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Full text of "Deutsche Grammatik : Gotisch, Alt-Mittel- und Neuhochdeutsch"

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Verlag  von  Karl  J.  Trübner  In  Strassburg. 


Behaghel,  0.,  Geschichte  der  deutschen  Sprache.     Mit  einer 
Karte.     Der  2.  Auflage  2.  Abdruck.     Lex.  80.  IV,  131  S.  1902. 

Geh.  Ji  4.—,  g-eb.  Ji  5.— 
Bremer,  Otto,  Ethnographie  d  e  r  g  e  r  m  a  n  i  s  c  h  e  n  Stämme.     Mit 
6  Karten.  2.  Abdruck.  Lex.  8^.  XII,  216  S.  1904.  Geh. c^  6.-,  geb.  Ji  7.— 
Brug'manu,  Karl,  Kurze  vergleichende  Grammatik  der  indo- 
germanischen Sprachen.    Auf  Grund  des  fünf  bändigen  Grund- 
risses der  vergleichenden  Grammatik  der  indogermanischen  Sprachen 
von  K.Brugmannu.B.  Delbrück  verfasst.  Gr.  8^.  XXII,  774  S.  1904. 
Geh.  <^  18. — ,  geb.  in  Leinwand  ^  19.50,  in  Halbfranz  c^  21. — 
Auch   in   3   Lieferungen  zu   Jt  7.—,   7. — ,  4.—  ,   bezw.   in   Lein- 
wandbänden zu  Ji  8. — ,  8. — ,  5. — ,  zu  haben. 
Grundriss  der  germanischen  Philologie  unter  Mitwirkung  von  K.  von 
Äniira,  W.  Arndt,  O.  Behaghel  etc.   Herausgegeben  von  Hermann 
Paul.     Zweite  verbesserte  und  vermehrte  Auflage. 
I.  Band   (vollständig).     Lex.  8«.     XVI,   1621  S.   mit  1  Tafel  und  3 
Karten.     1901.  Geh.  c^  25.—,  in  Halbfranz  geb.  ^  28.— 

IL   Band,    I.   Abteilung,    1.— 3.   Lieferung    ä  ^^  4.—,    4.   Lieferung 
c^  2,50;  IL  Abteilung:  Metrik.   Lex.  8».  259  S.    1905.  Geh.c^4.— , 
in  Halbfranz  geb.  J^  6. — 
III.  Band  (vollständig).   Lex.  8«.   XVII,  995  S.    Mit  6  Karten.    1900. 

Geh.  JC  16.—,  in  Halbfranz  geb.  ^  18.50 

Grundriss  der  romanischen  Philologie  unter  Mitwirkung  v.  G.  Baist, 

Th.  Braga,  H.  Bresslau  etc.    Herausgegeben  von  Gustav  G  rö  b  e  r. 

I.  Band,  2.  verbesserte  u.  vermehrte  Auflage.  Mit4  Tafeln  u.  13Karten. 

Lex.  80.    XVI,  1093  S.    1904-1906.       Geh.  JI  17.50,  geb.  Ji  20.— 

ILBand,  I.Abteil.  Lex.  8«.  VIII,  1286  S.  1902.  Geh.=^ 20.— ,  geb. ^23.— 

IL  Band,  2.  Abteil.  Lex.  8^.  VIII,  496  S.  1897.  Geh.  c^  8.-,  geb.  Ji  10.— 

ILBand,  3.  Abteil.  Lex.  8^.  VIII, 603S.  1901.  Geh.e^lO.-,  geb.^12.— 

Hoops,  Johannes,    Wald  bäume  und  Kulturpflanzen   im  Ger- 


manischen Altertum.  Mit  8  Abbildungen  im  Text u.  1  Tafel.  8 o. 
XVI,  689  S.    1905.  Geh.  Ji  16.-,  geb.  Ji  17.50 

^(ugc,  f^ricbric^,  (Stl)mologi[d)eö  Söörtcrbud)  ber  beutfcfien 
'Spra3)e.  6.  berbeffette  unb  bcrmei^rte  Slufloge.  2.  Slßbtucf.  Öej:.  8<^. 
XXVI,  510  ©.    1905.  (25e^.  Ji  8.—,  geb.  Ji  10.— 

—  —  Vorgeschichte  der  altgermanischenDialekte.  Miteinem 
Anhang:  Geschichte  der  gotischen  Sprache.  Der  2.  verbess.  Auflage 
2.  Abdruck.    XI  und  (L  Band)  S.  323-517  und  10  S.  Register.    1906. 

Geh.  Ji  4.50,  geb.  Ji  5.50 

—  —  Geschichte  der  englischen  Sprache.  Mit  Beiträgen  von 
D.  Behrens  und  E.  Einenkel.  2.  verbesserte  u.  vermehrte  Aufl.  2,  Abdr. 
Mit  einer  Karte.  Lex.  8».  IV,  237  S.  1904.    Geh.  Ji  5.50,  geb.  Ji  6.50 

3Son  Sut^er  h\§>  Seffing.    ^pra(^gefcE)ic^t(ic^e  ^uffä^e.    4.  5luf(. 

80.  X,  253  ®.  mit  einem  ^ärtc^en.  1904.  ®e^.  Ji^.—,  geb.  Jif).— 
9ftotix)elfdi.    Ouetlen  u.  2öort[c^a^  ber  ©aunerfpradje  u.  ber  ber= 

tDanbten  ®e{)eimfpracf)en.    I.  9Rotft)elf(i)e§  Cluellen&ud).    ®r.  8^.    XVI, 

495  ®.  1901.  Ji  14.— 
and  Fred.  Lutz,   English   Etymolog y.     A  select  Glossary 

serving  as  an  Introduction  to  the  History  of  the  English  Language. 

80.  VIII,  234  S.  1898.  Geh.  Ji  4.—,  in  Leinw.  geb.  Ji  4.50 

^citft^rift  für  bcutft^c  SSßortforfd^ung,  tierauggeg.  bon  grtebric^  5^luge. 

33anb  1—7  unb  ©rgänsungS^efte  5U  53anb  3  unb  6.    1901—1906.    ^rei§ 

be§  ^anbe§  o^ne  @rgän5ung§f)eft  get).  Ji  10.—,  in  |)al6fr.  geB.  Ji  12.50 
Sabcuborf,  OiU,  |)iftortfc^e§  (^cfjlagmcirteröud).    @tn"3$erfud).    8^. 

XXIV,  365  ©.     1906.  ©et).  Ji  6.-,  geö.  Ji  1- 


Verlag  von  Karl  J.  Trübner  in  Strassburg. 

Koegel,  Rudolf,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  bis  zum 
Ausgange  des  Mittelalters. 

I.Band:  Bis  zur  Mitte  des  XI.  Jahrhunderts.  I.Teil:  Die  stabreimende 
Dichtung  und  die  gotische  Prosa.  8».  XXIII,  343  S.  1894.  Jt  10.- 
Ergänzungsheft:  Die  altsächsische  Genesis.  8^.  X,  71S.  1895.  Ji\  80 
2.  Teil:  Die  endreimende  Dichtung  und  die  Prosa  der  althoch- 
deutschen Zeit.  80.  XX,  652  S.  1897.  JC  16.— 
Zusammen  in  einem  Band,  geb.  in  Halbfranz  <Ji  31.50 

—  —  und  Wilhelm  Brückner,  Geschichte  der  althoch- und  alt- 
niederdeutschen Literatur.  2.  verbesserte  und  vermehrte  Aufl. 
Lex.  80.  IV,  132  S.  1901.  Geh.  Ji  3,—,  in  Leinw.  geb.  Jt  4.— 

Meyer,  Elard  Hugo,  Mythologie  der  Germanen.  Gemeinfasslich 
dargestellt.  8^.  XII,  526  S.  1903.  Mit  einer  Deckenzeiclmung  von  Prof. 
Wilh. Trübner.  Geh.  ^4t  8.50,  in  Leinw.  od.  in  Halbperg.  geb.  c^  10.— 

2)eutfrf)e  ^olfSfunbe.    äRit  17  5ia6ilbungen  unb  einer  ^arte. 

80.    VIII,  362  @.     1898.  @ef).  Ji  6.—,  in  Öeinit).  geb.  ^  6.50 

—  —  S3abtfc^e§  3Sol!§leßen  im  neunäet)nten  ^af)rf)unbert.  80. 
IX,  628  ©.     1900.  ®e^.  Ji  12.—,  in  Seiniü.  gefi.  Ji  13.— 

Minor,  Dr.  J.,  Neuhochdeutsche  Metrik.  Ein  Handbuch.  2.  um- 
gearb.  Aufl.  8«.  XIV,  537  S.  1902.  Geh. c^  10.— ,  in  Leinw.  geb.  Ji  11.— 

Mogk,  Eugen,  Germanische  Mythologie.  2.  verbesserte  Auflage. 
Lex.  80.  VI,  177  S.  1898.  Geh.  Ji  4.50,  in  Leinw.  geb.  c^5.50 

—  —  Geschichte  der  norwegisch-isländischen  Literatur. 
2.  verb.  Aufl.  Lex.  80.  VIII,  386  S.  1903.    Geh.  ^9.—,  geb.  «^  10.— 

Müller,  Sophus,  Nordische  Altertumskunde  nach  Funden  und 
Denkmälern  aus  Dänemark  und  Schleswig  gemeinfasslich  dargestellt. 
Deutsche  Ausg.  unter  Mitw.  des  Verf.  besorgt  von  Dr.  0.  L.  Jiriczek. 
I.  Band:  Steinzeit— Bronzezeit.  Mit  253  Abb.  im  Text,  2  Tat",  und 
1  Karte.  8  0.  XII,  472  S.  1897.  Geh.  Ji  10.—  in  Leinw.  geb.  Ji  IL— 
IL  Band:  Eisenzeit.  Mit  189  Abbildungen  im  Text  und  2  Tafeln. 
80.     VI,  324  S.     1898.  Geh.  Ji  l.~~,  in  Leinw.  geb.  Ji  8.— 

—  —  Urgeschichte  Europas.  Grundzüge  einer  prähistorischen 
Archaeologie.  Deutsche  Ausgabe  unter  Mitwirkung  des  Verfassers  be- 
sorgt von  Otto  Luitpold  Jiriczek.  Mit  3  Taf.  in  Farbendr.  u.  160 
Abb.  im  Text.    80.    VIII,  204  S.  1905.         Geh.  Ji^.-,  geh.Jil.— 

Schrader,  Otto,  Reallexikon  der  indogermanischen  Alter- 
tumskunde. Grundzüge  einer  Kultur-  u.  Völkergeschichte  Alt- 
europas.  Lex.  80.  XL,  1048  S.  1901.  Geh.  ^  27.—,  in  Hfr.  geb.  c^  30.— 
Syinons,  B.,  Germanische  Heldensage.  2.  verbesserte  Auflage. 
Lex.  80.  VI,  133  S.  1898.  Geh.  Ji  3.50,  in  Leinw.  geb.  Ji  4.50 
Yogt,  Friedrich,  Geschichte  der  mittelhochdeutschen  Litera- 
tur. 2.  verb.  Aufl.  2.  Abdr.  Lex.  80.  IV,  202  S.  1906. 

Geh.  Ji  4.50,  geb.  Ji  5.50 
Wilmanns,  W.,  DeutscheGrammatik.  Gotisch,  Alt-,  Mittel-  und  Neu- 
hochdeutsch. 

I.  Abteilung:  Lautlehre.  2.  verbesserte  Aufl.  Gr.  80.  XVI,  425  S.  ]897. 

Geh.  Ji  8.—,  in  Halbfranz  geb.  Ji  10.— 
IL  Abteilung:  Wortbildung.    2.  Auflage.    Gr.  8«.   XVI,  671  S.  1899. 

Geh.  ^  12.50,  in  Halbfranz  geb.  ^  15.— 

IIL  Abteilung:    Flexion,    I.Hälfte:    Verbum.     1.  u.  2.  Aufl.     Gr.  80. 

X,  315  S.  1906.  Geh.  Ji  6.— 

Winkel,  Jan,  te,  Geschichte  der  niederländischen  Sprache.  2. 

verbesserte  u.  verm.  Aufl.  Mit  1  Karte.  Lex.  80.  IV,  152  S.  1898.  ^  5.— 

—  —  Geschichte  der  niederländischen  Literatur.  2.  ver- 
bess.  u.  verm.  Aufl.  Lex.  80.  IV,  102  S.  1902.  Geh.  JC  2.50,  geb.  .A  3.50 


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DEUTSCHE  GRAMMATIK 

III.  ABTEILUNG:  I.  HÄLFTE. 


DEUTSCHE  GRAMMATIK 


GOTISCH,  ALT-,  MITTEL-  UND  NEUHOCHDEUTSCH 


VON 


W.  WILMANNS 


O.  PROFESSOR  DER  DEUTSCHEN  SPRACHE  UND  LITERATUR 

AN  DER  UNIVERSITÄT  BONN. 


DRITTE  ABTEILUNG:  FLEXION. 
1.  HÄLFTE:  VERBUM. 

ERSTE  UND    ZWEITE  AUFLAGE. 


STRASSBURG 

VERLAG  VON  KARL  J.  TRÜBNER 
1906. 


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[Alle  Rechte,  besonders  das  der  Übersetzung,  vorbehalten.] 


Vorrede. 

Später  als  ich  gewünscht  und  gehofft  hatte,  erscheint 
der  dritte  Band  meiner  Grammatik,  und  mancher  mag  gezweifelt 
haben,  ob.  ich  ihn  überhaupt  werde  erscheinen  lassen.  An 
dem  Willen  hat  es  nie  gefehlt,  aber  mancherlei  Umstände  des 
äusseren  und  inneren  Lebens,  deren  Darlegung  ich  mir  und 
dem  Leser  ersparen  will,  haben  die  Arbeit  verzögert.  Auch 
jetzt  erscheint  nur  der  erste  Teil  des  Bandes;  doch  darf  ich 
hoffen,  dass  der  zweite,  die  Flexion  des  Nomens,  in  nicht  zu 
langer  Zeit  nachfolgen  werde. 

Wie  in  der  Wortbildung,  so  habe  ich  es  auch  hier  als 
meine  Aufgabe  angesehen,  nicht  nur  die  Geschichte  der  Formen 
sondern  auch  ihres  Gebrauchs  zu  verfolgen,  also  einen  Teil 
dessen  zu  behandeln,  was  gewöhnlich  der  Syntax  zugewiesen 
wird.  Dass  dies  zweckmässig  ist,  wird,  wie  ich  hoffe,  deutlich 
hervortreten,  wenn  ich  zur  Behandlung  der  Syntax  komme. 

In  den  Literaturangaben  bin  ich  nicht  gleichmässig  ver- 
fahren. Zu  den  einzelnen  Paragraphen  der  Formenlehre  auf 
die  bekannten  Hand-  und  Lehrbücher  zu  verweisen,  erschien 
mir  überflüssig.  Da  für  diesen  Teil  der  Grammatik  ein  fest 
begründetes,  leicht  übersichtliches  System  besteht,  so  wird 
jeder,  der  über  einzelnes  weitere  Belehrung  sucht,  sie  ohne 
Mühe  zu  finden  wissen.  Dagegen  hielt  ich  in  dem  Teil,  der 
von  dem  Gebrauch  der  Formen  handelt,  regelmässige  Ver- 
weisungen für  erwünscht.  Die  Bücher,  die  ich  oft  nur  mit 
Abkürzungen  angeführt  habe,  sind  die  folgenden. 

Behaghel,  Der  Gebrauch  der  Zeitformen  im  konjunktivischen 
Nebensatz  des  Deutschen.     Paderborn  1899. 

El  atz.  Neuhochdeutsche  Grammatik  mit  Berücksichtigung  der 
historischen  Entwickelung  der  deutschen  Sprache.  2  Bde.  3.  Aufl. 
Karlsruhe  1895.  1896. 

Bernhardt,  Kurzgefasste  gotische  Grammatik.  Hallea.  S.  1885, 


VI  Vorrede. 

Delbrück,  Vergleichende  Syntax  der  indogernianischcn 
Sprachen  [=  Grundriss  der  vergleichenden  Grammatik  von  K.  Brug- 
mann  und  B.  Delbrück.     Bd.  3—5].     Strassburg  1893-1900. 

Erdmann,  Grundzüge  der  deutschen  Syntax  nach  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwickelung.     Stuttgart  1886. 

Er d mann,  Untersuchungen  über  die  Syntax  der  Sprache 
Otfrieds.    Halle  1874.  1876  [OS.]. 

Mourek,  Syntaxis  slozenych  vet  v  gotstine.  [Syntax  des 
zusammengesetzten  Satzes  im  Gotischen.  Abh.  der  böhmischen 
Kaiser  Franz-Joseph-Akademie  in  Prag.]     1893. 

Wunderlich,  Der  deutsche  Satzbau.    2.  Aufl.    Stuttgart  1901. 

Bonn,  den  20.  IMai  1906. 

W.  Wilmanns. 


Inhalt. 

Flexion  des  Verbums. 

Vorbemerkung  §1  S.  1.  ßezeichnungder  Person  §2  S.  4.  Die 
Endungen  des  Aktivs  §  3  S.  5;  des  Medio-Passivs  §  4  S.  8.  Die 
gotischen  Formen  auf  au  §  5  S.  9.  —  Bezeiclinung  des  Modus. 
Optativ.  Imperativ.  (Konjunktiv.)  §6  S.  10.  —  Die  Nominal- 
formen des  Verb  ums.  Infinitiv  §  7.  S.  12.  Partizipia  §  8  S.  13.  — 
Die  Vorsilbe  ga-  §  9  S.  15.  —  Einteilung  der  Konjugation 
§  10  S.  18. 

Starke  Konjugation. 

Thematische  Verba.  Tempusstämme.  Präsens  §  11  S.  19. 
Perfektum  §  12  S.  21.  Augmenttempora  §  13  S.  23.  —  Ablaut  §  14 
S.  24.  —  1.  Verba  mit  voll  entwickeltem  Ablaut.  Ablaut- 
reihen §  15  S.  25.  Der  e-Typus  §  16  S.  26.  Einfluss  anl.  Konso- 
nanten auf  den  Ablaut  §  17  S.  27.  Tiefstufige  Präsentia  §  18 
S.  28.  Die  2  Sg.  Prät  im  Westgermanischen  §  19  S.  31.  —  2.  Verba 
mit  schwächer  entwickeltem  Ablaut.  Ablautreihen  §  20 
S.  32.  Beseitigung  der  Reduplikation  §  21  S.  35.  Ahd.  Präterita 
mit  inl.  r  §  22  S.  38.  —  Spaltung  und  Umgestaltung  der 
Ablautreihen.  Lautgesetzliche  Änderungen  §  23  S.  39.  Form- 
übertragungen in  der  älteren  Sprache  §  24  S.  41;  im  Nhd.  Präte- 
ritum §  25  S.  42;  im  Präsens  §26  S.  45.  Ausgleich  konsonan- 
tischer Verschiedenheiten.  (Grammatischer  Wechsel  §  27  S.  46.)  — 
Die  Flexionsendungen  der  thematischen  Verba.  Präsens 
S.  28  S.  48.  Präteritum  §  29  S.  52.  Die  Nominalformen  §  30  S.  54.  - 
Jüngere  Entwickelung  §  31  S.  54. 

Athematische  Verba  (Verba  auf  -mi).  Das  Verbum  sub- 
stantivum  §32.  S.  56.  tuon  und  die  Endungen  des  schwachen 
Präteritums  §33,34  S.  59.  stä7i  und  gän  §35  S.  63.  wiljan, 
wollen  §  36  S.  67.     iddja  {hiri)  §  37  S.  69. 

Schwache  Konjugation. 

Die  charakteristischen  Formen  der  schwachen  Verba.  Präteritum 
§38  S.  70  Partizipium  §  39  S.  72.  Erste  schwache  Konju- 
gation. Präsens  §  40  S.  74.  Mittelvokal  im  Prät.  §  41  S.  77;  im 
Part.  §  42  S.  80.  Rückumlaut  §  43  S.  81.  —  Jüngere  Entwickelung 
§  44  S.  82.  Berührung  zwischen  starker  und  schwacher  Konjugation 


VIII  Inhalt. 

§  45  S.  83.  —  Zweite  schwache  Konjugation  §  46  S.  84.  — 
Dritte  schwache  Konjugation.  Präsens  §  47  S.  87.  Präte- 
ritum und  Partizipium  §48  S.  89.  —  Vierte  schwache  Kon- 
jugation §49  S.  90.  —  Jüngere  Formen  der  schwachen  Verba 
§  50  S.  91. 
Präterito-Präsentia. 

Ursprung  §  51  S.  92.  Flexion  des  Präsens  §  52  S.  94.  Jüngere 
Entwickelung  §  53  S.  95.  Imperativ  und  Nominalformen  §  54  S.  97. 
Präteritum  und  Part.  Prät.  §  55  S.  99. 


Gebrauch  der  Verbalformen. 

Die  Nominalformen  des  Verbums.   Die  Partizipia  §56  S.  101. 
Tempus  des  Part.  §  57  S.  102.     Genus  und  Subjekt  des  Part.  §  58 
S.  104.     Part.   Prät.   die   sich   zu   adjektivischem   Gebrauch  nicht 
eignen  §  59   S.  106.     Syntaktische   Verbindungen   der   Partizipia 
§60  S.  108.     Konkurrenz    des  Infinitivs  §61   S.  109.  —  Der   In- 
finitiv.    Vorbemerkung   §62  S.  113.     Der  blosse   Infinitiv. 
Das  Subjekt    des   Inf.    ist    Subjekt    des    regierenden    Satzes  §  63 
S.  114;   ein  abhängiger  Dativ  §  64  S.  117;   ein  abhängiger  Akku- 
sativ §  65  S.  118.     Akkusativ   cum   Infinitiv   §  66,  67   S.  120.     Das 
Subjekt  des  Infinitivs  ist  nicht  ausgedrückt  §  68  S.  122.     Der  sub- 
stantivierte  Infinitiv   §69   S.  123.  —  Der  präpositionale   In- 
finitiv.    Der  Infinitiv   mit  zu  §  70  S.    125;    mit  anderen  Präpo- 
sitionen §  71  S.  129.   —  Konkurrenz  von  Nebensätzen  §  72  S.  131. 
Partizipium  und  Infinitiv  in  zusammengesetzten  Verbal- 
formen. —  Part.  Präteriti  in  Passivformen.  Vorbemerkung* 
§  73  S.  134.    werde7i  c.  Part.  §  74  S.  136.     sein  c.  Part.  §  75  S.  138. 
Doppelt    zusammengesetzte    Passivformen    §  76    S.   141.    —    Zu- 
sammengesetzte   Formen    der    Vergangenheit,     sein    c. 
Part.  §  77  S.  142.    haben  c.  Part.  §  78  S.  144.     sein  und  haben  bei 
intransitiven  Verben  §  79   S.  147.    Verba  der  Bewegung  §  80,  81 
S.  148.     Verba    des    Werdens    §  82  S.  152.     sitzen,   liegen,  stehen, 
bleiben,  sein  §  83  S.  154.     RückbHck  §  84  S.  158.  —  sein  im  Aktiv 
transitiver  Verba   §  85  S.  159.  —   Infinitiv    statt   des   Part.  Prät. 
§  86  S.  161.  —  Zusammengesetzte  Infinitive.  Infinitiv  Passivi 
§  87  S.  163.    Aktiver   Inf.   in   passiver   Bedeutung  §  88  S.  165.  — 
Inf.  Perf.  Akt.   §89  S.  168.  —  Part.   Präsentis    in    zusammen- 
gesetzten Verbalformen  §  90  S.  171.   —  Infinitiv   in  zusammen- 
gesetzten Verbalformen.    Bezeichnung   des  Futurums   im  Got. 
und  Ahd.  §  91  S.  173.     sein  und   werden   mit    dem  Infinitiv   §  92 
S.  176.    werden  mit  dem  Inf.  Perf.  (Fut.  II)  §  93  S.  179. 

Gebrauch   der  Tempora.     Vorbemerkung    §94   S.  180.     Präteri- 
tum in  allgemein  gültigen  Sätzen  §  95  S.  182.     Präsens  historicura 


Inhalt.  IX 

§  96  S.  184.  —  Präteritum  und  Perfektum  §  97,  98  S.  186.  Per- 
tektum  in  Beziehung  auf  Gegenwart  und  Zukunft  §  99  S.  191.  — 
Plusquamperfektum  §  100  S.  193.  ~  Futurum  und  Fut.  II  §  101 
S.  195.  —  Das  Tempus  des  irrealen  Opt.  Prät.  §  102  S.  196.  — 
Tempus  gebrauch  in  indirekten  Sätzen;  nach  einem  Prä- 
sens und  Präteritum  §  103  S.  199;  nach  einem  Perfektum  und 
aoristischen  Präsens  §  104  S.  202.  Bezeichnung  des  relativen 
Zeitverhältnisses  §  105  S.  203.  Konsekutio  Temporum  §  106 
S.  205.  -  Vorsilbe  ge-  §  107,  108  S.  210. 
Gebrauch  der  Modi.     Indikativ  §  109  S.  216. 

Die  subjektiven  Modi  im  Hauptsatz.  Imperativ  und 
Opt.  Präs.  als  Voluntativ  §  110  S.  219.  Verba  ohne  Imperativ 
§  111  S.  222.  Umschreibungen  des  Imperativs  §  112  S.  223.  — 
Der  Optativ  Präsentis  als  Dubitativ,  Deliberativ,  Potentialis 
§  113  S.  225.  —  Der  Optativ  Präteriti  als  Irrealis  in  Aussage- 
sätzen §  114  S.  227;  in  Wunschsätzen  §  115  S.  230;  als  Deliberativ 
§  116  S.  232. 

Die  Modi  im  Nebensatz.  Vorbemerkung  §  117  S.  235.  Der 
Imperativ§  118 S. 236.  —  Der  Optativ  in  indirekten  Sätzen. 
Vorbemerkung  §  119  S.  237.  Indirekte  Aussagesätze  im  Optativ 
§  120,  121  S.  238;  im  Indikativ  §  122  S.  241.  Indirekte  Fragesätze. 
Ergänzungsfragen  im  Optativ  §  123  S.  245;  im  Indikativ  §  124 
S.  247.  Jüngere  Entwickelung  §  125  S.  248.  Entscheidungsfragen 
§126  S.  249.  —  Opt.  in  Absichts-  und  Forderungssätzen 
§  127—129  S.  251.  Jüngere  Entwickelung.  Umschreibungen  §  130 
S.  156.  (Die  Negation  in  Sätzen,  die  von  Verben  mit  prohibitiver 
Bedeutung  abhängen  §  131  S.  258.)  —  Opt.  in  konzessiven 
Nebensätzen  §132  S.  260.  —  Opt.  in  Relativsätzen  nach 
al  und  nach  Superlativen  §133  S.  263. 

Der  Optativ  Präteriti  als  Irrealis  in  Bedingungssätzen 
§  134  S.  264;  in  anderen  Sätzen  §  135  S.  266. 

Der  Optativ  in  vergleichenden  Nebensätzen;  nach 
einem  Komparativ  §  136  S.  268;  nach  g.  faurpizei,  ahd.  er  etc. 
§  137  S.  271;  nach  zu  —  ah  dass  §  138  S.  273;  nach  als  oh  §  139 
S,  273.  —  Der  Optativ  unter  dem  Einfluss  einer  Negation 
im  Hauptsatz.  Der  abhängige  Satz  ist  positiv  §  140  S.  274; 
negativ  §  141  S.  278.  (Gebrauch  der  Negation  im  abh.  Satz 
§  142  S.  282.)    Exzipierende  Sätze  §  143  S.  284. 

Der  Potentiale  Optativ  in  Nebensätzen,  die  gewöhn- 
lich im  Indikativ  stehen.  Der  Hauptsatz  steht  im  Indikativ 
§  144  S.  287;  im  Imperativ  oder  Optativ  §  145—147  S.  290;  im 
Irrealis  §  148  S.  296. 

Moduswechsel  in  koordinierten  Sätzen  §  149  S.  298. 
Gebrauch  des  Passivs.    Beschränkter  Gebrauch  der  Passivformen 


X  Inhalt.  —  Berichtiffunffen. 


ö' 


§  150  S.  302.     Subjekt   des  Passivs   §  151   S.  304.     Konkurrenzen 

§  152  S.  305. 
Gebrauch  des  Numerus.    Kongruenz  von  Subjekt  und  Prädikat 

§  153  S.  305.      Bezeichnung    einer    einzelnen    Person    durch    den 

Plural  §  154  S.  310. 
Gebrauch  der  Personalformen  §155  S.  313. 


Berichtigungen. 

S.  49  Z.  14  1.  2.  -ats  statt  2.  3.  -ats.  —  S.  53  Z.  6  1.  2.  -uts  st.  2.  3.  -uts-, 
(vgl.  S.  7  und  S.  305).  —  S.  75  Z.  4  von  unten  1.  Anz.  17,  65  st. 
Anz.  17,  61. 


Flexion  des  Verbums. 

11.  1.  In. allen  indogermanischen  Sprachen  treten  uns  mehr 
oder  ^weniger  entwickelte  Konjiigationssysteme  entgegen^  in 
denen  Person  und  Numerus,  Tempus,  Modus  und  Genus  unter- 
schieden werden.  Eine  lange  Zeit  muss  erforderlich  gewesen 
sein,  diese  reich  gegliederten  Systeme  auszubilden;  die  Fülle 
von  Sprachformen,  die  wir  in  den  fertigen  Sprachen  vorfinden, 
können  nicht  durch  einen  Schöpfungsakt  ins  Leben  getreten 
sein,  und  erst  allmählich  können  sich  die  mannigfachen  Formen 
zu  den  Systemen  zusammengeschoben  haben,  die  wir  jetzt 
als  Konjugationen  bezeichnen. 

2.  Bei  der  Frage,  wie  weit  das  System  schon  in  der 
indogermanischen  Ursprache  ausgebildet  war,  ist  zweierlei  zu 
unterscheiden:  1.  welche  Formen  waren  bereits  im  Idg.  vor- 
handen, und  2.  wie  verhielten  sich  diese  Formen  hinsichtlich 
der  Bedeutung.  Man  muss  sich  hüten,  die  Bedeutung,  die  wir 
jetzt  mit  den  Formen  verbinden,  als  ihre  ursprüngliche  anzu- 
sehen. Als  etwas  für  das  Verbum  besonders  charakteristisches 
erscheint  uns  jetzt  die  Möglichkeit,  durch  seine  Formen  ver- 
schiedene Zeitstufen  zu  bezeichnen  —  Zeitwort  pflegen  wir 
es  in  unserer  Sprache  zu  nennen  —  aber  viele  der  Formen, 
die  späterhin  zur  Tempusunterscheidung  dienen,  hatten  ur- 
sprünglich einen  ganz  anderen  Sinn ;  sie  dienten  zur  Bezeich- 
nung der  Aktionsart.  Man  bildete  und  brauchte  andere 
Formen,  wenn  man  sich  die  Handlung  in  ihrem  Verlauf  vor- 
stellte (imperfektive  oder  kursive  Aktionsart),  andere,  wenn 
man  einen  einzelnen  Punkt,  sei  es  den  Ausgangs-  oder  End- 
punkt der  Handlung  ins  Auge  fasste  (perfektive  oder  termi- 
native  A.),  wieder  andere,  wxnn  die  Handlung  aus  wiederholten 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik  III.  1 


Flexion  des  Verbums.  [§  1. 


gleichen  Akten  bestand  (iterative  A.)  ^).  In  den  Flexions- 
systemen mancher  Sprachen  haben  sich  solche  Unterschiede 
erhalten,  in  anderen  sind  sie  untergegangen  oder  umgedeutet. 
In  dem  Flexionssystem  der  germanischen  Sprachen  finden  sie 
keinen  Ausdruck  mehr.  Wo  wir  einen  Unterschied  zwischen 
verschiedenen  Aktionsarten  empfinden,  liegt  er  im  Verbum 
selbst,  nicht  in  der  Flexion  (§  9.  82). 

[o.  Ein  gleichmässig  über  alle  Verba  verbreitetes  Flexions- 
system gab  und  gibt  es  nicht.  Je  nach  der  Bedeutung  der 
Wurzel  waren  diese  oder  jene  Formen  gebildet.  Bedeutungs- 
entwickelung konnte  dahin  führen,  dass  gewisse  Formen  die 
Funktion  anderer  übernahmen,  so  dass  diese  abstarben  und 
die  Zahl  der  Formen  vermindert  wurde;  sie  konnte  ander- 
seits dazu  führen,  dass  Formen,  die  ursprünglich  nur  für  ge- 
wisse Verba  galten,  oder  nur  von  gewissen  Stammformen  ge- 
bildet waren,  auf  andere  übertragen  wurden  und  sich  neben 
den  älteren  Bildungen  festsetzten ;  dann  wurde  das  Flexions- 
system erweitert;  sie  konnte  endlich  zur  Vereinigung  ver- 
schiedener Wurzeln  zu  einem  Paradigma  führen,  wie  dies  noch 
jetzt  bei  unserem  Verbum  subst.  der  Fall  ist. 

<^4.  Das  Germanische  hat  von  dem  ererbten  Formenreichtum 
vieles  fallen  lassen;  welche  Bedeutung  und  Verbreitung  aber 
die  Formen  zu  der  Zeit  hatten,  da  sie  aufgegeben  wurden, 
und  wie  sich  die  überlebenden  Formen  in  ihrer  Bedeutung 
zu  ihnen  verhielten,  das  ist  eine  Frage,  die  noch  ungelöst  ist 
und  nur  auf  dem  Boden  der  vergleichenden  Sprachforschung 
behandelt  werden  kann^). 

5.  Unsere  jetzige  Sprache  unterscheidet  drei  Personen, 
zwei  Numeri,  zwei  Tempora,  drei  Modi.  Ebenso  war  im 
wesentlichen  schon  das  germanische  Konjugationssystem  ge- 
gliedert;   nur    das    Gotische    bewahrt    noch    Eeste   einer  selb- 

1)  Über  das  Verhältnis  von  'Aktionsart  und  Zeitstufe'  im 
aligemeinen  handelt  Her  big,  IF.  6,  157—268.  Gegen  seine  Aus- 
führungen richtet  sich  Meltzer,  zur  Lehre  von  den  Aktionen,  bes. 
im  Griechischen,  IF.  17, 186—277.  Zusammenfassend  D  elbr.  4,  14  f  , 
dazu  Streitberg'S  Kritik  in  IF.  Anz.  11,  57  f. 

2)  Vgl.  den  anregenden  Aufsatz  von  Hirt,  Über  den  Ursprung 
der  Verbalflexion  im  Indogermanischen.     IF.  17,  36 — 84. 


§  1.]  Flexion  des  Verbums.  3 

ständigen  Dualbildimg-  und  spärliche  Überbleibsel  eines  Medio- 
Passiys.  Andere  Formen,  wie  der  Konjunktiv,  die  Augment- 
Tempora  und  zwei  mit  s  gebildete  Tempora  (Fut.  und  Aor.), 
waren  schon  im  ürgermanischen  aufgegeben  oder  auf  geringe 
Reste  eingeschränkt  (§  6  Anni.  §  8  Anm.  3.  §  13.  19.). 

/6.  Nicht  alle  Beziehungen,  die  wir  in  den  Verbalformen 
wahrnehmen,  hat  die  Sprache  durch  besondere  Elemente  aus- 
gedrückt. Die  Suffixe,  welche  die  Person  bezeichnen,  unter- 
scheiden zugleich  Numerus  und  Genus;  nur  der  Bildung  der 
Modi  und  Tempora  dienen  noch  andere  Elemente ;  doch  werden 
auch  diese  zum  Teil  schon  durch  die  Personaleuduugen  unter- 
schieden. —  <Die  Personalendungen  stehen  stets  an  letzter 
Stelle  und  geben  dem  Verbum  sein  eigentümliches  Gepräge: 
sie  charakterisieren  es  in  seiner  wesentlichsten  Funktion,  als 
Mittelpunkt  des  Prädikats  (Verb,  finitum).  Die  Elemente,  die 
den  Modus  bezeichnen,  gehen  der  Personalendung  voran.  Die 
Tempusunterscheidung  wird  auf  mannigfache  Weise  gewonnen; 
auf  der  Art  ihrer  Bildung  beruht  in  erster  Linie  die  Einteilung 
der  Verba  in  verschiedene  Konjugationen.  —  Zu  den  Verbal- 
formen ri^chnet  man  auch  gewisse  Nominalbildungen  substan- 
tivischer und  adjektivischer  Natur  (Infinitiv  und  Partizipium). 
Als  Glieder  des  Konjugationssystems  erscheinen  sie  teils  da- 
durch, dass  sie  von  allen  Verben  oder  von  allen  Verben  einer  be- 
stimmten Art  gebildet  werden,  teils  dadurch,  dass  sie  sich  von  den 
übrigen  Nominibus  in  ihrem  syntaktischen  Gebrauch  unterscheiden. 

(Y  Wir  betrachten  zunächst  die  Elemente,  die  allen  Verben 
gemeinsam  sind:  die  Mittel,  durch  welche  Person  und  Modus 
bezeichnet  werden;  dann  die  Suffixe  der  Nominalformen  und  lassen 
darauf  die  Behandlung  der  verschiedenen  Konjugationen  folgen. 
8.  Personal-  und  Modus  Suffixe  bilden  einen  wesentlichen 
Bestandteil  der  Flexionsendungen,  sind  aber  damit  nicht 
identisch.  Die  Flexionsendungen  beruhen  vielfach  auf  einer 
Verschmelzung  jener  Suffixe  mit  Bestandteilen  des  Stammes; 
sie  können  nur  im  Anschluss  an  die  einzelnen  Konjugationen 
behandelt  werden.  Hier  kommt  es  auf  die  Personal-  und 
Modussuffixe  an  sich  an,  wie  sie  die  Vergleichung  der  ver- 
wandten Sprachen  kennen  lehrt. 


4  Bezeichnung  der  Person.  [§  2. 

Bezeichnung  der  Person^). 

<  2.  1.  Personalsuffixe  bilden  in  den  meisten  Verbalformen 
den  letzten  etymologisch  abtrennbaren  Bestandteil.  Der  blosse 
Stamm  zeigt  sich  nur  in  der  2  Sg.  Imp.  idg.  "^neme,  g.  7iim 
und  in  der  1  Sg.  Präs.  idg.  nemo,  g.  nima.  Zwar  unter- 
scheiden sich  die  Endungen  auch  dieser  Formen  durch  den 
Ablaut  des  auslautenden  Vokals,  aber  dieser  Vokal  ist  keine 
Personalendung,  sondern  gehört  dem  Stamm  an.  In  diesen 
beiden  Formen  liegen  also  möglichst  einfache  und  gewiss  ur- 
alte Bildungen  vor.  Doch  darf  man  daraus  nicht  schliessen, 
dass  man  zuerst  das  Bedürfnis  gefühlt  habe,  für  die  1  Sg. 
Präs.  und  2  Sg.  Imp.  besondere  Formen  auszuprägen.  Die 
bestimmte  Bedeutung,  die  diese  Formen  jetzt  haben,  erwuchs 
ihnen  erst  durch  die  Bildung  anderer  Verbalformen.  Nach- 
dem in  diesen  die  persönliche  Beziehung  durch  besondere 
Suffixe  bezeichnet  war,  blieb  die  einfache  Stammform  für  die 
Fälle  übrig,  wo  das  Bedürfnis  die  persönliche  Beziehung  aus- 
zudrücken am  geringsten  war:  wenn  der  Redende  von  sich 
selbst  etwas  aussagte,  oder  wenn  er  von  dem  Angeredeten 
etwas  forderte^). 

\^.  In  den  Formen,  die  Personalendungen  haben,  wird 
dieselbe  Person  nicht  immer  durch  dasselbe  Suffix  bezeichnet. 
So  weit  die  Endungen  verwandt  sind,  zeigen  sie  bald  eine 
vollere,  bald  eine  schwächere  Gestalt;  jene  pflegt  man  als 
primär,  diese  als  sekundär  zu  bezeichnen;  ob  aber,  wie 
der  Name  andeutet,  die  sekundären  Endungen  aus  den  pri- 
mären entstanden  sind,  dadurch  dass  das  Verbum  enklitisch 
oder  konjunkt  stand,  oder  umgekehrt  die  primären  aus  den 
sekundären,  dadurch  dass  Partikeln  angehängt  wurden,  ist 
zweifelhaft'^).     In    den    historischen   Sprachen    erschienen    die 


1)  Brgm.  2,  1330  t  Bethge  S.  379  f. 

2)  Hirt  (IF.  17,  50.  77  f.)  rechnet  für  die  1  Sg.  Präs.  mit  der 
^Möglichkeit,  dass  sie  ursprünglich  auf  -öm  ausging,  also  ein  Suffix 
hatte.  Und  weiter  wirft  er  die  Frage  auf,  ob  nicht  in  der  1  Sg. 
und  3  Sg.  Perf.  auf  idg.  a,  e  endungslose  Bildungen  zu  sehen  seien. 
Ablaut  S.  155.    IF.  17,  66. 

3)  Delbr.  4,  354.    Hirt  IF.  17,  74. 


§  3.]  Die  Endungen  des  Aktivs.  5 

verschiedenen  Endungen  jedenfalls  in  fester  Verbindung  mit 
gewissen  Tempus-  und  Modusformen,  so  dass  sie  zu  Mitteln 
der  Tempus-  und  Modusuntersclieidung*  geworden"  sind.  Primäre 
Endungen  kamen  dem  Ind.  Präs.  zn,  sekundäre  dem  Injunktiv 
(§  6,  2)j  den  Augmenttempora  und  dem  Optativ.  Der  Ind. 
Perf.  hat  im  Dual  und  Plural  sekundäre  Endungen^  im  Singular 
eigentümliche,  abweichend  gebildete.  Sehr  eigentümliche  En- 
dungen, die  zum  Teil  wesentlich  anderen  Ursprungs  sind  als 
die  übrigen  Personalendungen,  treten  auch  im  Imperativ  auf 
(Brgm.  II,  1330  f.  1315  f.). 

/3.  In  den  germanischen  Sprachen  erscheinen  die  Endungen 
von  Anfang  an  stark  verstümmelt.  Schon  im  Gotischen  ist 
von  den  ursprünglich  auslautenden  Konsonanten  nur  s  erhalten; 
verschwunden  sind  auch  die  ursprünglich  auslautenden  kurzen 
Vokale  (I  §  149.  256).  Wo  wir  also  im  Gotischen  kurze 
Vokale  am  Ende  finden,  können  sie  nicht  ursprünglich  sein, 
und  wo  die  Konsonanten  p,  d,  m  das  Wort  schliessen,  muss 
ihnen  ursprünglich  noch  ein  anderer  Laut  gefolgt  sein. 

[Anm.  Manche  Personalendungen  scheinen  auf  Verwandtschaft 
mit  Pronominibus  hinzuweisen;  vgl.  z.  B.  das  m  in  der  1  Sg.  und 
PI.  mit  dem  m  in  den  Casus  obliquis  des  persönlichen  Pronomens, 
das  t  in  der  3.  Sg'.  und  PI.  mit  dem  Anlaut  des  Demonstrativums, 
Aber  die  alte  Ansicht,  dass  die  Verbalformen  durch  eine  Ver- 
schmelzung der  Verbalstämme  mit  den  persönlichen  Pronomen  ent- 
standen seien,  hat  sich  als  unhaltbar  erwiesen,  und  noch  weniger 
haltbar  ist  die  Anschauung,  dass  in  der  Verbindung  von  Verbal- 
stamm und  Endung  das  grammatische  Verhältnis  von  Subjekt  und 
Prädikat  Ausdruck  gefunden  habe  (vgl.  Brgm.  II,  838  f.)i).  Die  ur- 
sprünghche  Bedeutung  der  Personalendungen  ist  uns  unbekannt. 
Dass  das  Verbalsystem  nicht  durch  einen  einheitlichen,  auf  die  Be- 
zeichnung der  Person  gerichteten  Schöpfungsakt  entstanden  ist,  er- 
gibt sich  schon  daraus,  dass  für  dieselbe  Person  verschiedene 
Endungen  gebraucht  werden. 

