beim Passiv üblichen
Präpositionen bezeichnet werden; z. B. Nib. 987, 2 7iü lä^e e^ gof
errechen von stner friunde hant (nur A, {noch) sine?^ die übrigen
Hss.); Bit. 70 Tnan vernaTn nie von tumben noch von ivtsen ein
frouive ba$ geprtsen. Wir Hessen die Tür durch deii Schlosser
öffnen. Von tvem hast du das erzähleri hören u. ä. Ja, wir
wenden diese Konstruktion oft sogar lieber an als die aktive,
in der die handelnde Person durch den Akk. bezeichnet ist.
Parz, 235, 26 heisst es: die sich der gräl tragen lie^] wir würden
lieber sagen : Von der der Gral sich tragen liess'. Ebenso Parz. 809,11
sich lie^ der gräl die selben tragen eine. Nib. 1163, 4 da^ si sich
den recken überreden müese län. Winsb. 9, 5 lä dich niht über g an
den wtn und so auch sonst, wo von dem Infinitiv ein persönliches
Objekt abhängt; (Beispiele in Gr. 4,630). Aber trotz dieser deut-
lich empfundenen passiven Bedeutung behauptet der Infinitiv
seine einfache Form. Zwar bei den altdeutschen Übersetzern
begegnen hin und wieder Zusammensetzungen (Gr. 4, 62 A.l);
aber sie klingen uns ungewöhnlich und meist unerträglich.
Wir hörten gesprochen loerden; er liess die Tür gesprengt
werden sagt niemand. Nur bei lassen sind in gewissen Ge-
brauchsarten Passivformen üblich: Walther 79, 20 lä einen stn gebojm
von küneges rippe, lass einen von einem Könige gezeugt sein
(concessiv). Homer lässt den Odysseus erschlagen werden (Erdm.
§ 136).
3. Auch bei anderen Verben neigen wir wohl zu passi-
vischer Auffassung des abhängigen unbestimmten Infinitivs;
z. B. Parz. 225, 29 bit die brücke iu niderlä^en. Nib. 252, 1
ir Schilde behalten man dö truoc (Gr. 4, 101). Doch ist sie
§ 88.] Der passive Infinitiv im Hochdeutschen. 167
hier weniger stark und gestattet nicht, das Subjekt der Hand-
lung durch eine präpositionale Verbindung zu bezeichnen.
Man sagt wohl: jE^r befahl anzuspannen = dass angespannt
werde, aber nicht: Er befahl vom Kutscher anzuspannen.
4. Die von Adjektiven abhängigen Infinitive mit zu be-
haupten im allgemeinen aktive Bedeutung, auch wenn wir den
Dativ, der das Subjekt des Infinitivs bezeichnet, fortlassen,
z. B. Es ist {mir) nicht leicht, darüber zu sprechen', es war
{mir) erfreulich, ihn so munter zu sehen-, es fällt {mir)
schiüer, ihn zu ertragen. x\ber das Verhältnis ändert sich
und passivische Auffassung tritt ein, wenn das Adjektivum
auf ein Substantivum bezogen wird, das zugleich Objekt der
Infinitivhandlung ist (§ 72 A. 1); z.B. Genesis 698 da^ obe^ was
^rltch, an ze sehenne zierlich. Alex. 4032 da^ wcere ungeloubltch
iemanne ze sagene. MF. 181, 12 da^ sol niht senfte nü z'erwerben
stn. Aktivisch: Es ist schioer den Text zu entziffern', passi-
visch: Der Text ist schwer zu entziffern. Doch kann auch
hier das Subjekt der Handlung nicht durch die beim Passiv
üblichen präpositionalen Verbindungen bezeichnet werden.
Höchstens durch den Dat. com. oder durch die Präp. für, also
durch Formen, durch die das Subjekt der Handlung beim Passiv
nicht ausgedrückt wird, kann auf das Subjekt hingewiesen werden,
z. B. Parz. 657, 6 doch sint diu selben mcere mir ze sagene un-
gebcere. Nib. 276, 2 da^ er an ze sehenne den frouwen wcere guot.
In solchen Sätzen tritt dann die passive Bedeutung des Infinitivs
wieder zurück,
5. Noch entschiedener gilt passive Auffassung für die
Infinitive mit zu, durch die wir neben manchen Verben be-
zeichnen, dass etwas geschehen kann oder muss (§ 70, 6). In
der jetzigen Sprache schliessen sie sich namentlich an es ist
{steht, bleibt): Es ist od. steht zu erwarten, ist nicht zu
sagen, nicht auszuhalten, oder mit bestimmtem Subjekt, das
zugleich Objekt des Infinitivs ist: Er ist hart zu tadeln;
sein Übermut ist nicht zu ertragen; eine schwere Pflicht ist
od. bleibt dir noch zu erfüllen. Überall behauptet sich die
reine aktive Form.
168 Zusammeng-esetzte Verbalt'ormen. [§ 89.
89. (Infinitiv Perf. Akt.)^) 1. Da die germanischen
Sprachen i^einen Infinitiv Präteriti hatten, musste entweder
der zum Präsensstamme gehörige Infinitiv auch die Funktion
des Inf. Prät. erfüllen, oder es musste, wenn das Zeitverhältnis
zwischen dem abhängigen Verbum und dem regierenden Satz
überhaupt bezeichnet werden sollte, statt des Infinitivs ein
abhängiger Satz genommen werden. Das letztere ist das
gewöhnliche, aber auch das andere wird im Ahd. nicht ge-
mieden; z. B. Tat. 60, 6 th wei^ megin fon mir u^ gangan =
novi virtutem de me exisse; ebenso 0. 3,14,36 th irJcanta
tJiia Tiraft faran fona mir. N. Boeth. 1,5,5 wer zwtvelöt
Romanos wesen allero richo hevren, quis nesciat Romanos
omniuni rerum dominos fuisse etc. Während im Passiv die
beiden Hülfszeitwörter werdan und wesan früh ein Mittel
gaben, den Inf. Präs. und Perf. zu unterscheiden (§ 87, 3),
werden die zusammengesetzten Formen des Aktivs erst geraume
Zeit, nachdem sie für das Verbum finitum üblich geworden
waren, zur Bildung eines Inf. Perf. gebraucht. Zuerst erscheinen
solche Formen bei Notker, vermutlich nicht ohne Einfluss des
Lateinischen (vgl. §66,1), z.B. Boeth. 1,35,3 zigen si mih
pesmi^^en haben, mentiti sunt polluisse me u. a. Wie weit
sie aber dem gemeinen Sprachgebrauch gemäss waren, ist
schwer zu bestimmen. Oft werden sie jedenfalls nicht ge-
braucht sein. Denn in den Verbindungen, in denen der Infinitiv
am festesten und ohne Konkurrenz mit abhängigen Sätzen
wurzelt, pflegt er eine vorangegangene Handlung überhaupt
nicht zu bezeichnen, so dass hier der Anlass fehlte, die Formen
zu bilden. Daraus erklärt sich einmal, dass wir den zusammen-
gesetzten Infinitiv in den ältesten mhd. Gedichten gar nicht
finden, sodann, dass er in der Blütezeit der höfischen Dichtung
vorzugsweise in Verbindungen erscheint, in denen er eigentlich
unberechtigt oder entbehrlich ist.
2. Am häufigsten finden wir den Inf. Perf. nach den
Verben m.ac, sol, kan, tar, darf, muo^, wil, besonders nach
1) Gr. 4, 170 f. 1263. Wunderlich 1, 241 f. Paul § 298. Blatz
2,545. 614. Braune, PBb. 25, 31 f. Cordes, Nie. von Basel. §241
(S. 95 f.). Berger zu Orendel 1252 u. a.
§ 89.1 Infinitiv Perf. Akt. 169
dem Opt. Prät., wenn dieser in irrealem Sinne auf die Ver-
gangenheit zu beziehen ist ; z. B. Parz. 404, 30 von Veldeke der
wtse mari der künde se ba^ gelobet hän^ der hätte sie besser loben
können. Trist. 3660 ir dorftet mich niht häfi gemant so verre^ hättet
mich nicht zu mahnen gebraucht. Nib. 792, 2 du niöhtes wol gedaget
hän und ivcer dir ere liep, du würdest geschwieg'en haben, wenn
dir deine Ehre lieb wäre, also zur Umschreibung* des Konditional.
Ebenso Nib. 1242, 2 genuoge ü^ Beierlande, soldens hän genomen
den raup üf der strafen . . s6 heten sie den gesten da getan vil
llhte leit. 1518, 1 er wolde sin genesen^ ob im ieman hülfe, er würde
mit dem Leben davong'eUomnien sein, wenn ihm jemand geholfen
hätte. In allen diesen Sätzen bezieht sieh die Aussage auf
die Vergangenheit, aber die Vergangenheit hätte von rechts-
wegen nicht an dem Infinitiv, sondern an dem regierenden
Verbum ausgedrückt werden sollen. Dass es nicht geschah,
ist darin begründet, dass diesen Verben das Part. Prät. und
infolge dessen die zusammengesetzten Zeitformen fehlten. Im
Ahd. steht in solchen Sätzen ganz mit Recht der Inf. Präs.; z. B.
O. 8, 19, 27 ni wolt er iviht thes sprechan, thoh er sih mohti rechan
(obwohl er sich hätte rächen können), si duan ouh ob er uolti (wenn
er gewollt hätte) innan abgrunti. Die zusammengesetzten Infini-
tivformen erscheinen in diesen Konstruktionen erst etwa seit
der Mitte des 12. Jh. 's. In der Wiener Genesis und im Vorauer
Alexander findet sich noch kein Beispiel; wohl aber in der
Kaiserchrouik. In den Nibelungen und der Kudrun überwiegt
noch der alte Gebrauch, bei Hartman dagegen der neue. —
Dass man später, als man die abnorme Konstruktion änderte, einer
neuen Abnormität verfiel, indem man in dem zusammengesetzten
Präteritum dieser Verba statt des Partizipiums oder neben ihm
den Infinitiv brauchte (er hätte lohen können st. gekonnt)^ ist oben
(§ 86) bemerkt.
3. In andern Verbindungen mit denselben Verben ist der
Inf. Perf. gebraucht, weil es dem Redenden nicht darauf ankam
die Handlung, sondern das Ergebnis der Handlung zu bezeich-
nen, also aus demselben Grunde, aus dem in Forderungs- und
Absichtssätzen die Perfektformen gebraucht wurden (§ 75, 5. 99).
Besonders häufig ist dieser Gebrauch nach wollen-^ z.B. Nib,
1785,3 wolt ir släfende uns erm,ordert häuf wollt ihr uns im Schlaf
ermorden? 1017,1 dö der künic Sigemunt wolle sin geriten. 1775,4
die Kriemhilde man wolden an den gesten schaden gerne hän getan.
170 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 89.
1830, 3 si wolden Volkeren ze töde erslagen liän. Aber auch nach
andern Verben begegnet er; z.B. Nib. 14,4 du muost in schiere
vloren hän\ Walther 79, 32 swie gerne ich in behalten hcete, da^ ich
in muoste hdn verlorn. Auch nach Id^en: Mauritius von Craun 1485
Idt in sus niht haben verlorn. Und im Passiv: Iw. 4322 und wi^^et^
da^ ich iemer teil den ivillen für diu werc hdn : ir sult der rede sin
erlän. 5408 ouch ensparten si Up noch den muot : soltens davon
stn behuot, si wären teerhaft genuoc (Gr. 4, 15 f.). Wir pflegen den
Inf. Perf. nur zu gebrauchen, wenn wir mit besonderem Nach-
druck auf den Vollzug der Handlung hinweisen wollen {ich
wollte das einmal deutlich ausgesprochen haben); aber in
Mundarten, z. B. hier am Rhein, ist er auch sonst sehr be-
liebt; ich wollte Sie gestern Abend besucht haben u. ä.
4. Temporale Bedeutung dagegen hat der Inf. Perf. in
Sätzen wie Nib. 914, 4 C der sol hdn gewunnen, den man siht ze
vorderst stän] hier wird die durch den Inf. bezeichnete Hand-
lung als vorangegangen vorausgesetzt; der vorderste gewinnt
nicht, sondern hat gewonnen. Ebenso in Dietrichs Totenklage
Nib. 2259, 1 Oive, lieber Wolfhart, sol ich dich hdn verlorn, so mag
mich balde riuwen, da^ ich ie wart geborn. Walther 79, 20 lä einen
stn geborn vo7i küneges rippe. — In der jetzigen Sprache steht nach
den Prät.-Präs. und nach wollen oft ein Inf. Perf. mit Vergang-en-
heitsbedeutung; aber diese Verbindungen beruhen meist auf jüngerer
Bedeutungsentwickelung der regierenden Verba. Er will = er be-
hauptet; z.B. er will ih7i gesehen haben = er behauptet, ihn ges. zu
liaben; er soll = man sagt; er muss = die Verhältnisse zwingen zu
der Annahme; er kann = die Verhältnisse gestatten die Annahme;
es dürfte = es ist zu vermuten.
5. Bisher sind nur Verbindungen in Betracht gezogen,
in denen das regierende Verbum notwendigerweise in einem
Infinitiv seine Ergänzung findet und nur durch die zusammen-
gesetzte Form des Infinitivs das Zeitverhältnis bezeichnet
werden kann. Wir finden sie aber auch in andern; z. B. Nib.
914, 4 dem, sol man jehen danne, den man sihet gewunnen
hdn, wo sich das Zeitverhältnis an dem regierenden Verbum
hätte ausdrücken lassen: den man sach geu'innen, den man
hat gewinnen sehen. Oder in Verbindungen, in denen statt
des Inf. ein Satz mit da^ hätte gebraucht werden können;
z. B. Walther 52, 30 ob ich da enzwischen loben muoz, sä
woßne ich me beschouwet hdn. Bari. 204, 39 der hünic sich
§ 90.] Partizipium Präsentis in zusammengesetzten Zeitformen. 171
noch tüol versach den besten rät hän vunden. Pass. 16, 26
er dähte alsus sin ere verloren häii. Die Verbreitung des
zusammengesetzten Infinitivs in solchen Fällen ist noch genauer
zu untersuchen. Das Gebiet des Inf. Präs. deckt sich nicht
ganz mit dem des zusammengesetzten Inf. Perf. Wir sagen:
Ich sah ihn lommen, aber nicht ich sah ihn gelcommen sein,
sondern dass er gekomme?! war. Ich sah ihn fesseln (passivisch),
aber nicht ich sah ihn gefesselt sein, sondern dass er gefesselt
war, oder mit dem Part. Ich sah ihn gefesselt (vgl. § 61. § 72
Anm. 3).
6. Der Gebrauch eines Infinitiv Perf. nach zu ist aus der
mhd. Literatur überhaupt noch nicht nachgewiesen; die ur-
sprüngliche Bedeutung der Präposition vertrug sich nicht mit
einem Inf. Perf. Jetzt ist sie vergessen; auch neben zu können
wir, wenn es der Sinn des Satzes gestattet, den Inf. Perf.
brauchen; ebenso nach ohne zu, anstatt zu. Dem Gebrauch
des Infinitivs überhaupt ist dadurch wesentlich Vorschub ge-
leistet; denn die Stütze, welche die abhängigen Sätze in ihrer
Konkurrenz mit dem Inf. darin fanden, dass diesem die Tempus-
unterscheidung fehlte, ist damit gefallen. Leider ist die Ver-
breitung des Inf. Perf. und seine Einwirlvung auf den Gebrauch des
Infinitivs überhaupt noch wenig untersucht. Darauf, dass vermut-
lich auch ein Zusammenhang zwischen dieser Form und der per-
fektiven Verwendung der Partikel ge- besteht, hat schon Grimm
4, 172 Anm. ** hingewiesen.
Partizipium Präsentis
in zusammengesetzten Zeitformen ^).
90. 1. Wie das Part. Prät., so wird in der älteren
Sprache auch das Part. Präs. nicht selten prädikativ mit sein
und werden verbunden; aber diese Verbindungen sind nicht
zu Mitteln der Tempusunterscheidung geworden, sie beharren
in ihrer ursprünglichen Bedeutung. Das Partizipium weist auf
1) Heyne, DWb. 10, 313 f. Gr. 4, 5 f. 125. 942. Erdm. § 139. 146.
142, 5. 145, 2. Wunderlich 1, 163 f. 188 f. 252 f. Gering ZfdPh. 5, 423.
K. Rick, Das prädikative Partiz. Präs. im Ahd. Bonn 1905 (Diss.).
Whd. S. 465 f. Blatz 1, 572.
172 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 90.
die Dauer der Haüdlung; wesan bezeichnet, dass das Subjekt
sich in ihr befindet, werdari, dass es in sie eintritt. Dass
das Moment der Dauer öfter neben wesan als neben werdan
Ausdruck findet, liegt in der Natur der Sache.
2. In der ahd. Literatur sind die Verbindungen mit wesan
ausserordentlich häufig, viel häufiger offenbar, als sie in der
natürlichen Rede gewesen sind. Die Übersetzer fanden den
Anlass zu ihrem Gebrauch meist in ihrem lateinischen Original;
Otfried wurde durch den Reimzwang verleitet (vgl. namentlich
1,4). Für werdan c. Part, bietet er nur zwei Belege; in
beiden würde das einfache Verbum dem Sinne nicht ent-
sprochen haben. 1,9,29 heisst es von Zacharias thö ward
mund siner sär sprechanter, dh. nicht ^er fing an zu sprechen',
sondern ^er erhielt die Sprache wieder', und 3, 20, 122 vom
geheilten Blinden: wio er sehenü wurti, dh. wie er das Ge-
sicht wieder gewann (Rick S. 28).
3. Auch bei den mhd. Dichtern finden sich beide Ver-
bindungen, doch zeigen sie, wie bereits Gr. 4, 6f. bemerkt ist,
starke Verschiedenheiten in ihrem Gebrauch. Im Übermass
und ohne Gefühl für die Bedeutung der Form lässt sie der
Verfasser des jüngeren Titurel zu, aber auch Gotfried von
Strassburg liebt sie, mit stn z. B. 13966 umbe da$ ist er mich
alle^ streichende^ liste7ide unde smeichende darum streichelt, heuchelt
und schmeichelt er mir immer, od. in einem fort. 19424 er was
naht unde tac gedenkende unde trahtende und angestlichen ahtende
umbe sin leben\ mit werden 19244 diu maget diu wart sich ivider
den man so rehte lieplich machende, smiere^ide unde lachende,
kältende unde kosende^ smeichende unde lösende, bi^ da^ si'n aber
enzunde ; futurisch 8706 man wirt uns schiere körnende an . . mit
übellichen mceren. 14129 und werdent mir danne alle gebende die
schulde.
4. Bis ins 15. und 16. Jh. hält sich die Konstruktion,
allmählich macht dem Partizipium der Infinitiv Konkurrenz
(§61,2); dann erlischt sie. Andere Verbindungen dienen als
Ersatz; für das Beharren in einer Tätigkeit, Wendungen wie:
er ist heim Schreiben, am Schreiben, im Schreiben begriffen]
für den Eintritt: anfangen, beginnen, auch gedenken mit dem
Inf. mit zu. Wo wir das Part. Präs. als Prädikat brauchen, em-
§ 91.] Der Infinitiv in zusammengesetzten Verbalformen. 173^
pfinden wir es als Adjektiv, z. B. Sein Äusseres ist abstos send j
die Gründe sind durchschlagend^ überzeugend, einleuchtend^ diese
Richtung ist jetzt vorherrschend^ die herrschende u. ä. Doch nach
der alten Art: Ich ivas mir nichts verniuten{d). DWb. 12, 900.
Anm. 1. Genauere Beobachtungen über die Geschichte der
Form vom Mhd. an fehlen (vgl. Wunderlich 1, 252 f. Rick S. 3 Anm.).
Besonders wird darauf zu achten sein, in welchem Verhältnis die Ver-
bindungen mit sin zu denen mit iverden, und die mit werden zu
dem perfektiven Gebrauch der Vorsilbe ge steht.
5. werden Q,. Part, wäre wohl geeignet gewesen, zu
einer Futurumschreibung ausgebildet zu werden (vgl. § 74);
aber wenn Ansätze dazu vorhanden gewesen sind, so sind sie
jedenfalls nicht zur Entwickelung gekommen. Wie ülfilas
öfters gr. ecrecrOai durch wairpan wiedergibt, so braucht er
gelegentlich auch die Verbindung des Verbums mit dem Part.
Präs. für das Futurum: Jh. 16, 20 saurgandans ivairpip
XuTrrjOriaecyOe; aber in der Regel doch nur, wenn das Original
den Anlass zu einer solchen zusammengesetzten Form gab:
Lc. 17, 35 twös icairpand malandeins samana, bvo loovrai öXriGouaai
€111 TÖ aÖTÖ ; Mc. 13, 25 jah stairnöns himinis ivairpand driusandeins^
Kai Ol daTepec; toö oupavoO eacvrai iriiTTCVTec;. Noch weniger lässt
sich für das Ahd. futurische Bedeutung der Verbindung nach-
weisen (Rick S. 28). Nur einmal entspricht sie einem lat.
Futurum: Tat. c. 2, 9 loirdist swigenti, eris tacens, und da
folgt der Übersetzer wieder dem Original. Wenn in manchen
Sätzen die Verbindung sich auf die Zukunft bezieht, wie in
den beiden letzten aus Gotfrid angeführten Beispielen, so
folgt daraus nichts, da das germ. Präsens überhaupt das Fu-
turum ersetzen musste. Eine bestimmte futurische Bedeutung*
gewann erst werden c. Inf. (§ 92).
Anm. 2. Rick S. 20 f. vermutet, dass man selbst ^t?ese^^ c, Part ►
futurisch aufzufassen geneigt gewesen sei.
Der Infinitiv in zusammengesetzten Verbalformen.
91. (Bezeichnung des Futurums im Got. und Ahd.) 1. Mit
dem Infinitiv gehen die Präterito-Präsentia mögen, Jcönnen,
sollen, dürfen, müssen, sowie ivollen und lassen oft Ver-^
bindungen ein, in denen ihre eigentliche Bedeutung mancherlei
Änderungen erfährt und im Laufe der Zeit mehr oder weniger
174 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 91.
zurücktritt, so dass sie mit den einfachen Verbalformen kon-
kurrieren und sie teilweise ganz ersetzen. Diese Eutwickelung
bei den einzelnen Verben darzulegen, muss den Wörterbüchern
oder Spezialuntersuchungen überlassen werden ^) ; einiges wird
in der Moduslehre zur Sprache kommen; hier sollen nur die
Verbindungen in Betracht gezogen werden, die der Tempus-
unterscheidung dienen und zu einem festen Bestandteil des
Konjugationssystems geworden sind. Es handelt sich um die
Bildung des Futurums, für das das germanische Verbum eine
besondere Form nicht hatte ^).
2. Der gotische Übersetzer braucht für das griechische
Futurum fast überall die Präsensform. Selbst wo im griechi-
schen Text Präsens und Futurum einander gegenüber stehen,
scheut er nicht den Gebrauch des Präsens für beide Tempora;
z. B. Jh. 14, 12 pö waurstwa, pöei ik tauja, jah is taujip xa
^pYot a b{(x} TTOiuj KotKeTvoc; TToirjcrei; nur hin und wieder wählt
er eine charakteristische Form. Imperfektive Verba verbindet
er mit der Partikel ga-, die auf den Eintritt der Handlung hin-
weist (§ 107); das Futurum des imperfektiven elvai übersetzt er in
demselben Sinne oft durch wairpa, z. B. Mt. 8, 12 jainar wairpip
grets jah krusts punpiwe, enei loim ö KAauajuöc; Kai ö ßpuyiLiöc; tOuv
öbövTUüv. An andern Stellen braucht er den Optativ (§ 109^ 2). Nicht
oft finden sich zusammengesetzte Verbalformen, auch diese ge-
wöhnlich bei imperfektiven Verben : einigemal ivairpan c. Part.
Präs. (§ 90), oder duginnan c. Inf.; z. B. Lc. 6, 25 icai izwis jus
hlahjandans nu, unte gaunön jah gretan dugin7iid, -rrevBriöeTe Kai
KXaüaexe; Phil. 1, 18; oder hahan (Gr. 4, 93. 178): 2 Kor. 11, 12 ip
patei tauja jah taujan haha, ö hk ttguu Kai iroiriauü; Jh. 12,26 parei
im ik, paruh sa andbahts meins wisan habaip, öttou ei|ui ejuj, eKei
Kol 6 öi(iKovo<; 6 ^luöc; löxai; 2 Thess. 3, 4; nur einmal skal, bei dem
1) Lucae, Bedeutung und Gebrauch der Verba auxiliaria im
Mhd. 1868. Kahl, Die Bedeutung-en und der syntaktische Gebrauch
der Verba können und mögen im Altdeutschen. ZfdPh. 22, 1 — 60.
von Monsterberg-Münckenau, Der Infinitiv nach loollen und den
Präterito-Präsentia in den Epen Hartmanns von Aue ZfdPh. 18, If.
Zehme, Über Bedeutung und Gebrauch der Hülfsverba soln und
müe^en bei Wolfram. Halle 1891 (Diss.).
2) Gr. 4, 176 ff. 93. Erdra. § 142. Wunderhch 1, 169 f. Whd.
§ 433 f. Blatz 1, 567 f. Hinsdale, Über die Wiedergabe des lat. Fu-
turums bei den ahd Übersetzern. Göttingen 1897 (Diss.).
§ 91.] Der Infinitiv in zusammeng-esetzten Verbalformen. 175
perfektiven ivairpan, im abhängigen Satz Lc. 1, 66 qipaiidans, Iva
skuli pata harn wairpan, Xe^ovrec;, t{ äpa tö iraibiov toöto eaxai,
(Was, meinest du, will aus dem Kindlein werden). Andere Stellen,
an denen der Übersetzer im Anschluss an gT. |ue\\eiv mit dem Infinitiv
umschreibende Verba braucht {haban, skulan, munan, einmal auch
sik skaftjan und anaioairp wisan) kommen hier nicht in Betracht.
Gr. 4, 93. 178 f.
3. Im Hochdeutschen werden umschreibende Verbal-
formen öfter gebildet, namentUch mit scal und willu, auch
mit mag und muo^, also mit Verben, die naturg-emäss gewöhn-
lich bei Handlungen gebraucht werden, die erst in der Zu-
kunft eintreten, sollen ist in den meisten germanischen
Sprachen zu einem Mittel der Futurbildung geworden : im
Englischen, Niederländischen, Niederdeutschen, im Dänischen
und Schwedischen; aber das Hochdeutsche verhält sich ziem-
lich spröde. Während im Heliand die Umschreibung mit scal
häufig ist, wird sie im Tatian fast ganz vermieden. Öfter
entspricht sie im Is. und bei Otfried dem lateinischen Fu-
turum, z. B, 1, 12, 17 sagen ih iu, wio ir nan sculut findan
(Lc. 2, 11 invenietis infantem); 1, 23, 23 herga sculun suinan
(Lc. 3, 5 et omnis mons humiliabitur); 4, 7, 32 tha^ er ni ivard
10 sulih fal ouh iamer vjerdan ni scal (Mt. 24, 21 tribulatio
qualis non fuit . . neque fiet). So beginnt der Dichter auch
1, 5, 23 thu scalt heran einan alawaltendan (Lc. 1, 31 filium
paries), fährt dann aber mit dem Präsens fort: got gibit imo
wiha . . er ricMsöt gitliiuto (hie erit magnus et filius altissimi
vocabitur . . et regnabit in domo Jacob). Das einfache Präsens
ist auch bei Otfried durchaus das gewöhnliche. — Für die
Futurumschreibung mit wollen bieten Is. und Tat. kein Bei-
spiel, Otfried wenige: 5, 17, 3 loil thü tha^ rieht irsezzen
(Ap. 1, 6 restitues regnum). scal und iclllu neben einander:
0. 1,5, 52 er scal sinen drüton thräto gimuntön, then altan
Satanasan wilit er gifähan, wo wir beidemal das Futurum
mit werden nehmen würden. — mag: 0. 3, 6, 17 war mugun
wir nü higinnan, mit koufu hröt giwinnan (Jh. 6, 5 unde ememus
panes)? 1, 5, 37 wio meg iz io tverdan war, tha^ ih werde suangar
(Lc. 1, 34 quomodo fiet istud = Tat. 3, 6 wuo m,ag tha^ sin). —
muoz: N. Ps. 92, 5 (2, 393, 3) an dero iverlte muozzi7it ir fressun
hahin, in mundo pressuram habebitis.
176 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 92.
Anm. Die Verbindung" von haben mit dem Inf., die im Got.
gebräuchlich ist und in den romanischen Sprachen ein neues Fu-
turum entstehen lässt, wird im Deutschen nicht so gebraucht. Tat.
c. 108, 7 ih haben touft gitoufit v:erdan ist dem lat. baptismum
habeo baptizari nachgebildet. Gr. 4, 93. Wunderlich 1, 183 f.
4. Ähnlich wie im Ahd. setzt sich der Gebrauch in den
folgenden Jahrhunderten fort, bis in die Gegenwart. An der
Mehrzahl der angeführten Stellen finden wir in der Lutherschen
Bibelübersetzung zwar das Griechische oder Lateinische Fu-
turum durch werden mit dem Inf. wiedergegeben, aber daneben
behauptet sich das Präsens (Jh. 6, 5) und Umschreibungen mit
sollen (Jh. 12, 26 Lc. 1,34. 3,5) und wollen (Phil. 1, 18.
2 Kor. 11, 12. Lc. 1, 66), überall in voller Übereinstimmung
mit dem heutigen Sprachgebrauch. Zu einem reinen Ausdruck
der Zeitstufe sind diese modalen Httlfszeitwörter jedoch nicht
geworden. In Sätzen wie: 'Das Feuer will ausgehen; heute
Nachmittag soll Konzert sein; was soll od. will daraus
werden; damit soll er wohl bald fertig sein bezieht sich
das Verbum zwar immer auf die Zukunft, aber wir empfinden
die Sätze anders, als wenn wir werden mit dem Infinitiv
brauchen. Die feinen Bedeutungsunterschiede sind oft schwer
zu fassen, aber sie sind vorhanden und auch früher vorhanden
gewesen, natürlich nicht gerade in derselben Umgrenzung wie
jetzt. Nicht selten liegen uns andere Umschreibungen näher,
als die wir in älteren Denkmälern finden; z.B. Walther 17, 11
wir suhl den kochen raten (wollen); 53, 29 gern ich in allen dienen sol
(will); 32, 31 edel Kerendcere ich sol dir klagen mere (muss); 35,31
wil^ iu niht versmähen (sollte es auch nicht unangenehm sein);
67, 17 dUi jämertac wil achiere können (wird bald kommen). Wun-
derlich 1, 176 f. 184 f.
92. {sein und icerden mit dem Infinitiv.) 1. Verbii>
düngen von sein und werden mit dem Infinitiv sind im Ahd.
noch unerhört; erst im Mhd. treten sie neben die älteren Ver-
bindungen dieser Verba mit dem Part. Präs. Zum Teil hängt
die Änderung der Konstruktion wohl mit der Entwickelung der
Bedeutung zusanmien. Bei sin trat sie ein, indem das Verbum
durch Ellipse von Partizipien wie gegangen, gevarn selbst zu
einem Bewegungsverbnm wurde (Gr. 4, 137). Wie wir sagen
§ 92.] sein und werden mit dem Infinitiv. 177
können; er ist über Land, aufs Feld, nach Amerika, so konnte auch
schon im Mhd. sin mit adverbialen Bestimmungen des Zieles ver-
bunden werden, z. B. Alex. V. 823 nü was Alexander nach den
houmen über mer. Parz. 118,20 du wcere hinü^ üf den plän\ und
dementsprechend verband es sich dann wie andere Bewegungsverba
(ahd. faran, tleji, gangan § 63) mit dem Infinitiv, z. B. Gregor 946
da^ si benamen wceren vor tage vischen üf den se. Lanz. 3014 er
loas schouwen die rtterschaft. — werden scliloss sich Verben
wie ahd. biginnan, gistantan u. ä. an; denn wie diese neben
dem Infinitiv, so diente werden neben dem Part. Präs. dazu
den Eintritt in die Handlung zu bezeichnen (§ 90). Unter dem
Einfluss der synonymen Verba trat an die Stelle des Parti-
zipiums der Infinitiv. — Dann aber wurde die Verbreitung
der Infinitivkonstruktion bei beiden Verben kräftig unterstützt
durch den lautlichen Verfall der Partizipialendungj durch den
eine Vermischung von Partizipium and Infinitiv herbeigeführt
wurde (vgl. § 31). So wurde bei beiden Verben der Infinitiv
gebräuchlich ; aber während bei sin das Part, häufiger gewesen
war^ wurde es umgekehrt der Infinitiv bei werden.
2. Verbindungen des Infinitivs mit sin werden beliebt
im 14. Jh., sterben aber im 16. wieder ab; spottend erwähnt
sie Erasmus Alberus (Neudrucke No. 104 S. 4). werden zeigt
zunächst stärkere Neigung zum Infinitiv, wenn es im Präteritum,
als wenn es im Präsens steht. Ein Beispiel für das Präteritum
bietet schon das Annolied v. 613 so di^ Hut nahtes ward
släfin\ für das Präsens sind die Belege im 13. Jh. noch sehr
spärlich; die ältesten bietet Konrad Fleck Fl. 3414 ich iccene
ir loerdent mir es jehen. 3609 der wirt iuch wol enhalten,
4656 so wirt er sprechen zehant. Erst in der Prosa des 14.
15. Jh.s wird diese Umschreibung häufiger^).
3. Futurische Bedeutung konnte diesen mit loerden zu-
sammengesetzten Formen ursprünglich nicht zukommen; sie
bezeichneten nur den Eintritt der Handlung; aber wie jedes
Präsens konnte auch das zusammengesetzte Präsens wird
sprechen auf die Zukunft bezogen werden und wegen der
1) Belege für sin c. Inf. Gr. 4,92. Mhd. Wb. 1,128a. .3,766a.
Whd. § 428 etc. für werden c. Inf. Gr. 4,7. 92. 182. 184. Mhd. Wb.
3,730 b. Whd. § 435.
W. Würaanns, Deutsche Grammatik. III. 12
178 Zusammengesetzte Verbalformen. [§ 92.
perfektiven BedeutuDg von werden war es besonders geeignet
dazu (vgl. § 94, 2). Je mehr diese futurische Auffassung der Form
zur Geltung kam, um so mehr Hess der Sprachgebrauch das Prät.
wart sprechen, das diese Bedeutung nicht teilen konnte, fallen*,
nur den irrealen Optativ loürde sprechen^ der keine Ver-
gangenheitsbedeutung hatte, hielt er fest. Im älteren Nhd.
finden wir noch wird und ward sprechen, aber das Präsens
überwiegt und ist namentlich bei Luther ein ganz geläufiges
Mittel der Futurbildung (Wunderlich 1, 192).
4. So hatte also die Sprache in ihrer Entwickelung vom
Mhd. zum Nhd. ein Mittel gewonnen, das ein reinerer Aus-
druck des Futurums war als die Verba sollen und wollen.
Wie man aber auch diese noch als Mittel der Futurbildung empfand,
zeigen die Angaben der Grammatiker. In einer Zeitzer Grammatik i)
des 15. Jh.s zwar wird als stehende Übersetzung* des lat. amabo
schon ich werde lihin gebraucht, dagegen heisst es in einer Gramma-
tik die c. 1480 in Münster in Westfalen erschien : Legam ick will
edder ick schal lesen ; edder alse de avei^lender seggen : ik werde
lesen (Müller, Quellenschriften S. 241); dem niederdeutschen Autor
war also die Form mit werden noch nicht geläufig. Aber auch in
Oberdeutschland war sie noch achtzig Jahre später nicht allgemein
anerkannt. Oelinger (1573. Neudruck von Scheel S. 82 f.) bezeich-
net ich will schreiben als Fut. primum, ich werd schreiben als ein
paulo post Futurum; und noch im 17. Jh. führt Stephan Eitter
beide Formen neben einander an. Doch mag in solchen Angaben
der Schlendrian der Schulbücher mitwirken; die landschaftliche Ver-
breitung der Formen bleibt noch zu untersuchen. Für uns ist
werden mit dem Inf. reines Hülfszeitwort der Zeit und unser
Sprachgefühl unterscheidet deutlich diese Funktion des Verbums
von andern. Wir sagen : 'Er wird sein Haus verkaufen und
auswandern , aber nicht: 'Er wird hier zu viel behelligt und
deshalb auswandern , noch weniger: 'Er wird Kaufmann und
auswandern .
5. So sehr auch die Umschreibungen mit wollen und
sollen durch das jüngere werden verdrängt sind: in einem
kleinen Gebiet haben sie sich doch unbestritten behauptet; im
Infinitiv können wir die mit werden zusammengesetzten
1) Bech, Von der Abschleif ung des Part. Präs. etc. Zeitz 1882
(Prgr.) S. 112.
§ 93.] werden mit dem Inf. Perf. — Fut. II. 179
Formen nicht brauchen. Wenn in lateinischen Grammatiken
amaturum esse durch liehen loerden, amatwm tri durch werden
gelieht werden übersetzt wird, so werden da der deutschen
Sprache Formen zugemutet, die sie nie gehabt hat. Wir liönnen
nicht sagen: Er scheint sein Gut verkaufen zu werden, oder
gar: Das Gut scheint verkauft werden zu werden^ sondern
nur: Er scheint sein Gut verkaufen zu wollen] das Gut
scheint verkauft werden zu sollen. — Über den Gebrauch
dieser Formen in relativen Zeitbestimmuugen s. § 101, 2.
Anm. Um eine unmittelbar bevorstehende Handlung zu be-
zeichnen, brauchen wir im Begriff sein mit dem Inf. mit zu. Be-
obachtungen über die Verbreitung dieser uns ganz geläufigen
Wendung fehlen. Das DWb. 2, 1312 belegt sie nur durch eine Stelle
aus Wieland, Heyne durch ein paar Stellen aus Schiller und Goethe
93. {werden mit dem Inf. Perf. — Fut. II). 1. Wie der
Inf. Präs. dazu diente, ein Futurum und einen irrealen Opt
Prät. zu bilden, so seit der mhd, Zeit der Inf. Perfekti zur
Bildung eines Futurum exactum und eines irrealen Opt. Plq
Auch hier finden wir zunächst wollen und sollen als Hülfs
Zeitwörter. — Das Fut. II erscheint selten-, z. ß. Iw. 4650
ich sol s im schiere hän henomen ich werde od. will sie ihm
bald abgenommen haben. Roseng. 278 Gr. da^ sol geschehen
sin das wird bald geschehen sein (Höflichkeitsformel = das
will ich sofort tun). Häufiger ist der Irrealis; z. B. Iw. 2401
wan düht si^ alle missetän, si wolt in doch genomen hän,
sie würde ihn doch genommen haben. Nib. 1518, 1 er wolde
sin genesen, würde mit dem Leben davon gekommen sein
Nib. 792, 2. 1242, 2 (§ 89. § 102, 2). Später treten dann die
entsprechenden Verbindungen mit werden ein. Am häufigsten
brauchen wir den Irrealis: ich würde gesehen haben, wenn
. . ., sodann den Ind. in modalem Sinne als Potentialis: er
wird ihn {wohl) gesehen haben = vermutlich hat er ihn ge-
sehen- das Zeitverhältnis durch die schwerfällige Umschreibung
auszudrücken meidet man gern.
2. Mit diesen Umschreibungen hat unser Konjagations-
system seinen Abschluss gefunden; der Indikativ hat sechs
Tempusformen, der Optativ acht. Die üngleichmässigkeit ergab
180 Gebrauch der Tempora. [§ 94.
sich dadurch; dass die Verbindungen des Indikativs ward mit
dem Infinitiv nicht festgehalten sind.
Präs. er gibt er gebe
Prät. er gab er gäbe
Perf. er hat gegeben er habe gegeben
Plq. er hatte gegeben er hätte gegeben
Fut. I er wird geben er werde geben
Fut. II er wird gegeben h. er werde gegeben haben
Irr. Prät. er würde geben
„ Plq. er würde gegeben h.
Anm. Über Umschreibungen mit hat, hatte — gehabt s. § 100
Anm. 2; über ist im Begriff zu § 92 Anm.
Gebrauch der Tempora.
94. 1. So nahe uns die Unterscheidung der drei Zeit-
stufen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegt; so
hat sie doch weder die Bildung der Tempusformen veranlasst,
noch hat sie in ihnen reinen Ausdruck gefunden. In der idg.
Urzeit existierten überhaupt keine Tempora ; die Verbalformeu
an sich hatten keine Beziehung zur Zeitstufe. Die Vergangen-
heit wurde durch ein zur Verbalform tretendes Adverbium,
das Augment e ausgedrückt; für Gegenwart und Zukunft war
eine besondere Bezeichnung nicht vorhanden ; hier genügte die
zeitlose Handlung (Delbr. 4,10; vgl. IF. 6,245). Dagegen
gab es viele Mittel zur Unterscheidung der Aktionsarten und
diese sind zum Teil zu Mitteln der Tempusunterscheidung ge-
worden. Wie weit das Idg. in dieser Entwickelung gekommen
war, und was die einzelnen Sprachen von diesem alten Erbe
übernahmen, untersucht die vergleichende Grammatik (Delbr.
4, 389 ff.). Das germanische Verbum stellte nur noch zwei
Tempora zur Verfügung. Das Präsens bezeichnet im allge-
meinen Aussagen, die sich auf Gegenwart oder Zukunft, das
Präteritum solche, die sich auf die Vergangenheit beziehen.
Doch greift das Präsens in gewissen Fällen auf das Gebiet
des Präteritums über (Präs. historicum) und umgekehrt das
Präteritum auf das Gebiet des Präsens. Der Opt. des Prät.
konnte von jeher als Modus der Irrealität und der indirekten
§ 94] Gebrauch der Tempora. 181
Rede auch auf die Gegenwart oder Zukunft bezogen werden;
z. B. JVäre er doch hierl Käme er doch haldl Er meinte, es
wäre schon zu spät. — Aussagesätze, die wir auf eine be-
stimmte Zeit überhaupt nicht beziehen (allgemeine Aussagen),
werden gewöhnlich durch das Präsens ausgedrückt, können
aber auch im Präteritum stehen (Delbr. 4, 261) § 95.
2. Die Zeit, auf die sich die Aussage bezieht, deckt sich
nicht mit der Zeit, in der die Handlung sich abspielt. Das
Präsens bezeichnet, dass eine Handlung in der Gegenwart
unvollendet ist, lässt aber ungewiss, ob der Eintritt der Hand-
lung in die Vergangenheit oder in die Zukunft fällt. In dem
Satze: Es regnet schon zwei Stunden, fällt er in die Ver-
gangenheit; in dem Satze: Er 'kommt bald, in die Zukunft.
Das Präteritum bezeichnet, dass die Handlung in der Ver-
gangenheit eingetreten ist, lässt aber ungewiss, wann die
Handlung ihren Abschluss findet. Als ich an seinem Bette
war, schlief er schon kann ich sowohl von einem sagen, der
jetzt wach ist, als von einem, der noch schläft. Die Bedeutung
der Tempusform steht unter dem Einfluss der Aktionsart In
dem Präsens eines imperfektiv aufgefassten Verbums liegt nur
eine Beziehung auf die Gegenwart, mit dem perfektiv auf-
gefassten dagegen verbindet sich leicht ein Blick in die Zukunft,
da der Abschluss der Handlung, den der Sprechende im Auge
hat, in die Zukunft fällt; vgl. Der Mann trägt mir das Gepäclt
(imperfektiv) : er bringt mir das Gepäch (perfektiv). Das
Präteritum des imperfektiven Verbums bezeichnet eine Handlung
der Vergangenheit ohne Andeutung über ihre zeitliche Be-
grenzung, bei dem Präteritum des perfektiven Verbums fällt
auch der Abschluss der Handlung in die Vergangenheit. So
begreift es sich, dass Formen, welche die Aktionsart bestimmen,
zu Mitteln der Tempusunterscheidung werden können.
3. Neue Mittel zur Bezeichnung des Tempus gaben die
zusammengesetzten Tempora, und in demselben Masse, als sie
sich gewisse Teile des Gebietes, das ursprünglich die einfachen
Tempora allein beherrschten, aneigneten, wurden auch diese
in ihrer Bedeutung eingeschränkt, so dass ihr allgemeinerer
Gebrauch in der älteren Sprache uns oft befremdet. Doch
182 Gebrauch der Tempora. [§ 95.
hat die Sprachentwickelung auch jetzt noch nicht zu festen
Grenzen geführt; oft ist uns sowohl die ältere einfache, als
die jüng-ere zusammengesetzte Form gestattet.
4. Besonders wichtig sind die zusammengesetzten Formen
als Mittel der relativen Zeitbestimmung geworden. Ur-
sprünglich wurde das Tempus der Aussage lediglich durch ihr
Verhältnis zur Zeit der Rede bestimmt (absolutes Tempus); in
der jüngeren Sprache findet vielfach auch das Verhältnis ver-
schiedener Aussagen zu einander Ausdruck (relatives Tempus) ^).
Nach alter Weise sagen wir z. B. Gegen Abend hörte es auf
zu regnen; wir machten einen Spaziergang und kehrten erst
in der Dunkelheit heim; dagegen mit relativer Zeitbestimmung:
Gegen Abend hatte es aufgehört zu regnen'^ wir machten
einen Spaziergang etc. Die drei Verba beziehen sich in diesen
Sätzen auf drei verschiedene Zeitpunkte, nichtsdestoweniger
stehen sie in dem ersten Satze in demselben Tempus, das
Präteritum bezeichnet vom Standpunkt des Redenden aus nur
die Vergangenheit schlechthin. In dem anderen Satze weist
das Plusquamperfektum hatte aufgehört darauf hin, dass diese
Aussage den folgenden vorangegangen ist. Die Bezeichnung
der relativen Zeitbestimmung ermöglicht, was früher gewisser-
massen ohne Perspektive auf einer Fläche erschien, kulissen-
artig hintereinander zu schieben.
In der folgenden Betrachtung soll zuerst das Verhältnis
von Präsens und Präteritum behandelt werden ; dann das Ver-
hältnis der zusammengesetzten Formen zu den einfachen, zuletzt
die eigentümlichen Erscheinungen, die im Irrealis und in den
indirekten Sätzen hervortreten-),
95. (Präteritum in allgemein gültigen Sätzen.)^) 1. Sätze,
die auf eine bestimmte Zeit nicht bezogen werden, stehen im
1) Das Idg. kannte trotz seines Reichtums an Verbalformen
nicht den Unterschied von absoluten und relativen Tempora.
Delbr. 4,312.
2) Abhandlungen und Untersuchung-en über den Sprach-
gebrauch einzelner Schriftsteller, in denen auch das Tempus be-
handelt wird, sind zu § 109 angeführt.
3) Gr. 4, 175 Erdm. § 144. Whd. § 438. Blatz 2, 505 A. 4.
§ 95.] Präteritum in allgemein gültigen Sätzen. 183
allgemeinen im Präsens; insofern sie aber auf wiederholter
Erfahrung oder Wahrnehmung beruhen, können sie auch im
Präteritum stehen; dem Zuhörer bleibt es dann tiberlassen, aus
der auf die Vergangenheit bezüglichen Mitteilung den Schluss
auf die allgemeine Gültigkeit zu ziehen. In der älteren Zeit
ist dieser Gebrauch häufiger als jetzt; z. B. 0. 8al. 20 ungi-
lönöt ni bileib, tlier gotes wi^^öde Meib, nie blieb der un-
belohnt, der an Gottes Gesetz festhielt. Liedersaal 173, 215
bi einer imle gedäht ich : der gewagete, der genas, die teile
er unver zaget was. Oft wird die allgemeine Gültigkeit durch
10 hervorgehoben; z. B. 0. Hartm. 108 io ähta thes guaten,
ther thär ubil icas, der Böse stellt immer dem Guten nach.
Walther 13,30 tören schulten ie der wisen rät. 92,15 sioä
man noch wibes güete ma^, da wart ir ie der habedanc.
Praes. und Prät. nebeneinander 90, 9 swer ie gepflac ze singen
tageliet, der wil mir wider morgen beswceren minen muot.
2. Ungewöhnlich klingt uns das Prät. namentlich in
Glück- und Segenswünschen N. Ps. 126,5 (2,558, 11) Icesah
in got, der sih Tceröt iro ze gesatönne. Freid. 80, 14 wol im
wart, der vil gereit (= redet), und wei^ er rehte, wa^ er
seit. Wir pflegen den Hauptsatz ohne Verbum als blossen Ausruf
zu bilden, wie Walther 13, 25 wol im, der ie nach .stceten fröuden
ranc. 16, 14 wol im dort, der hie vergalt. 17, 8. 73, 2. 115, 3. Hölty :
Wunder. selig er Mann, tvelcher der Stadt entfloh.
3. In Segenswünschen kann das Präteritum sogar dann
gebraucht werden, wenn sich die Aussage nicht auf die Ver-
gangenheit beziehen lässt: 0. 5, 19, 11 ward wola in then
thingon (beim jüngsten Gericht) thie selbun mennisgon, thie
thär sint sichor iro dato. Ebenso 4, 26, 36. Solche Sätze
deuten vielleicht darauf hin, dass ehedem das Präteritum in
noch weiterem Umfang zeitlos gebraucht werden konnte, wie
der Aorist (IF. 6, 250 ff.), dessen Funktionen ja im allgemeinen
auf das germ. Präteritum übergegangen sind; vgl. auch den
Gebrauch des Opt. Prät. als Irrealis. — Über Sätze, in denen
das zusammengesetzte Perfektum auf Gegenwart und Zukunft
geht, s. § 99.
184 Gebrauch der Tempora. [§ 96-
Präsens historicum^).
96. 1. Ereignisse der Vergangenheit werden im all-
gemeinen durch das Präteritum ausgedrückt. Die weit ver-
breitete Neigung unter gewissen Umständen sie durch das
Präsens zu bezeichnen, ist den germanischen Sprachen ur-
sprünglich fremd gewesen; wie im Slavischen so hat auch in
ihnen das Präsens historicum erst in historischer Zeit Wurzel
gefasst. Der ags. Beowulf und die eddischen Erzählungen
kennen es ebenso wenig als der Dichter des Heliand, und
selbst der gotische Übersetzer, so treu er seinem Original folgt,
überträgt ein griechisches auf die Vergangenheit bezügliches
Präsens regelmässig durch das Präteritum; namentlich wird
das häufige XeYei, XeYOucri immer durch qap, qepun wieder-
gegeben. Verhältnismässig sehr selten finden wir ein Präsens,
z. B. Mc. 5, 15 jah atiddjedun du Jesua jak gasaihand
pcma wödan sitandan, Kai ^pxoviai rrpö^ töv 'IrjCTouv Kai Oem-
poOcTiv TÖV bai)Liovi2ö|uevov Kaörijuevov, und so noch an wenigen
anderen Stellen.
2. Im Ahd. bietet Otfried einigemal ein auf die Ver-
gangenheit bezügliches Präsens, das aber doch nicht als Präsens
historicum angesehen werden kann. 3, 26, 1 nü krist in
therera redinu (auf diese Weise) zeichan duit so menigii, nu
duemes tha^ zuival thana sär ubaral. Der Dichter vergegen-
wärtigt sich hier den Inhalt dessen, was er vorher erzählt
hat und zieht daraus seine Schlüsse. Das Präsens ist hier
gebraucht, wie wir es anwenden in Sätzen wie: "Paulus
schreibt an die Römer, Plato sagt in seinem Phädon" etc.
Wir haben das Buch vor Augen und sprechen von seinem
Inhalt wie von etwas Gegenwärtigem, obwohl das Sagen und
Schreiben der Vergangenheit angehört; vgl. auch 0. 4, 1, 1.
4, 25, 1. Ähnlich brauchen wir das Präs. von sagen und
hören, wenn eine vorangegangene Mitteilung als in der Gegen-
wart fortwirkend vorgestellt wird; z. B. Wie ich höre, ist er
verreist. Was sagst du da? Du sprichst ein grosses Wort
gelassen aus.
1) Gr. 4, 140. 1260. Erdm. § 140. Wunderlich 1, 155 f. Whd.
§ 432. Blatz 2, 500 f. Behaghel Zeitformen 2 S. 199—206. Delbr. 4, 261.
§ 96.] Präsens historicum. 185
3. Dem Präs. bist. Daher steht schon der Gebrauch
mancher mhd. Dichter, die fortschreitende Erzählung zu unter-
brechen, um den Hörern gleichsam ein Bild vorzustellen, in
dem sie den Helden zuständlich betrachten sollen; z. B. Parz.
451, 1 er neic und die midern nigeji. da wart ir klage nilit
vermiten. — Hin ritet Herzeloyde fruht. 4:b2, 29 der Täusche
Trevrizent da sa^, der manegen mäntac übel ga^. Nun folgt die
Schilderung seines Lebens: An dem ervert nu Parziväl diu
verholnen mcere umben gräl. Mit Bildern ausgestattete Werke
legten solche Wendungen besonders nahe. Salm. Str. 768 er
gap irrt mit creften einen slag, da^ der degen edele vor im üf den
knüwen lag. — Nu Hg et der dogenthaffte man vor dem konige
Princiän und musz Verliesen sin leben, man ivolle dan dem leser
eyns drincken geben. Im untergeordneten Satz: Wh. 361, 2 nü hoert.,
iver sölhe tat da tuo, da^ man in drumbe prise (Gr. 4, 1260). Grimm
hat diesen Gebrauch beobachtet bei Wolfram, Gotfried, Wirnt
von Gravenberg, Konrad Fleck und einigen andern; aber
Nibelungen und Kudrun kennen ihn nicht und auch verschiedene
höfische Erzähler enthalten sich seiner: Hartmann, Eudolf von
Ems, Konrad von Würzburg. Über einen entsprechenden Ge-
brauch des Perf. statt des Plq. s. § 99 Anm.
4. Von dem eigentlichen Präsens historicum ist auch
dieser Gebrauch noch merklich verschieden. Jenes ist nur da
anzuerkennen, wo der Erzähler nicht in Betrachtung seines
Berichtes, sondern weil er sich die Ereignisse selbst in ihrer
Entwicklung lebhaft vergegenwärtigt, in die Präsensform ver-
fällt. Dieser Gebrauch verbreitet sich langsam seit dem 13. Jh.
Die höfischen Dichter bieten noch kein Beispiel; wenige die
Predigten des Bruder Berthold, ziemlich viele im 14. Jh.
Nicolaus von Basel (Cordes S. 36); eine starke Zunahme ist
seit dem 16. Jh. zu beobachten (Behagel S. 94. Wunderlich
1, 158). In späteren Volksliedern ist er allgemein, nicht nur
in deutschen, sondern auch in schwedischen und dänischen.
Jetzt wird das Präs. bist, überaus häufig gebraucht, sowohl
in der lebendigen Rede als in der Literatur, natürlich nicht
ohne Rücksicht auf die Stilart. Die ruhig gemessene Dar-
stellung von Hermann und Dorothea hat, wie Grimm beob-
achtet hat, das historische Präsens nirgends zugelassen; in Voss
186 Gebrauch der Tempora. [§ 97.
Luise begegnet es Dur zu Anfang des dritten Gesanges, sehr
oft dagegen in Wielands Oberon. Andere Beobachtungen der
Art bei Erdmann. — In der Bedeutung der Form liegt es,
dass sie zunächst und vorzugsweise in selbständige Hauptsätze
eintritt; aber früh wird sie auch im Satzgefüge verwendet,
selbst neben Konjunktionen die sonst das Präteritum verlangen;
z. B. Lessing im Nathan 5, 1 Schon den Hals ensblösst, kniet' ich —
als mich schärfer Saladin ins Äuge fasst, mir näher springt
U7id tvinkt. Schiller Wal. T. Da ergriff, als sie den Führer fallen
seh 71, die Truppen grimmig wütende Verzwei feiung, der eignen
Rettu7ig denkt jetzt keiner mehr, gleich ivilden Tigern fechten sie;
es reizt ihrer starker Widerstand die unsrigen, und eher nicht er-
folgt des Kampfes Ende, als bis der letzte Mann gefallen ist.