'^  3.  (Die  Endungen  des  Aktivs.)  1  Sg.  primär  -m?,  g.  m\ 
z.  B.  gr.  i-(TTr|-]ui,  g.  im  ich  bin,  ahd.  ö-im,  gäm,  stäm  etc.  — 

1)  Zum  Teil  sind  die  Formen  des  Verbum  fin.  zweifellos 
nominalen  Ursprungs.  Neuerdings  hat  Hirt  sogar  die  Hypothese 
zu  erweisen  gesucht,  dass  das  idg.  Verbalsystem  durchaus  nominalen 
Ursprungs  sei. 


Bezeichnung"  der  Person.  [§  3! 


Sekundär  -m,  g-.  — ;  z.  B.  gr.  e-qpepo-v,  1.  sie-m,  g\  tcuäda 
(urgerm.  ^tawidö-n).  —  Perf.  a,  g.  — ;  z.  B.  gr.  oTba,  g.  i{;aif. 

(2  Sg.  primär  -si,  z.  B.  gr.  ecr-ai.  In  den  germanisclien 
Sprachen  musste  sich  je  nach  der  Betonung  s  oder  stimmhaftes 
z  ergeben.  Für  die  Mehrzahl  der  Verba  wäre,  wenn  nur  die 
idg.  Betonung  (Verners  Gesetz)  in  Betracht  kam,  z  zu  erwarten, 
und  auf  diese  Form  weist  allgemein  das  An.  Im  Hochdeutschen 
dagegen  gilt  umgekehrt  allgemein  stimmloses  5,  vielleicht  unter 
dem  Einfluss  des  oft  inklinierten  Pronomens.  Welchen  Laut 
das  Gotische  voraussetzt,  ist  nicht  zu  erkennen,  da  im  Gotischen 
ausl.  z  wieder  zu  s  verhärtet  wurde.  Formen  mit  enklitischem 
-u  oder  -uh,  welche  die  Entscheidung  geben  würden,  fehlen.  — 
Sekundär  s\  z.  B.  1.  sie-s,  gr.  e-cpepe-q,  g.  c<?  <i  z\  z.  B.  wileiSj 
aber  wüeiz-u.  Im  Hd.  musste  der  Laut  abfallen,  und  dem- 
gemäss  heisst  es  wili  du  willst,  auch  bäri  du  trügest  (§  19); 
aber  im  allgemeinen  haben  die  Formen,  denen  sekundäre 
Endung  zukommt,  unter  dem  Einfluss  der  andern,  oder  auch 
des  enklitischen  Pronomens  s  behauptet ;  also  ahd.  2  Sg.  Opt. 
heres,  2  Sg.  Prät.  hörtös  du  hörtest.  —  Perf.  -tha,  gr.  oTaöa. 
Diese  Endung  musste  im  Germ,  nach  /",  Ji,  s  als  t  erscheinen, 
g.  parf-t  bedarfst,  ahd.  mah-t  kannst,  fji-tars-t  wagst;  mit 
dentalem  Auslaut  ss  ergeben,  in  anderen  Fällen  zu  p  ver- 
schoben werden;  aber  t  ist  verallgemeinert;  z.  B.  g.  warnt  zu 
icalrpan,    qasf   zu  qipan,    haust  zu  biudan,    namt  zu  niman, 

1^  Sg.  primär  -fi,  gr.  ecr-ii,  ebenso,  un verschoben  nach 
dem  Lautgesetz,  g.  ahd.  is-t.  Sonst  musste,  je  nach  der  Be- 
tonung germ.  p  oder  d  eintreten.  Das  Got.  und  x\hd.,  nicht 
das  Ae.,  setzen  allgemein  d  voraus;  im  Got.  musste  dies  d 
wieder  stimmlos  werden,  also  regelmässig  hairip,  söleip,  aber 
daneben  auch  bairid,  taujid  (Br.  §  74  A.  1);  im  Hd.  trat 
Verschiebung  zu  t  ein:  birit,  suochit.  —  Sekundär  -t, 
germ.  — ;  z.  B.  1.  sie-t,  era-t,  g.  will  er  will,  ahd.  si  er  sei.  — 
Perf.  -e,  germ.  — ;  z.  B.  gr.  oibe,  g.  wait. 

lAnm.  Die  auffallende  Erscheinung,  dass  im  Hd.  in  der  2. 
PersorT  der  stimmlose,  in  der  3.  der  stimmhafte  Spirant  zu  all- 
gemeiner Geltung  gekommen  ist,  stützt  die  Annahme,  dass  der 
Laut  der  2.  Pers.  unter  der  Einwirkung  des  enkl.  Pron.  steht. 


i?  3.]  Die  Eiidung-eu  des  Aktivs. 


^1  Dil.  Primär  -iieSj  -tios,  ai.  hJidrä-vas  =  g*.  hairös 
<C  %erö-ues  mit  laiitgesetzlicher  Unterdrückung'  des  kurzen 
Vokales  und  Schwund  des  u  im  Langdiphthongen  (vgl.  Streit 
berg  §211).  —  Sekundär  -ue.  Diese  Form  ist  im  Got.  nur 
durch  magit  <  majuue  belegt;  ob  tt  lang  oder  kurz  ist,  ist 
nicht  zu  entscheiden.  Eine  Endung  mit  gedehntem  Vokal, 
-ue  oder  -uö  setzt  die  1   PL  Opt.  voraus,  g.  sitai-wa. 

^2  Du.  Primär  -thes  oder  -thas,  ak,  hhdra-thas.  Im 
Germ,  sollte  man  für  idg.  th  p  oder  d,  im  Got.  also  als  Endung 
'ps  erwarten,  es  lieisst  aber  -ts  :  nimats'^  Erklärung  unsicher 
(Streitberg  §  211).  —  Sekundär  -tom,  gr.  e-cpepe-iov.  Diese 
Endung  hat  man,  doch  schwerlich  mit  Eecht,  in  der  hd.  2  PI. 
Präs.  (§  28,  5)  vermutet,  als  Dualendung  ist  sie  im  Germ,  nicht 
nachweisbar.  Die  Formen,  in  denen  man  sie  erwarten  sollte, 
die  2  Du.  Opt.  und  Perf.  zeigen  im  Gotischen  die  primäre 
Endung  ts:  7iimai-ts,  nemu-ts. 

<{l  PL  Für  die  idg.  Ursprache  sind  verschiedene  Suffixe 
vorauszusetzen:  primär  -mes,  -mos  (dor.  qpepo-juec;,  lat.  feri- 
mus),  sekundär  -men,  -me  (gr.  e-qpepo-iuev,  ai.  d-hharä-ma). 
Die  gotische  Indikativendung  -m  (bairam,  herum)  lässt  sich 
sowohl  auf  die  primären  als  auf  die  sekundären  Endungen 
zurückführen,  auf  jene  durch  Unterdrückung  des  kurzen  Vokals 
und  Assimilation  von  ms  wie  im  Dativ  Plur.,  auf  diese  durch 
Schwund  des  auslautenden  Konsonanten  und  Vokales.  Auf 
sekundäres  -me  mit  gedehntem  Vokal  weist  der  Opt.,  g.  hairai- 
ma,  herei-TYia. 

Eine  abweichende  Bildung  ist  ahd.  -mes.  Dass  diese 
Endung  nicht  auf  das  primäre  Suffix  -mes  zurückgeführt 
werden  kann,  zeigt  sowohl  der  lange  Vokal  als  das  ausl.  .s. 
Eine  sichere  Erklärung  ist  noch  nicht  gefunden.  Wenn  die 
Form  altes  idg.  Erbteil  ist,  so  wäre  als  ursprüng'liche  Endung  -niesi 
vorauszusetzen,  und  diese  hätte  ihre  nächsten  Verwandten  in  ai. 
-masi  und  air.  -mi.  Das  ai.  -masi  unterscheidet  sich  von  der  hoch- 
deutschen Form  durch  die  Quantität,  das  air.  -mi  lässt  sich  so- 
wohl auf  -mesi  als  auf  -me.si  zurückführen  (Brgm.  2,  1354),  könnte 
also  genau  dieselbe  Endung  voraussetzen  wie  das  Hochdeutsche. 
Dass  aber  von  allen  germanischen  Sprachen  nur  das  Ahd.  diese 
mit  dem  Keltischen  übereinstimmende  Endung  bewahrt  haben  sollte, 


8  Bezeichnung  der  Person.  [§  4. 

wäre  doch  sehr  auffallend.  Daher  versuchte  schon  A.  Kuhn  in 
seiner  Zeitschrift  18,  832  f.  die  Form  als  eine  junge  hd.  Bildung- 
zu  erklären,  die  durch  Verschmelzung  des  Pron.  pers.  mit  dem 
Verbum  entstanden  sei.  Doch  ist  auch  diese  Erklärung,  die  Paul 
(PBb.  4,  421)  anerkannte  und  neuerdings  Hirt  (IF.  17,  73)  wieder 
aufgenommen  hat,  sehr  bedenklich  und  durch  ähnliche  Vorgänge  in 
jungen  Mundarten  (bair.  tnw  genirae,  gemme  mir  =  wir  geben  wir, 
geben  wir  wir)  nicht  genügend  gestützt. 

r^  PI.  Primär  -the,  sekundär  -te.  Ob  der  Unterschied 
wirklich  galt  (Hirt  IF.  17^  69  f.)  ist  für  uns  gleichgültig.  Für 
das  Germanische  ist  wie  für  die  andern  europäischen  Sprachen 
-te  als  ursprüngliche  Endung  vorauszusetzen ;  vgl.  gr.  e-cpepe-re, 
cpepoi-xe,  Imp.  cpepe-ie.  Je  nach  der  Betonung  ergab  sich 
daraus  jb  oder  d^  aber  wie  in  der  3  Sg.  setzen  das  Got.  und 
Hd.  Verallgemeinerung  des  d  voraus,  das  im  Got.  dann  im 
Auslaut  regelrecht  als  p  erscheint,  im  Hd.  zu  t  verschoben- 
ist:  g.  bairip,  bairai-p,  bertc-p,  berei-p  (aber  qipi-d-uTiy  icairpai- 
d-uJi  etc.);  ahd.  bere-t,  beret  etc. 

\3  PI.  Primär  -nü,  z.  B.  ai.  bhdra-nti,  dor,  cpe'po  vti; 
daraus  im  Germanischen  je  nach  der  Betonung  -np  oder  -nd. 
Wie  in  der  3  8g.  ist  d  im  Got.  und  Hd.,  nicht  aber  im  Ae. 
As.,  verallgemeinert:  g.  baira-nd,  ahd.  bera-nt.  —  Nach  einem 
konsonantisch  auslautenden  unbetonten  Stamm  gilt  idg.  'e7iti, 
germ.  -hid :  g.  s-ind,  ahd.  s-inf  (Brgm.  2,  1369).  Die  Er- 
weichung des  Spiranten  auch  in  dieser  Form  erklärt  sich  ver- 
mutlich aus  ihrem  enklitischen  Gebrauch.  —  Sekundär  -7it, 
-nt\  z.  B.  1.  si-nty  fem  nt,  ferant.  Im  Germ,  erscheint  das 
Suffix  in  der  3  PI.  Prät.  g.  beru-n,  ahd.  bäru-ii.  Im  got. 
Opt.  ist  es  nach  Analogie  der  1  Du.  und  PI.  zu  -na  erweitert: 
bairai-na,  berei-na.  Ahd.  bere-n^  bäri-n  lassen  sich  sowohl 
auf  die  einfache  als   auf  die  verlängerte  Form  zurückführen. 

l4.  (Die  Endungen  des  Medio-Passivs.)  Die  eigentüm- 
lichen Formen  des  Medio-Passivs  sind  in  den  germanischen 
Sprachen  früh  untergegangen.  Nur  im  Gotischen  werden  noch 
einige  gebildet  und  nur  vom  Präsensstamm.  Im  Perf.,  das 
sich  schon  im  Idg.  seltener  mit  ihnen  verband  (Delbr.  4,  415), 
fehlen  sie  ganz.     Drei  Formen  kommen  noch  in  Betracht:  die 


^  5.]  Die  gotischen  Formen  auf  au.  9 

2  Sg*.  lind  die  3  Sg.  und  PI.  Ihre  Endungen  standen  zu 
den  aktiven  in  regelrechtem  Ablautsverhältnis.  Die  primären 
gingen  im  Medium  auf  -ai,  im  Aktiv  auf  -i  aus,  die  sekundären 
im  Medium  auf  o,  im  Aktiv  entbehrten  sie  des  Vokals.  Die 
primären  Endungen  -sai,  -tai,  -ntai  (gr.  bi-bo-crai,  qpepe-ai  << 
*q)epe-crai,  cpepe-xai,  cpepo-viai)  sind  erhalten  im  got.  Ind.  haira- 
zn,  haira-da,  haira-nda\  die  sekundären  -so,  -tOy  -nto  (gr. 
e-bi-bo-cro,  qpepoi-o  <C  "^cpepoi-cro,  cpepoi-vxo)  sind  im  got.  Opt. 
erweitert  zu  -zauy  -dau,  -ndau:  hairai-zau,  hairaidau,  hairai- 
ndau  (§  5).  Die  Spiranten  sind  erweicht  wie  in  der  3  Sg. 
und  PI.  Akt.  —  Die  3  Sg.  dient  im  Got.  zugleich  als  1  Sg., 
die  3  PL  als   1  und  2  PI.  (vgl.  IF.   17,  71). 

Anm.  Vereinzelter  Rest  einer  1  Sg\  Präs.  in  an.  heite  ich 
heisse  (Sievers  PBb.  6,  561  f.).  —  Über  Spuren  einer  anderen  sekun- 
dären Endung-  in  der  2.  Sg.  (idg.  -thes)  s.  §38,3. 


/?. 


[5.  (Die  gotischen  Formen  auf  -au.)  Das  gotische  Verbum 
hat  sieben  auf -rt^t  ausgehende  Formen:  1  Sg.  Opt.  Akt.  Präs. 
und  Prät.  hairau,  herjait\  die  Formen  des  Opt.  Med.  hairai- 
daitj  bairaizau,  bairaidau;  die  3  Sg.  und  PL  Imp.  hairadaii 
und  hairandau.  Von  den  übrigen  germanischen  Sprachen  weist 
nur  noch  das  An.  in  der  1  Sg.  Opt.  Präs.  auf  die  Endung  au. 
Eine  sichere  Erklärung  fehlt  und  auch  die  jüngsten  Unter- 
suchungen von  van  Helten  (PBb.  28,  546  f.)  und  von  Walde  und 
Janko  (IF.  Anz.  15,  263)  haben  in  diesem  Punkte  kaum  gefördert. 

Anm.  Die  1  Sg.  Opt.  erklärte  Paul  (PBb.  4,  378)  durch  Kon- 
traktion aus  *öer<:yz/ ■<  idg,  hlieroim^  und  Kluge  (Grdr.  P,  448)  be- 
zeichnet diese  Erklärung  als  die  einzig  haltbare;  abersiegestattet  keine 
Anwendung  auf  die  andern  Formen.  —  Hirt  (IF.  1,  206.  6,  58  f.  7,  179) 
nimmt  an,  dass  au  in  diesen  Formen  nicht  den  Diphthongen,  sondern 
kurzes,  offenes  o  bezeichne;  bairau  sei  eine  alte  Konjunktivform, 
idg.  bheräm  (g.  aü  verkürzt  aus  germ.  -öm);  die  Imperative  baira- 
cJau,  bairandau  seien  den  ai.  medialen  Imperativen  bhdra-täm, 
hhära-ntäm  gleichzustellen  (vgl.  Brgm.  2,  1328.  1325  A.).  Aber  dass 
am  sich  zu  au  entwickelt  habe,  ist  nicht  nachweisbar  und  für  den 
Opt.  Perf,  und  Medii  fehlen  auch  die  entsprechenden  Grundformen. — 
Nach  einem  dritten  von  Bethge  S.  372  angenommenen  Erklärungs- 
versuch wäre  eine  Partikel  u  mit  den  Verbalformen  verschmolzen. 
Diese  Annahme  hat  den  Vorzugr,  dass  sie  das  au  in  allen  Formen 
auf  gleiche    Weise   erklärt,    auch    die  Lautentwickelung    würde   in 


10  Bezeichnung-  des  Modus.  [§  G. 

den  meisten  keine  Schwierigkeit  machen,  sowohl  die  medialen  En- 
dungen -.so,  -to,  -nfo  als  die  Endung  des  Opt  Perf.  -ze-m  und  die 
Imperativenduiig  -töd  (§6,2)  würde,  nachdem  das  germ.  Auslaut- 
gesetz die  auslautenden  Konsonanten  beseitigt  hatte,  durch  Ver- 
schmelzung mit  der  Partikel  u  die  vorliegenden  Formen  haben  er- 
geben können,  nur  hairait  Hesse  sich  nicht  wohl  auf  eine  alte 
Optativbildung  zurückführen.  Diese  Form  führt  Bethge  auf  herö  -\-  u 
zurück  und  nimmt  hei^ö  als  „einen  in  konjunktivischer,  später  auch 
optativischer  Bedeutung  verwandten  Indikativ".  Das  Hauptbedenken 
gegen  diese  Theorie  ist,  ob  man  überhaupt  für  das  Germ,  den  Ge- 
brauch der  Partikel  u  voraussetzen  darf. 


Bezeichnung  des  Modus. 

L6.  1.  Unter  den  Formsystenien,  die  man  als  Modi  be- 
zeichnet, ist  nur  eins,  das  durch  ein  eigentümliches,  deutlich 
wahrnehmbares  Suffix,  durch  ie  oder  I,  charakterisiert  ist,  der 
Optativ  (Brgm.  2  §  938  f.).  Nach  unbetontem,  athematischem 
Tempusstamm  gilt  im  Singular,  wo  das  Suffix  selbst  den  Tou 
trug,  ie,  im  Dual  und  Plural,  wo  die  Personalendung  betont 
wurde,  z:  z.  B.  "^s-ie-m,  ^s-ie-s,  ""'s-ie-t'^  ^s-l-men,  "^s-i-te.  Im  Ger- 
manischen ist  die  unbetonte  Form  l  verallgemeinert,  so  im 
Opt.  Prät.  g.  hereis,  heri,  hereima  etc.  und  im  athematischen 
Präs.  g.  loileis,  icili,  ahd.  sis,  si  etc.  (vgl.  1.  sim,  sis,  sit  für 
das  ältere  siem,  sies,  siet).  Die  Form  ie  ist  im  Germanischen 
nur  in  undeutlichen  Spuren  erhalten  [sijati  §  32).  ?  erscheint 
als  zweiter  Bestandteil  des  Diphthongen  idg.  oi,  g.  ai  im  Opt. 
Präs.  der  thematischen  Verba;  g.  hairais,  hairai,  hairaima 
etc.  —  Über  die  Endung  der  1   Sg.  g.  au  s.  §  5. 

jz.  Der  Imperativ^)  verdankt  seine  eigentümlichen. 
Formen  zum  Teil  der  Einschränkung,  welche  die  Funktion 
uralter  Formen  von  sehr  w^eiter  Bedeutung  durch  die  Ent- 
wicklung des  Konjugationssystems  erfahren  hat.  In  der  2.  Sg. 
liegt  der  blosse  Stamm  vor,  der,  da  er  der  Personalbezeichnung 
entbehrte,  ursprünglich  nicht  auf  die  2.  Person  beschränkt  ge- 
wesen sein  kann  (§  2).  —  In  der  Endung  der  3  Sg.  g.  -dmi 
ist  trotz  des  unerklärten  au,  doch  wohl  das  idg.  Suffix  -töd 
anzuerkennen,    das    ursprünglich    auch    keine  Personalendung, 


1)  Brgm.  2,  1316.  1323.  1325.     Delbr.  4,  359  f. 


§  G.]  Optativ,  Tniperativ,  Konjunktiv.  11 

sondern  eine  Partikel  war,  durch  welche  die  in  der  2  Sg'. 
erhaltene  Form  differenziert  wurde:  gr.  cpepeTuu,  lat.  ferto, 
altl.  auch  noch  mit  d:  estocl.  Darnach  wurde  dann  unter  An- 
lelinung*  an  die  übrigen  Pluralformen  mit  nt  (Brgm.  2,  1325) 
die  3  PI.  gebildet;  gr.  (peßö-vjuj,  1.  ferunto,  g.  hairandau.  — 
Die  1  und  2  PL  g.  bairam,  hairip  stimmen  mit  dem  Indikativ 
überein,  dürfen  aber  nicht  als  Judikative  angesehen  werden; 
denn  der  Indikativ  konnte  nicht  Imperativisch  gebraucht  werden. 
Vermutlich  liegen  den  Bildungen  alte  Injunktivformen  zu  Grunde, 
d.  h.  Verbalformen  mit  sekundären  Endungen,  an  denen  weder 
Zeitstufe  noch  Modus  zum  Ausdruck  kam,  vielleicht  die  älteste 
Form  des  Verb.  fin.  überhaupt  (Brgm.  2,  1276  f.  Delbr.  4, 
354  f.);  durch  die  sekundären  Endungen  also  waren  die  im- 
perativisch  gebrauchten  Injunktive  von  den  Indikativen  unter- 
schieden* aber  die  germanischen  Auslautgesetze  machten  sie 
gleich.  —  Eine  Form  mit  ausgesprochen  primärer  Endung 
liegt  dagegen  in  der  2  Du.  g.  hairats  vor.  Dass  diese  In- 
dikativform imperativische  Bedeutung  annahm,  war  eine  Folge 
davon,  dass  in  der  1.  und  2.  PI.  die  beiden  Modi  zusammen- 
gefallen waren. 

Anm.^  Eine  alte  Injunktivlorm  haben  die  westgermanisclien 
Sprachen  auch  in  der  2  Sg",  Prät.  bewahrt;  vielleicht  auch  in  ahd. 
ni  curi  noli,  ni  curet  nolite  (Brg-m.  2,  1278);  doch  ist  zu  bemerken, 
dass  neben  citri  ciiris  begegnet,  und  im  PI.  ciirit  älter  zu  sein  scheint 
al^  curet  (Br.  §  322  A.  2). 

Anm.  ^  Der  Konjunlvtiv  hat  sich  neben  dem  Indikativ 
erst  alhnählich  zu  einer  besonderen  Modusform  entwickelt.  Der 
konjunktivischen  P^unktion  dienten  im  allgemeinen  vollere  Formen: 
neben  Indikativen  ohne  Themavokal  wurden  als  Konjunktive  Formen 
mit  Themavokal  gebraucht,  neben  Indikativen  mit  Themavokal 
Konjunktive  mit  gedehntem  ä,  e  (ö).  Aber  die  Elemente,  die  den 
Konjunktiv  charakterisieren,  finden  sich  in  allen  Sprachen  auch  in 
indikativischer  Funktion.  Im  Germanischen  ist  der  Konjunktiv  als 
besonderer  Modus  nicht  erhalten;  der  Optativ  hat  seine  Funktionen 
übernommen  (Bojunga  IF.  2,  184—197)  und  in  dem  got.  bairau  ist 
möglicherweise  sogar  eine  Konjunktiv  form  in  den  Optativ  auf- 
genommen (§  5  Anm.).  Als  Konjunktivbildung  bezeichnet  Brgm.  2, 
908  f.  wegen  des  Vokals  ahd.  tuom  (vgl.  §  33,  5).  Eine  Form  des 
kurzvokalischen  Konjunktiv  Perfekti  sah  J.  Schmidt  (KZ.  19,  290) 
in  g.  ögs  fürchte  (§  54),  eine  mit  dem  Indikativ  zusammengefallene 


12  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  7. 

Konjunktivform  Delbr.  4,  391  in  dem  g-ot.  Imperativ  hairam,  während 
andere  diese  Formen  als  Injunktive  in  Anspruch  nehmen.  Über 
das  genetische  Verhältnis  von  Injunktiv  und  Konjunktiv  s.  Hirt, 
IF.  12,  212  ff. 

Die  Nominal  formen  des  Verbums. 
(^.  1.  Die  Infinitive^)  sind  nach  ihrem  Ursprung-  und 
ihrer  Bildung-  Kasus  von  Nomina  actionis.  Eine  gemeinsame 
idg.  Infinitivbildung  gab  es  nicht;  sie  werden  auf  mannigfache 
Weise  mit  eben  solchen  Suffixen  gebildet  wie  gewöhnliche 
Substantiva,  unterscheiden  sich  von  diesen  aber  dadurch,  dass 
sie  sich  dem  für  Substantiva  im  allgemeinen  geltenden  syn 
taktischen  Gebrauch  entziehen,  insbesondere  nicht  durch  ad- 
jektivische Attribute  bestimmt  werden,  und  dass  sie  in  ihrer 
Flexion  beschränkt  sind,  in  einer  Kasusform  erstarren.  In  der 
engsten  Beziehung  zum  Verbum  erscheinen  sie,  wenn  sie  an 
der  Rektionsfähigkeit  des  Verbums  und  an  der  Unterscheidung 
von  Tempus  und  Genus  teilnehmen. 

\^  2.  Das  Germanische  hat  nur  einen  Infinitiv.  Eine  Kasus- 
form von  Nom.  act.  auf  -{0)710-,  vermutlich  der  Akkusativ 
(idg.  -{o)no-m  >>  g.  {a)n)  hat  sich  als  Infinitiv  über  alle  Verba 
verbreitet.  Die  gewöhnliche  Endung  ist  -an-^  -n  kommt  den 
athematischen  auf  einen  Vokal  ausgehenden  Verben  zu,  z.  B. 
ahd.  gä-n,  Tiahe-n. 

<^^.  Die  Nom.  act.  wurden  zunächst  nicht  von  einem  Tempus- 
stamm, sondern  aus  der  Wurzel  gebildet.  Aber  da  das  Suffix 
-ono-  in  seinem  ersten  Vokal  mit  dem  Themavokal  überein- 
stimmt, lehnten  sich  die  germanischen  Infinitive  an  die  thema- 
tischen Präsensstämme  an  und  wurden  nun  auch  von  erweiterten 
Präsensstämmen  gebildet;  z.  ß.  g.  hid-j-an,  fraili-n-an.  —  Der 
Inf.  der  Präterito-Präsentia  hat  den  schwachen  Stamm  des 
Plurals;  z,  B.  g.  icitan  zu  wait,  ivitum. 

Anm.  1.  In  dem  ursprünglich  waltenden  Unterschied  zwischen 
Präsens-  und  Infinitivstamm  vermutet  Streitberg  §  198  den  Anlass 
zu  mundartlichen  Unterschieden,  wie  g.  sitan^  ligan  neben  ahd. 
mzzen,  ligqen.     Im  Gotischen  habe  der  Infinitiv  die  Umbildung  des 


1)  Brgm.  2,  1^9)1.     Delb.  4,  451. 


§  8.]  Infinitiv  und  Partizipium.  13 

Präs.,    im    Hochdeutschen    das   Präs.    die  Umbildung  des    Infinitivs 
veranlasst. 

<4.  In  den  westgermanischen  Sprachen  schliessen  sich 
den  akkusativischen  Infinitiven  ein  Genitiv  und  Dativ  an,  in 
denen  das  Suffix  -o7io-  durch  -io-  erweitert  ist,  ahd.  -annes, 
-amie,  as.  -annias,  -annea.  Der  Dativ  ist  die  regelmässig* 
nach  der  Präp.  zu  gebrauchte  Infinitivform  (Gerundium),  seltner 
und  im  Ae.  nicht  bezeugt  ist  der  Genitiv  (II  §  303). 

Anm.  2.  Andere  Suffixe,  die  in  anderen  idg*.  Sprachen  Mittel 
der  Infinitivbildung'  geworden  sind,  kommen  zwar  auch  im  Ger- 
manischen vor,  aber  nicht  in  Infinitiven.  Zu  den  slavischen  Infini- 
tiven mit  i^e-Suffix  stellen  sich  Wörter  wie  g.  sauhts  Krankheit,  fra- 
gifts  Verleihung*  etc.;  zum  lat.  Supinum  auf  -tum,  -tu  Substantiva 
wie  g.  Ä:Msfw6- Prüfung,  Beweis,  daupus  Tod  (II  §254,2);  das  Suffix 
-men-,  mit  dem  im  Griechischen  Infinitive  wie  i&-|uev-ai,  bö-|uev-ai 
gebildet  sind,  haben  wir  in  Wörtern  wie  g.  /diuma  Gehör,  skeitna 
Leuchte,  und  mit  ?o-Suffix  erweitert  in  laulimuni  Blitz,  wituhni 
Kenntnis  (II  S.  316). 

/  8.  1.  Die  Verbaladjektiva,  die  im  Germanischen  als 
Parfictpia  dem  Verbalsystem  angegliedert  sind,  werden  auf 
dreifache  Art  gebildet,  mit  nt-,  n-,  und  ^Suffix. 

Das  nt-Snfüx,  das  zur  Bildung  der  Part.  Präs.  dient, 
wurde  schon  im  Idg.  zur  Bildung  aller  aktiven  Partizipia  mit 
Ausnahme  des  Part.  Perf.  gebraucht  (Brgm.  2,  370,  886. 
Streitberg  §  164).  Durch  Verschiebung  und  grammatischen 
Wechsel  ergab  sich  daraus  wc?-Suffix;  z.  B.  g.  giba-nd-s,  salhö- 
nd  s.  Ursprünglich  folgten  diese  Adjektiva  der  konsonantischen 
Deklination,  doch  nur  in  mehreren  Wörtern,  die  ganz  sub- 
stantivische Natur  angenommen  haben,  hat  sich  die  alte  Flexions- 
weise zum  Teil  erhalten;  z.  B.  nasjands  Heiland  (II  §  266,  1); 
ihr  Femininum  bildeten  sie  auf  ^,  z.  B.  g.  frijöndi  Freundin. 
Als  Partizipia  erfuhren  die  Wörter  eine  Umbildung;  im  Gotischen 
sind  sie  zu  7^-Stämmen  erweitert,  schliessen  sich  also  der 
schwachen  Deklination  an;  im  Hochdeutschen  zu  ja-Stämmen; 
/.  B.  gebenti,  salbönti.  Starke  Form  behauptet  sich  im  Got, 
nur  im  N.  Sg.  neben  der  schwachen. 

Die  w^Partizipia  schliessen  sich  stets  dem  Präsensstamm 


14  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§   8. 

an;  neben  Prät.-Präs.  zeigen  sie  wie  die  Infinitive  den  Vokal 
des  Plurals;  z.  B.  witands. 

Anm.  1.  Verkürzung"  langer  Vokale,  die  vor  nd  von  rechts- 
wegen  eintreten  sollte,  ist  durch  Systemzwang'  vielfach  behindert 
oder  aufgehoben  (§  46  f.). 

Anm.  2.  Schwundstufe  des  Suffixes,  ^^,  germ.  unp-  hat  sich 
nur  in  einigen  isolierten  Bildungen  erhalten:  g.  timpus  Zahn  zu  Wz. 
ed  essen;  g.  liulundi  F.  Höhle  zu  hilan  (II  §  266);  ferner  mit  jfo-Suftix 
erweitert  in  g".  sunjis  w Rhr  <C*sundjis  zu  Wz.  es  sein  und  in  dem 
adverbialen  G.  PI.  bisunja)ie  ringsum. 

12.  Die  Partizipia  Präteriti  werden  auf  zwei  Arten 
gebildet:  die  Adjektiva  auf  -eno-,  -ono-,  {-no-)  haben  sich  als 
Partizipia  über  alle  starken  Verba  verbreitet,  Adjektiva  mit 
dem  Suffix  to  über  die  schwachen.  Beide  Suffixe  dienen 
auch  in  anderen  Sprachen  zur  Partizipialbildung.  Brgm.  2,  1420. 

/Die  Partizipia  der  starken  Verba  erscheinen  durch  ihr 
SuffiSr  als  die  nächsten  Verwandten  der  Infinitive;  aber  das 
Suffix  trug  in  ihnen  den  Ton ;  daher  haben  sie  grammatischen 
Wechsel  und  tiefstufigen  Vokal,  wenn  dieser  überhaupt  in  der 
Konjugation  des  Verbums  vorkommt ;  z.  B.  ahd.  neman,  ginovian; 
zihan,  gizujan\  ziohan,  gizogan.  Der  dem  n  vorangehende 
Vokal  konnte  sowohl  auf  der  ersten  als  auf  der  zweiten  Hoch- 
stufe stehen.  Jene  ist  verallgemeinert  im  An.  undAe. ;  diese 
im  Gotischen  und  Hochdeutschen  (vgl.  §  30).  Eine  Spar  der 
ersten  Hochstufe  im  Gotischen  zeigt  das  Adj.  fiilgins  verborgen 
zu  filhmi.  Ohne  Vokal  erscheint  das  Suffix  nur  bei  athe- 
matischen, auf  einen  Vokal  auslautenden  Stämmen;  z.  B.  ahd. 
gi-tä-7i,  und  in  isolierten  Bildungen,  die,  wenn  sie  auch  neben 
starken  Verben  bestehen,  doch  nicht  Partizipia  sind;  z.  B.  g. 
us-lälc-n-s  offen  zu  Mkan,  harn  JV.  zu  hairan,  liugn  N.  Lüge  zu 
liugan,  und  mit  assimiliertem  n  g.  alls  ganz,  all  zu  ala7i  aufwachsen. 

'3.  Mit  dem  Suffix  -to  wurden  ebenso  wie  mit  -ono  zu- 
nächst Adjektiva  unmittelbar  aus  der  Wurzel  gebildet,  dann 
aber  auch  von  charakterisierten  Präsensstämmen,  von  kausa- 
tiven und  denominativen  Verben  (Brgm.  2,  205  f.).  Als  Parti- 
zipia aber  erscheinen  diese  Wörter  nur  neben  Verben,  die  ein 
^Präteritum  bilden,  gleichgültig  ob  es  Wurzelverba  oder  ab- 
geleitete sind,  z.  B.  g.  htigjan  kaufen,  hauhtay  bauhfs;  nasjan, 


i?  9.]  Die  Vorsilbe  ga.  15 

nasida,  nasips;  salhöii,  salhöda,  salhöps.  Wenn  das  Suffix 
sich  unmittelbar  einer  konsonantisch  auslautenden  Wurzel  an- 
schloss,  traten  die  bekannten  Störungen  der  Lautverschiebung- 
ein;  sonst  unterliegt  es  der  regelmässigen  Verschiebung  und 
dem  grammatischen  Wechsel,  war  also  ursprünglich  betont. 
Eine  Ausnahme  ist  g.  Tviinps  (p)  bekannt,  ahd.  Icund  neben 
g.  'kunds  entsprossen,  z.  B.  airpa-kunds  (II  §  412). 

Anm.  ^8v  Nicht  selten  erscheinen  die  mit  den  Suffixen  -ono 
und  -to  gebildeten  Wörter,  auch  wenn  sie  neben  starken  oder 
schwachen  Verben  stehen,  doch  nicht  als  Partizipia,  sei  es.  dass  sie 
durch  jüng'ere  Sprachentwickelung-,  durch  Änderung  der  Form  oder 
Bedeutung"  den  Charakter  von  Verbalformen  verloren  haben  (§  56), 
sei  es,  dass  sie  aus  einer  Zeit  stammen,  ehe  diese  Adjektiva  dem 
Verbalsystem  als  Partizipia  eingegliedert  waren.  Besonders  be- 
merkenswert ist  der  adjektivische  Charakter  der  zu  den  Präterito- 
Präsentia  gehörigen  mit  ?^o-Suffix  gebildeten  Wörter  (§  55,  5). 

Anm./4.  Die  Part.  Prät.  nehmen  an  der  Rektion  des  Verb, 
finitum  nicht  teil  und  stehen  dadurch  zu  diesem  in  loserem  Ver- 
hältnis als  der  Infinitiv  und  das  Part.  Präs. ;  zu  den  Verbalformen 
rechnet  man  sie  dennoch,  weil  sie  zu  allen  Verben  gebildet  werden. 
Andere  Adjektiva,  die  so  allgemeine  Geltung  nicht  gewonnen  haben, 
«ieht  man  als  Partizipia  nicht  an,  mag  auch  der  Verbalbegriff  in 
ihnen  kaum  weniger  lebendig  sein;  vg'l.  Bildungen  wie  g.  lubja-leis 
giftkundig,  fra-lets  freigelassen  (11  §  309);  g.  paursus,  ahd.  durri, 
g'.  anda-nem.s,  ahd.  gi-ndmi  angenehm  (II  §  310);  g.  ana-siuns  sicht- 
bar, ahd.  selt-säni  selten  (II  §  326);  g.  xakids  streitsüchtig,  ahd. 
e^^al  gef rassig  (II  §  321)  u.  a. 

^4.nm.  5.  Von  andern  Partizipialbildungen,  die  in  den  ver- 
wandten Sprachen  üblich  sind,  erscheinen  im  Germanischen  nur 
dürftige  Spuren.  Zur  Bildung  von  Part.  Perf.  dienten  die  Suffixe 
-ues-  oder  -uet-  (Brgm.  2.  412),  Von  -uet-  erscheint  eine  Ablautform 
in  g\  ireit-iröp-s  Zeuge,  zu  ivait  {vgl  gr.  eiöuuc;,  eiböxoc;) ;  ein  zu  -ues- 
gehöriges  Femininum  (idg.  -us-i,  vgl.  gr.  eibuia)  liegt  vor  in  g'. 
berus-jös  die  Eltern  zu  hairan.  Andere  Substantiva,  die  man  hier- 
her zieht  in  II  §  252,  Anm.  3.  —  Ein  mediales  Partizipium  auf  -meno- 
hat  Müllenhof f  (ZfdA.  23,  1)  in  ii^min  erkannt,  idg.  *e7'-men-os  (vgl. 
gr.  öp.uevoc;)  und  dazu^  mit  -io-  w^eiter  gebildet  vermutlich  der  Name 
Arminius  (IF.  2,  173  f.). 

Die  Vorsilbe  (ja. 
/Ö.      1.    Zur    Bildung    des    Part.    Prät.    dient    im    Hoch- 
deutschen   bei    vielen   Verben    ausser    den  Suffixen    auch   ein 


16  Die  Vorsilbe  ga.  [§  9. 

Präfix,  die  Vorsilbe  ga-.  Schon  im  Gotischen  wird  diese 
Partikel  oft  als  Mittel  gebraucht,  die  perfektive  Aktionsart 
des  Verbums  auszudrücken  (§  107),  und  in  diesem  Sinne  ver- 
band sie  sich  auch  mit  dem  Part.  Prät.  An  und  für  sich  kam 
den  mit  den  Suffixen  -oyio  und  -to  gebildeten  Adjektiven  per- 
fektive Bedeutung  nicht  zu;  aber  insofern  sie  als  Partizipia 
dem  Verbalsystem  angegliedert  wurden,  verband  sich  mit  ihnen 
gewöhnlich  die  Vorstellung  einer  auf  den  Abschluss  g-erichteten 
Handlung  und  so  wurde  die  Partikel  ga-  bei  vielen  Verben 
der  notwendige  Begleiter  des  Participiums.  Der  zunehmende 
Gebrauch  der  zusammengesetzten  Pert'ekta  und  Plusquam- 
perfekta,  in  denen  das  Part,  fast  stets  diese  Bedeutung  hatte, 
wird  hauptsächlich  die  Erstarrung  herbeigeführt  haben. 

2.  Alte  Bildungen,  die  ihre  adjektivische  Bedeutung  be- 
haupteten, hielten  sich  frei  von  der  Partikel:  ahd.  eigan, 
truTikan  (II  §  325,  1),  hund,  schuld  (II  §  384,  3),  auch  sv> 
scaffan  in  der  Bedeutung  'schwanger',  und  Komposita  wie 
altquetan,  niwiboran,  hlinthoran  u.  ä.  (II  §  132  A.  1).  Ebenso 
Verba,  die  schon  an  sich  perfektiv  aufgefasst  zu  werden 
pflegen:  einzelne  Simplizia  {queman,  fi7idan,  hringan^  meistens 
werdan  und  vermutlich  treffan)  und  die,  welche  mit  unbe- 
tonten Partikeln  (6e-,  (/e-,  ver-^  er-,  ent-,  ze-)  untrennbar  zu- 
sammengesetzt sind.  Alle  andern  bilden  schon  im  Ahd.  ihr 
Part,  fast  stets  mit  ga-. 

Anm.^s,  Partizipia,  die  später  wieder  in  adjektivischen  Gebrauch 
übergehen,  behalten  natürlich  die  partizipiale  Form,  auch  wenn  wir 
sie  durativ  brauchen;  z    B.  geehrter  Herr,  ein  geliebtes  Kind. 

3^  Aus    dem    in    der    Bedeutung    wurzelnden    Gegensatz 

zwischen  einfachen  und  zusammengesetzten  Verben  ergab  sich 

dann    weiter    ein    anderes    Prinzip,    das    vermutlich    früh    zur 

Festsetzung  der  Formen  mitgewirkt  hat  und  im  Nhd.  zu  voller 

Herrschaft   gekommen    ist^).     Da   die  nichtzusammengesetzten 

Verba    mit    betonter,    die    untrennbar   zusammengesetzten   mit 

unbetonter  Silbe  beginnen,  so  ergab  sich  die  Regel,  dass  Verba, 


1)  Über  das  ^e-Partizipium  im  Nhd.  handelt  G.  Maier (ZfdW. 
1,  281—318)    in   einer    nicht  eben    geschickten,    aber    doch    förder- 


lichen Abhandlung. 


§  9.]  Die  Vorsilbe  ga.  17 

die  die  erste  Silbe  betonen,  die  Partikel  ge-  annehmen,  alle 
übrigen  entbehren.  Im  Mbd.  heisst  es  noch  Jcomen,  funden, 
worden,  troffen,  bräht  und  oft  begegnen  diese  Formen  auch 
noch  in  der  nhd.  Literatur,  bes.  Jcommen;  aber  jetzt  sind  sie 
aufgegeben.  Nur  worden  hat  sich  im  zusammengesetzten 
Passiv  der  Umbildung  entzogen.  Über  lä^en  und  heilen  s.  §  86. 
A.  Umgekehrt  ist  ge-  beseitigt,  wo  es  sich  vor  Verben 
mit  unbetonter  erster  Silbe  fand,  wie  das  im  Mhd.  nicht  selten 
bei  den  Verben  auf  -leren  vorkommt  z.  B.  gefurrieret  (Germ. 
11,  446),  später  auch  hin  und  wieder  bei  einigen  andern: 
geprophezeit y  gerumoret,  gescharmutzelt  (ZfdW.  1,  313  f.).  — 
Doppelte  Bildung  war  gerechtfertigt  und  ist  auch  jetzt  noch 
gebräuchlich  bei  einigen,  die  verschiedene  Betonung  gestatten 
(I  §  351):  frohlocken,  fcill fahren  und  bei  manchen  mit  miss- 
zusammengesetzten  Verben :  gendsshilligt,  gemisshandelt,  ge- 
missbraucht.  (Die  Betonung  von  miss-,  die  der  älteren  Sprache 
fremd  war,  soll,  wie  Maier  a.  0.  S.  318  angibt,  von  Mittel- 
deutschland ausgegangen  sein.) 