In diesem letzten Satze hat das Perfektum den Wert eines Plq.
dh. es steht als Tempus der relativen Vergang-enheit (vgl. § 99 Anm.),
wie schon Parz. 422, 19 nü get der künec an st7ien rät. diu kilne-
ginne geno7ne7i hat ir vetern sun und ir gast, (der König ging —
und die Königin hatte genommen).
5. Die Verbreitung des Präsens hist. hängt, wie Behaghel
wohl richtig annimmt, damit zusammen, dass die Partikel ge-
als Mittel die perfektive Aktionsart zu bezeichnen, ausser Ge-
brauch kommt. Um so auffallender ist, dass einmal schon im
9. Jh. ein Präsens begegnet, das ganz den Charakter eines
Präs, hist. trägt: Ludw. 45 thö ni was ij burolang fand her
thia Northman gode lob sageda, her sihit thes her gereda
(vgl. ZfdA. 33, 415 f.). Der altfranzösischen Dichtung ist das
Präs. hist. von Anfang an geläufig; ebenso der mittelalterlichen
lateinischen, z.B. im Waltharius (ZfdA. 43, 117 A.). Ob man im
Lndwigsliede, das im äussersten Westen des fränkischen Gebietes
auf später französischem Boden entstanden ist, Einfluss fremder
Redeweise annehmen darf, mag unentschieden bleiben. Die ganze
ahd. Literatur weist sonst nichts der Art auf.
Anm. Mundartlich geht lebhafte Erzählung aus dem Prät.
sogar in das zusammengesetzte Futurum über. Möglicherweise
wirkt in diesem Gebrauch die ursprüngliche inchoative Bedeutung*
von iverden m. d. Inf. weiter (§ 92); doch kann er sich auch aus rein
futurischer Auffassung ergeben haben; vgl. Delbr. 4,308.
Präteritum und Perfektum.
97. 1. Die Präterita der starken und schwachen Verba
sind auf verschiedene Weise gebildet und mögen ursprünglich
§ 97.] Präteritum und Perfektum. 187
auch verschiedene Bedeutung- gehabt haben. Die Formen der
schwachen Verba beruhen wahrscheinlich zum grossen Teil
auf Zusammensetzung mit einem wirklichen Präteritum (§ 38),
das Präteritum der starken Verba war dagegen ein Perfektum^
das ursprünglich einen Zustand des Subjekts bezeichnete und
nur dadurch eine Beziehung auf die Vergangenheit erhielt,
dass man den Zustand als Ergebnis einer vorangegangenen
Handlung auffasste ^). Doch ist in historischer Zeit ein Unter-
schied zwischen beiderlei Formen nicht mehr wahrnehmbar.
Wir haben also für das Germanische zwar zwei verschiedene
Formen, aber nur ein tempus präteritum anzuerkennen.
2. Eine Teilung des Gebietes trat erst durch die jüngeren
mit haben und sein gebildeten umschreibenden Formen ein.
Sowohl im Aktiv als im Passiv ergaben sich dadurch drei
Formen, die auf die Vergangenheit bezogen werden konnten
und in analoger Weise von einander unterschieden wurden,
im Aktiv band, hat gebunden, hatte gebunden oder ging, ist
gegangen, war gegangen, im Passiv wai'd gebunden, ist ge-
bunden, war gebunden. Ob die Scheidung im Aktiv und
Passiv in gleichmässigem Fortschritt vor sich ging, ist noch
nicht untersucht. Leichter konnte sie sich im Passiv voll-
ziehen, denn hier konkurrierten drei junge zusammengesetzte
Formen, während im Aktiv die zusammengesetzten Formen
dem älteren einfachen Präteritum zur Seite traten, das seinen
Anspruch auf das ganze Gebiet nicht so leicht fahren Hess.
Dass im Passiv schon zu Anfang des 11. Jh. die Formen fast
ganz so wie jetzt gebraucht wurden, zeigen die Zusammen-
stellungen Cuny's (§ 75, 6). — Wir fassen zunächst den Unter-
schied zwischen dem einfachen Präteritum (Imperfektum) und
dem Perfektum ins Auge^).
3. Das einfache Präteritum behauptet sich, wo eine
Handlung schlechthin als der Vergangenheit angehörig be-
zeichnet werden soll; das Perfektum hat, seiner Bildung
entsprechend, da statt, wo der Sprechende, obschon er auf
1) Delbr. 4, 177. 275.
2) Gr. 4, 157 f. 186. Erdm. § 143. Wunderlich 1, 214—230.
Blatz 2, 503 f. Wustmann ^ 99—104.
188 Gebrauch der Tempora. [§ 07.
eine Handlung der Vergangenheit hinweist, zunächst doch
das der Gegenwart angehörige Ergebnis der Handlung im
Auge hat. Ich sage: Was machten Sie denn gestern in Ihrem
Garten? wenn ich dem Nachbarn zugesehen habe; dagegen,
wenn ich nur die Spuren seiner Tätigkeit wahrnehme, frage
ich: Was hahen Sie denn da in Ihrem Garten gemacht? In
dem Satze: Nun hat er seinen besten Freund verloren bezeich-
nen wir zwar ein Ereignis, das in der Vergangenheit ein-
getreten ist; aber wir denken dabei an die Gegenwart, die
Vereinsamung des Überlebenden, und auf die Gegenwart bezieht
sich das Adverbium nun. Dagegen führt uns der Satz:
Nun verlor er seinen letzten Freund nicht über die Ver-
gangenheit hinaus; wir erwähnen in ihm das Ereignis ohne
es zur Gegenwart in Beziehung zu setzen und weisen mit dem
Adverbium nun auf einen Zeitpunkt der Vergangenheit. Das
Präteritum ist also das gewöhnliche Tempus der Erzählung,
das Perfektum tritt ein, wo die Wirkung des Erzählten in der
Gegenwart wahrgenommen und ausgedrückt wird. So beginnt
Walther seinen Spruch 25, 11 mit dem erzählenden Präteritum:
Künec Constantin der gap so vü, als ich e^ iu bescheiden wil, dem
staol ze Röme^ sper, kriuz unde kröne. Zehant der enget lüte schre :
'oive, owe, z'em dritten tue ! E stuont diu kristenheit mit zühten schöne.
Dann geht er in das Perfektum über: Der ist nü ein gift gevallen.,
ir honec ist icorden zeiner galten, da^ wirt der werlt her nach vil
leit. alle fürsten lebent nü mit eren, wan der hcechste ist geswachet :
da^ hat der pf äffen wal gem,achet. da,^ si dir, süsser got, gekleit
(§ 75, 5). die pfaffen wellent leien reht verkeren. d€r enget hat uns
war geseit. Ebenso ist der Wechsel der Tempora im Iw. 6035 f.
begründet. Ein Bote berichtet dem Helden von der Tochter des
Grafen vom schwarzen Dorn: nü hat si des gewtset diu werlt, diu
iuch prtset, da^ si iuch ze tröste hat erkorn\ unde enhät da^ niht
verlorn durch höhvart noch durch trächeit, da^ si niht selbe nach
iu reit, si tvas üf den wec komen : ehaftiu not hat ir'z benomen,
wan si leider üf der vart von der reise siech lüart, unde ist also
under wegen mit mtnem vater belegen, der sante mich her an ir
stat: nü bit ich iuch als si mich bat. Und so oft in der älteren und
neueren Literatur.
4. Aus dieser in der Bildung des Perfektums begründeten
Bedeutung ergab sich dann eine andere Verwendungsart: Die
Form, die zunächst Handlungen bezeichnete, die mit ihrer
§ 98.] Präteritum und Perfektum. 189
Wirkung in die Gegenwart hineinragen und dadurch für die
Gegenwart bedeutend sind, wird auch angewandt, um eine
Aussage überhaupt als wesentlich und bedeutend hervorzuheben.
In diesem Sinne steht das Perfektum sehr wirksam am Schluss
des Werther: Handwerker trugen ihn, kein Geistlicher hat
ihn hegleitet. Hier handelt es sich nicht um das Ergebnis
einer früheren Handlung, sondern um die Handlung selbst;
das Verhalten der Geistlichen bei der Bestattung Werthers soll
nachdrücklich betont werden. Das Präteritum ist das Tempus
der Erzählung, in der das einzelne Ereignis nur als Glied in
der zusammenhängenden Eeihe vergangener Ereignisse auf-
gefasst wird; das Perfektum braucht man, wenn man ein Er-
eignis als Faktum von selbständiger Bedeutung hinstellen will.
5. Hieraus erklärt sich dann weiter die oft gemachte
Beobachtung, dass man das Präteritum zu gebrauchen pflegt,
wenn man einen Vorgang erwähnt, bei dem man zugegen ge-
wesen ist, das Perfektum, wenn dies nicht der Fall war; z. B.
Als ich gestern am Rhein spazieren ging, fiel ein Kind ins
Wasser. Aber: Denk mal, gestern ist tvieder ein Kind er-
trunken. Der Augenzeuge braucht das Präteritum, weil sich
für ihn der Vorgang mit anderen umständen verknüpft, auch
wenn er sie nicht erwähnt; der Berichterstatter braucht das
Perfektum, weil er nur die Tatsache mitzuteilen hat.
6. Ganz ähnlich, wie sich im Deutschen Präteritum und
Perfektum geschieden haben, verhielten sich nach den Aus-
führungen Delbrücks schon im Indogermanischen Imperfektum
und Aorist: „Das Imperfektum erzählt, der Aorist konstatiert (zieht
das Fazit)" (Delbr. 4,302). „Will man, dass der Zuhörer sich in
der Phantasie die Entwickelung der Ereignisse vorstelle, so wählt
man das Imp.; hat man lediglich die Absicht zu konstatieren, dass
etwas geschehen ist, den Aorist oder (im Ai.) das Perfektum" (306).
„Das Imperf. wird insbesondere gebraucht, wenn der Sprechende
aus seiner eigenen Erinnerung etwas mitteilt oder an die Erinner-
ung des Hörenden appelliert" (S. 309).
98. (Grenzstreitigkeiten zwischen Prät. und Perf.) 1. Um
den tatsächlichen Gebrauch der beiden Tempora im Deutschen
richtig zu beurteilen, hat man aber zweierlei zu beachten;
190 Gebrauch der Tempora. [§ 98.
einmal, dass oft, je nachdem der Redende den einzelnen Satz
in seiner selbständigen Bedeutung oder als Glied einer zu-
sammenhängenden Reihe auffasst, sowohl das eine als das
andere Tempus berechtigt sein kann; sodann dass das Per-
fektum als ein junges Tempus sich seinen Boden erst allmählich
hat erobern müssen. So ist es natürlich, dass wir oft, nicht
nur im Gotischen, das ein zusammengesetztes Perfektum im
Aktiv überhaupt noch nicht hatte^ sondern auch im Hoch-
deutscheuj bis in die neuste Zeit, ein Präteritum finden, das
uns mehr oder weniger befremdet; z, B. Jh. 16,32 qimüiveüa jah
nu qam^ es kommt die Stunde und ist schon gekommen. Mc. 11,2
fulan, ana paruTnei nauh ainshun ni sat. 0. 3, 16, 43 (Da ihr am
Sabbath eure Kinder beschneidet) ziu ist tu ividarmuati^ theih einan
man allan in th'en dag d€ta heilan, quia totum hominem sanum feci
in sabbato. 4, 21, 29. Walther 16, 14 wol im, dort, der hie vergalt
(vgl. § 95, 2). Schiller D. C. 2, 1 Reizend malst du ein Glück^ das
du mir nie gewährtest. Oft werden Abweichungen von der im
allgemeinen anerkannten Norm durch audere Umstände, in der
Dichtung durch Vers und Reim, in der Prosa durch die Rück-
sicht auf den Rhythmus und Wohlklang veranlasst. Denn je
freieren Spielraum der Sprachgebrauch dem subjektiven Er-
messen lässt, um so leichter können solche Momente zur Gel-
tung kommen (Wunderlich 1,215).
2. Wenn einerseits das Perfektum nicht überall angewandt
wird, wo es berechtigt wäre, so hat es anderseits das ihm
gebührende Gebiet auch überschritten. Schon Otfried bietet
ein Beispiel, wo es in der Erzählung gebraucht ist: 4, 15, 53
in thö drulitin zelita, want er se selho welitüy manöta sie
thes nahtes manag f altes rehtes. er habet in thär gizaltan
dröst manag faltan. quad after thera fristi in niamer sin
ni brusti. Doch steht dieses Beispiel, das offenbar der Reim
veranlasst hat, noch ganz vereinzelt. Häufiger wird der Ge-
brauch erst im 15. Jh. und hat dann in manchen Teilen des
Sprachgebietes so zugenommen, dass er jetzt in der Mundart
uneingeschränkt gilt. Schon Gottsched bemerkt in seiner
Sprachkunst ^ S. 479 'dass die Oberdeutschen in Franken,
Schwaben, Bayern und Österreich mit der jüngst vergangenen
Zeit (d. h. dem Präteritum) sich gar nicht zu behelfen wissen,
§ 99.] Perf. in Beziehung auf Gegenwart und Zukunft. 191
ja wohl itzt und kaum geschehene Sachen mit der völlig ver-
gangenen Zeit (d. h. dem Perfektum) erzählen'^). — Der
Grund, warum manche Mundarten das Präteritum ganz ver-
loren haben, liegt, wie Behaghel bemerkt, zum Teil jedenfalls
darin, dass mit dem Schwinden der Endsilbenvokale bei den
meisten schwachen Verben das Präteritum in der 3. Sg. mit
dem Präsens zusammenfiel, also kein ausreichendes Mittel mehr
war, die Vergangenheit zu bezeichnen. Daneben aber wird
auch das Streben zu nachdrücklicher Rede dem Gebrauch des
Perfektums Vorschub geleistet haben (Wunderlich 1,221.225).
99. (Perf. in Beziehung auf Gegenwart und Zukunft.)
1. Nicht immer bezeichnet das Perfektum eine Handlung
der Vergangenheit. Wie es nach seinem Ursprung ein Präsens
ist, so kann es auch jetzt noch auf Gegenwart und Zukunft
bezogen werden; von dem einfachen Präsens unterscheidet es
sich dann dadurch, dass es auf den Abschluss der Handlung
hinweist. Wenn z. B. Walther 32, 16 sagt: vind ich an Liupolt
höveschen tröst, so ist mir min muot entswoUen, so bezeich-
net der Hauptsatz nicht etwas, was bereits eingetreten ist,
sondern erst eintreten soll, etwas Zukünftiges, Erhofftes, aber
mit Zuversicht als notwendige Folge der Bedingung Aus-
gesprochenes; das Perfektum hat gegenüber dem einfachen
Präsens, das der Dichter auch hätte brauchen können, gewisser-
massen modale Bedeutung.
2. In diesem Sinne wird es in Bedingungssätzen oft ge-
braucht (vgl. § 95); z. B. Walther 29,35 er hat niht wol ge-
trunken, der sich ühertrinJcet. 11, 30 swer sich von zwivel
Tier et, der hat den geist hewart. 124, 33 swer dirre wünne
volget, der hat jene dort iierlorn. Nikolaus von Basel 167, 1
zvenne du das getuost, so hest du einen stein in die herte müre gebrochen.
250, 17 und so er uffe die sehste staffele kummet^ so ist im alles sins
leides vergessen. Im Haupt- und Nebensatz: 250, 30 so er die andern
staffeln alle uberstigen het und uffe die sibende kumnien ist, so het
1) Genauere Beobachtungen über die zeitliche und örtliche
Verbreitung dieser wichtigen und interessanten Erscheinung geben
Behaghel, Zeitformen S. 208 f . Wunderlich 1,215 f.
192 Gebrauch der Tempora. [§ 99,
er denne erst befunden (Cordes § 93, 2. 95, 2. 3. 4). Vgl. auch 0. 1, 1, 81
nist Hut, tha^ es biginne, tha^ widar in ringe \ in eigun sie i^ fir-
meinit, mit wäfanon gizeinit. 1, 1, 76 ni gidurrun sies biginnan^
sie eigun se ubarivunnan. Als Ausdruck dienstbeflissener Höf-
lichkeit: Iw. 522 oh du iht von mir geruochest, da^ ist alle^
getan, 243 swa^ ir gebietent, deist getan. Ebenso im impe-
rativischen Optativ: MF. 5, 20 swer nü disiu Uet singe vor
ir, der habe si gegrüe^et von mir (vgl. § 75, 5) und im In-
finitiv (§ 89,3).
3. Da das Perfektum sich auf die Zukunft beziehen lässt,
kann es als relatives Tempus der Vergangenheit nicht nur in
Beziehung auf ein wirkliches Präsens, sondern auch in Be-
ziehung auf ein Futurum oder futurisches Präsens, also im
Sinne eines Futurum exaktum (§ 101) gebraucht werden. In
diesem Falle musste früher das Präsens gebraucht werden, so
dass das relative Zeitverhältnis unbezeichnet blieb (vgl. jedoch
§ 1U8, 1), und auch wir begnügen uns noch gern mit dem ein-
fachen Tempus, namentlich in Bedingungssätzen ; z. B. Walther
14, ^0 sist so guot, sivenne ir güete erkennet min gemüete^
da^ si mir da^ beste tuot = nhd. erkennt, od. erkannt hat.
Ebenso in Temporalsätzen, wenn es nur darauf ankommt den
Zeitpunkt zu bestimmen, z. B. Wenn od. sobald wir nach
Hause kommen^ wollen wir uns zu Tische setzen\ aber nicht
in solchen, in denen die Handlung als abgeschlossen bezeichnet
werden soll; z B. nicht: Wenn er sein Haus verkauft, wird
er fortziehen, sondern wenn er es verkauft hat. Unmöglich
wäre uns auch das Präsens in dem Satze Tat. c. 162, 1 oh
ih gangu inti garawu iu stat, abur quimu inti intfähu iuwih, si
abiero et praeparavero vobis locum, iterum venio et accipiam vos.
Anm. Wie mhd. Dichter, wo ein Ruhepunkt in der Erzählung
eintritt, das Präsens statt des Präteritums brauchen (§ 96, 3), so er-
scheint auch zuweilen das Perf. statt des Plq.; z. B. Trist. 5849 Nu
Rüal unde stniu kint belehent unde geerbet sint von ir herren Tri-
standes hant, Tristan ergab Hut unde lant gote und fuor von lande.
Ebenso 7336. Anders, wohl nur dem Reim zu Liebe 13872 da frumte
in beiden samet, da^ Hst wider Hst gesetzet ist (st. was).
§ 100,] Plusquamperfektum. 193
Plusquamperfektum ^).
100. 1. Das Perfektum kann seiner präsentischen Form
entsprechend sich auch auf die Zukunft beziehen; das mit dem
Präteritum gebildete Plusquamperfektum geht immer auf die
Vergangenheit. Bei weitem in den meisten Fällen erscheint
es als relatives Tempus, das eine Handlung bezeichnet, die
einer andern Handlung der Vergangenheit vorangegangen ist;
z. B. Trist. 2158 nu da:^ die fremeden koufman ir marlcet
hceten ü^geleit, vil schiere wart ze Tiove geseit, wa^ da houf-
rätes wcere. Dieses relative Plusquamperfektum hat sich im
Laufe der Zeit ausserordentlich verbreitet; wir brauchen es gern
in Hauptsätzen und in Nebensätzen der verschiedensten Art,
in abhängigen Substantivsätzen, in Relativsätzen, in temporalen,
kausalen, konzessiven und komparativen Sätzen, doch wird es
auch jetzt keineswegs überall gebraucht, wo es statthaft wäre.
Oft gentigt schon die Reihenfolge der Sätze, um das Zeit-
verhältnis erkennen zu lassen. So in dem zu § 94 angeführten
Beispiel: Gegen Abe?id hörte es auf zu regnen, wir machten
einen Spaziergang und kehrten erst mit der Dunkelheit heim.
Dagegen in veränderter Satzfolge: Gegen Abend machten wir
einen Spaziergang-., es hatte aufgehört zu regnen. Hier ist
das Plq. unentbehrlich ; das einfache Prät. es hörte auf würde
zu der Auffassung führen, dass der Regen erst während des
Spazierganges aufhörte.
2. Da das Plq. sich erst allmählich seinen Platz neben
dem Prät. erobern musste, stossen wir in der älteren und auch
in der neueren Literatur nicht selten auf Sätze, in denen das
Präteritum uns mehr oder weniger befremdet; z. B. Mc. IQ,^ atau-
gida Mariin pizai Magdalene, af pizaiei uswarp, sihun unhulpöns,
dqp' f\c, ^KßGß\r]Kei ^tutci baijuövia. Tat. c. 221, 1 Maria Magdalenisgiu,
fon theru her umwarf sihun diuvala, stuont zi themo grabe, de qua
eiecerat. Hildebr. 33 want er dö ar arme wuntane bouga, so imu
se der chuning gap. Walther 15, 40 und da^ man in Sit lehendic
sach, den ir hant sluoc unde stach. 102, 19 ich vant die stüele leider
leere stän, da wtsheit adel unde alter gewaltecUche sd^en e. Trist.
7666 aber seile er iegeltchem dö, als er den boten e seile. 16184 dem
was vil innecliche leit, da^ sich Tristan ie an genam und ie ze
1) Erdm. § 147. 149. Wunderlich 1, 230 f. Blatz 2, 512 f.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 13
194 Gebrauch der Tempora. [§ 100.
disem kavipfe kam. 1449 nu Blanscheflür ze ir selber kam und
aber ir friundea war genam., si sach in jcemerlichen an. 5375 dö
diz grüezen gar gescach, Tristan ze Morgäne sprach. Zuweilen
stehen auch Präteritum und Plusquamperfektum nebeneinander:
Trist. 11264 hie w,erket alle wunder a^i, dö ich den trachen hcete er-
slagen und ich im mit Ithter arebeit ü^ sinem töten rächen sneit
dise Zunge und si danne truoc, da^ er in sider ze töde sluoc. 1816
dö Blanscheflür, ir frouwe, erstarp und Riwalin begraben was, des
weisen dinc — gefuor. — In derselben Weise wird der Opt. Prät.
gebraucht, wo der spätere Gebrauch das Plq. verlangt.
3. Wie sich das Plq. als Mittel der relativen Zeit-
bestimmung allmählich verbreitete, bedarf noch genauerer Unter-
suchung i). Als ältesten Beleg eines aktiven Plq. in einem
Temporalsatz führt Wunderlich 1, 239 aus einer Homilie des
10. Jh. an (MSD. P, 233): so he it imo thö gegivan hadda^
so wieda he it an üses drohtines era. Otfried braucht es
noch nie in den Nebensätzen mit thö und sid-^ Hartmann wohl
nach döj als, e (mit dem Opt.), nicht bei so und sit. Wir
setzen nach nachdem regelmässig das Plq., nach da, als, weil
oft das einfache Präteritum. Natürlich sind nicht die Kon-
junktionen die Ursache, warum dieses oder jenes Tempus ge-
braucht ist, sondern das Verhältnis der Sätze bestimmt sowohl
die Wahl der Konjunktion als des Tempus. — Über das Prät.
mit ge- in der Bedeutung eines Plq. s. § 108.
4. Seltener begegnen Plusquamperfekta, die sich als
relative Zeitbestinnnung nicht auffassen lassen, sondern der ur-
sprünglichen Bedeutung der Form entsprechend nur eine
Handlung der Vergangenheit als abgeschlossen bezeichnen;
z. B, Trist. 13167 dö wart er vil unde vil gebeten, da^ er sin rotten-
spil von ime hcete getan. 12935 den zwein gap si ze solde zweinzec
marc von golde den Worten da^ diz mcere von in verholen ivcere.
Nie. von Basel 324, 37 f. zuo .stunt, do wir unsern willen darin ge-
gobent, zuo stunt do wörent wir gesunt und gerech worden. Ebenso
noch im Nhd. : Sobald er eintrat, hatte ich ihn erkannt. Kaum er-
blickte er ihn, so hatte er sich auf ihn gestürzt. In diesen Sätzen
bezeichnet das Plq. sogar eine spätere Handlung als das einfache
Präteritum.
Anm. 1. Da es uns oft freisteht, sowohl den Abschluss der
1) Über die passiven Formen im Ahd. s. Cuny, Der temporale
Wert etc.
§ 101] Futurum und Futurum II. 195
Handlung als das relative Zeitverhältnis zu bezeichnen oder un-
bezeichnet zu lassen, können sich für denselben Satz mannigfache
Formen ergeben, am meisten bei ehe und bevor- z. B. 1. Weder
das relative Zeitverhältnis noch der Abschluss der Handlung ist be-
zeichnet : Noch ehe er eintrat, erkannte ich ihn an seiner Stimme.
2. Nur das Zeitverhältnis ist bezeichnet: Noch ehe er eintrat, hatte
ich ihn erkannt. 3. Nur der Abschluss der Handlung: Noch ehe er
eingetreten war, erkannte ich ihn. 4. Abschluss und Zeitverhältnis:
Noch ehe er eingetreten war, hatte ich ihn erkannt.
Anm. 2. Die Gewohnheit, das Plq. als relatives Tempus und
nicht zugleich als eine in der Vergangenheit abgeschlossene Hand-
lung' aufzufassen, führte zu neuen ungefügeren Zusammensetzungen,
wenn dies zweite Moment betont werden sollte. Er hatte längst
beschlossen gehabt, war ihm zuvorgekommen gewesen u. dgl. Über
die Verbreitung solcher Formen'in Mundarten s. Blatz 1, 513 Anm. 4.
Futurum und Futurum II ^).
101. 1. Viel später als zum Perf. und Plusq. ist die Sprache
zu einer anerkannten Form für das Futurum gekommen (§91 f.)
und noch immer brauchen wir^ wenn der Zusammenhang eine
falsche Auffassung nicht befürchten lässt, in Haupt- und Neben-
sätzen gern das einfache Präsens; z. B, Ich komme bald. Mor-
gen reist er ab. Sobald er kommt, brechen wir auf. Rufe den
ersten Ä7^zt, den du triffst. Da ich morgen keine Zeit habe, toill
ich die Sache heute e^^ledigen. Ich erwarte, dass er mich besucht.
Ich fürchte, dass wir zu spät koTumen. Ich weiss noch nicht, wann
ich abreise. Besonders meiden vs^ir die zusammengesetzte Form
im bedingenden Nebensatz, zumal w^enn er ohne Konjunktion
gebildet ist: Beeilst du dich, loenn du dich beeilst, so wirst
du ihn noch einholen. Ganz versagt ist sie uns in Forderungs-
und Absichtssätzen; z. B. Ich wünsche, dass du zu ihm gehst,
Lass uns eilen, damit wir ihn noch erreichen-.^ obwohl doch
früher auch in ihnen werden stehen konnte, nicht um die Zukunft,
sondern um den Eintritt der Handlung, die Aktionsart, zu bezeich-
nen; z. B. Nie. von Basel 155, 6 nuo sol ich iuch von der andern
(sachen) ouch sagen, das ir deste me Wortzeichen befindende
werdent (Cordes § 170). Dagegen pflegen wir in Folgesätzen,
<lie von einem Präsens oder Präteritum abhängen, das Futurum
1) Gr. 4, 176 ff. Erdm. § 141 f. Wunderlich 1, 175 f. Blatz
2, 507 f. 514 f.
196 Gebrauch der Tempora. [§ 102.
zu gebrauchen: Es ist so trocken, dass bald Wassermangel
eintreten wird. Nur nach einem Futurum meiden wir auch in
Folgesätzen lieber die Wiederholung der schwerfälligen Form.
2. Als relatives auf ein Tempus der Vergangenheit be-
zügliches Tempus der Zukunft würde dem präsentischen wird
gehest die Form ward gehen entsprechen; aber nur der Optativ
würde gehen hat sich erhalten und kann in diesem Sinne
gebraucht werden; z. B. Sie freute sich, dass er bald heim-
kehren würde. Wo der Indikativ erforderlich ist, müssen wir
die relative Zukunft auf andere Weise ausdrücken, durch
wollen oder sollen, die alten Hülfszeitwörter des Futurums
(§ 91), oder das junge im Begriff sein', z. B. Ich traf ihn,
als er ausgehn wollte oder sollte, — im Begriff war aus-
zugehn. Als ich zu ihyn kam, wollte oder sollte er gerade
ausgehen, war er im Begriff auszugehen. Vgl. auch § 92, 5.
3. Das Futurum exactum nimmt nach seiner Bildung^
an der Bedeutung des Futurums und des Perfektums teil, am
Futurum durch das Hülfszeitwort, am Perfektum durch den
Infinitiv. Es kann als absolutes Tempus eine zukünftige
Handlung als abgeschlossen bezeichnen; z. B. Er wird sein
Geld hald durchgehracht haben. Es kann als relatives Tempus
in hypothetischen und temporalen Nebeusätzen eine zukünftige
Handlung bezeichnen, die einer andern zukünftigen Handlung
vorangegangen ist; z. B. Wenn ich wiederkomme, wird er
bereits abgereist sein. Häufig ist weder die eine noch die
andere Verwendung. Im relativen Gebrauch behauptet sich
in der Regel das Perfektum oder das Präsens (§ 99, 3).
Anm. Über den modalen Gebrauch der Futura s. § 109.
Das Tempus des irrealen Opt. Prät. ^)
102. 1. Der Optativ Präteriti konnte im Germanischen
als Modus irrealis von jeher sowohl auf die Vergangenheit als
auf die Gegenwart oder Zukunft bezogen werden 2). Auf die
1) Gr. 4, 183 f. Erdm. § 167 f. Wunderlich 1, 366 f. Blatz
2,530. 533. 1,569.
2) Dass der Opt. Prät. zum Modus der Irrealität wurde, er-
klärt Delbr. 4, 403 f. 408 daraus, dass die Vergangenheit selbst schon
eine Entfernung von der Wirklichkeit ist. Vgl. § 95, 3.
§ 102.] Das Tempus des irrealen Opt. Prät. 197
Vergangenheit bezieht er sich z. B. Mt. 11, 21 unti ip waurpeina in
Tyr^ jah Seidöni landa mahteis pös waurpanös in izwis, airis
pau . . idreigödMeina. Auf die Gegenwart : Jh. 8, 42 jabai gup
atta izwar wesi, friodedeip pau mik. Präteritale und präsentische
Bedeutung neben einander Mt. 11, 23 jabai in Saudaumjam waur-
peina mahteis pös waurpanös in izwis, aippau eis weseina und
hina dag. Erst die Bildung der zusammengesetzten Zeitformen
gab die Möglichkeit genauerer Tempusunterscheidung, indem
man in Beziehung auf die Vergangenheit den Opt. Plq. setzte.
Im Ahd. behauptet sich noch die einfache Form; z. B. 0.
3,24,51 wärist thu Mar, ni thultin wir nu thesa quist]
auch im Mhd. kann sie noch gebraucht werden, z. B. Nib.
927, 3 het er sin stvert in hende, so wcere ej Hagenen tot.
Daneben aber erscheint die zusammengesetzte, z. B. Iw. 678
ich hete^ ha^ geladen e. Walther 10, 30 het er gewestj da^
davon übel Jcünßic wcere, so het er wol underJcomen des
riches swcere. Und wie stark allmählich das Bedürfnis der
Tempusunterscheidung empfunden wurde, zeigt sich darin, dass
neben Verben, von denen ein Plq. nicht gebildet werden
konnte, die Beziehung auf die Vergangenheit durch den Inf.
Perf. ausgedrückt wurde (§ 89), z. B. Nie. von Basel 290, 13
möhte ich es heimliche geton haben, ich hette uioern bruedern
einen sunderlichen brief geschriben. Jetzt wird stets das
Plusquamperfektum gebraucht.
2. Mit den Formen des Prät. und Plq. treten dann ferner
futurische Formen in Konkurrenz, zunächst solche mit sollte
und wollte, dann die mit würde gebildeten, die anfangs noch
inchoative Bedeutung haben (§ 93, 1); z. B. Nib. 1703 da^ wolde
ich iemer dienen, swer rceche miniu leit. Walther 62, 20 wän unde
wünsch da^ wolde ich alle^ ledic län. 83, 5 dich selben wolde ich
lützel klagen. Freid. 130, 12 selten alle flüeche kleben, so müesten
lützel Hute leben. Nie. von Basel 254, 12 und dete er das, so getrüwe
ich, got solte in erlühten mit siner göttelichen wisheit. 234, 27
würdest du dag ende, so wer est du alleine one alle gezügnisse.
284, 7 wurdent ir danne umb üch suochende, villihte wurdent ir
ettewa^ wildes nohe bi üch spürende (Cordes § 241).
3. Die Umschreibungen mit würde behalten auch da,
wo sie den irrealen Opt. Prät. vertreten, etwas von ihrer
futurischen Bedeutung, und sind nicht in allen Sätzen, in
198 Gebrauch der Tempora. [§ 102.
denen der Irrealis statt hat, zulässig oder geläufig. Ihre
Hauptstätte haben sie in konditionalen Hauptsätzen; in den
konditionalen Nebensätzen soll man sie meiden; z. B. Wenn
ich Geld hätte, würde ich das Haus häufen, nicht: wenn ich
Geld haben würde, etc. Die Rücksicht auf den Wohlklang
empfiehlt allerdings diese Forderung der Grammatiker ; ander-
seits aber drängt der Umstand, dass die Formen des Indi-
kativs und Konjunktivs oft nicht unterschieden sind, zum
Gebrauch der Umschreibungen. Als berechtigt wird mau sie
besonders da anerkennen müssen, wo die Aussage zugleich als
nichtwirklich und als zukünftig bezeichnet werden solP); z. B.
Warum sollte man nicht die Regierungen nach jeder Kriegs-
erklärung vor Gericht stellen? Wenn nur die Völker das
begreifen würden, wenn sie selbst die Gewalten, die sie zum
Mord führen, dem Gericht unterwerfen würden, tvenn sie
sich weigern würden . . . dann würde der Krieg ausgerottet.
Namentlich wird diese Form in indirekten Bedingungssätzen
gebraucht, um die relative Zukunft zu bezeichnen: Er sagte,
wenn sie ihm- sein Gut verkaufen würden, sei er ruiniert.
Dass auch die ältere Sprache in den konditionalen Neben-
sätzen die Umschreibungen nicht mied, zeigen einige der an-
geführten Beispiele.
4. Noch deutlicher tritt die futurische Bedeutung in den
irrealen Vergleichsätzen mit als ob hervor (§ 139); vgl. Es
schien, als ob sie sich nicht verständen : es schien, als ob sie
sich nie verstehen würden. Ähnlich in den einer Negation
untergeordneten Sätzen : Ich wüsste keinen, der das täte: — ,
keinen, der das tun würde. — Ungebräuchlich sind die Formen
mit würde in den Exzeptivsätzen (§ 143, 3), in den Wunschsätzen
(§ 115,3), in Aussagesätzen mit fast und beinahe (§ 114,2); auch in
dem 'vorsichtigen Konjunktiv*, dem deliberativen Irrealis (§ 116, 3. 4)
und in manchen andern Fällen. Wir unterscheiden: Du müsstest
ihm helfen und Du würdest ihm helfen müssen; jenes bezeichnet
eine nicht erfüllte Pflicht, dieses setzt einen (ausgesprochenen oder
gedachten) Bedingungssatz voraus.
1) Merkes, Infinitiv S. 25 f.
§ 103.] Tempusgebrauch in indirekten Sätzen. 199
Tempusgebraiich in indirekten Sätzen^).
103. 1. Indirekte Sätze sind zunächst Sätze, in denen eine
wirklich gesprochene Rede in eine Form gekleidet ist, die sie
als Eef erat erkennen lässt; direkt: Er sagte: 'es ist zu spät'\
indirekt: Er sagte, es sei zu spät; dann aber auch Sätze, in
denen ein vorher nicht ausgesprochener Gedanke, eine Wahr-
nehmung oder Erkenntnis, Hoffnung oder Befürchtung, ein
Wunsch oder eine Absicht in entsprechender Form Ausdruck
findet. Direkte Sätze bilden überall die Grundlage der in-
direkten und jederzeit ist diese ursprüngliche Form der Satz-
verbindung neben der jüngeren, enger gefügten, in Geltung
geblieben; z. B. Nib. 208 dem vogete was da^ wol geseit, stn hruoder
ivas gevangen. Nib. 50 da^ ist mir wol bekant, nie keiser wart so
riche Walther 20, 14 got wei^ ivol, ich bin dir gram,. Iw. 6450 ich
tvcene wol, si tvas stn wvp. Und so noch jetzt: Ich weiss, er kommt.
Ich fürchte, du bist getäuscht. Er hofft, das SchlimTnste ist vorbei.
2. Die charakteristischen Zeichen der indirekten Rede
gegenüber der direkten sind vor allem die Verschiebung in
der Bezeichnung der Person und im Tempus, weiterhin Än-
derungen im Modus, Konjunktionen und Wortstellung^). Der
Satzverbindung: Er sagte: 'Du kommst zu spät' kann als
indirekter Satz entsprechen: Er sagte, du kämest zu spät\
aber nur wenn die in dem direkten Satze mit du bezeichnete
Person zugleich für den Berichterstatter die angeredete Person
ist; sonst heisst es, je nachdem in dem direkten Satze der
Berichterstatter oder eine dritte Person angeredet war: Er
sagte, ich käme zu spät, oder: Er sagte, er käme zu spät.
Der letzte Satz könnte auch einem direkten: Er sagte: 'Ich
komme zu späf entsprechen. Immer erfolgt in dem indirekten
Satze die Bezeichnung der Person nach dem Standpunkt des
gegenwärtig Redenden. Ebenso ist es mit dem Tempus. Daraus
1) Erdm. S. 129 f. 141. 178 f. Mourek § 127—129. Wunderlich
1,351—356. Blatz 2,796-801. 986-989. 1014—1020. Vor allem:
Behaghel, Der Gebrauch der Zeitformen im konjunktivischen
Nebensatz des Deutschen. Paderborn. 1899. (Literaturangaben
daselbst auf S. 3 f.)
2) Behaghel S. 160 f. Wunderlich 1, 345 t Blatz 2, 1010 f.
200 Gebrauch der Tempora. [§ 103.
ergeben sich für die Sätze, in denen die alten einfachen
Tempora gebraucht wurden, folgende Bestimmungen^).
3. (A. Im Hauptsatz steht ein Präsens oder ein Präteritum.)
Nach einem Präsens im Hauptsatze steht in dem indirekten
Satze dasselbe Tempus, das dem direkten Satze zukäme; denn
der Standpunkt des gegenwärtig Redenden ist derselbe, von
dem aus die direkte Aussage erfolgte. Der Opt. Präs. bezieht
sich also auf Gegenwart oder Zukunft, der Opt. Prät. auf die
Vergangenheit 2); z. B. Walther 19,17 Phüippes künec, die nähe
spehende7i zthent dich, du sts niht dankes railte (direkt: er enist
niht dankes milte). 63, 10 ich hän tröst, da^ mir noch fröude bringe^
der ich mtnen kumber hän geklaget (direkt: si bringet mir noch
fröude = sie wird mir noch Freude bringen). Dagegen Walther
25, 26 Ob iemen spreche, der nü lebe, da^ er gescehe ie grce^er gebe
(direkt: ichn gesach nie größter gebe). Beide Tempora nebeneinander:
Er. 2100 so saget man mir danne, da^ kein tw€rc wcere noch si
kurzer danne BlUi (direkt: kein twerc enwas noch ist). Ohne Be-
ziehung auf die Vergangenheit steht der Opt. Prät., w^enn er
in irrealem Sinne gebraucht ist; denn dann kommt er auch
der direkten Rede zu ; z. B. Walther 82, 8 dem setze ich mtne wts-
heit des ze pfände, wolle er ir geleite folgen mite, da^ in unfuoge
niht erslüege.
4. Nach einem Präteritum im Hauptsatz steht in der
Regel der Opt. Prät., nicht nur wenn auch dem direkten Satze
das Prät. zukäme, sondern auch wenn dort das Präsens ge-
braucht sein müsste; denn indem der Redende im Hauptsatz
das Prät. braucht, weist er damit die Aussage des abhängigen
Satzes der Vergangenheit zu. Einem Präteritum des direkten
Satzes entspricht das Präteritum; z. B. Walther 75, 17 mich dühte,
da^ mir nie lieber wurde (direkt: nie enwart mir lieber); einem
Präsens : 23, 1 1 ej troumte dem künege, ej wurde boeser in den riehen
(direkt: ej wirdet boeser)] 59, 19 ich wände, da^ si woere missewende
frt (direkt: si ist frt). Nur in dem Falle ist das Präsens nach
einem Präteritum berechtigt, dass die Aussage des Nebensatzes,
1) Beispiele für indirekte. Sätze auch in § 120 ff.
2) Dass dem Opt. Prät. ursprünglich Vergangenheitsbedeutung
zugekommen sei, bestreitet Behaghel; warum er dennoch in der
indirekten Rede in dieser Bedeutung erscheine, erörtert er S. 181 —
195; vgl. auch Wunderlich 1,353.
§ 103.] Tempusgebrauch in indirekten Sätzen. 201
obsclion sie in der Vergangenheit erfolgte, doch noch für die
Gegenwart gilt ^); z. B. 0. 4,23,25 Die Juden verlangen Christi
Tod wanta er- gikundta herasun, tha^ er st selbo gotes sun. Walther
95, 15 dennoch seif st mir däbt, da^ mtn düme ein vinger st. Ebenso
114,18.84,20.12,14.33,5. Jedoch ist in diesem Falle das Präs.
nur gestattet, nicht nötig; in Hartmanns Iwein folgt auf ein
Prät. nie ein Präsens.
5. Ausnahmen^) sind im Ahd. und Mhd. nicht häufig
und lassen sich oft durch die besonderen Umstände erklären.
Auffallend oft begegnen sie in Forderungs- und Absichtssätzen,
wo also der Modus eine doppelte Bedeutung in sich vereint,
zugleich der Bezeichnung der indirekten Rede und der Forder-
ung dient. Ferner in Nebensätzen zweiten Grades, wo der
abweichende Modus den untergeordneten Nebensatz von dem
übergeordneten unterscheidet. Nicht selten hat, namentlich
bei Otfried, auch wohl der Reim seinen Einfluss geltend
gemacht. Beispiele, in denen der Reim in Betracht kommt,
sind mit einem * bezeichnet.
a) Auf ein Präsens folgt ein Präteritum. In Forderungs- und
Absichtssätzen: 0. 1,27,53* tha^ ist thoh ärunti mtn, tha^ ih iu
gizalti^ wa^ er hera wolti. 1, 27, 38*. 3, 6, 17*. Auch Christus und
Samariterin v. 21 Mrro^ ih thicho ze dir, tha^ wa^^er gähtst du Tnir,
da^ ih mer ubar tac ne liufi hera durstac\ doch mag hier eine
irreale Vorstellung 'gäbest du mir Wasser, so liefe ich nicht', hinein-
spielen. In einem indirekten Aussagesatz 0. 2, 13, 28* giduent sie
lütmäri, tha^ er io druhtin wäri. In einer indirekten Frage 3, 17, 17*
nü zeli uns avur follon hiar th'en thtnan willon, tha^ thtna^ giräti,
wa^ i^ theses quäti, gib uns vollständig deinen Willen kund, dein
Urteil, was es dazu sagt. Jüngere Belege aus mhd. Prosa: Behaghel
S. 38 f. Blatz 2,988.
b) Auf ein Präteritum folgt ein Präsens: In Forderungs- und
Absichtssätzen: 0. 1,8,20* kundt er imo in droume, er thes wtbes
wola goume; ebenso 1,21,4*. 3,6,45*. 4,7,82*. 1,23,21. In einem
Absichtsatz zweiten Grades, in dem die Präsensform auf etwas
späteres hinweist, als das Prät. im übergeordneten Nebensatz: 1, 23, 3
so quam thiu gotes stimna in thia wuastinna . . . tha^ er (Johannes)
fuari thanana fram Ü3 untar tvoroltman, tha^ er (Christus) thie
wenige ni finde so firdäne joh mannilth thes gähe, zi huozu gifähe.
1) Behaghel S. 21 f.
2) Behaghel S. 30. 34 ff. 38 f.
202 Gebrauch der Tempora in indirekten ISätzen. [§ 104.
Ebenso 3, 26, 51 ; in einem untergeordneten Bedingungssatz mit in
thiu 4, 20, 23; in einem untergeordneten Folgesatz 3, 6, 22 f. Wechsel
des Modus in koordinierten Forderungssätzen zweiten Grades:
1, 23, 22 giböt, man afolötiy thie wUga gote garoti, thie heristrä,^a
insciere, ouh scöno giziere. 3, 21, 31 f. [Dagegen ist bei Walther
16, 31 hie lie^ er sich reine toufen, dag der mensche reine st ; dö
lies er sich hie verkaufen^ da^ wir eigen wurden fri der Wechsel
des Tempus in der Bedeutung der Sätze begründet; die Aussage
des ersten erstreckt sich auch auf Gegenwart und Zukunft, die des
zweiten bezeichnet einen Vorgang der Vergangenheit. Und so lässt
sich wohl auch 0. 4, 20, 17 deuten: quädun^ sih bihia^i, Sr iro kuning
tcäri, zelle ouh in giwissi, tha,^ er selbo krist st, er habe sich be-
rühmt und behaupte (vgl. § 96, 2)].
104. (B. Im Hauptsatz steht ein Perfektum oder aorist-
isehes Präsens.) 1. Vi^enn im regierenden Satz das Perfektum
steht *), also ein Tempus^ das nach Bildung und Bedeutung
teils zum Präsens, teils zum Präteritum neigt, gilt im ab-
hängigen Satz im allgemeinen derselbe Tempusgebrauch wie
nach einem Präsens. Das Präteritum steht also, wenn die
Aussage in die Vergangenheit fällt, z. B. Erec 3687 wände wir
haben vernomen von dem gräven mcere, da^ er benamen wcere beide
biderbe unde guot (dass er gewesen sei); ebenso 7337 Sit ich nü
gesaget hän, wie dag phert wcere getan. Dagegen ist das Präsens
durchaus Regel, wenn die Aussage auch noch für die Zeit des
gegenwärtig Redenden gültig ist. Oft drückt der abhängige Satz
eine Forderung oder Absicht aus; z. B. 0. 5, 12,65 mit thiu ist gi-
zeinot ma7inon, sih untar in io minnön. 2, 4, 57 ig ist giscriban
fona thir, thag faren engila mit thir (fahren sollen). 1, 5, 39 hab^n
ih gimeinit . . thag ih einluzzo mtna worolt nuzzö. Eine Aussage
z. B. Erec 5781 dag ich hän von dir vernomen, dag du barmherzic
stst. 8855 ouch ist mir dag für war geseit, got st noch als er ie
was. Aussage- und Forderungssatz neben einander Walther 62,28
ir habt mir geseit also, stver mir beswcere mtnen muot, dag ich den
viache wider frö\ er schäme sich lihte. In solchen Sätzen unter-
scheidet sich also der Tempusgebrauch nach einem Perfektum
von dem nach einem Präteritum. Nach einem Präteritum
pflegt, auch wenn die Aussage des untergeordneten Satzes
für die Gegenwart noch gilt, das Prät. zu stehen; nach einem
1) Behaghel S. 26 f.
§ 105.] Bezeichnung des relativen Zeitverhältnisses. 203
Perfektum dagegen das Präsens. Doch ist die Sache wohl nicht
so aufzufassen, dass das Perfektum im Hauptsatz das Präsens im
abhängigen Satze zur Folge hat, sondern umgekehrt, im Hauptsatz
steht das Perfektum, weil die Aussag-e des abhängigen Satzes, die
doch die Hauptsache ist, in ihrer Bedeutung für die Gegenwart
hervorgehoben werden soll (§ 97, 3).
2. Nur ausnahmsweise, zum Teil unter Reimzwang, er-
scheint das Präteritum, z. B. 0. 1, l,9f 13 dunkal eigun funtan,
zisamane gibuntan, sie ouh in thiu gisag^ttn, tha^ then thio buoh
nirsmäMtin etc. O. 2, 4, 75 thö sprah krist zi imo sär : giscriban
ist hl alawär, tha^ mannillh giweriti (sich hütete), selbdruhünes ni
koröti, wo zu beachten ist, dass der regierende Satz selbst durch
das vorangehende sprah als ein der Vergangenheit angehöriger
Ausspruch bezeichnet wird. Vgl. auch 1, 1, 9. 4, 21, 5 und (in einem
untergeordneten Temporalsatz) 4,15,56. Wechsel des Tempus:
2, 4, 95 thär ist gibotan harto, tha^ man imo io gilicho thiono foraht-
Itcho, man ouh bidrahtöti, er anderan ni betöti.
3. Auch auf ein Präsens, das eine Handlung der Ver-
gangenheit bezeichnet (§ 96), folgt uaturgemäss das Präsens^):
0. 4, 1, 1 Nil thie eivarton machönt tha^ giräti, . . biginnent frammort
ivtsen^ ivie sie inan firliesen^ joh tha^ io thenkit iro muat, wie sie
firthuesben thagguotmu will ih sci'iban etc. Das Präteritum 1.1,21
sie ditent i^ filu sua^i joh me^ent sie thie fuagi, thie lengi joh thie
kurti, thei^ gilustltcha^ ivurti ist nicht weniger auffallend als nach
einem wirklichen Präsens oder nach dem Perfektum.
Über den Einfluss des Irrealis auf das Tempus (eigent-
lich Modus) des abhängigen Satzes s. § 148.
105. (Bezeichnung des relativen Zeitverhältnisses.) 1. So
lange das Verbum nur die beiden einfachen Tempora hatte,
kam das relative Zeitverhältnis zwischen der Handlung des
Haupt- und des Nebensatzes nur wenig zum Ausdruck. Zwar
wenn im Hauptsatz ein Präsens steht, bestimmten die beiden
im Nebensatz gebrauchten Tempora mittelbar auch dieses
relative Zeitverhältnis, denn der Standpunkt des gegenwärtig
Redenden ist derselbe, von dem aus die Aussage des ab-
hängigen Satzes in direkter Form erfolgte. Aber wenn im
Hauptsatz ein Präteritum stand, blieb das relative Zeitverhältnis
1) Behaghel S. 29 f.
204 Gebrauch der Tempora in indirekten Sätzen. [§ 105.
unbezeichnet. Das Präteritum im Nebensatz konnte eine Hand-
lung bezeichnen, welche der Aussage des Hauptsatzes gleich-
zeitig ist, oder ihr folgt, oder ihr vorangeht; es kann einem
Präsens oder einem Futurum oder einem Präteritum der
direkten Rede entsprechen; z. B. 0. 3,8,24 prnämun in gi-
wäri, thei^ ein gidrog wärt (er ist ein Gespenst). 1,17,69
kundtun sie uns, thaj er bi unsih döt wurti) er wird für uns
sterben). 4, 19, 30 quädun, si^ gehörtin (wir haben es gehört).
Durch die Bildung der zusammengesetzten Zeitformen trat eine
Änderung in diesen Verhältnissen ein. Statt des alten Prä-
teritums konnte nun nach einem Präsens das Perfektum, nach
einem Präteritum das Plusquamperfektum statt des futurischen
Präsens endlich die zusammengesetzten Futurformen mit wollen,
sollen, werden gebraucht werden; z. B. Walther 45, 7 ein
frouwe wil ze schedeliche schimpfen, ich habe % gelobet.
18, 31 da muget ir alle schouwen wol ein wunder bi, wie^
ime der smit so ebene habe gemachet. — Eneit 1936 si sprach,
si hedde et versworen. Iw. 8026 si sagete ir, da^ er komen
wcere. Aber langsam dringen diese zusammengesetzten Formen
durch. Noch im Mhd. finden sich allenthalben zahlreiche Belege
für das einfache Präteritum; z. B. Walther nach einem Präsens;
40, 13 was er mit mir pficege, niemer niemen bevinde da^, wan er
unt ich-, 60, 10 doch solt du gedenken, ob ich ie getrcete fuo^ von
meiner stoete; ebenso 66,19. 104,15. 25,26. Nach einem Präteritum:
84, 19 die Seiten mir, ir malhen schieden danne leere (sie wären mit
leeren Taschen abgezogen); ferner 75,17. 121,34. 124,12. Ebenso
behauptet sich das futurische Präsens. Umfassende Beobachtungen
über die Fortschritte der zusammengesetzten Tempora fehlen
noch. Das Perfektum kommt nach Behaghels Beobachtungen
(Zeitfolge S. 25) bei Otfried nur einmal vor: 3,12,21 nüy
quad er, ni helet mih, wio ir frnoman eigit mih (wofür ihr
mich gehalten habt); im Erec fand er auf 19 Belege des
Präteritums nur 9 des Perfektums. 'Erst seit dem 15. Jh.
gehört dieser Form die Alleinherrschaft.'
2. Durch die Einführung der Perfektform wurde für die
relative Tempusbezeichnung nichts gewonnen ; denn nach einem
Präsens fand von jeher auch das relative Zeitverhältnis durch
die beiden Tempora des Präsens und Präteritums Ausdruck.
§ 106.] Consecutio temporum. 205
Dagegen nach einem Präteritum ermöglichte erst das Plus-
quamperfektum, die Aussage des Nebensatzes als der des
Hauptsatzes vorangegangen zu bezeichnen. Die Futurformen
endlich gaben Mittel zu genauerer Zeitbestimmung sowohl nach
einem Präsens^ wie nach einem Präteritum.
3. Wie im Aktiv werden auch im Passiv die Formen
erst allmählich zu Mitteln der relativen Zeitbestimmung aus-
gebildet. Zur Bezeichnung der relativen Vergangenheit konnte
nach einem Präteritum neben wäri c. Part, auch wurti c. Part,
gebraucht werden; z. ß. 0. 1,17,17 er ni hörta man tha^y
tha^ io fon magadhurti man giboran wurti. Und selbst zur
Bezeichnung der relativen Zukunft wird in Absichts- und
Forderungssätzen neben werde und wurti c. Part, st und wäri
gebraucht, indem man nicht die Handlung sondern den Ab-
schluss der Handlung im Auge hatte (§ 99); z.B. 0. 2,24,33
Firdrtb fon uns in thräti allo missedäti . . • tha^ wir manahouhit
zi thtnen sin gifuagit, 3, 26, 27 er riat, tha^ man biivurbi, tha^ ther
man eino irsiurhi . . joh thuruh sinan einan dolk wäri al gihaltan
ther folk, damit durch seinen Tod das ganze Volk erhalten würde
od. bliebe. In Notkers Boethius aber ist in solchen Sätzen
schon stets werden c. Part, gebraucht. Cuny S. 36 f.
Formales Verhältnis der Tempora im Haupt- und Nebensatz
(Consecutio temporum).
106. 1. Eine vollkommene formale Übereinstimmung
zwischen dem Tempus des regierenden und des abhängigen
Satzes konnte, solange nur die einfachen Tempora gebraucht
wurden, nicht stattfinden. Auf ein Präteritum zwar folgte in
der Regel ein Präteritum, auf ein Präsens aber nicht selten
ein Präteritum, nämlich erstens, wenn der abhängige Satz im
Modus Irrealis stand (§ 134 f.), zweitens, wenn die Aussage
in die Vergangenheit fiel. Durch die Einführung der zusammen-
gesetzten Tempora wurde die formale Übereinstimmung grösser.
Denn jetzt brauchte nach einem Präsens eine in die Vergangen-
heit fallende Aussage nicht mehr durch das Präteritum be-
zeichnet zu werden; es durfte dafür das Perfektum, also eine
präsentische Form (ich habe gegeben, ich sei gekommen) ein-
treten, und um eine in die Zukunft fallende Handlung zu
206 Gebrauch der Tempora in indirekten Sätzen. [§ 106.
bezeichnen, standen nach einem Präsens die Formen mit
werde, nach einem Präteritum die mit würde gebildeten zu
Gebote. Somit ergeben sich, wenn wir von dem Irrealis ab-
sehen, als normale Formen
a) für die ältere Sprache: b) für die jetzige:
( er saqt, er komme,
saqet, queme. { ^ , ,
[ „ er werde kommen.
saget, quämi. „ er sei gekommen.
[ er sagte, er käme.
sageta, quämi. | „ würde kommen.
\ „ wä7'e gekommen.
Aber diese reinliche Scheidung ist aus verschiedenen Gründen
nicht zur Geltung gekommen.