/5.  Trennbare  Partikelkomposita  haben  die  Vorsilben  na- 
türlich vor  dem  Verb  um:  angegeben,  abgegeben,  aufgegeben 
etc.  Da  sie  aber  dennoch  als  Einheit  aufgefasst  werden,  ver- 
anlassten sie,  dass  auch  andere  Komposita  unrichtig  geteilt 
wurden,  z.  B.  weisgesagt,  brandgeschatzt,  ratgeschlagt,  hand- 
gehabt, off  engebahr  et,  missgedeutet,  missgegriffen  u.  a.  Aber 
solche  Missbildungen  erkennt  die  jetzige  Schriftsprache  nicht 
mehr  an,  auch  nicht  die  mit  miss-,  die  noch  Adelung  bei 
manchen  Verben  als  die  korrekten  P^ormen  angesehen  wissen 
wollte  a.  0.  S.  303.  317).  Anders  gebildet  als  die  angeführten 
Verben  ist  loahrsagen,  doch  pflegt  auch  dieses  als  untrennbares 
Kompositum  behandelt  zu  werden. 

^nm.  2.  Die  Durchführung  der  Regel  wurde  lange  Zeit  da- 
durch gehemmt,  dass  in  den  oberdeutschen  Mundarten  seit  der 
mhd.  Zeit  die  Vorsilbe  auch  da  unterdrückt  wurde,  avo  sie  seit 
alters  berechtigt  war.  Der  schwach  betonte  Vokal  wurde  synkopiert 
und  der  Konsonant  verstummte,  indem  er  dem  Anlaut  des  Verbums 
assimiliert  wurde  (Whd.  §  373.  405).  Am  leichtesten  musste  der 
Schwund  der  Vorsilbe  bei  Verben  mit  Gaumenanlaut  eintreten,  und 
dieser  Art  sind  alle  Belege,  die  das  Mhd.  Wb.  1,  490b  anführt:  gehen^ 

W.  Wilmaniiii,  Deutsche  Grammatik.  III.  2 


18  Einteilung  der  Konjugation.  [§  10. 

go^^en,  kert,  koufet,  krönet,  küsset-,  anders  nur  bi^^en.  Aber  die 
Bewegung  blieb  dabei  nicht  stehen.  Schon  im  12.  Jh.  finden  sich 
hin  und  wieder  Partizipia,  die  ihr  ge-  vor  andern  Konsonanten  ver- 
loren haben  (Kraus,  Deutsche  Gedichte  X,  29),  und  im  14—16  Jh. 
werden  sie  sehr  häufig,  auch  ausserhalb  Oberdeutschlands.  Dann 
wurden  sie  wieder  zurückgedrängt.  Dass  die  Wiederherstellung  der 
Silbe  zu  Entgleisungen  führte,  wie  sie  oben  erwähnt  sind,  ist  be- 
greiflich , 

(Änm.  3.  Die  Verba,  welche  im  Part,  sich  der  Vorsilbe  er- 
wehrt haben,  pflegen  auch  in  andern  Formen  davon  frei  zu  bleiben, 
aber  doch  nicht  durchaus.  So  braucht  Walther  49,  35  das  Prät. 
getraf,  Hartmann  im  Iwein  die  Infinitive  gevinden  und  gebringen] 
v.  1207  den  mac  nieman  gesehen  noch  gevinden  (Aa,  bevinden  bc, 
vinden  BDd);  2898  da^  si  eins  alten  ivtbes  rät  gebringen  mac  ze 
missetät  (Ad,  briiigen  BDac).  Auch  werdeyi  und  treffen  sind  mit 
ge-  belegt,  nie  aber  komen. 

Einteilung  der  Konjugation. 

/jlO.  1.  Person,  Genus  und  Modus  werden  bei  allen 
Verben  fast  in  derselben  Weise  bezeichnet;  dagegen  treten  in 
der  Bildung  der  Tempora  und  dem  damit  eng  zusammen- 
hängenden Ablaut  starke  Unterschiede  hervor,  die  eine  Ein- 
teilung der  Verba  in  verschiedene  Konjugationen  begründen 
und  erfordern. 

v2.  Je  nach  der  Bildung  des  Präteritums  unterscheidet 
man  starke  und  schwache  Verba;  eine  dritte  kleine  Gruppe 
sind  die  Präterito-Präsentia,  d.  h.  Verba,  die  zu  einer  Perfekt- 
forni  mit  präsentischer  Bedeutung  ein  schwaches  Präteritum 
bilden.  Die  starke  Konjugation  ist  die  ältere;  nur  das  starke 
Perfektum  ist  ein  Erbe  aus  idg.  Zeit,  das  schwache  Präteritum 
ist_eine  spezifisch  germanische  Bildung. 

fS.  Der  Unterschied  zwischen  starken  und  schwachen 
Verben  berührt  sich  mit  einem  anderen,  mit  dem  Unterschied 
zwischen  primären  und  sekundären  Verben.  Primäre  Verba 
nennt  man  solche,  die  aus  der  Wurzel  gebildet,  sekundäre 
solche,  die  von  Nominalstämmen  abgeleitet  sind.  Auf  der 
Flexion  der  V^urzelverba  beruht  die  starke  Flexion,  auf  der 
der  abgeleiteten  die  schwache.  Doch  haben  viele  Verba,  die 
man  als  Denominativa  nicht  ansehen  kann,  sich  schon  in  vor- 


§  11,]  Tempusstämme.  —  Präsens.  19 

liistoriscber  Zeit  der  schwaeben  Konjugation  angeschlossen, 
und  umgekehrt  sind  wenigstens  einige  Verba,  die  ursprünglich 
der  schwachen  Konjugation  folgten,  später  in  die  starke  über- 
getreten. Von  Anfang  an  sind  in  den  germanischen  Sprachen 
die  schwachen  Verba  den  starken  an  Zahl  weit  überlegen, 
und  je  länger  um  so  stärker  tritt  das  Übergewicht  der  schwachen 
Verba  hervor;  alle  jüngeren  Ableitungen  folgen  der  schwachen 
Konjugation  {II  §  18  ff.). 

Anm.  Dass  der  Unterschied  zwischen  primären  und  sekundären 
Verben  sich  nicht  streng  durchführen  lässt,  zeigt  Bruguiann  2,  874  f. 

<^.  Auf  der  Verschiedenheit  der  Präsensbildung  be- 
ruht die  Einteilung  der  starken  Verba  in  thematische  und 
athematische.  Der  Präsensstamm  der  thematischen  geht  auf 
Jenen  auch  in  der  Stammbildung  der  Nomina  so  häufigen  Vokal 
aus,  der  im  Idg.  je  nach  der  Betonung  als  e  oder  o  erscheint; 
die  athematisch en'eiitFdiren  dieses  Elenients.  In  den  Personal- 
endungen stimmen  beide  Klassen  im  allgemeinen  überein,  nur 
in  der  1.  Singularis  unterscheiden  sie  sich,  indem  die  athe- 
matischen die  Endung  -ini  annehmen,  die  thematischen  auf 
den  gedehnten  Themavokal  ausgehen  (§  3).  Daher  nennt  man 
diese  auch  Verba  auf  -ö,  jene  Verba  auf  mi.  —  Die  thema- 
tTSClfen  Terba  bilden  seit  urindoii:ermanischer  Zeit  die  stärkste 
Klasse  fBrgm.  2,  913);  in  den  germanischen  Sprachen  beherrscht 
ihre  Bildungsw^eise  die  Konjugation  so  stark,  dass  die  übrigen, 
in  ihren  Formen  vielfach  entstellt,  nur  als  eine  kleine  Gruppe 
unregelmässiger  Verba  erscheinen."] 

Starke  Konjugation. 

Theniatische  Verba. 

j^  Tempusstämme. 

111.  (Präsens.)  1.  Im  Nhd.  unterscheiden  sich  die  Formen 
<les  starken  Verbums  zwar  noch  durch  den  Ablaut,  zum  Teil 
auch  durch  den  grammatischen  Wechsel,  im  übrigen  aber  bleibt 
der  Stamm  in  allen  Formen  des  Verbums  unverändert,  zeigt 
keine  Spuren  der  Ableitung  und  Weiterbildung  und  erscheint 
so   als  fester,   wurzelhafter  Bestandteil.     Aber  die  historische 


20  Starke  Konjugation;  Thematische  Verba.  [§  11. 

und  die  vergleichende  Grammatik  lehren,  dass  ursprünglich 
die  Tempusstämme  nicht  durch  Betonung  und  Ablaut,  sondern 
auch  durch  materielle  Elemente,  durch  Präfixe  und  Suffixe, 
von  einander  verschieden  waren. 

2.  Besonders  zeichneten  sich  die  Präsensstämme  durch 
eine  reiche  Mannigfaltigkeit  aus;  derselben  Wurzel  konnten  ver- 
schiedene, drei,  vier  und  mehr  Präsensstämme  entspriessen. 
Wie  diese  Suffixe  die  Bedeutung  der  Wurzel  näher  bestimmten 
oder  modifizierten,  hat  die  vergleichende  Grammatik  zu  unter- 
suchen. Zum  Teil  haben  sie  der  Bestimmung  der  Aktionsart 
gedient  (Delbr.  4,  16  f.);  die  Zeitstufe  zu  bestimmen  war  nicht 
ihr  Zweck;  als  präsensbildend  können  sie  nur  insofern  be- 
zeichnet werden,  als  andere  demselben  Verbalsystem  angehörige 
Zeitformen  ihrer  entbehren.  Die  germanischen  Sprachen  haben 
als  charakteristisches  Zeichen  des  Präsensstammes  im  allge- 
meinen nur  den  Themavokal  bewahrt.  Zwar  lässt  die  Ver- 
gleichung  der  verwandten  Sprachen,  oft  auch  schon  die  Ver- 
gleichung  germanischer,  aus  derselben  Wurzel  entsprossener 
Wörter  erkennen,  dass  die  auslautenden  Konsonanten  ursprüng- 
lich Suffixe  des  Präsensstammes  waren,  oder  dass  auslautende 
Konsonantverdoppelung,  besonders  II,  nn,  durch  Assimilation 
eines  Präsenssuffixes  entstanden  sind  (11  §  18);  aber  die  Formen 
sind  dem  Präsensstamme  nicht  mehr  eigentümlich;  sie  haben 
sich  über  das  ganze  Verbum  verbreitet  (Brgm.  2,  §  891).  Von 
einer  besonderen,  das  Präsens  gegenüber  den  anderen  Verbal- 
formen charakterisierenden  Bildung  begegnen  nur  noch  wenige 
Spuren. 

3.  Am  besten  haben  sich  Präsensstämme  mit  j  erhalten, 
weil  sie  in  der  gleichen  Form  der  schwachen  Verba  eine  Stütze 
fanden.  Aber  die  meisten  Verba  dieser  Art  sind  überhau])t 
in  die  schwache  Konjugation  übergetreten,  und  die  verhältnis- 
mässig wenigen,  die  stark  geblieben  sind,  zeigen  zum  Teil  die 
eigentümliche  Präsensbildung  nicht  in  allen  Mundarten  (vgl. 
§  7  Anm.  1).  Übereinstimmend  sind  g.  bidjan,  ahd.  bitten; 
g.  hafjan,  ahd.  heffen-,  g.  skapjan,  ahd.  scepJien  schöpfen, 
schaffen;  g.  hlahjan,  ahd.  lahlien  (stV.)  lachen;  g.  arjan, 
ahd.    e7Hen   pflügen.     Dagegen    steht   dem    g.    walisjan    ahd. 


§  12.]  Tempusstämme.  21 

wahsan  gegenüber,  und  umgekehrt  den  alid.  sizzen,  liggen, 
siverjen,  die  teils  durch  die  Konsonantverdoppelung,  teils  durch 
flen  Vokal  i  und  den  ümlat  ein  altes  J-Präsens  erkennen  lassen, 
g.  sitan,  Ugan,  sivaran.  Nur  aus  dem  Gotischen  zu  belegen 
sind  frapjan  verstehen,  shapjan  schaden,  garapjan  (?)  zählen, 
nur  aus  dem  Hd.  int-seffen  verstehen,  int-rihhen  enthüllen. 
y4.  !^-Suffix  im  Präsensstamm  zeigen  g.  frailman  fragen, 
Prät.  frali\  g.  keinan  keimen,  Prtz.  us-Jcijans;  ahd.  hackan 
{cJc  <  gn),  Prät.  buoh;  ahd. giwahinen  erwähnen,  Frsitgiwuog.  — 
n-Jniix  zeigt  nur  noch  ein  Verbum  :  g.  standan,  Prät.  stop ; 
ahd.  stantan,  stuont,  selten  stuot.  Lateinische  Verba  mit  einem 
in  die  Wurzelsilbe  aufgenommenen  Nasale  sind  ziemlich  häufig  und 
stehen  öfters  germanischen  Verben  ohne  Nasal  gegenüber:  1.  findere: 
g.  beitan-^  tundere  :  stautan-^  fundere  :  giutan,  prehendere  :  gitan\ 
fingere  :  deigan  kneten ,  lambere  :  ahd.  laffan.  Lautgesetzlich  ge- 
schwunden ist  der  Nasal  vor  li  in  g.  lueihan :  1.  vincere,  leifvan : 
1.  linquere'^  ebenso  in  g.  peihan  gedeihen,  preihan  dringen,  fähan 
fangen.  In  fälian  hat  das  Ahd.  im  Präsens  den  Nasal  verloren,  im 
Prät.,  in  das  er  erst  aus  dem  Präsens  eingedrungen  war,  bewahrt 
{fähan,  fiang,  gifangan) ;  der  Ausg'leich  der  Formen  war  also  früher 
eing'etreten  als  der  Schwund  des  ii  vor  h. 

^12.  (Perfektum.)  1.  Wie  für  den  Präsensstamm  der 
Themavokal,  so  ist  für  den  Perfektstamm  die  Reduplikation 
das  charakteristische  Zeichen.  Ursprünglich  freilich  diente  die 
Reduplikation  ebensowenig  zur  Tempusbildung  wie  die  Suffixe 
des  Präsensstammes;  sie  war  vielmehr  ein  allgemeines  Mittel 
der  Wortbildung,  das  sowohl  in  der  Nominal-  als  in  der  Verbal- 
bildung angewandt  wurde;  ursprünglich  wohl  nichts  anderes 
als  Wiederholung  des  Wortes  (II,  21  f.).  Im  Verbum  aber 
gewann  sie  dadurch  eine  besondere  Bedeutung,  Mass  sie  in 
den  Dienst  der  Tempusbildung  gestellt  und  dazu  benutzt  wurde, 
bestimmte  typische  Aktionsarten  und  weiter  auch  Zeitstufen 
zu  unterscheiden'  (Brgm.  2,  845  f.).  In  dieser  abstrakteren, 
abgeleiteten  Verwendung  hat  sie  dann  auch  früh  besondere 
Formen  angenommen. 

N^2.  Verba  wie  1.  murmurare,  tintinnire  enthalten  als 
Reduplikation  noch  die  vollständige  Wiederholung  der  Wurzel- 
silbe;   gewöhnlich   aber  ist  die  verbale  Reduplikation  unvoll- 


22  Thematische  Verba.  [§  12.. 

kommei],  wiederholt  die  Konsonanten  der  Wurzelsilbe  nur  zum 
Teil  und  zeigt  selbständige  Vokale.  Schon  im  Idg.  werden 
die  Vokale  z  und  e  auch  vor  Wurzeln  gebraucht,  denen  diese 
Vokale  nicht  zukommen;  z.  B.  gr.  Yi-yvo-juai,  bi-bd-aKuu,  1.  gi- 
gno,  si-sto'^  gr.  Xe-Xom-a,  1.  pe-pig-i  etc.  In  der  Verwendung' 
dieser  beiden  Vokale  war  auch  schon  eine  Unterscheidung  der 
Tempusstämme  angebahnt,  indem  I  in  gewissen  Präsens-  und 
Aoristklassen  herrscht,  e  besonders  und  in  weitem  Umfang  im 
Perfektum  gebraucht  wurde.  Allgemeine  Geltung  aber  hat 
die  Reduplikation  im  Idg*.  weder  hier  noch  dort  erreicht 
(Brgm.  2  §  848). 

— är^ie  germanischen  Sprachen  haben  die  Präsens- 
Reduplikation  früh  aufgegeben.  Abgesehen  von  dem  zweifel- 
haften teta  (§  33,  6)  hat  sie  sich  nur  in  wenigen  Verben,  die 
zur  schwachen  Konjugation  übergetreten  sind,  erhalten,  ohne 
noch  als  Reduplikation  empfunden  zu  werden  (II  §  13,  2). 
[Um  so  deutlicher  trat  sie  als  charakteristisches  Zeichen  des 
Perfektstammes  hervor,  und  es  ist  wohl  möglich,  dass  sie 
als  Mittel  der  Perfektbildung:  in  weiterem  Umfang  verwandt 
wurde  als  im  Idg.  (§  21).  Dauernden  Bestand  aber  g-ewann 
sie  auch  im  Perfektum  nicht;  nur  in  der  ältesten  germanischen 
Sprache,  im  Gotischen,  hat  sie  ein  Teil  der  Verba  als  deut- 
liches Mittel  der  Perfektbildung  bewahrt. 

/jTln  der  gotischen  Reduplikation  wird  stets  nur  der 
Anlaut  der  Wurzel  wiederholt;  von  mehreren  anlautenden  Kon- 
sonanten, nach  einem  seit  uridg.  Zeit  bestehenden  Gebrauch, 
in  der  Regel  nur  der  erste:  gai-gröt  ich  weinte,  fai-flöJc  ich 
klagte,  sai-zlep  ich  schlief.  Eine  Ausnahme  bilden,  wie  in 
anderen  idg.  Sprachen,  die  Verbindungen  st,  sli,  sp,  die,  wie 
ihre  Sonderstellung  in  der  Lautverschiebung  und  ihre  Ver- 
wendung: in  der  Alliteration  zeigt,  als  besonders  eng  empfunden 
wurden:  stai-stald  ich  besass,  skai-sJcaid  ich  schied  {sp  ist 
nicht  belegt).  Eine  unlösliche  Einheit  bilden  natürlich  auch 
die  Labial-Gutturale:  Jvöpan,  hai-höp  ich  rühmte  mich  (Brgm. 
2  §  476).  —  Als  Vokal  erscheint  immer  g\  cd,  w^orin  doch 
w^ohl  ein  kurzer,  dem  idg.  e  entsprechender  Laut  anzuerkennen 
ist.     Wie  es  aber  kommt,   dass  dieser  e-Laut  nicht  wie  sonst 


§  12.]  Tempusstämme.  —  Aug-meiittempora.  23 

im  Gotischen  zu  i  geworden  ist,  ist  unklar.  Lautgesetzlich  ent- 
wickelt wäre  ai  in  Verben,  die  mit  h  und  r  anlauten;  dass  aber 
diese,  wie  man  anzunehmen  pflegt^),  die  Form  aller  übrigen  be- 
stimmt haben  sollten,  ist  wenig-  wahrscheinlich. 

^a<^er  Ton  lag  nach  der  germanischen  Akzentverschiebung 
jedenfalls  auf  der  Reduplikation;  vorher  vermutlich  auf  der 
Wurzelsilbe.  Dafür  spricht  die  Erweichung  des  Spiranten  in 
g.  sai-zlep  und  an.  sera  ich  säte  <  se-zö.  Wenn  im  Gotischen 
von  saian  saisö  gebildet  wird  und  von  slepan  neben  der  an- 
geführten Form  auch  sai-slep  vorkommt,  so  erklärt  sich  das 
aus  dem  Einfluss  der  Präsensformen. 

^3.  (Augmenttempora.)  ^.  Das  Perfektum  bezeichnete 
nicht  die  Vergangenheit,  sondern  den  erreichten  Zustand  (Delbr. 
4,  177).  Um  die  Vergangenheit  zu  bezeichnen,  hatte  die  idg. 
Ursprache  ein  Mittel  in  dem  sogenannten  Augment,  einem 
alten  Adverbium,  dem  die  Verbaltbrm  sich  enklitisch  mit 
sekundären  Endungen  anschloss  (Brgm.  2,  859  f.).  Solche 
Augmenttempora  konnten  sowohl  zum  Präsens  als  zum  Per- 
fektum gebildet  werden,  doch  ist  das  zum  Perfektum  gehörige 
Präteritum,  das  Plusquamperfektum,  nur  im  Arischen  und 
Griechischen  sicher  nachzuweisen  (Brgni.  2,  1208).  —  Ein  ver- 
einzelter, verdunkelter  Pest  eines  Augmenttempus  liegt  ver- 
mutlich in  g.  iddja  vor  (§  37). 

S^  Noch  weniger  hat  sich  im  Germanischen  eine  andere 
Form  erhalten,  die  im  Idg.  zur  Bezeichnung  der  Vergangenheit 
gebraucht  wurde  und  in  den  verwandten  Sprachen  weite  Ver- 
breitung gefunden  hat:  der  ^-Aorist,  zu  dem  die  griechischen 
Aoriste  auf  -cra,  lateinische  Perfekta  wie  vexi,  junxi,  torsi 
und  die  Konj.  Imp.  auf  -reyn  wie  ferrem^  conderem,  aniarem 
gehören.  Einen  Pest  dieser  Bildung  glauben  manche  in  ahd. 
scrirun  sie  schrien  <  *scrizun  sehen  zu  dürfen  (s.  §  22). 

13.  Dass  alle  diese  auf  die  Vergangenheit  weisenden 
Formen  im  Germanischen  nicht  zur  Geltung  gekommen  sind. 
setzt  voraus,  dass  das  Perfektum  seine  Bedeutung  erweitert 
hatte;    es  war   aus  einem  Perfektum  zu  einem  Präteritum  ge- 


1)  Vgl.    Kluge,   Germ.  Konj.  S.  89.    A.  Osthoff,    Perf.   S.  276  f. 
Brgm.  2,  12ö0  etc. 


24  Thematische  Verba.     Einteilung.  [§  14. 

worden  oder  verband  vielmehr  die  Bedeutung  beider  und  ent- 
zog dadurch  den  andern  Formen,  die  in  den  verwandten 
Sprachen  zu  Mittehi  präteritaler  Bedeutung  ausgebildet  wurden, 
den  Boden. 

/Anm.  Von  dem  dem  s-Aorist  verwandten  6'-Futurum,  dessen 
Bildung  gleichfalls  in  die  idg.  Sprachperiode  hinaufreicht,  findet 
sich  in  den  germanischen  Sprachen  keine  Spur. 


f: 


14.  (Ablaut.)  1.  Neben  den  Suffixen  und  der  Redupli- 
kation dient  auch  der  Ablaut  zur  Unterscheidung  der  Verbal- 
formen. Dass  man  den  Wurzelvokal  verändert  habe^  um  Tem- 
pusunterschiede oder  überhaupt  irgend  welche  Unterschiede 
der  Bedeutung  auszudrücken^  ist  nicht  anzunehmen.  Der  Ablaut 
muss  durch  irgend  welche  physiologische  Momente  hervor- 
gerufen sein,  unter  denen  zweifellos  die  Betonung  die  wesent- 
lichste Rolle  gespielt  hat^).  Die  Unterschiede  der  Betonung 
sind  durch  die  germanische  Akzentverschiebung  aufgehoben; 
der  durch  sie  bewirkte  Ablaut  aber  dauert  fort. 

12.  Gewisse  Verbalformen  stimmen  stets  in  ihrem  Vokal 
übereiir.  nämlich  1.  alle  Präsensformen  (Ind.,  Opt.,  Imp.,  Inf. 
und  Part.  Präs.) ;  2.  der  Sg.  Prät.  (in  den  westgerm.  Sprachen 
nur  die  1  und  3  Sg.  Prät.);  3.^  PI.  und  Opt.  Prät.  (im  West- 
germ, auch  die  2  Sg.  Ind.  Prät.) ;  eine  Sonderstellung  kann 
4.  das  Part.  Prät.  einnehmen.  Diese  vier  Gruppen  können 
verschiedene  V^okale  haben,  oft  aber  fallen  auch  mehrere  zu- 
sammen, namentlich  die  dritte  und  vierte,  die  zweite  und 
dritte,  auch  die  erste  und  vierte-,  aber  die  erste  und  zweite, 
sowie  die  erste  und  dritte  nur  in  Verben,  denen  der  Ablaut 
überhaupt  fehlt.  Der  Unterschied  zwischen  Präsens-  und 
Perfektformen  ist  also  überall  gewahrt;  er  erscheint  als  der 
wichtigste. 

^3.  Je  nachdem  der  Ablaut  mannigfacher  oder  dürftiger 
entwickelt    ist,    kann    man    zwei  Abteilungen    bilden;    in    den 


1)  Über  den  Ablaut  ist  1  §  162  ff.  einiges  gesagt.  Seitdem 
hat  die  Forschung  nicht  geruht.  Die  ganze  Frage  ist  neu  behandelt 
von  Hirt,  Der  idg.  Ablaut,  Strassburg  1900;  vgl.  dazu  den  kritischen 
Bericht  Hübschmanns  in  IF.  Anz.  ll,  24-56. 


^  15.]  Verba  mit  voll  entwickeltem  Ablaut.  25 

Verben  der  ersten  zeigen  die  zweite  und  dritte  Stammform 
stets  verschiedene  Vokale,  in  der  Regel  auch  die  erste  und 
vierte^  in  denen  der  anderen  stimmen  die  zweite  und  dritte^ 
sowie  die  erste  und  vierte  in  ihrem  Vokal  überein.  Die  Verba 
der  ersten  Abteilung  zeigen  mindestens  drei  verschiedene  Vokale, 
die  der  zweiten  höchstens  zwei. 

1.  Verba  mit  voll  entwickeltem  Ablaut. 

/15.  (Ablautreihen.)  1.  Wir  unterscheiden  hier  drei 
Klassen,  die  im  Gotischen  durch  folgende  Verba  repräsentiert 
werden : 

la.  gihan,  g(if^  gebum,  gibans. 

b.  niman,  nam,  nemurn^  mimans. 

c.  liilpan,  halp,  hulpuniy  hulpans. 
bindan,  band,  bundum,  bundans. 

II.      steigan,  staig,  stigmn,  stigans. 
IlL      biugan,  batig,  bugum,  bugans. 

^iese  drei  Klassen  bilden  eine  zusammengehörige  Gruppe. 
Sie  repräsentieren  den  Typus,  der  sich  in  den  aus  e-Wurzeln 
entsprossenen  thematischen  Verben  mit  Wurzelbetonung  im 
Präsens  entwickelt  hat.  Den  zahlreichen  Verben  dieser  Art 
kam  von  Hause  aus  in  den  Präsensformen  die  erste  Hochstufe 
(e)  zu,  im  Sg.  Prät.  die  zweite  (o) ;  Tiefstufe  dagegen  im 
Plural  und  Optativ,  sowie  im  Part.  Perf. 

[z.  Die  Vokalunterschiede  der  drei  Klassen  setzen  nicht 
verscKiedene  Wurzellaute  voraus,  sondern  erklären  sich  aus 
dem  Einfluss  der  benachbarten,  besonders  der  nachfolgenden 
Konsonanten.  Den  Vokalen  der  Hochstufe  idg.  e  und  o  ent- 
sprechen überall  g.  i  und  a.  Rein  treten  sie  in  Kl.  I  hervor; 
in  Kl.  II  und  III,  wo  ihnen  i  und  u  folgten,  haben  sich  Diph- 
thonge ergeben,  in  Kl.  II  ei  und  «i,  in  KL  III  ki  und  au. 
Auf  der  Tiefstufe  erscheinen  in  Kl.  II  und  III  i  und  u\  der 
Wurzelvokal  ist  ganz  verschwunden  und  i  und  u  als  silben- 
bildende Vokale  übrig  geblieben.  Vor  Liquida  und  Nasal  ist 
für  den  geschwundenen  oder  stark  reduzierten  Vokal  im  Ger- 
manischen u  eingetreten,    jedoch    vor    einfacher  Liquida    und 


26  Thematische  Verba  mit  voll  entwickeltem  Al)laut.         [§  15. 

Nasal  (Kl.  I^)  nur  in  der  vierten  Stammform,  vor  verdoppelten 
oder  mit  einem  andern  Konsonanten  verbundenen  (Kl.  I^)  auch 
in  der  dritten.  Vor  einfachem  Verschluss-  und  Reibelaut  (Kl.  I^) 
hat  die  Tiefstufe  keinen  eigenen  Laut  gewonnen;  hier  hat  die 
Entwickelung  zu  einem  Vokal  geführt,  der  mit  der  ersten 
Hochstufe  übereinstimmt.  —  Nicht  als  Ablaut  7A\  verstehen 
ist  das  lange  e^  das  in  der  dritten  Stammform  der  Kl.  I^^  sehr 
befremdend  neben  der  Schwundstufe  der  übrigen  Konjuga- 
tionen steht. 

a6.  (Der  e  Typus.)  1.  Die  Frage  nach  dem  Ursprung 
des  ^^ypus  ist  nach  Scherers  kräftiger  Anregung  oft  behan- 
delt und  in  neuerer  Zeit  namentlich  durch  Michels  (IF.  4,  64  f ) 
und  Streitberg  (IF.  6,  148)  gefördert  worden  i).  AVahrscheinlich 
entwickelten  sich  die  Formen  in  der  Weise,  dass  in  regel- 
mässig reduplizierten  Perfektformen  mit  schwacher  Wurzelstufe 
zunächst  der  Eeduplikationsvokal  gedehnt,  dann  der  Wurzel- 
anlaut aufgegeben  wurde;  aus  '-ghe-ghehh-  wurde,  indem  der  un- 
betonte Wurzelvokal  schwand,  durch  Ersatzdehnung  "^ghe-ghebh-, 
dann  '^ghehh-.  An  eine  streng  lautgesetzliche  Entwicklung  ist 
dabei  schwerlich  zu  denken;  auch  daran  nicht,  dass  ein  einzelnes 
Vcrbum,  in  dem  der  anlautende  Konsonant  lautgesetzlich  ge- 
schwunden war  (wie  das  Osthoff  für  die  Wz.  sed  annimmt: 
idg.  sed  <  se-sd),  Anlass  und  Muster  der  ganzen  Umbildung 
gewesen  sei.  Es  fand  vielmehr  eine  freie,  von  Lautgesetzen 
unabhängige  Umbildung  statt.  Man  mied  und  beseitigte  For- 
men, in  denen  die  regelmässige  Entwicklung  oft  zu  ganz  un- 
gewöhnlichen Konsonantverbindungen  oder  auch  zu  Gebilden 
geführt  hatte,  die  sich  von  den  übrigen  Formen  desselben 
Verbums  weit  entfernten,  wie  sich  z.  B.  zu  saihan,  sah  (Wz. 
sehv)  ein  Plural  g.  "^sesqim,  zu  qipan,  qap  (Wz.  gvet)  ein 
Plural  g.  '^qehtun  hätte  ergeben  müssen  (Brgm.  2,  1260).  Die 
Anfänge  des  e-Typus  reichen  jedenfalls  bis  in  die  idg.  Vorzeit 
hinauf,  in  welchen  Etappen  sich  seine  Entwicklung  bis  zu  der 


1)  Vgl.  ferner  Brgm.  11,1214.  1280.     Lorentz  IF.  8,  69  ff.    Hirt, 
Ablaut  S.  194  f. 


§  17.]  Der  e-Typus.  27 

in    den    germanischen    Sprachen     erreichten    Grenze    vollzog-^ 

lässt  sich   nicht  nachweisen^).  —  Aus  dieser  Auffassung   des 

^-Typus  erklärt  es  sich,   warum   er  sich  nur  in  den  Perfektis 

entwickelte,  denen  Reduplikation  zukam,  nicht  in  den  Präterito- 

Präsentia,   und   nur   in   Wurzeln,    in   denen   der   Schwund   des 

Wurzelvokales  keinen  Sonanten  zurückliess;  also  nicht  in  den 

Verben  P,  II,  III. 

[Anm.  Einen  anderen  Ursprung  muss  das  auch  im  Singular 
geltende  §  des  Verbums  üan  haben:  g.  fr-et.  ahd.  ä^.  Vermutlich 
liegt  hier  eine  alte  Kontraktion  der  Beduplikation,  die  hier  nur  aus 
dem  Vokal  e  bestand,  mit  dem  Wurzelanlaut  vor.  Eine  andere 
Ansicht  vertritt  Brugmann  2,  851.  1208.  1215. 

/l7  (Einfluss  anl.  Konsonanten  auf  den  Ablaut.)  1.  Den 
Klassen  P  und  P  folgen  auch  einige  Verba,  die  nicht  auf 
Liquida  oder  Nasal  ausgehen.  Das  Gotische  bietet  zwar  nur 
einen  Beleg;  von  hrikan  brechen  lautet  das  Part.  bruJcanSy 
während  doch  von  wrikan  rächen  ivrikans  gebildet  wird. 
Aber  im  Ahd.  heisst  es  girochan,  und  andere  Verba,  die  im 
Gotischen  fehlen  oder  im  Part,  nicht  belegt  sind,  schliessen 
sich  an,  sowohl  solche,  die  ursprünglich  auf  einen  einfachen  Kon- 
sonanten ausgingen,  auf  ch  <  gerni.  k  und  ff  <  germ.  p  :  rechan 
häufen  (g.  rikan),  sprecliaii,  sfechan,  treclian  schieben,  stossen, 
ziehen,  treffaii\  als  auch  solche,  die  auf  Doppelkonsonanten 
oder  Konsonantverbindungen  auslauten :  hrettcm  ziehen,  zücken, 
flehtaii,  fehtan,  hrestan,  dreskan,  leskan,  lirespan  rupfen, 
denen  sich  seit  dem  11.  Jh.  screckan  anreiht^).  Alle  diese 
Verba  ausser  stechan  und  fehtan  haben  im  Anlaut  eine  Liquida, 
die  meisten  r,  und  es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass 
unter  ihrem  Einfluss  sich  das  u  entwickelt  hat,  ebenso  wie  in 
den  Verben,  die  im  Auslaut  eine  Liquida  hatten;  vehten  hat 
sich  nach  flehten,  stechen  nach  den  andern  Verben  auf  -ecken 


1)  Hirt,  Ablaut  S.  194  f.  nimmt  an,  dass  ursprünglich  e  nur 
in  der  3  Fl.  galt. 

2)  Das  stV.  ist  aus  dem  schwachen  scricken,  scricta  entstanden. 
Br.  §  341  A.  2.  Auch  für  ar-leskit  sind  die  Belege  älter  als  für  a?'- 
loskan  imd  im  As.  hat  das  schwache  Verbum  sowohl  transitive  als 
intransitive  Bedeutung*.     Scherer  S.  244. 


28  Thematische  Verba  mit  voll  entwickeltem  Ablaut.        [§  18. 


gerichtet.  /  Aber  auffallend  ist,  dass  anlautender  Nasal  die  ent- 
sprechende Wirkung  nirgends,  und  anlautende  Liquida  nicht  in 
allen  Verben  zeigt;  es  heisst  ahd.  gi-tretan\  mhd.  gQ-r^den  gesiebt, 
ge-kresen  g-ekrochen ;  (zu  stredan  aufwallen  ist  das  Part,  nicht  be- 
legt); ebenso  ahd.  gi-lesan,  gi-pflegaii,  er-,  zer-lechen  ausgetrocknet 
und  ahd.  gi-nesan,  gi-cnetan  geknetet.  Auffallend  ferner  die  Art, 
wie  diese  Verba  den  PI.  und  Opt.  Prät.  bilden.  In  allen,  die  mit 
einer  Konsonantverbindung'  beginnen,  sollte  man  wie  in  den  Verben 
der  Cl.  Ic  u  erwarten;  aber  solche  Formen  gelten  zunächst  nur  für 
die  auf  eine  Konsonantverbindung  ausgehenden  Verba;  belegt  sind 
sie  im  Ahd.  von  brettan,  brestan,  dreskan^  flehtan,  fehtan.  Dagegen 
die  mit  einem  einfachen  Konsonanten  im  Auslaut  folgen  dem  e-Typus 
(Gl.  Ib),  also  brechan,  sprechan,  rechan,  treffan,  stechan.  Offenbar 
liegt  hier  eine  rein  lautgesetzliche  Entwicklung  nicht  vor;  ana- 
logische Einflüsse,  wesentlich  geleitet  durch  den  Auslaut  des  Stammes, 
haben  die  Formen  bestimmt.  —  Auch  später  treten  in  diesen  Verben 
noch  Verschiebungen  ein.  Im  Prät.  erscheint  schon  im  Ahd.  brästun 
neben  brustun  (Br.  §  338  A.)  und  im  Mhd.  ist  die  Form  allgemein 
anerkannt;  ebenso  scräken  und  auf  oberdeutschem  Gebiet  auch 
vähten,  vlähten  (md.  vuhteii,  vhihten).  Im  Part,  stellt  sich  o  für  älteres 
e  ein :  geloscn^  gepflogen  neben  dem  regelmässigen  gelesen,  gepflegen, 
und  umgekehrt  e  für  älteres  o :  gesteclien  (ripuar.)  neben  gestochen. 

<^nm.  Unregelmässige  Partizipia  beg'egnen  vereinzelt  auch 
von  anderen  Verben:  ahd.  gi-klenan  zu  klenan  schmieren  (Br.  §  340 
A.  2.  3);  gi-hellan  zu  hellan  (Br.  §  337  A.  6);  mhd.  ge-dohsen  zu 
dehsen  Flachs  schwingen  (Whd.  §  348).  Das  Part,  von  kommen 
lautet  im  Got.  regelmässig  qumans\  dagegen  begegnet  ahd.  quoman 
nur  im  Is.  und  vereinzelt  in  einigen  Glossen;  sonst  heisst  es  in  allen 
älteren  Quellen  queman.  Vermutlich  hängt  die  Bildung  dieser  auf- 
fallenden Form  mit  der  Verdrängung  des  alten  tiefstufigen  Präsens 
zusammen  (§  18). 

/is.  (Tiefstut'ige  Präsentia  i).)  1.  Obwohl  die  thematischen 
Verba  den  Akzent  meist  auf  der  Wurzelsilbe  hatten,  gab  es  im 
Idg.  nicht  wenige,  die  den  Themavokal  betonten,  sei  es  dass 
•er  unmittelbar  auf  die  Wurzelsilbe  folgte  (Aorist-Präsentia) 
oder  zu  einem  Suffix  gehörte  {n,  sJc,  j).  Dass  die  Zahl  solcher 
Verba  auch  im  Germanischen  nicht  klein  war,  ist  daraus  zu 
entnehmen,  dass  in  einem  Teil  der  westgermanischen  Sprachen 


1)  Brgm.   2,  927  f.    932.    1000-1002.    1017.   1077  ff.     Streitberg 
S.  290-298. 


§  18.]  Tiet'stufig-e  Präsentia.  29- 

in  der  Persoiialendung  der  3  Sg.  der  stimmlose  Spirant  all- 
gemeine Geltung  hat  (§  3).  Aber  doch  gibt  es  nur  wenige 
Verba  die  durch  ihren  Stammvokal  auf  die  eigentümliche  Bil- 
dung des  Präsens  hinweisen.  Zu  Kl.  I  gehören  einige  Verba^. 
in  denen  sich  neben  Liquida  oder  Nasal  ti  auf  der  Tiefstufe 
entwickelt  hat :  g.  truda,  [trap,  tredum],  trudans,  an.  troda 
treten-,  das  Part.  Präs.  wulands  siedend:  un-wuncmds  betrübt, 
sich  nicht  freuend.  — (In  Kl.  III  begegnen  einige  mit  ü\  g. 
lüJcany  schliessen,  ahd.  sitgan,  süfan.  —  In  Kl.  II  entspricht  dem 
ü  der  dritten  Klasse  i:  g.  skeiiian  scheinen,  keinan  keimen,  ahd. 
sivtnan  schwinden,  gi^lnan  den  Mund  verziehen,  knurren.  Aber  da 
idg-.  i  und  die  Hochstufe  ei  in  germ.  i  zusammenfallen,  lassen  diese 
Verba  die  Tief  stufe  nicht  erkennen.  Nur  die  Bildung"  mit  ??-Suffix 
lässt  auf  tieftoniges  Präsens  schliessen. 

f.  Der  grammatische  Wechsel,  der  sich  im  Perfektum 
ein  Zeichen  der  endbetonten  Formen  erhalten  hat, 
zeichnet  die  tiefstufigen  Präsentia  nirgends  mehr  aus;  in  allen 
Formen  gilt  derselbe  Konsonant:  g.  hi-leiban.  ahd.  hi-lihan  (Wz. 
leip  kleben,  vgl.  gr.  Xiirapöc;  fett,  Xnrapeiv  beharren)  und,  falls  g:ic 
als  grammatischer  Wechsel  anzusehen  ist  (I  §  34  A.),  ahd.  sniicit  es 
schneit  (Wz.  .sneigh^,  lat.  ningit). 

/3.  Zuweilen  gilt  neben  dem  tief  stufigen  ein  normales^ 
Präsens,  neben  g.  trudan  ahd.  tretan\  neben  an.  knoda  (swV.) 
ahd.  knetan,  ebenso  Formen  mit  und  ohne  grannuatischen 
Wechsel:  g.  Imeiwan,  ahd.  nigan  (Wv..  kneigh^);  ahd.  silian 
seihen  und  sigan  tröpfelnd  niederfallen,  versiegen  (Wz.  seikv).  — 
Auch  für  kommen  sind  alte  Doppelformen  an/Ainehmen  (§  37 
Anm.  2.  Sievers  PBb.  8,  80  f.  Osthoff  Perf.  S.  143),  obwohl 
die  normalen  Formen  (g.  qima,  quiman,  ahd.  quimtt,  queman) 
im  Gotischen  allein  begegnen  und  im  Hochdeutschen  durchaus 
herrschen,  cumu,  coman  findet  sich,  von  ganz  vereinzelten  Bei- 
spielen abgesehen,  im  8.  und  9.  Jh.  häufig  nur  im  Tatian.  Erst 
später,  als  qui-  und  que-  überhaupt  dem  Übergang  in  cu-  und  co- 
unterlagen,  verschwinden  auch  im  Oberdeutschen  die  mit  qu  an- 
lautenden Formen.     Über  das  Part,  queman  s.  §  17  Anm. 

Anm.  1.     Substantivische  Partizipia  zu  tiefstufigen  Präsentia : 
g.  hulu7idi  F.  Höhle  zu  hilan\  digarids  der  Former  zu  deigan  kneten» 

A.  (Reihenwechsel.)    Nicht    selten    sind   Verba    mit    tief- 
stufig^ra  Präsens,  weil  sie  von  den  normalen  Ablautreihen  ab- 


30  Thematische  Verba  mit  voll  entwickeltem  Ablaut.         [§  18. 

wicben,   umgebildet   oder   in   die   scliwaclie  Konjugation  über- 
getreten i). 

/Verba  der  2.  Klasse,  die  im  Präsens  i  batten,  scblossen 
sieb  den  Verben  der  1.  Klasse  an,  die,  wenn  sie  ibr  Präsens 
mit  j  bildeten  oder  auf  eine  Nasal  Verbindung  ausgingen,  gleich- 
falls in  allen  Präsensformen  i  hatten.  Zu  g.  hidjan  wurde  ein 
Prät.  hap  gebildet,  obwohl  das  Wort  zu  einer  ei-Wurzel  ge- 
hört (Wz.  bheidh,  vgl.  gr.  TreiGuu),  also  im  Prät.  eigentlich 
^haip  lauten  sollte  (vgl.  gr.  7T€TTOi0a).  Besonders  haben  viele 
mit  infigiertem  oder  suffigiertem  Nasal  sich  der  Kl.  1^  ange- 
schlossen: g.  siyqan  sinken  (Wz.  ,<<eig''\  seik^',  vgl.  ahd.  sinkan 
neben  sthan,  sigan);  g.  stigqan  stossen  (Wz.  steig '^')\  g.  fra-slindan, 
ahd,  slintan  schlingen  (vgl.  mbd.  sliten  gleiten) ;  ahd.  climhan  klimmen, 
klettern  (vgl.  ahd.  clfban  kleben,  haften);  g.  windan  winden  (vgl. 
1.  viere):,  ahd.  sivintan  schwinden,  vergehen  (vgl.  ahd.  sioman). 
Brgm.  2  §  634.  Ferner  g.  du-giyinan  beginnen  (Wz.  gliei,  Suffix 
im),  af-linnan  aufhören,  icinnan  leiden,  vielleicht  auch  g.  rinnan 
und  hvinnan  s.  ßrgm.  2,  §  654. 