2. ursprünglich war das Tempus auch des abhängigen
Satzes auf den Standpunkt des gegenwärtig Redenden bezogen
worden; je mehr sich der hypotaktische Satzbau ausbildete,
je enger die Verbindung des regierenden und des abhängigen
Satzes aufgefasst wurde, um so mehr gewöhnte man sich, die
Tempusformen des Nebensatzes als relative Zeitbestimmungen auf
den regierenden Satz zu beziehen, und damit wurde dann die
Unterscheidung präsentischer und präteritaler Formen wertlos;
er komme und er käme, beide Formen bezeichnen die Gleich-
zeitigkeit; er sei gekommen und er wäre gekommen die relative
Vergangenheit, er imrde kommen und er würde kommen, die
relative Zukunft^). Es ist also begreiflich, wenn die Sprache die
Formen als gleichbedeutend behandelte und darnach strebte
eine von beiden fallen zu lassen. Die Entscheidung fiel in
den verschiedenen Teilen des Sprachgebietes verschieden aus,
und in den Mundarten anders als in der Schriftsprache 2). Die
1) Darin, dass die Tempora des abhängigen Satzes als relative
Zeitbestimmungen aufgefasst wurden, sehe ich den Hauptgrund dafür,
dass die Consecutio temporum aufgegeben wurde. Behaghel, Zeit-
folge S. 197 ff. sucht ihre Auflösung aus dem gesteigerten Gebrauch
zu erklären, den das Präsens und das Perfektum als erzählende
Tempora erfuhren. Die Form dieser Tempora habe im abhängigen
Satz den Opt. Präs., ihre Bedeutung dagegen den Opt. Prät. em-
pfohlen. Dieser Widerstreit habe zur Verwirrung geführt.
2) Behaghel S. 40 f.
§ 106.] Coiisecutio temporum. 207
Mundarten haben sich für eine der beiden Formen entschieden.
Im Schwäbisch-Alemannischen gilt ausschliesslich der Optativ
Präsentis; in den mitteldeutschen, niederdeutschen und ober-
fränkischen Mundarten der Optativ Präteriti; das Bairische
schliesst sich teils dem einen, teils dem andern Gebiet an. In
der Schriftsprache werden nebeneinander Formen des Präs.
und des Prät. gebraucht, jedoch nicht rein nach Willkür.
3. um diese Entwickelung zu verstehen, haben wir so-
wohl die Form als die Bedeutung* der konkurrierenden Optative
ins Auge zu fassen. Durch den Verfall der Endungen ist im
Nhd. der unterschied zwischen dem Indikativ und Optativ
zum grossen Teil beseitigt. Im Präsens unterscheidet nur
das Verbum sein die beiden Modi in allen Formen; bei allen
übrigen Verben findet ein durchgreifender Unterschied nur
noch in der 3 Sg. statt {er lebt : er lehe). Die 2 Sg. und PL
unterscheiden sich bei den meisten Verben dadurch, dass im
Indikativ das e der Endung synkopiert zu werden pflegt, im
Optativ nicht (du steigst : du steigest'^ ihr steigt: ihr steiget)'^
die 2 Sg. bei einigen ausserdem auch durch Vokalwandel
{du gibst : du gebest ; du fährst : du fahrest) ; bei Verben die
weder an der Synkope, noch am Vokalwandel teilnehmen,
fallen sie ganz zusammen {du redest, rettest, setzest). Die
1 Sg. ist nur bei den Prät.-Präs. und wollen noch unter-
schieden {ich soll : ich solle) ; die 1 und 3 PI. nirgends mehr.
So ist es in der jetzigen Sprache; doch tritt dieser Zustand
nicht auf dem ganzen Sprachgebiet gleichzeitig ein. In der
3 PI. hielt das Oberdeutsche, namentlich das Alemannische,
noch an deutlich unterschiedenen Formen fest {gebent : geben),
als sie das Nieder- und Mitteldeutsche längst aufgegeben
hatten ; das Alemannische bewahrte ausserdem noch zahlreiche
Optative mit der charakteristischen Endung -eje. Wenn es
also darauf ankam, durch deutlich erkennbare Optativformen
den abhängigen Satz zu charakterisieren, so lagen im Ale-
mannischen die Umstände für die Erhaltung und Verbreitung des
Opt. Präs. jedenfalls günstiger als auf dem übrigen Sprachgebiet.
4. Auch im Präteritum sind die beiden Modi nur noch
mangelhaft unterschieden, im ganzen aber doch besser als im
208 Gebrauch der Tempora in indirekten Sätzen. [§ 106.
Präsens. Zwar die zahlreichen schwachen Verba haben fast alle
dieselben Formen im Indikativ und Optativ {ich meinte)^ aber die
meisten starken Verba und einige schwache haben im Umlaut ein
Mittel den ganzen Optativ vom Indikativ zu unterscheiden [gab :
gäbe, bot : böte, fuhr : führe, dachte : dächte). Die 1 und 3 Sg.
unterscheiden ferner alle starken Verba durch die Endung
[stieg : stiege) '^ zum Teil, durch die grössere oder geringere
Neigung zur Synkope, auch die 2 Sg. und PI. Im ganzen also
unterscheiden sich die Modi im Prät. besser als im Präs., und
so erscheint es natürlich, dass wenn eins der beiden Tempora
aufgegeben wurde, die Entscheidung zu Gunsten des Präteritums
ausfiel, wie es in den meisten Mundarten geschehen ist. Ja
selbst im Alemannischen hätte wohl das Präteritum den Vor-
zug verdient, wenn es allein auf die Form angekommen wäre.
Es kommt aber auch die Bedeutung in Betracht.
5. Schon früh zeigt sich, dass der Opt. Präs. als Aus-
druck eines bestimmten Modus geringere Lebenskraft hat, als
der Opt. Prät. Während dieser als Modus der Irrealität sich
bis auf den heutigen Tag kräftig behauptet, hat der Opt. Präs.
je länger um so mehr seine selbständige Bedeutung verloren
(§ 119. 135, 2). So war es natürlich, dass die Sprache darnach
strebte, den Opt. Prät. auf seine charakteristische Bedeutung
zu beschränken und dem Opt. Präs. überall da Raum zu geben,
wo die Vorstellung der Irrealität sich nicht mit dem Optativ
verband. Dies Moment der Bedeutung war es also, was den
Opt. Präs. als Modus der indirekten Rede empfahl und ver-
mutlich zu seiner unbeschränkten Anerkennung im Schwäbisch-
Alemannischen wesentlich beigetragen hat, während im übrigen
Sprachgebiet die Form, die mangelhafte Unterscheidung zwischen
Indikativ und Konjunktiv, den Ausschlag gab.
6. In der Entwickelung der Schriftsprache machen sich
beide Momente, Form und Bedeutung, jedes in zweckmässigen
Grenzen, geltend. Sie strebt darnach, den Opt. Präs. als
Modus der indirekten Rede zur Anerkennung zu bringen, jedoch
nur soweit seine Formen nicht mit denen des Indikativs zu-
sammenfallen. Als Norm für den jetzigen Brauch stellt Behaghel
S. 65 folgende Beispiele auf:
§ 106.] Consecutio temporum. 209
Er meint, meinte, ich sei.
schlafe, schliefe.
du seiest.
schlafest, schliefest.
er sei, schlafe.
wir seien, schliefen.
ihr lüäret, schliefet.
sie seien, schliefen.
Bei dem Verbum sein gilt überall der Opt. Präs., ausser in
der 2 PL, die erst spät und künstlich vom Indikativ geschieden
ist (mhd. Sit = nhd. seit, seiet). Von schlafen herrscht in der
3 Sg , die bei allen Verben eigentümliche Form hat, unbestritten
das Präsens; dagegen im Plural, wo die Modi im Präsens zu-
sammenfallen, unbestritten der Opt. Prät. In der 1 und 2 Sg.
gelten beide Formen. Dass in der 2 Sg. neben dem Präs.
das Prät. erscheint, mag man daraus erklären, dass hier bei
den meisten Verben Ind. und Opt. nur mangelhaft (durch Syn-
kope), bei manchen (den schwachen Verben auf d, t, ss, z)
gar nicht unterschieden sind. Auffallender ist, dass in der
1 Sg. das Prät. nicht allein herrscht; hier muss der im Singular
im allgemeinen geltende Gebrauch die Form bestimmt haben.
7. Die Neigung zum Opt. Präs. findet jedoch ihre
Schranken. Nicht nur behauptet sich der Opt. Prät. in Sätzen^
denen er schon in der direkten Rede zukommen würde, sondern
wir pflegen ihn auch in Forderungs- und Absichtssätzen, die
von einem Präteritum abhängen, zu brauchen (§ 130, 2), auch
in solchen, die durch ein Relativum mit ihrem Hauptsatz ver-
bunden sind; z. B. Er rief nach einem Fährmann, der ihn
hinüber brächte oder bringen sollte (weniger üblich bringe). Und
besonders können wir ihn nicht wohl entbehren, wenn wir sub-
jektive auf die Zukunft bezügliche Vorstellungen oder Äusserungen
in der Form unabhängiger, konjunktionsloser Sätze wiedergeben ;
z. B. 'Er hatte sie wiedergefunden. Er verlangte nichts, er
war wunschlos. Sie würde bei ihm sein, stets in seiner
Nähe, das war ihm genug. Die Toiletten, welche sie her-
stellte, fanden Beifall; wenn sie nur gesund bliebe, würde
alles sich wieder machen. Durch strenge Sparsamkeit würde
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik III. 14
210 Gebrauch der Tempora. [§ 107.
sie versuchen' etc. ^). Über Sätze, die von einem Verbum im
Irrealis abhängen, s. § 148.
8. Der erste Grammatiker, der die Bahn erkannte, in
der sich die Schriftsprache bewegte, war Heynatz (1770), der
erste, der sie historisch verfolgt hat, ist Behaghel. Wann die
Mundarten die alte Consecutio temporum aufgegeben haben,
lässt der Mangel zuverlässiger Zeugnisse schwer erkennen;
Behaghel vermutet, dass sie schon im 16. Jh. ihren jetzigen
Zustand erreicht hatten (S. 48. 159). In der Schriftsprache
nimmt man ein Vordringen des Opt. Präs. zuerst natürlich in
dem Gebiete wahr, wo es durch die Mundart unterstützt wurde,
also im Schwäbisch- Alemannischen, hier schon seit den sechziger
Jahren des 16. Jh.s; erst hundert Jahre später im übrigen
Deutschland (a. 0. S. 134 f.). Zu einer starren Regel hat es
die Sprache auch jetzt noch nicht gebracht und immer noch
lässt der Gebrauch den Einfluss der Mundart wahrnehmen.
Am besten wird, was wir als vorbildliche Norm bezeichnet
haben, in Schriften durchgeführt, die sich bemühen, die Schrift-
sprache in ihrer abstraktesten Form, ohne alle Nebenzwecke
zur Darstellung zu bringen, also in Werken, die nicht sowohl
künstlerischen als wissenschaftlich belehrenden Zwecken dienen ;
die Verkehrssprache und Schriften, die dem Ton der Verkehrs-
sprache nahe bleiben wollen, folgen noch gern, bald mehr,
bald weniger, der Mundart (a. 0. S. 213 f.).
Die Vorsilbe ge-^).
107. 1. Ähnlich wie die Suffixe, die TempuS; Modus,
Person und Numerus bezeichnen, sich mit dem Verbalstamm
verbinden, ohne seinen Bedeutungsgehalt zu ändern, kann auch
die Partikel ga- gebraucht werden. In ihrer eigentlichen
Bedeutung weist sie wie das lat. com-, mit dem sie vermut-
1) Herdin, ZfdU. 17,191 f; Matthias eb. S. 419 f.; Behaghel,
Zeitfolge S. 70 f. 80 f. 91 ; auch Erdm. S. 180.
2) Ausser der II § 131 Anm. angeführten Literatur vgl. Mou-
reck, AfdA. 21, 195—204. Delbr. 4, 152 ff. Streitberg IF. Anz. 11, 57 ff. ;
auch Paul § 305-308, 371—373. Michels § 261. 266. Blatz 2, 503 A. 8.
514 A. 7. 517 A. 4.
§ 107.] Die Vorsilbe ge-, 211
lieh identisch ist (I § 24), auf Vereinigung- und Gemeinschaft;
öfter aber wurde sie, schon im Gotischen, in abstrakterem
Sinne gebraucht (II § 130 f.), als Steigerung oder Verstärkung
•des Verbalbegriffes oder als Mittel imperfektiven Verben per-
fektive Bedeutung zu verleihen. Als Verstärkung konnte die
Partikel erscheinen, wenn schon in dem Simplex die Vor-
stellung der Vereinigung lag, z. B. in gahindan fesseln; als
Ausdruck der perfektiven Aktionsart, wenn das Kompositum
nicht wie das Simplex eine fortlaufende, unbegrenzte Handlung
bezeichnete, sondern auf einen bestimmten Zeitpunkt, eben den
der Vereinigung hinwies, wie in gagaggan zusammenkommen,
garinnan zusammenlaufen. Sowohl in dem einen als in dem
andern Sinne konnte sie nun auch in Verben gebraucht werden,
für welche die Vorstellung der Gemeinschaft oder Vereinigung
gar nicht mehr in Betracht kam; als Mittel der Verstärkung
z. B. in gastandan beharren, als Mittel der Perfektivierung
z. B. in gastandan sich stellen, gaslepan einschlafen, gahausjan
vernehmen, gasaiJvan erblicken, gapahan verstummen, garinnan
erlaufen, durch Laufen gewinnen (1 Kor. 9,24).
2. Durch weitere Bedeutungsentwickelung konnte zwischen
Simplex und Kompositum eine stärkere Differenzierung ein-
treten; vgl. z. B. mhd. hern tragen und gehern gebären, bieten
und gebieten befehlen, fallen und gefallen zu Teil werden,
gefallen, winnen sich quälen, wüten und gewinnen^ brechen
und gebrechen fehlen, heilen und geheimen versprechen. In
solchen Verben erlosch dann natürlich das Gefühl für die per-
fektive Bedeutung der Partikel, ja manche konnten zu imper-
fektiven werden, wie gefallen in der Bedeutung placere, ge-
bieten in der Bedeutung befehlen, herrschen.
3. Später erscheint die Partikel noch in einer andern
formalen Bedeutung. Sie dient dazu die Aussage möglichst
allgemein zu machen, namentlich neben dem Adverbium ie und
seinen Kompositis {nie, iemer etc.). In dieser Bedeutung, die
sich vermutlich aus der perfektiven entwickelt hat (Paul § 306
A. 1), ist sie im Mhd. ausserordentlich beliebt. Bei Walther von
der Vogelweide erscheint sie in Sätzen mit ie etc. vor dem Verbum
finitum im ganzen 41 mal (im Hauptsatz 18, im Nebensatz 23 mal),
212 Gebrauch der Tempora. [§ 107.
in andern Sätzen im ganzen 50 mal), also verhältnismässig selten*
(12 mal in Haupt-, 38 mal in Nebensätzen), und unter diesen sind
noch mehrere mit swer, in denen sich die Partikel wie neben ie
verallgemeinernd auffassen lässt: 20, 3 mich hilf et nicht, swa^ ich
daran geklopfe. 73,13.116,20.
Anm. 1. Bei dieser Schätzung durften natürlich nur solche
Verba in Betracht gezogen werden, bei denen die Partikel ihre freie
Beweglichkeit bewahrt hat. Auszuscheiden waren also die von Nomi-
nibus mit ge- abgeleiteten, wie geliehen gleichstellen, genäden, ge-
bären, sich gesinden. Dann aber auch alle verbalen Komposita, in
denen die Partikel schon mehr oder weniger erstarrt ist, sei es, dass
sie neben dem Simplex eine eigentümliche Bedeutung angenommen
haben, wie die oben angeführten gebern, gebieten etc., sei es, das&
ihr Simplex ganz oder fast ganz erloschen ist, wie das von genesen^
gelouben, gescehen, gunnen. Da aber die Grenze zwischen beweg-
licher imd unbeweglicher Partikel fliessend ist, schien es zweck-
mässig, auch von den Verben abzusehen, die zwar im Mhd. noch
als Simplicia vorkommen, aber oft, zum Teil überwiegend, mit ge-
gebraucht werden, entweder überhaupt, wie "^gelingen^ "^gehirmen,
*getriuwen, *gestaten, getürren, gewern, gezemen (die mit * bezeich-
neten kommen bei Walter ohne ge- nicht vor), oder in gewissem
Sinne: *gebresten fehlen, mangeln, genießen c. Gen. Vorteil von etwas
haben (einmal in diesem Sinne niesen c. Acc. 81, 2), gedenken ein-
gedenk sein, an etwas denken, etwas bedenken (einmal in dieser
Bedeutung ohne ge-, 19, 23). Denn auch in diesen Fällen ist der
Verdacht begründet, dass eine selbständige Bedeutung der Partikel
nicht empfunden wurde.
Anm. 2. Merkwürdig ist, dass die Partikel im Deutschen von
Anfang an auch neben anderen Wörtern, namentlich neben Prono-
minibus, zur Verallgemeinerung dient, auch hier oft in Verbindung
mit io-, z. B. gitago quotidie, giTuanno viritim (II § 449 A. 1), iogilih,
iogiwer, (^c>)^^^^ede7•etc.(Il§ 431, 3). Dieser Gebrauch ist wohl auf die
sociative Bedeutung unmittelbar zurückzuführen: gimanno Mann
für Mann, alle zusammen.
4. Hier kommt es nur auf die perfektive Bedeutung der
Partikel an (ingressive und effektis^e vgl. § 82, 1), in der sie
sich mit den Mitteln der Tempusunterscheidung berührt; denn
auch die umschreibenden Tempora bezeichneten zunächst nicht
die Zeitstufe, sondern die perfektive Aktionsart, werden c. Inf.
den Eintritt, haben und sein c. Part. Prät. den Abschluss der
Handlung. Dass die Partikel mit dem Begriff von Dauer und
Vergangenheit zusammenhange, war schon dem Scharfsinn
§ 108.] ge- bei Walther. 213
J. Grimms nicht entgang-en, (Gr. 2, 843 f. 4, 149. 850); später
ist unsere Einsicht namentlich durch Streitberg gefördert, und
an dessen Arbeit haben sich andere angeschlossen ; doch sind
sie noch nicht so weit gefördert, um die Geschichte des Ge-
brauchs zu übersehen. Ich muss mich daher darauf beschränken,
ihn durch die Belege, die Walther von der Vogelweide bietet,
zu beleuchten. Sätze, in denen die Partikel neben ie etc.
erscheint, habe ich als doppeldeutig bei Seite gelassen.
108. (ge- bei Walther), l. Mit dem Präsens kann sich die
Partikel nur verbinden, wenn es in allgemein gültigen Sätzen oder
in futurischem Sinne gebraucht ist, denn ein auf die unmittelbare
Gegenwart bezogenes Präsens wird notwendig imperfektiv auf-
gefasst. In einem allgemein gültigen Satze steht es 92, 93 der blic
gefreut (erfreut, versetzt in Freude) em herze gar^ den minnecliche
ein wtp an siht. 115, 22 alse ich underiütlent zir gesitze (bei ihr
Platz nehme), . . so benimt si mir so gar die witze. 115, 27 gesihet
si mich einest an, so hdn ichs vergessen. Im Sinne eines relativen
Perfektums: 22, 11 spise . . diu wirt ringe, so si durch den munt
■gevert. 30, 7 siuelh man so getrinket, da^ er sich noch got erkennet,
so hat er gehrochen ime sin höh gebot. 6, 11 stt got deheine sünde
lät, die niht geriuwent zaller stunt.
2. Auf die Zukunft bezüglich : 53, 15 ich weiz wol, wie^ ende
ergät: vint und friunt gemeine, der gestets aleine. 119, 33 da^ niir
iemer nähe lit, unz ich getuon, des er mich bat. 89, 2 e &? dir aber
ich gelige, miner swcere ist leider al ze vil. 73, 34 tvesse ich, ob sig
noch gerüwe, ich wolte mich durch got erbarmen. 32, 13 stt si die
schalkheit wellen, ich gemache in vollen kragen (will ihnen den Hals
schon voll stopfen). 82, 13 ich hdn nicht rosses, da^ ich dar gerite.
82, 15 herre gerite al deste ba^. Im Sinne eines Fut. II (relative
Zeitbestimmung' § 99,3): 12,19 her keiser, swenne ir Tiuschen vride
gemachet stcete . . . s6 bietent iu die frem^den zungen ire. 66, 3 so
kleine, swenne ichz iu gesage, ir lachet min. 118, 26 swenne ej sich
gefüeget so . . so stlgent mir die si7ine.
3. Beliebt ist der Gebrauch in Wunsch- und Forderungs-
sätzen, weil der Wünschende nicht den Verlauf, sondern den Eintritt
oder die Erfüllung der Handlung im Auge hat (vgl. § 89, 3). Haupt-
sätze: 115,4 got gesegene iuch alle. 115,6 herre got, gesegene raich
vor sorgen. 64, 34 da^ dich schiere got gehoene. 75, 8 owe, gescehe
ichs linder kranzel Nebensätze, die von einem Imperativ oder for-
dernden Opt. abhängen: 3,19 hilf uns, da^ wir mit dir obe geligen
(obsiegen). 7, 40 hilf uns, da^ tcir si (die Sünden) abe gebaden.
ßS, 18 schaffe, da^ ich frö geste. 123, 32 gip mir die list, da^ ich
214 Gebrauch der Tempora. [§ 108..
geyneine dich (dich liebe). 10, 22 die rehten pfaffen warne (warne
er) das si niht gehceren den unrehten. 30, 5 sus trinke ein iegelich
man, da^ er den durst gebiie^e.
4. Neben dem Irrealis auf die Zukunft bezüglich: 46, 7 so
sage ich, wa^ mir dicke baz in minen ougen hat getan und tcete
ouch noch, gescehe ich daz.
5. Neben dem Präteritum Ingressiv: 68, 1 därvon gesweie
da^ bilde iesä (verstummte). 94, 26 bi dem brunnen ich gesa^ (Hess
ich mich nieder). — Effektiv, den AbschJuss der Handlung bezeich-
nend, wie das zusammengesetzte Perfektum : 45,22 er engajy ir niht
ze kleine, der si geschuof schoene unde reine (der sie so schön ge-
schaffen hat). So auch wohl zweimal in dem Liede Do der sumer
komen was : 94, 29 dö getroumte mir ein troum und 95, 8 wan ein
wunderaltez wtp, diu getröste mir den lip\ beide Sätze treten aus
der Schilderung und Erzählung, in der sich das Gedicht im allge-
meinen bewegt, in selbständiger Bedeutung hervor (vgl. § 97). — Im
Sinne des relativen Plusquamperfektums: 15,34 dö er den tiuvel
dö geschande . . dö vuor er her wider ze lande, 19, 29 dö Vriderich . .
also gewarp . . dö fuorte er mtne krenechen trite in d'erde. 66, 8 ich
ma^ da^ selbe deine strö, als ich hievor gesach von kinden. 71, 4 sin
gehiez mich nie geleben nach ir lere, sivie jämer liehe ich sis gebat^
6. Sätze, in denen ein mit ge- verbundenes Verbum fin. per-
fektiver Auffassung widerstrebt, begegnen nicht oft. An die alte
soziative Bedeutung könnte man denken 121, 26 swie dicke ich ir
noch b % gesa^ , so wesse ich minner danne ein kint. 45, 29 die den
verschämten bi gestänt, die wellent lihte ouch mit in schaffen. Eine
mit der perfektiven Aktionsart zusammenhängende Modifikation der
Bedeutung, (wie sie schon im gotischen gahausjan wahrnehmbar ist,^
Lc. 8, 8 saei habai ausöna du hausjan, gahausjai) könnte ge- be-
zeichnen 9, 18 ich sach mit mtnen ougen man unde lotbe tougen,
deich gehörte und gesach, swa^ ieman tete etc, ; auch 90, 36 hei, wie
wol man in dö sprach, dö man die fuoge an in gesach. 115, 35 wie
kumt, da^s als übel gesiht. 121, 30 si ist ein wtp, diu niht gehoeret
und guoten willen kan gesehen. Eine Verstärkung: 61,35 Owe hove-
llche^ singen . . da^ dtn wirde also geliget (darnieder liegt). 55, 33
e^ enwart nie slö^ so manecvalt, da^ vor dir gestüende (C, bestüende
E, ie bestüende F, stüende A). — Die übrigen Belege sind: 91,38
hei, wa^ dir danne froiden bringet, so si sunder loer vor dir gestät.
101, 9 do ich dich gesach reht under d' ougen, dö was dtn schouiven
wunderlich. 11, 17 durch got bedenket iuch däbt, ob ir der pfaffen
ere iht geruochet.
7. Von den Nominalformen eignet sich am meisten zur
Verbindung mit ge- das Part. Prät., dem sie schon im Ahd. fast not-
wendig ist; am wenigsten das Part. Präs, Zwar^im Gotischen, wo
§ 108.] ge- bei Walther. 215
es noch oft gebraucht wird, um ein griechisches Part. Aor. oder
Perf. wiederzugeben, wird es oft auch mit ^ü!- verbunden; aber die
präsentische und durative Auffassung, die im Deutschen durch-
gedrungen ist, widerstrebt dem. Bei Walther kommt ein so ge-
bildetes Part, nur einmal vor, neben ie: 5,31 ein got^ de?^ ie ge-
wesende (C, ie wesende kl).
8. Sehr zahlreich, aber formelhaft beschränkt, sind die Belege
für den Infinitiv mit ge-. Nur vor Infinitiven, die unmittelbar
vom regierenden Verbum abhangen, erscheint bei Walther die Par-
tikel, und zwar nach mac 23 mal, nach kan 21 mal, nach muo^ 9 mal,
je 6 mal nach sol und {ge)tar, 2 mal nach wil (73, 1. 32, 7), je einmal
nach lä^en (119,8), ruochen (56,1), heilen 71,3). Am öftesten steht
also ge- nach mac und kan, am regelmässigsten aber nach {ge)tar,
wo 6 Belegen mit ge- (26, 5. 110, 23. 7, 2. 114, 11. 71, 18. 54, 1) nur
zwei (36, 3. 62, 32) ohne ge- gegenüberstehen. Auffallend selten ist
die Partikel nach dem häufigen wollen; bei diesem Verbum hatte
der Inf. Perf. die weiteste Verbreitung gefunden (§ 89, 3). Der von
ze abhängige Infinitiv zeigt bei Walther nie ge-, überhaupt keine
unbetonte Partikel.
Anm. Im Got. kommt nur das Kompositum gadars vor,
ebenso im As. und Ahd.; erst im Mhd. taucht das Simplex tar auf.
Gab die Gewohnheit, dem Infinitiv ge- zu geben, den Anlass es dem
regierenden Verbum zu entziehen?
9. Am charakteristischsten ausgeprägt ist der Gebrauch des
Infinitivs mit ge- bei müe^en. Fast nur neben dem Optativ in Wunsch-
sätzen, in denen auch das Verbum fin. gern ge- annimmt, erscheint
bei Walther die Partikel: 67,20 min sele müe^e wol gevarn. 83,13
d%n sele müe^e wol gevarm. 31, 27 noch miie^e ich geleben, da^ ich
den gast ouch grüe^e. 98, 22 doch müe^e ich noch die ztt geleben^
da^ etc. 73, 32 hiure m^üe^ens beide esel und der gouch gehceren.
n, 16 stn geist müe^ uns gefristen, da^ etc. 120, 32 nü müe^e e^
got gefüegen so, da^ etc. 31, 35 da^ ich gesingen müe^e in dirre
ictse also, da^ etc. Einmal nach demPrät. : 112,3 müeste ich noch
gelUben, da^ etc. Sonst begegnet der Inf. mit ge- nur bei Verben,
die ohnehin als Komposita geläufig sind: gezemen 105,36. 116,19;
gestaten 115, 19.
10. In anderer Weise ist der Gebrauch des Infinitivs mit ge- bei
dem häufigen suln beschränkt. Walther braucht ihn nur sechsmal,
fast immer in fragenden Ausrufsätzen: 118,11 sol ich iemer so ge-
ligen? 59,37 wie sol man gewarten dir? 123,14 wie sol ein man
gedingen (Hoffnung haben)? 26,10 tvie solle ich den geminnen?
41,12 wer solle iu denn iemer iht geklagen? Nur einmal anders,
aber auch in einem Ausruf: 30, 20 sit got ein rehter rihter heilet . .,
das ^^ solt Ü3 siner milte des geruochen, da^ etc.
216 Gebrauch der Modi. [§ 109.
11. Mit dem Mhd. verschwindet der selbständige Gebrauch
der Partikel. Obligatorisch war er nie gewesen; vom Passiv
und den mit andern unbetonten Partikeln zusammengesetzten
Verben überhaupt ausgeschlossen. Je mehr die umschreibenden
Zeitformen, die sich vielfach mit der Partikel berührten, in
Aufnahme kamen, um so mehr wurde ihr der Boden entzogen,
und die Neigung der Mundarten, sie ganz verstummen zu
lassen, beschleunigte den Verfall. Die Verba, die sich noch
jetzt in doppelter Form erhalten haben, sind fast immer durch
ihre Bedeutung differenziert, und wo eine Differenzierung nicht
eingetreten ist, ist fast immer eine der beiden Formen auf-
gegeben, meistens die mit ge- (II § 133). Eine abweichende
Behandlung haben nur die Part. Prät. erfahren (§ 9).
Grebraucli der Modi.
Indikativ.
109. 1. Von den drei Modi^), die das germanische
Verbum unterscheidet, ist der Indikativ der häufigste und zu-
gleich der farbloseste. Durch den Imperativ und Optativ wird
1) Über die Modusformen, welche die idg. Ursprache besass,
und über die Gründe, warum sie in den Eiiizelsprachen zum Teil
erloschen sind, handelt Delbrück 4, 346 ff. Bojunga, Der idg. Kon-
junktiv im Germanischen. IF. 2, 184 — 197. Über Modusgebrauch
im Gotischen: A. Köhler, Der syntaktische Gebrauch des Optativs
im Gotischen. (Bartsch, Germanistische Studien (1872). 1, 77 f.)
E. Bernhardt, Der gotische Optativ. ZfdPh. 8, 1 ff. (1882). P. E.
Mourek, Syntax des zusammengesetzten Satzes im Gotischen (Abh.
der böhmischen Kaiser Franz Joseph-Ak. Jahrg. 2. Abt. 3 No. 1.
Prag" 1893. S. 287—334 enthalten einen deutschen Auszug des czechisch
geschriebenen Werkes). B. Delbrück, Der germanische Optativ
im Satzgefüge. PBb. 29,201—305 (1904).
Über den Gebrauch im Deutschen: W. E. Lidforss, Beiträge
zur Kenntnis von dem Gebrauch des Konjunktivs im Deutschen.
(1862. Upsala, Universitets Ärskrift). L. Bock, Über einige Fälle
des Konjunktivs im Mhd. Strassburg 1878 (QF. XXVII). L. Wein-
gartner, Die von L. Bock aufgestellten Kategorien des Konj. im
Mhd., untersucht an Hartmann von Aue. Troppau 1881 (Progr.).
E. Pantl, Die von L. Bock aufgestellten Regeln über den Gebrauch
§ 109.] Indikativ. 217
die Aussage des Verbums als Gegenstand subjektiven Vor-
stellens bezeichnet, im Indikativ abstrahiert der Redende von
der Einmischung jedes subjektiven Momentes; er hat, als Modus
angesehen, eigentlich nur negative Bedeutung. Imperativ und
Optativ kann man als subjektive Modi bezeichnen, den Indi-
kativ nicht mit demselben Recht als objektiven; er drückt die
des Konj. im Mhd. untersucht an den Schriften des Meister Eckart.
Freistadt in O.-Österreich. 1901. 1902 (Progr.).
Über den Gebrauch einzelner Autoren: M. Rannow, Der
Satzbau des ahd. Isidor im Verhältnis zur lat. Vorlage. (Schriften
zur g-erm. Phil. hrsg. von Rödiger. Heft 2. Berlin 1888). K. Förster,
Gebrauch der Modi im ahd. Tatian. Kiel 1895 (Diss.). H. Wunder-
lich . Beiträge zur Syntax desBoethius. Berlin 1883 (Diss.). Heynisch,
Der Konj. im Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht. Meiningen
1890 (Progr.). P. Köhler, Der zusammengesetzte Satz in den Ge-
dichten Heinrichs von Melk und in des Armen Hartmann Rede vom
glouben. 1. Temporalsätze. Berlin 1895. (Diss.). J. Knepper,
Tempora und Modi bei Walther von der Vogelweide. Lingen 1889
(Diss.). Holtheuer, Der deutsche Konjunktiv nach seinem Ge-
brauch in Hartmanns Iwein. ZfdPh. Ergänzungsband (1874) S. 140 —
182. Star Willard Cutting*, Der Konjunktiv bei Hartmann von
Aue. Germanic Studies (hrsg. von der Univ. Chicago 1894; vgl.
ZfdPh. 31, 410 f. H. Goehl, Die Modi in den Werken Wolframs
von Eschenbach. Lpz. 1889 (Diss.). Fr. Berdolet, Die Modi bei
Neidhart von Reuenthal. Tübing-en 1899. (Diss.). J. P. Hoskins,
Über die Arten der Konjunktivsätze in der Klage. Berlin 1895.
(Diss.). H. Rötteken, Der zusammengesetzte Satz bei Berthold
von Regensburg. Strassb. 1884 (QF. 53). John Kjederquist, Über
den Gebrauch des Konjunktivs bei Berthold von Regensburg. I. Der
Konj. in Hauptsätzen indirekter Rede und Absichtssätzen. Lund
1896 (Diss.). R. Neuse, Über Tempora und Modi bei Nicolaus von
Strassburg. Lpz. 1892 (Diss.), K. Stolze, Der zusammengesetzte
Satz im Ackermann aus Böhmen. Bonn 1888 (Diss.). W. Cordes,
Über den zusammengesetzten Satz bei Nicolaus von Basel. Bonn
1889 (Diss). E. Rosendahl, Untersuchung-en über die Syntax der
Sprache Albrechts von Eyb. 1. Der zusammengesetzte Satz. Hel-
singfors 1895 (Diss.).
Über den Modus in einzelnen Satzarten: Klinghardt, S^^n-
tax der got. Partikel ei. ZfdPh. 8, 127 f. 289 f. — Relativsätze:
F. Ullsp erger, Über den Modusgebrauch in mhd. Relativsätzen.
Schmichow 1884—86 (Progr.). — Temporale Nebensätze: R.
Kynast, Die temporalen Adverbialsätze bei Hartmann von Aue.
218 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 109.
Aussage schlechthin aus und wird oft auch in Sätzen gebraucht,
die der Redende selbst als der Wirklichkeit entsprechend nicht
ansieht, in der jüngeren Sprache noch öfter als in der älteren.
2. Nur Ausdruck einer Vorstellung ist der Indikativ
namentlich überall, wo er sich auf die Zukunft bezieht. Im
Futurum berühren sich daher Indikativ und Optativ am nächsten,
und gar nicht selten hat der Gote ein griechisches Futurum
durch den Opt. Präs. wiedergegeben, nicht nur da, wo man
ihn als Modus der Aufforderung ansehen könnte, z. B. Lc. 1, 13.
Mc. 10, 7, oder als Dubitativ, z. B. Jh. 6, 68, sondern auch
in deliberativen Fragen und selbst in Aussagesätzen (§ 113)^).
Und umgekehrt brauchen wir unsere Futurformen, um eine
Aussage als Vermutung zu kennzeichnen, nicht nur wenn sie
sich auf die Zukunft, sondern auch wenn sie sich auf die
Gegenwart oder Vergangenheit bezieht: Er wird {wohl, sicher)
bald Jcommen. Er wird schon da sein. Er wird schoji ab-
gereist sein. Das Fut. II brauchen wir sogar öfter in diesem
modalen als in temporalem Sinne. Ja in manchen Mundarten
wird das Futurum nur modal gebraucht^).
Breslau 1880 (Diss.). F. Heyck, Die Temporalsätze und ihre Kon-
junktionen bei den Lyrikern des 12. Jh. Berlin 1896 (Diss). —
Kausale Nebensätze: H. Gering, Die Kausalsätze und ihre Par-
tikeln bei den ahd. Übersetzern des 8. und 9. Jh. Halle 1876.
F.Reinhardt, Die Kausalsätze und ihre Partikeln im Nibelungen-
liede. Aschersleben 1884 (Diss.). — Beding'ungssätze: E.Weisker,
Über die Bedingungssätze im Gotischen. Freiberg i. Schi. 1880
(Progr.). M. Erbe, Über die Konditionalsätze bei Wolfram von
Eschenbach. PBb. 5,1—50. P. Rothe, Die Konditionalsätze in
Gotfrids Tristan. Halle 1895 (Diss.). J. Hildner, Untersuchungen
über die Syntax der Konditionalsätze bei Burchard Waldis. Lpz.
1899 (Diss.). — Konzessivsätze: 0. Mensing, Untersuchungen
über die Syntax der Konzessivsätze im Ahd. und Mhd. mit besonderer
Rücksicht auf Wolframs Parzival. Kiel 1891 (Diss.). H. Kuhlmann,
Die Konzessivsätze im Nibelungenlied und in der Gudrun mit Ver-
gleichung der übrigen mhd. Volksepen. Kiel 1891 (Diss.).
1) In anderen Sprachen, namentlich im Lateinischen, vertritt
der im Germanischen erloschene Konjunktiv das Futurum. Delbr.
4, 242 f. 320 f. ^
2) Gr. 4, 177. 183. Wunderlich 1, 193. 331. ßlatz 2, 507. 516.
§ 110.] Imperativ und Optativ Präsentis. 219*
3. Wenn der Indikativ auch nicht als Modus der Realität
angesehen werden kann, so kommt ihm diese Bedeutung doch
im Vergleich mit den anderen Modi zu, und in diesem Sinne
brauchen und empfinden wir ihn in Sätzen, denen nach gemeinem
Sprachgebrauch ein subjektiver Modus zukommt. So nament-
lich wenn er statt eines Imperativs gebraucht wird; z. B. Du
bleibst Jiierl Du wirst hier bleibenl Schiller Teil 3,3 Du
wirst den Äpfel schiessen von dem Kopf des Knaben. Wall.
Tod 2, 1 Du übernimmst die spanischen Regimenter, machst
immer Anstalt und bist niemals fertig, und treiben sie dich
gegen raich zu ziehen, so sagst du ja und bleibst gefesselt
stehn. Die Mitwirkung des anderen, die der Imperativ voraus-
setzt, wird hier gar nicht in Betracht gezogen; die Aussage
wird als Tatsache der Gegenwart oder Zukunft ausgesprochen
(Erdm. § 141). Vgl. auch den Indikativ Prät. statt des Irrealis
in Bedingungssätzen § 134, 2 f.
Anm. Während in dem potentialen Futurum die Bedeutung
des Indikativs herabgesetzt wird, wird sie gewissermassen gesteigert,,
wenn eine unvollendete Handlung als abofeschlossen bezeichnet
statt des Präsens das Perfektum gebraucht wird; § 99.
Die subjektiven Modi im Hauptsatz.
110. 1. (Imp. und Opt. Präs. als Voluntativ.)^) Im Optativ
werden die Formen des Präsens und Präteritums, obwohl sie
mit demselben Suffix gebildet sind, also einst auch demselben,
Zweck gedient haben müssen, von Anfang an so verschieden
gebraucht, dass sie gesondert behandelt werden müssen; und
anderseits berührt der Opt. Präs. in einer seiner Funktionen,
sich so eng mit dem Imperativ, dass er trotz der abweichenden
Bildung nicht ganz von ihm getrennt werden kann. Der
Imperativ bezeichnet eine Forderung, der Opt. Präs. kann
einen Wunsch bezeichnen und, da in dem Wunsch eine be-
scheiden gestellte Forderung liegen kann, für den Imperativ
AfdA. 20, 5. Vgl. auch ZfdU. 17, 117, wo jedoch die Bedeutung der
Form verkannt ist.
1) Gr. 4, 75 f. 80 f. 1253. Erdmann § 160. 164 f. Wunderlich.
1, 260 i. 276 f. 302 f. 308 f. Blatz 2, 522 ff. 535.
•220 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 110.
eintreten. Auch herausfordernd und einräumend, in konzessivem
Sinne, können beide Modi gebraucht werden: Geh dochl Meinet-
wegen gehl Er möge immerhin gehenl
2. Der Imperativ erscheint in den germanischen Sprachen
als ein dürftig- entwickelter, absterbender Modus. Schon im
Gotischen weist er nur sechs Formen auf, alle zum Präsens-
stamm gehörig und zur Hälfte von den entsprechenden Formen
des Indikativs nicht unterschieden. Im Hochdeutschen begeg-
nen nur noch drei: nim, nemet, nemames, und die letzte er-
lischt schon im Ahd.; nur nim, nemet bleiben übrig. Für die
untergehenden Formen tritt der Optativ ein. Oft werden auch
Umschreibungen gebraucht, notwendigerweise da, wo die Impera-
tivformen fehlen. Wir fassen die einzelnen Personen ins Auge.
3. In der dritten Person wird schon im Gotischen fast
allgemein der Optativ gebraucht; Imperativformen sind nur
noch selten belegt, dreimal im Singular (Mt. 27,42. Mc. 15,32
atsteigadau Kaiaßdiiu; Mt. 27,43 lausjadau pucrdcyöuj), einmal
im Plural (1 Kor. 7, 9 liugandau fa^ilcrdTuucTav). Im Hoch-
deutschen steht nur noch der Optativ zur Verfügung; z. B. 0.
Ludw. 5 themo st iamer heilV. 5,23,211 thin herza mir gilouhe.
Walther 18, 25 zuo fliege im aller scelden flu^, niht wildes mtde sinen
schu^, sin hörn erhelle im und er schelle im wol nach irew^ und
konzessiv. Walther 53, 32 ein ander wei^ die stnen tvol, die loh er
äne mtnen zorn; hab ime icts unde wort mit Tnir gemeine, lob ich
hie, s6 lobe er dort. Ebenso im Plural: 0. 1,1,123 nu frewen sih
es alle; Walther 13, 35?/i6 tuon^ durch got und durch ir selber ere\
99, 31 nu hüeten, swie si dunke guot. Im Singular brauchen wir
die Form auch jetzt noch, wünschend: z. B. Lang lebe der
Königl Behüte Gottl Er trete einl Nu sag einer \ oder heraus-
fordernd und einräumend: Man nenne mir doch einen etc.;
aber im Plural, wo Indikativ und Optativ zusammengefallen
sind, pflegen wir sie zu meiden. Nur in der höflichen plura-
lischen Anrede hat sie allgemeine Geltung und in den Um-
schreibungen mit mögen (§ 112); z. B. Nehmen Sie Platzl
Mögen sie uns verfolgenl Sonst begegnet sie selten, z. B.
Schiller Teil 2, 2 Gehn einige und zünden Reisholz an\
4. In der 1 PL, die gebraucht wird, wenn der Redende
sich in die Aufforderung, die er an eine oder mehrere richtet,
§ 110.] Imperativ und Optativ Präsentis. 221
einschliesst (Adhortativ), steht im Gotischen gewöhnlich die
mit dem Indikativ übereinstimmende Imperativform auf -arriy
obwohl der griechische Konjunktiv den Gebrauch der Optativ-
form nahe legen musste; z. B.Lc. 15, 23?^;25amtüai7öf, euqppavGiJüiLiev!
Lc. 8, 22 galeipam, bi^Xeujjuev! etc.; verhältnismässig selten begegnet
der Optativ, nur in den ersten 10 Kapiteln des Lucas und in den
Episteln (regelmässig in den negativen Sätzen; Bernh. §179,2).
Auch in den ältesten hochdeutschen Denkmälern wird meistens
die mit dem Indikativ übereinstimmende Form auf -mes ge-
braucht, so namentlich sehr oft von Otfried, der diese Form
fast auf den Adhortativ beschränkt hat, hier aber beinahe aus-
nahmslos braucht; z.B. 1,18,33 farames; 1,28,1 bittemes
etc. (OS. 1 § 33. Br. § 313). Aber früh werden auch Optativ-
formen gebraucht, so stets in den Hymnen, singem psallamus!
petoem oremus! duruch wacheem pervigilemus! und schon im
10. und 11. Jh. sind die Formen auf -mes ganz verschwunden.
In dem jüngeren Adhortativ haben wir also einen Optativ an-
zuerkennen. Beispiele sind im Mhd. häufig; z. B. Nib. 1541 nü
binden üf die helme^ oder mit Pron. Nib. 887 7iü rümen tvir den tan,
Walther 46, 22 gen ivir zuo des meien höhgezUe. Auch uns ist die
Konstruktion ganz geläufig, aber in der Literatur erst im
18. Jh. durch die Schweizer neu belebt. Als Mendelssohn 1767
ein Buch Iselins rezensierte, bemerkte er, ein ganzes Kapitel
darin werde durch diese fremde Bildung, die noch dazu Zwei-
deutigkeiten verursachen könne, sehr unangenehm zu lesen,
beinahe unverständlich ^).
5. Am festesten stehen die Imperativformen in der zweiten
Person; die Konkurrenz des Optativs wird hier allmählich ganz
zurückgedrängt. Im Gotischen finden wir ihn nicht selten-
namentlich um etwas zu bezeichnen, was für alle Zukunft
vorgeschrieben wird, einigemal auch bei einer auf einen ein-
zelnen Fall bezüglichen Vorschrift, die nach einer gewissen
Zeit ausgeführt werden soll (Delbr. 4, 392 f.); z. B. Rom. 13, 3
piup taujaiSy t6 dfaGov iroiei; besonders mit der Negation,
z. B. Lc. 9,3 ni waiht nimaip in wig, \xr\bav aipexe eic; xfiv öööv; Mt.
1) Scherer 2 S. 309 Anm. Erdm. § 4. Kurelmeyer, the-
historical development of the first person plural imperative. Strass-
burg 1900; vgl. AfdA. 27, 270 f.
222 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 111.
5, 21 ni maurprjais, ou qpbveuaeK;, du sollst nicht töten, 27 ni hörinös,
Ol) luoixeuaeic;, 33 ni ufarswarais^ ip usgihais, oök ^TriopKriaeic;, diro-
ÖLÜöeK; hi. Mc. 11,3 jah jahai Jvas iggqis qipai : dufve pata taujats?
qipaits, Kai ^dv tk; öjuiv eiirr), ti 7roi€iT€ toOto, eiiraTe (vgl. auch
% 149,1). Auch im Ahd. begegnet er; oft, wohl unter dem
Einfluss des Lateinischen, bei Notker, z. B. Ps. 6, 2 (2, 14, 25)
ne irrefsest du mih, ne corripias me; aber bei Otfried meist
nur von Verben, die keinen Imperativ bilden (§ 111). Später
ist nur der Opt. von mögen, {wollen, müssen) in Umschrei-
bungen üblich geblieben (§ 112).
6. In der 1 Sg. konnte selbstverständlich nur der Opt.
gebraucht werden; z. B. Philem. 20 jai, hröpar, ik peina niu-
tau in fraujin, vai, dbeXcpe, ifw öov övai)ur|v (Luther: gönne
mir, dass ich mich an dir ergötze); 0. Hartm. 3 himide ih tha^
wi^i. Doch weicht er auch hier zurück, seitdem Ind. und
Opt. in der ersten Person zusammenfallen. Nur von Verben,
die den Unterschied bewahrt haben, brauchen wir ihn noch:
von sein, z. B. ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem
Bunde der dritte, und von mögen in Umschreibungen, z. B.
Möge ich ihn nie wiedersehen.
IIL (Verba ohne Imperativ.) 1. Einige Verba: g. wisan,
das Verbum wollen und die Präterito-Präsentia entbehrten ur-
sprünglich den Imperativ; nur bei wenigen tritt im Hoch-
deutschen eine Ergänzung des Formensystems ein. Zu wesaii
ist schon im Ahd. der Imperativ wis^ weset üblich, z. B. 0. 1, 3, 29
ni wis zi dumpmuati; 2, 17, 20 ofan weset thrdto. Ein Imperativ von
wiesen ist zuerst bei Williram belegt, 97,2 da^ wisset; im Mhd.
kommt der Imperativ von gan hinzu: günne, enkünne (§ 54). Von
den andern begegnen Imperative nur als kühnere Neubildungen, die
nicht zum festen Bestand der Sprache gehören; von loollen z. B.
schon bei Gotfried Trist. 9925 minne, da^ dich minne, welle da^
dich welle (Erdm. § 161).
2. Wenn diese Verba im Modus der Forderung aus-
gesprochen werden sollten, musste also notgedrungen der Optativ
gebraucht werden, doch kommt auch er nicht von allen in
diesem Sinne vor, weil die Bedeutung der Verba dem Modus
widerstrebte. Sehr häufig sind die Optativformen des Verbums
sein im Gotischen; auch im Hochdeutschen fehlen sie nicht
§ 111.] Umschreibung des Imperativs, 223
z. B. 0. 3,23,8. 24 thes sist thu mir giloubo; 2,3,40 sit io
wakar (ebenso 2, 19, 19. 4, 7, 53. 62. 83); 1, 11, 18 al sit 13
hrieventi etc. Allmählich verdrängen sie die Formen wis,
weset und veranlassen die Bildung- einer neuen Imperativform
sei, — Ferner erscheinen fordernde Optative von wissen,
wollen, müssen, mögen und einigen andern, die im Hd. fehlen
oder früh erlöschen; z. B. Mt. 27,4 pu wlteis, ov ömj€i, lat. tu
videris; 0.2,11,65 wi^tzt äna bäga; 2,20,13 wi^tt ir tha^', Diut.
1, 183^ magis, xoiip^, vale; 0. 5, 16, 35 zeichono eigtt ir giivalt; 3, 13, 15
ni wolUs, 3, 14, 103 ni tvollet'^ 0. 2,4, 88 tha^ raua^tn wir hiwankön\
0. Ludw. 32 fon got er mua^i haben munt (Gr. 4, 75. 84), Üblich
sind nur die Optative von wollen und mögen in Umschreibungen
geblieben (§ 112).
3. Auch im zusammengesetzten Perfektum und im Passivum
muss der Optativ den Imperativ vertreten; z.B. 0.4,19,47
sis Mmunigot = monetor ; MF. 5, 22 der habe si gegrüe^et von
mir. Einen häufigen Gebrauch schliesst die Bedeutung der
Formen aus. Über gelegentliche Bildung wirklicher Imperativ-
formen zum Passiv und zum Perfektum s. § 75, 5. 78, 5.
112. (Umschreibungen des Imperativs.) 1. In demselben
Sinn wie der Imperativ und der fordernde Optativ werden
oft die Verba müssen, wollen, sollen, mögen, auch Jcönnen
und lassen mit dem Infinitiv gebraucht. Bald stehen diese
Hülfszeitwörter des Modus im Optativ, bez. Imperativ, bald
im Indikativ. In dem ersten Falle ist der Modus noch durch
die Form des Verbums bezeichnet, in dem andern nur durch
seine Bedeutung; für den Forderungssatz ist ein Aussagesatz
eingetreten.
2. Der Optativ von müssen mit dem Infinitiv steht dem
einfachen Verbum gleich; müssen bezeichnet in diesen Ver-
bindungen nicht die Verpflichtung, sondern hat seine alte Be-
deutung ^statt haben'; z. B. 0. Ludw. 93 niazan mua^i, es
möge statt haben, dass er Nutzen habe = nia^e in v. 92.
Walther 57, 14 lange müe^e ich leben darinne, lange möge
es mir beschieden sein dort zu leben. Iw. 5530 got müe^e
iuch bewarn. Der Gebrauch ist im Mhd. und später sehr
224 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 112:
beliebt; jetzt ist er veraltet, wir brauchen mögen (Wunderlich
1, 312 f.).
3. Der Optativ von wollen bezeichnet rücksichtsvoller
als der einfache Optativ die Forderung; sie richtet sich nicht
auf die Handlung unmittelbar, sondern auf den Willen de^-
Subjekts; z. B. 0. 3, 20, 132 himidan thü ni wolles. So auch
noch jetzt: Gott wolle euch schützen. Wollen die Herren
Platz nehrnenl und halb abhängig: Wir bitten^ du wollest
uns gnädig sein. Doch hält sich der Gebrauch in engen
Grenzen (Wunderlich 1, 312). — Durch den Ind. wir wollen
kann die 1 PI. umschrieben werden: gemes wir wollen gehen;
der Redende lässt die angeredete Person an seiner Entschliessung
teil nehmen.
4. Der Imperativ von lassen (= sinere) wird oft in
hypothetischen und konzessiven Vordersätzen gebraucht, z. B.
Walther 91, 1 lät mich zuo den frouwen gän, so ist da^ min
aller meiste klage. 66, 33 lät mich an eime stahe gän und
werben umhe werdekeit . . . so hin ich doch etc. Dann auch
selbständig in konzessivem Sinne: Lass es (doch) regnenl Lasst
ihn nur kommen ! und für den Adhortativ : Lass od. lasst uns
gehen, eig. gestattet, dass wir gehen. Über Alter und Verbreitung
dieser Höflichkeitsformel s. Gr. 4, 88 f. Wunderlich 1, 270.
5. Die Indikative von sollen und mögen können an
sich keine Forderung bezeichnen ; der Eedende deutet sie nur
an, indem er durch jenes auf die Verpflichtung, durch dieses
auf die Fähigkeit des Subjekts hinweist, die Handlung aus-
zuführen; z. B. 0. Ludw. 25 thes scal er gote thankön = v. 26
thes thankö'., 1,26,6 Mar mag er lernen hier kann (und
möge) er lernen, mag ist höflicher, scal gebieterischer; aber
der Unterschied verschwindet; z. B. Nib. 1094,2 got sol iuch
hewarn. 2182, 1 da^ ensol niht wellen got. Walther 58, 23
nu mugen si doch bedenken die gemeinen not. Für mag in
seiner ursprünglichen Bedeutung brauchen wir jetzt lieber
kann : Du kannst gehen. Um die Forderung zu bezeichnen,
pflegen wir das Verbum in den Optativ zu setzen: Möge Gott
euch schützenl Mögen sie glücklich heimkehren \ In dieser
Verwendung, in der die ursprüngliche Bedeutung des Verbum»
§ 113.] Der Optativ Präsentis als Dubitativ u. Deliberativ. 225
ganz vergessen ist, ist es an die Stelle des älteren mile^e
getreten und die gev^öhnlicbste Imperativumschreibung geworden.
Über die Sitte suln c. Inf. neben dem Imperativ zu gebrauchen s.
§ 149,7; über den Ersatz des Imperativs durch einen Aussagesatz
im Indikativ ^109; durch einen Fragesatz Gr. 4, 84. Wunderlich
1,263. Über unvollkommne Imperativsätze (Inf., Part. Prät. u. ä.:
aufstehn\ aufgestandenl) s. Bd. IV.
Der Optativ Präsentis^).
113. 1. (A.Fragesätze; Dubitativ, Deliberativ.) In Frage-
sätzen drücken die ersten Personen des Opt. Präs. Zweifel und
Unentschlossenheit des Redenden aus (Dubitalivus), die übrigen
Zweifel und Verwunderung (Deliberativus) ; in der ersten
Person berührt sich der Modus am nächsten mit dem Adhor-
tativ (§ 110,4), in den andern mit dem Potentialis. Im Goti-
schen ist der Gebrauch noch ganz lebendig; z. B. 1 Pers. Jh. 12, 27
Iva qipau, ti eiTTUu Jh. 6, 68 du hamma galeipaima^ dTr€\€uaö|ue0(t.
Mt. 11, \Spu is sa qimanda pau anparizuh heidaima, irpoaboKuJiuev. —
Andere Personen: Lc. 1,34 fvaiwa sijai pata (eöTai), pand^ ahan
ni kann, wie wäre das möglich, könnte od. sollte das geschehen;
Jh. 7, 31 jah qepun, ei Xristus pan qinnip ibai managizeins taik-
nins taujai, öti ö Xpiaxö^ öxav e\Gri |ur|Ti -nXeicva arnueia TToniöei; wird
er auch mehr Zeichen tun als dieser? Jh. 7,35 qepun du sis missö :
Jvadrß sa skuli gaggan, pei weis ni bigitaima ina? nihai in dista-
hein piudö skuli gaggan . . Iva sijai pata waurd patei qap, ttgO
oijTO<; ju^XXei Trop€ueö0ai . . |Liri ei«; ri\v biaaTropdv |u^\\€i Tropeüeöeai . .