^nm.  2.  Auch  einige  Verba,  die  in  den  meisten  Präsensformen 
germ.  e  haben,  gehören  zu  ez-Wurzeln:  g.  gawidan  binden,  ahd. 
icetan  (Wz.  nei,  vgl.  1.  riere)\  ahd.  stehhan  stechen  (Wz,  steig.,  vgl. 
1.  in-stigo,  gr.  ariSuj);  ahd.  denan  kleben  (Wz.  glei,  vgl.  ^\o\ö<:,  kleb- 
riges Ol,  YXid  Leim,  nhd.  Klei  Lehm).  —  Doppelbildungen;  g.  weihan 
kämpfen,  ahd.  wthantero  bellantium,  ivigant  Kämpfer  neben  ahd. 
ubar-^rehan,  an.  vega  bezwingen;  ahd.  swedan  cremare  neben  an. 
svvba  sengen;  mhd,  kresen  und  krisen. 

Anm.  3.  Umgekehrt  sind  aus  anderen  Gründen  einige  Verba 
der  1.  Kl.  in  die  zweite  geraten.  Got.  J)reihan  <C*pri7ihan  sollte 
eigentlich  nach  Kl.  Ic  gehen,  aber  dadurch,  dass  der  Nasal  vor  Ji 
schwand  und  ^  Ersatzdehnung  erfuhr,  entstand  einTräsens,  wie  "es 
die  Verba  der  zweiten  Klasse  haben,  und  diesem  schlössen  sich  nun 
die  Formen  des  Prät.  an:  Jträih,  Jiraihum,  praihans.  In  den  west- 
germanischen Sprachen,  die  statt  ?i  g  im  Auslaut  haben,  blieb  das 
Wort  der  Kl.  Ic  erhalten:  ahd.  dringan,  dr-ang,  drungun,  gidrungan. 
Allgemeiner  ist  derselbe  Übergang  in  g.  ga-peihan,  ahd.  gi-dthan 
erfolgt,  wo  nur  noch  das  ae.  Part.  je-dunje)i  und  das  as.  Kausa- 
tivum  thengian  vollenden  auf  die  ursprüngliche  Bildung  hinweisen. 


5.  Für  die  Verba  mit  tiefstufigem  Präsens,  die  sich  der 
erste^n—schwaehen  Konjugation  anschlössen,   darf  wohl  voraus- 


1)  Vgl.  Streitberg  §  105. 


§  19.]  Die  2  Sg'.  Prät.  im  Westgermanischen.  31 

gesetzt  werden,  dass  sie  meistens  ein  zo-Präsens  hatten,  das 
den  Übertritt  erleichterte;  den  Anlass  aber  gaben  auch  bei 
ihnen  in  erster  Linie  offenbar  die  abnormen  Ablautverhält- 
nisse (§  45). 


^'- 


[9.  ^Die  2  Sg.  Prät.  im  Westgermanischen.)  Zu  den 
thematischen  Präsensstämmen  mit  tiefstufigem  Vokal  gehört 
auch  die  2  Sg.  Prät.  in  den  westgermanischen  Sprachen.  In 
der  Verbindung  mit  sekundären  Endungen  ergaben  diese  Stämme 
Formen,  die  in  den  griechischen  starken  Aoristen  deutlich  er- 
halten sind:  e-Xi7T-ov  zu  XeiTruü,  e-qpuy-ov  zu  qpeuYUü  etc.  Das 
Augment  war  ursprünglich  nicht  erforderlich.  Da  die  Verbal- 
formen überhaupt  keine  bestimmte  Zeitstufe  zum  Ausdruck 
brachten,  konnten  sie  auch  ohne  die  Partikel  für  die  Ver- 
gangenheit gebraucht  werden.  Nur  in  wenigen  idg.  Sprachen 
sind  die  Augmenttempora  zu  einem  festen  Bestandteil  des  Kon- 
jugationssystems geworden,  und  selbst  im  älteren  Griechisch,  in 
der  Sprache  Homers,  kann  es  bekanntlich  noch  fehlen  (Brgm. 
2,  866).  Solche  augmentlosen  Aoristformen  sind  ahd.  stigi, 
Imgi'^  sie  entsprechen  genau  griechischen  Formen  wie  [e]-XiTT- 
eq,  [e]-cpuY-e(;.  Die  Bedeutung  der  Formen  ermöglichte  also 
ihre  Aufnahme  in  das  Perfektum:  der  Umstand,  dass  im  West- 
germanischen die  beiden  Tempora  in  der  1  PI.  lautgesetzlich  zu- 
sammengefallen waren,  mag  sie  veranlasst  haben  (PBb.  23, 
0I51).  Aber  nur  in  Kl.  P,  II,  III  hat  die  2  Sg.  Prät.  diese 
regelmässige  Form  mit  vokalischer  Tief  stufe;  die  entsprechenden 
Formen  in  den  übrigen  Klassen  sind  Analogiebildungen.  Da 
in  jenen  drei  Klassen  die  2  Sg.  in  ihrem  Vokal  mit  dem  Plur. 
und  Opt.  Prät.  übereinstimmte  {{liulpi :  liulpum,  stigi :  stigum, 
hugi :  hugum),  so  bildete  man  danach  zu  gehum,  nemiim :  gehi, 
nemi,  zu  forum :  fori,  zu  slepum  :  slepi.  Auch  dass  in  allen 
diesen  Formen  der  kurze  Vokal  einer  ursprünglich  letzten  Silbe 
bewahrt  ist,   beruht  auf  Formübertragung  oder  Systemzwang, 


1)  An  der  älteren  Annahme,  dass  hugi,  stigi  eigentlich  Optativ- 
lormen  seien,  hält  van  Helten  PBb.  28,  545  fest.  Der  indikativische 
Gebrauch  der  ahd.  1  PI.  auf  -em  bietet  jedoch  keine  Stütze;  vgl.  §  28. 


32   Verba  mit  schwächer  entwickeltem  oder  fehlendem  Ablaut.  [§  20. 

eigentlich   kommt   er  nur  Formen  mit  kurzer  Stammsilbe  wie 
stigi,  hugi  zu  (I  §  257). 

2.  Verba  mit  schwächer  entwickeltem  oder 
fehlendem  Ablaut. 

/  20.  (Ablautreihen.)  1.  Während  die  ersten  drei  Kon- 
jugationen aus  e-Wurzeln  hervorgegangen  sind,  beruhen  die 
Typen,  in  denen  der  Ablaut  schwächer  entwickelt  ist  oder 
fehlt,  auf  Wurzeln  mit  anderen  Grund  vokalen  {a,  ä,  e),  doch 
haben  sich  auch  manche  zu  e-Wurzeln  gehörige  Verba  ihnen 
angeschlossen.  Drei  Konjugationsforraen  haben  sich  ergeben: 
Verba  mit  Ablaut  zwischen  Präs.  und  Perf.,  Verba  mit  Ablaut 
und  Reduplikation,  Verba  ohne  Ablaut  mit  Reduplikation;  von 
den  letzteren  führe  ich  die  mit  a  als  besondere  Gruppe  an. 
Als  Repräsentanten  dieser  Gruppen  können  folgende  gotische 
Verba  dienen: 

IV.     faran,  för,  forum,  fcirans. 
Va.  letan,  lai-lot,  lailotum,  letans. 

b.  höpan,  Jvwai-Jvöp,  hai-höpum,  höpans. 

c.  haldan,  hai-hald,  hai-haldum,  haldans, 

[Einige  Pura  haben  für  die  geschlossenen  Vokale  e  und  ö  die 
offenen,  durch  ai  und  au  bezeichneten  Laute  eintreten  lassen;  zu 
Kl.  Va  gehören  sciian  säen  und  waian  wehen,  zu  Kl.  V^  lauan 
lästern  und  hauan  wohnen.  Im  PI.  Prät.  dieser  Verba,  wo  man 
gleichfalls  au  erwarten  sollte,  ist  unter  dem  Einfluss  des  Singulars 
ö  zur  Geltung  gekommen.     Streitberg*  S.  74  Anm. 

2.  Der  Vokalismus  dieser  Konjugationen  gibt  manches 
Rätsel  auf.  In  Kl.  V^  und  V'^  stehen  die  beiden  ersten  Stamm- 
formen in  normalem  Verhältnis.  Sie  repräsentieren  den  Ab- 
laut, der  in  e-  und  «- Wurzeln  zu  erwarten  ist.  In  den  e-Wurzeln 
bezeichnen  idg.  e  und  ö  die  erste  und  zweite  Hochstufe,  in 
den  «-Wurzeln  idg.  a  und  ö.  In  Udan  hat  sich  also  der  alte 
Ablaut  erhalten,  in  höpan  ist  er  geschwunden,  weil  idg.  ä 
und  ö  in  germanisch  ö  zusammenfallen.  Aber  wider  die 
Regel  ist,  dass  die  langen  Vokale  auch  in  der  dritten  und 
vierten  Stammform  stehen,  wo  man  n  =  idg.  d  erwarten  sollte 
(vgl.  g.  lats  lässig,  träge  neben  letan,  ahd.  sUff  neben  deiiaUj. 


§  20.]  Abiautreihen.  3S 

an.  iaka,  töJc  neben  g\  teJcan).  Unregelmässig'  ferner,  dass 
einige  Verba  wie  im  Präsens  so  auch  im  Präteritum  e  haben. 
Zwar  die  meisten  (letcm,  gretan,  7'edan,  teJcan,  saian,  waian) 
haben  6,  aber  das  Prät.  von  slepan  lautet  saizUp,  und  ent- 
sprechend vermutlich  von  lüesan^'Ä^QYi,  blasen  balMes. 

/3.  Verwickelter  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  Verben, 
die  a  im  Präsens  haben  (Kl.  IV  und  V^).  Dieser  Vokal  hat 
nicht  in  allen  Verben  denselben  Ursprung  und  Wert.  Er  konnte 
sich  in  verschiedenen  Ablautreihen,  sowohl  auf  der  Plochstufe 
als  auf  der  Tiefstufe  entwickeln  und  nicht  immer  ist  eine 
sichere  Entscheidung  zu  gewinnen.  Denn  verscliiedene  Abiaut- 
reiiien  fallen  in  einzelnen  Lauten  zusammen,  namentlich  im  Ger- 
manischen (iclg.  ä  und  ö>germ.  ö,  idg.  a,  o,  9  >>  g-erm.  a).  Über 
den  Wert  des  Lautes  in  den  folgenden  Beispielen  s.  Streitberg  S.  90  f. 
95.  293). 

a  kann  erstens  Tiefstufe  der  Wurzeln  mit  langem  Vokal 
sein,  idg.  9,  ergab  sich  also  im  Präsens  von  Verben,  die  die 
Endung  betonten.  Als  Tiefstufe  von  e  erscheint  es  z.  B.  in  g. 
Tiafjan  heben,  skapjan  schaden,  ahd.  spanan  locken.  Als  Tiefstufe 
zu  ä  in  g,  skahan  schaben,  ahd.  watan  waten  (vgl.  1.  vädo),  laffan 
lecken  (Wz.  lab,  vgl.  1.  lambo.  Brgm.  2,  999),  auch  in  g.  standan  mit 
?i-Infix.  Als  Tief  stufe  zu  Ö  in  ahd.  halihan  und  hackan  (mit  assi- 
miliertem n-Suffix,  vgl.  gr.  qpujTuj).  —  Das  a  kann  aber  auch  Hoch- 
oder  Tiefstufe  von  «-Wurzeln  sein,  die  im  Idg.  auf  den  Hoch- 
stufen a  und  0  entwickelten.  Zu  solchen  Wurzeln  gehören  in 
Kl.  IV  g.  alaii  aufwachsen  (vgl.  1.  alo),  us-anan  aushauchen;  zu 
Kl.  Vc  g.  us-alpan  veralten,  saltan  salzen,  ivaldan  walten,  skaidan; 
ahd.  falla7i,  hannan.  —  Endlich  können  die  Verba  mit  a  auch 
zu  e-Wurzeln  gehören.  So  in  Kl.  IV  g.  faran,  malan,  graban, 
slahan-,  ahd.  ghüaliinen  (§11,4);  in  Kl.  V^  g.blandan  mischen;  ahd. 
scaltan  stossen,  spaltan,  wallan  wallen,  aufkochen;  icalzan.  Unter 
welchen  Umständen  sich  in  e- Wurzeln,  in  denen  man  für  das 
hochstufige  Präsens  e,  g.  i,  für  das  tiefstufige  vor  Nasal  und 
Liquida  u  erwarten  sollte,  a  ergab,  ist  noch  nicht  genügend 
erklärt;  s.  Streitberg  S.  293  Anm.     Hirt  PBb.  23,  303  f. 

Anm.  1.     Auch  der  grammatische  Wechsel  gibt  über  den  Wert 

des  a  keine  sichere  Auskunft.     Wir  finden  stimmlose  Spiranten  aucli 

in  Verben,  deren  Vokal  tiefstufiges  Präsens  voraussetzt,  müssen  also 

annehmen,  dass  hier  schon  sehr  früh  Akzentverschiebungen  einge- 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  3 


34     Verba  mit  schwächer  entwickeltem  oder  fehlendem  Ablaut.  [§  20. 

treten  sind  (Brgm.  2,  1076.  1078).  Überhaupt  ist  nur  in  Avenig-en 
Verben,  die  a  im  Präsens  haben,  grammatischer  Wechsel  zu  kon- 
statieren: g.  skahan  (Wz.  skap,  vgl.  gr.  öKdir-Tuu),  haldan  halten 
(Präs.  mit  -to,  vgl.  gr.  ßoü-KoA-oc;  Brgm.  2,  1042),  ferner  g.  skaidan 
(aber  ahd.  sceidan  <;  *skaipan)  und  vielleicht  noch  dies  oder  jenes 
andere.  Viele  zeigen  stimmlosen  Spiranten :  g.  .slahmi,  Jnvahan, 
hlahjan,  hlapan,  skapjan,  frapjan,  hafjan,  ahd.  lahan,  gitvahinen, 
inseffen  und  in  Kl.  Vc  g.  alpan,  fähan,  hähan,  ebenso  g.  falpan, 
ahd.  faldan  (sjijäter  faltan). 

->i:  Die  Verba,  welche  a  im  Präsens  haben,  bilden  nun 
zwei  Gruppen.  Die,  welche  auf  einen  einfachen  Konsonanten 
ausgehen,  haben  im  Prät.  Sg.  und  PI.  o,  im  Part,  a  (Kl.  IV), 
die,  in  denen  auf  die  AVurzel  z,  w,  Z,  n  +  Kons,  folgen  lassen 
(Jiaitan,  Jihmpcm,  Jialdan,  blandan,  auch  fähan  und  hähan, 
in  denen  der  Nasal  geschwunden  ist),  haben  in  allen  Formen 
a  (Kl.  V^).  Nur  zum  Teil  lassen  sich  diese  Formen  als  Er- 
gebnis einer  regelmässigen  Lautentwickelung  verstehen,  ö  in 
der  zweiten,  a  in  der  ersten  und  vierten  Stammform  käme 
Verben  aus  e-  und  ö-Wurzeln  mit  tief  stufigem  Präsens  zu;  a 
in  der  ersten  und  zweiten  Stammform  Verben  aus  «-Wurzeln. 
Aber  wie  kommt  es,  dass  wir  ö  auch  in  Verben  aus  a-  und 
e-Wurzeln  und  nicht  nur  im  Sg.  sondern  auch  im  PI.  Prät. 
finden,  und  wie,  dass  in  den  Verben  der  Klasse  V  in  der 
dritten  und  vierten  Stanunform  derselbe  Vokal  gilt  wie  in 
der  ersten  und  zweiten? 

h.  Sichere  Erklärungen  für  die  mancherlei  Unregel- 
mässigkeiten, die  wir  in  allen  Reihen  der  4.  und  5.  Klasse 
wahrnehmen,  sind  noch  nicht  gefunden.  Es  ist  sehr  merk- 
würdig, dass  sich  hier  für  die  Formen,  welche  tiefe  Vokal- 
stufe voraussetzen,  nirgends  eine  eigentümliche  Vokalisation 
ergeben  hat;  das  Part,  stimmt  inmier  mit  dem  Präs.,  der  Plur. 
und  Opt.  Prät.  inuner  mit  dem  Sg.  Prät.  überein;  nur  ahd. 
siöerien  schwören,  dessen  Part,  im  Ahd.  stets  gisworan  lautet, 
nie  giswaran  (Br.  §  347  A.  4),  zeigt  eine  selbständige  Tief- 
stufenform \).      Hier   müssen   starke   Formübertragungen   statt- 

1)  Wahrscheinlich  ist  dies  giswoi-an  doch  nur  eine  entartete 
Form.  Es  ist  zu  beachten,  dass  0.  4,  18,  15  die  3  Sg.  Prät.  suär 
schreibt,  als  ob  das  Wort  nach  Kl.  Jb  ginge;  dazu  passt  das  Part. 
gisworan. 


§  21.]  Beseitigung"  der  Reduplikation.  35 

gefunden  haben;  aber  wir  wissen  nicht,  wie  sie  zustande  ge- 
kommen sind.  Selbst  die  Annahme,  dass  im  Prät.  der  Vokal  des 
Sg.  auf  den  PI.  übertragen  sei,  ist  nicht  unbedenklich,  da  der 
grammatische  Wechsel,  der  hier  überall  auch  im  Sg.  erscheint,  um- 
gekehrt auf  Einfluss  des  PI.  auf  den  Sg*.  schliessen  lässt:  heffen, 
Jiuob,  huobun-,  slahan,  sluog,  sluogun-^  fähan^  f^^ng^  fiengun  etc.; 
Spuren  auch  in  faldan  und  sceid an  (Bi\  §350  A.  3  352.  A.  2);  vgl. 
Brgm.  2,  1215.  J257. 

Anm./^.'  Unerklärt  ist  auch,  warum  g.  arjan,  ahd.  erjen, 
erren  pflügen  sein  Perf.  mit  Reduplikation  nach  Kl.  Vc  bildet:  g. 
'■'ai-ar,  ahd.  ia7%  iarun  \  nach  dem  Auslaut  der  Wurzel  sollte  man 
ör,  uor  erwarten.  Andere  Spuren,  aus  denen  zii  schliessen  ist,  dass 
die  Grenze  zwischen  reduplizierten  und  nicht  reduplizierten  Per- 
fektis  geschwankt  hat,  im  Grdr.  1 2  437  §  172. 

/  21.  (Beseitigung  der  Eeduplikation.)  1.  Dass  die  Redupli- 
kation einst  nicht  auf  die  Verba  der  5.  Kl.  beschränkt  war, 
zeigt  der  ^-Typus  in  Kl.  I^  und  F*  (§  16);  wie  weit  sie  etwa 
auch  in  anderen  Verben  gegolten  hat,  und  ohne  Einwirkung 
auf  die  Stammsilbe  aufgegeben  ist,  ist  zweifelhaft  i).  Ebenso 
ist  nicht  deutlich  zu  sehen,  warum  sie  gerade  in  dem  Umfang 
bestehen  blieb,  in  dem  das  Gotische  sie  anerkennt.  Ein  Faktor, 
der  sie  schützte  und  begünstigte,  mag  das  Streben  nach  einer 
kräftigen  Unterscheidung  der  Tempusstämme  gewesen  sein; 
denn  wir  finden  sie  in  allen  Verben,  denen  der  Ablaut  fehlt. 
Aber  der  einzige  Faktor  kann  dies  doch  nicht  gewesen  sein, 
<lenn  in  den  Verben  der  Kl.  V-^  gelten  Reduplikation  und 
Ablaut  nebeneinander. 

/2.  Das  Gotische  ist  die  einzige  germanische  Sprache,  in 
der  sich  die  Reduplikation  erhalten  hat ;  in  den  anderen  finden 
sich  höchstens  noch  einige  Spuren;  im  allgemeinen  gilt  in  ihnen 
statt  der  Reduplikation   eine  Art  Ablaut.     Je  nach  dem  Prä- 


1)  Hirt,  Ablaut  S.  194  nimmt  an,  dass  die  Reduplikation,  die 
einst  allgemein  galt,  schon  im  Uridg.  im  Singular  geschwunden,  im 
Plural  aber  erhalten  war,  in  der  3  PI.  der  Verba  Jf^t»  mit  Dehn- 
stufe e.  Ausgleich  der  Formen  habe  im  Germanischen  bei  den  ab- 
lautenden Verben  zum  allgemeinen  Verlust  der  Reduplikation  geführt; 
nur  in  den  Verben,  in  denen  sich  die  Dehnstufe  entwickelt  hatte, 
sei  sie  erhalten. 


36    Verba  mit  schwächer  entwickeltem  oder  fehlendem  Ablaut.    [§  21. 

sensvokal  erscheint  dieser  Ablaut  in  zwei  verschiedenen  Formen, 
in  deren  Abgrenzung  die  Sprachen  nicht  ganz  übereinstimmen. 
Im  Ahd.  haben  die  Verba,  die  einen  hellen  Vokal  im  Präsens 
haben  (g.  e,  a,  ai),  im  Prät.  gemeinhin  ia,  die,  welche  einen 
dunkeln  Vokal  im  Präsens  haben  (g.  ö,  cm),  io  oder,  in  Verben 
die  auf  einen  Labial  ausgehen  {loiifan,  riiofan),  im  Ober- 
deutschen iu  (Br.  §  354  A.  1).  ia  geht  auf  älteres  ea,  e  zurück, 
io  {iu)  auf  älteres  eo  (eu).  Später  fallen  beide  in  ie  zusammen ; 
doch  kommt  iu  auch  noch  in  mhd.  Zeit  vor  {hiu  ich  hieb, 
Muwe,n]  Uuf,  Hufen). 

3.  Wie  diese  neuen  Ablautklassen  entstanden  sind,  dar- 
über "^nd  die  Meinungen  geteilt.  Neuerdings  hat  man  die 
Ansicht  aufgestellt,  dass  sie  mit  den  got.  reduplizierten  Per- 
fektis  überhaupt  nichts  zu  tun  haben,  ihr  Ausgangspunkt  viel- 
mehr in  reduplikationslosen  Perfektis  mit  Langdiphthongen  zu 
suchen  sei  ^).  Ich  halte  die  Hypothese  für  entbehrlich  und 
weniger  wahrscheinlich  als  die  ältere,  gemeingültige  Ansicht, 
dass  dieser  jüngere  Ablaut  auf  der  Reduplikation  beruht,  und  ^ 
dass  alle  germanischen  Sprachen  die  Reduplikation  in  dem-l 
selben  Umfange  anerkannten  wie  das  Gotische.  An  eine  rein 
lautgesetzliche  Entwickelung  der  abgeläuteten  Formen  aus 
den  gotischen  reduplizierten  ist  freilich  nicht  zu  denkenj 
Formen  wie  g.  hai-hlanditn,  fai-faUun,  hai-lilaupim,  stau 
stautun  können  nur  durch  eine  sehr  freie,  an  Lautgesetze 
nicht  gebundene  Umbildung  zu  hlianttm,  fiallun,  liofun, 
stio^un  geworden  sein.  Erfolglos  scheint  mir  auch  das  Be- 
mühen, einzelne  Verba,  in  denen  die  historischen  Formen  durch 
lautgesetzliche  Entwickelung  entstanden  sein  könnten  (z.  B. 
an.  jök  <  g.  ai-auk)  aufzuspüren  und  auf  sie  dann  gruppen- 
weise die  andern  Verba  zurückzuführen  (so  Bethge  S.  361  I'. 
Kluge,  Grdr.  P  437  u.  a.).  Gewiss  wird  nicht  in  allen  Verben 
die  Umbildung  zu  gleicher  Zeit  zum  Abschluss  gebracht  sein; 
aber  die  Neigung  zur  Umbildung  hat  sich  vermutlich  bei  allen 


1)  So  namentlich  Brugmann,  IF.  6,  89  f.;  dagegen  Franck, 
ZfdA.  40,  24.  van  Halten,  PBb.  21,  445  ff.  Bethge  S.  363.  Viel 
Literatur  verzeichnet  Brgm.  2,  1204  A.;  Schriften,  welche  die  Um- 
bildung behandeln  Br.  §  348  A.  1. 


§  21.]  Beseitigung  der  Reduplikation.  37 

zu  gleiciier  55eit  geltend  g-emacht.  Die  Abnormität  einer  Bil- 
dung, die  sich  nur  in  verhältnismässig  wenigen  Verben  er- 
halten hatte,  und  die  Tonlosigkeit,  der  die  Stammsilbe  nach 
der  betonten  kurzen  Reduplikationssilbe  verfiel,  machen  es 
wohl  begreiflich,  dass  durch  allmähliche  Schwächung  der 
Mittelsilbe  Formen  wie  hai-Tiqitun  zu  ^hetun,  liai-liqldun  zu 
"^heldun,  hai-hlötun  zu  %leotun  wurden.  In  Verben,  die  mit 
einer  Konsonantverbindung  anfingen,  trat  diese  in  die  betonte 
erste  Silbe,  der  Anlaut  der  unbetonten  Stammsilbe  verkümmerte 
und  verschwand  schliesslich  ganz,  so  dass  sich  wie  in  den 
übrigen  Verben  ein  gleichartiger,  nur  durch  den  Vokal  unter- 
schiedener Stamm  im  Präs.  und  Prät.  ergab.  Der  Vokalklang 
der  alten  Formen  haftete  noch  in  den  Neubildungen.  Nur 
die  hellen  Vokale  verschmolzen  mit  dem  Vokal  der  Redupli- 
kation zu  einem,  so  viel  wir  sehen  können,  einheitlichen  Laut-, 
die  dunkeln  Vokale  hielten  sich  als  zweiter  Bestandteil  des 
Dipthongen  eo. 

(4^  Dass  nun  die  reduplizierten  Formen,  welche  das 
Hochdeutsche  voraussetzt,  in  jeder  Beziehung  mit  den  gotischen 
übereinstimmten,  braucht  man  nicht  anzunehmen  und  ist 
wenigstens  für  die  Verba  V^  unwahrscheinlich.  Im  Gotischen 
haben  diese  Verba  in  allen  Formen  des  Prät.  6\  setzte  das 
Ahd.  dieselbe  Bildung  voraus,  so  müsste  sich  hier  der  Diphthong 
20  ergeben  haben ;  der  kommt  ihnen  aber  nicht  zu.  Im  Gotischen 
heisst  es  letmiy  lailöt,  lailötun,  im  Ahd.  lä^an^  ^^(^3)  lia^un. 
ia  muss  in  Perfektformen  entstanden  sein,  in  denen  sich  ent- 
weder abweichend  vom  Gotischen  die  regelmässige  Tiefstufe 
der  e-Reihe  erhalten  hatte  {Hai-latun  oder  Heitun,  Grdr.  I- 
437),  oder  in  die  der  Präsensvokal  e  eingedrungen  war,  wie 
in  g,  slepan,  saizlep. 

Anm.  In  den  Verben  mit  hellem  Vokal  findet  sich  statt  des 
e,  aus  dem  ahd.  ia  hervorgeht,  vor  Nasal  oder  Liquida  -f  Cons. 
auch  e,  besonders  im  Ae.,  sei  es,  dass  die  Konsonantverbindung  die 
Entwickelung  eines  langen  Vokals  gehindert  oder  nachträglich  zu 
seiner  Verkürzung-  geführt  hatte.  Im  Hd.  sind  solche  Formen  nur 
spärlich  nachzuweisen  und  nur  vor  Nasal,  im  Is.  und  in  M. :  kenc, 
cjangun,  in-fenc,  arhenc  (Br.  §  350  A.  7).  Wenn  sich  nachweisen 
Hesse,  dass  sie  einst  allgemeine  Geltung-  gehabt  haben,  müssten  aller- 


38    Verba  mit  schwächer  entwickeltem  oder  fehlendem  Ablaut.    [§  22.. 

dings,  wie  Streitberg  S.  331  annimmt,  ahd.  fiang,  giang,  hiang  junge 
Neubildungen  sein;  doch  liegt  dazu  kein  Grund  vor  (Franck, 
ZfdA.  40,  29). 

22.  (Ahd.  Präterita  mit  inl.  r.)  Einige  deutliche  Spuren 
von  der  Fortdauer  des  Wurzelanlauts  neben  der  Reduplikation 
finden  sich  im  An.  und  Ae. ;  z.  B.  an.  sera  <C  sezö  (g.  saisö, 
ohne  grammatischen  Wechsel);  ae.  lieht  (g.  haihait),  reorcl 
(g.  rairöp),  leolc  (g.  lailaik);  aber  sehr  zweifelhaft  ist,  ob 
man  auch  einige  ahd.  Formen,  Perfekta  und  Partizipia  mit 
inlautendem  r,  so  zu  deuten  hat.  In  Betracht  kommen  die 
Verba  stö^an,  scrötan  schneiden,  hluo^an  opfern,  hüan  wohnen, 
scrian,  speiwan.  Unter  diesen  Verben  ist  nur  eins,  in  dem  r 
im  Ahd .  allgemein  gültig  ist :  scrian,  scrirun,  giscriran ;  erst 
sehr  spät  tauchen  entsprechende  Formen  von  spiwan  auf  (Br. 
§  331  A.  3);  nur  vereinzelt  begegnen  r-Formen  von  den  vier 
ersten;  in  alten  Glossen  stero^,  stero^un\  Mscrerot\  plerti^^tm, 
capleru^^iy  bei  Ottfried  hiruun,  hiruwis  (Br.  §  354  A.  3).  In 
dem  r  der  Verba  stö^an,  scrötan,  hlö^an  hat  man  nun  einen 
Rest  des  Wurzelanlauts  der  ursprünglich  reduplizierten  Form 
vermutet.  Zunächst  sei  die  anlautende  Konsonantverbindung 
aus  der  Wurzelsilbe  in  die  Reduplikation  getreten,  dann  sei 
das  inl.  s  in  stö^an  und  scrötayi  durch  lautgesetzliche  Ent- 
wickelung,  das  l  in  hlö^an  durch  Dissimilation  zu  r  geworden 
{stestö^un  >  stesö^un  >  stero^un\  beblö^^un,  hlelö^^un,  hie- 
ro^^mi).  Dieselbe  Erklärung  glaubte  Osthoff  (PBb.  8,  551) 
auch  auf  scrian  anwenden  zu  dürfen.  Da  aber  bei  diesem 
Verbum  im  Germanischen  überhaupt  keine  Reduplikation  nach- 
w^eisbar  ist,  fand  eine  andere  Erklärung  J.  Schmidts  (KZ. 
25,  599)  mehr  Beifall.  Dieser  sah  in  scrirun  einen  alten 
sigmatischen  Aorist,  die  einzige  Spur,  die  sich  im  germ.  Verbuni 
von  diesem  Tempus  erhalten  hätte.  Weder  die  eine  noch  die 
andere  Erklärung  Hess  sich  auf  hiruun,  hiruwis  anwenden, 
und  ich  glaube,  dass  sie  auch  bei  den  anderen  Verben  nicht 
das  richtige  treffen,  teile  vielmehr  die  Ansicht  Zarnckes 
(PBb.  15,  350),  dass  dies  r  überhaupt  kein  etymologisch  be- 
rechtigter Laut  ist,  sondern  ein  Übergangslaut,  der  sich  nach 
kurzer  offener  Silbe  einstellte  (I  §  157  Anm.  3).     In  den  vier 


§  22.]  Ahd.  Präterita  mit  inl.  r.  30 

reduplizierten  Verben  setzt  sein  Gebrauch  noch  die  zweisilbige 
Aussprache  der  Stammsilbe  voraus,  da  aber  diese  zweisilbige 
Stammform  früh  zusammengezogen  wurde,  konnte  auch  der 
Übergangslaut  keinen  Bestand  haben.  In  scrirun,  gisciran 
dagegen,  zwischen  Stamm  und  Flexion,  behauptete  er  sich, 
weil  hier  keine  Zusammenziehung  stattfand,  sphoan  endlich, 
dessen  Stamm  ursprünglich  auf  ic  ausging,  mag  das  spät 
nachweisbare  r  unter  der  Einwirkung  von  scrian  empfangen 
haben  (vgl.  §  23  Anm.). 

/Spaltung  und  Umgestaltung  der  Ablautreihen. 

^^~^23.  (Lautgesetzliche  Änderungen.)  1.  Die  bisher  be- 
sprochenen Bildungen  bringen  noch  nicht  die  ganze  Mannig- 
faltigkeit des  Vokalismus  in  den  starken  Verben  zur  An- 
schauung. Neben  den  aus  der  germanischen  Zeit  stammenden 
Haupttypen  entstehen  durch  die  Lautgesetze  der  einzelnen 
Sprachen  neue  Formen.  Im  Gotischen  steht  in  Kl.  I*  neben 
giban,  gihans  :  saihan,  saiTvans;  in  Kl.  P  neben  nhnan, 
numans  :  hairan,  baurans;  in  Kl.  P  neben  hilpan,  hulpans  : 
hairgan,  haurgans'^  in  Kl.  II  neben  stigum,  sfigans  :  paihun, 
paihans-^  in  Kl.  III  neben  hugiim,  Jmgans  :  tauhun,  taulians. 
^2.  Grössere  Mannigfaltigkeit  zeigt  das  Ahd.,  zum  Teil, 
weil  alte  Lautunterschiede,  die  im  Gotischen  nicht  mehr  wahr- 
nehmbar sind,  sich  erhalten  haben.  (Der  nur  bedingte  Über- 
gang von  e  zu  i,  von  u  zu  o,  von  ai  zu  e,  von  ati  zu  ö,  end- 
lich der  Umlaut  ergeben  in  den  ersten  4  Klassen  eine  erheb- 
lich grössere  Zahl  von  Vokalreihen: 

la.  gehaUj  gab,  gäbum,  gigeban. 
bitten,  bat,  bätum,  gibetan. 

b.  niiman,  nam,  nmnum,  ginoman. 

c.  hei f an,  half,  hui f um,  giholfan. 
biiitan,  bant,  buntum,  gibuntan. 

IL      stigan,  steig,  stigum,  gistigan. 

dihan,  deh,  diguni,  gidigan. 
IIL      biogan,  bong,  bugum,  gibogan. 
ziohan,  zöh,  zugum,  gizogan, 
sügan,  soug,  sugum,  gisogan. 


40  Spaltung  und  Umg-estaltung  der  Ablautreihen,  [§  23. 

IV.      favarij  fiioVy  fuorum,  gifaran. 

^  heffen,  huob,  huobum,  glhaban. 

3.  Ebenso  ergeben  sich  im  Hd.  Unterschiede  in  den  zu 
derselben  Stammform  gehörigen  Formen,  e  und  i  konkurrieren 
in  den  Präsensformen  der  KL  I  {gibu,  gibist,  gihit,  gib  :  geban 
etc.);  iu  und  io  in  Kl.  III  {biugu,  biugist,  biugit,  biug  :  biogan 
etc.);  Umlaut  scheidet  die  2  und  3  Sg.  Prät.  von  den  übrigen 
Präsensformen  in  Kl.  IV  und  V^  {farii,  feris,  ferit,  haltu, 
heltist,  heJtit;  Br.  §  350  A.  7);  später  auch  in  Kl.  V'^  {släfe, 
slcefest,  slcefet\  Paul  §  156  Anm.);  ferner  die  2  Sg.  und  den 
Opt.  Prät.  vom  PI.  Prät.  in  Kl.  I,  III,  IV  {gcebe  :  gäben, 
noeme  :  yimnen,  hülfe  :  hülfen,  biige  :  bugen,  füere  :  fuoren). 
/A.  Neue  Spaltungen  bewirken  die  Lautveränderungen, 
die  die  Sprache  in  der  Entwicklung  vom  Mhd.  zum  Nhd.  er- 
fährt. Der  Übergang  von  u  zu  o  vor  Doppelnasal  scheidet 
jetzt  in  Kl.  P  begonnen,  geschwommen  von  gebunden.  Wo 
früher  nur  kurzer  Vokal  galt,  stehen  jetzt  Formen  mit  kurzem 
und  gedehntem  Laut  einander  gegenüber;  so  in  Kl.  I  messen, 
vergessen,  sprechen,  treffen  :  geben,  lesen,  sehen,  stehlen,  ge- 
bären, loerden]  in  Kl.  II  gegriffen  :  geschrieben,  gestiegen:  in 
Kl.  III  gegössen,  geJcröclien,  gesötten  :  gebögen,  geschöben,  ge- 
böten', in  Kl.  IV  gebacken,  getcächsen  :  gefahren,  geladen, 
getragen.  Auch  Formen,  die  zu  derselben  Stammform  ge- 
hören, werden  durch  die  nhd.  Dehnung,  da  sie  zunächst  nur 
in  offener  Silbe  gilt,  auseinander  gerissen ;  vgl.  nehme,  nimmst, 
nimmt,  nimm,  trete :  trittst,  tritt;  werde:  wirst,  wird;  gebe: 
gibet,  Qtbt.  gfo ;  auch  lese  :  list,  Its. 

ikwva.  Einzelne  Verba,  die  abweichende  Vokale  zeigen,  sind 
in  der-Aiif Stellung  dieser  Reihen  nicht  in  Betracht  gezogen.  Sie 
mögen  hier  angeführt  werden,  g.  hliggwan  schlagen  stimmt  In 
seinen  Formen  ganz  zu  Kl,  Ic;  aber  da  gg  hier  nicht  eine  Nasal-/ 
Verbindung,  sondern  geschärftes  iv  bezeichnet,  ist  das  Verbum  viel- 
mehr VA\  Kl.  III  zu  stellen:  hliggican,  hlaggiv,  hliiggwum,  bluggivans 
wie  biiigan,  baug,  htigiim,  bugans.  /Im  Hd.  erscheint  das  Doppel-i^ 
als  ein  Laut,  der  mehr  als  das  einfache  iv  dazu  neigt,  sich  dijjh- 
thongisch  mit  dem  vorhergehenden  kurzen  Vokal  zu  verbinden  und 
dann  ganz  zu  verschwinden ;  der  Übergang  von  iu  zu  io  kann 
dabei  nicht  eintreten.  Dem  entsprechend  heisst  es  ahd.  bliuwan^ 
blou,  blüwun,  giblüivan.  Ebenso  hriuwan  schmerzen,  reuen,  kiuwan 


§   24. 


Formübertragungen  in  der  älteren  Sprache. 


41 


kauen,  mhd.  briuiven.  Im  Mhd.  erscheint  neben  ilic  auch  ouw  (Fl. 
hlouicen)  und  iuic  (PI.  bliuiuen,  Prtz.  gehliutven).  Br.  §  334  A.  4.  5. 
Paul  §  159  A.  2. 

^•.  speüvan  geht  regelmässig  nach  Kl.  II;  dem  entspriclit  ahd. 
spUvan,  speg^  sphcun.  gisphvan.  Formen  mit  ü,  die  schon  im  Ahd. 
im  PI.  Prät.,  im  Mhd.  auch  im  Präs.  erscheinen,  gehen  vermutlich 
auf  eine  andere  Wurzelform  zurück  (Brg'm,  2  §  707  Anm.  S.  1062. 
Hirt,  Ablaut  S.  151).  /_Dann  stellt  sich  auch  hier  iutü  für  iiu  ein  (PI. 
Prät.  mhd.  s;piiML:en,  Prtz.  gespiuiven,  Inf.  spiuicen),  ferner  im  Prät. 
spei  neben  sp^  und  Formen  mit  r  {spini,  gespirn),  nach  der  Ana- 
logie von  schrien  (§  22).  —  Für  ahd.  giUwaii^  das  regelmässige 
Part,  von  Ithaii,  g.  leiJvan  erscheint  im  Mhd.  geliuicen  und  geluJien. 
Paul  §  158  A.  2. 

Ähnliche  Formen  wie  von  spiicen  werden  im  Mhd.  zu  schrien 
gebildef;  im  Sg.  Prät.  gelten  sch^^ei^  und  sehr e  (ZfdA.  45,  30),  im  PI. 
und  Part,  neben  dem  alten  scrirn,  gescrirn :  schimitcen  schrüwen, 
geschrimven  geschrüwen.     Br.  §  330  A.  3.  331  A.  3. 

/Das  Perf,  von  queniaii  lautet  im  Ahd.  bis  ins  11.  Jh.  regel- 
mässig quam^  quämen^  dann  alem.  mit  Schwund  des  u  chani,  chämeji 
(N.),  unb  im  Bair.  mit  Trübung-  des  Vokals  chom^  chömen.  Br.  §  340. 
A.  3.  c.  Schröder,  Kehr.  S.  53.  Zwierzina,  Beobachtungen  S.  502. 
ZfdA.  44,  87  A.  263  A.  —  Ähnliche  Doppelformen  auch  von  queln 
Qual  leiden,  queclen  sagten. 

Jüngere,  nhd.  Entartungen  sind  e>-ö  in  löschen  (Ib),  ie^il 
in  lügen,  trüge)i^  küren  lIII),  e>ö  in  schtcören  (und  schöpfen  IV). 

124.  (Formttbertrag-ungen  in  der  älteren  Sprache.)  1.  So 
tief  die  lantgesetzlichen  Änderungen  in  die  Ablautreihen  ein- 
greifen, so  haben  sie  doch  nur  in  einem  Fall  die  Grenzen 
zwischen  ursprünglich  verschiedenen  Reihen  aufgehoben.  Indem 
ia  und  io  in  ie  übergehen  {sliaf,  stio^  >  slief,  stie^),  fallen 
schon  im  9.  Jh.  die  beiden  Gruppen  der  ehemals  redupli- 
zierten Verba  zusammen.  Im  übrigen  hat  die  Lautent Wickelung 
die  Schranken  immer  nur  an  einzelnen  Punkten  niedergelegt. 
Durch  die  Diphthongierung  des  i  fallen  im  Nhd.  einige  Verba 
der  Kl.  V^  in  den  Präsensformen  mit  Kl.  II  zusammen,  heissen 
und  scheiden  (mhd.  heilen,  scJieiden)  mit  steigen  (mhd.  sUgen)] 
durch  die  Dehnung  Verba  der  Kl.  IV  im  Präs.  und  Part,  mit 
Kl.  V*,  fahren,  tragen,  laden  etc.  (mhd.  färn  etc.)  mit  raten, 
schlafen,  und  umgekehrt  durch  Verkürzung  lassen  (mhd.  lä^en 
V^)  mit  tüachsen  (IV).     Aber  wenn  auch  die  Lautentwickelung 


;  ^-CCi 


42  Spaltung'  und  Umgestaltung'  der  Ablautreihen.  [§  25.. 

die  Hauptgebiete  in  ihrer  Sonderheit  bestehen  liess,  so  hatte 
sie  doch  ihre  Widerstandsfähigkeit  bedeutend  gemindert.  Durch 
die  Ausbildung  neuer  Grenzen  wurden  die  einzelnen  Gebiete 
reicher  gegliedert,  die  Mannigfaltigkeit  der  Typen  wuchs,  die 
Zahl  der  Verba,  die  denselben  Typus  repräsentierten,  wurde 
kleiner,  das  ganze  Konjugationssystem  komplizierter  und 
schwieriger,  der  Boden  immer  günstiger  für  Formübertragungen. 
2.  Einige  Entgleisungen  traten,  wie  erwähnt,  schon  im  Ahd. 
ein :  der  Übertritt  von  Verben  wie  hrestan,  flelitan  aus  Kl.  V^  m 
Kl.  P  (§  17);  die  Part,  queman,  giklenan,  gihellan  (§11  Anm.), 
gisicoran  (§  20, 5).  In  der  mhd.  Zeit  begegnen  ferner  ge- 
stechen,  gepflogen  für  gestochen,  gepflegen;  luffen^  geloffen 
neben  liefen,  geloufen  u.  e.  a.  Aber  in  grösserer  Zahl  treten 
die  Änderungen  erst  mit  dem  Verfall  der  mhd.  Kunst-  und 
Literatursprache  ein.  Ursprung  und  Verbreitung  solcher  Neu- 
bildungen im  einzelnen  zu  verfolgen  ist  hier  nicht  der  Ort^); 
ich  beschränke  mich  darauf,  das  Ergebnis  der  Bewegung,  so 
weit  es  in  der  nhd.  Schriftsprache  zur  Anerkennung  gekommen 
ist,  darzulegen. 