Tic, eaxiv gutoc; 6 Xöyoc;; wo will dieser hingehen . . will er unter die
Griechen gehen . . was ist das für eine Rede. 1 und 3 Pers. neben-
einander: Lc. 7,31 fve nu galeikö pans mans jah Ive sijaina galei-
kai, Tivi oöv öiuoiujöuu . . Kai tivi eiaiv öjlioioi; wem soll ich vergleichen
. . und wem sind sie gleich. Gewöhnlich bezieht sich die Aussage
auf die Zukunft, und oft entspricht der got. Opt. einem gr. Futurum. —
Im Hochdeutschen stirbt der Gebrauch früh ab. Die 1 Pers.
ist noch durch Notker Ps. 58, 14 (2, 224, 17) belegt: wa^
tuoien wirs bruodera, quid faciemus fratres? die 2 P. durch
0. 4, 24, 8 thu sus inan nu lä^es und du wolltest ihn so frei
lassen ? Aber Walther 55, 3 ja friunt, wa^ ich von friunden
sage bedeutet nicht 'was soll ich sagen' (Knepper S. 41), son-
1) Delb. 4, 394. Gr. 4, 177. PBb. 29, 204. Erdm. § 166. Wunder-
lich 1,327—331.
W. Wiimanns, Deutsche Grammatik. III, 15
226 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 113.
dern 'was rede ich von Freunden' (Ind.). Und wenn wir sagen:
Was tu ich nun? Was tun wir nun, so verbinden wir damit
zwar dubitativen Sinn, aber die Verbalformen empfinden wir
als Indikative. Wo wir den Modus ausdrücken wollen, brauchen
wir, wie die Beispiele zeigen, modale Hülfsverba, besonders
sollen und wollen, oder irrealen Opt. Prät. (§ 116).
Anm. 1. In der Form abhäng-ig'er Sätze kommen solche Fragen
auch im Hd. vor, im Opt. Fräs. z. B. 0. 4, 26, 33 ziu [^zi wiu] sie
nan sus nu thuesben, thia fruma in imo irlesgSn, warum sie ihn
nur so peinig-en, das Heil in ihm auslöschen ? Walther 25, 2Q ob
ieman spreche, der nu l'€be, da^ er gescehe etc. Im Opt. Prät., auf die
Vergangenheit bezüglich: Is. 47, 8 huuer eo diz gahörti, quis unquam
audiverit tale ! 0. 2, 6, 39 wa^ er Uwes wunni, was er doch leider er-
duldet hat! Vgl. auch got. Jh. 7,48 sai jau ainshun pize reike
galaubidedi imma? iir] tk; ^TriöTeuaev, Wie jene aus dem Sinne der
Zuhörer gesprochenen Fragen, durch die Wolfram die Erzählung
zu unterbrechen liebt (Frz. 23,11. 36,22. 74,2. 87,25), setzen diese
Fragen einen Hauptsatz voraus, der keinen sprachlichen Ausdruck
gefunden hat. § 115,4. Gr. 4,76. Behaghel, Zeitformen S. 182 f.
Anm. 2. In der 1 PI. kommt neben der Form auf -aima auch
die auf -am vor; z. B. Mt. 6, 31 Iva matjam {(pdf{u\xev) aippau Iva
drigkam (Triuujuev) aippau Jve wasjaima (irepißaXuuiLieGa); Mc. 4, 30 Jv§
galeiköm (öjuoiajauj|uev) piudangardja gudis jah in Jvileikai gajukon
gäbairam (eOuiuev) p6. Die Form ist nicht als Ind. (ZfdPh. 8, 10),
sondern als der Imperativische Adhortativ (§ 110,4) aufzufassen;
vgl. Delb. 4, 391.
2. (B.Aussagesätze; Potentialis.) Am wenigsten behauptet
sich der Opt. Präs. in Aussagesätzen, um eine Handlung als
nur vorgestellt, als möglich oder nur zukünftig zu bezeichnen. —
Im Gotischen findet er sich öfters, namentlich in Bedingungs-
sätzen: z.B. 1 Kor. 13,3 jabai fraatjau allös aihtins nieinös jah
jabai atgibau leik mein, ei g abrann jaidau, ip friapwa ni habau,
ni ivaiht bötös mis tau jau, kav (puj|uiauu — Trapaöuj — ^x^> oubev
cu(peÄ.ou|uai = wenn ich gäbe — so würde es mir nichts nützen.
Jh. 8, 55 Jah jabai qepjau, patei ni kunnjau ina, sij au galeiks izwis
liugnja, fedv eiiru) — eao|aai — so ich würde sagen — so würde ich sein.
Ausserhalb des konditionalen Satzgefüges, aber doch eine bedingte
Aussage bezeichnend Phil. 4, 9 patei jah galaisidedup izwis —
pata taujaip\ jah gup gawairpeis sijai mip izwis, ä Kai eiudGexe —
Tttöxa Trpdaö6Te. Kai 6 Oeöq Tfjc; elprjvric; ^axai )ne0' ujuüjv = so wird der
Herr des Friedens mit euch sein. Ebenso Gal. 5, 10. 6, 4. Rom. 11,35.
Im Griechischen steht überall das Futurum. Andere Beispiele § 149,2. —
§ 114.] Der Optativ Präteriti. 227
Dieser Gebrauch des potentialen Optativ Präs. ist schon aus
dem Ahd. nicht mehr sicher zu belegen. Zwar begegnen ein-
zelne Sätze, in denen man den Modus als Potential auffassen
kann, aber die Auffassung ist nirgends geboten. Als Modus der
Forderung* lässt er sich verstehen im Hildebrandslied v. 58 der si
doh nu argosto östarliuto, der dir nu utges warne. — Ein abhän-
giger Satz ist 0. 1,1,85 ni si thiot etc.i) — Wo wir im Gotischen
"den Potential finden, können wir, wenn ein Gegensatz zur
Wirklichkeit stattfindet, wie in den beiden ersten Beispielen,
den Opt. Prät. brauchen, sonst setzen wir den Indikativ und
bezeichnen den Modus durch Adverbia oder Hülfszeitwörter.
Anm. 3. Dass das Germanische von wollen im Präsens nur
den Optativ besass (g. iciljau), ist wohl aus seiner Verbindung mit
dem abhängigen Verbum zu erklären. Der Willensinhalt, den dieses
bezeichnet, ist nach dem Präsens immer nur etwas Vorgestelltes,
nicht etwas Wirkliches. Im Prät., wo dies Verhältnis nicht stattfindet,
stehen Ind. und Opt. neben einander (g. wilda, wildedjau). Ebenso
ist der Opt. ih wäne, den Otfried einigemal braucht — z. B. 1, 25,20
ih icäne, therSr fidle alla^ tha^ ih wille — zu erklären. Dagegen
kann man megi^ 1, 18, 4. 4, 12, 58 auch als einen durch das enklitische
ij umgelauteten Optativ {7nag ^J) auffassen. OS. 1, § 37 ff.; vgl. nach-
her § 114, 5.
Der Optativ Präteriti^).
114. 1. Während der Opt. Präs. im Hauptsatz wenig
Dauerhaftigkeit zeigt, hat der Opt. Prät. im Laufe der Zeit
sein Gebiet erweitert, nicht nur auf Kosten des zurückweichenden
Opt. Präs., sondern auch des Indikativs.
2. (Irrealis in Aussagesätzen.) Meistens bezeichnet der
Opt. Prät. die Aussage als im Gegensatz zur Wirklichkeit
stehend, sei es dass Wahrnehmung oder Erkenntnis sie als
der Wirklichkeit widersprechend erweisen, oder dass sie
wenigstens in der Gegenwart nicht erfüllt oder als wirklich
erkannt ist. Der Modus ist also ein Ausdruck der Nichtwirk-
lichkeit ; jedoch nicht der Nichtwirklichkeit schlechthin, sondern
1) Behaghel, Modi S. 18. LEI. 24, 395. Zeitfolge S. 23 (Erdm.
S. 123). Wunderlich 1, 327.
2) Delbr. 4, 405 f. PBb. 29, 262 f, Mourek S. 327. Erdm. §168—170.
Wunderlich 1,320-326. 361-370. Blatz 2, 526 f.
228 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 114,
einer Nichtwirklichkeit, die in der Irrealität einer anderen
Vorstellung begründet ist; z. B. Bei milderem Wetter würden
die Bäume mehr Früchte angesetzt haben. Der Fruchtansatz
ist gering, das milde Wetter fehlte. Zeitunterschiede fanden
in diesem Modus ursprünglich keinen Ausdruck. Trotz der
präteritalen Form konnte und kann er auf Gegenwart und
Zukunft bezogen werden (§ 102). In diesem Sinne, als Modus
der bedingten Nichtwirklichkeit, wird er namentlich und
von jeher in Bedingungssätzen gebraucht, z. B. in Bezug auf
die Vergangenheit: Mt. 11,21 unte ip waurpeina in Tyre joh
Seidöne landa mahteis pös iraurpanös in izicis, airis pau
idreigödedeina ei ey^vovTO — irdXai av juerevöricrav; mit Bezug
auf die Gegenwart: Jh. 5,46 jahai allis Mose galaubidedeip,
gapau-1 aubidedeip mis, ei ydp eTTiaT€U6T6 MuucreT, eiTicrTeüeTe
av eiuoi.
3. Oft ist die irreale Bedingung aus dem Zusammen-
hang zu ergänzen; z. B. 1 Kor. 7, 14 weihaida ist qens so un-
galaubjandei in abin, jah gaweihaids ist aba sa ungalaubjands
in qenai\ aippau barna izwara unhrainja weseina, sonst
wären eure Kinder unrein. In manchen Fällen tritt sie kaum
ins Bewusstsein; so namentlich in Sätzen mit dem Adv. gcrno.
Auch diese können mit einem Bedingungssatz verbunden sein;
z. B. Walther 32, 24 swer willecliche Hprichet jä^ der gcebe ouch gerne,
und wcere e^ denne da. Aber oft treten sie selbständig auf und
werden auch kaum als bedingt empfunden; z. ß. Notker Kap. 1, 11
(1, 708, 5) genuoge getrunchtn gerno, viele hätten gern getrunken,
(eig. hätten begierig getrunken, sc. wenn sie gekonnt hätten). Walther
94, 38 gerne sliefe ich iemer da. Oder gar Nib. 1690 diu mcßre ich
weste gerne, wo sich Etzels Bitte um Auskunft höflich in die Form
eines unerfüllten Wunsches kleidet.
4. Die Gewohnheit, den Opt. Prät. als Modus einer be-
dingten NichtWirklichkeit aufzufassen, hat ihm auch neben
dem Adv. beinahe {fast, bald) Eingang verschafft. Wir
unterscheiden: Er hat mich beinahe überredet und Er hätte
mich beinahe überredet. Der Indikativ bezeichnet, dass das
Ziel nicht ganz erreicht, der Optativ, dass es verfehlt ist; es
würde erreicht sein, wenn nicht irgend welche Umstände
hindernd dazwischen getreten wären. In der älteren Sprache
§ 114.] Der Optativ Präteriti als Irrealis in Aussagesätzen. 229
gilt auch für diesen Fall der Indikativ; z.B. Notker Boet. 1,1
(1, 8, 16) Tö haheta rtiiJi tiu leida stunda näh kenomen, wie im Latei-
nischen: pene merserat tristis hora caput meum. Walther 47,2 ich
was vil nach ze nidere tot. Nib. 1612, 4 des was vil nach erstorben
des kilnec Guntheres man. Und nur der Indikativ ist eigentlich
berechtigt. Denn wenn auch der Opt. in der Beziehung der
Aussage auf eine irreale Bedingung wurzelt, so wird sie tat-
sächlich doch durch die Bedeutung des Adverbiums beinahe
ausgeschlossen: Wenn nicht das und das eingetreten wäre^
hätte er mich überredet, nicht hätte er mich beinahe über-
redet. Der Umstand, dass in mhd. hete Ind. und Opt. zusammen-
fallen, mag den Gebrauch des Opt. gefördert haben; z. B. Nib. 1604,4
ich hete von stnen handen vil nach gewunnen den tot.
5. Nicht immer setzt der Optativ eine irreale Bedingung
voraus; er kann auch in andern Beziehungen der Aussage auf
«ine irreale Vorstellung begründet sein, sei es dass diese in
einem abhängigen Satz zum Ausdruck kommt, oder sich mit
«inem Satzgliede, einem Infinitiv oder Substantivum, verbindet ;
z. B. Walther 42, 38 des stät in trüren übel und stüende in fröude
wol (die Freude ist nicht da). Mc. 14, 4 mäht wesi auk pata balsan
frabugjan, es wäre möglich gewesen den Balsam zu verkaufen (es
war möglich — ribOvaxo irpaGrivai — aber er ist nicht verkauft).
O. 2,14,43 thu Tnohtls ein gifuari mir giduan, du könntest mir
einen Gefallen tun. Walther 56, 3 ich wolte, da^ ir ougen an ir
nacken stüenden. 45, 25 er solte iemer bilde gießen, der da^ selbe
bilde gÖQ. 55, 16 owe, du soldest selbe dar. Tat. c. 158, 6 guat wäri
imo, tha^ giboran ni wäri ther man, bonum erat ei, si natus non
fuisset. Walther 17, 23 dem .^tuende ba^, da^ er nie spi^ gewünne.
97; 34 ej wcer uns allen einer hande scelden not, da^ man rehter
fröude schöne pflcege als i. 57,23 Minne diu hat einen site: da^ si
d€n vermiden woldel da^ gezceme ir ba^. Nib. 1637 uns wcßre loirtes
not, der uns noch Mute gcebe durch sine lügende sin bröt. Oft
könnte man in solchen Sätzen, von der Nichtwirklichkeit ab-
strahierend (vgl. § 134, 2), auch den Indikativ brauchen.
Wie 0. 1,4, 54 sagt ni gibit uns tha^ alta, tha^ thiu jugund scolta,
das Alter gewährt uns nicht, was die Jugend zu leisten schuldig
war od. schuldig gewesen wäre; oder 4, 17, 15 sogar neben einem
Bedingungssatz im Opt. Prät. ih mag giwinnan heriscaf, engilo gi-
zcelti, ob ih i^ duan ivolti, ich vermag himmlische Heerscharen zu
gewinnen, wofern ich es wollte, so könnte es auch an jener aus
Mc. 14, 4 angeführten Stelle heissen : mäht was pata balsan frabug-
230 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 115,
jan^ oder 0. 2, 14, 43 du mäht ein gifuari mir giduan. Aber der
Optativ ist in solchen auf eine irreale Vorstellung bezüglichen
Aussagen je länger um so mehr üblich geworden. Besonder»
wird er gebraucht, um zu bezeichnen, dass eine Möglichkeit
nicht verwirklicht, eine Schuldigkeit oder ein Verlangen nicht
erfüllt ist, bei den modalen Hülfszeitwörtern mögen, wollen^
sollen, können, müssen, dürfen und bei wünschen. Ferner
bei Ausdrücken wie es wäre leicht, schwer, gut, nützlich,
nötig, zu loeitläufig, es ziemte sich, es wäre a7i der Zeit
u. ä., wo im Lateinischen der Indikativ steht und unausgedrückt
bleibt, ob die durch den abhängigen Infinitiv bezeichnete
Handlung eingetreten ist oder nicht.
Anm. Oft lassen sich auch solche Sätze in ein konditionales
Satzgefüge umsetzen; z. B. des stüende in fröude wol, es würde ihnen
wohl anstehen, wenn sie vergnügt wären. Walther 85, 18 im uceve
alze senfte ein eichin wit umb sinen kragen, es wäre eine zu milde
Strafe, wenn er gehenkt würde.
115. (Irrealis in Wunschsätzen.) 1. Den Charakter der
Irrealität zeigt der Optativ Prät. auch in Wunschsätzen. Die
Aussage muss nicht gerade etwas Nichtwirkliches bezeichnen.
Den Satz Lehte er doch nochl kann man mit Beziehung auf
einen Verstorbeneu gebrauchen; er kann sich aber auch auf
einen noch Lebenden beziehen, über dessen Schicksal man im
Ungewissen ist; immer aber bezeichnet er einen Wunsch, den
der Redende mit dem Bewusstsein ausspricht, dass er die Ver-
wirklichung nicht herbeiführen kann. Dadurch unterscheidet
sich der Modus von dem Optativ Präs.; vgl. Er sterbel und
Stürbe er dochl
2. In den älteren Denkmälern begegnet dieser Gebrauch
des Opt. Prät. nicht oft. Das Gotische bietet zwei Belege,
beide mit wainei eingeleitet: 1 Kor. 4,8 wainei piadanö-
dedeip, ocpeXov eßaaiXeuaaxe, utinam regnetis, wollte Gott, ihr
herrschetet; 2 Kor. 11,1 wainei uspulaidedeip, öcpeXov dveixeaOe,
utinam sustineretis. Otfried braucht die Konstruktion nicht;
(die Beispiele, die Erdm. § 167 anführt, sind untergeordnete
Sätze), wohl aber Notker B. 1,31,21 wolti got, habetin wir
deheina, utinam, esset ulla! 1,98, 2 wolti got, erwundin dise
§ 115.J Der Optativ Präteriti als Irrealis in Wunschsätzen. 231
zite, utinam redirent! Viele Belege bietet das Mhd. z. B.
Walther 70, 10 wesse ichy war si wollen strichen] 75, 8 öwSy
gescehe ichs under Jcranzel Damentlich nach wan: Walther
12, 28 wan woltens an die heidenschaftl Parz. 135, 19 ivan
Jcoem mir doch derselbe man\ etc. Auch im zusammen-
gesetzten Perf.; z. B. En. 2192 hedet ir doch ein Mndelin an
mir gewonnen] 10772 ouwi wan hedde ich't verswegenl l.Büchl.
1886 wan wcere er erhangen] Ebenso ist im Nhd. der Ge-
brauch ganz geläufig; z. B. Schiller Jgfr. 3, 1 Frommer Stab,
0 hätt ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht] Hätt
es nie in deinen Zweigen, heiige Eiche, mir gerauscht] Wärst
du nimmer mir erschienen, holde Himmelskönigin]
3. Umschreibungen mit müssen^ sollen, wollen sind auch
hier gebräuchlich; z. ß. Walther 112,3 mUeste ich noch geleben,
da^ ich die rösen mit der rninnecllchen solte lesen] Iw. 1660 ouwt
wan solde si nü pflegen gebcerde nach ir güetel Walther 98, 12 hei
sollen si zesamene komenl 69,24 owe zvoldest du mir h&lfen, vrouwe
min] 39,6 möhte ich versläfen des winters ä?^ = könnte ich doch
verschlafen! In Hartmanns Iwein begegnet der einfache Konj. Prät.
nie, wohl aber mac und sol mit Inf. Holtheuer S. 149. — Jetzt
wird mit ganz verblasster Bedeutung wollte gebraucht, z. B.
Wollte es doch regnen] und namentlich möchte\ nie würde
(vgl. §102,3).
4. Dass wir den Opt. Prät. als Ausdruck des Wunsches in
selbständigen Sätzen brauchen, scheint erst das Ergebnis allmäh-
licher Entwickelung zu sein (vgl. § 113. A. l). Die gotischen
Belege charakterisiert das einleitende wainei (d. i. wai, neiy
schade, dass nicht!) als Nebensätze. Die ahd. mit wolti got einge-
leiteten Sätze lassen sich als konditionale Satzgefüge auffassen,
als Aussagesätze, mit denen man wünschenden Sinn verband;
'Wenn Gott wollte, würden diese Zeiten wiederkehren'. — Auf
konditionalen Sätzen, neben denen der Hauptsatz unaus-
gesprochen geblieben ist, beruhen vermutlich die mhd. Sätze
wie: owe, gescehe ich si under kränze] dh. (wie würde ich
mich freuen), wenn ich sie sähe; die Interjektionen, die so
oft diesen Wunschsätzen vorangehen, sind der unartikulierte
Ausdruck der schlummernden Vorstellung. Nie haben diese
Wunschsätze die Wortstellung des Hauptsatzes. — Die Sätze
232 Gebrauch der Modi im Hauptsatz. [§ 116.
mit wan endlich beruhen auf indikativischen Fragesätzen, die
im Sinn einer Aufforderung ausgesprochen wurden: 'Warum
kommst du denn nicht = So komm doch!' Andere Wunsch-
und Forderungssätze tragen den Stempel ursprünglicher Ab-
hängigkeit noch deutlicher. Sätze mit t^aj: 0. 4,26,37 tha^ sälig
stj thiu kindes unbera st. Walther 14, 34 frouwe, da^ ir scelic stt.
41,8 neina, frouwe, da^ sis niht engSl 57,24 da^ si den vermtden
soldel (Später auch im Indikativ: dass du dich nicht unterstehst l
u. ä. Wunderlich 1,291). Klage 1508 da^ ich erstorben wcerel nhd.
Dass er doch käme] — Mit der: Walther 46,27 owe, der mich da
welen hie^e, deich da^ eine dur da^ ander lie^el Nhd. mit w; er und
wenn: Wer mir hülfe\ Wenn mir doch einer hülfe.
Anm. Dass die Wunschpartikel wan, die im Mhd. oft begegnet,
aber doch nicht in allen Denkmälern, z. B. nicht in den Nibelungen,
und überhaupt kaum zwei Jahrhunderte in den Quellen erscheint
(Gr. 4, 79 und 86), auf ahd. huajita ni 'warum nicht' zurückzuführen
ist, hat Lachmann zu den Nibelungen S. 64 f. gezeigt. Wie sehr
man sich gewöhnt hatte, solche Fragen als Aufforderung aufzufassen,
zeigen Sätze, in denen die Frage mit einem Imperativ verbunden
ist, z. B. Rol. 48, 14 wane lä^estu die Karlinge handelen ir Sache
unde leve du m,it gemache = Lass doch die Karlinge ihre Angelegen-
heit besorgen und kümmere dich nicht. Der Opt. Prät. aber kann
in sie erst eingedrungen sein, als man sie als irreale Forderungssätze
auffasste. Einen Wechsel im Modus belegt Genes. Fundgr. 1, 23, 31
wanta ne was si (Eva) ^me gevallen an den fuo^ und häte (= hcete)
ime geklaget ir gruo^, lie^e (hier = hcete lä^en) si der zähere ?iicht
betüren — , hete im,e weinnent an gelegen — , häte doch gesprochenl
Das ist vermutlich so aufzufassen : 'Warum war Eva ihm nicht zu
Füssen gefallen und hätte ihm dann geklagt' etc. Die fragende
Wortstellung ist nur einmal aufgegeben : Maria 136 owe wan ich
tot wcerel Mhd. Wb. 3,500a.
116. Die Irrealität 7A\ bezeichnen ist die erste und vor-
nehmlichste Aufgabe des Opt. Prät. Doch wird er auch ähn-
lich wie der Opt. Präs. in deliberativem und potentialem Sinne
gebraucht.
1. Als Modus deliberativer Fragen wird er geläufig,
nachdem der Opt. Präs. diesem Gebrauch abgestorben ist;
z. B. Is. 9, 8 odho mahti angil sösama s6 got mannan chifrumman,
numquid angelus cum deo potuit facere hominem? 0. 3, 16,58 scolti
er sin krist guat^r, wir kennen seine Herkunft und der sollte Christus
sein! Iw. 6157 war möhte ich nü gertten? Nib. 284, 1 wie künde
(moht Jh) da3 ergän, das ^^^ dich minnen solde. 1018, 1 wie möhte
§ 116.] Der Optativ Präteriti als Deliberativ 233
ich den mit ougen immer an gesehen, von dem m.ir armem ivthe so
leide ist geschehen? Sehr oft im Nhd. Wärs möglich? könnt ich
nicht mehr^ wie ich wollte? Du wärst so falsch gewesen? Wer hätte
das geglaubt? Käme da etwa noch Nachricht? Wie wäre der dazu
gekommen? Und aus diesem deliberativen Gebrauch ergab sich
dann leicht ein anderer, dass man ihn in Fragen anwandte,
die mit einer gewissen vorsichtigen oder bescheidenen Zurück-
haltung ausgesprochen werden; z. B. Tätest du mir wohl einen
Gefallen'? Wäre es erlaubt einzutreten'^^ Wäre es nicht Zeit
aufzubrechen? Hättest du nicht Lust auszugehen? etc.
2. Die deliberative Bedeutung kann sich auch mit der
irrealen, in der Beziehung auf eine andere nicht wirkliche
Vorstellung begründeten Bedeutung verbinden; z. B. Nib. 2095, 1,
wo Rüdiger Etzel bittet, ihn seiner Dienste zu entlassen, und dieser
antwortet : wer hülfe danne mir (sc. wenn ich dich entliesse). Ebenso
Nib. 1627, 2 wä ncemet ir die spise? Notker Ps. 2, 322, 17 tver getorsti
föne gote s6 sprechen äne spiritus eius. Nib. 1144, 1 warumbe solde
ichs volgen niht (§ 114, 5) etc.
3. In demselben deliberativen, zweifelnden und zurück-
haltenden Sinne konnte der Modus dann auch in Aussagesätzen
gebraucht werden. Eine scharfe Grenze zwischen den verschie-
denen Nuancen der Bedeutung- gibt es natürlich nicht. Wenn Notker
Boet 1, 135, 23 ta^ neinahti nicht smähe sin, dara alle mennisken
zuo tlent = neque enim vile quiddani est etc. den lateinischen Indi-
kativ est durch den Optativ nemahti sin wieder gibt, so bezeichnet
hier der Optativ weder selbst eine irreale Vorstellung, noch wird er
auf eine solche bezogen, vielmehr ist er der Ausdruck sinnender
Betrachtung und Erwägung: 'Das möchte' oder 'könnte doch wohl
nichts Geringes sein'. Als einen Potentialis, der ironisch für eine
ganz sichere Aussage gebraucht wäre, könnte man ihn Gudr. 190, 4
auffassen: s6 miltes vilrsten höhztt niöhte noch den armen 7iiht
gewerren. Eine bescheidene Aussage bezeichnet er Bit. 8998 ez
wcere Hildebrantes rät, da^ man turnierte äne fride\ eine mit be-
hutsamer Zurückhaltung ausgesprochene Gudr. 239, wo Hetel Waten
zu der gefährlichen Werbung um Hilde auffordert: boten ich bedörfte
in des wilden Hagenen lant. Im Nhd. ist dieser Gebrauch des
Vorsichtigen Konjunktivs' sehr beliebt geworden. Dem Irrealis
steht er am nächsten, wo die Aussage sich zwar nicht auf
eine irreale, aber doch in Bezug auf ihre Kealität noch nicht
erkannte, zweifelhafte Vorstellung bezieht: Ich dächte oder
mir däuchte, ich hätte ihn schon öfters gesehen. Ich wüsste
234 Gebrauch der Modi. [§ 116.
nichty dass ich ihm schon begegnet wäre. Man sollte meinen,
die Sache verhielte sich anders. Das könnte oder dürfte
wohl eine Fälschung sein.
In Umschreibungen wird möchte, könnte, sollte gebraucht^
besonders gern aber dürfte, bald um eine Aussage als blosse
Vermutung zu bezeichnen, bald um einer Bitte die Form einer
bescheidenen Frage zu geben: Das dürfte sich doch anders
verhalten. Dürfte ich eintreten? Dürfte ich bitten?
Anm. Um eine Vermutung zu bezeichnen, konnte der Ind.
Prät. von dürfen (eig. nötig haben, Ursache haben) schon im Mhd.
gebraucht werden; z. B. Nib. 2232,4 e^n dorfte künec so junger
niemer küener sin gewesen, es dürfte wohl nie ein so junger König
kühner gewesen sein, eig'entlich: 'nie hätte ein jung-er König' nötig
gehabt, kühner zu sein, er besass die Kühnheit, deren ein jung'er
König bedarf, vollkommen'. Iw. 1312 ezn dorft nie wthe leider ze
dirre weide geschehen. Die Bedeutung- "Erlaubnis zu etwas haben'
ist noch etwas jünger In dem Sinne, in dem wir jetzt dürfte in
bescheiden bittenden Fragen brauchen, konnte früher törste ge-
braucht werden. ZfdU. 3,551. Wunderlich 1,367.
4. Deliberativen Charakter hat der Optativ auch in
Sätzen wie: Das wäre nun glücklich vollbrachtl Der tcäre
nun auch gestorbenl Da wärest Du ja auchl Über den Berg
wären tcirl (aber — ).
Hier ist der Modus der Irrealität gewissermassen in sein
Gegenteil verkehrt. Er bezeichnet nicht eine bedingte Nicht-
wirklichkeit, hat auch nicht die unsichere Bedeutung eines
Potentialis, sondern weist mit grösster Bestimmtheit auf eine
handgreifliche Tatsache. Aber — und darin ist der Gebrauch
des Modus begründet — mit der Aussage verbindet sich ein
sinnender Blick in die Vergangenheit oder Zukunft, ein Moment
subjektiver Betätigung, worin ja überhaupt der wesentliche
Unterschied zwischen Optativ und Indikativ liegt. Den ältesten
Beleg für diesen in den letzten Jahren oft behandelten Ge-
brauch hat Pietsch aus einer Predigt Luthers beigebracht:
Das wehren dy drey Capittel de Jacob = Hec sunt 3 capita
de Jacob. Jetzt ist er in der Schriftsprache und den Mund-
arten weit verbreitet^).
1) Hildebrand ZfdU. 3, 553 f. Th. Matthias, eb. 4, 433—440.
§ 117.] Die Modi im Nebensatz. 23&
Die Modi im Nebensatz.
117. So lange parataktischer Satzbau galt, konnte
der Modus auch in solchen Sätzen, die als untergeordnet
empfunden wurden, durch keine anderen Momente bestimmt
werden als in den Hauptsätzen, die Art, wie der Redende
den Inhalt des Satzes auffasste, bestimmte den Modus; und
auch später, als in Konjunktionen und Wortstellung besondere
Formen für den hypotaktischen Satzbau gewonnen waren,,
blieb für den Modus dies Verhältnis das wesentlichste Moment.
In Sätzen derselben Form finden wir verschiedene Modi, und
selbst wenn in einzelnen Fällen der Modus an eine gewisse
Satzform gebunden scheint, liegt der Grund für den Modus
doch nicht in dieser Form. Daher darf die Behandlung des
Modus sich auch nicht an die übliche Einteilung der Neben-
sätze anschliessen, mag man diese nun auf das syntaktische
Verhältnis von Haupt- und Nebensatz gründen (Substantiv-^
Attributiv-, Adverbialsätze) oder auf ihr logisches Verhältnis
und die Mittel der Satzverbindung. Aber auch aus der Be-
deutung der Modi selbst würde sich schwerlich eine befrie-
digende Einteilung des Stoffes gewinnen lassen; denn diese
ist nicht unverändert geblieben und nicht immer sicher zu er-
kennen. Am schärfsten treten der Imperativ und der Optativ
Präteriti als Irrealis hervor. Den Sätzen, in denen diese Modi
gelten, steht dann die grosse Masse derer gegenüber, in denen
je nach dem Tempus der Opt. Präs. oder Prät. gebraucht ist.
Oft kann man in diesen den Modus als Potentialis oder Deli-
berativus, als Voluntativus und Konzessivus in Anspruch nehmen;
in andern Fällen bleibt die Entscheidung unsicher, weil ver-
schiedene Auffassungen möglich sind, oder weil sich die Be-
deutung des Modus verflüchtigt hat, so dass er nur noch als
Mittel der syntaktischen Unterordnung erscheint. Dies gilt
namentlich für den Potentialis (§119). Um zu einer über-
sichtlichen Behandlung dieser Masse zu kommen, schien es mir
am zweckmässigsten, zunächst indirekte und direkte Neben-
Tomanetz, eb. 7, 788-807. Hildebrand, eb. 8, 690-692. Pietsch^
eb. 10, 444 f.
r2S6 Gebrauch der Modi im Nebensatz. [§ 118.
Sätze zu scheiden. Den indirekten Sätzen habe ich die For-
derungs- und Absichtssätze angeschlossen, unter den direkten
die vorangestellt, in denen die Bedeutung des Modus am
schärfsten ausgeprägt ist, die Sätze mit konzessivem und
irrealem Optativ; dann folgen solche, in denen dies weniger
der Fall ist; den Schluss bilden Sätze, deren Modus unter
dem Einfluss des im Hauptsatz gebrauchten Modus steht. Vor
den Optativsätzen aber behandle ich die Imperativsätze.
Imperativ.
118. 1 . Der Imperativ wird in Nebensätzen wenig gebraucht.
Hin und wieder findet er sich in Forderungs- und Absichts-
sätzen^). Im Gotischen nach einem Imperativ: Mc. 8, 15 saiJvip
ei atsaiJvip izwis pis heistis Farisaie, öGäxe, ßX^Trexe arrö Tf\c, 2;üjur|(;.
Mt. 27, 49. Mc. 15, 34 Mt, ei saHvivam, äqpexe i6ujju€v. Anderwärts auch
unter anderen Bedingungen. Heliand 3268 ewa gebiudid, that thu
man ni slah, ni thu menes ni sweri. 0. 4, 19,47 sts himunigöt, tha^
thu unsih nu gidua wts, du seiest beschworen, dass du uns unter-
richtest. Notker Ps. 39. 4 (Wiener Hs.) nu liehe dir, trohtin, da^ du
mih irlöse (irlösest St. Galler Hs.). Auch später in einem nfrk. Oster-
spiel (ZfdA. 2, 323) V. 645 ich bidde, dat du heilich mich. Aber
solche Sätze erscheinen doch immer als Abnormitäten^). —
Eine Ausnahmestellung nimmt der Imp. tuo ein, der in mhd.
Gedichten oft in indirekten Fragen vorkommt: ich sage dir
od. rate dir, wa^ du tuo, immer so, dass tuo im Reime steht^).
2. Geläufig geblieben ist der Imperativ in konditionalen
und konzessiven Satzverbindungen^). Zuweilen kann man in
solchen Verbindungen Vorder- und Nachsatz noch als selb-
ständige Hauptsätze auffassen, z. B. Walther 37, 29 minne got.
1) Mourek § 123. OS. 1 § 284. Scherer 2 305. Behaghel IF. 14, 443.
2) Die gotischen Belege empfiehlt Mourek als direkte Sätze
mit deiktischem ei aufzufassen. Andere fasst Behaghel als Anako-
luthe (Rückkehr in die syntaktische Ruhelage) auf; vgl. Kraus,
Deutsche Gedichte S. 85 und Erdmann zu 0. 4, 24, 6. Die Verbindung
zweier Imperative meidet der gotische Übersetzer Gr. 4, 1253.
3) Grimm, KZ. 1,144 (= kl. Sehr. 7, 338 f.). Whd. § 345. Martin
zu. Kudrun 149, 2.
4) Erdm. § 163. Wunderlich 1, 271 f. 301 f. Gr. 4, 1253. Blatz
2,1163. 1175 f. 1189.
§ 119.] Imperativ. 23T
so mahtu frö helihen; liebe Gott, dann wirst du glücklich
sein. Aber dieselbe Form wird auch beibehalten, wo die Ver-
bindung' enger ist und der Imperativ nicht mehr nach seiner
eigentlichen Bedeutung aufgefasst werden kann; z.B. condi-
tional 0. 1, 18, 7 ni bist es io giloubo, selbo thu iz ni scouwö,
wenn du es nicht selbst siehst: konzessiv: 0. 3, 20, 155 leset
allo huali thio sin, ni findit ir. Imperativ im Vorder- und
Nachsatz: Notker Boet. 1,302,22 ubele tuo, heueren newäne.
Berth. 471,30 selbe tuo, selbe habe. — Besonders gern wird
der Imperativ von lä^en in konzessiven Sätzen gebraucht, fast
wie eine Konjunktion; z. B. Walther 79, 20 lä einen stn gehom von
küneges rippe: ern habe friunt, wa^ hilfet da^. Berth. 539,34 Id^et
golt zehenstunt geliutert stn, s6 ivart cht nie niht gesehen, da^ s6
gar lüter woere alse diu suiiiie. — Auch negative Beding-ungen
können durch den Imp. ausgedrückt werden; im Nachsatz steht
dann anders, oder oder\ z. B. Ackerm. 29, 7 begent die bescheiden-
heit, anders es musz der hamer den ambosz treffen.
3. In demselben Sinne wie der Imperativ können auch die
für ihn üblichen Umschreibungen gebraucht werden, z. B^
Berthold 492, 23 du solt got versuochen unde sprinc in die
Tuonouwe . ., du mäht wol den Itp Verliesen.
Optativ in indirekten Sätzen.
119. In indirekten Sätzen berichtet man zunächst über
Aussagen oder Gedanken eines andern ; man kann aber auch
eigene Aussagen oder Gedanken in der Form eines indirekten
Satzes aussprechen. Ersteres ist z. B. der Fall in dem Satze
Walther 10, 35 min guoter Mösencere . . der fürhtet aber
der goteshüse ir meister werden Tcranc\ letzteres in dem Satze
34, 34 wcen aber min guoter Mösencere clage und sere weine.
Der Modus des indirekten Satzes wurde ursprünglich durch
das Verhältnis bestimmt, in dem der Urheber der indirektem
Aussage (dh. die Person, aus deren Sinne der untergeordnete
Satz gesprochen ist), zu der Aussage stand. Als Ausdruck
dieses Verhältnisses lässt sich der Optativ in den beiden an-
geführten Sätzen auffassen; beide lassen sich auf eine direkte
Aussage im Potentialis zurückführen: 'die Meister der Gottes-
häuser werden wohl wieder schwach werden; mein guter
-238 Gebrauch der Modi im Nebensatz. [§ 120.
Klausner wird wol wieder klagen und weinen'. Ebenso steht
der Irrealis, wenn er schon der direkten Aussage zukommt,
z. B. Walther 82, 8 dem setze ich mine wär'heit des ze pfände,
wolt er ir geleite volgen mite^ da^ in unfuoge niht erslüege
(direkt: 'Wer der wahren Minne folgte, den würde Unfuge nicht
erschlagen'), und früher auch der Imperativ: Hei. 3268 ewa
gehiudid that thu man ni slah. Der Imperativ stirbt früh ab
(§ 118); der Irrealis behauptet sich fest in dem ihm zuständigen
Gebiet; der potentiale Optativ, von Anfang an weniger fest
umgrenzt, breitet sich weiter aus. Indem er im selbständigen
i^atz früh seine Bedeutung verlor, entschwand sie auch im ab-
hängigen Satze dem Sprachbewusstsein, und da die Sprache
gleichwohl an der Form festhielt, gewöhnte man sich, in dem
Modus nicht mehr den Ausdruck des besonderen Verhältnisses,
in dem der Urheber zur Aussage stand, zu sehen, sondern nur
den Modus der Abhängigkeit, nur ein Mittel, durch welches
der Redende die Aussage in die Vorstellung eines andern
verlegt. Offenbar bekundet sich in diesem Einfluss des Reden-
den auf die Form des abhängigen Satzes, dass dieser unselb-
ständiger geworden war, der regierende und der abhängige
Satz wurden mehr als früher als Einheit empfunden. Und
daraus erklärt sich dann weiter die Wahrnehmung, 'dass der
Optativ der Oratio obliqua um so seltener wird, je weiter wir
in der Sprache hinaufsteigen'. (Beliaghel, Zeitfolge S. 163.)
Indirekte Aussagesätze^).
120. (Indirekte Aussagesätze im Optativ.) 1. Ich führe
zunächst Beispiele an, in denen es nahe liegt, den Optativ als
Reflex des Modus der direkten Rede anzusehen, eines Poten-
tialis der Gegenwart, oder eines Futurums; denn das Futurum,
das nie etwas Wirkliches bezeichnet, sondern immer nur in
Aussicht stellt, steht dem Potentialis nahe und berührt sich
mit ihm. Dann solche Beispiele, in denen es näher liegt den
1) Delbr. PBb. 29, 217—236. Mourek § 121 f. Erdm. §198.
Wunderlich 1,343-351. Blatz 2, 787 f. 981-986. 1007 f. Über den
Gebrauch der Tempora s. § 103 ff.
§ 121.] Indirekte Aussagesätze. 239
Modus als Ausdruck der Abhäugigkeit aufzufassen. Freilich
ist diese Scheidung, da die Form keinen Anhalt bietet, mehr
oder weniger willkürlich. Auch in den Sätzen der ersten Art
ist der Modus vielleicht nur noch Ausdruck der Abhängigkeit,
und unter denen der andern sind manche, deren Optativ man
auch schon für die direkte Rede in Anspruch nehmen könnte.
2. a) Die Aussage bezieht sich auf die Zukunft. Nach
einem Präsens: 2 Kor. 13,6 winja^ patei kunneip {-{VKba^oQ^).
Köm. 8, 38 gatraua auk, patei ni daupus ni lihains magi uns afskaidan
af friapwai gudis (öuvr]aeTai). 0. 5, 24, 11 ist uns in thir giwissi,
tha^ unser stubbi füla^ werde avur sulth soso i^ was. Walther 7, 38
so hän wir des gedinge, diu schulde werde ringe. 50, 15 so bin ich
des an angest gar^ da^ mir iemer herzeleit mit di7iem willen wider-
var. — Nach einem Präteritum: Lc. 19, 11 pühta im, ei suns skulda
ivesi (lueWei) piudangardi gudis gaswikunpjan. 0. 4, 19, 45 bizeinta,
tha^ sin ivirdi zi niwihti scioro wurti. 3, 18, 49 Abraham ther altoi
er bltdta sih thes harto, er thes sih muasi frouwön. 2, 9, 43 er
(Isaac) ej habeta furi niwiht (achtete es für nichts, besorgte nicht),
er fon thes fater henti . . döt wurti. Greg. 1059 die muosten im
beide wol bestceten da^, si ensagtenz niemer. 729 si häte das ge-
dingen, da^ ej got solte bringen den Hüten zen handen. Iw. 5751
si ivas des an angest gar, da^ si (die Schwester) iemen brcehte dar,
der ir kempfen überstrite.
b) Die Aussage bezieht sich nicht auf die Zukunft, lässt
sich aber potential auffassen: Hild. 29 m wäniu ih, iu Üb habbe.
O. 1, 27, 1 thie liuti dätun muri, tha^ Johannes Krist wäri, joh uärun
ahtönti, thei^ wola wesan mohti.
121. 1. Unter den Beispielen, in denen der Optativ nur
als Ausdruck der Abhängigkeit erscheint, stelle ich solche
voran, in denen der Redende die Aussage des Nebensatzes
als der Wirklichkeit entsprechend nicht anerkennt, also be-
sonderen Anlass hatte, die Aussage durch den Modus als in-
direkt zu charakterisieren. Nach einem Präsens: Mc. 9,11 qi-
pand pai bökarjös, patei Helias skuli (bei) qiman faurpis. 1 Kor.
10, 19 ha nu qipam ! patei p6 galiugaguda ha sijaina (öti el'b'JuXöv
Ti eaxiv). Mt. 6, 7 pugkeip im, ei in filuwaurdein seinai andhaus-
jaindaw, auch zu § 120). 0. 4, 13,34 stueris filu hei^o, ni sts thero
giiiöQO. 1, 1, 60 ni parf man tha^ ouh redinön, tha^ Kriachi in thes
giwidarön. Walther 16, 30 Kristen, Juden unde heiden jehent, da^
diz ir erbe st. 55, 31 dun darft niht jehen, da^ du in ir herze en-
240 Gebrauch der Modi. [§ 121..
mügest. 45, 8 ein frouwe wil ze schedelichen schiTnpfen, ich habe
ü^ gelobet. — Opt. Prät. im abhängigen Satz: Jh. 9, 19 sau ist sa
sunus izwar, ßanei jus qipip-, patei blinds gabaurans waurpi {b^^v-
vr\Qr\). 1 Kor. 1, 16 pata anpar ni wait, ei ainnöhun daupidedjau
(ei ^ßdTTTiaa) = im übrigen wüsste ich nicht, dass ich getauft hätte.
Walther 104,15 er seit von größer swcere, da^ Tnln pferit moere dem,
rosse sippe wcere (verwandt gewesen wäre).
Nach einem Präteritum: Lc. 20,7 andhöfun, ei ni wisse-
deina. Jh. 11,13 hugidedun. patei is bi slep qepi {Iholav öxi X^y^i).
Jh. 13, 29 sumai mundMun^ patei qepi (X^T^i) imma Jesus. Lc. 18, 9
trauaidedun sis, ei weseina garaihtai (öti eiöiv). Lc. 16, 1 frawrö-
hips warp. ei distahidedi aigin is {\hc, bmaKopiriSojv). 0. 4, 18, 15
quad, ni wäri thero manno, mit eidu i^ deta festi, thag er then man
ni w€sti. 4, 15, 26 giloubt er, ther fater wäri furira. 5, 5, 16 giloub-
tun sär, tha^ er firstolan wäri. 1,8, 12 joh thähta (Joseph), i^ imo
sä^i, ob er sia (Maria) firlia^i (auch zu §120). 3,8,24 firnämun
in giwäri, thei^ ein gidrog wäri. Walther 73, \\ dö m,ich dühte,
das ^^ wcere guot. Iw. 3951 der lewe ivände, er wcere tot. — Opt.
Präs. im abhängigen Satz 0. 4, 23, 25 er gikundta herasun, tha^ er
st selbo gotes sun.
2. Der Redende hat keiue Ursache, die Aussage des
Nebensatzes abzulehnen oder zu bezweifeln. Nach einem Prä-
sens: Mt. 9,28 g-u-laubjats, patei magjau pata taujan (öti öüvauai)?
0. 5, 19, 22 er zelit, tha^ thär st mihhila,^ githuing. 2, 14, 103 ir quedet
in alawäri, tha^ mänödo noh sin fiari. 3, 12, 17 sprechent thie liuti,
thu sts thero forasagono einer. 2, 14, 55 mtn muot duat mih wts^
tha^ thu forasago sts. AValther 13, 3 uns dunket, eine^ st gelogen. —
Opt. Prät. im abhängigen Satze. 0. 4, 26, 19 ja saget man tha^ zi
wäru, si scrigtln fon theru bäru. 4, 36, 13 so zellent stno guati, tha^
er fon tode irstuanti. 2, 14, 9 ther evangelio thär qutt, thei^ mohti
ivesan sexta ztt (auch zu § 120).
Nach einem Pr äteritum : Jh. 12, 18 iddjedun gamötjan imma
managei, unte hausidedun, ei gatawidedi p6 taikn (auTÖv Tr6Troir]K6vai).
Mc. 6, 55 hausidedun^ ei is wesi (öti ^ötiv). 0. 1, 21, 11 thö gihört er
m,äri, thär ander kuning wäri. 3, 2, 27 zaltun imo ouh innan thes^
tha^ rehto in alawäri sin sun gineran iväri. 5, 13, 24 sprah in ala-
wäri, thei^ s€lbo druhttn wäri. 4, 19, 30 quädun, sie ij gihörttn.
Greg. 405 da^ sich diu vrouive des enstuont, da^ si swanger wcere.
680 er jah, da^ nie zer weite quceme ein kint also genceme. 1176
da^ der meister selbe swuor, er gescehe nie so sinnertche jugent. —
Opt. Präs. im abhängigen Satz: Walther 95, 15 dennoch seit' si mir
däbt, da^ mfin düme ein vinger st. 114, 18 sit da^ ime die besten
jähen, da,^ er also schöne künne leben. Opt. Präs. und Prät. in be-
gründetem Wechsel 0. 1, 1, 87 las ih iu in alawär in einen buachon.
§ 122.] Indirekte Aussagesätze im Indikativ. 241
si in sibbu joh in alitu sin Alexandres slaMu\ joh fand in theru
redinu, tha^ fon Macedoniu ther Hut in gihurti gisceidiner wurti.
3. Hierher gehören auch solche Sätze, deren Aussage der
Redende im Widerspruch zu der andern Person für richtig
hält: Jh. 9, 18 ni gilaubididun pan Judaieis bi ina, patei is blinds
w^si, jah usseJvi (öti tu9\öc; fjv Kai dv^ßX€i|;ev). 0. H, 20, 75 ni moh-
tun si gilouben, tha^ er gisähi.
122. (Indirekte Aussagesätze im Indikativ.) 1. All-
gemeine Geltung hat der Optativ als Modus abhängiger Aussage-
sätze nie erreicht; zu jeder Zeit konnten sie auch im Indikativ
stehen, sei es, dass der Redende die Aussage als der Wirk-
lichkeit entsprechend bezeichnen wollte, oder dass er kein
Interesse daran hatte, den Nebensatz als indirekt zu charak-
terisieren: z.B. 0.1,16,17 si kundta thär, söso i^ was^ tha^ in
thiu fruma queman was. 1,25,10 kundta imo, er i^ wolta, i^ ouh
s6 wesan scolta. 2, 3, 49 sin selbes stimma. sprah uns tha^, thei^
sun sin einigo was. 2, 11, 43 er lerta uns joh zeinta, tha^ druhtin
unser meinfa thes .^tnes Itchamen hüs. 4, 19,59 nach einem Optativ:
tha^ ther Hut westi tha^, thei^ imo filu zorn ivas. Greg. 475 ouch
ist uns dicke vor geseity da^ ein kint niene treit stnes vater schulde.
In diesen Sätzen könnte auch der Optativ stehen, freilich
nicht in ganz gleichem Sinne. Der Indikativsatz und der
Optativsatz, beide sind abhängig, beide können auch als in-
direkte Sätze aufgefasst vrerden ; bezeichnet aber ist der Satz
als indirekt nur, wenn er im Optativ steht. Im Indikativsatz
macht der Redende eine eigene Aussage zum Objekt des re-
gierenden Satzes, im Optativsatz ist das Objekt aus dem Sinne
des regierenden Subjekts gestaltet, er ist also mit seinem
Hauptsatz durch ein engeres innerlicheres Band verknüpft.
Am deutlichsten tritt der Unterschied hervor, wenn, wie das
oft geschieht, ein demonstratives Pronomen auf den abhängigen
Indikativsatz hinweist. Der Satz: Er glaubt^ dass er JcranJc
ist, kann denselben Sinn haben wie: Er glaubt, dass er krank
sei; nicht aber der Satz: Er glaubt es, dass er krank ist.
2. Je weniger der Redende in dem Inhalt des abhängigen
Satzes einen Anlass findet, ihn als indirekte Aussage hin-
zustellen, um so mehr wird er zum Indikativ neigen. Ver-
schiedene Momente kommen dabei in Betracht.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 16
242 Gebrauch der Modi. [§ 122.
Zunächst die Bedeutung des regierenden Verbums. Es
ist natürlich, dass auf Verba, deren Bedeutung als Objekt
etwas Tatsächliches voraussetzt, wie die Indikativformen von
wissen, öfter der Indikativ folgt, als auf solche, die sich eben-
sowohl mit einer der Wirklichkeit nicht entsprechenden Aus-
sage verbinden lassen, wie sagen, mitteilen, hoffen, fürchten,
oder auf solche, deren Bedeutung auf eine unsichere Vermutung
hinweist, wie wähnen, dünken. Es treten dabei feine Unter-
schiede hervor. So steht bei Otfried in den tha^Ssiizen nach
quedan fast immer der Optativ, nur einmal (4, 21, 29) der
Indikativ; nach sagen umgekehrt nur einmal der Optativ
(4, 26, 19), sonst der Indikativ (OS. I § 321. 324). Der Grund
ist nicht in dem regierenden Verbum zu suchen, vielmehr ist
beides. Modus und Wortwahl, durch die Vorstellung bedingt,
die der Redende ausdrücken will. Mit sagen verband der
Dichter eine Vorstellung, die ein reales Objekt verlangte,
nicht aber mit quedan. Im Mhd. hängt von jehen der Optativ
ab, aber von einem jehen = einem etwas zuerkennen der Indi-
kativ; z. B. Greg. 1033 ein Jcint, da^ im sin herze jach, da^
er so schcenes nie gesah. Wig. 101, 30 und wil ich im der
wärheit jehen, da^ ich nicht schoeners hän gesehen. — Je
nach der Bedeutung und Auffassung der abhängigen Sätze
kann nach demselben Verbum, selbst in demselben Satze ver-
schiedener Modus gebraucht werden; z.B. 0. 1,11, Id sagetun,
tha^ si gähün sterron einan sähun (Tatsache), joh dätun filu märi,
tha^ er sin wärt (Deutung). Nib. 1225 die zeigten, da^ in ivcere leit
(sie gaben ihrer Empfindung Ausdruck) und Nib. 2152 vil wol zeigte
Rüedeger, da^ er was starc genuoc (er zeigte, was jeder sah). Auch
O. 1, 10, 21 tha^ wi^in these liuti, tha^ er ist heil gebenti inti si ouh
irwente fon diufeles gebente (dass er Heil spendet und befreien wird).
Anm. 1. In anderen Sätzen, wozu erst der Indikativ, dann der
Optativ gebraucht ist, mag- der Wechsel nach § 149 zu erklären sein :
1 Kor. 7,16 hya auh kannt, qinö, ei aban ganasjis? aippau ha
kannt, guma, patei qen peina ganasjais (ei öd)a€i<;, ob du werdest
selig machen).
3. Ebenso ist die Neigung zum Indikativ natürlich, wenn
der Redende im abhängigen Satz nicht die Vorstellung eines
andern, sondern eine eigene für richtig und wirklich gehaltene
§ 122.] Indirekte Aussagesätze im Indikativ. 243
Vorstellung- ausspricht (a), zumal wenn sich die Aussage auf
ihn selbst bezieht (b), z. B. (a). 0. l, i, 80 ih weis, ^3 Qot worahta.
3, 20, 74 gikei^it mir tha^ mina^ muat, tha,^ er ist forasago guat.
5, 12, 10 wir gilouhen tha^ ouh fram, er wäran lichamon nam. 1, 1, 111
gidän ist es nu redina, tha^ si sint guate thegana. Nach einem
Optativ: Walther 57,6 s6 steilere ich wol, da^ hie diu wtp heiser
sint dann ander frouwen. Selbst nach dünken und wähnen: Nib.
2270 mich dunket, da^ diu moere iu niht rehte sint geseit (A, sin B);
Walther 22, 30 ich woen si beide tören sint. 30, 1 ich wcen er houbet-
Sünde und schände zuo im trinket. 111,21 ich wcene da^ gebende
ungltche stät. Auffallender im Gotischen nach einem Praet. bei einer
auf die Zukunft bezüglichen Aussage: 2 Kor. 1, 10 du pammei
wSnididum, ei galauseip, exe, öv i'i\Tr(Ka)u€v öxi Kai ^üaexai (vgl. ZfdPh,
8, 171). — (b). 0. 3, 16, 63 tvi^it tha^ ouh filu fram, theih fon mir selbo
ni quam. 4, 13, 3 wiztt nu, theih bin mit iu luzzila wila. 4, 21, 29
thü quts, quad er, theih kuning bin. Walther 49, 30 wa^ sol ich dir
sagen m&, wan da^ dir niemen holder ist dann ich. 71, 10 ich tvil
dir jehen, da^ du min dicke s^re bcete. 92, 8 doch tuot mir der ge-
dinge wol — deiche noch erwerben sol. 114, 8 owS des fürhte ich
vil sere, da^ ich muoz verjehen, su:es er wil.
4. Ferner kommt, je länger um so mehr, das Tempus
des regierenden Satzes in Betracht. Das Präsens begünstigt
den Indikativ, das Präteritum den Optativ. In der jetzigen
Sprache ist, wenn der Redende die Aussage des Nebensatzes
als wirklich ansieht, nach einem Präsens der Indikativ ge-
boten; z. B. Er weiss {weiss nicht), dass sie hier ist. Er
fühlt, dass er alt wird. Er merkt, dass man ihn beobachtet.
Auch nach Verben des Affekts: Er freut sich, dass du hier
bist etc. Dagegen können wir nach einem Präteritum überall
den Optativ brauchen, selbst da, wo der Nebensatz ein ganz
sicheres Ereignis meldet; z. B. Er wusste (wusste nicht) ^ dass
sie hier sei od. wäre. Er fühlte, dass er alt würde. Er
merkte, dass man ein Äuge auf ihn hätte. Er freute sich,
dass du hier wärest. In einem Falle ist der Optativ sogar
notwendig, nämlich dann, wenn die Aussage des Nebensatzes
für das regierende Subjekt in die Zukunft, für den Redenden
in die Vergangenheit fällt. Sie sagte, vermutete, wusste, freute
sich, dass er bald zurückkäme, — zurückkehren würde. Der
Grund liegt darin, dass die Sprache die dem Optativ zurück-
kehren würde entsprechende Indikativform zurückkehren ward
244 Gebrauch der Modi. [§ 122.
nicht mehr besitzt (§ 101,2); zurückkehren wird könnte nur
gesagt werden, wenn die Handlung auch für den Eedenden
zukünftig ist.
5. In Nebensätzen, deren Aussage der Redende für irr-
tümlich oder falsch hält, behauptet sich nach einem Prät. der
Optativ ganz fest: Er dachte^ dass ich sein Freund wäre.
Er gab vor, dass er mich gesehen hätte etc. Man kann sagen:
Er lüollte zeigen, dass er stark genug wäre oder war, wenn
die Absicht gelungen ist; ist sie nicht gelungen, nur wäre.
Ähnlich : Er freute sich, dass sie glücklich angekommen war
od. wäre, wenn die Ankunft wirklich erfolgt ist; ist sie nicht
erfolgt nur wäre. Dagegen in Nebensätzen, die von einem
Präsens abhangen, wird auch in diesem Fall der Indikativ
zugelassen; z. B. Er denkt, dass ich sein Freund hin. Er
gibt vor, dass er mich nicht gesehen hat u. ä. Da der Optativ
in solchen Fällen nichts ausdrücken würde, was nicht schon
aus der Satzform und der Bedeutung des regierenden Verbums
zu erkennen wäre, so erscheint er als überflüssig und darin
wird der Grund für diese von manchen Grammatikern noch
bekämpfte Entartung des Sprachgebrauchs liegen.
Anm. 2 DenEinfluss, den das Tempus des regierenden Verbums
auf den Modus des abhängigen Satzes hat, erklärt man gewöhnlich
aus dem Zeitverhältnis, in dem der Redende zu der Aussage des
abhängigen Satzes steht. Ein Präteritum im Hauptsatz nötigt ihn,
die Aussage des Nebensatzes von einem Zeitpunkt aus zu betrachten,
der ihm fern lieg-t; steht dagegen im Hauptsatz das Präsens, so
sieht er sie vom eigenen Standpunkt aus. Daher erscheint in diesem
Fall der direkte, in jenem der indirekte Modus als natürlicher. Ob
diese Erklärung ausreicht, mag dahin gestellt sein. Behaghel (Zeit-
formen S. 72 Anm.) hat sie entschieden abgelehnt und eine andere
versucht.
6. Endlich hängt die Wahl des Modus davon ab, ob der
abhängige Satz mit oder ohne Konjunktion gebildet ist. Wenn
die Konjunktion fehlt, ist der Optativ unentbehrlich, weil dann
der Modus allein die indirekte Rede beginnt. So besonders
in der sogenannten Oratio obliqua. — Über den Indikativ in
Nebensätzen, die einem indirekten Satz untergeordnet sind^
s. § 147, 2.
§ 123.] Indirekte Fragesätze. 245
Indirekte Fragesätze^).
123. Die Fragesätze sind entweder Entscheidungsfragen, z. B.
kommt er? oder Ergänzungsfragen, z. B. Wer kom,mt? Wann kommt
er?; jene lassen die Handlung überhaupt zweifelhaft, diese lassen sie
nur in einem durch ein indefinites Pronomen oder Pronominaladverb
bezeichneten Punkte unbestimmt; jene erwarten von dem Angeredeten
eine Entscheidung', diese eine Ergänzung'.
(Ergänzungsfragen im Optativ.) 1. In den Ergänzungs-
fragen können von Anfang an beide Modi gebraucht werden.
Den Optativ verlangen diejenigen, die einen Zweifel des
Subjekts über seine eigene Tätigkeit ausdrücken, oder die für
eine im Hauptsatz bezeichnete Person Gegenstand des Nach-
forschens oder der Erwägung sein sollen. Jenen entsprechen
in der direkten Rede Sätze im dubitativen, diesen Sätze im
deliberativen Optativ.
Dubitativ ist der Optativ nach einem Präsens z. B.
Mt. ß, 25 ni maui^naip saiwalai izwarai, Iva matjaip, ti qpdYriTe. Mt.
8, 20 sunus mans ni habaip^ fvar haubip sein anahnaiwjai, ttoö
K\ivr). 0.2,22,6 mit suorgön ouh ni ratet, mit tviu ir iuih watet.
2, 17, 8 wer findit untar manne, mit wiu man gisalze thanne. — Nach
einem Präteritum: Lc. 16,4 andpähta mik, Iva taujau. 0. 4,8,4
dätun ein githingi, wio man nan giwunni. 1,11,33 war si nan
gihadöti jah war si nan gilegiti, ni wdnu tha^ si^ wessi. 3, 26, 7 sie
rietun, was sies wolttn, joh was sies duan scolttn. Wie es in dem
letzten Beispiel geschehen ist, so pflegen auch wir jetzt Umschrei-
bungen mit sollen oder auch könrien zu brauchen.
2. Häufiger sind die Sätze, in denen der Optativ in
deliberativem Sinne gebraucht ist. Oft weist schon das
regierende Verbum darauf hin, wie der abhängige Satz auf-
zufassen ist, und es ist kein Zufall, wenn z. B. bei Otfried
nach fragen, ir fragen, forspön, eiscön u. ä. der Fragesatz
stets im Optativ steht (OS. 1 § 326). Aber wie bei den indirekten
Aussagesätzen liegt der Grund für den Gebrauch des Optativs
doch nicht in dem regierenden Verbum an sich, sondern in
der Bedeutung der ganzen Satzverbindung. Nach demselben
Verbum kann je nach dem Sinn der Indikativ oder Optativ
berechtigt sein. So steht z. B. nach wissen, erfahren, mit-
1) Erdm. 174—176. Mourek § 124—126. Delbr. PBb. 29, 248—257.
Blatz 2,934-939.
246 Gebrauch der Modi. [§ 123.
teilen im allgemeinen der Indikativ, dagegen wenn das Ver-
langen nach Wissen oder Mitteilung ausgedrückt wird {ich wollte
wissen, sage mir) der Optativ. Auch an Prädikate, die gar
keinen Hinweis auf einen abhängigen Fragesatz enthalten,
kann sich ein solcher anschliessen; z. B. 0. 5, 21, 3 refsit
sie . . ziu si irgä^in, sin thionost so firlia^in. 2,1,43 ij
was imo io quegka^ joh filu Uhhaßa^, wielih ouh joh wanne
er ej wolti yrougen manne.
Beispiele. Auf einen Hauptsatz im Präsens folgt der Opt.
Präs.: 0. 5,23,41 hugit er io, war i^ si, der Liebende denkt
immer daran, wo die Geliebte sei. 5, 20, 63 hanton joh ouh ougön
higinnent si nan scouwön, wio er sina^ wort gimeine, joh wa^ '€r
in irdeile. Der Opt. Prät. 5,1,1 ist filu manno wuntar, ziu druhtin
thes krüzes töd irweliti. — Auf einen Hauptsatz im Präteritum
der Opt. Prät.: Jh. 13,24 handwiduh pan panima (sc. dem Johannes)
Seimön Paitrus du fraihnan, has wesi, Tic; av €l'r|. Mc. 5, 14 qemun
saihan, ha wesipata waurpanö, t( eöxiv. Jh. 13, 22 sehun du sis missö
pai sipönjös pagkjandans, bi Jvar^jana qepi, irepi rivoc, Xe-^ei. Lc. 9, 46
galaip pan mitöns in ins, pata harjis pau izi, maists ivesi. 0. 2,4, 5
tho sleih ther färäri irfindan, wer er wärt. 2, 7, 18 toir woltun lui^^an
in giwis, war thü emmizigen biruwis. 1,16,6 habeta si in githähti,
war siu then dröst suahti. 1,4,71 ü^e stuant ther Hut thär, was
sie filu wuntar, ziu ther ewarto dualeti s6 harto. — Sehr oft finden
sich solche abhängigen Fragesätze nach einem Imperativ, der
zur Aufmerksamkeit auffordert, oder eine Mitteilung verlangt;
z. B. a) Mt. 9, 13 ganimip ha sijai (judGere ti eoxiv), armahair-
tipa wiljau jah ni hunsl. 0. 1, 12, 26 hugi, wa^ thär fers singe,
2,19, 13 wio ih hiar gibiate, tha^ höret io zi guate; und vor einem
Präteritum: 1,3,29 hugi, weih thir sageti. b) 0. 1,27,31 thes gidua
thu nu unsih ivts, wer thoh manno thu sts. 4, 21, 35 sage thü mir . .
wa^ thu nennis tha^ war, gidua mih thes giwissi, wa^ st tha^ war-
nissi. 3, 17, 17 nu zeli uns tha^ thtna^ giräti, wa^ i^ theses quäti^
Auch 3, 24, 61 giböt er, sie mo zelittn, wara sie nan legittn. —
3. In demselben Sinne steht der Optativ auch in den
folgenden Beispielen, in denen das regierende Verbum den
abhängigen Satz nicht als Gegenstand des Nachforschens oder
Erwägens bezeichnet: 0.5,7,17 sie sprächun thio unthulti joh
wa^ si thara wolti. 3, 16, 70 joh sprächun ouh in rihti, wio tha^
wesan mohti tha^ selben kristes guati mera wuntar ddti. 2, 4, 26 ni
hörta wergin Tnäri, wer ther fater wäri. Ebenso nach ni wei^
3, 16, 59 ; nist kund 3, 20, 91 ; ni firnimist 2, 12, 45 ; ni firnämun 1, 21, 55.
§ 124.] Indirekte Ergänzungsf ragen. 247
124. (Ergänzungsfragen im Indikativ.) 1. Den Optativ-
sätzen stehen Indikativsätze gegenüber; zunächst solche, in
denen die Aussage des Nebensatzes als Gegenstand der Wahr-
nehmung, des Wissens oder der Mitteilung aut'gefasst wird;
z. B. Lc. 18, 6 hauseip, Iva staua inwindipös qipip (es ist so eben
erzählt). Jh. 13, 28 patuh pan ainshun ni wissa, duTv^ qap irtima.
0. 4, 19, 40 thu höris, wa^ si nennent joh thih ana^ellent. 5, 4, 57
iagilth Mar s'ehan mag^ war ther Itchamo lag. 5, 6, 68 ioh irkennit
tha^ muat, ivio selbo druhttn irstuant. 3, 20, 137 wanana ther^r
avur ist^ thes wiht uns sär io kund nist. 2, 7, 1 higinnu ih Mar nu
redinön, ivio er bigonda bredigön. 2, 3, 27 ther evangelio ouh giwuag,
wio man tMu kindütn irsluag. 3, 20, 110 zalta, wes er fualta joh
wa^ thär inan ruarta. Selbst nach Imperativ und Optativ: Mt. 6,28
gäkunnaip blömans haipjös, hnaiwa ivahsjand. 0. 2, 7, 1 1 sehet, quad
er, herasun^ war geit ther druhtines sun. 1, 2, 11 tha^ ih ouh Mar
giscrtbe, wio firdän er unsih fand joh ivio er fuar ouh thanne ubar
himila alle. 2, 14, 23 oba thu thia gotes giß irknätis, joh wer dih
hitit thanne ouh Mar zi drinkanne, thu bätis etc. In diesen Bei-
spielen weist der Nebensatz auf etwas vor Augen liegendes
oder als Tatsache anerkanntes hin; aber auch das Unvollendete
und Zukünftige kann im Indikativ stehen; z.B. Jh. 8,14 unti
wait (ich weiss), haprö qam jah hap galeipa; ip jus ni witup,
haprö qiraa aippau hap galeipa. 0. 5, 14, 6 will ih gizeigön, ivär
thu es lisis mera.
2. Nicht selten lässt sich ein Satz ebensowohl als Gegen-
stand der Wahrnehmung etc. wie als Gegenstand des Forschens
und Erwägens auffassen, so dass die Wahl des Modus frei
steht. Der Indikativ wäre z. B. erlaubt 0. 2, 3, 11 mäht lesan, wio
i^ wurti zi theru druhtines giburti ; 4, 6, 4 Tnaht lesan, wio er däti,
joh wio er se bredigöti (vgl. 2, 3, 29 mäht lesan ouh Mar forna, wio
er kösön bigonda). 3, 16, 59 ni wei^ i^ manno nihein, wanana Sr
selbo quämi (vgl. 3, 20, 137 wanana ther^r avur ist, thes wiht uns
sär io kund nist). 3, 24, 71 thö ahtotun thie liuti^ wio er nan min-
nöti (Christus den Lazarus). 1,13,18 (Maria barg die Worte in
ihrem Herzen) ahtönti, wio thiu wort Mar gaganttn (wie die Worte
sich erfüllt hatten). — Umgekehrt wäre der Optativ gerechtfertigt
0. 5, 10, 27 bigondun thingön thö untar in, wio er giang kösönti mit
in, wio tha^ herza bran in in. 5, 10, 35 sie in thö reda dätun, wio-
sie nan ouh irknätun, joh wio se in thera ferti giangun kösönti..
5, 23, 155 nihein ouh thes githenkit, wio er (der Teufel) sie em^mizi-
gen sc7^enkit. Ebenso 0. 1,18,43 hugi, wio ih thär fora quad (vgl.
1,3,29 hugi, weih thir sagiti] 1,12,26). Jh. 9, 15 frihun ina pai
248 Gebrauch der Modi. [§ 125.
Farisaieis, haiwa ussaJv, Trox; dveßXeipev. — Auffallend ist der Indi-
kativ O. 5, 21, 1 nim nu gourna harto thero druhtines worto, in herzen
harto thir gibint, wio filu egislih siu sint] und mehr noch Mc. 9,10
pata ivaurd habaidedun du sis missö sökjandans, Iva ist pata us
daupaim usstandan, wenn hier nicht unabhäng-ige Frage anzunehmen
ist (ZfdPh. 8, 16).
So begegnet denn auch Wechsel des Modus in dem-
selben Satze; z. B. 0. H. 27 nim gouma in alathräti, wio Abel däti,
wio er hugu rihta stnan in sUh druMlnan, Ebenso 4, 6, 4 ff. 4, 7, 7.
4, 6, 35. 5, 12, 7. Dagegen mit charakteristischem Unterschied 0. 3,20,43
sage uns nu giwäro, wio siliist thu so. ziero (vor Augen liegende
Tatsache) joh wer tliir däti thia mäht, tha^ thu so scöno sehan mäht.
125. (Jüngere Entwickelung.) 1. Indem der Optativ die
Aussage des Nebensatzes als Gegenstand der Nachforschung*
und Erwägung bezeichnet, verlegt er sie zugleich in die
Vorstellung der im Hauptsatz bezeichneten Person, und so
wird in den Fragesätzen wie in den Aussagesätzen der Opta-
tiv zum Modus der indirekten Rede, der auch da gebraucht
wurde, wo der Deliberativ keine Berechtigung hatte; z. B.
Walther 67, 26 der ivären minne giht si ganzer stcetekeit, wie guot
si st, wies iemer teer. 46, 6 suln wir sprechen, wa^ sich dem geliche.
96, 11 d&r töre kan sich nicht versten, iva^ e^ fröude und ganzer
wir de gebe. 19, 18 des bedunket mich, wie du dämite verliesest michels
Tnere. 66, 19 mir st liep da^ die betrogenen wi^^en, wa^ si trüge.
Nach einem Präteritum: 119,20 mich Tnüet, da^ ich si hörte jehen,
wie holt si 7nir in triuicen wcere. 114, 27 da sah ich bluomen strtten
wider den grüenen kle, weder ir lenger ivcere. 94, 29 dö bedühte mich
zehant, wie mtn sele wcere ze himile. 104, 23 man seif mir ie von
Tegerse, wie wol da^ hüs mit ere^i sti. 12, 14 er hie^ iu sagen, wie
erj verschulden welle.
2. Die jüngere Entwickelung des Modus verläuft daher
in diesen Fragesätzen ebenso wie in den Aussagesätzen; das
Tempus des regierenden Satzes gewinnt Einfluss auf den
Modus des abhängigen. Nach einem Präsens neigen wir zum
Indikativ, wenn wir keine besondere Ursache haben, die Aus-
sage als indirekt zu bezeichnen; nach einem Präteritum zum
Optativ, wenn nicht der Redende die Aussage des abhängigen
Satzes von seinem Standpunkte aus geben will: Er will wissen^
wer das getan hat (habe); — wann sie wieder kommt (komme).
Er wollte wissen, wer das getan hätte 'j — wann sie wieder
^ 126.] Indirekte Entscheidungsfragen. 249
Tcäme •, oder vom Standpunkt des Redenden : — wer das getan
hatj — wann sie wieder kommt. Wo im Ahd. und Mhd.
nach einem Präsens der Optativ steht, liegt uns meistens,
namentlich in der Umgangssprache, der Indikativ näher;
z. B. Walther 103, 6 mau sol iemer fragen von d'eyn Tnan, wie^ umb
sin herze sti. 99, 20 in wei$ niht wol, tvie^ darumbe st. 99, 27 trelt
ir ici^^en, wa^ diu ougen stn etc. Und umgekehrt : wo im Ahd.
nach einem Präteritum der Indikativ steht, können w^ir oft
ebensogut oder besser den Optativ der indirekten Rede brauchen;
z. B. 0. 3, 20, 184 want er in zalta, wer er was, weil er gesagt hatte,
wer er wäre. 5, 10, 35 sie in thö reda dätun, wio sie nan ouh irk-
nätun ioh wio se in thera ferti giangun kösönti, sie berichteten,
wie sie erkannt hätten und gegangen wären. Aber 4, 19, 64 ir
hörtut tha^ ungimah, tvio er widar gote sprah müssen auch wir mit
dem Indikativ übersetzen, weil der Redende selbst auf eine Tat-
sache hinweist.
126. (Indirekte Entscheidungsfragen.) 1. In den indirekten
Entscheidungsfragen steht in der altern Sprache fast immer
der Optativ; z.B. nach einem Präsens; Mt. 27,49 let ei saih)am,
qimaiu Hellas nasjan ina, ei epxexai. 2 Kor. 13, 5 izwis silbaiis
fraisip, sijaidu in galaubeinai, ei eöxe. Nach einem Präteritum:
Mc. 8, 23 frah ina, ga-u-ha-sehi, ei ti ßXeirei. Lc. 3, 15 pähtedun allai
in hairtam seinam bi lohannein, niu auftö sa wesi Christus.
Gewöhnlich lässt schon die Bedeutung des regierenden
Verbums einen abhängigen Fragesatz erwarten; doch kann
sich dieser auch loser anschliessen; z. B. 2 Tim. 2, 25 in qairrein
talzjands pans andstandandans, niu han gibai im gup idreiga
(|ar]TroTe öujr]), die Widerspenstigen mit Sanftmut lehrend, ob ihnen
nicht Gott Reue gebe. — Indikativ erscheint im Gotischen nur
einmal, im zweiten Gliede einer Doppelfrage: Jh. 7,17 jabai has
wili wiljan is taujan, ufkunnaip bi p6 laisein, framuh gupa sijai,
pau iku fram mis silbin rödja. Ebenso bietet Otfried nur ein
Beispiel, im Reim und Anagramm: Sal. 6; keins Notker und
Williram; sie brauchen stets den Optativ (Erdm. § 202). Dass
in den indirekten Entscheidungsfragen der Indikativ fast gar
nicht vorkommt, ist darin begründet, dass wir sie überhaupt
nur da anwenden, wo die Aussage durchaus unbestimmt ist.
2. Im Mhd. tritt allmählich ein Wandel ein. Zwar über-
wiegt noch entschieden der Optativ; aber öfter als früher
250 Gebrauch der Modi. [§ 12G.
begegnet nach einem Präsens auch der Indikativ; z. B. bei
Walther 86, 11 ichn wei^, oh ich schoane hin. 46, 26 da^
he^^er spil, oh ich da^ hän genomen. Und die jetzige
Sprache, namentlich die Umgangssprache, neigt nach einem
Präsens entschieden zum Indikativ, obschon uns der Optativ
nicht versagt ist: Sie fragt, loill wissen, weiss nicht, oh er
zu Hause ist {sei); — oh er gestern in der Stadt war, ge-
wesen ist {gewesen sei)'^ — oh er hald wieder kommt, kommen
wird {komme, kommen werde). Bei Walther heisst es 66, 9 nu
hceret unde merket, ob si^ denne tuo-, 55,30 nu wil ich schouwen,
ob du iht tilgest', 51, 18 ine wei^, oh er zouber künne; 60, 9 doch
solt du gedenken wol, ob ich ie getrcete fuo^ von miner stcete etc.;,
uns würde überall der Indikativ näher liegen.
3. Dagegen nach einem Präteritum hat sich im allge-
meinen der Optativ behauptet: Sie fragte, tcollte wissen,
wusste nicht, oh er zu Hause loäre, sei', — oh er gestern in
der Stadt gewesen sei, wäre'^ — oh er hald wieder käme
od. komme, kommen ivürde od. werde. Nur wenn die Aussage
des Nebensatzes für den Redenden und das regierende Subjekt
in dieselbe Zeit fällt, der Redende also die Aussage ebenso
gut von seinem eigenen zeitlichen Standpunkt aus betrachten
kann, stellt sich wohl auch der Indikativ ein : Er wollte wissen,
ob du schon wieder hier bist ; — gestern zu Hause warst. Er fragte,
ob du ihn ganz vergessen hast; — ihn bald besuchen wirst; aber
notwendig; Sie zweifelte, ob er wieder käme, wenn für den Redenden
die Aussage schon entschieden ist. Im Nhd. ist also der Modus-
gebrauch in den indirekten Fragesätzen in derselben Weise
wie in den indirekten Aussagesätzen geregelt.
Anm. Abhängige Frage- und Aussagesätze berühren sich.
Im Gotischen finden wir die Konjunktion ei, die gewöhnlich Aus-
sage- oder Absichtssätze einleitet, zuM^eilen in einem Satz, der
einem griechischen Frag-esatz entspricht; z. B, Mc. 15, 44 sildalei-
kida, ei is jupan gaswalt, eGaüjuaaev, ei f\bY] xeGvriKev. An derselben
Stelle beg'egnet ein abhängiger Frag'esatz ohne Konjunktion: Pei-
latus frah ina, jupan gadaupnödedi, ei fjöri air^öavev. Ebensolche
Sätze im Hd.; bei Otfried einigemal in der Doppelfrage: 3, 16, 17
yrkenne er thesa lera joh sehe thärana in ivära, si fon gote queme
thir, odo ih sia eigine mir; 4,22,11. In einer einfachen Frage:
Nib. 1775, 1 ine wei^, e^ € geschach. — Umgekehrt werden im Hd.
Sätze mit ob zuweilen in ähnlichem Sinne wie dass-Sätze gebraucht;
§ 127.1 Forderungs- und Absichtssätze. 251
z. B. 0. 4, 23, 20 ni mag ih in imo irfindan^ oha er firdän st so fram.
Gudr. 459, 8 des hin ich in swceren, oh min vater mit schiffen nach
uns Ue. Erin. 202 si latent übele schinen, oh sie die wären minne
in dem herzen suln gewinnen. 432 da setze wir tüsent widere, den
nieman mac Urkunde gehen, oh si tugentUchen leben. Und von den
Ergänzungsfragen stehen die mit wie oft den dass-Sätzen sehr nahe;
z. B. Nib. 13 e^ troumde Kriemhilde, wie sie einen valken zilge.
Walther 34, 18 er seit uns, wie da^ rtche ste vericarren (Blatz 2, 951).
Ebenso berühren sich indirekte Fragen und Absichtssätze,
indem man das Ziel, das man zu erreichen wünscht, durch den Aus-
druck ungewisser Erwartung, das Ziel, das man vermeiden will,,
durch den Ausdruck zweifelnder Besorgnis ausdrücken kann. Bei-
derlei Sätzen kommt der Optativ zu, aber in verschiedenem Sinne,
den Absichtssätzen als Modus der Forderung, den Fragesätzen als
Potentialis (Deliberativ, Dubitativ). Otfried braucht nach fären 'auf
etwas lauern, nach etwas trachten' in ähnlichem Sinne tha^ und
oha\ 3, 4, 10 th'es wärun färenti, tha^ sih tha^ wa^^ar ruarti. 4, 35, 25
tha^ siu th'es gifärttn, oha sie nan thana fuartin. Ebenso wir, neben
Wir warteten, oh er käme auch dass er käme. Vgl. ferner Nib. 359, 1
nach den hergesellen wart hote dö gesant, oh si schouwen tvolten
niuwe^ ir gewant. Gudr. 209, 1 davon s6 wart im not, oh er ein wtp
hoete. Parz. 363, 4 dem was vil not, oh er hejac mühte an richer
koste hän. — Besonders hervorgehoben seien die mit der Fragepartikel
ihai eingeleiteten Sätze, die sich im Gotischen an die Verba fürchten,
sorgen, verhüten anschliessen; z. B. 2 Kor. 8,20 hiwandjandans pata,
ihai has U7is fairinödedi, das verhütend, dass uns nicht jemand übel
nachreden möge 2 Kor. 12, 20 unte 6g ihai auftö higitau izivis,
qpoßoOiaai yctp ^r]TTuu<; eüpuu ujuäc;. Solche Sätze können ganz die Be-
deutung finaler Nebensätze annehmen; z.B. Mt. 5, 25 sijais waila
hugjands andastauin peinamma, ihai hau atgibai puk stauin, luri-rroTd
ae TrapaÖLU. Aber dass der Satz doch kein Forderungssatz und der
Modus als Potentialis aufzufassen ist {er wird dich vielleicht dem
Richter übergehen) zeigt der Mangel der Negation. Mourek § 183 f.
Delbr. PBb. 29, 248.
Der Optativ in Absichts- und Forderungssätzen i).
127. 1. Als indirekte Sätze kann man meistens auch
die untergeordneten Aussage- und Fragesätze ansehen, mit
denen man die Vorstellung eines zu erreichenden Zieles, einer
Absicht oder Forderung verbindet. Ihr Modus entspricht dem
1) Mourek § 175-184. Delbr. 29, 214 f. Erdm. § 175-180'.
Wunderlich 1,285-291. 282. Blatz 785 f. 1140-1145.
252 Gebrauch der Modi. [§ 127.
Imperativ oder voluntativen Optativ der direkten Rede. —
Gewöhnlich schliessen sich diese Sätze dem Prädikat an, bald
in dem loseren Verhältnis einer näheren Bestimmung, bald in
dem engeren einer Ergänzung; beide Arten neben einander
z. B. 0. 4, 11, 16 giböt, sie stillo säßn, thio sino diurun henti
wuasgin se unz in enti. Die relative Bedeutung des Verbums
gebieten findet ihre Ergänzung in dem Satze sie stillo sä^tn.
Dieser hingegen bedarf einer Ergänzung nicht; er erhält in
dem abhängigen Satz nur eine nähere Bestimmung. — Die
Prädikate, die der Ergänzung bedürfen, weisen oft schon
durch ihre Bedeutung auf einen abhängigen Forderungs- oder
Absichtssatz hin; so die Verba gebieten, auffordern, beab-
sichtigen, sich bemühen. Andere, wie sagen, mitteilen, zeigen
können ebenso gut auf einen Aussage- oder Fragesatz bezogen
werden, lassen also die Bedeutung des abhängigen Satzes un-
bestimmt; z. B. 0. 1, 19, 5 unz ih thir zeigö, wanne thu biginnes
(beginnen sollst). Walther 100, 24 Frö Welt, du solt dem
wirte sagen, da^ er mich von dem brieve schabe. Beide Sätze
haben dieselbe Form wie die indirekten x\ussage- oder Fragesätze;
aber der Modus ist hier in anderem Sinne gebraucht (§ 126 A.).
2. In derselben Bedeutung wie in den indirekten Sätzen
kann der Modus auch in attributiven Relativsätzen gebraucht
werden; z. B. 0. 1,18, 33 farames then weg, ther unsih wente
zi eiginemo lante. Nib. 817,3 wir heilen boten riten, die
hie niemen sin belcant. 1028, 2 ich muo^ hie beliben bi den
minen mägen, die mir helfen clagen. Ferner in relativischen
Vergleichsätzen, z. B. Iw 296 do empfienc er mich als schöne^
als ime got iemer löne. Walther 61,9 mir ist liep, da^ si
mich klage ze mä^e, als e^ ir schöne ste. Und besonders in
Temporalsätzen mit bis, wenn die Fortdauer der Haupthand-
lung bis zum angegebenen Zeitpunkt beabsichtigt ist; z. ß.
Lc. 1, 20 sijais pahands und pana dag, ei icairpai pata, ecTrj
(TiLUTTUJV, dxpi f\<; fijuepac; T^vriiai laOra. 0. 1, 19, 5 in Aegypto
wis thu sär, unz ih thir zeigö avur thär. Nib. 974 ir sult
^3 lä^en stän, unz e^ sich ba^ füege. 1854, 1 ziehet in ze eren,
unz er werde man. Stets enthält der Hauptsatz eine Forderung,
der durch den Nebensatz das Ziel gesetzt ist (vgl. § 145).
§ 128.] Forderungs- und Absichtssätze. 25S
3. Gewöhnlich ist der Modus in dem Verhältnis begrün-
det, in dem das Subjekt des regierenden Satzes zu der ab-
hängigen Aussage steht; diese bezeichnet das Ziel, das da&
Subjekt in seiner Tätigkeit verfolgt, und zwar eine Absicht,
wenn Haupt- und Nebensatz dasselbe Subjekt haben; z. B.
0. 2,2, 12 quam, si man6ti\ eine Forderung, wenn sie ver-
schiedene Subjekte haben, z. B. 0. 1,4,77 was er houhnenti,
tha^ menigi fuari. Ist der regierende Satz aber selbst ein
Forderungssatz, so bezeichnet der abhängige nicht eine Absicht
des Subjekts, sondern eine Absicht oder Forderung des Reden-
den; z. B. 0. 1, 1,37 ili thu zi nöti, thei^ scöno thoh gilüte,
beeifere dich, dass es schön klinge. 0. 1, 10, 21 thu scalt
druhtine rillten wega sine, tha^ wi^in these liuti. Endlich
kann der abhängige Satz auch einen weniger persönlichen
Charakter haben und eine in den Verhältnissen begründete
Forderung oder Notwendigkeit bezeichnen, so namentlich nach
Hauptsätzen, die eines persönlichen Subjektes entbehren (§ 128,4).
Nach diesen Gesichtspunkten sind die folgenden Beispiele ge-
ordnet.
128. 1. Der regierende und der abhängige Satz haben
dasselbe Subjekt. Nach einem Präsens: Gal. 2,17 sökjandans
ei garaihtai dömjaindau, ^riToüvric; biKaiuuGfivai. EÖm. 13, 8 ni ainum-
mehun waihtais skulans sijaip, niba patei izivis missö frijöp, ei iii)
TÖ ä\\Y)\ovc, dYciTräv, seid niemand etwas schuldig, ausser dass ihr
euch einander liebet. 0. 1,1,32 ilit er, gigdhe, tha^ stna^ io gihohe,
1, 5, 39 haMn ih gimeinit, tha^ ih einluzzo mtna worolt nuzzo, ich
habe beschlossen unvermählt zu leben. 5, 25, 67 luagent io z'emo
argen^ tha^ sie gena^ berginJ^i, 30, 26 nu ni mag biwerban, tha^
sih giheile selban. — Nach einem Präteritum: Gal. 2, 16 in Xristau
Jesua gälaubidedum, ei garaihtai wairpaima. 0. 3, 1, 4 er was Mar
in worolti, er tödes bi unsih koroti. 1,22,2 sie fli^^un, tha^ sie
gitlttn. 3, 14, 17 bigonda genu drahtön^ si sih zi thiu gifiarti, tha^
siu inan ruarti. 4, 28, 9 thö rietun thie ginö^a, sie würfln iro lö^a.
3, 9, 9 si wunsgtun, muastn rtnan thoh stnan trädon,
2. Die beiden Sätze haben verschiedene Subjekte. Nach
einem Präsens: Mc. 6,25 wiljau, ei mis gibais haubip Johannis.
Mc. 5, 7 biswara puk bi guda, ni balwjais mis. Lc. 9, 54 wileizu^
ei qipaima, fön atgaggai^us him^ina, G^Xck; €iTruu|uev irOp Kaxaßfjvai.
0. 4, 8, 15 wir sculun huggen^ tha^ sie uns nan ni irzuk€n. 4, 23, 27
^54 Gebrauch der Modi. [§ 128.
ther wi^^od l€rit thäre, in crüce man then hähe. 1, 28, 1 bittemis
nu druhtin, er unsih . . ni gisceide. 4, 15, 51 theist gibot mina^ zi
iu^ ir iuih minnöt untar lu joh iagilth thes thenke etc. 0. H. 141
evangelion gibieient uns, wir unsih minnön. — Nach einem Prä-
teritum: Mc. 7,36 anabaup im, ei mann ni qepeina. 1 Kor. 16,2
filu ina bap, ei is girni. Mc. 6, 12 m^ridedun, ei idreigödideina.
0. 4, 6, 37 sie minnötun thdr, tha^ man sie hia^i meistar. 3, 16, 73
thie furiston ein girdti dätun, tha^ m,an nan gifiangi. 1,1,3 sie
thes fli^un, in buachon man gimeinti thio iro chuanheiti. 4. 6, 13
sie i^ ouh thö gimeintun joh in selbo irdeiltun, tha^ man thia fruma
in nämi inti anderen gdbi. Präsens nach Prät. 0. 1, 22, 59 er ivolta
unsih leren, wir unsan fater eren.
3. Der regierende Satz selbst ist als Forderung- aus-
gesprochen* z.B. 0.3,17,57 sih, tha^ thü bigoumes. Mt. 9,30
saihats, ei manna ni witi. Lc. 4, 3 qip pamma staina, ei wairpai
hlaibs. Walther 63,18 schaffe, da^ ich frö geste. 3, 19 und hilf uns,
da^ wir mit dir obe geligen und da^ din craft uns gebe so starke,
stcete widerstrebe, da von dtn name st geret. Greg. 469 vint uns
eteltchen rät, da^ doch unser kindeltn mit uns iht verlorn st.
4. Der regierende Satz entbehrt eines persönlichen Sub-
jekts Mc. 9, 12 hiaiwa garnelip ist bi sunu mans, ei manag tvinnai
jah frakunps tvairpai, dass er viel leiden und verachtet werden
soll. Jh. 17, 3 söh pan ist so aiiveinö libains, ei kunneina puk
■ainana sunjana gup, dass sie dich als den wahren Gott erkennen
sollen, i'va yivojaKujaiv. So besonders nach Ausdrücken wie 'es genügt,
ist Recht, Sitte, Zeit' u. ä. Mt. 10, 25 ganah sipöni, ei wairpai S2vi
laisareis. Jh. 18, 39 ist biuhti izwis, ei ainana izwis fr aletau. Und
in milderem Sinne, wie man auch durch den Imperativ Handlungen
bezeichnet, die man nicht grade fordert, sondern nur zulässt: Mt.
5, 29. 30 batizö ist pus, ei fraqistnai ains lipiwe peinaize jah nih
allata leikpein gadriusai in gaiainnan. 1 Kor. 4, 3 m,is in minnistin
ist, ei fram izwis ussökjaidau, mir ist es ein geringes, dass ich von
euch gerichtet werde, Iva dvaKpiGu). — Ebenso im Hochdeutschen:
0. 1, 13, 12 tha^ scolta stn bi nöti, tha^ er in thionöti. 5, 1, 14 uns
ist fruma in thiu gizalt, joh s'^gan flu manag falt, sälida zi Übe,
tha^ .scado uns hiar ni kltbe. 4,22,9 ist iu zi giwonaheite, ih einan
firlä^e. 4, 2, 3 sih thiu ztt ndhta, er unsih gidrösti. 4, 2, 13 then
thiu sälida gireim, tha^ thär zi disge sä;^tn. Musp. 63 pidiu ist
d'^mo manne s6 guot . . da^ er rahhöno weltha r'4hto arteile. 0.
3, 25, 25 ba^ ist, man biwärbe. Walther 35, 8 ej ist mtn site, da^
man mich iemer bt den tiursten vinde. 35, 27 an wtbe lobe stit ivol,
da^ man si hei^e schcene. Iw. 207 e^ ist reht, da^ der mist stinke.
5429 nü was ej ze den ztten site, da^ der schuldegcere Ute etc.
§ 129.] Forderungs- und Absichtssätze. 255
5. Ähnlich, als Ausdruck einer unpersönlichen Forderung,
lässt sich der Modus auch in manchen Sätzen auffassen, die
von einem Verbum mit persönlichem Subjekt abhangen; z. B.
Jh. 12, 34 weis hausidedum, patei Xristus sijai du aiwa, dass Christus
ewiglich bleiben werde (m^v€i, Potentialis der indirekten Rede), oder
bleiben soll (Forderung); der Satz fährt fort: jah Tvaiwa pu qipis
patei skulds ist (bei) ushauhjan sa sunus mans. Ebenso 0. 5, 24, 11
ist uns in thir giwissi ouh tha^ irstantnissi, tha^ unser stubbi füla^
iverde avur sulth soso i^ was. Vielleicht auch in Sätzen, die
nicht sowohl eine Tatsache als ihre Bedeutung berichten.
0. 2, 9, 7 fern^met sär in rihti, tha^ krist ther brütigoTno st. 1, 17, 69
kundtun si (die Gaben der heiligen drei Könige) uns thanne, tha^
er urmäri uns ewai^to wäri, ouh kuning in giburti joh bi unsih döt
wurti. 4, 19, 45 bizeinta^ tha^ sin wirdi zi niwihti scioro wurti, zu
Grunde gehen sollte. Und in Ergänzungsfragen: Lc. 8,9 frehun pan
ina pai siponjös is qipandans, has sijai s6 gajukö. 0. 5, 8, 1 ih
willu Mar gimeinen, wa^ thie engila bizeinen, bedeuten sollen. 4, 5, 1
hiar scal man zellen . . wa^ tha^ fihu meine, thiu wät ouh Mar bi-
zeine. Walther 95,11 nu hat si mir bescheiden, wa^ der troum be-
diute (zu bedeuten hat).
129. (Sätze, die sich verschieden auffassen lassen.)
1. Nicht selten gestattet der Zusammenhang verschiedene Auf-
fassung des abhängigen Satzes und dementsprechend auch
verschiedenen Modus. Sätze, die an und für sich Absichts-
und Forderungssätze sein könnten, stehen im Indikativ, wenn
sie nicht als solche aufgefasst werden. Besonders dann tritt
dieser Modus ein, wenn die Aussage für den Redenden eine
Tatsache ist. Der Ind. Perf. z. B. 0. 3, 14, 45 ziu si fdreta, tha^ si
thia trädun ruarta warum sie darnach getrachtet hatte, den Saum
zu berühren. 3, 26, 60 er eino tha^ biwarb, tha^ er bi unsih irstarb.
2. l, 21 thö er deta, tha^ sih zarpta ther himil sus io tcarpta. Nib.
951, 4 ej hat geraten Brünhilt, da^ e$ hat Hagene getan (Brünhild
hat es angestiftet). — Der Ind. Präs. Mc. 11, 28 has pus pata wal-
dufni atgaf, ei pata taujis, i'va iroi^c;, wer hat dir die Macht g'egeben,
dass du solches tust. 0. 2, 22, 21 er giduit, tha^ thu nakot ni geist.
1, 1, 23 eigun sie iz bithenkit, tha^ sillaba in ni wenkit. 0. Lud. 72
thoh habU therer thuruh not, tha^ ftant uns ni gaginit, thiz fasto
binagilit ; simbolon bisperrit, uns widarwert ni merrit. — Selbst für
Zukünftiges kann der Indikativ gebraucht werden : Jh. 14, 3
franima izwis du mis silbin, ei, parei im ik, paruh sijup jah jus
256 Gebrauch der Modi. [§ 130.
(iva fJTe). 16,2 qimip Tveila^ ei pugkeip (iva 6ö?ri). 0.4,8,21 gi-
machön, tha^ thär nist manno mera. 5, 7, 5L ih giagälei^ön^ tha^
ih inan giholön thär. 3, 22, 61 oh ih avur thenku, theih stnu werk
wirku. 2, 14, 37 ther thuruh thurst githenkit, tha^ thesses brunnen
drinkit. Nib. 601, 2 ich schaffe^ da^ si hlnaht so nähen bt iu Itt. —
Mit wechselndem Modus 0. 2, 5, 15 themo alten det er sua^i, tha^ er
tha^ oba^ ä^i, gispuan, tha^ er ouh tha^ firlia^, thaQ druhttn inan
duan Mag. Ebenso 0. Lud. 9 f.; 4, 2, 1; dagegen mit charakteristischem
Unterschied 3, 1, 13 er deta, tha^ halze liafun . . er due, theih Mar
ni hinke-, liafun weist auf ein erreichtes Resultat, ni hinke auf eins,
das erst erreicht werden soll.
2. Umgekehrt finden wir den fordernden Optativ in Sätzen,
die sich als Folgesätze auffassen lassen; z. B. Trist. 4589 wie ge-
vähe ich nü min sprechen an., da^ ich den tcerden houbetman
Tristanden s6 bereite ze stner swertleite., da^ man ^^ gerne v ernenne
und an dem mcere wol gezeme. ichn wei^, wa^ ich davon gesage,
da^ iu gelt che und behage und schöne an disem,e mo&re sti.
Walther 51, 9 Minne sol sin gemeine, so gemeine, da^ si ge durch
zwei herze und dur dekeine^ mi. 120, 32 nü müe^e ej got gefüegen
so, da^ ich noch von wären schulden werde frö. Wig. 39, 33 diX solt
den gürtel so bewarn, da^ stn ieman werde gewarn. 113, 25 die sint
mit steinwenden beslo^^en und mit huote, s6 da^ des ieman muote,
das 6^ ^^^ ^^ Mre. Greg. 770 dö beslu^^en si da^ {va^), mit solher
gewarheit, da^ deheiner slahte leit geschcehe dem kinde. Der Optativ
weist darauf hin, dass diese Sätze als Forderungssätze aufgefasst
wurden, mag auch in manchen das Adverbium s6 es uns näher
legen, sie als Folgesätze aufzufassen.
130. (Jüngere Entwickelung. Umschreibungen.) 1. Im
Laufe der Zeit hat der Indikativ an Ausdehnung gewonnen.
Während er in der älteren Sprache schliessen lässt, dass der
abhängige Satz überhaupt nicht als Absichtssatz aufgefasst ist,
begegnet er in der jüngeren auch in solchen Sätzen, die offen-
bar als Absichtssätze empfunden werden und durch die Kon-
junktion auch deutlich als solche bezeichnet sind. Ähnlich
wie in den indirekten Aussagesätzen hängt der Modus wesent-
lich von dem Tempus des regierenden Satzes ab. Nach einem
Präteritum befremdet uns der Indikativ selbst in manchen
Sätzen, in denen der ältere Gebrauch ihn zuliess (vgl. die
Beispiele in § 128), nach einem Präsens ist er ganz geläufig,
namentlich in der Verkehrssprache. Man sagt: Er band den
i; 130.] Forderungs- und Absichtssätze. Uuischreibung-eii. 257
Baum ariy damit er grade wüchse\ aber Er bindet den Baum
an, damit er grade wachse, oder wächst. Nur Dach VerbeD,
von denen auch ein Aussagesatz abhängen kann, meidet man
ihn, weil hier der Modus zur Unterscheidung von Aussage-
und Forderungssatz dient; z. B. 0. 4, 23, 27 ther wi^^öd lerit
thäre, in crüce man then hohe = dass man den an das
Kreuz hänge (od. hängen soll), nicht hängt.
2. Zur Umschreibung dienen zunächst die Verba wollen
und sollen. Diese Verba können, da sie selbst die Funktion des
Optativs erfüllen, im Indikativ stehen; z.B. 0.3,25,34 er in zalta,
ivio i^ alla^ tcesan scolta, tha^ druhtin selbo wolta, hi unsih
sterhan scolta. Walther 27,31 got hat gehcehet und geheret reine
frouwen, da^ man in wol sol sprechen. Sie können aber auch im
Optativ stehen; z. B. 0. 3,26,7 sie rietun, was nies wolttn joh ivas
sies duan scolttnl Dann aber kann der Optativ nicht mehr als
Modus der Forderung angesehen werden; nicht das Wollen und
Sollen ist Ziel der Priester, sondern das Tun.
3. Eine ähnliche den Modus umschreibende Bedeutung
gewinnen dann auch die Verba müssen und mögen\ z. B. 0.
1, 2, 5ö thih hittu iJi, tha^ ih iamer mit themo dröste tnegi sin. 5, 17, 38
kapfetun sie lango . . tha^ ha^ sie onohttn scou67i. 3, 9,9 sie wunsg-
tun, m^uastn rinan. 1,20,19 ira ferah bot tha^ wth, tha^ i^ (ihr
Kind) Tnuasi haben Üb. Greg. 584 so ist des eides harte not, da^ si
unser vrouwe mile^e sin. — Jetzt werden besonders sollen und
mögen gebraucht, am meisten natürlich da, wo weder die Be-
deutung des regierenden Verbums noch die Satzverbindung
den Optativ als Modus der Forderung charakterisieren. Neben
damit brauchen wir sie nicht, weil dies Adverbium die bestimmte
Bedeutung einer finalen Konjunktion angenommen hat; not-
wendig dagegen sind sie uns in konjunktionslosen Nebensätzen
und in den c^a^s-Sätzen nach sagen und mitteilen. In der
älteren Sprache kommen konjunktionslose Forderungssätze vor; z. B.
O. 3, 3, 9 ther kuning bat, er quämi, 2, 2, 12 er quam, si manöti. •
Kaiserchronik 7821 gebiut dlnen holden, si gewinnen mir diu kinde-
Itn. Und noch bei Luther, z.B. Rom. 14,21 e.s' ist viel besser, du
essest kein Fleisch. Wir können solche Sätze mit der Wortstellung
des Nebensatzes überhaupt nicht mehr bilden, mit der Wortstellung
des Hauptsatzes nur mit Hülfe der modalen Verba und nur wenn
der Begriff der Forderung schon im Hauptsatz ausgedrückt ist: Der
König bat, er möchte kommen; aber: Er kam, damit er sie mahnte
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. III. 17
258 Gebrauch der Modi. [§ 131.
od. um sie zu mahnen. — In c?ö5.95-Sätzeri können wir nach ver-
langen und befehlen das Vollverbum und das Hülfszeitwort brauchen;
vg-1. z. B. jSie ve7'langte, befahl, dass er käme od. kommen sollte.
Nach sagen und mitteilen verlangt der Sprachgebrauch das Hülfs-
zeitwort, damit der Forderungssatz sich vom Aussagesatz unter-
scheide; z. B. Sie Hess ihm sagen, zeigte ihm an, dass er komnnen
möchte od. sollte, nicht: dass er käme.
Anm. Mit den Absichtssätzen konkurriert von Anfang an der
Infinitiv (vgl, § 72). Mt. 5, 17 nolite putare, quoniam veni solvere
legem übersetzt O. 2, 18, 1 ni wänet . . tha^ ih zi thiu quämi . . then
wiQ,^6d firbrächi\ im Gotischen dagegen heisst es: ni hugjaip ei
qemjau gatairan ivitöp, und im Nhd. wähnet nicht, dass ich ge-
kommen sei, das Gesetz zu zerstören, oder: d am, it ich das Gesetz
zerstöre. — Infinitiv und Optativ nebeneinander: 0. 2,15,7 sie
gerötun al bi manne inan zi rtnanne, joh sih zen sinen guatin io
ethesica,^ gifuagtin. Je länger um so lieber wird die kürzere In-
finitivkonstruktion gebraucht, und in dem Inf. mit umzu hat die
jüngere Sprache ein Mittel gewonnen, das logische Verhältnis ebenso
genau zu bezeichnen, wie durch einen Nebensatz mit damit.
131. (Anhang. Über die Negation in Sätzen, die von
Verben mit prohibitiver Bedeutung abhangen.) 1. Wenn Verba
wie verbieten, hindern., warnen affirmativ gebraucht sind, hat
der Satz, in dem sie ihre Ergänzung finden, an und für sich
negative Bedeutung. Wer verbietet oder hindert, dass etwas
geschieht, will dass es nicht geschieht. Dem entsprechend
werden in der älteren Sprache diese Sätze regelmässig mit der
Negation gebildet; z.B. Mc, 6,8 faurbaup im, ei ivaiht ni ne-
m.eina in ivig, i'va jurib^v ai'puumv gi<; ö6öv. 0. 3. 5, 3 er mo firböt thio
däti, tha,^ er ni suntöti. 2, 19, 7 tha,^ man sih ni firswerie, tha^,
wän ih, wi^^od tverie ; mXniu wort thiu werrent, tha,^ ir sär ni suer-
rent. Walther 10, 22 die r'ehten pf äffen warne, tha^ si niht gehoßren
den unrehten. Nib. 1646, 2 ich wil heilen wol bewarn, da^ in üf der
strafe nieman müge schade?!. Kudr. 1279, 1 da^ wil ich ividei^räten,
da^ ir mich mit besemen gesträfet niemer m,er. Wo in der älteren
Sprache der abhängige Satz der Negation entbehrt, hat er
auch keine negative Bedeutung; z. B. Frauend. 501, 21 uns
hat min herre ü^ Oesterrich verboten (so die Hs.), da^ wir
hie turnirn lä^en sin, MSH. 1,10^ Ich wil den hluomen
verbieten^ da^ sie sich vor ir slie^en zuo. Boner 48, 105
du solt ouch gewarnet sin, da^ man mit fli^e huote min.
§ 131.] Forderung-s- und Absichtssätze. Negation. 259
In solchen Sätzen, die übrigens selten sind, müssen wir ver-
bieten mit gebieten, warnen mit aufmerksam machen übersetzen.
2. Negierte Sätze nach prohibitiven Verben begegnen auch
in der neuen Literatur nicht selten ^). Aber je enger die Satz-
verbindung und je bestimmter die Bedeutung der regierenden
Yerba wurde, um so überflüssiger musste die Negation er-
scheinen, und so pflegen wir sie jetzt zu meiden. Wir fassen
den abhängigen Satz nicht mehr als Forderungs- sondern als
indirekten Objektssatz auf.
Anm. l. Auch in der älteren Sprache kommen Sätze vor,
die sich als negative Forderungen auffassen lassen und doch der
Negation entbehren. vSo kann ahd. lahan vituperare ähnlich wie
verbieten, mhd. wenden ähnlich wie verhindern gebraucht werden;
z. B. 0. 4, 20, 36 ivanta in thio buah luagin, iha^ sie man sluagln.
Walther 78, 22 da;^s uns also betwingen (Opt. nach § 146), da^ wende
in kurzer frist. Aber das Fehlen der Negation zeigt, dass die
Wörter doch anders aufgefasst wurden. Die abhängigen Sätze sind
keine Forderungs- sondern Aussagesätze. — Auch auf fürchten folgte
im Deutschen ein Aussagesatz; erst später im 16. 17. 18. Jh. (schon
bei Luther) kommen abhängige Sätze mit der Negation vor, z. B.
Ap.- Geschichte 5, 26 sie fürchteten sich vor dem Volke, dass sie
nicht gesteinigt icürden (iva \xy[ A.iGaa9iJüaiv). Fremder Sprachgebrauch,,
lateinischer und namentlich französischer, mag dazu beigetragen
haben, dass nach diesem Verbum die Negation aufkam, nach ver-
bieten, hindern u. ä. festgehalten wurde.
Anm. 2. Ganz anders zu beurteilen ist das Fehlen der Ne-
gation in mhd. Sätzen wie Walther 33, 6 da,^ Tuan gotes gäbe iht
koufe oder verkoufe, da^ ist uns verboten bi der toufe. 23, 24 da^
iugendelöser herren iverde iht mere, da^ solt du h'erre got bewarn.
^7, 9 da,^ (mein Missgeschick) tvejide scelic frouwe mtn, da,^ [= damit]
ich der ungetriuiven spot von mtner stcete iht müe^e sin. Parz,
514, 17 hüet, da^ iuch iht gehcene miner frouwen schoene. Hier ist
•die Negation, die dem Verbum proklitisch vorangehen sollte, auf-
gegeben, weil man sich gewöhnt hatte mit iht, das ursprünglich
nur die Negation verstärkte, negativen Sinn zu verbinden. Auch
in anderen dass-Sä,tzen fehlt im Mhd. nicht selten die Negation neben
iht, ie, ieman, iemer, iender, s':>wohl in Forderungssätzen als in
Aussagesätzen, namentlich nach ivonnen.
1) Belege sind oft gesammelt; z. B. von 0. Schwab ZfdU.
7, 812—816.
260 Gebrauch der Modi. [§ 132..
Der Optativ in konzessiven Nebensätzen^).
132. 1. Konzessiv nennt man Satzgefüge, in denen
ausgedrückt vs^erden soll, dass der Inhalt des Nebensatzes^
o))wohl man es an und für sieh erw^arten sollte, für die Aus-
sage des Hauptsatzes nicht in Betracht kommt. Bald w^ird
die Aussage des Nebensatzes überhaupt als gleichgültig an
gesehen, z. B. Der Mensch ist frei, und würd' er in Ketten
geboren; bald bezeichnet ein Pron. indefinitum den Punkr^
dessen Bestimmung gleichgültig ist; z. B. JVas es auch sei,,
dir König sei's gestanden. Sätze der ersten Art erscheinen,
in ihrer äusseren Form als die nächsten Verwandten der Be
dingungssätze — ich will sie daher als konzessive Bedingungs-
sätze bezeichnen — ; die Sätze der andern Art gehören zu
den „allgemeinen Relativsätzen", die im Gotischen duich
hazuh saei, pishazuh saei, im Hochdeutschen durch so wer
so, so wio so etc. eingeleitet werden. Zu diesen allgemeinen.
Relativsätzen gehören auch die mit sicie gebildeten; doch
können diese auch als konzessive Bedingungssätze gebraucht
werden, indem swie aus der Bedeutung eines Adverbiums der
Art und Weise in die abstrakte einer konzessiven Konjunktion
übergeht. In seiner ursprünglichen Bedeutung steht es z. B.
Nib. 328, 1 ich tvil an den se hin ze Brünhilde, swie ej mir
erge, in der abgeleiteten Nib. 2312, 3 swie er mich selben
brähte in angestUche not, ledoch so wil ich rechen des küenen
Trongceres tot.
2. Der Optativ kommt an sich den konzessiven Sätzen
nicht zu. Im Gotischen steht, wenn nicht andere Momente
(Imp. od. Opt. im übergeordneten Satz) den Optativ begünstigen^
der Indikativ. Der Optativ begegnet neben einem indikativi-
schen Hauptsatz nur einmal Mc. 6, 23, wo Herodes zu seiner
Tochter sagt: pishah pei bidjais miTc. gibapus, ö eav a\TY\ar}<;
|ue, bdiCTuu aoi, 'was du wirst von mir bitten, will ich dir geben';
also potentialer Optativ auf die Zukunft bezüglich. Im Hoch-
deutschen und in den andern germanischen Sprachen wird der
1) Mourek § 218 f. 227. 231. Delb. PBb. 29, 301 f. Erdm. § 183—
185. Wunderlich 1, 299-307 (vgl. Behaghel LBl. 24, 394). Biat^.
2, 524 f. 1197-1201, 1187-1191. 1203.
:§ 132.] Der Optativ in konzessiven Nebensätzen. 261
konzessive Optativ oft gebraucht, zunächst in den Bedingungs
Sätzen, dann auch in den allgemeinen Relativsätzen.
3. In den konzessiven Bedingungssätzen lässt der Optativ
sich zuweilen w^ie in dem gotischen Beispiele als Potentialis
auffassen; z. B. 0. 5, 23, 139 w^o von den Leiden des mensch-
lichen Lebens die Rede ist: ni wirdit, — zi stuntön breste
imo thes, ni in jungistemo thinge elti nan hithuinge\ viel-
leicht fehlt es ihm jetzt, doch kann es nicht ausbleiben, dass
ihn nicht schliesslich das Alter bezwingt. Walther 93, 9 si
lä^e in iemer ungewert, ej fiuret doch wol sinen lip\ viel-
leicht wird ihm nie Erhörung zuteil, aber er wird durch den
Dienst besser. Auch für die mit oh gebildeten Sätze ist ur-
sprünglich Potentiale Bedeutung anzunehmen; aber wenn Berth.