_25.  (Formübertragungen  im  Nhd.  —  Präteritum.)  1.  Die 
Grenzen,   die   in   der   älteren  Zeit  zwischen   den  vier  Stamm- 

1)  Über  die  treibenden  Kräfte  s.  von  Bah  der,  ZfdPh.  32, 
106 — 110.  —  Allerlei  Material  bietet  Kehrein,  Grammatik  der 
deutschen  Sprache  des  15 — 17.  Jhs.  Ferner  Arbeiten,  die  die  Sprache 
einzelner  Schriftsteller  behandeln,  wie  C.  Franke,  Grundzüge  der 
Schriftsprache  Luthers.  Görlitz  1888.  Hertel,  Die  Sprache  Luthers 
im  Sermon  von  den  guten  Werken.  ZfdPh.  29,  475  f.  Fundinger^ 
Die  Darstellung  der  Sprache  des  Erasmus  Alberus:  Laut-  und  Flexions- 
lehre. Freiburg  1900.  Baeseke,  Die  Sprache  der  Opitzschen  Ge- 
dichtsammlungen von  1624  und  1625.  Leipzig  1899.  Blan  ckenburg. 
Studien  über  die  Sprache  Abrahams  a  S.  Clara.  Halle  1897.  Boucke^ 
P.  Augustin  Dornblüths  Observationes.  Freiburg  1895.  —  Spezial- 
untersuchungen: Hertz,  Beiträge  zur  Geschichte  der  regelmässigen 
Konjugation.  Halle  1886.  Shumway,  Das  ablautende  Verbum  bei 
Hans  Sachs.  Göttingen  1894.  Ders.,  the  verb  in  Thomas  Murner 
(1898.  Americana  Germanica  1,3,76-83.  1,4,1 — 30).  James,  Die 
starken  Präterita  in  den  Werken  des  Hans  Sachs.  München  1894. 
Kern,  Das  starke  Verbum  bei  Grimm  eishausen.  Chicago  1898  (Jour- 
nal of  Germanic  philology  1,  vgl.  ZfdPh.  32,  106-111). 


§  25.]  Formübertragung-en  im  Nhd.  —  Präteritum.  4^ 

formen  bestehen,  sind  nicht  gleich  stark  ausgeprägt.  Von 
Anfang  an  fallen  die  2.  und  3.  Stammform  in  Kl.  IV  und  V^ 
die  3.  und  4.  in  Kl.  II,  zum  Teil  auch  in  Kl.  P,  die  1.  und 
4.  in  Kl.  P,  IV  und  V  zusammen;  in  allen  Klassen  dagegen 
unterscheidet  sich  die  erste  Stammform  von  der  zweiten  und 
dritten;  die  Grenze  zwischen  Präsens-  und  Präteritalformen  ist 
also  am  stärksten,  und  sie  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag 
nirgends  durchbrochen. 

[2.  Am  wenigsten  hat  sich  der  Ablaut  zwischen  der 
zweiten  und  dritten  Stammform,  also  zwischen  Formen  des^ 
Präteritum  erhalten  können.  Sg.  und  PI.  werden  vielfach  schon 
im  15.  Jh.  in  allen  Teilen  des  Sprachgebiets  ausgeglichen: 
aber  Luther  erkennt  die  Bewegung  noch  nicht  an  und  völlig 
durchgedrungen  ist  sie  erst  im  17.  Jh.  Jetzt  gelten  verschie- 
dene Formen  nur  noch  in  dem  Verbum  loerden  {ward,  imirden) ;. 
in  allen  anderen  gilt  derselbe  Laut,  bald  der  Vokal  des  Sin- 
gulars, bald  der  des  Plurals,  in  nicht  wenigen  aber  ein  o,  da& 
ursprünglich  weder  dem  Singular  noch  dem  Plural  zukam.. 
Der  Vokal  des  Plurals  hat  in  Kl.  lab  gesiegt;  (mhd.  a:ä,  nhd. 
ä).  Der  lange  Vokal  gilt  nicht  nur  in  Formen  wie  gab,  las,  nahm, 
sondern  auch  vor  Konsonanten  und  Konsonantverbindungen,  vor 
denen  sonst  Kürze  bewahrt  bleibt:  ass,  mass,  hi^ach,  traf,  stach,, 
schrak.  Ebenso  hat  der  Vokal  des  Plurals  in  Kl.  II  gesiegt  (mhd. 
ei  oder  e:i,  nhd.  i):  biss,  griff,  stieg,  trieb,  gedieh,  lieh,  schrie,, 
spie.  —  Der  Vokal  des  Singulars  gilt  in  Kl.  Ic  (mhd.  a:u,  nhd. 
«):  sie  bargen,  galten,  halfen,  icarben,  geivannen,  saniieii,  banden,, 
tranken.  —  Mit  d  bilden  die  Verba  III  ihr  Präteritum,  und  zwar 
nicht  nur  die  auf  Dental  und  h,  denen  von  Anfang  an  6  im  Sg. 
Prät.  zukam,  sondern  auch  alle  anderen;  (mhd.  ö  oder  ou-.w,  nhd. 
d):  sie  boten,  flohen,  zogen,  froren-,  gössen,  sotten;  bogen,  schoben,, 
flogen,  rochen.  Ferner  einige  Verba  der  Kl.  la,  (mhd.  a : «,  nhd.  ö): 
gor,  pflog,  wob,  wog;  Kl.  I^,  schor,  schicor,  focht,  flocht,  losch,  drosch 
(drasch);  Kl.  Ic  (mhd.  a  :u,  nhd.  o):  quoll,  erscholl,  schwoll,  glomm, 
klomm,  molk,  .schmolz  (borst  neben  barst);  Kl.  IV  (mhd.  uo,  nhd.  ö): 
hob,  ."ichicor  neben  hub,  schwur.  Alle  diese  Verba  haben  ö  zu- 
gleich im  Part,  und  in  den  meisten  Fällen  ist  das  Part,  wohl 
der  Ausgangspunkt  für  die  Umbildung  des  Prät.  gewesen. 
Doch  ist  das  Prät.  nicht  überall  dem  Part,  gefolgt;  vgl.  brach,, 
gebar,  nahm,,  stach,  begann,  schivam^n,  galt,  half,  .schall,  barg,  barst 
u.  a.  neben  gebrochen,  geboren,  genommen  etc. 


44  Spaltung  und  Um  »Gestaltung  der  Ablautreihen.  [§  25. 

Anm._,I^  Das  Part,  ist  überall  da  als  Ausgangspunkt  oder 
wenigstens  als  wesentlicher  Stützpunkt  für  die  Umbildung  des  Prät. 
anzusehen,  wo  sein  o  lautgesetzlich  entwickelt  ist  oder  schon  in  der 
älteren  Sprache  galt;  also  in  den  Verben  Ibc^  m,  in  gesworn  (§  20,5) 
und  auch  in  gepflogen  (§  17).  Dagegen  in  den  wenigen  Verben  la 
und  IV,  die  e  oder  a  im  Partizipium  hatten,  stellte  sich  das  o  zu- 
nächst im  Prät.  ein.  höh  ist  für  huop  eingetreten,  ivog  für  wuoc, 
eine  md.  unter  dem  Einfluss  des  anlautenden  iv  entstandene  Form 
für  mhd.  wac-  ebenso  wird  tvob  unter  dem  Einfluss  des  anl.  w  ent- 
standen sein.  In  gor  aber  beruht  das  ö  wohl  auf  mundartlicher 
Aussprache  des  ä,  das  ebenso  wie  das  r  aus  dem  Plural  in  den 
Singular  gedrungen  war  (mhd.  jesen,  jas,  järeii,  gejesen). 

/Änm.  2.  In  Übereinstimmung  mit  dem  Part,  gestanden  ist 
auch  neben  stund  (mhd.  stuont)  ein  Prät.  stand  aufgekommen,  das 
jetzt  fast  allgemein  gebraucht  wird.  Weniger  ist  der  Opt.  stände 
für  stimde  durchgedrungen. 

3.  Die  2  Sg".  Prät.  hat  überall  denselben  Vokal  wie  die 
1  und  3  und  die  Endung  -est,  ohne  Umlaut;  also  gäbest,  ge- 
loamiest,  zogest  etc.  für  mhd.  gcehe,  gewimne,  züge\  vgl.  § ^1.. 

4l  Auch  der  Optativ  folgt  in  der  Regel  dem  Indikativ, 
nur  dass  er  Umlaut  verlangt.  Wenn  also  der  Ind.  o  ange- 
nommen hat,  wird  der  Opt.  mit  ö  gebildet:  böte,  böge  für 
mhd.  hüte,  büge;  höbe  für  mhd.  hüebe;  pflöge,  wöbe,  schöre, 
flöchte,  föchte,  quölle,  schmölze  etc.  Aber  in  der  Kl.  I^  ist 
das  dem  a  entsprechende  ä  nur  vor  Nasal  +  Kons,  zu  fester 
Anerkennung  gekommen:  bände,  fände,  sänge,  zwänge,  tränke 
etc.  ^or  Liq.  +  Kons,  behauptet  sich  gewöhnlich  das  alte  ü:  hülfe, 
stürbe,  verdürbe,  würbe,  würde,  .icürfe,  (aber  bärge  und  seit  dem 
18,  Jh.  auch  hälfe  neben  hülfe)-,  in  andern  braucht  man  ö  (oder  ä): 
gölte  (bis  ins  17.  Jh.  auch  gülte),  schölte,  börste,  be-,  emp-föhle  (aber 
auch  bärste,  gälte,  schälte).  Vor  Doppelnasal  ist  ö  der  regelrechte 
Vertreter  von  ü:  begönne,  gewö7ine,  rön7ie,  sonne,  spönne,  schtcöm^ne 
(aber  auch  schwämme,  gewänne).  HDie  Neigung  zum  ä  ist  un- 
verkennbar, aber  sie  wurde  gezügelt  durch  das  Bestreben,  die 
Formen  des  Präsens  und  des  Präteritums  deutlich  auseinander 
zu  halten.  Neben  binde,  finde,  smge  fanden  bände,  fände,  sänge 
etc.  ungestört  Eingang,  nicht  aber  hälfe,  stärbe,  gälte  etc.  neben 
helfe,  stei^be,  gelte.  Aus  demselben  Grunde  meidet  man  von  schivören 
den  Opt.  Prät.  schtvöre  zu  bilden,  obwohl  man  im  Ind.  schwor  neben 
schwur  zulässt.  Schwankenden  Formen  geht  man  überhaupt 
gern  aus  dem  Wege. 


§  26.]  Formübertragung-en  im  Präsens.  45- 

Ib.  Das  Part.  Prät.  hat  sich  im  allgemeinen  in  gesetz- 
mässigen  Bahnen  gehalten.  Formübertragung  hat  nur  in  den 
wenigen  Verben  der  Kl.  I^  und  IV  stattgefunden,  in  denen  e  und 
a  durch  o  verdrängt  sind  (z.  B.  gewoben,  gehobeii)-^  und  in  scheiden, 
das  aus  der  5.  in  die  2.  Kl.  übergetreten  ist;  steige?!  (mhd.  sttgen): 
gestiegen  =  scheiden  :  geschieden  (mhd.  gescheiden).  Aber  durch 
die  Änderungen,  die  im  Prät.  eingetreten  sind,  ist  zum  Teil 
auch  die  Stellung  des  Part,  zu  den  anderen  Stammformen  be- 
troffen. In  Kl.  11  und  in  den  Verben,  die  den  o-Typus  an- 
genommen haben,  stimmt  das  Part,  nicht  nur  mit  dem  PI. 
Prät.,  sondern  aucli  mit  dem  Sg.  überein;  es  fallen  hier  also, 
was  in  der  älteren  Sprache  nie  der  Fall  ist,  drei  Stammformen 
in  ihrem  Vokal  zusammen. 

Anm.  Einige  Partizipia  haben  als  Adjektiva  ihre  ursprüng- 
liche Form  behalten :  vertcegen,  erhaben,  bescheiden. 

f26.  (Formübertragungen  im  Präsens.)  1.  In  den  zum 
Präs^stamm  gehörigen  Formen  ist  der  Wechsel  von  e  mit  i 
in  der  Kl.  I  grösstenteils  beseitigt.  Die  Neigung,  alle  Formen 
mit  e  zu  bilden,  die  im  Mndl.  ^  ganz  verdrängt  hat,  ist  auch 
im  Md.  wahrzunehmen,  in  manchen  Denkmälern  aber  auf  die 
1  Sg.  beschränkt  (Elisabeth  Whd.  §  348,  Joh.  von  Neumarkt 
AfdA.  6,  314)  und  nur  in  dieser  im  Nhd.  durchgedrungen: 
ich  gebe,  mhd.  gibe.  Die  2  und  3  Pers.  haben  vielfach  noch 
i:  gibt,  nimmt,  isst,  bricht,  gilt,  birgt,  verdirbt  usw.  In  an- 
deren steht  es  weniger  fest:  schwiert,  drischt,  lischt,  quillt; 
fast  ungebräuchlich  ist  schiert '.^  ganz  untergegangen  sind  die 
i-Formen  von  bewegen,  weben,  pflegen,  gären,  melken,  zer- 
schellen. Von  genesen  sind  sowohl  die  Formen  mit  i  als  die 
mit  e  ungebräuchlich. 

(Anm.  Der  Wechsel  von  e  und  i  hat  bei  ivegen  zu  einer 
Spaltimg'  in  zwei  durch  die  Bedeutung  teilweise  differenzierten 
Verben  geführt:  icägen  und  iviegen.  Für  zemen  ist  aus  der  3  Sg. 
zimt  ein  swV.  ziemen  entstanden. 

[2.  Der  entsprechende  Wechsel  von  m  (nhd.  eu)  und  ie 
in  Kinil  (biuge,  biugest,  biuget,  biuc  :  biegen  etc.)  ist  ganz 
aufgegeben;  ie  hat  sich  über  alle  Formen  verbreitet,  zuerst 
wieder  im  Md.  Nur  in  der  Dichtung  werden  noch  Formen 
wie  fleugt,  kreucht,  fleuch  für  fliegt,  kriecht,  flieh{e)  gebraucht. 


46  Beseitigung  konsonantischer  Verschiedenheiten.  [§  27. 

3.  Dagegen  ist  der  Umlaut  in  der  2  und  3  Sg.  Ind.  fest- 
gebalten  und  mit  grösserer  Konsequenz  als  in  der  älteren 
Sprache  durchgeführt.  Nur  au  entzieht  sich  ihm  meistens;  in 
Kl.  III  in  saugen  (aber  nicht  in  saufen)  und  in  den  jüngeren 
schnauben,  schrauhe7i;  in  Kl.  V  in  hauen  (aber  nicht  mehr 
in  laufen).  Jcommst,  kommt  werden  seit  Adelung  gemeinhin 
als  besser  angesehen. 

JAnm.  1.  rufen  und  schaffen  wurden  ursprünglich  stark  und 
schwach  flektiert.  Das  Prät.  von  rufen  wird  jetzt  nur  noch  stark 
gebildet,  das  von  schaffe)}  stark  oder  schwach,  Je  nach  der  Be- 
deutung. Im  Präsens  haben  beide  nur  schwache  Form,  ohne 
Umlaut. 

Anm.  2.  Schwache  Verba,  die  nach  der  Analogie  der 
starken  im  Präsens  nicht  selten  Vokalwandel  eintreten  lassen,  sind 
fragen,  kaufen,  fassen,  früher  auch  stecken.  Von  fragen  und 
stecken  sind  auch  starke  Formen  des  Präteritums  weit  verbreitet 
und  in  der  Schriftsprache  anerkannt.  —  Über  andere  Berührungen 
zwischen  sw.  und  stV.  s.  II  §26.  27. 

Xonsonantische  Verschiedenheiten.     (Grammatischer 

Wech  sei  u.  a.) 

[27.  1.  In  vielen  Verben  unterscheiden  sich  die  Formen 
nicht  nur  durch  den  Vokal,  sondern  auch  durch  den  konso- 
nantischen Auslaut  der  Stammsilbe.  Schon  im  Urgermanischen 
waren,  noch  ehe  sich  die  germanische  Akzentuation  festgesetzt 
Iiatte,  die  stimmlosen  Reibelaute  in  stimmhafte  übergegangen, 
germ.  /',  p,  h,  s  (hd.  f  d,  h,  s)  in  h,  d,  g,  z  (hd.  ??,  f,  g^  r). 
Der  stimmlose  Laut  kam  dem  Sg.  Prät.  und  den  betonten 
Präsensstämmen  zu,  der  stimmhafte  dem  PI.  und  Opt.  Prät. 
und  dem  Part.  Prät.  (I  §  23,  3).  Aber  dieser  'grammatische 
Wechsel'  hat  sich,  da  er  doch  nur  einer  Minderzahl  von  Verben 
zukam,  weniger  behauptet  als  der  Ablaut,  am  wenigsten  im 
Gotischen,  das  nur  in  einigen  Präterito-Präsentia  {parf,  paur- 
^um]  aih,  aihum  oder  aigum)  noch  einen  Rest  bewahrt  hat. 
Im  Ahd.  haben  sich  die  alten  Formen  besser  erhalten.  Wenn 
man  von  Verben  absieht,  die  überhaupt  nur  spärlich  belegt 
sind,  finden  sich  hier  nur  wenige,  in  denen  jede  Spur  gram- 
matischen Wechsels  fehlt,  namentlich  hi-felhan  (vgl.  g\  fulgins 


^  27.1  Grammatischer  Wechsel  ii.  a.  47 


Adj.),  gi-scehan,  fliohan,  hläsan.  Aber  vielfach  sind  doch  auch 
im  Alul.  die  ursprünglichen  Verhältnisse  schon  durch  Fonn- 
iibertragung'  getrübt  und  die  regelmässigen  Formen  einiger 
Verba  nar  vereinzelt  belegt. 

\2.  Am  meisten  waren  die  Formen  des  Perfektums  dem 
Ausgleich  ausgesetzt.  Iji  den  Verben  der  Kl.  IV  und  V,  bei 
denen  der  konsonantische  Unterschied  durch  den  Ablaut  nicht 
miterstützt  wird,  gilt^  wenn  sie  grammatischen  Wechsel  über- 
haupt bewahrt  haben,  der  stimmhafte  Spirant  oder  sein  Ver- 
treter auch  in  der  1  und  3  Sg.  Prät.,  so  bei  slahan,  dwahan, 
Jahan,  giwahinen  (Br.  §  346  A.  2),  bei  lieffen  und  intseffen 
(Br.  §  347  A.  1.  2),  bei  fähan  und  hälian  (Br.  §  350  A.  4). 
Hier  treten  also  alle  Perfektformen  mit  g  oder  h  den  Präsens- 
formen mit  //.  oder  /'  gegenüber.  — /\m  Mhd.  tritt  dasselbe 
Verhältnis  auch  in  Verben  der  Kl.  II  und  III  ein,  indem  durch 
<lie  \^erhä£tun^  des  Auslautes  der  Wechsel  von  d  :  t  aufgehoben 
wird;  so  bei  Uden,  smden,  mideu,  sieden.  Dagegen  behauptet 
sich  in  diesen  Verben  der  Wechsel  von  h :  g,  s :  r;  z.  B. 
ziehen,  zöh,  zugen,  gezogen;  Verliesen,  verlos,  verlurn,  ver- 
lorn. Im  Nhd.  ist,  wie  der  Ablaut,  so  auch  der  Wechsel  der 
Konsonanten  im  Präteritum  allgemein  beseitigt.  —  Das  Part, 
folgt  immer  dem  Präteritum.  Eine  Ausnahme  bildet  nur  das 
junge  Part,  gewesen  (§  32,  6)  neben  loar,  waren  und  das  zum 
Adjektiv  gewordene  gediegen  neben  gedieh,  gediehen  (mhd. 
gedeh,  gedigen). 

/3.  Langsamer  vollzieht  sich  der  Ausgleich  zwischen  Prä- 
sens und  Präteritum.  Einige  unterscheiden  noch  jetzt  die 
beiden  Tempora:  leiden,  schneiden,  sieden,  ziehe7i,  kiesen; 
in  anderen  ist  bald  der  Konsonant  des  Prät.,  bald  der  des 
Präs.  zur  Alleinherrschaft  gelangt.  Schon  im  Ahd.  gilt  sicelgan, 
iverban,  faltan  nehen  sie elha7i,  ivervan,  faldan;  hebe?i  begegnet  ver- 
einzelt für  lieffen.  Erst  im  Nhd.  hat  sich  der  Ausgleich  in  derselben 
Richtung  vollzogen  in  friesen,  Verliesen,  jesen  (nhd.  gären),  slahen, 
hähen,  fähen.  Umgekehrt  hat  der  Konsonant  des  Präs.  gesiegt,  zum 
Teil  schon  im  Mhd.,  in  ahd.  icerdan,  wurtun,  ivor'taw,  findan, 
funtuii,  funtaii',  midan,  niitun,  gimitan;  ladan,  —  gilatan-,  scei- 
daii,  —  gisceitau]  zihan,  zigun,  gizig aw,  dihan,  digun,  gidiga7i; 
^H'ehan,  —  gisewan;    Wian,    litvun,    giliivan;    lesan,    lärun,    gi- 


48  Die  Flexionsendungen  der  thematischen  Verba.  [§  2<S. 

leran\  ginesan^  ginärui}^  gineran^  die  Formen,  die  erst  im  Nhd.  ganz 
aufgegeben  sind,  sind  gesperrt  gedruckt. 

/4.  Nicht  wenige  Verba,  in  denen  grammatischer  Wechsel 
nachwtdsbar  ist,  sind  ganz  untergegangen  oder  in  die  schwache 
Konjugation  übergetreten :  ahd.  '^liiufan  od.  Viiuhan  (Br.  §334  A.  2) ; 
r^int^effen,  int-suab,  mhd.  entsebe?i  einsehen-,  ethä.  quedan,  quätun, 
giquetan\i  mhd.  briden,  breit,  gebrJtTefi  flechten;  rtden,  reit^ 
geriten  drehen;  ahd.  gehan  sagen,  —  gejegen;  rilian,  rigun, 
g i vi g an\  icthan  kämpfen  —  giwigan ;  giicahinen,  giicuoc,  gi- 
icagaii'^  sihan  seihen,  —  bisiwan  und  bisigan\  riaan  fallen,  rir.un, 
giriran-^  mhd.  niesen^  nös^  nurn,  genorn. 

Anm.  Ob  md.  geschägen  :  geschehen,  sägen:  sehen,  geligen  t 
Wien  -auf  den  alten  grammatischen  Wechsel  von  h  :  g  zurückzuführen 
sind,  ist  zweifelhaft.  Für  geschehen  ist  er  im  Ahd.  nicht  belegt, 
fsehan  und  Iiha^i  (g.  saiJvan,  leilvan)  haben  Wechsel  von  h :  w. 

:5.  Änderungen  im  konsonantischen  Anlaut  der  Stamm- 
silbe, die  lautgesetzlich  entstehen  mussten  (Schwund  von  post- 
konsonantischem w  vor  u)^  kamen  nicht  zur  Entfaltung  und 
gingen  leicht  wieder  unter:  Part,  hidungan  zu  dwingan  (Br. 
§  336  A.  5);  Prät.  duog  zu  dwahan  (Br.  §  346  A.  2);  suor 
zu  swerren  (§  347  A.  4).  Über  Jcomen  s.  §  23  Anm.  —  Ebenso 
sind  die  Störungen^  welche  die  Schwäche  der  inl.  Media  im 
Mhd.  in  einigen  Verben  hervorriet'  {Utj  git,  quit,  seit,  hat, 
häte  u.  a,  Paul  §  86)  in  den  starken  Verben  wieder  beseitigt. 
Erhalten  dagegen  hat  sich  die  2  Sg.  ivirst  <  idrdest,  die  in- 
folge der  durch  die  Synkope  des  e  hervorgerufenen  Konsonant- 
häufung den  Stammauslaut  verloren  hat.  —  Von  dieser  Form 
und  den  Resten  des  grammatischen  Wechsels  abgesehen,  wird 
im  Nhd.  der  Stamm  des  Verbums  höchstens  dadurch  einiger- 
massen  verdunkelt,  dass  in  synkopierten  Formen  Stammauslaut 
und  Flexionsendungen  zusammenfallen  {tritt,  lädt,  wird  u.  ä.) 
und  dass  stimmhaftem  Inlaut  stimmloser  Auslaut  entspricht 
(I  §  282). 


Die  Flexionsendungen  der  thematischen  Verba. 

28.  (Präsens.)      1.   Wie    die    Wurzelsilbe    der   starken 

Verba^    so  unterlag    auch    der  Themavokal   dem  Ablaut,    und 

zw^ar  galt,  wie  es  scheint^    e  in  der  2  Sg.  Imp.  und  vor  den 

mit  s  und  t  anlautenden  Personalendungen,   in  allen  übrigen 


§  28.] 


Präsens. 


49 


Formen  o,  ausser  in  der  1  Sg.  Ind.,  die  auf  ö  ausging*.  Durch 
diese  Wandelbarkeit  erscheint  der  Themavokal,  obgleich  er 
eigentlich  zum  Stamme  gehört,  in  den  historischen  Sprachen 
doch  als  ein  Teil  der  Endung;  er  bildet  zusammen  mit  Per- 
sonal- und  Modussuffix  gegenüber  der  Wurzelsilbe  das  ver- 
änderliche, die  Form  bestimmende  Element. 

(2.  Im  Gotischen  gelten  folgende  Endungen: 


Aktivum. 

Ind.  Präs. 

Imp. 

Opt. 

Sg.  1.  -a 

-au 

2.  -is 

— 

-als 

3.  -ip 

-adau 

-ai 

l.     1.           -ÖS 

-aiwa 

2.  3.  -ats 

-aits 

PL   1.  -am 

-am 

-aima 

2.  -ip 

■ip 

-aip 

3.  -and 

-andau 

-aina. 

Medium. 


Ind.  Präs. 

Opt. 

Sg.  1.  3.        -ada 

-aidau 

2.             -aza 

-aizau 

PI.   1.  2.  3.  -anda 

-aindau 

[Im  allgemeinen  zeigt  der  Themavokal  die  Gestalt,  die 
bei  regelmässiger  Entwickelung  zu  erwarten  ist :  a  für  idg.  o, 
i  für  idg.  e.  Regelmässig  ist  auch  der  Abfall  des  e  in  der 
2  Sg.  Imp.,  die  Verkürzung  des  ö  in  der  1  Sg.  Ind.  und  die 
Verschmelzung  des  Themavokals  mit  dem  Optativsuffix  zu  den 
Diphthongen  idg.  oi,  g.  ai.  Unregelmässig  dagegen  in  mehreren 
Formen  a  vor  dentalen  Lauten  (2  Du.,  3  Sg.  Imp.,  1.  2.  3 
Ind.  Med.  Brgm.  2  §  1052).  -6s  in  der  1  Du.  setzt  gedehntes 
ö  voraus  {-ös  <^'öues  IF.  12,207).  Über  das  rätselhafte  -au 
im  Opt.  s.  §  5;  über  die  Formen  der  J-Präsentia  §  40. 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik  III.  4 


50  Flexionsendungen  der  thematischen  Verba.  [S  28. 


3. 

Im  Ahd.  gelten 

fol 

gende 

Endungen : 

Ind. 

Irap. 

Opt. 

Sg.  1. 

-u 

-e 

2. 

-is,  -ist 

-es 

3. 

-it 

-e 

Ind. 

Imp. 

PI. 

PI.  1. 

-umeSj  -ames, 

emes. 

-umes 

etc. 

-em 

-em,  -en 

-emes 

2. 

-et,  -it^  -at 

-et,  -it 

,  -at 

-et 

3. 

-ant,  -ent 

-en. 

Die  Endungen  im  Singular  des  Indikativs  entsprechen 
den  gotischen;  jedoch  tritt  in  der  2.  Person  seit  dem  9.  Jh. 
eine  Erweiterung  von  -is  zu  -ist  ein,  zuerst  im  Fränkischen, 
dann  auch  im  Oberdeutschen.  Den  Anlass  gaben  einerseits 
die  enklitische  Anlehnung  des  Pron.  tJiu,  du  (gibistu),  ander- 
seits die  Formen  der  Prät. -Präsentia,  namentlich  solche  wie 
weist,  gitarst.  In  dem  Verbum  sein,  das  durch  seine  auxi- 
liare  Bedeutung  den  Prät.-Präs.  am  nächsten  stand^  setzt  sich 
das  t  zuerst  fest,  dann  im  Ind.  Präs.  der  andern  Verba;  erst 
später  im  Opt.  (Br.  §  306  A.  5  §  379  A.  1). 

l4.  Wesentliche  Abweichungen  zeigt  der  Plural.  In  der 
mit  dem  spezifisch  hochdeutschen  Suffix  -mes  gebildeten  1  PL 
(§  3)  ist  u  als  der  älteste  Vokal  anzusehen;  er  war  vor  dem 
labialen  Nasal  für  idg.  o  eingetreten  (vgl.  g.  dagam,  ahd. 
tagum).  e  kam  zunächst  wohl  den  j-Präsentia  zu,  kann  dann 
aber  auch  als  allgemeine  Bezeichnung  des  unbetonten  Vokals 
aufgefasst  werden;  denn  dass  die  Mittelsilbe  in  diesen  Formen 
ganz  schwach  war,  zeigt  Otfried,  der  nie  i'lemes  betont, 
sondern  stets  i'lemes.  a  wird  einerseits  aus  der  3  PI.  ein- 
gedrungen sein  (vgl.  die  2  PI.  und  die  Verbreitung  des  a  im 
Gotischen),  anderseits  aber  auch  durch  Assimilation  an  den 
Vokal  der  Stammsilbe  veranlasst  sein;  Otfried  braucht  regel- 
mässig -emes,  nur  in  farames  ist  viermal  a  belegt  (Br.  §  313. 
A.  2).  —  Die  Formen  auf  -mes  gehören  ursprünglich  dem 
Ind.  Präs.  an,  werden  aber  von  Anfang  an  auch  Imperativisch 
gebraucht  und  dringen  vielfach  selbst  in  den  Optativ  und 
das  Präteritum,    so  dass  sie  in  manchen  Denkmälern   überall 


^  28.]  Präsens.  51 

lieiTsclien  (Br.  §  307  A.  1).  Dass  sie  imperativiscli  gebraucht 
wurden,  ist  leicht  begreiflich,  da  bereits  im  Germanischen  die 
1  PI.  Ind.  und  Imp.  zusammengefallen  waren  (§  6, 2).  Der 
Imperativische  Gebrauch  vermittelte  dann  weiter  das  Ein- 
dringen der  Formen  in  den  Optativ,  da  beide  Modi  sich  früh 
in  ihren  Funktionen  berührten  (§110).  Er  vermittelte  aber 
auch  umgekehrt  das  Eindringen  der  Optativform  in  den  Indi- 
kativ; denn  da  -mes  im  Ind.  und  Imp.,  -em  im  Opt.  und  Imp. 
gebraucht  wurde,  ergab  sich  leicht  eine  vollkommene  Gleich- 
stellung der  beiden  Formen.  Jedoch  ist  in  der  älteren  Zeit, 
solange  die  Sprache  noch  an  dem  ausl.  m  festhielt,  die  Über- 
tragung von  -em  in  den  Ind.  noch  selten;  nur  vier  Belege 
lassen  sich  nachweisen;  häufiger  wird  sie  erst,  als  m  in  n 
übergegangen  war  (Br.  §  307.  A.  5).  Schon  im  9.  Jh.  waren 
die  Formen  auf  -en  im  Ind.  die  herrschenden,  so  dass  bei 
Otfried  -mes  fast  durchaus  auf  den  Imperativ  beschränkt  ist, 
dem  diese  Form  ursprünglich  gar  nicht  zukam  (Br.  §  313). 

r~5.  In  der  2  PI.  ist  -et  die  gewöhnliche  Endung;  daneben 
findet  sich  in  den  Monseer  Fragmenten  -it.  Dass  wir  in  dem 
i  nicht  etwa  die  später  übliche  Bezeichnung  des  unbetonten, 
charakterlosen  Flexionslautes  sehen  dürfen,  zeigt  sein  Einfluss 
auf  die  Stammsilbe;  es  bewirkt  wie  in  der  3  Sg.  Übergang 
von  e  zu  i  und  Umlaut  {quidit  für  quedet,  ferit  für  faret). 
Um  das  Verhältnis  der  beiden  Formen  zu  erklären,  hat  man 
teils  angenommen,  dass  -it  die  echte  Form,  -et  eine  unter  dem 
Einfluss  der  1  und  3  PI.  entstandene  Analogiebildung  ist  (IF. 
9,  355);  teils,  dass  umgekehrt  -et  ursprünglich  und  -it  nach 
Analogie  der  3  Sg.  gebildet  ist  (IF.  11,  197  f.  13,  125).  Nach 
einer  dritten,  verbreiteteren  Ansicht  wären  beide  Formen 
lautgesetzlich  entwickelt,  -it  wäre  die  gewöhnliche  Endung 
der  2  PL,  idg.  -ete  (germ.  -epi^  -idi,  g.  -ip,  ahd.  -it),  -et  da- 
gegen eine  alte  Dualform  mit  Sekundärsuffix,  idg.  -tom  (gr. 
<pepeT0v)  od.  -tä,  oder  mit  Primärsuffix,  idg.  -thös  (g.  hairats), 
deren  dunkler  Vokal  (o,  ä,  ö)  die  Entwickelung  von  e  zu  / 
gehindert  habe  (Kögel,  PBb.  8,  138.  Brgm.  2  §  1035).  Aber 
sicher  ist  auch  diese  Erklärung  nicht.  Da  wir  nicht  genau 
wissen,  unter  welchen  Bedingungen  idg.  -e  in  unbetonter  Silbe 


52  FlexionsenduDgen  der  thematischen  Verba.  [§  29. 

in  i  überging,  ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass 
-ete  sich  nur  in  einem  beschränkteren  hochdeutschen  Gebiete 
zu  -it  entwickelt  habe;  vgl.  Walde,  Auslautgesetze  S.  119.  — 
-at  begegnet  neben  -et  im  älteren  Alemannischen  und  ist  wie 
das  a  in  der  1  PL  aus  dem  Einfluss  der  3  PL  zu  erklären. 
Dieser  Einfluss  bewirkt  sogar,  dass  auch  das  n  in  die  2  PL 
aufgenommen  wird,  so  dass  -nt  als  Endung  erscheint,  und  nicht 
nur  im  Ind.  Präs.,  sondern  auch  im  Prät.  und  im  Opt.  (ge- 
henty  gähunt,  gäbint),  Spuren  dieses  Gebrauchs  finden  sich 
bereits  im  8.  und  9.  Jh. ;  und  im  späteren  Alemannischen  von 
Notker  an,  werden  die  Formen  auf  -nt  allgemein  gültig;  im 
Fränkischen  kommen  sie  spärlich,  im  Bairischen  fast  gar 
nicht  vor  (Br.  §  308  A.  3).  Im  Ndd.,  Fries.,  Engl,  fungiert 
die  Form  der  3  PL  nicht  nur  als  2,  sondern  auch  als  1  PL 
(vgl.  das  got.  Med.). 

/6.  Der  3  PL  kommt  zunächst  die  Endung  -ant  zu:  da- 
neben entwickelt  sich  in  den  j-Präsentia  -ent.  Doch  tritt  diese 
Scheidung  nur  in  wenigen  sehr  alten  Denkmälern  reinlich 
hervor;  das  Oberdeutsche  neigt  zu  -antj  das  Fränkische  zu 
-ent,  (so  immer  0.  T.);  später  wird  -ent  natürlich  allgemein. 
<7.  Im  Imperativ  fehlt  in  der  2  Sg.  das  ursprünglich 
ausL  e  im  Hochdeutschen  wie  im  Gotischen.  Ob  es,  ehe  es 
abfiel,  in  i  übergegangen  war,  darüber  sind  die  Ansichten 
geteilt;  s.  I  §  254,  1  und  Walde  a.  0.  —  In  der  1  PL  ist  die 
dem  got.  -am  entsprechende  Endung  ebensowenig  nachweisbar 
wie  im  Indikativ.  —  Die  2  PL  stimmt  wie  schon  im  Got. 
gleichfalls  mit  dem  Ind.  überein. 

<C8.  Im  Optativ  ist  der  Diphthong  ai  in  e  zusammen  ge- 
zogen. Im  Auslaut  (1.  3  Sg.)  tritt  dann  weiter  Verkürzung 
zu  e,  oft  auch,  namentlich  im  Bairischen,  Übergang  in  a  ein.  — 
Dass  den  Formen  auf  -mes  e  nicht  zukommt,  ergibt  sich  daraus, 
dass  sie,  wie  bemerkt,  eigentlich  Indikativformen  sind  (Br. 
§311  A.  3).  —  Welche  Form  der  1  Sg.  Opt.  ursprünglich  zu- 
grunde lag,  ist  nicht  genau  zu  erkennen ;  vgl.  IF.  6,60  und  §36,  2. 


29.     2.  Präteritum.     1.  Im    Gotischen   gelten   folgende 
Endungen : 


§  29.]  Präteritum  und  Nominalformen.  53 

Ind.  Opt. 

Sg.  1.        —  -jau 

2.  -t  -eis 

3.  —  -i 
Du.  1.        -u  -eiiva 
Du.  2.  3.  -uts  -eits 

PI.  1.  -um  -eima 

2.  -up  -eip 

3.  -^t7^  -eina. 

!  Der  "Bindevokal'  ^f,  der  in  den  Formen  des  Du.  und 
PI.  vor  der  Personalendung-  erseheint,  ist  vermutlich  die 
Sehwundstufe  eines  Vokals,  der  ebenso  wie  der  Themavokal 
im  Präsens  zu  gewissen  Wurzeln  gehörte,  im  Germanischen, 
zunächst  vielleicht  vor  Nasal  und  u,  zu  u  entwickelt  wurde ^). 

2.  Dass  das  t  in  der  2  Sg.  eigentlich  nur  den  Verben 
gebührt,  deren  Stamm  auf  labiale  od.  gutturale  Konsonanten 
oder  auf  s  ausgeht,  ist  §  3  bemerkt.  —  Eine  auffallende  Un- 
regelmässigkeit ist;  dass  g.  saian  die  2  Sg.  auf  st  bildet: 
^aizSßßt  (Lc.  19,  21).  Bethge  nimmt  an  (S.  384),  dass  die  auf 
Tangen  Vokal  ausgehenden  Perfektstämme  schon  im  Urg-ermanischen 
im  Singular  die  sekundären  Endungen  des  Aorist  angenommen 
hatten  (-w,  -s,  -t),  das  Perfektum  von  saian  also  *se-zö-n,  se-zö-s, 
se-zöt  =  g.  saisö,  *sais6s,  saisö  lautete  (vgl.  as.  dedös  du  i  tatest 
§  33,  5).  Jedenfalls  wird  man  das  t  in  saisöst  ebenso  wie  in  haust 
(von  biudan,  baup)  und  ivaist  (von  ivait)  als  jüngeren  Zusatz  an- 
zusehen haben.  —  Über  den  Optativ  ist  nichts  zu  bemerken; 
der  Vokal  vor  der  Personalendung  ist  Modussuffix  (§  6). 

3.  Im  Ahd.  gelten  folgende  Endungen: 

Ind.  Opt. 


Sg. 

1. 

-i 

2. 

-i 

-ts 

3. 

— 

-i 

PL 

1. 

-um, 

-umeSy  {-ames) 

-im, 

-i7nes 

2. 

-ut 

~it 

3. 

-un 

-in. 

1)  Brgm.    2,    1206    f.     von    Bradke    IF.    8,  156.    Hirt,    Ablaut 
S.  185.  6.    Anders  Brgm.  2,  1360.  1371  (vgl.  1^,  177). 


54  Flexionsendungen  der  thematischen  Verba.  [§  30. 

/  über  die  2  Sg.  Ind.,  die  stark  vom  Gotischen  abweicht,  s.  §  19 ; 
über  die  1  Sg.  Opt.  vgl.  §  28,  8;  sonst  ist  nichts  zu  bemerken. 

<^30.  (Die  Nominalformen.)  1.  Den  Endmigen  sämt- 
licher Nominalformen  kam  der  Vokal  a  zu;  im  Gotischen  gilt 
es  noch  überall,  im  Hochdeutschen  tritt  in  den  J-Präsentia  e 
dafür  ein,  in  schwach  betonter  Mittelsilbe  neigt  er  früh  zur 
Entartung.  Der  Einfluss  des  vorangehenden  j  zeigt  sich  am 
deutlichsten  im  Infinitiv,  wo  manche  Denkmäler,  auch  Otfried, 
scharf  zwischen  -an  und  -en  scheiden:  gehan,  g.  giban,  aber 
bitten,  g.  hidjan.  Die  Schwäche  des  Mittelvokals  macht  sich 
am  meisten  im  Part.  Präs.  geltend,  w^eniger  im  Gerundium, 
am  wenigsten  im  Part.  Prät.,  wo  die  unflektierten  Formen  den 
alten  Vokal  auch  in  den  flektierten  schützen.  Im  Part.  Präs, 
herrscht  die  Form  -enti  in  vielen  Quellen,  die  im  Inf.  a  be- 
wahren; so  mit  wenigen  Ausnahmen  auch  bei  Otfried;  also 
faran :  farenti.  In  den  flektierten  Formen  des  Part.  Prät. 
entartet  a  fast  nur  in  fränkischen  Quellen;  z.  B.  bei  Otfried: 
giscrihene,  gihaltenera,  einhorono7i,  gihaltinu,  gisceidiner, 
Formen,  in  denen  der  Einfluss  der  benachbarten  Vokale,  meist 
des  folgenden,  deutlich  wahrnehmbar  ist.  Spuren  der  Suffix- 
form -eno-  (§  8),  auf  die  der  Umlaut  im  Afries.  und  Mnl.  hin- 
weist, darf  man  in  diesen  hd.  Formen  mit  -in  schwerlich  an- 
nehmen. 

2.  Die  Erweichung  von  nt  zu  nd  ist  bei  Notker  in  der 
unflektierten  Form  und  im  Adverb  des  Part.  Präs.  gewöhnlich 
schon  durchgeführt:  farende,  farendo\  dagegen  hält  sich  nt 
meist  noch  in  den  flektierten  Formen,  wo  j  verschärfend  auf 
den  vorhergehenden  Konsonanten  gewirkt  hatte.  Näheres  bei 
Br.  §  314—316.  §  258^ 

31.  (Jüngere  Entwickelung.)  1.  Die  Änderungen,  welche 
die  Flexionsendungen  in  der  jüngeren  Sprache  erfahren,  sind 
im  allgemeinen  die  Folge  ihrer  Unbetontheit  (I  §  265  ff.i. 
Nur  zwei  Formen  haben  die  alte  Grundlage  verlassen.  In  der 
l  PI.  ist  -mes  schon  im  Mhd.  aufgegeben,  und  die  2  Sg.  hat 
im   Präteritum    nach    dem   Muster    der    anderen  Tempora    all- 


§  31.]  Jüngere  Entwickelung.  55 

mählich  die  Endung-  -est  angenommen.  Die  Übertragung  lässt 
sich  bis  ins  12.  und  11.  Jh.  verfolgen,  doch  sind  die  Formen 
auf  -e  noch  im  15.  Jh.  gar  nicht  selten;  im  Mhd.  herrschen 
sie  durchaus.  Der  Vokal  der  Stammsilbe  behauptet  auch  vor 
der  Endung-  -est  zunächst  noch  seine  alte  Form;  die  Aus- 
gleichung- mit  der  1  und  3  Sg.  tritt  im  14.  Jh.  ein.  Whd. 
§  374.  ■ —  Die  Unterdrückung  des  ausl.  t  in  der  3  PI.  Präs. 
begegnet  im  Fränkischen  bereits  im  9.  Jh.,  ist  bei  den  Mittel- 
deutschen des  12.  und  13.  Jhs.  schon  sehr  häufig,  und  bei 
den  md.  Prosaschriftstellern  des  14.  Jhs.  völlig-  Regel.  Whd. 
§  369. 

2.  Das  Part.  Präs.  fällt  durch  Assimilation  des  nd  und 
Apokope  des  auslautenden  e  {-ende  ^  -ene,  -en)  vielfach  mit 
dem  Infinitiv  zusammen  ^).  Auch  diese  Entartung-  begegnet 
zuerst  im  Ndd.  und  Md.,  (einmal  schon  im  Arnsteiner  Marien- 
ieich MSD.  38, 236),  wurde  dann  aber  in  manchen  Verbin- 
dungen, in  denen  man  das  Part,  als  selbständiges  Satzglied 
nicht  mehr  fühlte,  von  der  Schriftsprache  angenommen  (§  61). 
/Umgekehrt  nahm  der  Infinitiv  mit  zu  die  Endung  des 
Partizipiums  an  und  ging-  als  ein  Part,  necessitatis  in  attri- 
butiven Gebrauch  über  {ein  nicht  zu  ühersehender  Umstand 
u.  dgl.).  Die  Berührung-  mit  dem  lat.  Gerundium,  das  schon 
in  der  Benediktiner-Regel  einmal  durch  diese  Form  wieder- 
gegeben wird  (Hattemer  98,  2  nuntianda  —  ze  chundande), 
wird  die  Entwickelung  unterstützt  haben,  s.  II  §  385.  Erd- 
mann §  137. 

<:^nm.  Andere  Formübertragungen  sind  in  der  Schriftsprache 
nicht  zu  dauernder  Geltung  gekommen.  Die  1  Sg.  Ind.  Präs.  wird 
nach  dem  Muster  der  schwachen  Verba  2  und  3  auf  -n  gebildet, 
besonders  im  Fränkischen.  Whd.  §  367.  —  Der  1  und  3  Sg.  Prät. 
wird  nach  dem  Muster  des  schwachen  Prät.  e  angehängt,  eine  Ge- 
wohnheit, die  sich  besonders  im  späteren  Mitteldeutschen  weit  ver- 
breitet und  in  einem  Verbum  auch, von  der  jetzigen  Schriftsprache 
anerkannt  ist:  icurde  neben  ward.  —  Über  e  im  Imperativ  s.  I  §  281. 


1)  Mit  besonderem  Fleiss,  aber  nicht  überall  mit  richtiger  Be- 
urteilung hat  Bech  diese  Erscheinung  verfolgt.     ZfdW.  1,  81. 


56  Athetnatische  Verba,  [§  32. 

Atliematische  Yerba  (Verba  auf  -mi). 

S32.  Die  thematischen  und  atheraatischen  Verba  stimmen 
in  ihren  Personalendungen  überein,  abgesehen  von  der  1  Sg., 
die  jene  auf  -o^  diese  auf  -mi  (germ.  m)  bilden.  In  der  Stamm- 
bildung unterscheiden  sie  sich  durch  den  Themavokal  und 
dadurch,  dass  die  athematischen  ähnlich  wie  die  Perfekta  im 
Sg.  Ind.  eine  starke  Stammform  mit  hochstufigem  Vokal  hatten, 
im  PI.  und  Du.  Ind.,  so  wie  im  Opt.  eine  schwache  mit  tief- 
stufigem Vokal.  Im  Germanischen  haben  nur  wenige  Verba 
charakteristische  Formen  bewahrt;  namentlich  das  Verbum 
substantivum  und  ahd.  gen,  sten,  tuon\  ferner  das  Verbum 
löollen  und  g.  iddja.  Andere  haben  sich  unter  den  schwachen 
Verben  verloren  (§  46.  47).  Je  kleiner  die  Gruppe  wurde, 
um  so  weniger   konnte   sie  starken  Umbildungen  widerstehen. 

Das  Verbum  substantivum^). 

\.  Um  das  Verbum  substantivum  auszudrücken,  werden 
verschiedene  Verbalwurzeln  gebraucht ;  im  Gotischen  die  Wurzel 
es  und  das  thematische  Verbum  wisan  bleiben,  im  Ahd.  ausser- 
dem ein  j-Präsens  der  Wurzeln  hlieu  wachsen  (idg.  hhu-iiö), 
zu  der  auch  1.  fuij  fio,  gr.  (pvöj  etc.  gehören  (Brgm.  2,  907  f.). 
Dass  zu  der  Wurzel  es  kein  Perfektum  gebildet  wurde,  ist 
vermutlich  darin  begründet,  dass  die  durative  Bedeutung 
der  Wurzel  der  Bedeutung  der  Perfektbildung  widerstrebte 
(Delbr.  4,256). 

2.  Ind.  Präs. 
g.  Sg.  im,    is,    ist.  Du.  siju,  sijuts.  PI.  sljwm,  sijup,  sind. 
ahd.  Sg.  him,  bist,  ist.  PI.  birum.  birut,  sint. 

fAls  regelmässige  Formen  der  Wz.  es  mit  primären  Suffixen 
erschemen  g.  im  (<  immi,  es-mi),  is  (<  esi  oder  es-si  Brgm. 
2,  701),  ist  (<<  es-ti),  sind  (<  s-enti).  Der  grammatische 
Wechsel,  den  das  d  in  dieser  letzten  Form  bekundet,  erklärt 
sich  aus  dem  enklitischen  Gebrauch  des  Wortes.  Die  übrigen 
Formen  haben  unter  verschiedenen  Einflüssen  starke  Um- 
bildungen erfahren.     Die  Wurzel  erscheint  im  Dual  und  Plural 


1)  Eine  übersichtliche  Darstellung  und  Literaturangaben  ge- 
währt F.  Kuntze.  ZfdU.  10,314—331. 


§  32.]  Verbu,  substantivum.  57 

in  derselben  starken  Stammform  wie  im  Singular  (vgl.  Prtz. 
gihans  §  15, 2)  und  neben  den  primären  Endungen  gelten 
sekundäre  (Injunktiv-Formen),  so  dass  sich  Formen  ergaben, 
die  dem  Du.  und  PI.  der  Perfekta  und  der  Präterito-Präsentia 
ganz  ähnlich  waren.  Im  an.  PI.  erom  erurrij  erod  eriid,  ero 
eru  (<  ^eziim,  *ezup,  ^^ezim)  sind  sie  rein  erhalten,  im  Hd. 
in  der  1  und  2  PI.  unter  Einfluss  der  Wz.  hheu  umgebildet.  — 
Regelmässige  Formen  des  Präs.  hhuiiö  sind  namentlich  im 
Ags.  benutzt;  im  Ahd.  stammt  daher  die  2  Sg.  Mst,  as.  ags. 
his  <ilj}iu-isi\  (über  das  t  in  ahd.  bist  s.  §28,3).  Unregel- 
mässige Bildungen  sind  dagegen  ahd.  him,  hirumy  hirut-^  sie 
sind  nach  dem  Verhältnis  von  is  :  his  aus  im,  ^ezum,  *ezup 
gebildet.  —  Eine  3  PI.  mit  der  Perfektendung  -un  {sindun, 
sintun),  die  in  einigen  alten  fränkischen  Quellen,  oft  im  As. 
und  Ae.  erscheint,  ist  unter  dem  Einfluss  von  ^ezum,  *ezud 
entstanden.  Die  gotischen  Dual-  und  Pluralformen  sind  ab- 
weichend, wie  es  scheint,  nach  dem  Optativ  gebildet;  davon 
sogleich.         ^ 

Anm.^l.  Dass  auch  im  Sg.  Injunktivendung-en  gebräuchlich 
waren,  ist  daraus  zu  schliessen,  dass  die  3  Sg.  ohne  Personalendung' 
erscheint.  Im  Hd.  zwar  scheint  is  überall  auf  jüngerer  Entartung 
zu  beruhen  —  im  Ahd.  kommt  die  Form  noch  nicht  vor  — ,  aber  im 
as.  ags.  is  und  im  an.  es  {<C  es-t)  scheint  sie  alt  ererbt. 

3.  Opt.  Präs. 

g.  sijau,  sijaisy  sijai  etc. 

ahd.  st,         sis,       si;  shn,  sU,  sin. 

-/Im  Hd.  ist  das  Optativsuffix  des  Plurals  /  für  das  sin- 
gularische ie  eingetreten;  im  übrigen  sind  die  Formen  regel- 
mässig gebildet,  ganz  übereinstimmend  mit  dem  Opt.  Prät. 
Die  gotischen  Formen  sind  kühne  Umbildungen  der  ursprüng- 
lich nur  für  den  Sg.  des  Opt.  geltenden  Formen  s-ie-m  s-iie-m, 
s-ie-s  s-iie-Sy  s-ie-t  s-iie-t.  Man  fasste  sij-  als  Stamm  und 
verband  damit  die  Endungen  des  Opt.  Präs.  der  thematischen 
Verba.  —  Dieser  Stamm  sij-  ist  dann  auch  in  den  Indikativ 
übertragen  und  zur  Bildung  von  sijuy  sijuts,  sijum,  sijup  be- 
nutzt. Die  Personalendungen  stammen  aus  den  untergegangenen 
"^ez-ttm,  "^ez-up. 

Anm.  2.     Alte    partizipialc   Bildungen    der    Wz.   es    liegen  g. 


58  Athematische  Verba.  [§  32. 

sunjis  wahr,  bisunjani  ringsum  zugrunde.  Ein  themavokalisches 
s-out-,  germ.  sanpo-  ist  in  ags.  söÖ.  an.  sannr  "wahr'  erhalten;  vgl. 
§  8  Anm.  2. 

<4.  toesan  wird  als  Verb,  subst.  fast  nur  in  den  Formen 
verwendet,  die  von  den  Wurzeln  es  und  hheu  nicht  gebildet 
werden,  also  namentlich  im  Prät.,  aber  auch  im  Inf.  und  im 
Part.  Präs.  In  den  finiten  Präsensformen  pflegt  es  sich  als 
Vollverbum  in  der  Bedeutung  ^bleiben,  existieren,  geschehen' 
zu  behaupten  (Br.  §  378  A.  1).  —  Der  Imp.  ist  im  Gotischen 
noch  nicht  belegt,  das  Part.  Prät.  weder  im  Got.  noch  im 
Ahd.  Zur  Vertretung  des  Imp.  werden  im  Gotischen  die 
Optativformen  sijais,  sijai,  sijaip  herangezogen  (Br.  §  204 
A.  2);  dem  Ahd.  stehen  eigentliche  Imperativformen:  iciSy 
weset  zu  Gebote,  doch  begegnen  daneben  schon  die  Optativ- 
formen sist  und   Sit  in  imperativischer  Funktion  (§  111).     Im 

Mhd.  ist  dieser  Gebrauch  ganz  gemein. 

r 
Anm.    3.     Neben    dem   Imp.   wis   begegnet    einmal    schon    mi 

Ahd.  (Br.   §378  A.  3),   öfter   im  Mhd.    und   noch  jetzt  in  Mundarten 

bis.    Auf    eine    alte  Imperativform  der  Wz,   es,    die    eine    ähnliche 

Umgestaltung  wie  binnn,  birut  erfahren  hätte,   darf  man  die  Form 

schwerlich  zurückführen  (Brgm.  2,  1317);  auch  nicht  durch  den  erst 

jüngeren    Lautübergang   von  tv  zu   b  aus   ivis   herleiten ;    Aäelmehr 

wird  ivis   in  Anlehnung   an   die  2  Sg.  Ind.    zu   bis  umgebildet  sein 

(DWb.  10,  242). 

<(5.  Auch  in  der  jüngeren  Sprache  haben  die  Formen  des 
Verb,  subst.  noch  manche  Änderung  erfahren.  Das  Verhältnis, 
in  dem  die  Formen  der  regelmässigen  Verba  zu  einander 
stehen,  wies  den  Weg;  das  Ergebnis  war  die  weitere  Ver- 
breitung der  zur  Wz.  es  gehörigen  Formen.  Schon  im  Ahd. 
fallen  die  3  PI.  Opt.  und  der  Inf.  in  vielen  Verben  (swV.  2 
und  3)  zusammen;  daher  wurde  neben  wesan  ein  Inf.  sin  ge- 
bildet. Bei  Otfried  ist  sin  schon  ebenso  häufig  wie  lü'esan. 
bei  Notker  hat  es  das  Übergewicht.  —  Bei  vielen  Verben 
(stV.  1^.  4.  5)  unterscheiden  sich  ferner  der  Inf.  und  das 
Part.  Prät.  nur  durch  die  Vorsilbe  ge-  (geben  :  gegeben,  varn  : 
gevarn,  halten :  gehalten);  nach  diesen  Mustern  werden  im 
Mhd.  Formen  für  das  Part,  gewonnen  (§  53,  4) :  gewesen  zu 
Wesen,    gesin   (namentlich   alem.,    zuweilen   auch  md.)    zu  sin^ 


§  33.]         tuon  und  die  Endungen  des  schwachen  Präteritums.       59 

gewesen  verrät  sich  als  junge  Analogiebildung  durch  das  Fehlen 
des  grammatischen  Wechsels.  — ^Das  Part.  Präs.  lässt  sich 
von  Anfang  an  in  allen  Verben  auf  den  Infinitiv  beziehen 
(gehantl  zu  gehan  etc.) ;  danach  ist  das  nhd.  seiend  an  Stelle 
des  älteren  wesende  getreten.  —  Die  2  ^^.  Imp.  sei  ist  zur 
2  PL  Sit  nach  dem  Muster  von  var  :  vart,  stic  :  stiget,  lä  :  lät 
etc.  gebildet  und  hat  mit  ihr  die  älteren  Imperative  verdrängt. 
So  sind  die  zu  icesan  gehörigen  Formen  jetzt  auf  das  Prät. 
und  Part.  Prät.  beschränkt. 

y  6.  Auch  die  mit  Hülfe  der  Wurzel  hheu  gebildeten  Formen 
wurden  zurückgedrängt.  In  der  1  und  2  PI.  werden  hirn, 
hirt  in  der  bairisch-österreichischen  Literatur  des  12.  Jh.  noch 
oft  gebraucht-,  im  13.  Jh.  erlöschen  sie  allmählich;  die  Optativ- 
formen sin,  Sit  traten  an  ihre  Stelle,  wie  ja  damals  in  der  1 
und  2  PL  der  Indikativ  und  Optativ  überall  zusammengefallen 
waren.  Nur  in  der  1  und  2  Sg.  haben  sich  die  mit  h  an- 
lautenden Formen  erhalten. 

fl.  Dazu  kommen  dann  noch  einige  Änderungen,  die  mit 
der  Stammbildung  nichts  zu  tun  haben.  Der  Abfall  des  t  in 
der  3  PL,  durch  den  diese  mit  der  1  PL  zusammenfällt,  führt 
seit  dem  13.  Jh.  auf  md.  Gebiet  zu  einer  Vermischung  von 
sin  und  sint;  beide  Formen  und  die  Kompromissbildung  si7it 
(nach  der  Diphthongierung:  sei7i,  sind,  seint)  werden  in  der 
1  und  3  PL  gebraucht;  schliesslich  ist  sind  zu  allgemeiner 
Anerkennung  gekommen;  bei  Luther  seit  1524  (Franke  §  64).  — 
Der  Optativ  wird  nach  dem  Muster  der  anderen  Verba  zwei- 
silbig: sie  od.  sige,  siest  etc.,  Formen,  die  namentlich  seit  dem 
14.  Jh.  waichern  und  in  unserer  jetzigen  Sprache  überall  an- 
erkannt sind,  wo  die  Endung  auf  einen  Konsonanten  ausgeht: 
ich,  er  sei,  aber  du  seiest,  wir,  sie  seien,  ihr  seiet  \  ebenso 
im  Part,  seiend]  aber  im  Inf.  sein,  ebenso  im  Ind.  ihr  seit, 
und  gewöhnlich  aach  im  Imp. 

/tuon  und  die  Endungen  des  schwachen  Präteritums. 

TSS.  1.  Das  Verbum  tuon  ist  der  Wz.  dhe  (gr.  Ti-9ri-jui) 
entsprossen ;  als  selbständiges  Verbum  haben  es  nur  die  west- 
germanischen Sprachen   bewahrt.   —  Im  Präsens   sollte  man 


'60  Atheraatische  Verba.  [§  33. 

bei  regelmässiger,  stammabstufender  Flexion  im  Abel,  etwa  die 
Formen  täm,  täs,  tat,  tum,  tut,  tunt  erwarten,  die  jedoch 
nirgends  erscheinen.  Gewöhnlich  sind  die  Formen  von  einem 
Stamme  germ.  dö  gebildet,  an  den  sich  die  Personalsuffixe 
unmittelbar  anschliessen,  auch  im  Optativ;  also: 

Ind.   tuon,   tuos{t),    tuot'^   tuomes  od.  tuon,   tuot,   fuont. 

Opt.  ttio,  tuos{t),  tuo]  tuomes  etc. 

Imp.  tuo,  tuomes,  tuot. 

Inf.  tuon,  tuonne. 

Part,  tuonti. 

Der  unterschied  zwischen  Ind.  und  Opt.  liegt  hier  also 
wie  bei  den  swV.  2  (§  46)  nur  in  den  primären  und  sekun- 
dären Personalendungen. 

2.  Aber  neben  diesen  gewöhnlichen  Formen  erscheinen 
andere,  die  sich  nicht  auf  den  einsilbigen  Stamm  dö  zurück- 
führen lassen.  Im  Alemannischen  finden  wir  wie  bei  den 
swV.  2  und  3  Optative,  die  von  einem  erweiterten  Stamme 
auf  -öio  gebildet  sind.  Sie  begegnen  namentlich  bei  Notker, 
gewöhnlich  ohne  dass  das  i  bezeichnet  ist:  tuoe,  tuoest,  tuoe, 
tuoen,  tuoent,  tuoen,  in  den  Psalmen  aber  auch  mit  j:  tuoie, 
tuoiest  etc.  (Br.  §  380  A.  2).  Dass  dasj  alt,  und  die  Formen, 
mögen  sie  auch,  wie  man  anzunehmen  pflegt,  Analogiebildungen 
sein,  nicht  ganz  jung  sind,  zeigt  der  Umlaut:  mhd.  tüeje, , 

3.  Ein  dritter  Stamm  du  mit  den  Endungen  des  the- 
matischen Verbums  erscheint  besonders  deutlich  bei  Otfried. 
Die  Kürze  des  ti  wird  durch  das  Metrum  bezeugt:  Sg.  2  P. 
duisit)  neben  duas{t),  3  duit  (neben  dtiat);  PI.  1  duen,  2 
duet,  3  duent  (daneben  duant).  Opt.  Sg.  1  due,  2  duest, 
3  due.  PI.  3  dum.  Imp.  PI.  1  duemes,  2  duet.  Zwei- 
deutig ist  der  Inf.  duan,  duanne.  —  In  Denkmälern,  die  die 
Quantität  des  u  nicht  erkennen  lassen  oder  es  als  lang  be- 
zeichnen, ist  nicht  zu  entscheiden,  ob  solche  Formen  von  dem 
Stamme  dö  oder  du  gebildet  sind;  denn  einerseits  konnte  der 
Diphthong  tio  vor  Vokalen  zu  ü  zusammengezogen  (Br.  §  40 
A.  4),  anderseits  aber  auch  ü  in  offener  Tonsilbe  zu  ü  ge- 
dehnt werden  (I  §  240).  Notker  braucht  diese  Formen  mit  ü 
neben    solchen    mit  uo    besonders  im  Opt.:    tiie,    tuest,    tüe'.^ 


§  33.]     tuon  und  die  Endungen  des  schwachen  Präteritums.  61 

tuen  tüenty  tuen ;  zuweilen  auch  im  Inf.  und  Part,  tuen,  tüenne^ 
tuende.  Am  festesten  steht  ö  als  ursprünglicher  Vokal  jeden- 
falls im  Sg.  Ind.  und  in  der  2  Sg.  Imp. 

/4.  Auf  einen  vierten  Stamm  endlich  weisen  die  mfränk. 
2  und  3  Sg.  deist,  deit.  Diese  Formen  sind  entweder  mit 
den  Endungen  des  thematischen  Verbums  zu  dem  alten  idg. 
Stamm  dhe  oder  zu  einem  erweiterten  Stamme  dheio  gebildet 
(vgl.  §  47); 

^r:  Eine  befriedigende  Erklärung  der  anderen  Formen  ist 
noch  nicht  gewonnen.  Der  Stamm  du  kann  seinen  Ursprung  nur 
im  Plural  des  Indikativs  haben,  und  leicht  begreiflich  ist,  dass 
er  sich  mit  den  gewöhnlichen  Endungen  der  thematischen 
Verba  verband;  wie  aber  die  Sprache  zu  dem  Stamme  dö 
kam,  ist  eine  offene  Frage.  Brugmanu  (2,  908  f.  951  f.  1280)  führt 
ihn  auf  idg,  dh-ä  zurück  und  sieht  darin  eine  anderwärts  als  Kon- 
junktiv fungierende  Form  (1.  con-dam,  -dä-mus),  in  der  die  schwächste 
Form  der  Wurzel  mit  einem  unveränderlichen  Suffix  ä  erweitert 
sei.  Hirt  (Ablaut  S.  47)  bestreitet  die  Existenz  eines  solchen  Suffixes, 
führt  die  Form  auf  idg.  dhö  zurück  und  sieht  darin  eine  Ablaut- 
bildung, die  sich  im  enklitischen  Gebrauch  des  Verbums  und  zwar 
zunächst  im  Präteritum  ergeben  habe  (S.  158.  192). 

<  6.  Das  Präteritum,  ahd.  teta,  tätiy  teta\  tätun,  tätut, 
tätun,  Opt.  täti  etc.,  liesse  sich  als  ein  regelmässiges,  nach 
der  Art  der  starken  Verba  gebildetes  Perfektum  auffassen,  nur  dass 
in  der  1  und  3  Sg.  die  Reduplikation  erhalten  und  infolgedessen 
der  Vokal  der  Wurzelsilbe  (ö)  dem  Auslautgesetze  unterlegen 
wäre.  Ob  die  Formen  aber  wirklich  auf  diese  Weise  entstanden 
sind,  ist  eine  andere  Frage  ^).  teta  lässt  sich  jedenfalls  auch 
anders  auffassen,  als  ein  augmentloses  Imperfektum  des  redupli- 
zierten Präsensstammes  (vgl.  gr.  e-ri-Griv),  und  diese  Auffassung 
wird  bestätigt  durch  eine  2  Sg.  dedös,  die  im  As.  neben 
dädi  erscheint  und  ihr  gegenüber  als  alt  und  ursprünglich  an- 
zusehen ist;  denn  dädi  ist  ja  zweifellos  als  eine  junge  Neu- 
bildung zu  dem  Plural  dädun  anzusehen  (§  19).  Im  Singular 
ist  hiernach  eine  Perfektbildung  nicht  anzuerkennen.  —  Auch 
im  Plural   und  Optativ   zeigt  das  As.  Doppelformen,    Formen 


1)  Dass  man  das  d  in  tätun  nicht  ebenso  wie  das  ä  in  gabu7i 
erklären  darf  (§  16),  bemerken  Lorentz  IF.  8,  70  und  Hirt,  Ablaut  S.  192. 


62  Athematische  Verba.  [§  34, 

mit  langem  Rednplikatioiisvokal  wie  im  Hd.  und  solclie  mit 
kurzem:  dedun,  dedi  etc.  Das  Alter  der  ersteren  wird  durch 
die  Übereinstimmung  des  Westgermanischen  mit  den  gotischen 
Endungen  im  schwachen  Präteritum  verbürgt;  die  Formen  mit 
kurzem  Vokal  könnten  Analogiebildungen  nach  dem  Singular 
sein,  wie  solche  später  im  Hd.  nachweisbar  sind  (Whd».  §  362), 
wahrscheinlicher  aber  ist,  dass  sie  alte,  zu  demselben  Tempus 
wie  dedös  gehörige  Formen  sind.  Entweder  liegen  also  in 
den  Doppelformen  zwei  verschiedene  Tempora  vor,  oder  beide 
gehen  auf  ein  System  von  Formen  zurück,  die  in  der  Redupli- 
kationssilbe zum  Teil  langen,  zum  Teil  kurzen  Vokal  hatten. 
Dies  nimmt  Hirt  (Ablaut  S.  192)  an,  der  durch  sehr  kühne 
Konstruktionen  die  überlieferten  Formen  mit  seinem  Ablaut- 
system in  Einklang  zu  setzen  sucht. 

Anin.  Im  Mhd.  reimt  tete  sowohl  auf  e  (bete)  als  auf  e  {stete). 
Diese  doppelte  Qualität  des  e  lässt  weder  auf  doppelten  Ursprung 
der  Form,  noch  auf  eine  besondere  Qualität  des  Reduplikations- 
vokales schliessen  (ZfdA.  44, 107);  vermutlich  ist  das  geschlossene  e 
als  ein  durch  enklitische  Pronomina  veranlasster  Umlaut  anzusehen. 

7.  Das  Part.  Prät.  lautet  im  Hd.  getan,  mit  dem  Vokal 
der  ersten  Hochstufe  (ahd.  ä  =  idg.  e).  Im  As.  kommt  neben 
gidän  auch  gidön  vor,  eine  Form,  die  später  auch  im  Md.  verbreitet 
erscheint.     Whd.  §  362. 

8.  In  der  jüngeren  Sprache  sind  die  Formen  zum  Teil 
nach  der  Analogie  der  regelmässigen  Verba  umgestaltet.  Im 
Präteritum  kommt  für  die  2  Sg.  tcete  schon  im  Mhd.  tätesit) 
vor,  später  wird  auch  tet{e)  durch  tat  ersetzt,  nur  im  Volks- 
lied ersclieint  noch  das  alte  tat.  —  Im  Präsens  begegnet  schon 
im  Mhd.  die  1  Sg.  ohne  auslautenden  Nasal,  tiio  neben  tuon. 
Bindevokallose  Formen  pflegen  noch  jetzt  vor  konsonantischer 
Endung  im  Ind.,  Imp.  und  Inf.  gebraucht  zu  werden,  die 
Endungen  der  übrigen  Formen  werden  wie  beim  thematischen 
Verbum  mit  e  gebildet. 

34.  (Die  Endungen  des  schwachen  Präteritums.)  1.  Zum 
Verbum  tun  gehören  auch  die  Endungen  des  schwachen  Prä- 
teritums (vgl.  §  38).  Im  Gotischen  stimmen  Du.,  PI.  und 
Optativ  genau  mit  den  reduplizierten  Formen  des  selbständigen 
Präteritums,    wie   wir   es  in   den  westgermanischen    Sprachen 


§  35.]  stän  und  gän.  63 

finden,  überein:  g.  -dedum,  -dediip,  -dediin;  -dedjau,  -dedeis 
etc.  =  ahd.  tätnm,  tätnt,  tätiin,  täti,  fdtis{t)  etc.  Im  Singular 
dagegen  und  in  allen  Formen  der  übrigen  germanischen  Sprachen 
gelten  reduplikationslose  Formen.  Sie  müssen  also  entweder, 
wie  Hirt  nachzuweisen  sucht,  in  der  Komposition  die  Redupli- 
kation verloren  haben,  oder  mit  einem  anderen  Tempus  der 
Vergangenheit  zusammengesetzt  sein  (vgl.  §  19). 

^^  Wie  im  Präsens  weisen  die  Formen  auf  verschiedene 
Stämme:  de,  dö  und  du. 

Ind.  Sg.  g.  -da,  -des,  -da. 

ahd.  -ta,  -fös,  -ta\  PL  -tum,  -tut,  -tun. 

'töm,  -tot,  -tön. 
Opt.  Sg.  ahd.  -ti,  -tis,  -ti;     PL  -tim  etc. 

In  der  1  und  3  Sg.  ist  der  auslautende  lange  Vokal 
unter  der  Wirkung  der  Lautgesetze  verkürzt.  Die  erste  Person 
ging  ursprünglich  vermutlich  auf  -ö  (idg.  -öm),  die  dritte  auf 
-e  (idg.  et)  aus.  Auf  diesen  unterschied  weist  das  ürnord.: 
1  Sg.  tairido,  worahto,  3  Sg.  wtirte,  orte.  Der  2  Sg.  kam 
ursprünglich  wie  der  dritten  e  zu,  so  dass  zwischen  den  Formen 
des  Singulars  ein  ähnlicher  Wechsel  bestand  wie  im  Präsens 
der  thematischen  Verba.  e  in  der  2  Sg.  bezeugen  ausser  dem 
Gotischen  das  An.  und  Ae.;  auch  im  Isidor  ist  wenigstens 
einmal  -es  überliefert:  chi-minnerodes  (minuisti).  Aber  früh 
mag  wHe  im  Präs.  des  selbständigen  V^erbums  das  regelmässige 
Verhältnis  gestört  sein.  Im  Hd.  ist  ö  in  der  2.  Person  allge- 
mein gültig  gew^orden,  im  Alemannischen  und  im  Isidor  sogar 
in  den  Plural  gedrungen.  —  Die  schwächste  Wurzelgestalt 
zeigt  im  ßairischen  und  Fränkischen  der  Plural,  und  überall 
der  Optativ.  Dass  in  der  1  und  3  Sg.  Opt.  das  lange  t  be- 
wahrt ist,  während  in  den  thematischen  Verben  i  gilt,  erklärt 
sich  daraus,  dass  in  den  meisten  schwachen  Präteritis  der 
Endung  -ti  eine  unbetonte  Mittelsilbe  vorausging,  der  gegen- 
über die  letzte  leicht  einen  Nebenton  empfangen  konnte. 

stän  und  gä7i. 

35.  1.  Neben  den  thematischen  Verben  standa^i  und 
gangaii    bestehen    im    Hochdeutschen    und    in    anderen    west- 


64  Athematische  Verba.  [§  35. 

germanischen  Sprachen  die  Verba  stän  und  gchi.  sfandan 
und  stdn  stammen,  wie  auch  immer  die  doppelte  Bildung-  zu 
erklären  sein  mag*),  aus  derselben  über  das  ganze  idg.  Sprach- 
gebiet weit  verbreiteten  Wurzel  stä.  Dagegen  ist  das  Ver- 
hältnis von  gangan  zu  gän  unklar.  Die  Versuche,  sie  auf 
denselben  Ursprung  zurückzuführen,  haben  wenig  Wahrschein- 
lichkeit, weder  die  Annahme,  gän  sei  zu  gangan  nach  dem 
Muster  von  stän :  standan  geschaffen  (Bethge  S.  391),  noch 
die  Behauptung  Kluges  gen  sei  aus  einer  Verbindung  der 
Vorsilbe  ga  mit  der  Wz.  i  gehen  entstanden  (vgl.  Streitberg 
S.  319).  Aber  auch  die  entgegengesetzte  Annahme,  beide 
Verba  seien  grundverschieden  {gangan  =  lit.  zeng-iü  ich  schreite, 
gä-n  =  ai.  ja-hä-ti,  gr.  Ki-xri-jui  ich  treffe  an,  hole  ein)  be- 
friedigt nicht,  weil  die  beiden  germanischen  Verba  nach  Form 
und  Bedeutung  zusammen  zu  gehören  scheinen. 

^(2.  stantan  und  gangan  können  im  Ahd.  vollständig 
durcht'lektiert  werden-,  stän  und  gän  werden  nur  in  einem 
Teil  der  Präsensformen  gebraucht.  Die  2  Sg.  Imp.  wird 
immer,  der  Opt.  meist,  im  Alemannischen  immer  von  gangan 
und  stantan  gebildet:  gang,  stant,  gange,  stante  etc.  Erst 
im  Mhd.  treten  diese  Formen  zurück;  am  festesten  behaupten 
sie  sich  im  Imp.  und  im  Alemannischen  (Whd.  §  353.  357); 
im  Nhd.  sind  sie  auf  das  Prät.  beschränkt. 

3.  gän  und  stän  stimmen  in  ihrer  Flexion  vollständig 
überein.  Die  Personalendungen  sind  dieselben  wie  bei  tuon-, 
der  ihnen  vorangehende  Vokal  ist  bald  «,  bald  e,  in  der  2 
und  3  Sg.  Ind.  auch  ei.  Die  ei-Formen  braucht  Otfried,  in 
der  2  P.  stets,  in  der  3  in  der  Regel,  daneben  gät,  stät.  e 
gilt  überall  im  Optativ:  ge,  gest,  ge  etc.  In  den  übrigen 
Formen  hat  das  Alemannische  ä,  das  Fränkische  ä  oder  e, 
das  Bairische  e,  obwohl  unter  literarischem  Einfluss  auch  in 
mhd.  bairischen  Gedichten  a-Formen  als  bequeme  Reimworte 
oft  gebraucht  werden^),  ei  in  der  2  und  3  Sg.  behauptet  sich  im 
Mfrk.     In  der   nhd.  Schriftsprache   gilt   nur   noch   e   und    die 


1)  Vgl.  Brgm.  2,  1002.  1043  und  Hirt  PBb.  23,  315  f.  IF.  12, 197  f. 

2)  Bohnenberger,  PBb.  22,209.     Kraus   und   Zwierzina 


in  der  Festgabe  für  Heinzel  S.  152.  4G7. 


§  35.]  stän  und  gän.  65 

Flexion  der  thematischen  Verba;  der  Bindevokal  hat  in  Ver- 
bindung mit  dem  silbentrennenden  h  in  gehen  und  stehen 
weitere  Verbreitung'  gefunden  als  in  tun  (§  33,  8). 

/4.  Die  Erklärung  der  Vokale  macht  grosse  Schwierig- 
keiten. Die  a-Formen  von  stän  lassen  sich  nicht  unmittelbar 
auf  die  Wurzel  stä  zurückführen,  denn  idg.  a  wird  germ.  ö; 
ahd.  stä-  würde,  w^enn  die  Form  alt  ist,  idg.,  urgerm.  ste  vor- 
aussetzen. Man  vermutet,  dass  diese  Form  eine  Neubildung 
nach  ghe,  westgerm.  gä  sei,  die  durch  die  Übereinstimmung 
beider  Verba  in  einem  Teil  ihrer  Formen,  nämlich  tiberall, 
wo  eine  Verkürzung  der  langen  Vokale  eintreten  musste,  ver- 
anlasst worden  sei.  —  In  den  ei-  und  e-Formen  sieht  man 
Kontraktionen  der  schwachen  Wurzelstufe  mit  i  (idg.  d-i  = 
germ.  ai)  und  geht  hierbei  teils  von  der  Voraussetzung  eines 
J-Präsens  {std-iö)  ^),  teils  von  den  Formen  des  Optativs  (vgl. 
gr.  axa-iri-v,  cTTai-juev)  oder  eines  optativischen  Imperativs  aus 
(Bethge  S.  390  f.  Brgm.  IF.  15,  126  f.).  Die  sehr  auffallende 
Erscheinung,  dass  dies  ai  im  Hochdeutschen  fast  überall  zu  e 
kontrahiert  ist,  was  sonst  doch  nur  im  Auslaut  und  vor  w,  h,  r 
eintritt,  erklärt  man  aus  der  unbetonten  Stellung  des  Verbums 
nach  anderen  Satzgliedern,  besonders  nach  Partikeln.  —  Ich 
zweifle,  ob  diese  kühnen  Konstruktionen  zulässig  sind,  und 
halte  eine  andere  Erklärung,  die  ich  früher  versucht  habe 
(ZfdA.  33,  424  ff.),  für  wahrscheinlicher.  Die  offenbare  Über- 
einstimmung der  Formen  von  tuon  mit  denen  von  gän  und 
stän  weist  den  Weg.  Ich  nehme  an,  dass  mit  den  alten  athe- 
matisch gebildeten  Formen  thematische,  von  den  schwachen 
Stämmen  stäy  gä  gebildete,  konkurrierten.  In  den  athematischen 
galt  ä,  ebenso  entstand  in  den  thematischen  «,  wenn  die  En- 
dung a  enthielt,  e  aus  ä  e,  ai  aus  ä-i.  Eine  scharfe  und  all- 
gemein gültige  Sonderung  des  starken  und  schwachen  Stammes 
fand  vermutlich  schon  vor  der  Kontraktion  nicht  mehr  statt, 
doch  ist  nach  der  Analogie  von  tuon  anzunehmen,  dass  der 
starke  Stamm  im  Sg.  Ind.  herrschte,  der  schwache  im  Plural 
und   Optativ,   in  Otfrieds   Mundart   auch   in   der  2  und  3  Sg. 

1)  Bilduiig-en  mit  e  und  -lo   haben    sich   auch  sonst  zu  einem 
Paradigma  vereinigt  (§  47). 

W.  Wilmaniis,  Deutsche  Grammatik.  III.  5 


66  Athematische  Verba.  [§  35. 

Hiernach  miisste  sich  im  Optativ,  dessen  Endungen  im  Ahd. 
sämmtlich  e  enthalten,  überall  e  ergeben,  wie  denn  tatsächlich 
im  Opt.  durchaus  die  e-Formen  gelten.  Im  PI.  Ind.,  wo  die 
Endungen  teils  e,  teils  a  enthalten,  mussten  beide  Vokale  ent- 
stehen und  zwar,  wo  die  ursprüngliche  Verteilung  der  Laute 
bestand,  in  der  2  PL  et  (aus  ä-et),  in  der  3  änt  (aus  a-ant); 
wo  dagegen  ein  Ausgleich  erfolgt  war,  entweder  e  oder  ä. 
Otfried,  der  im  starken  Verbum  überall  e  braucht  {-en,  -et, 
-ent)  zeigt  dementsprechend  bei  diesen  Verben  überall  e.  In 
der  2  und  3  Sg.  Ind.  ergab  sich  ei,  wo  diese  Formen  auf  dem 
schwachen  Stamm  beruhten,  also  bei  Otfried;  wo  sie  athe- 
matisch von  dem  starken  Stamm  gebildet  waren,  hatten  sie  ä. 
e  konnte,  wenn  man  nicht  eine  durch  Unbetontheit  des  Verbums 
veranlasste  Kontraktion  von  ei  annehmen  will,  in  den  Sg. 
Ind.  nur  durch  Formübertragung  eindringen,  ebenso  in  den  In- 
finitiv und  das  Part.  Präs.  Dass  solche  Formübertragungen 
nicht  ausbleiben  konnten,  ist  selbstverständlich;  doch  ist  zu 
bemerken,  dass  in  diesen  Formen,  namentlich  im  Infinitiv,  das 
regelmässige  ä  in  der  älteren  Zeit  die  herrschende  Form  ist. 
fb.  Bei  gän  gewinnt  ferner  das  Präsens  Einfluss  auf  das 
Präteritum.  Den  Formen  gä-n,  gä-st,  gä-t  eta.  entsprechend 
wird  schon  in  spät-ahd.  Zeit  ein  Prät.  gie  gebildet  (Br.  §  382,  3). 
Im  Mhd.  ist  die  Form  häufig  und  dringt  selbst  in  den  Plural 
und  Optativ  ein.  Ebenso  begegnet  im  Part.  Prät.  gestän, 
gegän  neben  gestanden,  gegangen;  und  umgekehrt  dringt  der 
Vokal  des  Prät.  in  das  Präs.  ein  (Imp.  genc,  ginc  neben  ganc). 
Schliesslich  sind  im  Nhd.  die  Formen  so  geregelt,  dass  alle 
Präsensformen  von  den  kurzen  Stämmen  mit  e  und  den  ge- 
wöhnlichen Endungen  des  Verbums,  die  Formen  des  Präte- 
ritums von  den  erweiterten  Stämmen  gebildet  werden. 

rAnm.  Ähnliche  Formen,  wie  sie  bei  gän  und  stän  alt  her- 
gebracht sind,  entwickeln  sich  durch  Unterdrückung  des  inl.  h  im 
Ind.  Präs.  und  im  Inf.  des  Hülfszeitwortes  haben:  mhd.  hän,  hast, 
hdt\  hän,  hät^  hänt.,  Inf.  hän.  Die  3  Sg.  hat  kommt  schon  in  dem 
bairischen  Petrusliede  vor,  öfter  begegnen  die  Formen  seit  dem 
11.  Jh.  (Br.  §368  A.  4);  im  Mhd.  sind  sie  sehr  allgemein;  die  nhd. 
Schriftsprache  hat  nur  die  2  und  3  Sg.  hast,  hat  anerkannt.  —  Auf- 
fallender ist,  dass  auch  von  lä^en  solche  Formen  gebildet  wurden: 


§  36.]  g.  wiljan,  ic ollen.  67 

Ind.  Präs.  län  (!),  last  od.  Ice^it,  lät  od.  Icet,  län,  lät,  länt.  Imp.  lä, 
lät.  Inf.  län.  Prtc.  gelän.  Im  Mhd.  sind  die  Formen  beliebt,  ver- 
einzelt kommen  sie  schon  im  Spät-ahd.  vor,  namentlich  die  2  Imp. 
lä  oft  bei  Notker  (Br.  §  351  A.  2).  —  Auch  in  das  Prät.  dringt,  wie 
bei  gän,  dieser  vokalisch  auslautende  Stamm ;  die  1  und  3  Sg.  lie 
kommen  schon  vom  10.  Jh.  an  hier  und  da  vor.  Im  Mhd.  schliessen 
sich  vie  und  hie  zu  vähen  und  hähen  an.  Dass  diese  Formen  auch 
in  Gebieten  erscheinen,  wo  die  kontrahierten  Infinitive  vän  und 
Jiän  nicht  üblich  waren,  hat  Zwierzina  gezeigt  (ZfdA.  45, 53  ff.); 
ihre  Bildung  kann  also  auch  nicht  von  den  Infinitiven  ausgegangen 
sein,  wenigstens  nicht  überall.  Die  Doppelform  gienc  :  gie  muss  das 
Muster  gewesen  sein,  nach  dem  me,  gie  zu  vie7ic,  gienc  geschaffen 
Avurden. 

g.  wilja7i,  wollen. 

^6.  1.  In  g.  wiljau,  wileis,  will,  irileiwa  etc.  ist  wahr- 
scheinlich der  Optativ  eines  athematischen  Präsens  zur  Wurzel 
uel  erhalten.  Der  Indikativ  ist  untergegangen^  der  Optativ 
Eat,  wie  aus  der  Bedeutung  des  Verbums  erklärlich  ist,  seine 
Stelle  eingenommen  (Streitberg  S.  345).  Die  Endungen  zeigen 
die  regelmässigen  Formen,  wie  sie  auch  im  Perfektum  der 
thematischen  Verba  entwickelt  sind.  Bemerkenswert  ist,  dass 
der  Vokal  der  Stammsilbe  wie  im  Lateinischen  velim,  velimus 
auf  erster  Hochstufe  steht,  da  man  im  Optativ  Tiefstute  er- 
warten sollte,  also  g.  'houljau  oder  ^nljau  (§  32). 

/^.  Das  Hochdeutsche  weicht  stark  ab.  Die  alten  Optativ- 
tormen  sind  nur  im  Singular  erhalten;  im  Plural  und  in  dem 
neu  gebildeten  Optativ  treten  als  Ersatz  Formen  eines  der 
selben  Wurzel  entsprossenen  aber  ganz  anders  gebildeten  Prä- 
sens ein. 

Ind.  Sg.  willu,  will,  wili. 

PI.  icellemes  od.  wellen^  wellet,  irellent. 

Opt.  tvelle,  wellest  etc. 

Inf.  wellen.     Prtz.  wellenti. 