2, 154, 9 sagt: oh ein mensche alle tage ein iteniuwe marter
Ude und da^ also trihe hinz an sinen tot, des möhte im got
gelönen in einem halhen tage, so tritt hier die potentiale Be-
deutung des Modus offenbar zurück. Wir verbinden mit ihm
die Vorstellung einer Herausforderung, fassen ihn also in dem
Sinne auf, in dem auch der Imperativ und fordernde Optativ
gebraucht werden (§ 110). Und diese Auffassung wird für
den Optativ in Konzessivsätzen die herrsehende. Geboten ist
sie, wo die Aussage nicht, wie in den angeführten Beispielen,
nur auf eine Vorstellung- hinweist, sondern auf eine zweifellose
Tatsache; z.B. 0. 1,2,24 tha^ herza^ thoh i^ büe innan mir, ist
harto kunder a thir. Ti ist. 222 aleine und sin si lange tot, sin süe^er
nmne der lebet iedoch. Auch im Präteritum mit Bezug' auf ein
Faktum der Vergangenheit: 0.2,3,31 thiu wort ivurtun märi, thoh
er thö kind wäri. Walther 111, 16 ich lob ir lip, swie ich sie doch
nie niht gebcete. Gegenwart und Vergangenheit nebeneinander:
0. ö, 12, 85 thoh er st so märi joh ouh s6 wis wäri, ni irzalta er
tha^ gimuati'^ so berühmt er auch ist und so weise er gewesen ist,
doch hat er ihre Lieblichkeit nicht ganz dargestellt.
4. In der älteren Sprache ist dieser konzessive Optativ
sehr beliebt, namentlich in Sätzen, die sich an das Adv. (Konj.)
thoh anschliessen, in denen z. B. Otfried nur einmal den Indi-
kativ gesetzt hat (2, 1, 49). Im Nhd. dagegen ist er wesent-
lich eingeschränkt. In der Verkehrssprache und der nüchternen
Oeschäftsprosa brauchen wir, w^ofern wir nicht durch den
262 Gebrauch der Modi. [§ 132,
Irrealis die Nichtwirklichkeit der Voraussetzung ausdrücken
wollen (§ 134), fast immer den Indikativ; nur Konjunktionen und
Partikeln bezeichnen dann das konzessive Verhältnis, oft auch
das umschreibende mag, das schon im Mhd. zum Ausdruck
des konzessiven Verhältnisses dient; z. B. Walther 57, 22 mac
diu huote mich ir lihes phenden, da habe ich ein troesten
hl. — Am üblichsten ist der Optativ in konjunktionslosen Neben-
sätzen geblieben, wo er auf dem voluntativen Optativ beruht und
als ein wesentliches Mittel der syntaktischen Unterscheidung sich
behauptet. Aber auch bei getrenntem ob-gleich, ob-schon, wo er
auf dem Potentialis beruht, braucht man ihn noch; nicht aber bei
verbundenem obgleich, obschon, auch nicht bei iviewohl, wenngleich-^
und nicht in Nebensätzen, die eine vom Redenden selbst anerkannte
Tatsache aussprechen; höchstens möge wird zugelassen: Möge das
Herz auch in meiner Brust ivohnen, du kennst es doch besser. —
Die Neigung der Sprache, den konzessiven Optativ auf konjunktions-
lose Sätze zu beschränken, ist schon im Mhd. wahrzunehmen; s»
Rötteken § 39. 28.
5. Indem der Redende durch den konzessiven Optativ
die Aussage des Nebensatzes als unwesentlich bezeichnet, hebt
er zugleich die Gültigkeit der Hauptaussage hervor. Gesteigert
wird diese Wirkung, wenn der Nebensatz disjunktiv geteilt
wird; z.B. Iw. 604 man hoeret niemer mere, diu werelt ste kurz
oder lanc, s6 wünneclichen vogelsanc. Walther 11,34 ir wellet übel
oder wol, so m,ac si beidiu rechen unde Ionen. 73, 24 si heilen zctp,
.n heilen man, disiu sumerzit diu müe^ in ba^ bekoinen. Auch im
Präteritum in Bezug auf die Vergangenheit: Nib. 2105,2 e^ der
hehn wcere od des Schildes rant, von ir gesinde wart ej dar getragen.
In solchen Sätzen, die ja nie eine Tatsache aussprechen können,
ist uns der Optativ nötig oder Umschreibung mit mag, mochte.
In der altern Sprache konnte auch in ihnen der Indikativ
stehen: 0. 1,15,42 ist zj ubil odo war, unfarholan ist i^
thär (vgl. Erdmanns Anm.j. Wechselnder Modus: Parz. 513, 6
si stuonden ode lägen ode sce^en i7i gezelten, die vergäben
des ml selten.
Anm. Eine ähnliche Steigerung erzielt die unterordnende
Verbindung zweier Konzessivsätze; z. B. Nib. 329, 13 nu si swie
.star'c .si welle, ine läze der reise niht. Walther 100, 21 sie habe den
willen, den si habe, min wille ist guot.
6. In den verallgemeinernden Relativsätzen wird
§ 133.] Opt. in Relativsätzen nach al und Superlativ. 263
der Optativ erst später üblich, überall in dem spezifisch kon-
zessiven Sinne, als Modus der Herausforderung. Otfried bietet
nur ein Beispiel: 4,21,27. Als Christus gesagt hat, sein
Reich sei nicht von dieser Welt, fragt Pilatus: so war so si
thin 7'ichi, thoh histu Jcuning? Häufig ist der Gebrauch im
Mhd.; z. B. Walther 50,11 stva^ si sagen, ich bin dir holt. 41,25
rüem(B7'e unde lügencere, swä die sin, den verblute ich mtnen sanc.
49, 7 swie^ umb alle frouwen var, tvip sint alle frouwen gar. Im
Präteritum mit Bezug auf die Vergangenheit: Nib. 1690,4 suer sin
vater wo^re (wer auch sein Vater gewesen sein mag), er mac wol
sin ein recke guot. Wigal. 6601 swie kurz er wcere, sin kraft ivas
grö^. Walther 95, 22 stvie vil ich tröstes ie verlür, so hat ich doch
ze fröuden toän. Daneben aber überall der Indikativ, zuweilen
in demselben Satze (Rötteken S. 14). — Im Nhd. hat sich
der Optativ erhalten, jedoch ist er, falls nicht zugleich die
Irrealität der Vorstellung ausgesprochen werden soll, auf die
Präsensformen (er sei, er sei gewesen) beschränkt. Wo der
Tempusgebrauch das Imperfektum erfordert (Wig. 6601) oder
das Plusquamperfektum (Walther 95, 22), können wir nur den
Indikativ brauchen. Sehr beliebt sind Umschreibungen mit
mag, möge, mochte.
Der Optativ in Relativsätzen nach al und nach Superlativen i).
133. 1. Dem konzessiven Modus nahe steht der Optativ,
der hin und wieder in Relativsätzen begegnet, die sich an all
und an einen Superlativ anschliessen. Nach all pflegt Otfried
den Modus zu gebrauchen ; z. B. 5, 23, 209 allo lounnä, thio
sin odo io in gidrahta quemen thin, tha^ niugist thu. 1, 6, 13
allo wihi in worolti, thie gotes hoto sageti, si quement ubar
thin houhit, ähnlich 2, 2, 14. 3, 26, 41. Der Modus dient hier
offenbar zur Steigerung: alle Wonnen, die es gibt und geben
mag. Aber der Gebrauch ist beschränkt; im Gotischen steht
nach indikativischem Hauptsatz der Indikativ auch im Neben-
Satz: ebenso bei Notker und im Mhd.
2. Beschränkt ist auch der Gebrauch des Optativs nach
Superlativen. Weder das Gotische noch Otfried bieten Bei-
1) Erdm. § 195. Bock S. 36.
264 Gebrauch der Modi. [§ 134.
spiele, wohl aber die ags. Poesie und Prosa, der Heliand
(Behag-hel, Modi § 24), und bin und wieder, stets in Sätzen
mit ie und iemer^ das Mhd.; z. B. Anno 105 f. in der scönister
hurge, diu in diutschemi lande ie wurde. MF. 56, 17 (C)
die ich zer besten häte erTcorn, oder in der werlte ieman
scliouwe. Ernst B. 192 er schuof den allerbesten vride . .
der e oder sider oder iemer me werde üf der Balisen erde.
Behag'hel a. 0. S. 34 f. meinte, der Optativ bezeichne hier eine Ver-
neinung" in Bezug auf diese Stufe der Eigenschaft und somit in
gewissem Sinn eine Verringerung der Realität; Bock S. 33 fand
sogar, dass der Optativ den superlativischen Gedanken mildere;
denn an die Aussage der Allgemeinheit 'überhaupt' grenze nahe die
Bedeutung: 'im ganzen, im grossen ganzen, im allgemeinen', die
dann von der allzu strikten Anwendung auf den einzelnen Fall
abrate. Ganz das Gegenteil soll bewirkt werden; der Superlativ
wird durch den Relativsatz stärker hervorgehoben.
Der Optativ Prät. als Irrealis^).
134. (Der Irrealis in Bedingungssätzen.) 1. Die Haupt-
stätte des irrealen Opt. Prät. sind von jeher und zu aller Zeit
die hypothetischen Satzgefüge; z. B. Joh. 8, 19 ip mik Jcunpe-
deip, jah pau attan meinana kunpedeip, 8, 39 ip harna
Abrahamis weseip, waurstiva Abrahamis tawidedeip. 8, 42
jabai gup atta izwar wesi, friödedeip pau mik (vgl. § 114, 2).
Und in konzessivem Sinne Rom. 9, 27 jabai wesi rapjö suniwe
Israelis swaswe malma mareins, laibös ganisand, eäv ^ 6
dpi9)uö<; Tujv uiujv 'lapafiX wc; r\ ä}X}xo<; Tfi(; 0aXdcrcrr|(;, tö Kaid-
Xeijujua (Juj6r|(JeTai.
2. NichtWirklichkeit der Bedingung verlangt jedoch nicht
den Optativ. Prät. Auch der Indikativ kann stehen; z. ß.
1 Kor. 15, 13 jabai ustass daupaim nist, nih Xristus urrais.
Mc. 3, 26 jabai satana usstöp ana sik silban^ jah gadailips
warpy ni mag gastandan. In beiden Sätzen sieht der Redende
die Aussage des Nebensatzes zweifellos als der Wirklichkeit
widersprechend an, dennoch steht der Indikativ. In solchen
1) Mourek § 233—237. Delbr. PBb. 29, 262. 271. Erdm. § 186.
187. S. 117 f. 129 ff. Wunderlich 1, 361—370. Blatz 2, 785. 1155. 1187.
902. 905.
§ 184] Der Optativ Präteriti als Irrealis. 265
Satzgefügen wird nicht das Verhältnis der einzelnen Sätze zur
Wirklichkeit ins Auge gefasst, sondern nur das Verhältnis der
beiden vSätze zu einander, und dadurch, dass nur dieses Moment
hervorgehoben wird, wird der Indikativ zu einem wirksamen
Mittel, den Hauptsatz als notw^endige Folge des Nebensatzes
zu bezeichnen. Selbst wo ein offenbarer Gegensatz zur Wirk-
lichkeit besteht, kann der Indikativ gebraucht werden; z. B.
Schiller: Warf er das Schwert von sich, er war verloren.
War ich, wofür ich gelte, der Verräter, ich hätte mir den
guten Schein gespart (oder: ich sparte ■mir). Nur wenn die
Aussage im Gegensatz zu der unmittelbaren Gegenwart steht,
ist uns der Indikativ versagt. In dem Satze: Tratst du, Herr,
nicht zwischen uns hinein, so stünde jetzt auch ich als
pflichtvergessen mitschuldig und beschämt vor deinem Blick
(Goethes Tasso 2, 4), Hesse sich stünde nicht durch stehe
ersetzen.
3. Gewöhnlich entspricht dem Irrealis im Nebensatz der-
selbe Modus im Hauptsatz; gar nicht selten aber sind die Modi
auch verschieden. Einem Irrealis im Nebensatz steht ein Potentialis
irn Hauptsatz gegenüber; z. B. Jh. 15, 20 jahai mein icaurd fastai-
dedeina (exripriaav), jah iztcar fastaina (xrjpriaouaiv) ; vgl. § 113,2.
Öfter ein Indikativ: Iw. 2568 enhceten sin zitnge iiiht verivorht, so
gp.wan der hof nie tiurern halt. Walther 23, 13 wer kan den herren
von dem knehte scheiden, swa er ir geheine blö,^e^ fünde, besonders
in konzessiven Satzgefügen. So schon in dem aus dem Gotischen
angeführten Beispiel Rom. 9, 27, und ebenso später; z.B. Biterolf
8616 oh man unich Menge an eine wide, holt wird ich im niemer
mer. 9250 stüenden an mir alliu lant, ich ivil^ versuochen. Der
Mensch ist frei, und würd er in Ketten gehören. In solchen Sätzen
dient der Nebensatz dazu, die Aussage des Hauptsatzes kräftig
hervorzuheben : selbst unter den ungünstigsten Voraussetzungen
behält sie Gültigkeit.
4. Umgekehrt steht im Nebensatz der Indikativ, im Haupt-
satz der Irrealis : Walther 109, 9 glt da^ got, da^ mir noch luol an
ir gelinget, seht, so wcere ich iemer mere frö. Moriz von Craün 207
swer hilfet rechen mtniu leit, ich gcebe im mtne Sicherheit. Der
Indikativ kann sogar notwendig sein; z. B. Walther 32.24 swer
willecliche sprichet ja, der gcehe ouch gerne, und ivcere e^ denne da.
69, 2 wei^ ich des ein teil, so wiste ichs gerne me. 54, 1 oh ich^ vor
Sünden tar gesagen, so scehe ich^ iemer gerner an dan himel oder
266 Gebrauch der Modi. [§ 135.
himelwage7i. 57, 3 kati ich rehte schouwen guot gelä^ und Itp, sein
mir got, so sicüere ich ivol etc. — Über Potentialis neben Irrealis
s. § 148, 3.
5. Auch innerhalb des Haupt- und Nebensatzes begegnen
verschiedene Modi; z. B. im Nebensatz Konzessivus und Irrealis:
Schiller, Lager 11 Liege, wer da ivill^ mitten auf der Bahn, seis
Tnein Bruder, mein leiblicher Sohn, zerriss' mir die Seele sein
Jammerton — über seiiien Leib hinweg muss ich jagen. Im Haupt-
satz Indikativ und Irrealis : Wallensteins T. 2, 7 0 tvärst du wahr ge-
tvesen und gerade, nie kam es dahin, alles stünde anders^ er hätte
nie das Schreckliche getan. In beiden Beispielen ist der Modus-
wechsel wohl begründet; in dem ersten durch die Gedanken, in
dem andern durch das Tempus (§ 134, 2).
135. (Der Irrealis in anderen Sätzen.) 1. Wie weit im
Gotischen der Opt. Prät. als Irrealis auch ausserhalb der
hypothetischen Sätze gebraucht wurde, ist nicht sicher zu er-
kennen. Zwar lässt er sich öfters auch in anderen irreal auf-
fassen, doch geht er dann immer auf die Vergangenheit, so dass
man ihn als einen dem Opt. Präs. entsprechenden Potentialis der
Vergangenheit auffassen kann. So steht er ineinem zeitbedingenden
Nebensatz Lc. 14, 29 ibai auftö, bipe gasatidedi grunduivaddju jah
ni mahtedi ustiuhan, allai duginnaina bilaikan ijia, iva jurj-rroTe,
GevTOc; auTou GeiueXiov Kai }iy] iöxuovToq eKT€Xeaai TrdvT€<; äpEujvTai e|u-
TraiZieiv auTuJ. In einem Relativsatz : 2 Kor. 12, 13 Jva auk ist, pizei
wanai weseip ufar anparos aikklesjöns, ti y<^P eaxiv o i^TTriOiixe utrep
tok; Xüittck; eKKXriaiaq. In einem vergleichenden Nebensatz mit swe:
1 Kor. 4,7 ha höpis, swe ni nemeis? ti Kauxötaai, uuq |u)^ Xaßuüv; mit
sive patei: 2 Kor. 11,31 bi unswSripai qipa, swi patei weis siukai
weseima, Kaxct dTijuiav Xeyuu, uuc; öxi riineic; riö9evr|aa|uev. In einem durch
einen negativen Hauptsatz negierten indirekten Aussag-esatz: Jh.
5, 45 [ni hugjaip), patei ih ivröhidedjau izwis du attin, \xr\ ÖOKeix€,
öxi cfui KaxriYopriauj üjliüjv irpöt; xöv iraxepa (vgl. Bernhardt). In einem
Satze nach ni patei -. 2 Thess. 3, 8 f. nih arwjö hlaif matidedum at
hjamma . . ni patei ni habaidedeima waldufni, ak ei uns silbans
du fynsahtai gebeima, ovbe öiupedv apxou eqpdyoiLiev . . . oux öxi oük
Ixoiuev eEouöiav, dXX' iva eauxoix; xüitov öüufiev.
2. Je mehr die Sprache den potentialen Opt. Präs. auf-
gab, um so mehr Eaum gestattete sie dem Irrealis. Im Hoch-
deutschen finden wir ihn in Sätzen der verschiedensten Art;
nicht nur in solchen, die sich den Bedingungssätzen zunächst
§ 135.] Der Irrealis in anderen Sätzen. 267
anschliessen: in konzessiven Sätzen wie 0.5.23,223 wäri in mir
ginoto manag thüsunt muato . . ni moht ih thoh mit worte
thes lobes queman z'ente. In zeitbedingenden Nebensätzen mit so'-
Walther 70, 35 so ich m underwtlen gerne hl mir scehe, so ist er
von mir anderswä. In Nebensätzen mit swer, sivelh, stvenne etc.
z. B Walther 98, 20 swenne ich si solte sehen, so muo^ ich sie mtden.
Nib. 1703, 1 da^ wolde ich iemer dienen, swer rösche mtniu leit.
Walther 28, 6 swelh schoene wtp mir danne gcebe ir habedanc, der
lie^e ich rösen unde liljen ü^ ir wengel schtnen, 65, 4 hei, wie wol
man des gedcehte, swä man von im seite mcere-^ in konzessivem
Sinne: Walther 114, 1 sivie vil er mich danne bcefe, al die wtle so
enhulfe e^ niht. In bedingenden Sätzen mit der : Walther 46, 27 owe^
der mih da tvelen hie^e. Klage 142 der Etzeln hete kunt getan von
§rst diu rehten mcere, so hete er die starkeii mcßre harte lihtecliche
erwant. Walther 29, 15 ir fürsten, die des küneges gerne wceren
äne, die volgen mtnem rate.
Auch andere Sätze zeigen den Modus in demselben Sinne
gebraucht: attributive Relativsätze: Walther 20,12 der lantgräve
ist so gemuot, da^ er mit stolzen helden sine habe vertuot, der ieges-
Itcher wol ein kempfe wo&re. 188, 9 ich ivil einer helfen klagen, der
ouch fröude zczme wol. 102, 29 mir st diu ere unmcBre, davon ich ze
järe wurde umvert. Folgesätze : 63, 28 s6 lä^ ouch dir zwei von
mir gevallen, da^s ein keiser küme gcebe dir. 70, 38 e^ tuot so ma-
negem ivtbe ive, da^ mir dävo7i niht wol geschcehe. Ferner Kompa-
rativsätze (§ 136), Vergleichsätze mit als ob (§ 139) und zu- als
dass (§ 138), die einer Negation des Hauptsatzes untergeordneten
Sätze und die Exzeptivsätze (§ 140 ff.) Selbstverständlich endlich
auch irreale Bedingungssätze, die einem andern Satz untergeordnet
sind; z. B Walthcr 82.6 dein setze ich mine wärheit des ze pfände,
wolte er ir geleite volgeri mite, da^ in unfuoge niht erslüege. 10, 1
Mehtiger got, du bist so lanc und bist so breit, gedceht wir darnach,
das ^'^'^ unser arebeit vei^lürn. Erec 3862 wände ich. herre, niene
bin iedoch so gar äne sin, und möhte ich mine sache zuo ere und
ze gemache verivandeln, da;^ entcete ich. — Über den Modus in
Nebensätzen, die einem Satz im Irrealis untergeordnet sind,
s. § 148.
Anm. Auffallend ist der Opt. Prät. Mc. 9, 42 göp ist imma
mais, ei galagjaidau asiluqairnus ana balsaggan is jah frawaurpans
ivesi in marein (ei irepiKeiTai . . Kai ßeßXrixai). 0. 3, 6, 17 war mugun
wir nü biginnan, mit koufu bröt giwinnan, tha^ ther Hut gisä,^i,
unz er hiar nü gd^i. Noch mehr 0. 3, 3, 1 thiz ist uns ungizämi,
so ih i^ nü firndmi (s. Erdm.'s Anm.).
268 Gebrauch der Modi. [§ 136.
Der Optativ in vergleichenden Nebensätzen.
136. (Der Optativ nach einem Komparativ^).) 1. P'ür
die vergleichenden Nebensätze, die sich an einen Komparativ
anschliessend gilt in der älteren Sprache die Regel, dass sie
nach einem affirmativen Hauptsatz im Optativ stehen, selbst
wenn sie auf eine zweifellose Tatsache hinweisen, nach einem
negativen dagegen im Indikativ; z. B. 0. 3, 11, 4 fuar ha^ in
thereru nöti, thanne ther Jcuning däti\ dagegen 2, 14, 31 furira
thü ni bist, thanne unser fater Jacob ist. Walther 18,29
diu kröne ist elter , danne der künec Philippes si; dagegen
75, 17 mich dühte, da^ mir nie lieher wurde, danne mir ze
muote was; ebenso nach einer Frage mit negativem Sinn:
Greg. 1721 wes bedarf ich me, danne ich hän? — Ob im
Gotischen derselbe Gebrauch galt, lassen die beiden Belege,
in denen auf einen Komparativ ein Satz mit der Konjunktion
pau (Mourek § 23 f.) folgt, nicht erkennen. Eph. 3, 20 folgt
auf einen affirmativen Satz der Indikativ, Rom. 12, 13 auf einen
negativen, aber von qipa abhängigen, üer Optativ. Vgl. den
Modusgebrauch nach faurpizei § 137.
Beispiele für den Optativ nach einem Präsens: Freid. 100, 18
ein man wirt uerder danne er st, gellt er hoher minne hi. 135, 4
gedinge uns größter fröude git, danne uns gebe diu sumerztt. —
Präteritum (mit Vergangenheitsbedeutung') MF. 202, 31 wlser denne
ich wcere bin ich maneger dinge wol. Freid. 175, 4 nu suln wir
leisten zehen gebot U7id stn doch bloeder, da^ wei^ got, denn Adam
dö wcere, do im ein gebot was ze swcere. — Perfektum: Erinner.
947 mer vreuden mugen si da jehen, denne ieman habe gehoert oder
gesehen oder iemen gedenken kunjie. — Nach einem Perfektum:
Walther 106, 3 Ich hän dem Missencere gefileget manec mcere ba^
danne er nü gedenke mtn.
Nach einem Präteritum. Kehr. 14353 Karl vuor dö mere durch
die boten here dan er durch den bruoder tcete. Greg. 1958 ouch
behagete ir der gast ba^ danne ie man getobte (getan hatte). Nib.
632, 1 der ivirt ivart an dem morgen verre ba^ gemuot dafiner vore
wcere. ~ Präsens (auf die Gegenwart bezüglich): Wig. 1226 i?i einem
järe tuuohs ej Trier, danne ein ander^ in zwein tuo. Ulr. v. Zatzikh.
9234 d^s was ze Dodöne mS, danne man sit oder e äne lüge habe
vernomen.
1) Delbr. PBb. 29,290 f. Erdm. § 190. Wunderlich 1,337 f.
Blatz 2, 781 f. 1079 ff.
§ 13f).] Der Optativ in vergleichenden Nebensätzen. 26^
2. Durchbrochen wird die Regel durch die Sätze, die
einem affirmativen Satze im Irrealis untergeordnet sind. In
ihnen herrscht der Indikativ; z. B. Iw. 3164 da stüende he^^er
lö7i nach, danne uns von iu geschiht. Freid. 68, 6 oh der
tiuvel wcere der werlde rihfoere, der rihte ha^, ah ich^ ver-
stä7i, dan noch die rihtcer hänt getan. Nur selten begegnet
der Optativ^ und zwar der Opt. Präs., nicht wie man erwarten
sollte (§ 148), der Opt. Prät. (Bock S. 21); offenbar vermied
man in den eng verbundenen Sätzen dieselbe Form in ganz
verschiedenem Sinne zu gebrauchen.
Anm. 1. Die Verschiedenheit des Modus erklärt man gemein-
hin daraus, dass nach einem affirmativen Satz die durch den Kom-
parativ bezeichnete Eigenschaft für den Nebensatz in geringerem,
nach negativem in mindestens gleichem Masse gilt wie für den
Hauptsatz. Der Satz 0. 3, 11,4 spricht dem König ein weniger gutes
Verhalten zu als dem kananäischen Weibe, der Satz 2, 14, 31 dagegen
dem Jakob mindestens dieselbe Würde wie Christo. Das geringere
Mass von Realität, meint man, habe in dem potentialen Optativ
Ausdruck gefunden. (Erdmann ZfdPh. 5,215. Bock S. 7). Aber dass-
eine solche abstrakte Bewertung der Realität den Anlass zum Optativ
gegeben habe, ist nicht glaublich. Mit Recht hat daher neuerdings
Behaghel (Zeitfolge S. 175) diese früher von ihm selbst vertretene
Auflassung fallen lassen und den Modus aus der Bedeutung des
Satzgefüges und der verbindenden Partikel zu erklären versucht.
Er leitet den Optativ aus einem ursprünglichen Konzessivsatz her.
Der Satz: diu kröne ist elter daiine der künec Philippes st habe
parataktisch etwa so gelautet: 'Die Krone ist älter im Vergleich
damit: mag es auch Philipp sein, d. h. mag auch Philipp alt sein.'
Ob damit die richtige Erklärung gefunden sei, bezweifele ich, wenn
ich auch keine bessere weiss; (vgl. auch PBb. 29,291). Die jüngere
Entwickelung deutet jedenfalls nicht mehr auf konzessive Auffassung
des Modus hin, er unterliegt vielmehr dem Geschick des potentialen
Optativs.
3. Je länger um so mehr weicht der Optativ in diesen
Sätzen zurück; Indikativ und Irrealis treten an seine Stelle.
Der Indikativ ist im Ahd. noch sehr selten; erst im Mhd.
ward er häufiger; z. B. Rol. 15,31 so wirdit ij hoßser danne
ij € was (: da^). Walther 92, 25 diu liebe stät der schoene
hi, ha^ danne gesteine dem golde tuot (: muot). Auch Walther
57, 30. 1U6, 5 bekunden die Lesarten die Neigung zu dem
jüngeren Indikativ. Nie. von Basel braucht ihn fast immer.
270 Gebrauch der Modi. [§ 136.
und für uns ist er nötig, wo die Aussage des untergeordneten
Satzes auf die Wirklichkeit geht, wie das in fast allen oben
angeführten Beispielen der Fall ist.
4. Der Irrealis ist zunächst da berechtigt, wo ein Gegen-
satz zur Wirklichkeit besteht; z.B. MF. 50,26 noch he^^er
isty da^ ich si mide, danne si äne huote wcere und sprceche
'mir dehein ze nide. Mai 29, 3 ir tete wirser disiu not, danne
ir Mete getan der tot. Er wird dann aber auch da zugelassen,
wo die Aussage nur als Vorstellung bezeichnet werden soll,
also der potentiale Optativ an seiner Stelle wäre; z. B. Kehr.
13500 nü weset gote gehörsam, da^ ist he^^er, danne man
iuch irsluoge unde die sele dem tiuvel wurde. Bari. 189,34
ich sol hillicher gän ze dir, dan din kilnecUcher name dar
kceme. Engelhart 526 vil he^^er ist, da^ ich und du mit
einander strichen, dan oh wir sunderlichen iegelicher füeren.
Uns ist der potentiale Optativ in solchen Sätzen nicht versagt,
lieber aber braucht man den Indikativ oder den Irrealis;
also auch da, wo in der älteren Sprache noch der Opt. Präs. steht:
z. B. Gr. Reinh. S. 320, 817 Itt ein man mit eren tot, da^ ist ein
löbeltcher not, denne er st7i ere üf gebe und darnach lasterlichen
lebe =: Sils dass er aufgibt . . und lebt, oder aufgäbe und lebte. Iwein
7317 ich bin noch ba^ ein arm wip, danne ir deweder den Itp durch
mich hie sül Verliesen = als dass einer von euch verliert, oder ver-
löre od. verlieren sollte. Oder in anderer Form, so dass beide Sätze
dem Komparativ untergeordnet sind: Kehr. 8747 ej ist be,^^er, da^
einer ir sterbe, dan die iverelt alle vir wer de = es ist besser, dass
einer stirbt, als dass zu Grunde ^-eht, oder: es wäre besser, dass
einer stürbe, als dass zu Grunde ginge. (Der Irrealis auch im über-
geordneten Satze nach §114,5.) — Begründeter Moduswechsel bei
Nie. von Basel 324, 20 luer es nüt iveger, da,^ man armen lüten hülfe,
denne da;^ man cloßster machet?
Anm. 2. Mit dem von einem affirmativen Satze abhängiji'en
Nebensatz verbindet sich leicht eine negative Vorstellung (die Krone
ist alt, König Philipp weniger, oder nicht), und daher wird er schon
im Mhd. zuweilen durch noch statt durch unde gegliedert (Bock
S. 8); z. B. En. 5726 da mede sande er heme ein stvert, dat skarper
ende harder was dan der düre Eggesas, noch der märe Mimminc
etc Im Nhd. wird der Satz nicht selten negiert, zuweilen schon im
16. u. 17. Jh., öfter im 18 ; z. B. Schiller Pico. 3, 1 wir müssen das
Werk in diesen nächsten Jahren weiter fördern, als es in Jahren
nicht gedieh. Dieser jetzt veraltete Gebrauch beruht zum Teil
§ 137.] Der Optativ nach g. faurpizei, ahd. er etc. 271
jedenfalls auf französischem Einfluss (§ 140 A.) vgl. Brandstäter,
die Gallicismen S. 243. Schwab, ZfdU. 7, 816 und Blatz 2, 1080 ff.,
der auch darauf hinweist, dass der Gebrauch von kein im unter-
geordneten Satz dem der Negation nicht gieich zu achten ist; denn
kein bedeutet ursprünglich ullus.
137. (Der Optativ nach g. faurpizei, ahd. er etc.)^).
1. Den Komparativsätzen schliessen sich die temporalen Neben-
sätze an, die im Gotischen durch faurpizei, im Ahd. durch
er thanne, er, im Mhd. durch e, e danne oder e da^, im
Nhd. durch ehe, bevor, eher od. früher als eingeleitet werden,
also durch Konjunktionen, die alle komparative Bedeutung
haben, meist auch durch ihre Form als Komparative gekenn-
zeichnet sind. Der Gebrauch des Modus ist in diesen Sätzen
ebenso geregelt wie in den eigentlichen Komparativsätzen und
demgemäss führt Behaghel (Zeitfolge S. 174) auch in ihnen
den Optativ auf einen ursprünglichen Forderungssatz zurück
(vgl. § 136 Anm. 1). Doch lässt sich in diesen Temporalsätzen
der Optativ auch leicht als Potentialis erklären. Da nach
einem affirmativen Hauptsatz die Aussage des Nebensatzes,
auch wenn sie auf ein wirkliches Faktum weist, relativ später
ist als die des Hauptsatzes, also vom Standpunkt des Haupt-
satzes angesehen noch nicht verwirklicht ist, so ist in diesem
Falle der Optativ ebenso natürlich, wie nach einem negativen
Hauptsatz, der die Aussage des Nebensatzes als verwirklieht
voraussetzt, der Indikativ.
Beispiele. Nach einem affirmativen Satz im Präsens:
Mt. 6, 8 wait atta, pizei jus paurbup, faurpizei jus bidjaip ina.
O. 4, 13, 35 thu lougnis min zi wäre, er hinaht hano krähe. Mit einem
auf die Vergangenheit bezüglichen Präteritum: Jh. 8,58 faui^pizei
Abraham ivaurpi, im ik (irpiv — ^eveaOai). Nach einem Präteritum:
O. 1,6,18 ja kundt er uns thia heilig er er giboran wäri.
Für den Indikativ nach einem negativen Satz fehlen im
Gotischen entscheidende Belege (Lc. 2, 26, wo nach faurpizei der
Optativ steht, ist dieser durch die indirekte Rede veranlasst.) Deut-
liche Beispiele bietet das Hochdeutsche. Tat. 27, 3 ni ges thü tha-
nän ü^, er tharuie thü giltis (donec reddas). 0. 2, 9, 45 er ividorort
ni ica7it, er er nan fasto gibant.
1) Delbr PBb. 29, 295. Mourek § 146. Erdmann § 191. Wun-
derlich 1, 337. Blatz 2, 1037 f.
272 Gebrauch der Modi. [§ 137,
2. Ausnahmen von der Regel sind im Ahd. noch sehr
selten, öfter begegnen sie im Mhd., namentlich wenn der
Nebensatz im Präteritum steht und eine Tatsache der Ver-
gangenheit meldet, oder wenn der Irrrealis eintritt; z.B. Kudr,
5n(3. 4 ir volgte ich manige 7nUe, e si iuch ze friedel erkös. Nib.
2002, 2 e da^ man dö dem, d'egene dm keim, ahe gebaut, m.an brach
den ger von houbie. Walther 100, 29 e ich im lange schuldic wcerey
ich wolle e s' einem, Juden borgen. Im Nhd. pflegen wir, ab-
gesehen vom Irrealis, nach affirmativem wie nach negativem
Hauptsatz den Indikativ zu gebrauchen: Du wirst mich ver-
leugnen, bevor der Hahn krälit (ungewöhnlicher: ehe denn
der Hahn krähe). Er verkündete uns das Heil, ehe er ge-
boren war. Schon Nie. von Basel braucht den Optativ nicht
mehr, wenn er nicht anderswie begründet ist.
Aism. 1. Als Modus der indirekten Eede ist der Optativ auf-
zufassen in Sätzen wie: Er wün.schte sie noch zu sprechen, ehe sie
die Stadt verliesse. Er wollte, durfte nicht abreisen, ehe er sie ge-
sprochen hätte. Hier werden nicht zwei Aussagen einfach mit Bezug
auf ihr Zeitverhältnis verglichen, sondern die Aussage des Neben-
satzes wird als Moment subjektiver Absicht und Erwägung- hin-
gestellt. Ebenso ist vermutlich der Optativ aufzufassen, der schon
im Ahd einigemal nach negativem Hauptsatze erscheint; z. B. N.
Ps. 111,8 (2,483,8) er ne chumet, e er da^ gesehe. Nib. 919, 3 der
helt doch niht entranc, e da^ der kvnec getrunke. Vgl. den Optativ
nach bis § 127, 2.
Anm. 2. Nach negativem Hauptsatz stellt sich im 18. Jh,
häufig, jetzt seltener, auch im Nebensatz eine Negation ein: Er
verzeiht dir nicht, ehe du ihn nicht bittest. Er wollte das Buch
nicht ausleihen, ehe er es nicht selbst gelesen hätte (Belege bei
Erdm. a. 0.). Der Grund liegt wohl darin, dass die Negation des
Hauptsatzes eben darauf beruht, dass die Aussage des Nebensatzes
noch nicht verwirklicht ist; der Nebensatz wird wie ein Bedingungs-
satz aufgefasst; vgl. § 136 A. 2.
Anm. 3. An das Adverbium .sit, obwohl es auch eigentlich
ein Komparativ ist, schliessen sich vergleichende Nebensätze mit
danne nicht an, vielmehr wird es selbst als Konjunktion gebraucht;
z. B. 0. 2, 8, 53 thiz zeichan deta druhttn krist menfiisgon zi erist,
,9fd er hera in icorolt quam\ oder später auch in Verbindung mit
dttQ z. B. Walther 114, 17 stt da^ im die besten jähen, da^ er also
schöne künne leben, so hä?i ich ouch im vil nähen in mtnem herzen
eine stat gegeben. Der Optativ kommt diesen Sätzen, deren Aus-
sage der Hauptsatz als bereits geschehen voraussetzt, nicht zu.
§ 138—139.] Der Optativ in Vergleichsätzen nach 2;w — [als) dasi^. 273
Wenn Notker nach kausalem stt wie nach andern kausalen Kon-
junktionen den Opt. setzt, so beruht das auf lateinischem Einfluss;
s. § 145, 6.
138. (Der Optativ nach zu — {als) dass.) 1. Die
Nebensätze, die sich ergänzend an ein durch zu gesteigertes
Adjektivum anschliessen, gehören zu den Sätzen, die einen
negativen Gedanken in positiver Form aussprechen (§ 140 f.).
Sie bezeichnen eine nur vorgestellte Handlung, deren Ver-
wirklichung durch die im Hauptsatz erwähnte Eigenschaft
verhindert wird. Das Ahd. kennt diese Verbindung noch
nicht; im Mhd. wird der Optativ gebraucht nach den Regeln
der consecutio temporum; z. B. nach einem Präsens: Trist.
16593 da^ ich iu beiden den tot oder iht Herzeleides tuo, da
Sit ir mir ze liep zuo. Nach einem Präteritum: Nib. 258
darzuo was er ze riche, da^ er iht nceme solt. Dass man
diesen Optativ als Modus der Forderung auffasste, ist daraus
zu schliessen, dass später gern die Umschreibung mit sollte
oder, wenn der Nebensatz dasselbe Subjekt hat wie der Haupt-
satz, der Infinitiv mit um zu gebraucht wird.
2. Neben dem Optativ kommt schon im Mhd. auch der
Irrealis vor; z. B. Iw. 3170 st ist iu ze edel, da^ ir si Jcehesen
soldet. Berth. ir sit ze edel darzuo, da^ ir der tiuvel genö^
würdet. Im Nhd. herrscht dieser Modus. Daneben gilt der
Indikativ, kaum noch der Optativ: Er ist zu reich, als dass
er Sold nähme od. nimmt', war zu reich, als dass er genommen
hätte od. nahm', ist od. war zu reich, um zu nehmen.
139. (Der Optativ in Nebensätzen mit «Zs o?>.) 2) I.Neben-
sätze, die zur näheren Bestimmung des Hauptsatzes eine andere,
nur vorgestellte Handlung vergleichsweise heranziehen, stehen
im Potentialis oder Irrealis: Das Gotische belegt zufällig nur
den Opt. Prät. mit Vergangenheitsbedeutung (ZfdPh. 8, 38) :
1 Kor. 4, 7 jahai andnamt, ha höpis, swe ni nemeis, warum
1) Erdm. § 192. ßlatz 2,789. 1097. 1120. 1124.
2) Delbr. PBb. 29,280 f. Erdm. §189. Behaghel, Zeitfolge
S. 32f. 92 f. Wunderlich 1,341. Blatz 2,802. 1094. 1098. 1101 f.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik III. lg
274 Gebrauch der Modi. [§ 140.
schreiest du, als ob du nicht genommen hättest; ebenso 2 Kor.
11, 21. Im Hochdeutschen finden wir beide Tempora, das
Präsens mit Bezug auf die Gegenwart, das Präteritum mit
Bezug auf die Vergangenheit, also in potentialem Sinne.
(a) Mers Zaub. lid ze geliden, so se gelimida stn. Walther 45,37
so die hluomen üq dem grase dring ent, same si lachen gegen der
spilden sunne. 54, 27 ir houbet ist s6 wünnertch^ als e^ min himel
welle sin [welle Hülfszeitwort]. Nib. 1120, 3 si varnt wol dem ge-
liche, saTn e^ si Rüedeger. — (b) 0. 5, 9, 15 gab einer antwurtij selb
so er ^J zurnti. Walther 25, 33 silher, als e^ wcere funden, gab man
hin und rtche wät. 25, 37 ors, als ob ej lember tvceren, vil maneger
dan gefüeret hat.
2. Aber schon im Ahd. kommt auch der Irrealis vor,
also der Opt. Prät. nach einem Präsens im Hauptsatz ohne
Vergangenheitsbedeutung: N. Ps. 4, 4 (2, 10, 2) da^ cMt ecdesia,
samo so si chäde zi iro chinden. Berth. 1, 281, 11 ze gelicher
wise rehte als ein diep vor eime rihter stüende, also tuost
du. Bei Albrecht von Eyb tiberwiegt schon der Irrealis be-
deutend, und so auch jetzt (Erdm.). Selbst wo ein Gegensatz
zur Wirklichkeit gar nicht stattfindet, wie Nib. 1120, 3, brauchen
wir den Irrealis als Ausdruck für die noch nicht erkannte
Wirklichkeit; doch ist auch der Opt. Präs. noch üblich. Da-
gegen entspricht der Indikativ, der wie in irrealen Bedingungs-
sätzen (§ 134, 2) auch hier zuweilen vorkommt, dem gemeinen
Sprachgebrauch nicht; z. B. Dem Knaben war's, als ob er
der Wellen Flüstern verstand (Körner). Mir ist, als sass
ich winterlange ein Kranlcer in dunkler Krankenstube (Heine).
Anm. In manchen Fällen konkurrieren mit diesen Nebensätzen
der Art und Weise substantivische dass-Sätze: Mir träumt^ scheint,
dass od. als ob.
Der Optativ unter dem Einfluss einer Negation im Hauptsatz^).
140. 1. Oft sind untergeordnete Sätze in der Weise
mit einem negativen Hauptsatz verbunden, dass durch die
Negation des Hauptsatzes die Aussage des Nebensatzes auf-
1) Erdm. § 192. Wunderlich 1, 334 f. Blatz 2,789 f. 801. 903.
982. 985. 983. 1120. 1125 f. — Kammel, Über den Einfluss der Negation
im Hauptsatze auf den Modus in Substantiv, Konsekutiv- und Relativ-
sätzen. ZfdPh. 36,86-115.
■'% 140.] Der Optativ nach negativem Hauptsatz. 275
g-ehoben wird; die positive Aussage des Nebensatzes wird
negativ: z.B. Walther 8,22 des enmac niht sin, da^ guot
und weltlich ere zesamene in ein herze komen-^ die negative
umgekehrt positiv; z. B. Frid. 45, 11 nieman eine wunde mac
nei'heilen, däne schine der slac. In beiden Fällen wird in
der älteren Sprache der Optativ gebraucht, weil der Neben-
satz in seiner der Wirklichkeit entgegengesetzten Form nur
dem Bereich der Vorstellung angehört. Die Sätze haben oft
ein rhetorisches Gepräge; die Hauptaussage enthält der Neben-
satz; ist er positiv, so wird durch das Satzgefüge ein negativer
Oedanke kräftig hervorgehoben: 'Gut und weltliche Ehre
können nimmer zusammenkommen', ist er negativ ein positiver:
"Jede Wunde hinterlässt eine Narbe'. — Es braucht nicht
gerade die Negation ni zu sein, die den Hauptsatz negiert;
dieselbe Wirkung üben Adverbia wie liltzol, selten, mit un-
negierte Wörter und Fragen mit negativem Sinn.
2. (A. Der abhängige Satz ist positiv.) Bald schliesst er
sich als Relativsatz einem negierten Nomen des Hauptsatzes
an, bald dient er als Substantivsatz zur Ergänzung des Prädi-
kats, bald als Adverbialsatz zu seiner näheren Bestimmung.
Der Optativ kommt in diesen Sätzen auch jetzt noch vor,
öfter aber, je nach der Natur der Sätze, bald der Indikativ,
bald der Irrealis.
3. (a) Relativsätze. Nach einem Präsens: Lc. 1,61 ni
ai7ishun ist in kunja peinamma, saei haitaidau pamma namin (öc;
KaXeixai). 0. 1, 11, 47 er nist in erdringe, th'er ira loh irsinge. 5, 19, 33
wer ist^ th'er tJianne widarstante? Nib. 497, 3 (C) t^a/ic^e wir nieman
hän, der muge gertten. Präteritum auf die Vergangenheit bezüglich:
0. 1, 17, 1 nist man thihein in worolti, tha^ saman al irsageti (kein
Mensch hat alles berichtet). — Nach einem Präteritum: Nib. 1711, 3
ich gesach nie so manegen Tnan, die stvert in henden trüegen.
i?110, 2 wä sähet ir ie so manegen helt, die trüegen sw'ert enhant?
Walther 55, 32 e^n wart nie slo^ so manicvalt, da^ vor dir gestuende
(stand gehalten hätte). Engelh. 593 da^ ich gesellen niht envant, der
mich diuhte also gewant, da^ er getriuwe künde stn,
Abweichungen finden sich; der Indikativ z. B. Trist.
16103 nune vant er nienfianj der ie leben gewan. Parz. 311, 11
^n disem ringe niemen sa^^ des werdekeit so lützel trouc;
der Irrealis, noch selten, z. B. Iw. 4174 die mirs hülfen
276 Gebrauch der Modi. [§ 140.
wenden^ die sint vil ungereit ; Kudr. 239, 3 nü enwei^ ich
7iieman, der mir da he^^er wcere. Jetzt sind Irrealis und
Indikativ die gangbaren Modi; der Indikativsatz nähert sieb
dem blossen Satzglied, das durch keinen Modus mehr charakteri-
siert wird, im Irrealis behauptet die Aussage selbständiges
Leben. Gewöhnlich können wir beide Formen brauchen; wenn
jedoch der Hauptsatz auf die Vergangenheit, der abhängig-e Satz
auf die Gegenwart weist, ist der Indikativ ausgeschlossen. Der
Satz Iw. 1032 si wären da beide und ouch nieman M m me, deir
mir d€r rede gest€ würde jetzt den Irrealis verlangen : 'es war nie-
mand da, der mir jetzt beistimmen könnte'. Der Potentialis ist
uns noch nicht versagt, aber man pflegt ihn nicht zu ge-
brauchen. Lc. 1,61 lautet bei Luther: Ist doch niemand in
deiner Freundschaft ^ der so heisse (= g. haitaidau); uns
liegt heisst od. Messe näher.
Anm. Oft wird in solchen Sätzen nicht nur ausgesprochen,
dass die Aussage nicht wirklich, sondern dass sie nicht möglich ist:
daher wir gern das Hülfszeitwort können anwenden ; z. B. 0. 1, 11, 47
es gibt niemand auf Erden, der ihr Lob aussingen könnte. 1,17,1
niemand ist in der Welt., der alles hätte sagen können.
4. (b) Substantivsätze, a) nach ^geschehen'. Nach einem
Präsens: 0. 5, 23, 259 ni wirthit (im Himmelreich), tha^ man thihein
irsterbe\ . . bithiu ni wirdit ouh in war., tha^ man nan bigrabe
thär. 1,5,37 wio meg i$ io werdan war, tha^ ih ic'erde swangar?
Walther 60, 4 e^ ist vil unnähen, da^ ich dir noch sül versmähen. —
Nach einem Präteritum: 0. 4, 14, 2 ivard i^ io wanne, tha^ brüstt
iu icihtes thanne? Wilh. 190,26 ej ist im selten e geschehen, da^.
man in fünde in unsiten. Parz. 798, 26 e^ was ie ungewonheit, da^
den gräl ieman möhte erstriten. Greg. 967 diu State enwas im niht
geschehen, da^ si hceten besehen, wa^ in deme va^^e wcere (sie hatten
keine Gelegenheit gehabt etc.). — ß) Nach 'zulassen, sagen,
wahrnehmen'. Hier ist der Modus nicht allein in der Negation
begründet. Als Ausdruck einer abgelehnten Forderung oder
Absicht erscheint er in Sätzen wie Mc. 11, 16 ni lailöt, ei has
pairhberi kas pairh alh, iva ti^ biev^Y'^^- Tat. 117, 3 ni lie^, tha^-
eining fuorti fa^ thuruh tha^ tempal. 0. 4, 35, 4 ni ivas in themo willen,
er sulih wolti irfullen. 5, 20, 75 ir ni thultut, tha^ ih giangi nachot.
Freilich können solche Sätze nicht auf unabhängigen Forderungs-
sätzen beruhen, denn sonst müssten sie negativ sein (niemand soll
tragen etc.). Aber die Bedeutung des ganzen Satzgefüges lässt an-
nehmen, dass man doch früh in dem Optativ den Ausdruck einer
§ 140.] Der Optativ nach negativem Hauptsatz. 277
Forderung oder Absicht sah. — Als Modus der indirekten Rede
iässt er sich nach Wahrnehmen und erfahren' auffassen ; z. B.
Tat. 132, 19 fori tverelti ni ward gihörit, tha^ iver gioffanöti ougun
Mint giboranes (non est auditum, quia aperuit); ebenso Luther Jh.
9, 32 von der Welt ist es nicht erhört, dass jemand einem gehornen
JBUnden die Augen aufgetan habe.
Wir pflegen jetzt, wo der Optativ in der Negation be-
gründet war, nach einem Präsens den Indikativ, nach einem
Präteritum den Indikativ oder den Irrealis zu gebrauchen.
Wo der Optativ ohnehin gerechtfertigt ist, kann auch nach
einem Präsens der Irrealis gebraucht werden. Beide Modi
kommen auch schon in der älteren Sprache vor. Der Indika-
tiv z. ß. Wh. 310, 12 an dem, ich niht geprüeven kan, da^ er kein
untät ie begienc. Und im Gotischen Jh. 9, 32 fram aiwa ni ga-
hausip ivas, patei uslükip k>as augöna blindamma gabauranarnma.
Der Irrealis z. B. Nib. 2275, 1 da^ enwelle got^ da^ sich dir ergceben
zwene degene. Berth. 234, 19 ich enger des niht, da^ ich ein kilnec
lucere oder würde. Dagegen Nib. 2278, 2 von uns enzimt da^ moere
niht wol ze sagene, da^ sich iu ergceben zwen also küene man,
braucht man den Opt. Prät. nicht als Irrealis aufzufassen, da er
sich auf die Vergangenheit bezieht: Mass sich dir ergeben hätten.'
5. (c) Adverbiale Nebensätze. Folgesätze, Sätze der Art
und Weise, der Gradbestimmung, des Grundes. Nach einem
Präsens: 0. 3,20,9 ni sint theso unmahti, tha^ er i^ firworahti,
nicht ist diese Krankheit der Art, dass er sie verschuldet hätte,
nicht er hat sie verschuldet. 2, 17, 13 nist bürg, tha^ sih giberge,
es gibt keine Stadt, die sich verbergen könnte^). N. Ps. 52,1
(2, 201, 27) wer ist so unwizztg, da^ er chede, da^ got nest. Ps. 87, 11
(2,363,21) sint doch eine arzäte so guote, doh sie lebenden helfin,
da^ sie töte erchicchen'? Eneit 8697 ich envorhte üch niet so sire,
dat ich . . mtns dankes iwet sterve. Mai 100, 33 ir habet ej so ge-
schaffen niht, da^ ich iu welle von im iht weder guot noch übel
sagen. Nach einem Präteritum: Nib. 219 dane heten ouch die
Sahsen so hohe niht gestriten, da^ man in lobes jcehe (dass man sie
gerühmt hätte). Walther 7, 27 doch brähten si din lop nie dar, da^
€^ volendet würde gar. 118,31 ich ensah die guoten hie so dicke
nie, da^ ich des iht verbeer e.
1) Statt der Konjunktion brauchen wir in diesem Satze das
Pronomen. Umgekehrt: 0. 1, 11, 48 nist unan io so gimuati, ther
irzelle ira guati, keiner ist so beanlagt, dass etc. 2, 12, 61 nist 7nan
nihein s6 rtchi, ther sttge in himilrtchi.
278 Gebrauch der Modi. [§ 141.
6. (d) Besonders eng verbindet sich die Negation mit
dem abhängigen Kausalsatz (g. ni patei, ni peei, ni ei'^).
Nach einem Präsens: Phil. 3, 12 ni patei ju andnemjau (^\aßov),
aippau ju garaihts gadömips sijau (bebiKaiuüfial), appan afargagga,
nicht dass ich es schon ergriffen habe oder vollkommen sei, ich
jage ihm aber nach. 0.5,8,39 nales theih thih zeino mit worolti
gimeino^ ih wei^ thih suntaringon {=■ Alcuin in Joh. non te gene-
raliter, sed specialiter scio). MF. 15, 5 ich rede eg umhe da^ niht,
da,^ rair^ diu Sodde habe gegeben, deich ie mit ir geredete. Bert-
hold 1, 459, 33 cfaj rede ich davon niht, da^ ich sant Jacobe sine
bilgertne enpfüere^i welle. — Nach Präteritum: Jh. 12,6 patuh
pan qapy ni peei (oux öti) ina pize parban^ kara wesi (^^eXev auTuJ),
ak unte piubs was. Jh. 7, 22 duppe Mös^s atgaf izwis bimait, ni
patei fr am. Mose sijai, ak us attam. Tat. 104, 6 thuruh tha^ Moyses^
gab iu bisnitnessi, nalles bidiu tha^ siu fon Moyse si, oh fon fa-
toron. 0. 3, 26, 9 ni sprächun sie, tha^ sie giloubttn. In allen diesen
Sätzen wird eine mögliche Begründung abgewiesen. Wo einer
Tatsache die Bedeutung eines Grundes abgesprochen wird, hat der
Indikativ sein Recht; z. B. Jh. 6,26 sökeip mik, ni patei seJvup taik-
nins, ak patei matidedup pize hlaibe. Ihr suchet mich nicht darum/
dass ihr Zeichen gesehen habt, sondern dass ihr von dem Brot ge-
gessen habt
7. Der Irreah's kommt in diesen adverbialen Nebensätzen
im Mhd. schon vor, im 13. Jh. aber noch selten (Bock S. 60);
z. B. Kudr. 590, 2 si ist uns s6 nähen bt mit hüse niht gese^,^en, da^,.
wir si möhten werben. Kl. 1891 Tnin sin der krefte niht enhät, da,^.
ichz iu künde (al. künne) wol gesagen. (An beiden Stellen Hülfs-
verba.) Jetzt brauchen wir den Irrealis am liebsten, daneben
auch den Indikativ. Diesen wohl am wenigsten iu den Kausal-
sätzen mit nicht dass:, doch ist er nicht gerade ausgeschlossen.
Luther übersetzt Jh. 7, 22 Aloses hat euch darum gegeben
die Beschneidung, nicht dass sie von Mose kommt etc.
141. 1. (B. Der untergeordnete Satz ist negativ 2). Für
diese Sätze besassen das As. und Ahd. eine eigentümliche
Form, die aber bald durch andere Formen verdrängt wurde.
In den ältesten hd. Denkmälern werden sie durch m, niba.
1) PBb. 29, 246 f. Mourek § 170.
2) Delbr. PBb. 29, 266 f. Erdm. § 193. Dittmar, Über die Ne-
gation ne in abhängigen Sätzen. ZfdPh. Ergänzungsband (1874)
8. 2.55—297. Anderes zu § 140.
141.] Der Optativ nach negativem Hauptsatz. 279
nihu, noba, nuh (auch suntar) eingeleitet, also durch Wörter,
die soDst in negativen Bedingungssätzen gebraucht werden;
vgl. g. wi, nih (Mourek § 234), nihai, niba. Aber schon bei
Notker sind dafür konjunktionslose Sätze eingetreten, die zu-
nächst mit der gewöhnlichen Negation ne^ bald auch ohne
diese gebildet werden. Diese Form lebt in nhd. Sätzen wie:
er komme denn, es sei denn, dass er 7comm,e fort; doch
können wir sie lange nicht überall gebrauchen, wo sie in der
älteren Sprache statt hatte. Im allgemeinen erhalten jetzt die
negativen Sätze, die einem negativen Hauptsatz untergeordnet
sind, dieselbe Form wie die, welche von einem positiven Satz
abhangen; bald erscheinen sie als Relativsätze, bald als Sub-
stantivsätze mit dass, bald als adverbiale Nebensätze mit so
dass, ohne dass', sehr oft wird auch der Infinitiv mit zu und
ohne zu gebraucht, oder das negative Satzgefüge durch ein
positives ersetzt. Der Modus ist fast immer der Irrealis oder
der Indikativ.