Im  Sg.  entspricht  die  3.  Person  genau  der  gotischen. 
Auch  die  2.  ist  regelmässig  entwickelt;  sie  setzt  die  sekundäre 
Personalendung  s  voraus,  die  dem  Opt.  von  rechtswegen  zukam, 
im  allgemeinen  aber  durch  das  primäre  -si  verdrängt  ist  (§  3). 
Abweichend   und  schwankend  lautet  die  1  Sg.;   neben  willu, 


68  Athematische  Verba.  [§  36. 

mit  dem  u  des  Indikativs,  steht  icüley  im  Tat.  auch  willa. 
Welche  Endung  die  Form  früher  hatte,  ist  zweifelhaft;  jeden- 
falls muss  sie  wie  im  Gotischen  j  gehabt  haben,  denn 
sie  hat  Konsonantverdoppelung',  und  anders  gelautet  haben 
als  die  dritte  Person,  ein  Zeichen,  dass  die  Gleichheit  der 
beiden  Personen,  die  sonst  allgemein  im  hochdeutschen  Verbum 
herrscht,  nicht  auf  einer  rein  lautgesetzlichen  Entwickelung 
beruht. 

1^3.  Für  die  richtige  Beurteilung  aller  übrigen  Formen 
war  von  entscheidender  Bedeutung  der  Nachweis  Francks 
(ZfdA.  25,  221),  dass  sie  nicht,  wie  man  früher  annahm,  e, 
sondern  umgelautetes  e  haben.  Sie  gehören  also  zu  einem 
Verbum  g.  waljan,  ahd,  wellen,  das  sich  in  der  Bedeutung 
Vählen'  als^regeTmässiges  schwaches  Verbum  bis  heute  er- 
halten hat  (PBb.  9,  564  f.).  Präsensbildungen  auf  -eio-  mit 
zweiter  Hochstufe  erscheinen  neben  den  Grundverben  teils  in 
kausativer,  teils  in  intensiver  oder  iterativer  Bedeutung  (Brgm. 
2,  1147)  und  so  konnte  loaljan  wohl  das  Paradigma  toiljan 
ergänzen.  Auch  im  Inf.  und  Part,  wird,  abweichend  von  g. 
wiljan.  lüiljands,  dies  Verbum  gebraucht. 

(4.  Im  Präteritum  hat  g.  wilda  übereinstimmend  mit  den 
Präsensformen  den  Vokal  auf  der  ersten  Hochstufe;  im  Hoch- 
deutschen dagegen  kommt  icelta  nur  in  wenigen  alten  Denk- 
malern  vor  (Br.  §  384  A.  1),  die  herrschende  Form  ist  von 
Anfang  an  wolta,  also  mit  tiefstufigem  Vokal,  wie  er  auch 
im  Präteritum  der  Präterito-Präsentia  gilt.  —  Das  Part,  wird, 
gleichfalls  in  Übereinstimmung  mit  den  Prät.-Präs.  (§  55),  erst 
spät  gebildet  (Whd.  §  423);  der  älteren  Sprache  fehlte  es. 

J5^  Jüngere  Umbildung.  Die  abnormen  Bildungen  im  Sg. 
Präs.  mussten  früh  entarten;  einerseits  wirkte  das  Muster  der 
thematischen  Verba,  anderseits  und  nachhaltiger  das  der 
Präterito-Präsentia.  Nach  jenen  wurde  zu  der  1  Sg.  willu 
im  rhein-  und  mittelfränkischen  schon  früh  eine  3.  loilit  (so 
stets  bei  Otfried),  zuweilen  auch  (im  Tatian)  eine  2.  idlis  ge- 
bildet. Nach  dem  Muster  der  Präterito-Präsentia  wurde  auf 
die  erste  Person  die  Form  der  dritten  übertragen  und  der 
zweiten  ein  t  angehängt,     will  steht  schon  mehrmals  im  Tatian 


§  37.]  g".  iddja  {hiri).  69 

und  wird  später,  in  der  Form  loile,  teil,  bei  Notker  und 
Williram  alleinherrschend;  bei  diesem  begegnet  auch  dti  wilt  zu- 
erst. Später  tritt  dann  wie  bei  den  Prät.-Präs.  st  für  t  ein. 
j0l\m  PI.  und  Opt.  erscheint  im  fränkischen  Gebiet  früh 
0  für  e.  Zwar  im  Js.  heisst  es  ivellent,  auch  im  T.  kommt 
noch  einigemal  e  vor,  aber  sonst  gilt  in  T.  und  0.  durchaus 
o.  Vielleicht  ist  o  unter  der  doppelten  Einwirkung  des  Prät. 
iüolta  und  der  benachbarten  Konsonanten  to  und  l  an  die 
Stelle  von  e  getreten.  Sollten  Formen  mit  alter  Tiefstufe  an- 
zuerkennen sein,  so  dürften  diese  natürlich  nicht  auf  "^ul-iö 
zurückgeführt  werden  —  daraus  hätte  *iDüUen  entstehen 
müssen  — ,  sondern  es  müsste  ein  mit  ?^-Suffix  gebildeter 
Präsensstamm  zu  Grunde  liegen  (Kluge  PBb.  8,  515.  Brgm. 
2,  978).  wellen  behauptet  sich  im  Oberdeutschen  auch  während 
der  mhd.  Zeit;  in  der  nhd.  Schriftsprache  sind  die  mittel- 
fränkischen Formen  zur  Anerkennung  gekommen.  —  Umlaut 
im  Opt.  Prät.  ist  dem  Mhd.  nicht  fremd,  aber  nicht  durch- 
gedrungen. —  Über  den  Imperativ  s.  §  111. 

g.  iddja  (hiri). 
J37.  g.  iddja  ist  ein  Präteritum  zu  Wz.  ei  gehen  (vgl. 
gr.  ^H^O;  ^4/  ^^^  verdoppeltes  i.  Aus  der  mit  e  erweiterten 
Schwundstufe  der  Wurzel  war  mit  den  sekundären  Personal- 
endungen ein  Tempus  der  Vergangenheit  gebildet :  idg.  *iie-m, 
-s,  'ty  oder  mit  Augment  *e-ie-m,  -s,  -t  (vgl.  ai.  iyät  und  a-yät, 
Brgm.  2,  861).  Beide  Formen  mussten  im  Gotischen  den^g. 
iddja,  iddjes,  iddja  ergeben.  Im  Plural  und  Optativ  sind  die 
regelmässigen  Formen  verloren.  Da  das  Wort  in  den  Singular- 
endungen mit  dem  schwachen  Präteritum  zusammenfiel,  wurden 
nach  dessen  Muster  auch  die  übrigen  Formen  gebildet:  iddje- 
dtcm,  iddjedup,  iddjedun:,  iddjedjau  etc.  Falls  dem  g.  iddja 
die  augmentische  Form  zu  Grunde  liegt,  würden  wir  in  diesem 
Wort  den  einzigen  Rest  eines  augmentierten  Tempus  im  Ger- 
manischen haben;  Streitberg  S.  277^). 

1)  Über  ags.  eode^  das  man  dem  got.  iddja  gleich  zu  stellen 
pflegt,  s.  Sievers,  Zum  ags.  Vokalismus  (Lpz.  1900)  S.  52  und 
Holthausen  IF.  14,  342. 


70  Schwache  Konjugation.  [§  38. 

Anm.  1,  Der  Imperativ  der  Wz.  e%  idg\  ei,  germ.  l  ist  ver- 
rautlicli  in  g.  hiri  erhalten ;  dazu  als  alte  Konjunktivformen  hirjip, 
hii'jats  (Bethge  §  204.  203a).  Dagegen  ist  es  unwahrscheinlich,  dass 
in  mhd.  gie  eine  alte  Form  des  Verbums  erhalten  sei  (Kögel,  PBb. 
9,  544). 

Anm.  2.  Auch  zu  der  Wz.  gevri^  gm,  der  unser  Verbum  kommen 
entsprossen  ist,  gehörte  ursprünglich  ein  athematisches  Präsens 
(Brgm.  2,  887.  Sievers  PBb.  8,  80).  Aus  dem  Wechsel  der  beiden 
Stammformen  erklärt  sich  die  Doppelbildung  quiTnu,  kumu  (§  18,  3).  — 
Über  andere  Verba,  die  in  verwandten  Sprachen  ein  mi-Präsens 
hatten  s.  Kluge,  Grdr.  2  1,  §  166.  168.  S.  433  ^1 

Schwache  Konjugation. 

38.  1.  Je  nach  der  Präsensbilduug  unterscheidet  man  drei, 
im  Gotischen  vier  schwache  Konjugationen.  Für  die  erste  ist 
j  der  charakteristische  Laut,  für  die  zweite  6,  für  die  dritte 
e  {ai),  für  die  vierte  n.  Die  zweite  und  dritte  gehen  im  Ahd. 
in  der  1  Sg.  auf  m  aus  und  lassen  daraus  erivcnnen,  dass 
Verba  auf  -mi  wesentlichen  Einfluss  auf  ihre  Bildung  gehabt 
haben^  die  erste  und  vierte  lassen  auf  j  und  n  die  Endungen 
der  thematischen  Verba  folgen.  Die  charaliteristischen  Formen 
für  alle  schwachen  Verba  aber  sind  das  Präteritum  und  das 
Partizipium  Präteriti^). 

2.  (Bildung  des  Präteritums.)  Lange  Zeit  hat  die  alte 
Ansicht  Bopps  und  Grimms,  dass  das  schwache  Präteritum 
auf  der  Zusammensetzung  eines  Nomens  mit  Formen  des  Ver- 
bums tun  (Wz.  dhe)  beruhe,  unbestritten  gegolten,  also  iiasi- 
da  =  Heilen  od.  Heilung  tat,  salhö-da  Salbung  tat  etc.  Aber 
eine  ßeihe  von  Formen,  in  denen  sich  die  P]ndung  des  schwachen 
Präteritums  ohne  Mittelvokal  an  die  Wurzelsilbe  schliesst, 
lässt  sich  mit  dieser  Theorie  nicht  in  Einklang  bringen.  Unter 
den  Präterito-Präsentia  sind  nur  zwei,  g.  munda  und  slculda, 
deren  Endung  sich  auf  idg.  dh  zurückführen  liesse;  in  allen 
andern,  g.  paurfta,  aihta,  öhta,  toissa,  ahd.  muosa,  g.  daursta^ 


1)  Lorentz,  Über  das  schwache  Präteritum  des  Germanischen 
und  verwandte  Bildungen  der  Schwestersprachen.  Leipzig  1894. 
Michels  IF.  Anz.  6,  85.     Löwe  IF.  4,  365  f.  8,254. 


§  38.]  Bildung'  des  Präteritums.  71 

ebenso  in  g'.  hauhta,  hrähia,  ptlhfa,  jbähta,  waurhta  setzt  teils 
das  t  der  Endung^  teils  die  Änderung,  die  der  Stammauslaut 
erfahren  hat,  idg.  t  oder  th  als  Anlaut  der  Endung  voraus.  — 
Der  erste,  der  mit  Nachdruck  auf  die  Schwierigkeit  dieser 
Formen  hinwies,  war  Begemann^),  und  alle  Versuche,  die  man 
auch  später  noch  gemacht  hat,  diese  Formen  mit  der  Zusammen- 
set/Aingstheorie  in  Einklang  zu  bringen,  sind  gescheitert. 

3.  Begemann  stellte  nun  seinerseits  die  Ansicht  auf,  dass 
das  schwache  Präteritum  überhaupt  nicht  zusammengesetzt  sei. 
Aber  dagegen  sprach  zu  laut  die  grosse  Übereinstimmung 
zwischen  den  Endungen  des  schwachen  Präteritums  und  den 
Formen  der  Wz.  dlie  (§  34).  Man  wird  also,  wie  R.  von  Raumer 
gleich  nach  dem  Erscheinen  von  Begemanns  Buch  vermutete, 
zwei  verschiedene  Ausgangspunkte  für  das  germanische  schwache 
Präteritum  anerkennen  müssen.  Zum  Teil  erwuchs  es  aus 
Zusammensetzung  mit  der  Wz.  dhe,  zum  Teil  aus  Verbal- 
formen, die  mit  if-  oder  f/i-Suffix  gebildet  waren.  Was  für 
Formen  das  waren,  darüber  sind  verschiedene  Ansichten  auf- 
gestellt (Streitberg  S.  334  f.);  am  wahrscheinlichsten  ist  die, 
welche  Wackernagel  und  Behaghel  (KZ.  30,  313)  begründet 
haben. 

4.  In  der  2  Sg.  gab  es  neben  dem  Personalsut'fix  -tha, 
das  in  dem  f  des  got.  Perfektums  erhalten  ist,  eine  sekundäre 
mediale  Endung  -tJies.  Diese  Endung  ist  im  Griechischen  der 
Ausgangspunkt  für  die  Bildung  des  schwachen  Passiv-Aorists 
gewiesen,  im  Germanischen  für  das  schwache  Präteritum,  soweit 
es  nicht  auf  Zusammensetzung  beruht.  Indem  das  Griechische 
zu  -6riq  die  übrigen  Personen  -0r|v,  -9r|  etc.  entwickelte,  lehnte 
es  sich  an  die  älteren  Aoriste  auf  -r|v,  -ri<;,  -x]  an  (Brgm.  2, 
1378.  962);  das  Germanische  fand  das  Muster  der  Weiter- 
bildungin dem  zusammengesetzten  Präteritum,  mit  dessen  zweiter 
Person  die  alte  mediale  Endung  übereinstimmte;  vgl.  g.  mun-des 
{—  ai.  ma-thäs)  mit  dem  Suffix  -thes  und  g.  salbö-des  mit  der2Sg. 
der  Wz.  dhe.  Wie  7.i\  salbö-des  eine  3  Sg.  salböda  gehörte,  so 
bildete  man  zu  mun-des  eine  3  Sg.  munda,  und  so  die  übrigen. 

1)  Begemann,  Das  schwache  Präteritum  der  germanischen 
Sprachen.     Berlin  1873. 


72  Die  schwache  Konjugation.  [§  39. 

5.  Die  Greuzen,  innerhalb  deren  das  schwache  Präte- 
ritum zur  Geltung-  gekommen  ist,  sind  im  wesentlichen  durch 
die  Präsensbildung-  bestimmt.  Wir  finden  es  neben  den  Präterito- 
Präsentia,  neben  allen  Verben,  die  ihre  Präsensformen  mit  e 
und  öj  und  neben  fast  allen,  die  sie  m\i  j  und  n  bilden  (Aus- 
nahmen in  §  11),  sonst  nur  in  ganz  wenigen:  g.  briggan, 
hrälita\  ahd.  higinnan,  Mgo7ida{bigonsta);  hrühlian  {g.  hrüJcjan), 
hriillta.  Zu  hringan  und  biginnan  werden  auch  starke  Präterita 
gebildet  (vgl.  §  39,  1).  brang  brungan  ist  selten  und  ohne  Dauer; 
dagegen  fand  bigan  im  Mhd.,  gefördert  durch  das  Reimbedürfnis, 
weite  Verbreitung  (ZfdA.  8, 14.  45,  29). 

6.  Das  Verbreitungsgebiet  der  beiden  Formen,  die  im 
schwachen  Präteritum  vereinigt  sind,  ist  sehr  verschieden. 
Das  ^Präteritum  blieb  auf  wenige  Verba  beschränkt  und  ist 
nur  da  anzunehmen,  wo  von  Anfang  an  die  Endung  sich  un- 
mittelbar, ohne  Mittelvokal  an  den  Stamm  anschloss:  in  den 
Präterito-Präsentia,  den  eben  angeführten  Verben  bi^mgan, 
biginnan  und  binihhan  und  einem  Teil  der  Verba  auf  -io  (§  41). 
Auf  das  zusammengesetzte  Präteritum,  das  ursprünglich  nur 
den  denominativen  Verben  zukam,  sind  vernmtlich  alle  Präterita 
zurückzuführen,  in  denen  der  Endung  ein  Mittelvokal  ?,  ö  oder 
e  vorangeht. 

6.  Den  Anlass,  ein  schwaches  Präteritum  auch  von  nicht 
denominativen  Verben  zu  bilden,  gab  bei  den  Präterito-Prä- 
sentia der  Umstand,  dass  ihnen  ein  Tempus  der  Vergangen- 
heit fehlte;  bei  vielen  andern  darf  man  ein  wesentlich  mit- 
wirkendes Moment  darin  sehen,  dass  ihr  Vokal  sich  nicht  in 
die  Ablautreihen  der  thematischen  Verba  fügte  oder  dass  sie 
in  den  Flexionsendungen  des  Präsens  stark  von  der  normalen 
Bildung  der  ablautenden  Verba  abwichen.  Dieses  kommt  für 
die  Verba  der  zweiten  und  dritten,  jenes  namentlich  für  die 
der  ersten  und  vierten  Konjugation  in  Betracht  (vgl.  §  45.  49). 

39.  (Das  Partizipium.)  1.  Die  zweite  für  das  schwache 
Verbum  charakteristische  Form  ist  das  mit  -to  gebildete  Parti- 
zipium. Ursprünglich  hatten  die  mit  diesem  Suffix  gebil- 
deten Verbaladjektiva  mit  dem  schwachen  Präteritum  nichts 
zu  tun.     Aber   nachdem   die   beiden  Formen  durch   die  Laut- 


f^  39. j  Das  Partizipium.  73 

Verschiebung'  und  den  grammatischen  Wechsel  in  ihrem  Kon- 
sonanten d  zusammengefallen  waren,  traten  sie  in  fruchtbare 
Beziehung.  Das  zusammengesetzte  Präteritum  der  Denominativa 
förderte  die  Verbreitung  der  Verbaladjektiva,  und  wo  neben 
Wurzelverben  Verbaladjektiva  mit  ^o-Suffix  bestanden,  beför- 
derten umgekehrt  diese  die  Bildung  eines  schwachen  Präteritums. 
Die  Verbreitung  des  schwachen  Präteritums  über  Wurzelverba, 
namentlich  über  die  Verba  auf  -eiö  (§  40),  beruht  sicher  zum 
guten  Teil  auf  solchen  Verbaladjektiven.  Doch  hatte  ihre 
Existenz  die  Bildung  eines  schwachen  Präteritums  nicht  not- 
wendig- zur  Folge.  Wir  finden  sie  auch  neben  Verben  mit 
starkem  Perfektum;  z.  B.  g.  clatips  tot  neben  clhvan  sterben; 
un-sah-t-s  unbestreitbar  zu  sakan\  ahd.  alt  alt  (eig.  heran- 
gewachsen) zu  g.  alan  etc.  (II  §  337,  1  2).  und  auch  wo 
ein  schwaches  Prät.  und  ein  Verbaladjektiv  auf  -to  neben 
einander  bestehen,  weist  zuweilen  die  Bedeutung  auf  die  Selb- 
ständigkeit der  beiden  Bildungen  hin.  Neben  Verben,  die  ihr 
Prät.  von  jeher  ohne  Mittelvokal  bildeten,  erscheinen  die  Verbal- 
adjektiva auf  -to  in  der  Kegel  nicht  als  Partizipia,  sondern 
als  Adjektiva;  so  namentlich  neben  den  Präterito-Präsentia 
(§  55,  5)  und  neben  pagkjan  und  pugJcjan  :  anda-pähts  be- 
dächtig, vernünftig-,  hauh-pühts  hochmütig. 

Anin.  Wie  das  ^Partizipium  nicht  notwendig  ein  schwaches 
Präteritum  zur  Folge  hat,  so  steht  umgekehrt  neben  higonda  das 
/^-Partizipium  öz^wnntm;  und  das  Part.  \o\\hringan  lautet  wenigstens 
in  den  ältesten  hd.  Denkmälern  viel  öfter  hrungan  als  brdht. 

2.  Was  die  Betonung  betrifft,  so  ordnete  sich  in  den 
zusammengesetzten  Präterita  vermutlich  der  verbale  Bestand- 
teil dem  nominalen  enklitisch  unter  (Streitb.  S.  342);  dagegen 
ist  für  die  2  8g.  auf  -thes  und  für  das  Part,  auf  -to  Suffix- 
betonung als  ursprünglich  vorauszusetzen.  In  dem  nicht  zu- 
sammengesetzten Präteritum  sollte  man  also  wie  im  Partizipium 
grammatischen  Wechsel  erwarten,  germ.  d  <  idg.  th,  t\  und 
dementsprechend  heisst  es  auch  g.  sJculda,  shiilds,  munda, 
toilda\  aber  wider  die  Regel:  g.  kunpa,  Hmpa,  ahd.  konda, 
onda:  Part.  g.  Jcunp,  ahd.  kund.  Wie  die  i^usnahmen  zu  er- 
klären sind,  ist  unsicher;  vgl.  Streitb.  S.  340.  Bethge  S.  366. 
370.  378. 


74  Erste  schwache  Konjug'ation.  [§  40. 

Erste  schwache  Konjugation. 

40.  (Präsens.)  1.  Die  schwachen  Verba  der  ersten 
Konjugation  bilden  ihre  Präsensformen  mit  denselben  Endungen 
wie  die  starken  Verba  mit  j' Präsens;  ihre  Flexion  unterscheidet 
sich  von  der  der  gewöhnlichen  starken  Verba  (§  28)  im  all- 
gemeinen nur  durch  ein  vorangehendes  J;  z.  B.  Ind.  nas-ja, 
ß^y  'J^P'-i  ~j^''^>  -jats\  -jam,  -j'ip,  -jand.  Opt.  nas-jau,  -jais, 
-jai  etc.  Eigentümliche  Bildung  zeigen  nur  wenige  Formen. 
Die  Lautfolge  ji  erscheint  nur  im  Gotischen,  und  nur  in 
Verben  mit  kurzer  Stammsilbe*,  Verba  mit  langer  Stammsilbe 
oder  mit  mehrsilbigem  Stamm  haben  statt  dessen  ei\  also 
2.  3  Sg.  Ind.  7ias-jis,  -jip,  aber  sand-eis,  -ei]);  mildl-eis,  -eip; 
2  PI.  Ind.  und  Imp.  7ias-j/p,  aber  sand-eip,  m'ikü-eip.  Die 
2  Sg.  Imp.  geht  in  allen  Verben  auf  -ei  aus:  nas-ei,  sand-ei 
miJcil-ei.  —  Im  Hochdeutschen,  wo  die  Lautfolge  ji  nur  in 
der  2.  3  Sg.  Ind.  zu  erwarten  wäre,  wird  weder  ji  noch  i 
gebraucht,  sondern  kurz  /;  also  ner-is,  ner-it;  sent-is,  sent-it. 
Ebenso  im  Imp.  wer-i,  sent-i.  Ausserdem  ist  für  das  Hd.  noch 
zu  bemerken,  dass  J  folgendes  a  in  e  w^andelt  und  früh  unter 
Hinterlassung  der  bekannten  Wirkungen  (Umlaut  und  Kon- 
sonantverdoppelung in  der  Stammsilbej  schwindet.  Für  ein 
Verbum  wie  waljan  ergeben  sich  also  folgende  Formen:  Ind. 
wellii,  tüelis,  ivelit,  wellemes,  freuet,  wellent\  Imp.  iceli,  wellet \ 
Opt.  welle,  welles  etc. 

2.  Alle  diese  Formen,  den  got.  Imperativ  ausgenommen, 
finden  ihr  genaues  Gegenbild  schon  im  Idg.  (Streitberg  S.  300  f.). 
Es  gab  Verba  auf  io,  die  in  ihrer  Präsensflexion  ganz  mit 
den  thematischen  Verben  übereinstimmten  (starre  iejio-^W- 
dungen);  es  gab  andere,  in  denen  neben  den  Vollstufen  ie,  io 
die  Tiefstufen  /  und  i  standen,  und  zwar  /  nach  kurzer  Stamm- 
silbe, wie  in  alid.  welis,  welit  (vgl.  1.  capio,  capis,  caplt, 
capimus,  capitis,  capiunt),  l  nach  langer,  wie  in  g.  sökeis, 
söJceip  (vgl.  1.  farcio,  farcis,  farcit,  farcimus,  farcitis,  far- 
ciunt).  Und  so  könnte  man  annehmen,  dass  die  germanische 
Flexion  auf  einer  Vereinigung  dieser  verschiedenen  Form- 
systeme beruhe.  Aber  der  Imperativ  auf  ei  widerspricht,  denn 
ein   einsilbiges   ie   oder   i   hätten   g.  i   ergeben  müssen;    g.  ei 


^  40.1  Die  Präsensformen.  75 


setzt  ein  zweisilbiges  eie  oder  iie  voraus.     Und    noch   andere 
schwerwiegende    Momente    weisen    auf  zweisilbige   Endungen. 

3.  Zahlreicher  als  die  Verba  auf  io  waren  nämlich  die, 
welche  vor  der  Endung  io  noch  einen  Vokal  hatten,  Verba  auf 
eio  und  von  nominalen  ejo  und  «-Stämmen  abgeleitete  auf  eio  und 
iio,  und  zu  diesen  Verben  gehören  gerade  die  Gruppen,  die 
sich  im  Germanischen  am  lebenskräftigsten  zeigten,  zahlreiche 
Denominativa,  die  Kausativa  mit  dem  Vokal  auf  zweiter 
Hochstufe  (II  §  33)  und  Intensiva  mit  Tiefstufenvokal  (II  §  35.  66). 
Für  alle  diese  Verba  ergaben  sich  im  Germanischen  zunächst 
zweisilbige  Endungen  ija,  ijis,  Ijip  etc.,  und  es  ist  schwer  zu 
glauben,  dass  sie  spurlos  den  seltenen  Bildungen  mit  ein- 
silbiger Endung  das  Feld  geräumt  haben  sollten.  Ferner  wäre 
es  sehr  merkwürdig,  wenn  die  schwachen  Suffixstufen  i  und 
l  sich  gerade  nur  in  den  Formen  erhalten  hätten,  in  denen 
die  thematischen  Verben  ein  i  in  der  Endung  haben,  im  Got. 
in  der  2  und  3  Sg.  und  in  der  2  PL,  im  Hd.  nur  in  den 
beiden  ersteren.  Diese  Umstände  deuten  darauf  hin,  dass  im 
Germanischen  eine  spontane  Entwickelung  des  zweisilbigen 
Suffixes  zum  einsilbigen  stattgefunden  haben  muss,  mögen  auch 
die  alt  ererbten  Formen  von  Verben  auf  io  diese  Entwickelung 
gefördert  und  teilweise  geleitet  haben. 

4.  Zunächst  ergab  sich  im  Imperativ  durch  die  Wirkungen 
des  Auslautgesetzes  l  aus  iie'^).  Dann  muss  in  den  Formen, 
die  dem  Auslautgesetz  nicht  unterworfen  waren,  die  zwei- 
silbige Endung  einsilbig  geworden  sein,  sei  es,  dass  ija,  ije 
durch  Unterdrückung  des  ersten  Vokales  zu  ja,  je,  oder,  was 
wahrscheinlicher  und  anzunehmen  ist,  durch  Schwund  des  j 
zunächst  zu  ia,  ie,  dann  zu  ja,  je  wurden.  Es  ist  ganz  natür- 
lich, dass  die  Schwäche  des  inl.  j,  die  im  Ahd.  den  Laut  auch 
nach  den  betonten  Stammsilben  verschwinden  lässt,  sich  früher 


1)  Um  zti  erklären,  dass  im  Got.  der  Imp.  auf  -ei,  der  A.  Sg. 
der  J(2-Stämme  aber  auf  i  ausgeht,  nehmen  Walde  (Auslautgesetze 
S.  147  f.)  und  Janko  (IF.  Anz.  17,  61)  an,  dass  sökei  nach  Analogie 
von  2.  3  Sg.  sökeis,  sökeip,  und  nach  der  Analogie  des  Imp.  sökei 
dann  wieder  nasei  gebildet  sei;  für  mich  ebenso  unglaublich  wie  für 
ihre  Rezensenten  Jellinek  und  Michels. 


76  Erste  schwache  Konjugation.  [§  41 . 

in  den  unbetonten  Endungen  geltend  machte.  Doppelte  FormeUj 
je  nachdem  der  erste  oder  der  zweite  Vokal  schwächer  betont 
wurde,  ergaben  sich  nach  dem  Schwund  des  inl.  j  aus  iji'i 
nach  langer  Stammsilbe  wurde  im  Gotischen  u  zu  i  (soheip  < 
söldip),  nach  kurzer  n  zu  ji  {nasjip  <  ndsüp).  Zweifelhaft 
ist  nur,  ob  man  auch  das  kurze  i  im  Hd.  auf  zweisilbiges 
iii  zurückführen  darf.  Aus  li,  i  kann  es  natürlich  nicht  ent- 
standen sein,  wohl  aber  halte  ich  für  möglich,  dass  im  Hd. 
die  Form  ji  <  //  ebenso  wie  ja,  je  allgemeine  Geltung  ge- 
wonnen hatte,  und  dassj  vor  dem  i  früher  als  sonst  und  ohne 
die  Wirkung,  die  sein  späterer  Schwund  auf  den  vorhergehenden 
Konsonanten  ausübt,  erloschen  sei. 

41.  (Mittel vokal  im  Präteritum  und  Partizipium.)  1.  Im 
Präteritum  lassen  die  schwachen  Verba  der  ersten  Konjugation 
entweder  wie  die  Präterito- Präsentia  die  Endungen  unmittel- 
bar auf  die  Stammsilbe  folgen,  oder  sie  verbinden  die  beiden 
Elemente  durch  i.  Die  Formen  mit  Mittelvokal  müssen  von 
den  Verben  ausgegangen  sein,  die  ihr  Präteritum  durch  Zu- 
sammensetzung mit  Nominalformen  bildeten;  Formen  ohne 
Mittelvokal  kamen  den  Verben  zu,  von  denen  ein  ^Präteritum 
gebildet  war. 

2.  Die  Frage,  wie  es  kam,  dass  gerade  /  zum  Mittel- 
vokal wurde,  hat  die  Forschung  oft  beschäftigt.  Denn  mag 
die  Zusammensetzung  in  eine  Zeit  hinauf  reichen,  wo  noch  der 
blosse  Stamm  des  Nomens  als  abhängiges  Satzglied  gebraucht 
werden  konnte^),  oder  mag  sie  erfolgt  sein,  als  die  Kasus 
bereits  ausgebildet  waren,  ursprünglich  müssen  jedenfalls  ver- 
schiedene Laute  in  der  Kompositionsfuge  gestanden  haben, 
und  weder  die  Stamm-  noch  die  Kasusbildung  hätten  für  die 
Alleinherrschaft    des    i    eine    genügende    Grundlage    geboten. 


1)  Diese  Annahme  Hirts  (IF.  17,  45)  halte  ich  für  sein*  un- 
wahrscheinhch.  Dass  die  Formen  der  Substantivkomposition  aus 
so  früher  Zeit  stammen  und  daraus  zu  erklären  sind  (a.  0.  S.  43), 
hatte  ich  übrigens  II  §  3.  399  schon  mit  klaren  Worten  ausgesprochen 
und  wohl  jeder  angenommen,  der  sich  die  Frage  nach  dem  Ursprung 
des  Vokals  in  der  Kompositionsfuge  vorgelegt  hatte. 


§  41.]  Mittelvokal  im  Präterituni  und  Partizipium.  77 

Dass  neben  ihm  alle  andern  Laute  verschwanden,  ist  zum  Teil 
wohl  darin  begründet,  dass  schon  im  Idg.  sowohl  neben  Kausa- 
tiven als  neben  Denominativen  partizipiale  Bildungen  auf  -ito- 
bestanden ;  mehr  noch  vermutlich  in  dem  Verhältnis  des  Prät. 
zum  Präs.  (vgl.  Streitberg  S.  341).  Da  die  meisten  Verba 
unserer  Konjugation  im  Präs.  ursprünglich  zweisilbige  ija,  ije, 
iß  hatten,  erschien  das  erste  unveränderliche  i  als  Bestandteil 
des  Stammes  und  wurde  als  solcher  auf  das  Präteritum  über- 
tragen. Die  Mannigfaltigkeit,  die  hier  gegolten  hatte,  unter- 
lag der  Einheit,  die  im  Präsens  herrschte.  Die  Partizipia  auf 
-ito  aber  werden  es  vorzugsweise  erleichtert  haben,  dass  die  Form 
des  zusammengesetzten  Präteritums,  die  bei  den  denominativen 
Verben  entsprungen  war,  auf  die  Kausativa  übertragen  wurde. 

3.  Die  Endung  -ida  hatten  bei  weitem  die  meisten  swV.  1. 
angenommen;  doch  gab  es  auch  einige  ohne  Mittelvokal,  teils 
solche,  die  ein  ^Präteritum  hatten,  teils  aber  auch  solche, 
deren  Präteritum  nach  Art  der  zusammengesetzten,  also  mit 
c^Ä-Präteritum  gebildet  war.  Zwar  im  Gotischen  zeigen  alle 
Verba,  die  den  Mittelvokal  entbehren,  durch  die  Änderungen 
im  Auslaut  der  Stammsilbe,  dass  sie  ein  ^Präteritum  haben: 
hugjan  kaufen  bauhta,  hrükjan  hrühta,  waurkjan  waurhta, 
pagJcjan  pähta,  puglijan  pühta,  kaupatjan  ohrfeigen  kaupasta 
(aber  Part.  ]{:aupatips).  Aber  gerade  der  umstand,  dass  alle 
diese  Verba  eine  Änderung  ihres  Stammauslauts  erfahren  haben, 
lässt  schliessen,  dass  das  Gotische  den  ursprünglichen  Zustand 
nicht  rein  bewahrt  hat.  Denn  warum  sollte  der  kürzere  Typus 
nur  solchen  Verben  zugekommen  sein,  in  denen  die  Laut- 
gesetze zu  einer  Änderung  des  Auslautes  führen  mussten?  Es 
ist  vielmehr  anzunehmen,  dass  diese  Verba  der  Rest  einer 
grösseren  Gruppe  sind,  dessen  Endungen  eben  wegen  der  Än- 
derung der  Stammsilbe  der  Umbildung   zu  -ida  widerstanden. 

4.  Welche  Verba  ursprünglich  zu  dieser  Gruppe  gehörten, 
darüber  gibt  auch  das  Ahd.  nur  ungenügende  Auskunft. 
Während  nämlich  im  Gotischen  die  Formen  mit  Mittelvokal 
sich  auf  Kosten  der  andern  ausgebreitet  haben,  ist  das  Um- 
gekehrte in  allen  andern  germanischen  Sprachen  geschehen. 
Ein  jüngeres  westgermanisches  Synkopierungsgesetz,  das  nach 


78  Erste  scliwache  Konjug'atioii.  [§  41. 

langer  Stammsilbe  die  Unterdrückung  des  Mittelvokales  be- 
wirkte, hat  dem  kürzeren  Typus  ein  weites  Feld  erobert. 
Überall  durchgeführt  erscheint  das  Gesetz  zwar  nicht;  in 
manchen  fränkischen  Denkmälern,  besonders  im  Is.  überwiegt 
wie  im  Gotischen  das  i-Präteritum,  z.  B.  sendida,  ar-aughida, 
chi-deilida  (ßr.  §  363);  aber  im  Oberdeutschen  sind  solche 
Ausnahmen  sehr  selten.  Ein  Schluss  auf  die  vor  dem  Syn- 
kopierungsgesetz  geltenden  Formen  ist  also  bei  den  Verben 
mit  langer  Stammsilbe  aus  der  Synkope  allein  nirgends  zu 
ziehen.  Nur  wo  ältere  Lautgesetze  zu  einer  Veränderung  des 
Stammes  geführt  hatten,  wie  in  dejiken  dähta,  dunicen  dühta, 
wurken  loorhfa  kann  man  auf  eine  aus  alter  Zeit  ererbte 
Form  schliessen,  aber  solche  Änderungen  konnten  nur  in  dem 
^Präteritum  eintreten.  Wie  weit  etwa  c?Ä-Präterita  ohne 
Mittelvokal  vorhanden  waren,  darüber  gibt  die  hd.  Form  lang- 
stämmiger Verba  keine  Auskunft, 

Ainii.  ].  Selbst  Lautverbiudungen,  die  im  Gotischen  ein  t-Frät. 
verbürgen,  entbehren  im  Ahd.  der  Beweiskraft,  weil  sie  durch  die 
hd.  Lautverschiebung  und  jüngere  Synkope  entstanden  sein  können. 
So  kennen  wir  brühta  aus  dem  Gotischen,  suohta  (g.  sökidä)  und 
Tuohta  aus  andern  germ.  Sprachen  als  ^Präterita;  im  Hd.  könnten 
sie  aus  brühhita  etc.  entstanden  sein. 

Anm.  2.  Dass  worhta  eine  alte  Bildung  ist,  erweisst  ausser 
den  Konsonanten  auch  der  Vokal  o  für  u.  Bei  furhten  forhta  (g. 
faurhtida)  findet  derselbe  Wechsel  statt,  wird  aber  im  Fränkischen 
ausgeglichen,   indem  o  auch  in  das  Präsens  dringt  (Br.  §  364  A.  1). 

5.  Zu  den  Verben  mit  langer  Stammsilbe  sind  auch  die  auf 
germ.  p,  t,  Ic  zu  rechnen-,  denn  die  Affrikaten  und  Spiranten, 
die  durch  die  hd.  Lautverschiebung  entstehen,  bilden  stets 
Position  (I  §  238).  Verba  wie  setzen  sazta,  stepfen  staßa, 
decken  dalita  oder  dacta  lassen  also  keine  alten  Bildungen 
ohne  Mittelvokal  voraussetzen. 

Anm.  3.  Die  Verba  auf  -akjan  bilden  synkopierte  Präterita 
mit  ht  besonders,  wie  es  scheint,  im  Alemannischen,  mit  kt  über- 
wiegend im  Bairischen  und  namentlich  im  Fränkischen.  Bei  0. 
heisst  es  immer  wakta,  thakta  (oder  wagta,  thagtä)^  im  Tat.  kommt 
nur  ein  wdhta  vor  (Br.  §  362  A.  1). 

Anm.  4.  sazta,  dacta  sind  anders  gebildet  als  stafta^  dalita. 
Diese  sind  regelmässig  aus  stafita^  dahhita  entstanden.  In  dacta 
muss   entweder  das  k  aus  dem  Präsens  dekken  in   das  Präteritum 


i5  41.]  Mittelvokal  iin  Präteritiiiii  und  Partizipium.  79 

übertragen,    oder  die    Synkope  vor   der    Lautverschiebung    erfolgt 
sein.     Über  sazta  s.  Anm.  5. 

6.  Zu  den  langstämmigen  gehören  natürlich  2iViQ\igar{a)wen, 
far{d)wen\  daher  im  Prät.  regelrecht  (mit  Übergang  von  w 
in  o)  garota,  farota.  —  Ferner  stehen  ihnen  ganz  gleich 
zweisilbige  Stämme,  deren  erste  Silbe  kurz  ist.  So  bildet  0. 
mcihalen  mahalta,  Milden  bilidta;  dagegen  antwurtita,  an- 
giistita,  auch  lougnita,  hotthnita  (Br.  §  363  A.  3). 

7.  Mehr  Auskunft,  wie  weit  die  Präterita  ohne  Mittel- 
vokal schon  der  älteren  Sprache  angehörten,  geben  die  Verba 
mit  kurzer  Stammsilbe,  die  dem  Synkopierungsgesetz  nicht 
unterliegen.  Die  meisten  gehen  auf  -ita  aus;  z.  B.  nerien 
nerita,  friimmen  frumita,  dennen  dehnen  denita,  knussen 
zerstossen  Jcnusita,  leggen  legita,  Intswebhen  einschläfern  int- 
swehita,  frewen  frewita.  Jedoch  bei  den  Verben  auf  germ. 
d  und  l  konkurrieren  synkopierte  und  nicht  synkopierte  Formen : 
retita  und  ratta\  zelita  und  zalta-^  ebenso  bei  quetten  be- 
griissen,  scutten  erschüttern,  muUen  zermsdmQUy  wellen,  seilen, 
hüllen]  bei  einigen  scheinen  die  Formen  mit  i,  bei  andern 
die  ohne  i  üblicher  gewesen  zu  sein  (Br.  §  362  A.  3.  4).  Ob 
sie  t-  oder  dh-Fräitevitmn  gehabt  haben,  lassen  die  Verba  auf 
7  nicht  erkennen,  das  Prät.  der  Verba  auf  t,  germ.  d  dagegen, 
lässt  sich  auf  ein  f-Präteritum  nicht  zurückführen,  denn  Dental 
+  t  hätte  SS  ergeben  müssen.  Dasselbe  gilt  dann  noch  für 
ein  Verbum  auf  germ.  t,  für  das  Prät.  satte  von  setzen.  Die 
Form  ist  zwar  im  Ahd.  noch  nicht  belegt,  aber  später  im 
Fränkischen,  bis  in  das  alemannische  Gebiet  hinein,  verbreitet 
lind  sicher  alt.  Sie  kann  nur  auf  einem  noch  unverschobenen 
.satda  beruhen  (PBb.  1,  141). 

Anm.  5.  Wenn  satta  einst  gemeingültig  war,  würde  auch 
^'azta  nicht  unter  dem  Einfluss  des  Präsens  aus  sa^ida,  satida  ent- 
standen sein,  sondern  müsste  die  Affrikata  aus  dem  tt  in  satta,  das 
dem  z  folgende  t  nach  dem  Muster  der  übrigen  Präterita  em- 
pfangen haben. 

8.  Das  Hauptergebnis  also  ist,  dass  weder  das  Gotische 
noch  das  Ahd.  den  umfang,  den  das  Präteritum  ohne  Mittel- 
vokal im  Urgermanischen  hatte,  genau  abgrenzen  lassen.  Im 
Gotischen    hat    die    Endung    -ida    ihr    Gebiet    erweitert    und 


80  Erste  schwache  Konjugation.  [§  42. 

namentlich  alle  dh-Fräterhsi  oline  Mittelvokal  verdrängt,  im 
Ahd.  hat  ein  jüngeres  Synkopierungsgesetz  den  kürzeren 
Formen  ein  bedeutendes  Übergewicht  verschafft.  Gleichwohl 
zeigt  das  Ahd.,  dass  nnabhängig  von  diesem  Synkopierungs- 
gesetz manche  Verba,  die  im  Got.  auf  -ida  ausgehen,  im 
Präteritum  den  Mittelvokal  entbehrten.  Für  einige  andere 
ist,  wie  Paul  PBb.  7,  136  f.  dargetan  hat,  aus  den  andern 
germanischen  Sprachen  dasselbe  zu  erweisen.  Dass  sie  aber 
alle  auch  ohne  Mittelvokal  ins  Leben  getreten  seien,  möchte 
ich  nicht  behaupten.  Dass  satte  mit  unverschobenem  t 
weit  in  das  Verschiebungsgebiet  hineinreicht,  scheint  mir 
dafür  zu  sprechen,  dass  diese  Form  wenigstens  ihren  Mittel- 
vokal erst  spät  verloren  hat.  Denn  nur  die  Verbindung 
td  kann  die  Verschiebung  verhindert  haben  und  sie  würde 
sich  schwerlich  in  ihrer  Eigenart  lange  haben  behaupten 
können. 

Anm.  6,  Über  die  Änderungen,  die  der  Auslaut  des  Stammes 
in  den  jüngeren  synkopierten  Formen  erfulir  s.  Br.  §  363  A.  4. 

42.  (Partizipium.)  1.  Partizipium  und  Präteritum  stimmten 
ursprünglich  in  dem  Gebrauch  des  i  fast  ganz  überein.  Die 
Verba,  die  ihr  Präteritum  ohne  Mittelvokal  bildeten,  Hessen 
auch  im  Partizipium  das  Suffix  -to  unmittelbar  auf  die  Stamm- 
silbe folgen,  diejenigen,  die  i  im  Präteritum  hatten,  hatten  es 
auch  im  Partizipium.  Im  Gotischen  wird  dieses  Verhältnis 
nur  durch  l^atipatjan  durchbrochen  (Prät.  7{aupasta,  Prtz. 
Tcau])atips)\  im  übrigen  ist  die  Übereinstimmung  gewahrt. 
Partizipia  ohne  i  kommen  also  ausser  den  Prät. -Präsentia  und 
dem  Verbum  hriggan  nur  den  wenigen  in  §  41  angeführten 
Verben  zu.  Belegt  sind  hauhts,  vaurMs  und  in  adjektivischem 
Gebrauch  -pälits  und  -pühis  (Br.  §  209). 