Anm. Ursprünglich waren diese Sätze mit m, niba etc. wohl
Fragesätze und der in ihnen g'ebrauchte Modus der deliberative
Optativ.
2. (a) Sätze, die sich an ein negiertes Nomen im Haupt-
satz anschliessen, also durch Relativsätze wiedergegeben werden
können. Nach einem Präsens: Tat. 44, 17 niowiht nist hühactes,
noha i^ inthekit werde, nihil enim opertum, quod non revelabitur.
(Im Gotischen statt dessen ein gewöhnlicher Relativsatz, wie wir
ihn brauchen: Mt. 10,26 ni waiht auk ist gahulip, patei ni andhul-
jaidau.) Tat. 67,12 welih iuwer ist, ther wolle turra zimbrön, nibi
her er sizzenti zelle thiu gifuoru (im Lateinischen abweichend ein
direkter Fragesatz: quis eim ex vobis voLens turrem, aedificare non
prius sedens computat sumptus'i Ebenso im Griechischen und dem-
gemäss im Gotischen Lc. 14, 28 izwara h>as raihtis wiljands kelikn
timbrjan, niu fruraist gasitands rahneip). 0. 5,2, 11 nist flaut hiar
in riche^ nuh er hiar fora intwiche. 5, 17, 35 thoh nist nihein sterro,
ni er ubarfuari ferro, alle Sterne hat er weit hinter sich gelassen.
Walther 42,11 ohne Negation: nieman kan hie fröude finden, si
zerge. — Nach einem Präteritum: Nib. 1264,4 da^ man der vre-
meden harte wenic fant, sin trüegen ir gesteine. Parz. 60, 6 sin
oiige ninder hüs dö sach, schilde wcern sin ander dach.
3. (b) Nebensätze, die einen notwendig begleitenden Um-
stand ausdrücken; wir pflegen sie durch ohne dass, ohne zu
280 Gebrauch der Modi. [§ 141.
anzuknüpfen. Nach einem Präsens: Tat. 182,2 min fater, oba
ni mag these kelih fu7nfaran^ nihih in trinke (nisi ut bibam illum,
ich trinke ihn denn [Luther]), wese thin willo. Wigal. 101, 27 niemer
Wirt dehein tac, man sehe für da^ hüs gän ein Her. — Nach einem
Präteritum: Walther 100, 4: in gesprach nie wol von guoten wtben,
was mir leit, ich wurde frö. Frid. 4, 17 selten m,ir ie liep geschach,
mir geschcehen drt^ec ungemach. Parz. 25, 28 offenlich noch tougen
gesach si niemer m^r kein man, sine müesen jämers wunder hän. —
Manche Sätze lassen sich sowohl als Umstandssätze wie als Relativ-
sätze auffassen; z. B. N. Ps. 68, 10 (II, 266, 4) wanda mih nieman ne
seiltet, er ne scelte dih = er schelte denn auch dich, ohne auch dich
zu schelten, der nicht auch dich schölte. Aneg. 26, 23 in enmöhte
nieman gesehen, im enmüese da von leit geschehen.
4. (c) Nebensätze der Folge, der Art und Weise, des
Grades (nhd. so dass nicht, ohne dass). Frid. 45, 11 nie-
m,an eine wunde mac verheilen, dane schtne der slac. Kehr. 10143
der tiuvel negewan den gewalt, swä er mit gote vaht, e^ innceme ie
böse ende. Iw. 292 er lie^ mir niht die muo^e . . . erne hete mir e
genomen den zoum. — Sehr oft weist s6 auf den Nebensatz, Nach
Präsens: Alex. 4347 der mac niemer so gegähen, erne gwinnis
grö^e not. Litan. 287 da^ wir so niemer mü^in gevare, ivir ne ge-
nie^in dtner geburte. Nib. 1022, 2 nieman lebt so starker, ern m^üe^e
ligen tot, selbst der stärkste muss den Tod erleiden. Wig. 109, 40
e^n ist dehein so grö^iu not, ichn besti si gerne. — Nach Präteritum:
0. 1, 22, 40 ni was er io so märi, ni thiz bifora wäri. Walther 95, 26
in vant so stcete fröude nie, si wolle mich e ich si län.
5. (d) Ergänzende Substantivsätze; a) nach den Verben
geschehen, unterbleiben, ermangeln. Nach Präsens: 0.5,23,
139 ni ivirthit ouh innan thes . . ni in jungistemo thinge thoh elti
nan githuinge. Wigal, 6526 da^ '€^ mir niemer mer geschiht . .
ichn slahe iedoch den ersten .^ilac. 0. Hartm. 39 ni bristit, ni thu
hörtts, unfehlbar hast du gehört. 2, 14, 38 nist lang zi themo thijige,
nub avur nan thurst githuinge, es wird nicht lange dauern, bis.
Rol. 66, 6 so ne ist des nehein rät, wir enhelfen ime däzuo. — Nach
Präteritum: 0.4,32,4 ni moht ej sin in arider, ni sia ruarti tha^
s^r. Kl. 1948 do enmöhte^ anders niht wesen, sich enrceche dort
her Dietinch. Bari. 310, 22 ouch gebrast in des niht, si geeben also
reinen smac. Iw. 2829 söne wart ich ni zewdre des über ze halbeme
järe, ichn müese koufen da^ körn. W. Gast 8480 under wegen ist
niht beliben, ich enhabe ouch da^ geschriben. — ß) Nach tun, be-
wirken, unterlassen. Nach Präsens: 0.5,4,61 ni due ouh Petrus
nü tha^ min, ni er sih fuage thara zi in, auch Petrus füge sich zu
den andern. Kl. 916 nune wei,^ ich anders wa^ ich tuo, ich enbitte
§ 141.] Der Optativ nach neg'ativem Hauptsatz. 281
e^ got verenden. 0. 5, 20, 49 ni mugun sie^ hihringan^ ni i^ würde
thär infangan etc., notwendig- wird dort empfangen. 3,7,59 7ii
ruachent sie bi tha^, ni man sie . . zi korhon ginenne, sie lassen es
sich gerne gefallen, dass man sie als Körbe bezeichne. 3, 16, 35 ir
ni mtdet, nir iu kind hesntdet. 1, 1, 77 Hut sih in nintfuai'it, 7ii
sie . . in thionön. — Nach Präteritum: 0.2,7,29 ni moht ih niih
enthahen sär, nih hera gitlti zi thir. Nib. 1328, 1 sine wolde niht
erwinde7i, sine ww^he sint, da^ getoufet wurde da^ kint. Greg*. 1107
der arme vischcere niht enlie^, ern tcete als im sin hürre hie,^. 1169
45?i lie sich niht betragen, e^n wolde dingeliches vrägen, diu guot
ze ivi^;^ene sint.
6. (e) Oft auch nach Verben, von denen, wenn sie
affirmativ stehen, ein indirekter Aussagesatz abhängen kann.
Nach einem Präsens: 0.3,22,53 ouh man nihein ni lougnit, ni^
allo ivoroltfristi st io filu festi (sc. Gottes Wort). 3, 20, 149 nintheijit
mir i5 inuat min (mein Herz stellt nicht in Abrede), ni ther von
gote sculti stn. 2, 12, 37 ni wuntorö thü thih friunt min, nub i^
wola Tnegi sin. 3, 23, 37 drof ni zwivolöt ir thes, ni er blintilingon
toerne (dass er sich blind abmühe). Greg. 296 man enmac im. anders
niht enjehen, eryie phlcßge ir also wol (habe sie so gepflegt), als ein
get7'iuwer b7'uoder sol. 434 des ist unlougen, mime g§, trurens
not. — Nach Präteritum: Walther 99,15 von der mir min herze
nie gelouc, e^n sagete mir ir güete. Trist. 15829 da^ nieman anders
niht enjach, e^n wcere ici^er danne sne. Pass. K. 655, 87 da^ nieman
anders sprach davon, ej enwcere Simon.
7. Allmählich vrird, w^ie bemerkt, die eigentümliche Form
dieser untergeordneten negativen 3ätze durch die der affirma-
tiven verdrängt, und damit treten denn auch die für diese
geltenden Bestimmungen über den Modus in Kraft. Der
Irrealis, den v^ir jetzt in allen diesen Sätzen, wofern sie negative
Form behaupten, neben dem Indikativ zu brauchen pflegen,
findet sich vereinzelt vielleicht schon im Ahd.; z. B. 0. i, 1, 116
tha^ sie ni wesSn eino thes selben ädeilo, ni man in iro gizungi
kristes lob sungi. Ps. 128, 23 drof ih thes ni lougino, . . nupe ih
föne gihurti zi erdün avur wu7^ti (vgl. jedoch hierzu die Anm. in
MSD 2, 87 und Behaghel, Zeitfolge S. 35 f.). Nach einem nicht auf
die Gegenwart bezüglichen Präsens (§ 96) Parz. 393, 24 männiglich
nu niht verhirt, sine füern als da gelobet was. 397, 23 Scherules,
sin stolzer wirt, mit al den sinen niht verbirt, ern rite ü^ mit dmi
degen balt (vgl. Behaghel Zeitfolge S. 29 f.).
8. Ebenso finden sich im Mhd. statt der alten Konstruktion
schon Relativsätze und Sätze mit dass: Servat. 2942 dö was
282 Gebrauch der Modi. [§ 142.
nieman, der in niht anriefe. Ludw. Krf. 3205 luer ist hie, der niht
habe verlo7'n werden friunt. Flore 5116 vil lützel ieman vindet keinen
man s6 stcete, der niht missetcete umb also grö^e miete. Albr. von
Halb. 9, 351 dem was dehein s6 träge, da^ er^ niht wolde wäge.
Aber ohne dass kommt im Mhd. noch nicht vor, auch nicht
der jetzt so häufige Infinitiv mit zu, ohne zu, nur substanti-
vierter Infinitiv, z. B. Wig. 6765 sin riten er darin vermeit,
9. x4uch das kommt im Mhd. bereits vor, dass der nega-
tive Nebensatz ganz unterdrückt wird und statt seiner in ganz
selbständiger Form die positive Aussage eintritt. Wenn der
abhängige Satz ein irrealer Bedingungssatz ist, gewinnt er
diese selbständige Form schon durch die Unterdrückung der
Negation; z. B. Wigal. 112, 13 ej geschach nie man so leide,
und solde er undr in sin gewesen, er wcer vor leide gar
geneseyi. Offenbar wird die Auflösung des Satzgefüges, wenn
für den Optativ der Indikativ eintritt; z. B. Diemer 12, 26 neTiem
p'erch was so höh, deu unde dar ube^^e z6h [st. enzüge]. Wigam.
4504 darnach was der sparren kein, e^ lac darin ein edel stein.
Osw. 2844 ziüär e^ mohte anders niht gewe.'^en, man lie^ ir keinen
niht genesen. Suchenw. 40, 96 da;^ mac er niht gesehen an, e^ muo^
im durich stn herze gän. So auch jetzt, z. B. bei Schiller: Kein
Dach i.s-t so niedrig, keine Hütte so klein : er führt einen Himmel
voll Götter hinein.
142. (Anhang. Über die Negation in Sätzen, die von Verben
mit negativer Bedeutung wie leugnen, in Abrede stellen, ver-
meiden, sich enthalten, unterlassen, verzichten, vergessen,
einem etivas verleiden u. ä. abhängen)^). 1. Wenn diese
Verba affirmativ gebraucht sind, hat der abhängige Satz
an und für sich negative Bedeutung. Wer es meidet, unter-
lässt, vergisst etwas zu tun, tut es nicht; wer leugnet etwa»
getan zu haben, erklärt, dass er es nicht getan habe. Dem-
entsprechend werden in der älteren Sprache diese Sätze regel-
mässig mit der Negation gebildet, nicht nur wenn sie noch in
der Form selbständiger Sätze auftreten, sondern auch wenn
sie durch die Konjunktion da^ als abhängig bezeichnet werden;
also er midit, (tha^) er ni quimit. Beispiele für solche öJaj-Sätze
1) Erdm. § 193. Dittmar a. 0. S. 299—302. (Beide haben die
Verhältnisse nicht richtig erkannt.)
§ 142.] (Neg'ation nach Verben mit negativem Sinn.) 283
sind im Mhd. niciit selten: Kudr. 6,2 darumhe lie^ er da^, da^ er
niht wolte minnen. 769, 2 ich wü des haben rät (darauf verzichten),
da^ der küene Hartmuot M mir niht enstät. 796, 4 mir und mtnen
vriunden solte ouch 7iü versmähen ^ da^ wir hie nieman viengen.
1492, 3 er künde in da^ wol leide?!, da^ in strite nieman in von
sinen vtnden torste scheiden. Iw. 1702 wie küme er da^ verlie, da^
er niht wider si sprach. 4688 vil lützel doch des gebrast, da^ im
niht same geschah. Schwabensp. 34, 18 unde lougent der her re dem
man, da^ er ime niht zins gegebe?! habe etc. Jetzt erscheint die
Negation überflüssig oder falsch, weil wir den abhängigen
Satz weniger selbständig, nur noch als Satzglied auffassen, das
durch das regierende Verbum negiert wird.
2. Wenn die Verba negativ gebraucht sind, hat der
abhängige Satz umgekehrt in der Regel affirmative Bedeutung,
und so kommt ihm, wofern er ebenso wie der von affirmativen
Verben abhängende mit dass gebildet wird, keine Negation
zu. Erec 2716 da^ er 7iiht vermeit, da^ er schöne in reit.
Wilh. 345, 10 die da^ niht versmähent, da^ si ir krön von
iu enpfähent. Kudr. 585, 4 da^ geliere er niemer, da^ man
in üf Hetelen schaden vunde. Nur wenn schon dem unab-
hängigen Satz die Negation zukäme, erscheint sie in dem ab-
hängigen; z. B. Erec 1080 nune icei^ ich, wes ir bitent, da^
ir niht ritent. Iw. 6040 si enhät da^ niht verlorn durch
höhvart noch durch trächeit, da^ si niht selbe nach iu reit.
[Diese Sätze haben eine ganz andere Bedeutung als die alten mit
ni, nub gebildeten und die konjunktionslosen mit ne. Der Vers im
Iwein besagt, dass sie nicht ritt, der Satz: si verlos niht durch
höhvart, si enrite würde bedeuten, dass sie ritt. In dem Satze Mar.
hf. 1010 wie solde si da^ dö vermiden, dat sie nit rüwec wa&re, Hesse
.sich der abhängige Satz allerdings auch durch sie enwcere rüwec
wiedergeben. Aber auch hier ist die Negation in dem unabhängigen
Satz begründet: Wie hätte sie nicht traurig sein sollen?! In Sätzen
dieser Art hat das Nhd. der Negation insofern weiteren Raum
gCAvährt, als es sie auch in Sätzen, die an und für sich posi-
tiv sind, getattet: Es konnte nicht fehlen, nicht unterbleiben j
dass sie sich {nicht) zuweilen trafen. Du wirst nicht leugnen,
dass es so [nicht) besser ist, so (nicht) besser gewesen wäre
(unabhängig : so ist es besser, wäre es besser gewesen). Fast
unentbehrlich ist uns die Negation, wenn für den Indikativ
584 Gebrauch der Modi. (§ 143.
•des unabhängigen Satzes im abhängigen der Irrealis gebraucht
ist : Es 'konnte nicht ausbleiben, dass sie sich nicht zuweilen
getroffen hätten (unabhängig: sie haben sich getroffen). —
Anderseits ist die Negation auch wieder eingeschränkt. Nach
es fehlte nicht viel und dem gleichbedeutenden es fehlte nur
wenig kann sie fehlen, obwohl der abhängige Satz hier stets
negativen Sinn hat: Es fehlte nicht viel oder nur wenig ^ dass
-es ihm {nicht) ebenso erging, {nicht) ebenso ergangen wäre
(unabhängig: es ist ihm nicht ebenso ergangen).
143. (Exzipierende Sätze ^).) 1. Exzipierende Sätze sind
negative Bedingungssätze, die nachdrücklich auf den einzigen
Umstand hinweisen, durch den die Aussage des Hauptsatzes
aufgehoben werden kann. Zunächst erscheinen solche Sätze
^Is eine besondere Art der in § 141 besprochenen Optativsätze.
Wie diese schliessen sie sich an einen negativen Hauptsatz, und
zwar an einen Hauptsatz im Präsens, und werden durch die
Konjunktion niba eingeleitet. Aber früher als jene werden sie
xiuch konjunktionslos gebildet und schliessen sich bald nicht nur
an negative, sondern auch an positive Sätze an, zunächst an
solche mit al, dann auch an andere im Präsens und Präteritum.
2. Im Gotischen werden sie durch niba eingeleitet und
stehen im Indikativ, z. B. Jh. 6,44 ni manna mag qiman at mis,
niba atta atpiimip ina (eav \x^ ^XKÜöri). Jh. 15, 4 swe sa weinatains
ni mag ak7'an hairan, niba ist ana weinatriwa, swah nih jus, niba
in mis sijup (edv jur| |ue(vr| — edv luiq luevr^Te). Ebenso nach einer Frage
mit negativem Sinu : Jh. 7, 51 ibai witöp unsar stöjip mannan, nibai
faurpis hauseip fram imma (edv jurj dKOÜör)), ohne dass man ihn
verhört hat. Im Ahd. finden wir dem got. niba entsprechend,
aber mit dem Optativ: nihi, noba; z.B. Tat. 82, 9 nioman mag
queman zi mir, nibi thie fater ziohe inan (nisi traxerit). 167, 3 s6
tha^ winloub ni mac beran luahsmon, nibi^ wone in theru winrebun,
s6 ir, nibi ir in mir zvonet (nisi manserit — manseritis). 129, 10 eno
unsar ewa tuomit siu man, nibi gihöre fon im,o (nisi audierit). Und
Otfried bildet die Sätze konjunktionslos mit der gewöhnlichen,
1) Delbr. 29, 264. 273. Erdm. § 188. Wunderlich 1, 294 f. Blatz
2, 761 f. 906. 1153. 1176. Dittmar ZfdPh. Ergänzungsband S. 186—234
Schulze, Die negativ-exzipierenden Sätze. ZfdA. 39, 327 ff.
§ 143] Exzipierende Sätze. 285'
dem Verbum proklitisch verbundenen Negation ni; z. B. 4, 15,21
nist man nihein, ther queme zi therao fater, ih inan ni leite. 2, 12, 31
nist ther in himürichi queme, ther geist joh loa^^ar nan nirbere.
Ebenso neben einem allgemein bejahenden Hauptsatz:
0 1, 1, 79 joh mennisgon alle, ther se i^ ni untarfalle^ al eigun si
iro fordhta. Ludw. 26 so duan ih, dot ni rette mir i^, al tha^ thu
gihiudist.
3. Im Mhd. ist nihi, noba ganz verschwunden; die Form,
die Otfried braucht, gilt allgemein und ist sehr häufig. Meistens
schliessen sich die Sätze noch an ein Präsens an ; z. B. Walther
8, 27 diu dri enhabent geleites niht, diu zwei emverden ^ gesunt.
6fj, 4 doch fröwet sich liitzel ieman, er enwi^^e wes'^ oder neben
positivem Hauptsatz: Walther 45,35 sicherltche si verderbent,
sine lüellens sich erschamen. 32,9 dii enwendest m.ichs alleine, s6
verkere ich mine zunge7i. Aber auch mit einer allgemeinen in
die Vergangenheit fallenden Aussage können sie verbunden
werden ; z B. Iw. 663 swa^ lebte in dem walde, ej entrünne danne
balde, da^ was zehant tot, alles lebende musste sterben, es wäre
denn schnell entronnen. Parz. 118, 14 ern künde niht gesorgen, e^n
wcere ob im der vogelsanc, nur der Vogelsang konnte ihm Sorgen
bereiten. Weiter erfahren dann im Mhd. diese Sätze einmal
dadurch eine Änderung, dass die Negation ne anfängt zu ver-
schwinden, so dass der positive Nebensatz in demselben Sinne
gebraucht wird wie der negative; z. B. Walther 58,29 ich
singe niht, ej zveUe tagen. Sodann dadurch, dass der Irrealis
anfängt mit dem Potentialis zu konkurrieren.
4. Die Negation kann im Nhd. gar nicht mehr gebraucht
werden; aber in dem Adverbium danne hat die Sprache ein
neues Mittel gewonnen, um diesen Sätzen eine eigentümliche
Form zu geben: Ich singe nicht, es tage denn. Anfangs
wurde diese Partikel neben der Negation gebraucht, im Ahd.
noch sehr selten, häufiger in der Übergangszeit zum Mhd. ;
endlich gewöhnte man sich in ihr das charakteristische Merk-
mal dieser Sätze zu sehen, neben dem die Negation überflüssige
schien. In jüngeren Handschriften älterer Werke wird sie oft
für das unverständlich gewordene ne eingeschwärzt (Dittmar
S. 205); jetzt gilt sie allgemein.
5. Der Irrealis fand Eingang, indem man auch Sätze,
die in bewusstem Gegensatz zur Wirklichkeit stehen, als Ex-
286 Gebrauch der Modi. [§ 143.
zeptivsätze gebrauchte; z. B. Parz. 410,16 ich enwolte iucli daiine
triegen, sone mag i'n mht beschcenen. 607, 18, wo Gramoflanz sich dem
einen Gäwän geg-enüber sieht und ihn anredet: ir sit hie strttes
ledec gar, ezn wcer dan groe^er iiver schar, zwene oder mere. Aber
der Modus wurde dann auch in anderen Sätzen zugelassen ;
z. B. Iw. 1748 iinac ein man danne hän guoten tac. der üf den Itp
gevangen lit, ern wcere danne des tödes frö"? Nie. v. B. 128, 17 das
deheinen menschen zuo glouhende ist, er hefunde sin dan, was kein
Mensch glauben kann, er erführe es denn. Jetzt ist der Irrealis,
oft umschrieben mit müsste, überall gestattet; doch ist auch
der Potentialis noch durchaus üblich ; nur wo die Optativformen
des Präsens mit dem Indikativ zusammenfallen, meidet man ihn.
Anm. Zuweilen g-estattet es der Zusammenhang, den unter-
geordneten Satz als Forderungssatz aufzufassen; z. B. Ludwigslied
26 herro, so duan ih, döt ni rette mir i^, al tha^ thü gibiudist.
Nib. 906, 4 Tnan pflege (die Negation ist nur in B erhalten : enpflcege)
ba^ der jegere, ich wil niht jeit geselle sin. Aber mit Unrecht folg*ert
Wunderlich daraus, dass der Modus überhaupt aus dem Jussiv her-
zuleiten sei. Er ist vielmehr ebenso zu erklären, wie in den andern
Sätzen mit ni, nub; vgl. auch Behaghel, Zeitfolge S. 174. — danne
kann ursprünglich nur als Zeitpartikel in das Satzgefüge getreten
sein. Es weist auf den positiven Gedanken, der im Hintergrund
der Anschauung steht. Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten
ihn denn. Sie hangen ihn erst dann, wenn sie ihn haben.
6. Wie jedes andere Verbuni konnte auch das Verb,
subst. in exzipierenden Sätzen gebraucht werden; z. B. 0.
4, 7, 46 nist ther thia [jungistun zit] gizeino, ni st min fater
eino. In diesem Satze kann min fater als Subjekt zu si an-
gesehen werden ; ob es aber so, und nicht vielmehr als prädi-
kative Bestimmung zu gizeino empfunden wurde, ist zu be-
zweifeln. Denn ni si erscheint schon im Ahd. erstarrt zu
einer dem lat. nisi entsprechenden Konjunktion und demgemäss
kann diese allgemein gültige, auch im Tatian gebrauchte
Verbindung auf einen Plural und einen Gas. obl. bezogen
werden und ohne Rücksicht auf die Consecutio temp. auf ein
Präteritum folgen; z. ß. 0. 3, 24, 94 thu alleswio ni däti, ni
si al sös ih thih häti. Anderseits aber behauptet die Ver-
bindung auch Satzwert, so dass sich ihr später ej als Sub-
jekt zugesellt, z. B. Walther 26, 26 min vorderunge ist üf
in Meiner als ein hone, e^ ensi so vil, ob er der alten
§ 144.] Opt. in Nebensätzen, die gewöhnlich im Ind. stehen. 287
Sprüche ivcere (!) frö, und darauf beruht denn unser nbd. es
sei denn dass, womit wir, namentlich in der Verkehrssprache,
die Exzeptivsätze einzuleiten pflegen.
Später als ni si taucht ni loäri auf (Graff 1, 1054 f.),
das ebenso erstarrt und auf ein Präsens folgen kann; z. B.
Williram 44, 13 mich nieivehtes nelustet, newäre sinero ana-
siune (Behaghel; Zeitfolge S. 34 f.). Aus diesem newäre ent-
steht schliesslich nhd. nur.
Der Potentiale Optativ in Nebensätzen, die gewöhnlich
im Indikativ stehen.
144. (Der Hauptsatz steht im Indikativ.) 1. Die Be-
deutung schliesst den potentialen Optativ von keinerlei Neben-
sätzen aus; aber während er in den vorher besprochenen
Arten regelmässig oder oft gebraucht wird, erscheint er in
anderen häufiger nur unter besonders günstigen Bedingungen,
namentlich dann, wenn auch im übergeordneten Satze ein
Optativ oder ein Imperativ steht. Ich führe zunächst Sätze
an, deren Hauptsatz im Indikativ steht ^).
2. In Relativsätzen kann der potentiale Optativ gebraucht
werden, wenn sie sich auf die Zukunft oder auf etwas nicht
individuell bestimmtes beziehen; z. B. Mc. 14, 44 pamma kukjau,
sa ist. Tat. 183, 2 so wenan so ih cusse, ther ist i^ = quemcumque
osculatus fuero, ipse est (vgl. 0. 4, 16, 26). Walther 60, 38 al 171171
ungelücke wil ich schaffen jenen, die sich ha^^es unde ntdes wenen, . .
mtn Unsinnen schaffe ich den, die mit velsche minnen. 28, 21 Er
schale, in swelhem leben er st, der dankes triege unde stnen herren
lire, da^ er liege. 22,29 Er töre, er dunket mich niht wise, und
ouch der stn ire prtse, ich wcen si beide tören sint. Besonders
finden sich solche Relativsätze im Optativ neben übergeord-
neten Sätzen, die selbst eine bestimmte, tatsächliche Aussage
nicht enthalten : z. B. nach einem Fragesatz Lc. 7, 49 h^as sa ist,
saei frawaurhtins afletai, öc; Kai a|uapT(a<; dqpirjaiv. Die Hauptaussage
enthält hier der Nebensatz und in ihm steht der Optativ in dem-
selben deliberativen Sinne, in dem er auch in einem selbständig^en
Pragesatz gebraucht sein könnte (§ 116): has afletai, wer möchte
wohl vergeben. Ebenso 0. 1, 17, 24 ist iaman Mar in lante, es
iawiht thoh firstante? Tat. 231, 1 häbH ir hiar wa^, tha^ man e,^,^an
1) Erdm. § 158 f. 194. Delbr. 29, 245. 258. 270. 288. Mourek
§ 117 f. 163. 225.
288 Gebrauch der Modi. [§ 144.
megi. Iw. 6102 nü w'€r ist hie, der iuwer g'er. — Nach einem Be-
dingungssatz O. 1, 1, 119 ist tJier in iro laute, i^ alles wio ninstante . .
hiar hör er. Nib. 1523, 2 ob wir deheinen zagen hän, der uns welle
entrinnen. 1204, 2 swenne ich die friunt gewinne, die uns füeren.
Audi Parz. 115, 11 swd min eilen st gespart, swelhiu mich minnet
unibe sanc, so dunket mich ir witze kranc. — Über Relativsätze,
die sich an al und einen Superlativ anschliessen, s. § 183.
Anm. 1. Modus der indirekten Rede ist der Optativ Kudr,
288, 1 si hete . . da^^ wa^^er hin getragen ze Hagenen bürge, so wir
hceren sagen, da er h'erre woere. Parz. 480, 17 ich verswuor fleisch,
Win unde bröt und dar nach al da^ trüege bluot (Erdm. S. 177).
Als Modus der Forderung (vgl. § 127) Eckart 619, 5 da^ muo^ be-
schehen von einem ivesen, da^ selbe wesen st Vgl. Blatz 2, 902.
3. Unter ähnlichen Verhältnissen erscheint der Optativ
in Substantivsätzen nach ^geschehen' und in Folgesätzen. Auf
die Zukunft bezüglich: 0.5,20,41 sih sceidit muater fona kiyide,
tha^ furdir siu i^ ni finde. Luther 1 Mos. 4, 14 so wird mirs gehen,
dass mich tot schlage, wer inich findet. Nach einem Fragesatz:
Rom. 9, 20 pu has is, ei andwaurdjais guda, öu xig et 6 avTairo-
Kpivö|U€voc; t(x) eeuj, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten
willst? Jh. 14,22 hja varp (xi fefovev, Luther: was ist es), ei unsis
munais gabairhtjan puk silban, öxi fiiaiv lueWeiq ejuqpaviZieiv oeauTÖv.
Lc. 1, 43 haprö mis patei, ei qemi (Prät., i'va eXGri) aipei fraujins
meinis at mis. Tat. 4, 3 wanan mir, tha^ qu'eme mtnes truhttnes
muoter zi mir (Präs. ut veniat). — Nach einem Bedingungssatz:
1 Kor. 13, 2 jabai habau alla galaubein, swaswi fairgunja mip-
satjau (üjöTe öpr] ueBiöxdvai), ip friapwa ni habau, ni waihts im.
0. 2, 12, 60 ob is wirdit icanne, tha^ ih beginne bredigön. Walther
104, 34 da^ milter man gar wärhaft st, geschiht da^, da ist wunder bt.
Anm 2. In Sätzen der angeführten Art ist der Optativ be-
rechtigt, aber nicht erforderlich und im allgemeinen nicht üblich.
Daher schwankt gelegentlich auch die Überlieferung; z. B. Nib.
1222, 1 wä sint die friunde min, die durch mlne liebe wellent eilende
sin {eilende wellen sin DJdh). Notwendig ist natürlich der Indi-
kativ, wenn der untergeordnete Satz auf eine Tatsache hinweist,
wie Jh. 9, 2 has frawaurhta, sa-u pau fadrein is, ei blinds ga-
baurans warp (\'va TuqpXöc; Y^wriOri)? Walther 71, 27 wie kumt, da^
ich s6 wol verstän ir rede und si der mtner niht? Ebenso 115,35.
120, 34. Daher ist Lc. 5, 21 hßas ist sa, saei rödeip naiteinins der
Indikativ gesetzt, dagegen Lc. 7, 49 has sa ist, saei frawaurhtins
fraletai der Optativ. Auch 0. 5, 21, 5 ist der Wechsel des Modus
nicht unbegründet: oba ther scal sin in beche, th'er arm^n bröt ni
breche, wa^ th'€r innan ubar tha^ ni lia^ haben stna^. Dagegen
unberechtigt, dem Reim zu Liebe, hat Walther 5, 27 den Optativ
§ 144.] Opt. in Nebensätzen, die gewöhnlich im Ind. stehen. 289
gesetzt da^ ü^ dem worte erwahsPM .s-f, da^ ist von kindes sinnen
fri. Auch Morungen MF. 140, 38 (trotz dem übergeordneten Be-
dingungssatz) swenne ich gedenke an ir wtpUchen tvangen, diu man
ze fröude so gerne ane si. Vgl. Erdm. S. 116. Wunderlich 1,339.
4. Auch die Bedingungssätze pflegen, wenn sie nicht
Exzeptivsätze sind oder durch den Irrealis als der Wirklichkeit
widersprechend bezeichnet werden, neben eineni indikativischen
Hauptsatz im Indikativ zu stehen, obwohl es doch in ihrer
Natur liegt, dass sie immer nur als Vorstellung ausgesprochen
werden. Der potentiale Optativ begegnet im Gotischen einige-
mal neben einem fragenden Hauptsatz; z.B. Lc. 6,33 jah
jahai piup taujaid . . Iva izwis laune ist. Vereinzelt auch
neben einem Aussagesatz, z. B. Jh. 12, 47 jah jahai has mei-
naim hausjai waurdam jah galaubjai, iJc ni stöja ina. So
auch im Deutschen. Parz. 55, 28 werde unser Mndelin einem
manne gelich, der icirt ellensrich. Berth. 2, 133, 34 und
helfe da^ ouch niht, so wil niht helfen. Auffallender, auf
die Vergangenheit bezüglich, aber in einem Satze der nicht eigent-
lich hypothetisch ist (eher konzessiv): Wolfr. Tit. 3 oh ich von höher
minne ie tröst enphienge und oh der m^innen süe^e ie scelden kraft
an mir begienge, wart mir ie gimo^ von minneclichem tcibe, da^ ist
nü veru-ildet. Im Nhd. ist dieser Gebrauch des potentialen
Optativs aufgegeben. Die Konjunktionen : falls, für den Fall
dass können bezeichnen, was früher durch den Modus aus-
gedrückt wurde. (Der Modus in Sätzen wie : Angenommen,
es sei so; gesetzt deyi Fall, er widerstrebe ist der Optativ
der indirekten Rede.)
Anm. 3. Zuweilen lässt sich der Optativ in einem Bedingungs-
satze auch als Modus der Forderung auffassen, wie ja auch der
Imperativ zur Bildung hypothetischer Satzgefüge benutzt wird.
Jedoch werden solche Forderungssätze zwar oft in konzessivem,
aber nicht oft in hypothetischem Sinne gebraucht und behalten
dann gewöhnlich den Charakter selbständiger Hauptsätze; z. B.
Gal. 6, 2 izwarös misso kauripös bairaip, jah swa usfulleip witöp
Xristaus = Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz
Christi erfüllen; (im Griechischen der Imperativ, dX\r)\uuv xa ßdpr)
ßaöT(i2eTe). Ein loseres Satzgefüge bezeichnet dieser Optativ auch
Berth. 1, 130, 8 wo zwei verschiedene Formen des Bedingungssatzes
mit einander verbunden sind: e^ si ein man, der orden in einem
klöster hahe, unde lU ein frouwe h% dem unkiuscheltchen, diu ist s6
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik III. 19
290 Gebrauch der Modi, [§ 145.
zehant in dem hoehsfen banne. Als voluntativen Optativ in einem
festeren Satzgefüge könnte man ansehen Nib, 402, 3 behabe (A,
behabt B) er die meister schaß, so wird ich sin wtp, er zeige sich
als Meister, so werde ich sein Weib.
Vielleicht gehören hierher auch die ahd. Sätze mit in thiu^
in denen Otfried stets den Opt. hat. z. B. 2, 16, 2 sälig birut ir arme,
in thiu tha$ muat i^ wolle, in thiu ir thie armuati githultet io mit
guatt; ebenso 1,16,19. 2,12,35. 16,21. 3,7, 78. — Auf der Grenze
zwischen hypothetischen und Absichtssätzen stehen Optativsätze mit
das wie Walther 115, 9 wil mir ieman sine froide borgen, da^ i'm
ein ander wider gebe. Berth. 1, 86, 33 da^ er niht enruochet, wer
davon stürbe., da^ cht im ein kleiner geivin werde. Auch mit so
da^ (vgl. 129, 2) Walther 96, 9 sich wcenet maneger wol begen, so
da^ er guoten wiben niht enlebe.
5. Id den Kausalsätzen Kudr. 215, 1 ich wil dir gerne
volgen, nü si so schwne st. 407, 1 nü so gefüege din lieber
herre si, ich wil gen im niemer des willen werden fri ist der
Optativ wohl in demselben Sinne gebraucht wie in der in-
direkten Rede; an beiden Stellen beruht der kausale Neben-
satz auf einer Aussage des Angeredeten. Ebenso Nib. 1484, 1
ßi sprach 'sit du der verte niht wellest haben rät, swä oben
M dem wa^^er ein herherge stäty dar inne ist ein verge.
Wenn aber bei Notker nach wanda, sid, danne in kausalen
Nebensätzen oft der Optativ erscheint, so ist da Einfluss des
Lateinischen anzunehmen (vgl. § 66. § 146, 2 und OS. 1 § 155).
145. (Der Hauptsatz steht im Imperativ oder Optativ.)
1. Viel weitere Verbreitung als neben indikativischem Hauptsatz
hat der Optativ in den Sätzen, die einem Imperativ oder
Optativ untergeordnet sind. Zwar Sätzen, die für den Reden-
den eine tatsächliche Bedeutung haben, gebührt auch in diesem
Falle der Indikativ. So wenn Walther 18, 23 dem Herzog Ludwig
für eine ihm erwiesene Ehre mit dem Wunsche dankt: der mir s6
höher ire?i gan, got müe^e im ere m.^ren\ oder 47, 23 in der Auf-
forderung an die Minne : unde rihte grö^ unbilde, da^ ein scelic wtp
mich verderbet; oder 49, 34, wo er die Verächter des Minnesangs
verwünscht: da^ si niht versinnent sich, wa^ liebe .st, des haben un-
danc. In solchen Sätzen tritt der Optativ nur ausuahmsweise
ein (§ 146). Berechtigt dagegen und sehr häufig ist er in
Sätzen, die eine tatsächliche, bestimmt umgrenzte Bedeutung
für den Redenden nicht haben.
§ 145.] Optativ neben einem Opt. oder Imp. im Hauptsatz. 291
2. Folgende Beispiele mögen die Mannigfaltigkeit der
vSätze, die auf diese Weise den potentialen Optativ empfangen,
ans Licht stellen^). — Relativsätze, deren Pronomen auf eine
Gattung von Gegenständen, oder auf einen beliebigen Vertreter,
auf eine unbestimmte Masse oder Menge, oder auch auf einen all-
gemeinen, durch den ganzen Satz bezeichneten Begriff hinweist; z. B.
Lc. 9, 4 in pana gard gaggaip, par saljip (ob die Jünger in ein
Haus kommen und in welches, wird erst die Zukunft zeigen).
1 Tim. 5, 9 widuwö gawaljaidau ni mins saihs tigum jer^, sei wesi
mnis abins qens (yeTCvuia). Eph. 4,28 saei hlefi (ö KXeTiTwv), paiia-
seips ni hlifai. Jh. 13,29 hugei, pizei paurbeima du dulpai (Ouv
XpGiav €xo|uev). Lc. 3, 13 ni waiht ufar pata garaid sijai izwis,
lausjaip, fordert nicht mehr, denn gesetzt ist. 0. 1, 18, 36 s% ther^r
üitu in manne, ther thärana gange. Trist. 9926 minne^ da^ dich
7mnne\ ivelle, da^ dich welle. Mit wohlbegründetem Wechsel des
Modus: Schönbach, Predigten 2, 170, 22 den pfenninch, de?' des
■chaisers pild hat und sein schrift hat, den gebet dem chaiser, und
gebet dem^ almächtigen got, da^ sein st. — Verallgemeinernde,
mit swa — swe etc. gebildete Relativsätze: 1 Tim. 6, 1 swa
manag ai swi sijaina uf jukuzjai piwös, seinans fraujans — wair-
pans rahnjaina, öaoi eiöiv uirö Zv^bv öoOXoi, tovc, ibiovc, öeairÖTac; —
d5iou(; r^Yeicföwaav. Tat. 45, 3 so wa^ so er iu quede, so tuot ir, quod-
cumque dixerit vobis facite. Walther 11, 13 swer dich segene, ,st
gesegenet, swer dir fluoche, der si verfluochet. Nib. 984 sivelcher st
unschuldic, der lä^e da^ besehen. — Konditionalsätze, z. B.
2 Kor. 12, 6 appan jabai wiljau Tuöpan, ni sijau unwita, edv fäp
GeXriduu KauxricraaOai, ouk eao|uai äqppujv. Jh. 10, 24 jabai pu sijais
Xristus (el ob ei), qip uns andaugiba. Tat. 15, 3 oba thu gotes sun
sts, quid. 0. 4, 30, 17 oba thu sts gotes sun, sttg nu nidar. 4, 30, 32
nu helfe er m,o, oba er wolle. Walther 69, 7 ob ich rehte raten künne,
wa^ diu minne st, s6 sprechet denne ja. 103, 21 st bcese unc^^üt
darunder, da^ breche er üq besunder. Im Präteritum: 0. Hartm, 1
ob ih — iawiht missikirti, — bimtde ih hiar tha^ wizi. Walther
116, 1 habe ir ieman iht von mir gelogen, s6 beschouwe mich. Mit
beachtenswertem Wechsel, dem Modus der Hauptsätze entsprechend:
Jh. 12,26 jabai mis Jvas andbahtjai, mik laistjai; j ah jabai has
mis andbahteip, sweraip ina atta (im Griechischen beidemal ^ctv —
1) Bernhardt ZfdPh. 8, 32 f. 28, 130 f. Erdmann § 187. 196. 197.
Dagegen Mourek, Über den Einfluss des Hauptsatzes auf den Modus
des Nebensatzes im Gotischen (Litbl. d. k. böhmischen Gesellschaft
der Wiss. 1892). Nochmals über den Einfluss etc. (Sitzungsb. der
kgl. böhm. Ges. d. W. 1895) ; vgl. ferner Delbrück, PBb. 29, 257. 261.
Bock S. 44 f. Wunderlich 1, 298. Rötteken S. 26 f. etc.
292 Gebrauch der Modi. [§ 145.
biaKovr)). — Adverbiale Nebensätze der Zeit; nanientlich zeit-
bedingende: Mt. 6, 2 pan nu taujai.s- armaiön, ni hournjais faura
pus. 1 Kor. ll.i:5 ßata ivaurkjaip, swa ufta swe drigkaip, du
meinai gamundai. Notker Ps. 80, 4 (2, 334, 14) pläsent mit hörne,
s6 niuwer mäno st, canite initio mensis tuba. Biterolf 7581 als €3
erste beginne tagen^ so sult ir alle sin bereit. — Andere: Parz. 220, 17
die wile ich hie gevangen st, lä^ mich solches ha^^es vrt. 0. 1, 4, 66
nu wird thu stummer sär, unz thu i^ gisehis alaicär. Walther 23, 38
beitet, unz iuicer jugent zergi (vgl. § 127). — Lokale Nebensätze:
Mc. 14, 14 padei inngaleipai, qipaits pamma heiwafraujin. 0. 3, 23, 55
faram^s, pär er st. Nib. 874, 2 so kere iesltcher, da er gerne var.
Notker Ps. 58, 12 (2, 223, 30) zerwirf sie in dtnero chrefte, so wtt
Romanum Imperium, si. — Vergleichende Nebensätze: Nib.
1091, 1 wirb eg BüedegSr, als liep ich dir st. Trist. 3657 {sage mir)
rehte alse liep ich dir st. — Dazu kommen dann noch zahlreiche Sätze,
in denen schon neben indikativischem Hauptsatz der Optativ stehen
kann, ein Imperativ oder Optativ im Hauptsatz aber den Gebrauch
des Optativs im Nebensatz fördert: Forderungs- und Absichtssätze»
indirekte Aussage- und Fragesätze und Konzessivsätze.
3. Alle diese Beispiele sind Nebensätze ersten Grades^
d. h. Nebensätze, die von einem Hauptsatze abhängen. Ebenso
kann natürlich der Optativ in Nebensätzen zweiten Grades
eintreten, also in Nebensätzen, die von einem Nebensatz im
Optativ abhängen; z.B. von einemForderungs- oder Absichts-
satz Mt. 5, 31 qipanuh pan ist., patei hazuh saei afletai qen, gibai
izai afstassais bökös. 1 Thess. 5, 10 saei gaswalt faur uns, ei,jappe
slSpaima jappe wakaima, samana mip imma libaima. Walther
11, 27 dö riet er den unwtsen, da^ si den keiser liefen haben stn
küneges reht, und got, swa^ gotes wcere. 61, 8 m,ir ist liep, da^ si
mich klage ze m,ä^e, als e^ ir schöne ste. Wigalois 106,38 allen ir
vrouwen si gebot, da^ si sich rtche kleiten und sich darzuo bereifen,
als er tn gienge, da^ m,an in so enphienge, da^ er davon würde
vrö. — Von einem indirekten Aussage- oder Fragesatze:
W^alther 23,29 der sprichet, .Hwer den besmen spar, da^ der den
sun versüme gar. 0. 2, 12, 37 ni wuntorö thuh thih friunt mtn, nubi^
werde wanne, tha^ sih es worolt mende. 2,4,17 wio i^ io mohti
werdan, tha^ wolta er gerno irßndan, tha^ man io so gizämi hi
th'esa worolt quämi, er wollte erforschen, wie es möglich wäre,
dass ein so trefflicher Mensch in die Welt käme. Nib. 941, 2 ir sult
geltche jehen, in slüegen .^cächcere, da er füere durch den tan. —
Von einem Exzeptivsatz Iw. 6032 e^n ste dan an ir heile, da^ si
den kempfen bringe dar, der si gewaltes beivar.
4. Aus dem Einfluss, den der Modus eines benachbarten
§ 146,] Optativ neben einem Opt. oder Imp, im Hauptsatz. 293
Satzes übt, erklärt sich auch der Optativ in Sätzen, die zu
einem durch die Negation des Hauptsatzes negierten Nebensatz
g-ehören; z. B. Mc. 10, 29 ni Jvashun ist, saei aflailöti gard
(bc, dcpi^Kev okiav) . . ., saei ni andnimai -r- falp (edv |ufi
Xdßr] eKaioviaiiXacriova). Nur der zweite Satz wird durch die
Negation des Hauptsatzes negiert und hat dadurch Anspruch
auf den Optativ (§ 141); es soll nicht gesagt werden, dass
niemand sein Haus verlässt, sondern dass niemand, wenn er
sein Haus verlässt, nicht empfängt (Luther: e^ ist niemand,
so er verlässt . . der nicht empfange). Doch pflegen in
solchen Satzgefügen beide Sätze im Optativ zu stehen. 0. 5, 19, 7
nist th^r von wtbe quämi, nub er thdr sculi sin. O. 5, 20, 23. Gregor
522 ichn wei^ nü nieman, der min lant ze disen ztten büwe, dem
ich so wol getrüwe. Mit richtiger Unterscheidung: Mc. 9,39 ni man-
nahun ist, saei taujip mäht in namin m,eina7nma jah magi sprautö
uhilwaurdjan mis (im Griechischen beidemal der Indikativ: oc;
iToii'lö€i — Kai buvTiaexai). Waither 100, 4 in gesprach nie wol von
guoten wiben, was mir leit, ich wurde frö.
146. 1. Öfters begegnet aber der Optativ auch in Sätzen,
deren Aussage an sich der Bestimmtheit nicht ermangelt.
Zuweilen lassen sie sich, wie schon viele der angeführten
Beispiele, als Gegenstand der Erwägung für das Subjekt des
regierenden Satzes ansehen, also als Gegenstand subjektiver
Vorstellung (deliberativ § 116,3); z.B. Lc. 15,12 atta, gif mis,
sei undrinnai mik dail aiginis (xö eirißdWov luoi |Li^po(;). Tat. 97, 1
gib mir teil dero ehti, thiii mir gibure (quae me contingit, Luther:
das mir gehört). 0. 4, 16, 26 tha^ ir ni missefähet, sehet, den ih
küsse. 0. Hartm. 48 theih Mar thir zelle, tha^ firnim. Nib. 938, 1
lät si des genießen, da^ si iuwer swester st. Auch Sätze im Prä-
teritum : Notker Ps. 4, 2 (2, 9, 12) tuo, so du tätist. 133, 2 (2, 566, 22)
lobönt in, also Job täte. Kehr. 12546 verkius die missetät, die er
wider dich getcete. Greg. 244 7iu ivis gemant, da^ du behalte.^t mire
die Jungesten Ure, die dir dtn vater tcete. Walther 24, 24 pßg min
wol, als ir der heilic enget pßoege.
2. Doch gibt es auch Fälle, die diese subjektive Be-
deutung nicht haben; z.B. MSH. 3, 44Ha der al der werlt ein
meister .st, der gebe der lieben guoten tac. Eng-elh. 496 der alliu
harzen krcene, der grüe^e dich. Iw. 594 giu3 üf dän stein, der da
sti. Iw. 185 bitet in sin mcere, des i begunnen wcere, volsageyi. Vgl.
ferner kausale Nebensätze: Notker Ps. 145,2 (2,595,21) mannoliches
294 Gebrauch der Modi. [§ 147.
sela lohöe Got, std der propheta da^ rate. 34, 24 (2, 122, 10) irteile
du mir after minemo rehte, std sie mir unrehto irfeiltin. Walther
70, 37 Sit ab er da gerne si, so st ouch da. Auch Nib. 1484, 1 stt du
der verte niht wellest haben rät ; swä obene bi dem iva^er ein
Herberge stät, da inne ist ein verge, wo ein Imperativ "so höre' zu
ergänzen ist (vgl. § 144, 5). Nib. 423, 3 nu er dunke (C, diinket A)
sich so biderbe, s6 tragt in ir gewant. Predigten (Schönbach 2, 173, 18)
nu da^ so gewis st, da^ dehein Christen mensch daran zwtfel, da^
müe^ also ergän, nu sech unser ieglicher zuo im selber. — Endlich
Satzgefüge, deren Hauptsatz überhaupt kein persönliches denkendes
Subjekt hat: 0. 1,11,39 wola wart thio brusti, thio krist io gikusti.
RoI. 190, 5 so wol d&r wtle und ouch der stunde, da^ Roland ie
wurde geborn. Erinnerung 770 verfluochet st der tac, der mich
gebcBre. Walther 95,3 da^ alle krä gedten, als ich in des günne.
Neidh. 67, 3 nü gelinge in allen, als ich in von hm^zen günne. In
solchen Sätzen greift der Optativ unter dem Einfluss des^
Hauptsatzes in das Gebiet des Indikativs hinüber.
Anm. Zuweilen haben auch Hauptsätze, die zwar nicht im
Imperativ und Optativ stehen, aber doch ähnliche Bedeutung haben
(Sätze mit sollen, mögen, wünschen u. ä.), den Gebrauch des Optativs
im untergeordneten Satze gefördert. Berechtigt ist der Modus:
Walther 28, 24 st abe er s6 hire, da^ er da zuo sitze, s6 wünsche
ich, da^ stn ungetriuwe zunge müe^e erlamen. 89, 15 du solt mich
schiere sehen, ob du mir stst mit triuwen stcete. Nib. 874, 3 der
danne jage beste, der sol des haben danc. 1410, 4 der dar niht
gerne welle, der mac hie heime bestän. Nach einem Hauptsatz ohne
Verb. fin. : Walther 83, 34 wol im, d'^r si Mre. 85, 10 s6 wi im, der
den werden fürsten habe erslagen. Unberechtigt, weil der Neben-
satz etwas Tatsächliches bezeichnet, bei Berth. 1,254,32 Wan er
(Christus) ie Sünden und Untugenden vtnt ist gewesen, s6 was da^
wol mügelich, da^ er sine edele menscheit davor behuote unde fri
W(zre vor allem zädel.
147. (Nebensatz im Indikativ nach einem Hauptsatz im
Optativ.) 1. So unverkennbar die Neigung ist, neben einem
Hauptsatz im Imperativ oder Optativ, auch im Nebensatz den
Optativ zu setzen, so war der Gebrauch doch zu keiner Zeit
allgemein. Von jeher konnte auch in Sätzen, die wegen ihrer
Unbestimmtheit an und für sich wohl geeignet gewesen wären
im Optativ zu stehen, der Indikativ gebraucht werden; z. B.
1 Kor. 7, 13 q^ns, söei aig aban ungalaubjandan, jah sa gawilja
ist bauan mip izai, ni afletai pana aban. Mc. IQ,'^^ laisari, icileima
§ 147.] Indikativ neben einem Opt. oder Imp. im Hauptsatz. 295
ei, patei puk hidjös, taujais uggkis, GeXoiuev iva ö käv öe airrjaouev
TToirjorjc;. Jh. 6, 40 ist wilja pis sandjandins mik, ei Tvazuh saei
saiJvip pana sunu jah g alauheip du imma^ aigi libain aiwei-
nön. Walther 23, 21 die sich selben s6 verswachent und ir bösen
öceser machent, an erben müe^en si vervarn. 96, 7 ein scelic wip,
diu sich verstit, diu sende ouch guoten willen dar. 48,21 wol im,
ders erbeiten mac. 103, 5 w€ im, des sin geselle unere hat. 13, 25
wol im,, der ie nach stceten fröuden ranc. 70, 3 ich tvil, da^ wol
zürnen m^üe^e liep mit liebe, swa e^ von friundes herzen gät. 30, 17
swes munt mich triegen wil, der habe sin lachen da:, ebenso wil
im Nebensatz 96,15. 111,86. kan 96,22. getar 110,22. 10,20 ob in
guotes unde Hute ieman erbeiten lät, so var er balde. 95, 9 dem ej
sin scelde flieget so, da^ i^n sin herzeliep wol guotes gan, hat ouch
derselbe fröuderlchen sin, son spotte er niht darumbe mtn. Selbst
in indirekten Fragen : Walther 124, 24 nü Tuerket, wie den frouweii
ir gebende stät (vgl. 43, 33 nü merket, wie der linden ste der vögele
singen). 33, 2 seht, wie iuch der bäbest mit des tiuvels stricken
beitet (vgl. 83, 26 nü sehet, wie diu kröne lige und wie diu kirche
sti). 69, 4 der berihte mich, durch wa^ si {diu Minne) tuot ituo EF)
so ive. Indikativ und Optativ sind nicht gleichbedeutend, aber
die Sprache liess die Wahl frei; von dem Redenden hing es
ab, ob er durch den Optativ den Inhalt des Nebensatzes als
Gegenstand der Vorstellung charakterisieren wollte. Wo beide
Modi neben einander stehen, tritt der unterschied zuweilen
deutlich hervor; z. B. 0. 3, 20, 43 sage uns nu giwärOy wio
sihist thu so ziorOj Joh wer tliir däti thia mäht, tha^ thu
so scöno sehan mäht. Auch 1 Kor. 10, 31 jappe nu matjaip, jappe
drigkaip, jappe ha taujip, allata du wulpau gudis taujaip d. h.
möget ihr nun essen oder trinken, kurz was immer ihr tut, tut alles
zum Lobe Gottes (Mourek, Noch einmal etc. S. 9). — Willkürhch
dagegen ist der Wechsel bei 0. an Hartm. 27 nim gouma in ala-
thräti, wio Abel däti, wior hugu rihta slnan in selb druhtlnan.
Durch das Reimbedürfnis veranlasst: Walther 29,34 nu habe er
danc, ders ebene me^je und der si ebene treit.
2. Wie weit etwa gewisse Satzformen oder individuelle
Gewohnheit den einen oder andern Modus begünstigen, ist
hier nicht zu verfolgen. Der Optativ Präteriti ist jederzeit
seltner als der Opt. Präsentis, und seit der mhd. Zeit weicht
auch dieser zurück. Jetzt ist er so gut wie aufgegeben. Nur
wo sich der Optativ als Ausdruck der indirekten Eede (im
weitesten Sinne) auffassen lässt, wie in den meisten der in
296 Gebrauch der Modi. [§ 148.
§ 145, 3 als Nebensätze zweiten Grades angeführten Beispiele,
ist er üblich geblieben, z. B. Es ist auch gesagt, dass, wer
sich von seinem Weibe scheiden wollen ihr einen Sche'idehrief
gehen solle. Sie gebot ihren Frauen^ dass sie sich schmückten,
damit sie ihn. wenn er einträte, so emjj fingen, dass er sich
darüber freute.
3. Aber auch in solchen indirekten Sätzen wird zum
Teil neben dem Optativ der Indikativ gebraucht, gemäss den
für die Absichtssätze und abhängigen Aussagesätze überhaupt
geltenden Regeln (§ 122,4. 126,3. 130, 1). In dem zweiten
Beispiel, in dem die Nebensätze einem von einem Präteritum
abhängigen Absichtssatze untergeordnet sind, ist uns der Optativ
unentbehrlich; in dem ersten dagegen könnten wir auch den
Indikativ brauchen: wer sich scheiden will. Und so sehr oft;
z. B. Voll /Staunen erzählt ein römischer Schriftsteller von den Wohfi-
sitzen der Chauken, ivie die Meeresflut das Land dort weithin über-
schivemme, die Hütten der Me^ischen auf Erdhügeln ständen, wo
sie ihr Leben dahin brächten Seefahrern gleich, ive7in die Flut ein-
tritt, und Schiff biHlchigen gleich, wenn sie zurückweicht. Da
wir in den übergeordneten Nebensätzen den Optativ als Aus-
druck der indirekten Rede empfinden, erscheint der Indikativ
dieser untergeordneten als Ausdruck der Moduslosigkeit. Ob-
schon sie notwendige Bestandteile der indirekten Rede sind,
sprechen sie doch nicht das aus, worauf es in erster Linie
ankommt, und entbehren deshalb den charakteristischen Modus;
sie sind zu blossen Satzgliedern herabgesunken.
Der Irrealis in Nebensätzen, die einem Irrealis
untergeordnet sind.
148. 1. Einen ähnlichen Einfluss wie Imperativ und
Optativ übt der Irrealis auf den Modus des untergeordneten
Satzes. An und für sich ist von solchen Nebensätzen der
Indikativ ebensowenig ausgeschlossen wie von anderen; z. B.
Walther 98, 12 hei sollen si zesa7nene komen, min lip, min herze, ir
beider sinne, da$ .si de.s- wol wui^den inne, die 7nir dicke fröude
hänt benonien. Hier steht der Relativsatz mit Recht im Indikativ;
denn die Freudenstörer sind wirklich da. Ebenso ist er berechtigt
Walther 57, ö .se7n mir got, so sivüere ich tcol, da^ hie diu wip be^^er
sint danne ander frouifen; denn auch im indirekten Aussagesatz
§ 148.] Irrealis neben einem Irrealis im Hnuptsatz. 297
konnte von jeher neben dem Optativ auch der Indikativ gebraucht
werden (§ 122). Aber wenn in dem untergeordneten Satz der
Optativ gebraucht ist, pflegt es in der älteren Sprache der
Opt. Prät. zu sein. Also Indikativ und Opt. Prät. sind die
Modi, die in diesen Sätzen im allgemeinen vorkommen.
2. Selbstverständlich gilt der Opt. Prät. in den Sätzen,
denen er als Modus Irrealis an sich schon zukommt; z. B. in
einem Absichtssatz Walther 119, 6 da^ enkunde nieman mir geraten,
da^ ich schiede von dem iväne\ in einem Folgesatz und einem
Temporalsatz mit er Wig. 110,26 ivceren nitn elliu rtche, s6 da^ ich
keiser lucere, der ire7i ich enbcere^ € ich verliefe iutver gebot.
Wir finden ihn aber auch in anderen Sätzen, deren Aussage
nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit steht; z.B. Walther 10,30
het er gewest, da^ davon übel künftic ivcere, so het er wol under-
komen des riches sivcere. 73, 34 wess ich, obe si^ noch gerüioe, ich
wolde mich dur got erbarmen. 117, 33 icjes^ ich, laa^ in würre, so
hulf ich in ir schaden klagen. 45, 11 torste ich vor den wandel-
bceren, so lobt ich, die ze lobenne wceren. Iw. 1278 ej sehent wol
alle die hinne sint : ejn w ce r dan deine als ein müs, u?iz dag be-
sloggen ivcer ditz hüs, sone möht niht lebendes drüg komen u. a.
In allen Nebensätzen, die zu einem irrealen Hauptsatz gehören,
erscheint der Opt. Prät. als der regelrechte Vertreter des
Optativs überhaupt; nur Sätzen, denen von rechtswegen über-
haupt kein Optativ zukommt, bleibt er fern. Wenn in dem Ge-
dicht von Christus und der Samariterin (MSD X, 9) Christus sagt:
ivt'p, obe thu wissis, ivielih gotes gift ist, unte — den irkantts, mit
demo du kösötis, so ist das eine durch den Reimzwang veranlasste
Unregelmässigkeit.
3. Ausnahmen kommen vor. Wie in Bedingungssätzen
neben einem Hauptsatz im Irrealis der Nebensatz im Indikativ
stehen kann (§ 134, 4), so kommt auch zuweilen ein Nebensatz
im Potentialis vor; z. B. : Kudr, 402, 1 und melde uns nieman,
so sagete ich iu gerne. Berth. 1, 51, 6 ob des aller minnesten sternen
gebreste, der iender an dem himel i.'st, so möhte alliu diu werlt
deste wirs sin. In einem Exzeptivsatz: Grimm Reinh. S. 321, v. 821
so er vil schänden wirbet und in den schänden stirbet, man welleg
dan verkeren, er Icege bag mit eren. Namentlich macht sich in
indirekten Sätzen schon im Mhd., besonders in der Prosa, ein
Wandel bemerkbar. Gar nicht selten begegnet hier auch nach
einem Hauptsatz im Irrealis ein Opt. Präs (Behaghel a. 0. S. 32),
298 Gebrauch der Modi. [§ 149.
z. B. Erec 3735 herre^ wo&re e^ iu iiiht leit, so soldet ir mich wi^^en
län, warumbe ditz st getan. MF. 215, 5 c7?/, soH im minen dienest
sagen: swa^ itne ze liebe müge geschehen, da^ möhte niem^en ba^
behagen, der in s6 selten habe geseheji. Und im Nhd., wo der
Opt. Präs. überhaupt zum indirekten Modus geworden ist, ist
er uns ganz geläufig; z. B. Er würde doch wissen, wohin sie
sich gewandt habe. Sonst dächtest du, auch das sei eine
Vorspiegelung. Ich würde es ihm mitteilen, damit er es
nicht entstellt von anderer Seite erfahre. — Auffallend ist,
dass wie Behaghel (a. 0. S. 71 f.) bemerkt, der präsentische Optativ
besonders gern nach einem Plusquamperfektum gebraucht wird:
Er hätte dann doch gewusst, wohin sie sich gewa^idt habe. Sonst
hättest du gedacht, auch das sei eine Vorspiegelung etc. Der Grund
liegt wohl darin, dass wir im indirekten Satz nach einem auf die
Gegenwart oder Zukunft bezüglichen Tempus viel öfter als nach
einem Tempus der Vergangenheit (§ 122, 4) auch den Indikativ
brauchen. Dementsprechend steht auch in diesen von einem auf
Gegenwart oder Zukunft bezüglichen irrealen Prät. sehr oft der
Indikativ; z.B.: Er würde doch wissen, tvohin sie sich gewandt hat
od. habe {hätte); seltner nach dem auf die Vergangenheit bezüg-
lichen Plq. Die Neigung nach diesem den Indikativ zu meiden,
förderte den Gebrauch der präsentischen Optativformen; sie sind
nicht als ein Ersatz des Opt. Prät., sondern als ein Ersatz des Indi-
kativs anzusehen.
Anm. Regelmässig wird auch in der jetzigen Sprache der
Opt. Prät. nach Ausdrücken wie ich wünschte, möchte, wollte, es
wäre Recht etc., dass gebraucht, also nach Ausdrücken^ deren Modus
eben in der Irrealität des abhängigen Satzes begründet ist (§ 114, 5).
Ebenso nach den in § 116,3 besprochenen Sätzen im 'vorsichtigen
Konjunktiv', wo die Verhältnisse ähnlich liegen.
Moduswechsel in koordinierten Sätzen^).
149. 1. Im Gotischen tritt in koordinierten Sätzen, in
Haupt- und Nebensätzen, nicht selten an Stelle des zuerst
gebrauchten Modus nachher der Optativ ein. So folgt er in
einem zweiten Hauptsatz auf den Imperativ z. B. Lc. 9,4 in
panei gard gaggaip, par saljip (|u^v€T6) jah paprö usgaggaip (esep-
XeoGe). Mc. 7, 14 hauseip mis allai jah frapjaip, dKouer^ |uou -rrävTec;
1) Erdmann ZfdPh. 5, 213 f. OS. 1 § 133 f. Bernhardt ZfdPb.
8,8.25.32. Mourek, Got. Syntax S. 88 ff. (301 f.). Delbrück, PBb.
29, 259.
§ 149.] Moduswechsel in koordinierten Sätzen. 299^
Kai öuviexe. Lc. 11,3 jabai frawaurkjai hr 6p ar peius, gasak imma
{tTinilir\aov), jah pan jabai idreigö sik, fraUtais imma (öqpcc;). Auf
den Dubitativ: Mt. 6,31 ni m,aurnaip nu qipandans :Jva matjam
(qpdYUJMGv), aippau ha drigkam (Triuu^iev), aippau fve wasjaima (trepi-
ßaX\iJÜ|U€0a). Auf den Indikativ in deliberativen Fragen: 1 Kor. 9, 7
?vas satjip weinatriiva (qpuxeuei) jah akran pize ni matjai (^aGiei)?
fvas haldip aw^pi (iToiiuaivei) jah m,iluks pis awepjis ni Tnatjai
(^aGiei). 1 Kor. 1, 13 ibai Pavlus ushramips warp in izwara (eOTau-
piüer]), aippau in namin Pavlaus daupidai wiseip (^ßauTiaGnTe)?
Jh. 3,4. Rom. 11, 35. In Aussagesätzen: Lc. 1. 13 qins peina gabairid
sunu (Yevviia€i) jah haitais namö is Johannen (KaXeaeiq). Lc. 17, 8
manwei, ha du naht matjau, jah bipS gamatjis jah gadrigkais
pu (cpdYeaai Kai -rrieaai). 2 Kor. 9, 10 hlaiba du m,ata andstaldip
(XopriYnöei), jah managjai fraiw izwar (irXriGuvei), jah wahsjan gatau-
jai akrana (auErjaei).
2. Ebenso in einem zweiten lioordinierten Nebensatz.
In Bedingungssätzen: Job. 6,53 nibai Tnatjip leik pis sunaus
mans jah driggkaip is blöp (eäv \xi\ cpäYrixe . . koI TririT€), ni habaip
libain in izwis silbam. 1 Kor. 14, 24 ip jabai allai praufetjand, ip
innatgaggai has ungalaubjands (edv hk irävTCc; upoqpriTGijuuaiv, eia€\6r|
hi^xc^a-aiGToc^, gasakada. 2 Thess. 2, 3. Mc. 3, 27. In Relativsätzen:
Mt. 5, 13 ip saei nu gatairip aina anabusni pizö minnistönö jah
laisjai stva mans {Xvoy] Kai 6iöd?ri), miymista haitada in piudangard-
jai himine; ip saei taujip jah laisjai siva (Tioiriari Kai biödErj), sah
mikils haitada. Mt. 10,38 saei ni nimip galgan seinana jah laistjai
afar mis (Xa|ußdvei Kai dKoXouGeT), nist meina wairps. Lc. 14, 27 jah
saei ni bairip galgan seinana jah gaggai afar mis (ßaaxdSei Kai
^pxexai), ni tnag wisan meins siponeis. 1 Kor. 11,27.
3. In allen diesen Sätzen steht der Optativ in einer
Funktion, die er auch im eingliederigen Satze haben kann,
aber nirgends scheint der Wechsel des Modus geboten und
nirgends findet er sich im Original. Der Gote muss also den
Anlass in seiner Sprache gefunden haben. Ähnlich wie ihm
der Optativ dazu dient das Futurum auszudrücken (§ 113,2),
scheint er ihn in diesen koordinierten Sätzen gebraucht zu
haben, um das zeitlich ferner stehende zu bezeichnen. Der
Optativ weist auf das spätere, der vorangehende Indikativ auf
das frühere.
4. Zuweilen lässl sich der Iiidikativsatz sogar als be-
dingende Voraussetzung der optativischen Aussage auffassen:
1 Kor. 9, 7 has satjip weinatriwa jah akran pize ni matjai, wer
setzt einen Weinstock und ässe dann nicht seine Frucht. 14, 24 ip
300 Gehrm^cb der Modi. (i^ 149.
jabai allai praufetjand^ ip innatagaggai Jvas ungalaubjands^ wenn
alle prophezeien und es käme dann ein Ungläubig'er hinein. Mt.
25, 44 han puk sefcum gredagana (6ibo|uev) Jan ni andbahtidedeima
pus (kqi QU öir|Kovf]aa|U6v aoi), wann haben wir dich hungrig gesehen
und hätten dir nicht gedient. Jh. 12,5 duJve pata balsan ni fra-
bauht ivas (^TrpdGri) jah f7mdailip w^si parbam (Kai eööOri tttuuxoiO'
In solchen Sätzen widerstreitet der Moduswechsel auch unserm
Sprachgefühl nicht, nur dass wir statt des Potentialis den
Irrealis setzen. Die Sätze sind, obschon sie dieselbe Form
haben, nicht eigentlich koordiniert, sondern der Satz mit dem
farblosen Indikativ ordnet sich dem andern unter: ^Wer, der
einen Weinstock setzt, ässe nicht etc. Käme, wenn alle
prophezeien, ein üngläubig-er' usw.
5. In wirklich koordinierten Sätzen hält sich im Hoch-
deutschen der Moduswechsel in engeren Grenzen als im Gotischen.
Wo nach einem Indikativ der Optativ eintritt, ist in der
Regel ein deutlicher Modusunterschied wahrnehmbar. Der In-
dikativ bezeichnet eine Aussage, der Optativ eine Forderung: 0.
2,11,21 IQ scolta icesan betahüs joh man druhttn thanne loböti
thärinne. Der Ind. weist aut Tatsächliches, der Optativ auf Un-
gewisses: 0.1,17,19 sagetu7i^ tha^ si gähün sterroji einan sähu7i,
joh dätun filu muri, tha^ er sin wäri (§ 123, 2). 3, 20, 43 (§ 147, 1).
Oder der Indikativ weist auf Gegenwärtiges, der Optativ auf Zu-
künftiges; 0. 1, 10, 21 tha^ tvi^^in these liuti, tha^ er ist heil gebenti,
inti se ouh irwente fo7i diufeles gibente. 1,23,45 ni dröstet iuih in
thiu thing, tha^ iagilth ist ediling, odo fordoröno guati biscirmen
thiwö däti. An andern Stellen mag das Reimbedürfnis gewirkt
haben, z. B. 2, 4, 7 f.
6. Dagegen hat man einen dem gotischen Gebrauch ent-
sprechenden Moduswechsel zwischen dem Imperativ oder
Adhortativund dem Optativ auch wohl im Ahd. anzuerkennen ^);
z. B. 0. 4,30, 17 stig nü nidar herasun, thes selben ouh gi-
fli^es, thih loses thesses wi^^es. 5, 12, 77 simes io zi gote
funs joh inan harto minnön u. a. Selbst im Mhd. begegnen
noch solche Beispiele: MSH. 1,298^ darmi gedenke unde
wi^^est.
7. Ja vielleicht lebt der alte Moduswechsel noch in einem
mhd. Gebrauch fort, dass nämlich, wenn zwei Forderungen
1) Gr. 4,85. 938 OS. l § 31. 33. Mhd. Wb. 2,2, 180b.
§ 14y.] Modusweclisel in koordiiiierleii Sätzen. 301
neben einander stehen, zuerst die Umschreibung nkit suln,
dann das einfache Verbum gesetzt wird; z. B. Walther 86, 19
einte sult ir iuwern Itp geben für eigen, nemet den stnen. l'i, 21
die sult ir nerrien an arebeit, und süenet al die k7'istenheit. Biterolf
5012 ir sult nach fürsten senden U7id ladet die zeiner Wirtschaft.
In der dritten Person: Walther 105, 9 mit icitzen sol er^ alle^ ivegen
und lä^e got der scelden pflegen. Und demgemäss indirekt: Biterolf
5278 f. dö bevalch der künec here dem, markgräven Rüedeg&re stn
ge.sinde und stne man, da^ er si solde fiteren dan und ouch ir
leitoire in der herverte wcere. Wenn dieser Gebrauch auf dem
alten Wechsel von Imperativ und Optativ beruht, so würde
die Umschreibung für den Imperativ eingetreten sein, das
zweite Verbum dagegen, das wir als Imperativ empfinden,
eigentlich eine Optativform sein •, doch kommt auch die 2 Sg.
vor, die sich als Optativ nicht erklären lässt; z. B. Meier
Helmbrecht v. 298 du solt mir volgen unde erwint. Andere
Beispiele bei Kraus, Deutsche Gedichte S. 85. Seltner steht
die Umschreibung im letzten Gliede.
Anm, Mourek lehnt die von mir anerkannte Bedeutung* des
Optativs ab. Er will auch im Gotischen den Modus nur aus der
Natur der einzelnen Sätze erklären und stützt sich unter anderem
S. 92 darauf, dass auch umgekehrt in einigen koordinierten Sätzen
erst der Optativ, dann der Indikativ gebraucht sei. Aber dieser
Wechsel ist in einem Teil der Belege wirklich in der Art der ein-
zelnen Sätze begründet, so Joh. 7, 17. 1 Kor. 10, 31, in einem anderen
darin, dass die Sätze nicht als koordiniert anzusehen sind, Wenn
es 1 Kor. 7, 12 heisst : jabai has bröpar q^n aigi ungalaubjandein,
jas so gawilja ist bauan mip imma^ ni afletai p6 qen, so hat der
Satz so gawilja ist den Wert einer attributiven Bestimmung zu
q^n: 'falls ein Bruder ein Weib hat, die Willens ist, mit ihm zu
hausen'. Ebenso sind nicht koordiniert die beiden Bedingungssätze
bei Walther 71, 9 der mtn ze friunde ger und wil er mich gewinnen,
der lä^e alsolhe unstcetekeity wer mich zum Freunde wünscht, der
lasse, wenn er mich gewinnen will, solche Unbeständigkeit. In
anderen Fällen ist der Indikativ daraus zu erklären, dass die Rede
in ihrem Verlauf in die 'syntaktische Ruhelage' übergeht (Behaghel
IF. 14,443), also durch Anakoluth; z. B. Mt. 5,25 sijais waila hug-
jands andastauin peinamma, ibai hnan atgibai puk sa andastaua
stauin., jah sa staua puk atgibai andbahta, jah in karkara galag-
jaza. Ebenso Mt. 27, 64. Mc. 2, 21 f. Lc. 14, 12. Tat. c. 62, 6 wuo mag
einig gigangan in hüs strenges^ nibi her i,r gibinte then strengen
inti thanne sin hüs imo binimit. Tat. c 74, 6.
302 Gebrauch der Passivformen. f§ 150.
Gebrauch der Passivformeii ').
150. 1. Im Indogermanischen gab es Verba, die je
nach dem Verhältnis des Subjekts zur Handlung in aktiver
oder in medialer oder in beiden Formen ausgeprägt waren
(Delbr. 4,417 — 432). Mit den medialen Verben konkurrierten
Verbindungen der aktiven mit dem Pron. reflexivum und diese
haben jene in den germanischen Sprachen früh verdrängt.
Sogenannte Deponentia gibt es gar nicht mehr. Nur wo die
medialen Formen neben den aktiven die Bedeutung des Passivs
angenommen hatten, erhielten sie sich, erscheinen aber auch in
diesem Sinn nur noch im gotischen Präsens. In den anderen
germanischen Sprachen sind zusammengesetzte Formen an ihre
Stelle getreten (§ 73-76. § 87).
2. Viele Verba sind auf die aktiven Formen beschränkt.
Passive Formen bilden wir im allgemeinen nur, wenn wir für
ein Verbum ein wirkendes Subjekt voraussetzen, die Aussage
aber nicht als Handlung, sondern nur als Vorgang bezeichnen
wollen. Das wirkende Subjekt wird neben dem Passivum
meistens gar nicht erwähnt, wenn es aber geschieht, tritt es
nicht als Träger der Handlung in der Form des grammatischen
Subjekts auf, sondern als adverbiale Bestimmung, die gewöhn-
lich als Ausgangspunkt des Vorganges angesehen und im
Gotischen durch fram, im Hochdeutschen durch von mit
dem Verbum verbunden wird; oder auch, aber seltener, als
Mittel durch got. pairh, ahd. duruh, z. B. Mt. 8, 17 pata ga-
melidö pairh Esaiam praufetu. Tat. 50, 2 tha^ giquetan was
thuruh Esaiam then wi^agon. 0. 2, 2, 19 thei^ thuruh inan
ist gidän.
3. Am häufigsten ist das Passiv transitiver Verba, aber
auch von intransitiven wurde es von jeher gebildet; z. B. 0.
2, 12, 84 themo ist irdeilit. 1, 9, 1 thes ^r ju ward giwahinit. 4, 29, 20
thes wurti gifti^;^an. Greg. 516 hesunder wart gegangen in eine
keTuendten. Nib. 816 im, sol von Hagenen iemer w'esen widerseit
etc. Selbst von solchen, die keine Tätigkeit bezeichnen, wie rasten
1) Erdm. § 135.
§ 150.] Gebrauch der Passivformen. 303
und schlafen-^ z. B. Endlich wurde gerastet] hier soll geschlafen
iüerden\ denn auch diese Verba setzen wirkende Personen voraus,
die sich der Ruhe hingeben. Doch braucht man von intransi-
tiven Verben das Passiv kaum anders als in Beziehung' auf
ein persönliches Subjekt. Sätze wie: Die Woge rauscht, der
Sturm heult, das Wasser spritzte hoch auf lassen sich nicht
ins Passiv verwandeln. Man sagt wohl: von der Jugend
wurde getanzt, aber schwerlich: von den Mücken. Dagegen
von transitiven Verben: Wir wurden vom Sturme verschlagen,
von der Nacht überrascht etc.
4. Zu Verben, die schon in ihrer aktiven Form einen
Vorgang bezeichnen, bildet man das Passiv nicht. Also nicht
/A\ subjektlosen Verben wie es regnet, es schneit, mich friert,
reut. Nicht zu Verben des Geschehens und Werdens; z. B.
die Blume welkt'., die Bäume wachsen-^ es geschehen Zeichen
und Wunder; neue Ereignisse traten ein-., auch nicht, wenn
sie ein persönliches Subjekt haben: z. B. Der Mensch stirbt-,
das Kind gedeiht. Ein Satz wie Mart. 137, 100 unde wart
üf in gehagelt mit schimpflichem spot widerspricht der Regel
nicht; denn wenn auch hagelt zunächst ein subjektloses Verbum
ist, so setzt es hier in der übertragenen Bedeutung doch ein
persönliches, wirkendes Subjekt voraus.
5. Auch reflexive Verba widerstreben der Bildung eines
Passivs (vgl. § 151, 2), nicht nur die echten, wie er schämt
.sich, freut, irrt sich, sondern auch solche wie er Meidet sich
an, lüäscht sich, tötet sich, bei denen das reflexive Pronomen
Objekt eines gewöhnlichen Transitivums ist. Denn wenn diese
Verba ins Passiv umgesetzt werden {er wurde angekleidet etc.),
verlieren sie ihren reflexiven Charakter; stets wird dann eine
andere Person als Träger der Handlung vorausgesetzt. So
unterscheiden wir auch: Die Tür öffnete sich und Die Tür
lourde geöffnet. In beiden Sätzen ist das Objekt der Hand-
lung grammatisches Subjekt; aber für die passive Form setzt
man ein handelndes Subjekt voraus, während man beim
Reflexivum davon abstrahiert. Wo ein handelndes Subjekt
gar nicht vorhanden ist, kann man also nur die reflexive Form
brauchen; z. B. Die Erde bewegt sich um ihre Achse.
304 Gebrauch der Passivformen. [ij 151.
151. 1. Subjekt des passiven Satzes ist, wenn die
Handlung- auf ein Objekt bezogen wird, in der Regel dies
Objekt; andernfalls bleiben die Sätze subjektlos. (Über Aus-
nahmen S. Kasuslehre.) In Sätzen mit zusammengesetzten Passiv-
formen wurde ursprüng-lieli mögliclierweise das Partizipium als Sub-
jekt empfunden: Hier ist gepfiügt = Gepflügtes ist hier. Aber jeden-
falls hat man sieh früh daran gewöhnt auch in solchen Sätzen das
Partizipium als Prädikat, die Sätze also als subjektlos aufzufassen.
2. Das reflexive Objekt kann nicht Subjekt eines passiven
Satzes werden. Aber die enge Verbindung, die zwischen dem
Verbum und dem Pron. refl. besteht, gestattet unter Bei-
behaltung des reflexiven Akkusativs subjektlose Sätze in passiver
Form zu bilden; z. B. JEs wurde sich moJciert, nicht darum
bekümmert. Jetzt wird sich gewaschen l, Konstruktionen, die
man in der Schriftsprache doch gern meidet. Hin und wieder
begegnen sie schon im Mhd.; z. B. Lanz. 5396 des wart sich
von im angenomen. 8880 gereite, diu dar zuo tohten, des
was sich wol gevU^^en, man hatte für zweckmässiges Reitzeug*
gesorgt.
Anm. 1. Reflexiver Akkusativ neben persönlichem Passivum
begegnet in gewissen Verbindungen im Mhd.: der was sich Moroli
genant. Ein buoch da^ wart sich funden. Gr. 4, 36.
3. Auch den Akkusativ, der neben einem Infinitiv von
den Verben heissen, sehen, hören abhängt, machen wir nicht
zum Subjekt eines passiven Satzes: Alan hiess ihn eintreten,
hörte od. sah ihn kommen können nicht ins Passiv gewandelt
werden. Dasselbe gilt für lassen — bewirken, z. B. Man Hess
ihn warten. Erträglicher ist: Die Sache wurde fallen ge-
lassen = Man Hess die Sache fallen^).
Anm. 2. Unkorrekt ist es, den von einem Infinitiv abhängigen
Akkusativ zum Subjekt des regierenden Satzes zu machen; z.B.
das Ziel wurde zu treffen versucht = Man versuchte das Ziel zu
treffen. Doch ist zu beachten, dass in manchen Verbindungen ein
Substantivum sich ebenso wohl als Objekt des Infinitivs wie als
Subjekt des Verbum finitum auffassen lässt; z. B. Wohnung zu
mieten gesucht. Seine Stücke sind verboten aufzuführen u. ä. Blatz
2, 575 A. 3. 580 A. 14. 589 A. 31.
1) Gr. 4, 123 f. Erdm. S. 90.
§ 152 -Ino] Gebrauch des Numerus. 305
152. (Konkurrierende Konstruktionen.) Das Passiv ist
ein beliebtes Mittel, Tätigkeiten auszusagen, ohne sie auf ein
bestimmtes persönliches Subjekt zu beziehen. In ähnlichem
Sinn aber konnte und kann die 3 PI. des aktiven Verbums und
später (11 § 425, 3) das zum unbestimmten Pronomen gewordene
Substantivum man gebraucht werden. Schon im Gotischen
findet sich nicht selten das Passiv, wo der griechische Text die
3 PI. hat; z. B. Mt. 7, 16 ihai lisanda af paurnum weina-
hasja, \ir\Ti cTuXXeTOucTiv dtTTÖ tüjv dtKavGOuv (TiacpuXriv, kann man
auch Trauben lesen von den Dornen? Luc. 6,38 mitads
göda . . . gibada (bujcrouaiv) m barm izwarana, ein voll Mass
wird man in euren Schoss geben. Und umgekehrt brauchen
ahd. Übersetzer die 3 PL oder man, wo im Lateinischen das
Passiv steht; z. B. Is. 1, 18 Dhazs suohhant avur nu ithnimveSy
hweo dher selbo si chiboran, illud denuo quaeritur, quomodo
idem sit genitus. Tat. 40, 3 bitet inti iu gibit man, suohet
inti ir findet, clophöt inti iu intuot man, petitur et dabitur
vobis etc., Luther: Bittet, so wird euch gegeben etc. Geboten
ist das Passiv überall, wo eine einzelne Person als Subjekt
der Handlung vorausgesetzt wird. Über das Verhältnis des
Passivs zu den gotischen Verben auf -7inn s. II § 55.
Gebrauch des Numerus').
153. (Kongruenz von Subjekt und Prädikat.) 1. Wie
beim Nomen so unterscheiden die germanischen Sprachen auch
beim Verbum im allgemeinen nur zwei Numeri, Singular und
Plural. Nur im Gotischen erscheinen noch besondere Dual-
formen, wenigstens für die 1 und 2 Person; doch tritt auch
für diese zuweilen schon der Plural ein, der für die dritte
allein zur Verfügung steht. — Je nachdem das Subjekt eine
Einheit oder Vielheit von Gegenständen bezeichnet, steht das
Verbum im Singular oder Plural. Es ist daher natürlich, dass
das nominale Subjekt und das verbale Prädikat in der Regel
1) Gr.4,191ff. Paul § 233. 234. 238. Blatz 2,63-87. Schachinger,
Die Kongruenz in der mhd. Sprache. Wien 1889.
W. Wilmanns, Deutsche Grammatik. HI. 20
306 Gebrauch des Numerus. [§ 153.
im Numerus übereinstimmen. Doch begegnen in der älteren
Sprache nicht ganz selten Sätze, in denen diese Kongruenz fehlt.
Neben einem Subjekt im Singular kann das Verbum
im Plural stehen, wenn man mit dem Subjekt trotz seiner
singularischen Form die Vorstellung einer Vielheit verbindet,
eine Auffassung, die bald durch die kollektive Bedeutung des
Wortes selbst ermöglicht wird, bald durch seine auf eine Viel-
heit hinweisenden Attribute (Adjektiv oder abhängigen Genitiv).
So steht im Got. oft, auch abweichend vom Griechischen, der Plural
neben managei, z. B. Mc. 3,32 setun biina managei, iKäQr]To ö^Koc,
irepi auTÖv. Lc. 6, 19 alla managei sökidedun attekan irriina, ttöc; ö
öx^oc; elr^Tei äirTeöOai aÜToO, Ebenso beg-egnet er neben hairda:
Mt. 8, 32 run gawaurhtedun sis alla s6 hairda^ üupfiriae rräöa \\ äYeXr);
im Mhd. neben /zer, diet. gesinde: Parz, 200,17 hin von den
zinnen vielen und gähten ziw den kielen da^ huiigerc her. Parz.
676,26 diu iverde diet manegen rmc zierten. Nib. 414, 1 dö koni ir
gesiyide und truogen dar. — Neben einem Subjekt mit adjektivischem
Attribut: Parz. 75,4 da liefen unde giengen nianec werder man.
797, 14 ma7iic rtter kurteis die kü7iigtn hänt mit zühten braht. —
Nach einem Subjekt mit abhängigem Genitiv: Mc. 2, 13 all mana-
geins iddjedun du imma, Ttäc; öxXoc; ripxGTO irpöc; auxöv. Mc. 4, 1 ga-
lesun sik du imma manageins filu ö\)vi\\Qr[ irpöc; auTÖv öxAoq ttoXüc;.
Nib. 75, 4 dö liefen in enkegene vil der Guntheres man. Parz. 761, 18
swa^ hie werder Hute sint. Mai 77, 38 sica^ herren an dem, ringe
stuonden. Parz. 101,5 lät ,si rtten., .swer da geste sin. K. v. W.
der werlte Ion 221 fliegen und äm,ei^en ein tvunder drinne sä^en.
Nib. 943, 4 ja m,uosten sin enkelten vil guoter ivigande Itp. uns
klingen solche Konstruktionen mehr oder weniger fremd. Nur
wenn mehrere koordinierte Prädikate auf ein Kollektivum be-
zogen werden, gehen auch wir noch leicht aus dem Singular
in den Plural über; a. B. Mt. 8, 32 Die ganze Herde Säue
stürzte sich mit einem Sturm, ins Meer und ersoffen im
Wasser. Blatz 2, 66 Anm. 6.
Anm. 1. Erleichtert wurde die Inkongruenz dadurch, dass
ursprünglich die Verbalform allein, Subjekt und Prädikat in sich
vereinend, einen vollständigen Satz bilden konnte, so dass das Sub-
stantivum neben dem latenten Subjekt gewissermassen eine apposi-
tive Stellung" einnehmen kann, eine Auffassung, die in der allite-
rierenden Dichtung oft anzuerkennen ist; z. B. Hei. 4963 werod
Judeono gripun thö an thene godes sun, gri^nma thioda, hatandiero
höp, huurbun ina umbi m,ödag manno folc, das grimme Volk, der
Verfolger Haute, (sie) umringten ihn, das erreg'te Volk etc.
i
§ 153.] Kongruenz von Subjekt und Prädikat. 307
Anm. 2. Anders zu beurteilen sind Verbindungen wie: es
waren viel Me7ischen da, wohl hundert Menschen, ein paar Menschen,
eine Me7ige Menschen. Hier ist das Nomen, das ursprünglich den
Genitiv regierte, zum Attribut, der Genitiv zum Subjekt geworden,
so dass die Kongruenz tatsächlich gewahrt ist. Blatz 2, 65 f. 67 (s.
Kasuslehre). — Ebenso ist der Plural gerechtfertigt in Sätzen wie:
An die hundert Menschen {gegen, bis, über h. M.) waren versammelt
(Blatz 2,70 Anm. 13); hier ist die präpositionale Verbindung zum
Subjekt geworden.
2. Eigentümlicher berührt es uns, wenn neben dem Sub-
jekt im Plural das Verbum im Singular steht. Im Gotischen
fehlen solche Beispiele. Bei Otfried zeigt sich die Unregel-
mässigkeit einige Mal, wo das pluralische Subjekt durch ein
Zahlwort zur Einheit zusammengefasst ist (OS. 2,29): 3,6,55
ward thero äleibo . . sibun korbi. 2,11,37 thero järo was . . .
fiarzug inti sehsw, sonst merkwürdiger Weise nur bei Substan-
tiven, deren Plural auf i ausgeht, bei den Fem. däti, dohti,
ktinfti, angusti, henti, guati, armuati und dem Neutr. wihti
und immer im Reim; z. B. 4,12,3. 2,16,17. — Auch im
Mhd. finden sich Beispiele, besonders bei Wolfram: Nib. 185,2
dö stoup Ü3 dem helme die vitverröte vanken. 2149, 3 des reis ir
schiltsteine (A, schiltg esteine B u. a.) 7iider in da^ bluot. Parz. 447, 6
dem ungeltch icas jeniu kleit. 234, 3 an disen aht frouwen was
rocke grüener denne ein gras. 28, 30 dö verjach ir ougen dem
herzen sän. 695, 2 dö sprach von d.isem einem man in beden hern
die wtsen. Meist geht das Verbum voran, es kann aber auch
folgen, und dann ist die Inkongruenz fühlbarer: Nib. 1806, 4
wol siben tüsent degene bi der kuneginne reit. Frauend. 11,22 fünf
tüsent ritter der fürsten bröt da a^. Parz. 305, 15 ir snüere unz an
die sine gienc. — Verhältnismässig oft begegnet die Konstruktion
beim Passiv transitiver Verba; z.B. F^irz. 221, ib .selten frosltchiu
werc was da gefrümt. Klage 656 vil manege wunden wit ivart ge-
houwen. Man könnte also daran denken, dass hier das Substan-
tivum gar nicht als Subjekt, sondern als ein in der passiven Kon-
struktion fest gehaltenes Objekt aufzufassen sei (OS. 2, 31). Doch
ist die Vermutung abzuweisen, weil in solchen Sätzen nie ein be-
stimmt^ ausgeprägter Akkusativ begegnet.
Anm. 3. Selbst wenn ein einzelnes Werk der Literatur oder
Kunst durch einen pluralen Titel bezeichnet wird, meidet man den
Singular; z. B. Heute werden Schillers Räuber gegeben. Nur wenn
das Subjekt ausdrücklich als Titel bezeichnet wird, gilt der Singular:
308 Gebrauch des Numerus. [t? 153.
Die Itäuher ist der Titel von Schillers erstem Drama. Freilich
widerstrebt uns zuweilen auch der Plural, nämlich dann, wenn das
Prädikat es nahe legt, das Subjekt nicht als Titel aufzufassen.
Schillers Rauher wurden aufgeführt, ist unbedenklich; nicht so:
Heute gingen Schillers Räuber über die Bretter ; vgi. Blatz 2, 72
Anm. 19.
Anm. 4, Abstrakt aufg-efasste Zahlen werden in der Regel
mit dem Sing'ular verbunden; z. B. Drei und vier ist sieben. Oft
auch mit Zahlwörtern verbundene Substantiva, die als einheitliche
Massbestimmungen aufgefasst werden; z. B. Drei Meter Tuch reicht
nicht hin. — Ebenso ist der Singular gerechtfertigt in Sätzen wie:
Einige Schurken weniger im La7id würde der Welt nichts schaden,
wo das Subjekt den Wert eines Satzes hat: Wenn einige Schurken
weniger ivären, so ivürde das etc. und in Verbindungen wie: Stühle
ist der Plural von Stuhl, wo Stühle gar nicht eine Mehrheit von
Gegenständen, sondern eine grammatische Form bezeichnet; s. Blatz
2,70 Anm. 15—18.
3. Im allgemeinen ist die Kongruenz zwischen dem
Numerus des Subjekts und des Verbums immer entschiedener
zur Geltung gekommen; nur in einem Falle sträubt sich die
Sprache dagegen. Wenn ein substantivisches Prädikat im
Plural zu einem Subjekt im Singular gehört, steht das Verbum
wie das Prädikat im Plural; z. B. Der Lohn dieser Welt sind
vergängliche Freuden. Wh. 158, 18 ej enmugen niht alle^
hünege sin. Doch kommt in der älteren Sprache wie neben
dem pluralischen Subjekt auch der Singular vor; z. B. Rab.
413, 6 ir harnasch was sumerMeider\ vgl. Gr. 4, 197. Paul
§ 238; vgl. auch Blatz 2, 78 A. 2.
4. W^enn in Sätzen, die sich als eine einheitliche Aus-
sage darstellen, das Verbum sich auf mehrere Subjekte bezieht,
steht es bald im Singular, bald im Plural. Der Plural war
jeder Zeit überall gestattet, die Grenzen für den Singular
sind allmählich enger geworden. Am besten behauptet er sich,
wenn die Subjekte im Singular stehen; doch ist er auch dann
nicht überall erlaubt. Folgt das Verbum den Subjekten, so
pflegen wir ihn nur zuzulassen, wenn die Subjekte sich zu
einheitlicher Auffassung eignen ; z. B. Hab und Gut ist verloren.
Haus und Hof ist verkauft. Wald und Anger prangt im, Früh-
lingsschmuck. Dagegen widerstrebt uns der Singular in Sätzen
wie Mt. 6, ly parei malö jah nidtva frawardeip, öttou ar]<; Kai
§ 153.] Kongruenz von Subjekt und Prädikat. 309
ßpujaic; äcpaviZei. Nib. 2314, o Dietrich undc. Etzel weinen dö heyayi,
Oudr. 866, 1 Hartmuot unde Irolt zuo einander spranc. Etwas
grössere Freiheit gewährt das vorangehende Prädikat dem
Singular, doch meiden wir ihn auch hier, wenn er auf eine
gemeinsame Tätigkeit der Subjekte hinweist, wie Parz. 17, 15
dö sprach üq einem inunde der sieche und der gesunde. Nib. 26, 2
in hie^ mit kleidern ziereri Sigmunt und Sigelint.
Anni. 5. Notwendig ist uns der Singular, M^enn die Subjekte
den Titel eines Werkes bezeichnen (vgl. Anm. 3): Heute wird Erivin
und Ehnire gegeben.
ö. Steht ein Teil der Subjekte im Plural, so pflegen wir
den Singular nur zu gestatten, wenn das Verbum vorangeht
und ihm zunächst ein singularisches Subjekt folgt, also nicht in
Sätzen wie Nib. 1087, 1 iceme ist nü hekant under iu hl RiJie die
Hute und ouch da^ lant {Hute unde lant C). 1534, 3 dem ist ivol
bekant stige unde strafe, und noch weniger in solchen wie Parz.
352, 58 ein linde und ölboume unden hl der müre stuont. Nib. 788, 1
Prünhilt und ir vroutcen (A, mit ir fr. B) gie. 2172,2 da^ palas
unde turne erdÖQ. 2296, 2 palas unde turne von ir siegen dö^.
In der Nachbarschaft eines pluralischen Subjekts verlangen
wir auch pluralisches Prädikat (vgl. Blatz 2, 78 — 85).
Anm. 6. Nicht immer erscheinen Sätze, deren Verbum sich
auf mehrere Subjekte bezieht, als einheitliche Aussage mit mehreren
Subjektsworten, sondern als Verbindung mehrerer Aussagen mit dem-
selben Prädikatswort. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn das
Verbum zwischen die Subjekte tritt; z. B. Da, wo der Wirt sass
und die Gäste, oder: Da, wo die Gäste sassen und der Wirt-, aber
auch sonst, z. B. im Schlusssatz des Vaterunsers: Denn dein ist das
Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit. In Sätzen, die so auf-
gefasst werden, richtet sich das Prädikat natürlich nach dem zu-
nächst stehenden Subjekt. So auch in Sätzen, deren Subjekte durch
nicht nur — sondern auch, entweder — oder, teils — teils verbunden
sind. Doch kann nach ihnen, namentlich nach Verbindungen mit
sowohl — als auch, weder — noch ein Verbum im Plural folgen,
auch wenn das unmittelbar vorhergehende Subjekt ein Singular
ist: Weder mein Bruder noch sein Freund haben das gesagt. Blatz
2, 85 Anm. 15 f.
Anm. 7. Auch neben präpositionalen Verbindungen, die in
ähnlichem Sinne wie zwei koordinierte Subjekte gebraucht werden,
kann das Prädikat im Plural stehen; z. B. Iw. 6215 ej wären hl ir
fiure under wilen tiure vleisch mit den vischen. Schiller: Und
Scherz mit Huld in anmutsvollem Bunde entquollen dem beseelten
Munde. Paul § 233 A.
310 Gebrauch des Numerus. [§ 154.
154. (Bezeichnung einer Person durch den Plural.) l.Ohne
Einfluss auf die Kongruenz des Subjekts und des Verbums
sind die Änderungen, die der Numerus dadurch erfahren hat,
dass die pluralischen Pronomina pers. und poss. wir und
unser, ihr und euer, später auch sie und ihr, zur Bezeichnung
einzelner Personen gebraucht wurden. Der Dichter des Anno-
liedes erzählt v. 465, dass die Römer den Caesar nach dem
Siege über Pompejus durch die pluralische Anrede geehrt
hätten, und fügt mit Stolz hinzu, dass Caesar den Deutschen
das Recht sich zu ihrzen als ein Zeichen seiner Anerkennung
gewährt habe. In der Tat haben die Deutschen den Gebrauch
von den Römern übernommen und wenn auch nicht von C.
Julius Caesar, so doch von den späteren Caesaren. Doch ehe
dieser Plural der 2 Pers., der pl. reverentiae, behandelt wird,
scheint es zweckmässig, einen Blick auf die Numerusverschiebung
in der 1 Pers. zu werfen. Hier sind zwei Fälle zu unter-
scheiden: der pl. auctoris und der pl. maiestatis.
2. Schon die lateinischen Schriftsteller der klassischen
Zeit reden in ihren Büchern und Briefen von sich selbst oft
im Plural, und dieser Gebrauch hat sich, wenn auch in engeren
Grenzen, bis auf unsere Tage erhalten. Grammatisch berech-
tigt ist er überall, wo der Autor in seiner Aussage sich als
Glied einer Gemeinschaft ansehen kann, besonders auch da,
wo in die 1 PI. der Leser mit einbegriffen werden kann ;
z. B. Nib. 1 Uns ist in alten mceren Wunders vil geseit.
Aber von jeher finden wir den Plural auch in Sätzen, die nur
für den Redenden Geltung haben. Beispiele in deutscher
Sprache bietet schon die alte Isidorübersetzung, nicht nur
solche, die sich an die lateinische Vorlage anschliessen, wie
suohhe7nes quaeramus, chioffanodöm wir probavimus, sondern
auch unabhängige: chichundemes demonstretur, wir chichun-
didöm demonstrata est. Ebenso Otfried: 5, 8, 7 so wir zelten-^
1) Gr. 4, 298 ff. Kl. Schriften 3. 247 ff. DWb. 2, 1475 ff. 3, 688 ff.
Ehrismaun, ZfdW. 1,117—149. 2,118-159. 4,210-248. 5,126-220.
Denecke, Zur Geschichte des Grusses und der Anrede in Deutsch-
land. ZfdU. 6, 317—345. Andere Literatur verzeichnet Mensing S. 31;
vgl. auch Anm. zu § 155.
§ 154.] Bezeichnung" einer Person durch den Plural. 311
5, 5, 12 so loir Mar fora zelitun-^ 5, 23, 151 thes giwuagun
wir er etc. Gesteigertes Selbstgefühl macht sich in diesem
Gebrauch nicht geltend; eher kann man ihn als Ausfluss der
Bescheidenheit ansehen, die das eigne Ich zurücktreten lassen
will und sich mit dem Ausdruck tiefster Demut verbinden
kann; so wenn 0. in dem Lobgedicht auf König Ludwig sich
als unsu smähu iiidiri (vgl. mea parva humilitas in dem
Schreiben an Liudbert) bezeichnet.
3. Jünger ist der pl. majestatis; der Grund zu ihm
wurde gelegt, als mehrere Kaiser sich in die Herrschaft über
das römische Reich teilten. Indem die Pluralform, die sich
für ihre gemeinsamen Erlasse von selbst ergab, auch in den
offiziellen Kundgebungen einzelner festgehalten wurde, wan-
delte sich der natürliche pl. societatis in den pl. maiestatis,
der Plural wurde zum Ausdruck der viele Machtbefugnisse um-
fassenden Herrschgewalt. Von den Römern vererbte sich der
Gebrauch auf die Germanen; sie mochten ihn um so leichter
annehmen, als die enge Verbindung, die in Rat und Tat
zwischen dem Fürsten und seinem Gefolge bestand, oft den
Plural als natürliche Ausdrucksweise erscheinen Hess. Wir
finden ihn von Anfang an bei Goten und Franken und nicht
nur in den Erlassen und Briefen der Könige, sondern auch in
den Kundgebungen anderer Personen, die sich als Machthaber
fühlten; so bei den merowingischen Hausmeiern. Dem leben-
digen Verkehr aber blieb der offizielle Kanzleigebrauch fremd.
In der Dichtung des 12. und 13. Jh. wird das majestätische
Wirzen überall noch gemieden; Belege in der deutschen Sprache
finden sich erst, als sie auch in den Urkunden das Lateinische
ablöste (Gr. 4, 303. 300 Anm.).
4, Weitere Verbreitung und grössere Wichtigkeit gewann
der Plural der zweiten Person. Er wurzelt in demselben
Boden wie der pl. maiestatis ; dieselben Personen, die von sich
selbst im Plural sprachen, empfingen auch einen Plural als
ehrende Anrede. Und dieser pl. reverentiae blieb nicht
auf den Kanzleigebrauch beschränkt, er griff auf weitere
Kreise über und muss früh zu einer gewöhnlichen Form des
geselligen Verkehrs geworden sein. Um den Verlauf der Be-
312 Gebrauch des Numerus. [i? 154.
wegiujg zu verfolgen, fehlt es an geeigneten Denkmälern, doch
ist manches auch aus den lateinischen Quellen zu schliessen.
In deutscher Sprache begegnet die Anrede mit Ihr zuerst in
dem Gedichte, mit dem Otfrid sein Werk dem Bischof Salomo
von Konstanz widmete; in den Gedichten des 12. und 13. Jhs.
finden wir Ihr nicht nur in der Anrede an Respektspersonen
und höher Gestellte — gelegentlich auch an Gott — sondern
auch zwischen vornehmen Personen gleichen Ranges und selbst
anter Leuten niederen Standes. Wenn daneben manche Ge-
dichte das Ihr ganz oder fast ganz meiden, z. B. im 12. Jh»
das Rolandslied oder die Fortsetzung des Lamprechtschen
Alexanderliedes in der Strassburger Hs. (ZfdW. 2, 143) und
noch später religiöse Gedichte, so beruht das auf Stiltradition.
Zu aller Zeit haben Dichter die konventionelle Form nicht
durchgeführt-, und wie noch jetzt die kaiserliche Majestät sich
in Versen die Anrede mit Du gefallen lässt, so herrscht Du
auch in den Panegyriken des früheren Mittelalters (ZfdW. 1, 121).
Im gesellschaftlichen Verkehr galt Ihr; Du war der Ausdruck
vertraulicher Verhältnisse oder erregter Stimmung, die die
konventionellen Schranken durchbrach. Mit zierlicher Wendung
sagt der Schenk von Limburg in einem Minneliede (MSH.
1,133^): einer fraget Uhte nü, warumbe ich dich hei^e dü'^
dast von rehter Hebe. Frouwe, sprich, hab ich daran iender
missesprochen'? da^ Id^ ungerochen, wan ich mac des lä^en
niht. — Auch Wechsel zwischen Du und Ihr fand im Verkehr
nicht so oft statt, wie in den mhd. Gedichten, obschon an-
zunehmen ist, dass er leichter eintrat als jetzt, wo man ihn
nur noch in den untersten Ständen zu beobachten Gelegenheit
hat — und bei Dichtern. Näher gehe ich auf diese Fragen,
die weniger die Grammatik als die Kultur- und Literaturgeschichte
berühren, nicht ein. In ihren Hauptzügen hat schon Grimm die
Bewegung gezeichnet, eingehender hat sie Ehrismann in seinen
an feinen Beobachtungen reichen Untersuchungen behandelt.
Über den Plural der 3 Pcrs. zur Bezeichnung einer ein-
zelnen Person s. § 155.
Anm. Über das Pron. poss. in der Anrede, wenn mehrere
sprechen s. Gr. 4, 299 Anm.
§ 155.] Gebrauch der Personalformen. 313
Gebrauch der Personalformen ').
156. 1. Neben einem Verbum in der 1 und 2 Pers. er-
scheint nie ein Siibstantivum als Subjekt^ sondern höchstens
als appositive Bestimmung- des pronominalen Subjekts; z. B,
Was hast du ärmster gelitten ! Wir Deutsche, Ihr Kauf leute
etc. Und umgekehrt: wo ein Substantivum oder ein unper-
sönliches Pronomen Subjekt ist, muss das Verbum in der
3 Person stehen, auch dann, wenn die Person des Redenden
oder des Angeredeten durch ein Substantivum bezeichnet wird;
z. B. Nib. 1213, 4 wo Hagen von sich selbst sagt: in wil be-
halten Hage7ie, da^ sol man Kriemhilte sagen. So pflegt
auch in Relativsätzen, die sich an ein Pron. der 1 oder 2
Person anschliessen, die 3 Pers. zu stehen (Paul §239,3);
z. B. du sniterin, diu da^ körn ab dem velde snidet. Walther
29, 15 Ir fürsten, die des küneges gerne wceren äne\ obschon,
nach lateinischem Muster, auch die 1 und 2 Person vorkommen.
Wir meiden jetzt das eine und das andere, indem wir hinter
dem Relativum das persönliche Pronomen einschieben : Ihr
Fürsten, die ihr; du Schnitterin, die du.
Anm. Appositive Bestimmungen sind neben dem Singular
nicht in gleicher Weise gebräuchlich wie neben dem Plural. Man
kann wohl sagen: Wir Bürger, Ihr Beamte, aber nicht leicht Ich
Bürger, Du Beamter.
2. Substantiv zur Umschreibung auch der angeredeten
oder der redenden Person begegnen häufig. Im Mhd. wiid
oft lip so gebraucht, wie im Französischen corps\ z. B. Iw.
2348 mir riet ej niuwan min selbes lip. Ahnlich aber jeder
Zeit auch andere : Daran hat mein Herz nicht gedacht. Mein
Fuss kommt nicht über seine Schwelle etc. Besonders wichtig
aber werden abstrakte Substantiva, die die Person nach Art,
Rang und Stand bezeichnen, ein Gebrauch, der ebenso wie-
der Plural zur Bezeichnung einer einzelnen Person, von den
Römern übernommen wairde. In seiner lateinischen Vorrede
bezeichnet Otfried sich selbst als vilitas mea, mea parvitas,
mea parva humilitas, und dementsprechend in dem Widmungs-
1) Gr. 4, 293 f. Blatz 2, 250 f. 87 f. ZfdU. 12, 753 f.; vgl. Anm.
zu § 154.
314 Gebrauch der Personalformen. [§ 155.
gedieht an Ludwig- v. 26 unsu smähi nidiri, an Hartmuot
V. 155 thiu mines selbes nidiri (vgl. aueh 3, 10, 15 thiu druh-
tines mutz. 4, 19,41 thiu sin milü ete.). Derartige Abstracta
wurden dann auch in der Anrede gebraucht. So betitelt schon
Dietrich bei Jord. c. 57 den Kaiser Zeno mit pietas vestra;
anderwärts begegnen majestas, celsitudo, excellentia etc., im
Deutschen: Majestät, Hoheit, Heiligkeit, Excellenz, Emi^ienz
etc. und pluralisch Gnaden, Liehden etc.
3. In derselben, direkte Anrede vermeidenden Form wurden
seit dem Anfang des 17. Jh. nach französischem Beispiel Herr
und Frau als höfliche Bezeichnung der angeredeten Person
gebraucht, und indem dann die Rede mit dem Pronomen fort-
gesetzt wurde, ergaben sich Er und Sie (Sing.) als Formen
der Anrede, die nun für höflicher galten als das ältere Ihr und
dieses verdrängten. In den Kreisen, die sich der Schriftsprache
bedienen, wird Hir nicht mehr als Anrede einer einzelnen
Person gebraucht. Aber auch Er und Sie haben sich nicht
gehalten. Diese grammatisch korrekten singularischen Formen
wurden schon gegen Ende des 17. Jh. durch das pluralische
Sie überboten. Grammatisch gerechtfertigt war diese Form
nur im Anschluss an pluralische Titel wie excellentiae, stre-
nuitates. Strengen, Hochwürden, Gnaden, Liehde?i, wurde
dann aber allgemein üblich und bewirkte, dass bald auch
nominale singularische Subjekte, mit denen Ehrerbietung oder
Höflichkeit eine Person bezeichnet, mit dem Plural verbunden
werden: Se. Majestät haben befohlen, der Herr Doktor sind
ausgegangen, gnädige Frau belieben zu scherzen. Die singu-
larischen Er und Sie werden höchstens noch zum Ausdruck un-
williger Erregung von einem gebraucht, der sich als Gebieter fühlt.
Anm. Folgerichtig wurde auch das Pron. poss. in der dritten
Person auf den Angeredeten bezogen: Ich habe Ihre freundliche
Einladung erhalten. Doch ist dieser Gebrauch neben Titeln nicht
durchgedrung'en: Eure Majestät gilt statt Ihr'e {Ihro, Dero) Majestät.
Blatz 2, 64,
4. Wenn sich das Verbum auf mehrere Subjekte bezieht,
so kann es sich nach § 153, 5 und Anm. 6 einem einzelnen
anschliessen und richtet sich dann natürlich nach diesem sowohl
§ 155.] Kongruenz von Subjekt und Prädikat. 315
im Numerus als in der Person. Fasst man mehrere Subjekte
in einer Pluralform zusammen, so gebührt in der Entscheidung
über die Personalendung der 1 Person der Vorrang vor der
2 und 3, der 2 vor der dritten; z. B. Mai 79, 14 ich und ir
sin ein lip. Nib. 1092, 2 so hei^ ich dir gehen, da^ du und
dine gesellen vrmliche müget leben. 2126, 1 swenn ir und
iuwer recken mit strite mich hestät.
Nicht selten aber werden schon in der älteren Sprache
solche Verbindungen dadurch gemieden, dass man durch Ein-
schiebung eines zusammenfassenden Pronomens die Kongruenz
herstellt; z.13. Nib. 873,3 da hi wir mügen bekennen, ich
und die herren min, wer die besten jegere an dirre waltreise
sin. 2030, 4 da^ lant habt ir verioeiset, du und ouch die
brüeder diu. Besonders empfinden wir es als hart, wenn die zweite
Person zugleich auf die dritte bezogen wird, und fast lieber wird
in diesem Falle die dritte gebraucht, vermutlich deshalb, weil die
Form auf -en, in der die 1 und 3 P. zusammengefallen sind, unbe-
stimmtere Bedeutung hat als die auf -et, die nur der 2 P. zukommt.
Man meidet die Beziehung dieser charakteristischen Endung auf
verschiedene Personen Gr. 4, 199 A. Paul § 239, 1. Blatz 2, 87 f.
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.W6
1899
3pt.1
IMS
Wilmanns, Wilhelm, 1842-1911
Deutsche Grammatik :
PONTiFiCAL- «iNiSriTUTF
OF MEDIAEVAL STUOIES
59 OUEEN'S PARK
Toronto 5, Canaoa
11'/ //
ürficm
\jf^-»
C.m ■ ■ 'Jt-**-
mt\{
j;
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Pi^^^^HH
^^üIhSHp^
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