2.  Im  Hochdeutschen  ist  diese  Übereinstimmung  ver- 
loren. Da  die  Synkope  nur  den  Vokal  der  Mittelsilbe  betraf, 
ergab  sich  ein  unterschied  zwischen  der  unflektierten  Form 
des  Partizipiums  einerseits  und  dem  Präteritum  und  den  flek- 
tierten Partizipialformen  anderseits.  Während  in  jener  sich 
der   Vokal    behauptet,    wird    er  in   diesen   unterdrückt;    also: 


§  43.]  Rückumlaut.  81 

hörta  gihörit,  teilta  giteiUt,  thaJcta  githelcit,  scafta  giscepfit, 
ratta  giretit.  Dass  zwischen  den  flektierten  und  unflektierten 
Formen  des  Part,  zuweilen  Ausgleich  eintritt,  ist  natürlich, 
doch  sind  im  Ahd.  solche  Beispiele  noch  selten.  Nur  bei  den 
kurzsilbigen  auf  l  ist  die  Form  ohne  i  auch  im  unflektierten 
Part,  etwas  häufiger:  zalta  od.  zelita^  gizelit  od.  gizalt;  salta 
od.  selita,  giselit  od.  gisalt  (Br.  §  365  A.  2.  3). 

3.  Der  Gegensatz,  den  die  Synkope  des  i  zwischen  den 
flektierten  und  unflektierten  Formen  des  Prtz.  der  meisten 
Verba  hervorrief,  wirkte  weiter  zerstörend  auf  die  kleine  Zahl 
von  Verben,  die  ursprünglich  ihr  Prtz.  ohne  i  gebildet  hatten. 
Bei  den  Prät.-Präsentia  und  bei  hringan  behauptet  sich  natür- 
lich die  alte  Form,  auch  zu  dünken  wird  regelmässig  gidüht 
gebildet,  aber  neben  giworht  erscheint  im  Oberdeutschen  auch 
giwurkit ;  gidenkit  ist  sogar  häufiger  als  gidäht  und  zu  furhten 
wird  das  Prtz.  gifurhtit  gebildet  (Br.  §  365  A.  4). 

43.  (Rückumlaut.)  1.  Die  synkopierten  Präterita  ent- 
behren des  Umlauts.  Seit  Grimm  pflegt  man  diese  Erscheinung 
als  Rückumlaut  zu  bezeichnen;  nicht  eben  sachgemäss,  denn 
die  Formen  haben  nie  Umlaut  gehabt;  sie  sind  entstanden, 
ehe  i  Umlaut  bewirkte.  Im  Ahd.  kann  sich  der  Rückumlaut 
natürlich  nur  bei  Verben  mit  ä  zeigen:  denken,  dähta,  stellen 
stalta,  hengen  hancta  etc. ;  im  Mhd.  zeigt  es  sich  auch  bei 
anderen,  z.  B.  wcenen  wänte^  hceren  hörte,  füllen  fulte, 
grüenen  gruonte  etc. 

2.  Sehr  bemerkenswert  ist,  dass  bei  diesen  Verben  auch 
der  Optativ  reinen  Vokal  hat  (I  §  194).  Nur  die  Verba,  die 
von  jeher  ein  Prät.  ohne  i  bildeten,  erfahren,  wie  das  Mhd. 
zeigt,  wenigstens  zum  Teil  Umlaut;  so  namentlich  die  Prät.- 
Präs.  und  hrcehte,  dcehte,  diuhte'^  (aber  worhte,  forhte,  suolite, 
hrühte).  Im  Md.  wird  er  dann  später  nach  der  Analogie 
dieser  Verba  und  nach  dem  Verhältnis,  das  bei  den  starken 
Verben  zwischen  dem  Ind.  und  Opt.  Prät.  bestand,  auch  auf 
andere  übertragen;  z.  B.  hrante  hrente,  stalte  stelte,  sogar 
auf  solche,  die  ursprünglich  nach  der  2.  und  3.  Konjugation 
gingen;   z.  B.    mechte  für   ahd.   machöti.     (Paul  §  170   A.  2.) 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  6 


82  Erste  schwache  Konjugation.  [§  44. 

Anm.  1.  Verba,  bei  denen  der  Umlaut  durch  den  Vokal  der 
Ableitungssilben  hervorgerufen  wurde,  haben  natürlich  keinen  Rück- 
umlaut; z.  B.  mhd.  vüetern  vüeterte  (ahd.  fuotiren). 

Anm.  2.  Der  Vokalwechsel,  der  bei  vielen  Verben  zwischen 
Präs.  und  Prät.  bestand,  veranlasste  analogische  Neubildungen.  Zu 
enten,  ahd.  enteön  begegnet  im  Mhd.  ante,  zu  liuhten  wird  lühte 
gebildet  (vgl.  nhd.  erlaucht),  obwohl  hier  iu  nicht  Umlaut  von  ü 
sondern  alter  Diphthong  ist  (vgl.  Höht).  Und  so  entstehen  auch  die 
md.  Formen  keren  karte,  leren  lärte  gelärt  nach  dem  Muster  von 
bewceren  (md.  heweren) :  bewärte. 


44.  (Jüngere  Entwickeliing.)  1.  Da  J  in  den  west- 
germanischen Sprachen  Verschärfung  des  vorangehenden  Kon- 
sonanten bewirkt,  musste  sich  der  Auslaut  des  Stammes  in 
demselben  Verbum  verschieden  gestalten.  Einfacher  Kon- 
sonant kommt  der  2  und  3  Sg.  Ind.  Präs.  und  der  2  Sg. 
Imp.  zu,  ebenso  dem  Prät.  und  Prtz.  Prät.,  verschärfter  den 
übrigen  Präsensformen.  Aber  diese  Verschiedenheit  konnte 
sich  nicht  halten  (I  §  139).  Nach  langem  Vokal  wird  die 
Verdoppelung  früh  aufgegeben;  nur  in  den  ältesten  ober- 
deutscheu  Denkmälern  finden  sich  noch  zahlreiche  Spuren  der 
Verdoppelung:  teillen^  hörran,  wännarij  auch  nidirren;  aber  im 
Fränkischen  fehlt  sie  von  Anfang  an  fast  ganz  (Br.  §  359  A.  1). 

2.  Nach  kurzem  Vokal  hängt  das  Schicksal  der  Ver- 
doppelung von  der  Natur  des  Konsonanten  ab.  Bei  den  Verben 
auf  germ.  p,  t,  Je  dehnt  sie  sich  über  ihr  ursprüngliches  Gebiet 
aus.  In  den  Präsensformen  gilt  hier  der  verschärfte  Konsonant 
von  Anfang  an  allgemein,  also  deckit,  decchit  nicht  dehhit, 
stepfit  nicht  steßt,  setzit  nicht  se^^it  (Br.  §  358),  und  früh 
dringt  er  auch  in  das  Prät.  ein;  natürlich  sind,  da  die  Verba 
meist  Synkope  haben  (§  41),  die  Beispiele  selten;  vgl.  aber 
Is.  dhecchidön  neben  dhehhidön,  setzida  (Br.  §  362  A.  1).  Bei 
den  Verben,  die  auf  einen  andern  Konsonanten  ausgehen,  wird 
dagegen  die  Verdoppelung  aufgegeben.  Dem  8.  und  9.  Jh. 
ist  diese  Erscheinung  im  allgemeinen  noch  fremd  (eine  auf- 
fallende Sonderstellung  nimmt  der  Tatian  ein);  häufig  wird 
sie  im  Sp.-ahd.  (legen,  frumen,  zelen)  und  kommt  dann  zu 
allgemeiner  Geltung. 


§  45.]  Berührung  zwischen  starker  und  schwacher  Konjugation     8.'} 

3.  Auch  der  Unterschied  zwischen  dem  iimgelauteten 
Präs.  und  dem  nicht  umgelauteten  Prät.  wird  allmählich  be- 
seitigt. Von  den  Verba  pura  sind  schon  im  Mhd  umgelautete 
Präterita  ganz  gewöhnlich:  säte  oder  ^ce^e,  scejete;  muote  od. 
müete,  müejete;  zuweilen  begegnen  sie  auch  von  andern, 
namentlich  im  Md.  (Paul  §  169  A.  1  vgl.  ßr.  §  358  A.  3 
359  A.  4).  Im  Nhd.  hat  sich  der  Rückumlaut  nur  bei  wenigen 
Verben  auf  -ennen  und  -enden  erhalten  {brennen,  Jcennen, 
nennen,  rennen',  senden,  wenden).  Aber  neben  sandte, 
wandte  gilt  auch  sendete,  wendete,  und  von  schänden  bildet 
man  nur  noch  schändete,  geschändet.  —  Bei  dünken  hat  der 
Ausgleich  von  dünken  dühte  zu  Doppelformen  geführt.  Neben 
däuchte  gilt  dünkte,  neben  dünkt  däucht.  Das  Prät.  dunkete, 
dünkte  erscheint  zuerst  im  13.  Jh.  Der  Umlaut  in  däuchte 
(mhd.  dühte,  seit  dem  14.  Jh.  auch  deuhte  Whd.  §  38b)  stammt 
aus  dem  Optativ. 

45.  (Berührung  zwischen  starker  und  schwacher  Kon- 
jugation.) 1.  Nur  wenige  Verba,  die  ein  /Präsens  bildeten, 
folgen  der  starken  Konjugation,  fast  nur  solche,  die  sich  in 
die  herrschenden  Ablautreihen  fügten,  im  Präsens  e{i),  im 
Prät.  a  hatten  (Kl.  I)  oder  im  Präs.  a,  im  Prät.  ö  (Kl.  IV). 
Abnorme  Ablautverhältnisse  führten,  wenn  nicht  wie  bei  hidjan 
der  Vokal  verändert  wurde  (§  18,  4),  zum  Übertritt  in  die 
schwache  Konjugation,  d.  h.  zur  Bildung  eines  schwachen 
Präteritums.  Dieser  folgen  namentlich  die  drei  Hauptgruppen. 
Für  die  Denominativa  verstand  sich  das  von  selbst,  denn  sie 
bildeten  von  Anfang  an  ihr  Präteritum  durch  Zusammensetzung. 
Die  Kausativa  und  Intensiva  folgten  ihnen,  nicht  nur  weil  sie 
in  der  Präsensbildung  mit  ihnen  zusammengefallen  waren  (§  40), 
sondern  auch  weil  ihr  Vokalismus  gewöhnlich  nicht  zu  den 
Ablautreihen  der  regelmässigen  starken  Verba  passte;  denn 
diese  haben  im  Präsens  erste  Hochstufe,  die  Kausativa  aber 
pflegen  zweite  Hochstufe,  die  Intensiva  Tiefstufe  zu  haben. 
Unter  den  Verben,  die  nicht  zu  diesen  drei  lebendigen  Gruppen 
gehören,  sind  besonders  zahlreich  die  mit  kurzem  u,  deren 
Vokal    in    der    normalen    Präsensbildung    keine   Stütze    fand: 


84  Zweite  schwache  Konjugation,  [§  46. 

g\  hugjan  kaufen,  huljan  hüllen,  paursjan  dürsten,  pugkjan  dünken, 
waurkjan  wirken;  ahd.  giburjen  sich  ereig'nen,  geschehen,  gebühren, 
gurten,  mullen  zermalmen,  ita-rucchen  rülpsen,  scutten  schütteln, 
stungen  stechen,  würgen,  zunten  zünden.  Andere  Vokale  sind 
seltener:  i  z.  B.  in  ahd.  sicizzen  (gr.  ibiuu),  ü  in  g.  brükjan,  iu  in  g. 
siujan  nähen,  a  in  g.  daddjan  säugen^  hatjan  hassen. 

Anm.  1.  g.  Jvatjan  anreizen,  verloken  konnte  als  Denomina- 
tivum  aufgefasst  werden,  vgl.  an.  fvatr  neben  Jvass-^  ebenso  g.  ahjan 
glauben,  ahd.  tvunskeri  (Brgm.  2,  1037),  wirken  (zu  werc  stN.)  neben 
wurken,  spurnen  calcitrare,  offendere  (zu  sx)oro  swM.)  neben  spirnen. 

2.  Einige  Verba  haben  Doppelformen  oder  treten  erst 
allmählich  zur  schwachen  Konjugation  über.  g.  hröpjan  rufen, 
wöpjan  laut  rufen  sind  swV.;  im  Ahd.  stehen  starkes  und  schwaches 
Präteritum  neben  einander:  ruofta,  ivuofta  und  7nof,  wiof,  und  dem- 
entsprechend neben  dem  alten  j-Präs.  auch  ruofan,  wuofan  ohne  j. 
Neben  ahd.  scepfen  stV.  schaffen,  schöpfen  erscheint  in  der  Be- 
deutung 'schaffen'  auch  ein  Präs.  scaffan,  und  umgekehrt  wird  zu 
scepfen,  aber  sehr  selten,  ein  sw.  Prät.  scafta  gebildet  (Br.  §  347  A.  3). 

3.  g.  saian  (Wz.  se)  und  icaian  (Wz.  we)  sind  redupli- 
zierende Verba;  im  Hd.  folgen  sie  wie  alle  Pura  auf  ä  und 
uo  der  schwachen  Konjugation:  ahd.  säen,  tcäen,  bäen  bähen, 
bläen  blähen,  dräen  drehen,  knäeii  kennen,  kräen  krähen,  mäen 
mähen,  7iäe7i  nähen,  tuen  säugen  (vgl.  g\  da-ddjan);  mhd.  brceen 
riechen,  vlceen  spülen,  schrceen  spritzen,  sproeen  stieben.  —  bluoen 
blühen,  druoen  leiden,  gluoen  glühen,  gruoen  grünen,  hluoen  brüllen, 
muoen  mühen  (g.  Ttiöjan  swV,),  sj^uoen  gelingen ;  mhd.  rüejen  rudern, 
nhd    sprühen.     Bremer  PBb.  11,60.  278  f.    Br.  §359  A.  3.4. 

Anm.  2.  Dass  die  Wörter  alte  Wurzelverba  sind,  zeigen 
nicht  selten  nominale  Ableitungen,  die  nur  zu  Wurzelverben  ge- 
bildet werden;  vgl.  drden  :  drät,  näen-.nät,  mdenimäd,  bluoen: 
bluot,  bluomo,  gruoen  :  gruoni,  siuioen  :  siut,  soumo  etc. 

Anm.  3.  Ob  für  g.  saian,  waian  jf-Präs.  anzunehmen  ist, 
darüber  s.  Streitb.  S.  76. 

Anm.  4.  g.  bauan  zeigt  Reste  starker  Flexion  im  Präs.  (Br. 
§  179  A.  2),  hd.  büwen  namentlich  im  Perf.  (§  22)  und  im  Part,  {ge- 
büwen,  regelmässig  im  Mhd,).  Im  Allgemeinen  wird  das  Prät.  schwach 
gebildet,  im  Got.  nach  der  dritten,  im  Hd,  nach  der  ersten  schwachen 
Konjugation  (Br.  §  353  A.  3).  —  Von  bläan  sind  im  Ahd.  noch  Reste 
eines  st.  Prät,  erhalten  (Br.  §  351  A.  3), 

Zweite  schwache  Konjugation. 

46.  1.  Im  Gotischen  haben  die  Verba  dieser  Konju- 
gation  in   allen  Präsensformen  unmittelbar  vor  dem  Personal- 


§  4G.]  Die  Präsensformen.  85 

suffix  den  Vokal  ö,  auch  in  der  3  PI.  und  im  Part.  Präs., 
wo  man  vor  n  +  Kons.  Verkürzung  des  ö  zu  a  erwarten 
sollte.  Selbst  im  Optativ  findet  sich  nirgends  eine  Spur  des 
Optativsuffixes;  es  heisst  salhös,  salhö  nicht  salhais,  salhai. 
Genau  entsprechende  Formen  werden  auch  im  Ahd.  gewöhn- 
lich gebraucht,  nur  dass  die  1  Sg.  auf  m  ausgeht,  also  auf 
athematische  Verba  auf  -mi  hinweist. 

2.  Im  Idg.  gab  es  primäre  Verba,  deren  Stamm  die 
tiefste  Wurzelstufe  vor  einem  in  allen  Indikativformen  unver- 
änderlichen a  zeigte.  Ahd.  tuon  ist  ein  Repräsentant  dieser 
Verba,  auch  ahd.  horön,  1.  forare  kann  man  dazu  rechnen 
und  mit  redupliziertem  Präsens  ahd.  zittaröm  ich  zittere 
<  Hi-trö-mi  (Brgm.  2,  951  f.  966).  Auf  die  Flexion  dieser 
Verba  lassen  sich  die  germanischen  Formen  unschwer  zurück- 
führen. Dass  vor  n  +  Kons,  die  Verkürzung  nicht  eingetreten 
ist,  wäre  aus  dem  Einfluss  der  übrigen  Formen  leicht  zu  er- 
klären. Die  got.  1  Sg.  könnte  das  auslautende  m  nach  dem 
Muster  der  thematischen  Verba  aufgegeben  haben  (1  PI.  hai- 
ram  :  1  Sg.  haira  =  1  PL  salböm  :  1  Sg.  salhd{m).  Auch  die 
Optative  Hessen  sich  auf  diese  Verba  auf  a  zurückführen, 
wenn  man  annimmt,  dass  im  Germanischen  eine  Konjunktiv- 
bildung die  Funktionen  des  Optativs  übernommen  habe;  denn 
in  einem  Teil  der  idg.  Sprachen  gilt  unveränderliches  ä  auch 
im  Konjunktiv  (Brgm.  2,  1295). 

3.  Aber  wir  finden  in  den  westgermanischen  Sprachen 
Formen,  die  auf  eine  andere  Grundlage  hinweisen,  auf  Bil- 
dungen mit  zweisilbigen  Endungen  öja,  öje  etc.  Verbreiteter 
als  im  Hd.  sind  solche  Formen  im  As.  und  namentlich  im 
Ags.  Hier  finden  wir  sie  auch  im  Infinitiv  und  Indikativ, 
im  Hd.  nur  im  Optativ  und  nicht  auf  dem  ganzen  Sprachgebiet. 
Fast  ganz  fehlen  sie,  wo  man  sie  am  ersten  erwarten  sollte, 
im  Fränkischen  (doch  einmal  im  Is.  hlüchisöe).  Im  Bairischen 
aber  kommen  sie  oft  neben  den  kürzeren  Formen  vor,  im 
Alemannischen  gelten  sie  fast  ausschliesslich;  also  salhögey 
salhögesty  salhöge  etc.  {g  ist  die  gewöhnliche  Bezeichnung  des 
j  vor  folgendem  e,  meistens  wird  der  schwache  Laut  gar  nicht 
geschrieben).     Man  hat  diese  alemannischen  Optative  als  Neu- 


86  Zweite  schwache  Konjug'ation.  [§  46. 

Schöpfungen  ansehen  wollen  (Brgm.  2,  1313);  doch  hat  man 
dazu  keinen  Grund,  sie  brauchen  nicht  jünger  zu  sein  als  die 
entsprechenden  Formen  im  Indikativ  und  haben  ihren  Ursprung- 
wie  die  kürzeren  Formen  in  der  idg.  Vorzeit. 

4.  Schon  im  Idg.  gab  es  Denominativa  auf  -äio,  die  zu- 
nächst von  ä-StämmeUj  dann  aber  auch  von  anderen  gebildet 
wurden.  Im  Germanischen  haben  sich  diese  Bildungen  ausser- 
ordentlich stark  verbreitet,  so  dass  ihre  Formation  im  Hd. 
schliesslich  die  ganze  schwache  Konjugation  beherrscht  (II  §  57). 
Neben  den  Bildungen  auf  -aio  standen  aber,  gleichfalls  schon 
im  Idg.,  solche  ohne  io  und  umgekehrt  wurden  zu  primären 
ä- Verben  erweiterte  Formen  auf  -äio  gebildet.  In  beiden  Arten 
bestanden  also  kürzere  und  längere  Stämme  neben  einander. 
Wie  sie  im  Urgermanischen  verteilt  waren,  ist  nicht  ersicht- 
lich-, aber  dass  die  längeren  nicht  ganz  erloschen  waren, 
zeigen  die  erwähnten  Formen,  und  wenn  sie  im  Gotischen 
ganz  fehlen  und  im  Hd.  auf  den  Optativ  beschränkt  sind,  so 
liegt  jedenfalls  die  Annahme  am  nächsten,  dass  sie  durch  eine 
ähnliche  Lautentwickelung,  wie  sie  sich  für  die  swV.  1  er- 
geben hat,  beseitigt  sind  (vgl.  IF.  12,  207).  [Das  schwache 
j  schwand  in  der  unbetonten  Endung  und  der  zweite  Vokal 
wurde,  wenn  er  sich  dem  Tone  des  ersten  unterordnete,  von 
diesem  verschlungen').  So  begreift  es  sich,  dass  im  Hd.  nur 
Optative  mit  zweisilbiger  Endune:  erscheinen;  der  lange  Vokal 
des  Optativs  behauptete  seine  Selbständigkeit  natürlich  besser 
als  die  kurzen  des  Indikativs.  Auch  die  got.  1  Sg.  auf  ö 
und  der  lange  Vokal  vor  n  +  Kons,  brauchen  nun  nicht  durch 
Formübertragungen  erklärt  zu  werden,  sie  ergaben  sich  aus 
den  kontrahierten  Formen  der  Verba  auf  -äio.  Nur  das  ö 
des  Optativs  kann  nicht  auf  der  erweiterten  Endung  beruhen ; 
-öjai-  würde  nicht  durch  Kontraktion  zu  ö  geworden  sein. 

5.  Das  ^o-Partizipium  wurde  vom  Verbalstamm,  also  mit 
ö  gebildet,  und  für  das  schwache  Präteritum,  das  in  diesen 
Verben   nur   von   den   Denominativen   ausgegangen  sein  kann, 


1)  Wenn  in  Bildungen  auf  -äio,  -öio,  Ho  der  lange  Vokal  zur 
betonten  Stammsilbe  gehört,  behauptet  sich  natürlich  das  j,  und 
damit  fielen  die  Verba  der  1.  schwachen  Konjugation  zu  (§  45,  3). 


§  47.]         Dritte  schwache  Koiijug-ation.     Präsensformen.  87 

ergab    sich    ö   als    Mittelvokal    in    derselben   Weise    wie  i   in 
den  swV.  1. 

Über  die  spätere  Abschwächung  der  Endungen  s.  I  §  304; 
über  Doppelbildungen  nach  der  1.  und  2.  schwachen  Konju- 
gation II  §  45  A.  47  A, 

Dritte  schwache  Konjugation^). 

47.  1.  Die  Flexion  dieser  Verba  zeigt  grosse  Mannig- 
faltigkeit und  Verschiedenheit.  Im  Gotischen  haben  sie  im 
allgemeinen  dieselben  Endungen  wie  die  starken  Verba,  nur 
die  2  Sg.  Imp.  und  die  Formen  die  im  starken  Verbum  i  als 
Themavokal  haben,  zeigen  hier  abweichend  ai\  also  lidbai 
Imp.,  hahais  2  Sg.  Ind.,  habaip  3  Sg.  Ind.,  2  PL  Ind.  und 
Imp.;  aber  sonst  übereinstimmend:  Ind.  haha,  habam,  Jiahand] 
Opt.  habau,  hahais,  hahai  etc.  Im  Ahd.  dagegen  zeigen  die 
Formen  der  swV.  3  die  grösste  Ähnlichkeit  mit  denen  der 
swV.  2,  nur  dass,  wo  diese  ö  haben,  hier  überall  e  erscheint; 
also:  habem^  habes,  habet  etc.  Auch  die  Doppelformen  im 
Optativ  finden  sich  wieder,  eje  neben  e,  jedoch  weniger  verbreitet, 
fast  durchaus  auf  das  Alemannische  beschränkt  (Br.  §  310). 
Ausserhalb  beider  Systeme  stehen  endlich  gewisse  Formen  der 
Verba  haben,  leben,  sagen,  die  in  der  2  und  3  Sg.  neben  -es, 
-et  auch  -is,  -it  gestatten:  hebis  hebit,  libis  libit,  segis  segit 
(Br.  §  368  A.  2),  so  dass  sich  hier  im  Hd.  Übereinstimmung 
mit  den  starken  Verben  (aber  auch  mit  den  swV.  1)  gerade 
in  den  Formen  zeigt,  in  denen  das  Gotische  sie  vermissen 
lässt.  Nur  einmal  (im  Tat.)  findet  sich  in  den  älteren  hd. 
Denkmälern  eine  dem  g.  haba  entsprechende  1  Sg.  habu. 
Wenn  bei  N.  meist  alle  Präsensformen  von  haben  und  sagen 
in  dieser  V^eise  gebildet  sind,  so  sind  das  wohl  erst  jüngere 
Analogiebildungen  (Br.  a.  0.  Brgm.  2,  1064). 

2.  Obschon  die  Erklärung  der  Formen  in  neuerer  Zeit 
durch  Bartholomae,  Streitberg,  Hirt  u.  a.  bedeutend  gefördert 


1)  Ältere  Literatur  verzeichnet  Streitberg  S.  306.  Dazu  noch: 
T.  E.  Karsten,  Beiträge  zur  Geschichte  der  e-Verba  im  Altger- 
manischen. Heliiingfors  1897  (DLZ.  1898  S.  1297).  Streitberg  IF. 
6,  153.     Hirt  IF.  10,  20.     Ders.,  Ablaut  S.  182. 


88  Dritte  schwache  Konjugation.  [§  47. 

ist,  SO  bleiben  doch  noch  manche  Zweifel  und  Bedenken.  Es 
gab  im  Idg.  Verba,  deren  Formen  teils  athematisch  von  einem 
Stamme  auf  e,  teils  von  einem  Stamme  auf  io  gebildet  wurden. 
Im  Griechischen  und  Baltisch-Slavischen  sind  die  beiden  Formen 
so  verteilt,  dass  io  im  Präsens,  e  ausserhalb  des  Präsens  erscheint 
(g.  juaivojuai  e)u6tvr|v,  x«ipuj  exdprjv) ;  im  Lateinischen  dagegen  und 
im  Germanischen  ist  e  auch  in  Präsensformen  üblich.  (Brgm.  2, 
1067.)  Die  lateinischen  Verba  auf  -eo  sind,  die  nächsten  Verwandten 
unserer  swV.  3  und  manches  Verbum  ist  beiden  Sprachen  gernein- 
sam: g'.  hahan,  1.  habere'^  g.  ana-sila7i,  1.  silere-^  g.  wakan,  l.  vigere; 
g.  witan,  1.  videre'^  ahd.  lobön,  1.  lubere,  und  mit  grammatischem 
Wechsel,  also  auf  Suffixbetonung  weisend,  ahd.  dagen.  1.  tacere^). 
Beiderlei  Formen,  die  auf  e  und  die  auf  io,  haben  ihren  Ur- 
sprung in  Wurzeln  auf  ei,  in  denen  je  nach  der  Betonung  die 
Hochstufe  ei  oder  die  Tief  stufe  I  galt.  Aus  ei  ergaben  sich 
die  Stämme  auf  e,  denn  ei  wurde  schon  im  Idg.  vor  den 
meisten  Konsonanten  zu  e;  auf  der  Tiefstufe  i  beruhen  die 
Formen  auf  io.  Ausser  diesen  dreien  ist  aber  noch  eine  vierte 
Form  eio  vorauszusetzen  (Brgra.  2,  953.  1065),  die  ebenso  zur 
Hochstufe  gebildet  war  wie  io  zur  Tiefstufe. 

Aus  dem  Stamm  auf  ei  sind  die  2  Sg.  Imp.  und  die 
kürzeren  Optativformen  herzuleiten.  Im  Optativ  schwand  i 
vor  dem  Optativsuffix  i  und  dies  wurde  mit  dem  vorangehenden 
e  zu  ai  =  ahd.  e,  e  kontrahiert. 

Auf  den  erweiterten  Stamm  eio  müssen  nicht  nur  die 
alemannischen  Optative  zurückgeführt  werden,  sondern  auch 
die  gotischen  Formen  auf  -aisj  -aip  in  der  2  und  3  Sg.  Ind. 
und  in  der  2  PI.  Imp.  Auch  hier  schwand  i  vor  dem  fol- 
genden i,  so  dass  Kontraktion  mit  dem  Themavokal  erfolgte. 

Der  Stamm  auf  e  ist  vor  konsonantischen  Endungen  be- 
rechtigt; er  herrscht  daher  im  ahd.  Indikativ,  auf  dessen 
athematische  Flexion  das  m  in  der  l  Sg.  hinweist.  Nur  die 
Formen  auf  -es,  -et  könnten  wie  die  entsprechenden  gotischen 
auf  eio  zurückgeführt  werden.  Ünregelmässig  ist  e  in  der 
3  PI.  und  im  Part.  Präs.;    vor  n  +  Kons,  sollte  es  zu  a  ver- 


1)  Aus  dem  Griechischen  lassen  sich  Aoriste  auf  y\  vergleichen: 
g.  munan,  gr.  luavfivai;  g.  pulan,  g\\  TÄf|vai;  ahd.  dorren,  gr.  xepöfivai. 


§  48.]  Präteritum  und  Partizipium.  89 

kürzt  sein;  unter  dem  Einfluss  der  andern  Formen  hat  es  sich 
behauptet.  Die  regelmässige  Bildung  zeigt  das  substantivische 
Part,  ßant  zu  g.  fijan  hassen.  Auch  im  Gotischen  muss  die  Bil- 
dung aller  Präsensformen,  die  nicht  ai  in  der  Endung  haben, 
von  dem  e-Stamm  ausgegangen  sein.  Aber  nur  vor  nd  hat 
er  sich,  mit  der  regelmässigen  Verkürzung  zu  a,  erhalten 
(3  PL  haband,  Part,  hahands).  Die  andern  Formen  (1  Sg. 
haha,  1  PI.  habam,  Inf.  haban)  sind  nach  der  Analogie  der 
starken  Verba  umgebildet,  ein  Vorgang,  der  wohl  zu  begreifen 
ist,  da  im  ganzen  Optativ  und  in  den  eben  angeführten  Formen 
die  swV.  3  mit  den  starken  zusammengefallen  waren  (Streit- 
berg S.  308). 

Auf  dem  zo-Stamm  endlich  beruhen  ahd.  hebisj  segis, 
libis  etc. 

Anm.  Dass  im  got.  Präsens  der  Stamm  auf  -eio  nur  in  den 
Formen  erhalten  ist,  die  i  als  Themavokal  haben,  wird  darin  be- 
gründet sein,  dass  nur  ei  der  Kontraktion  unterlag",  nicht  ea.  Die 
Formen  mit  kontrahierter  einsilbiger  Endung  hielt  die  Sprache  fest, 
die  mit  zweisilbiger  Hess  sie  fallen,  weil  sie  dem  gemeingültigen 
Typus  aller  Präsentia  nicht  entsprachen.  Deutliche  Spuren  einer 
Flexion  ezo,  ais^  aip  zeigt  das  Ags.  und  As.,  z.  B.  as.  hebbiu,  habes 
habas,  häbed  habad  (die  2.  und  3.  ohne  Umlaut,  also  ganz  verschieden 
von  ahd.  hebis,  segis  etc.).  Die  Endung  der  1  P.  ist  jedenfalls  aus 
eio  entstanden,  entweder  durch  Unterdrückung  des  e  oder  des  i: 
ejo  >>  eo  >>  io.  —  Die  auffallendste  Form  ist  das  vereinzelte  ahd. 
habu.  Viel  eher  als  diese  Anlehnung  an  das  starke  Verbum  sollte 
man  ein  nach  Art  der  swV.  1  gebildetes  hebbiu  erwarten. 

48.  (Präteritum  und  Partizipium.)  1.  Denominativa,  die 
im  Ahd.  zahlreich  gebildet  werden  (II  §  53),  gehörten  ur- 
sprünglich nicht  zu  dieser  Klasse  (Brgm  2,  1131).  Die  Formen 
des  zusammengesetzten  Präteritums  können  also  auf  diese 
Verba  nur  aus  der  ersten  und  zweiten  Konjugation  übertragen 
sein.  Dass  dabei  g.  ai,  ahd.  e  als  Mittelvokal  genommen 
wurde,  ist  selbstverständlich.  Doch  ist  zu  bemerken,  dass  e 
im  Ahd.  nicht  so  fest  steht,  wie  ö  in  der  zweiten  Konjugation. 
Nicht  ganz  selten  tritt  a  dafür  ein,  und  nicht  nur  in  bairischen 
Quellen,  die  auch  sonst  in  unbetonter  Silbe  Neigung  zu  a 
zeigen,    sondern    auch    im    Alemanuischen    und    Fränkischen 


90  Vierte  schwache  Konjug-ation,  [§  49. 

(Br.  §  368  A.  1).  Bei  0.  findet  sich  a  namentlich  in  der  3  Sg\ 
sagata,,  erata^  wo  man  an  Assimilation  denken  könnte ;  zuweilen  im 
Inf.  saganne,  habanne,  wo  man  Einfluss  der  starken  Verba  vermuten 
könnte;  ein  paarmal  aber  auch  im  Part.  Präs.  wonanti,  firmonanti 
und  in  der  1  PL  firmonames,  wo  a  dem  starken  Verbum  nicht  ge- 
mäss sein  würde.  Diese  Neigung  zum  a  muss  also  in  der  Natur 
des  Vokals  begründet  gewesen  sein.  —  Die  zu  den  |o-Stämmen 
gehörigen  Bildungen  auf  -ida,  -ip  sind  im  Gotischen,  wie  im 
Präsens,  ganz  beseitigt,  finden  sich  aber  im  Ahd.  nicht  ganz 
selten  bei  denselben  Verben,  welche  Spuren  des  fo-Stammes 
im  Präsens  zeigen:  hebita,  segita,  lihita,  gihebit,  gisegit  (Br. 
§  369  A.  2). 

2.  Formen  ohne  Mittelvokal  sind  im  Ahd.  noch  selten. 
Neben  habeta  ist  Jiapta  belegt  (Is.  M.) ;  0.  braucht  die  kurzen 
Formen  von  fären  und  rämen  (Br.  §  368  A.  3) ;  verbreiteter 
ist  hogta  neben  Jiogeta,  doch  wird  von  diesem  Verbum  das 
Präsens  nach  der  ersten  Konjugation  gebildet:  huggen  und 
dem  entsprechend  auch  hugita  (Br.  §  362  A.  4).  Im  As.  gilt 
bei  den  wenigen  Verben,  die  der  dritten  Konjugation  ver- 
blieben sind,  die  kurze  Form  allgemein:  habda,  sagda,  libda, 
gihabd,  gisagd,  gilibd.  Auf  ^Präteritum  kann  keine  von  ihnen 
beruhen  (vgl.  §  41,  8). 

Anm.  Doppelbildungen  nach  der  1.  und  3.  Konj.  wären  bei 
diesen  Verben,  in  denen  ursprünglich  e-  und  z-Stamm  neben  einander 
bestanden,  begreiflich,  finden  sich  aber  doch  nur  wenige:  g.  hatan, 
ahd.  ha^^en  neben  g.  hatjan,  ahd.  hogeta  neben  hugita-^  vgl.  auch 
1.  sedere  neben  ahd.  {sitjan)^  sizzen.  —  Doppelbildungen  nach  der  2. 
und  3.  Konj.  könnten,  wie  Streitberg  S.  311,  313  annimmt,  dadurch 
veranlasst  sein,  dass  ö  und  e  in  manchen  Formen  schon  urgerm. 
zu  a  verkürzt  werden  mussten.  In  den  meisten  Fällen  aber,  wo 
von  swV.  3  Bildungen  nach  der  2.  schwachen  Konjugation  begegnen 
(namentlich  im  As.  und  Ags.),  sind  sie  jedenfalls  erst  durch  den 
jüngeren  Verfall  der  dritten  Konj.  und  die  wachsende  Herrschaft 
der  ö-Verba  hervorgerufen.  Einer  besonderen  Beurteilung  unter- 
liegen die  Verba  mit  w-Suffix ;  s.  §  49. 

Vierte  schwache  Konjugation. 

49.  1.  Die  vierte  schwache  Konjugation  tritt  als  eine 
besondere  Bildung  nur  im  Gotischen  deutlich  hervor.  Sie  be- 
ruht auf  Verben,  die  ihren   athematischen  Präsensstamm  aus 


§  50.]       Vierte  schwache  Konjug'ation.  —  Jüngere  Formen.  91 

tiefstufiger  Wurzelsilbe  und  dem  Suffix  nä,  nd,  n  bildeten 
(Brgm.  2,978.  990  f.  Streitberg  S.  313  f.).  Hiernach  wäre 
im  Sg.  Präs.  ö  =  idg.  ä,  im  PI.  a  =  idg.  d,  im  Opt.  ai  zu 
erwarten.  Im  Singular  aber  und  in  der  2  PL  ist  die  regel- 
mässige Bildung  verloren.  Da  die  Verba  in  den  übrigen 
Formen  mit  den  thematischen  Verben  zusammengefallen  waren, 
haben  sie  ganz  deren  Flexion  angenommen;  thematische  Verba 
auf  nejno  (g.  fraihna  §  11)  mögen  die  Umbildung  noch  be- 
günstigt haben.  Dass  in  früher  Zeit  ö  im  Sg.  Präs.  galt, 
zeigt  das  Präteritum  auf  -öda\  denn  nur  das  Präsens  kann  es 
veranlasst  haben,  dass  von  diesen  Verben  ein  schwaches  Prä- 
teritum nach  Art  der  swV.  2  gebildet  wurde.  Das  Part.  Prät. 
fehlt  dieser  Konjugation. 

2.  Während  das  Gotische  zahlreiche  Verba  dieser  Art 
hervorgebracht  hat  (II  §  55),  sind  sie  im  Hochdeutschen  nicht 
zu  einer  lebendigen  Gruppe  entwickelt.  Die,  welche  vorhanden 
waren,  haben  sich  in  der  zweiten  und  dritten  schwachen  Kon- 
jugation verloren.  Der  Anschluss  an  die  zweite  beruhte  auf 
den  Präsensformen  mit  ö  und  dem  Präteritum  auf  -öda,  der 
Anschluss  an  die  dritte  auf  den  Formen  mit  a  und  ai.  Der 
zweiten  folgen  namentlich  Verba,  in  denen  n  dem  Auslaut  der 
unbetonten  Wurzelsilbe  assimiliert  ist;  z.  B.  ahd.  leckön  lecken 
(vgl.  g.  laigöriy  gr.  Xeixuu,  Wz.  leigh),  zockön  ziehen,  reissen 
(vgl.  ziohan,  1.  ducere,  Wz.  deuJc)  (II  §  66  f.).  Andere  haben 
sich  lieber  der  dritten  angeschlossen,  zu  der  sie  durch  ihre 
intransitive  Bedeutung  in  besonders  nahem  Verhältnis  standen; 
z.  B.  ahd.  stornen  bestürzt  sein  (vgl.  1.  con-sternari),  storchanen 
erstarren  (g.  ga-staurknan)^  wesanen  vertrocknen,  trunkanen 
trunken  werden  (vgl.  II  §  56).  Auch  Doppelbildungen  fehlen 
nicht,  vgl.  g.  maurnan,  ahd.  ryiornen  und  as.  Tnornön  (ae. 
murnan^  mornan  stV.);  ahd.  ginön  und  ginen  (ae,  ;^inan 
stV.);  ahd.  sih  waniön  und  warnen  sich  hüten;  as.  hlinön 
(1.  inclinare)  und  ahd.  Minen  (vgl.  §  48  Anm.). 

Jüngere  Formen  der  schwachen  Verba. 

50.  Über  die  Änderungen,  die  der  Verfall  der  Endungen 
in    der   jüngeren    Sprache    hervorrief,    verweise    ich    auf    den 


92  Präterito-Präsentia.  [§  51. 

ersten  Band  §  265  f.  274.  281  ff.  303  f.  310.  Hier  sei 
nur  hervorgehoben,  dass  n  in  der  1  Sg.  Präs.  der  swV.  2 
und  3  bis  ins  11.  Jh.  fest  blieb,  auch  noch  im  Mhd.  begegnet 
und,  besonders  im  Rheinfränkischen  sogar  auf  andere  Verba 
übertragen  wird  (Br.  §  305  A.  4.  Whd.  §  395).  Am  längsten 
hat  es  sich,  unterstützt  durch  ich  gän,  stän  u.  ä.  in  der  zu- 
sammengezogenen Form  ich  hän  erhalten.  Die  Unterdrückung 
des  inl.  h  ist  in  diesem  Verbum  zuerst,  schon  im  9.  Jh.,  in 
der  3  Sg.  hat  bezeugt  und  greift  seit  dem  11.  Jh.  weiter  um 
sich  (§  35  Anm.).  In  den  Formen  des  Präteritums  (ahd. 
habeta,  hebita)  führte  sie  zu  einer  grossen,  schwer  erklärbaren 
Mannigfaltigkeit:  mhd.  häte,  hcete  (Opt.  und  Ind.),  hete,  hete 
(nicht  hete),  heite,  het,  het,  Met,  auch  hatte,  hette,  über  deren 
Verbreitung  Zwierzina  ZfdA.  44,  101  f.  umfassende  Erhebungen 
angestellt  hat.  Erhalten  haben  sich  von  den  Formen  ohne  h 
mit  Verkürzung  des  Vokales  hast,  hat  und  das  Prät.  hatte 
(mhd.  hast,  hat,  häte).  In  andern  Verben,  in  denen  ein  Teil 
der  Formen  den  auslautenden  Konsonanten  verloren  hatte,  wie 
in  mhd.  seit,  seite  von  sagen,  hat  die  nhd.  Schriftsprache  ihn 
wieder  hergestellt  (I  §  81).  Nur  ein  paar  alte  ^Präterita  be- 
haupten ihre  eigentümliche  Form ;  zu  hri^igen  gehört  brachte, 
zu  denken  dachte.  Bei  dünken  hat  der  Ausgleich  zu  Doppel- 
fornien  geführt;  §  44,  3. 

Präterito-Präsentia. 

51.  1.  Mehrere  Verba  verbinden  mit  der  Form  des 
Perfektums  präsentische  Bedeutung.  Gemein  germanisch  sind 
g.  mag  ich  kann,  ganali  es  genügt,  skal  ich  soll,  man  ich 
meine,  kann  ich  weiss,  ^arf  ich  bedarf,  gadars  ich  wage, 
wait  ich  weiss,  daug  es  taugt,  gamöt  ich  habe  Raum,  ich 
kann,  aih  ich  habe.  Dazu  kommen  dann  im  Gotischen  noch 
lais  ich  weiss,  ög  ich  fürchte,  im  Hd.  an  ich  wünsche,  gönne. 
Eins  dieser  Verba  ist  gemein  idg. :  loait,  gr.  oTba,  ai.  veda, 
ein  reduplikationsloses  Perfektum  der  Wz.  ueid  finden,  sehen. 

2.  Da  das  Perfektum  kein  Tempus  der  Vergangenheit 
war,  sondern  nur  den  Zustand  des  Vollendet-  und  Fertigseins 


§  51.]  Präterito-Präsentia.  93 

bezeichnete,  so  begreift  man  leicht,  dass,  wenn  die  zugehörigen 
Präsensformen  ausser  Gebrauch  kamen,  oder,  wie  bei  tüait, 
Präsens  und  Perfektum  in  ihrer  Bedeutung  sich  differenzierten, 
das  Perfektum  ganz  wie  ein  Präsens  empfunden  wurde.  Doch 
ist  daraus,  dass  ein  Verbum  im  Germanischen  Perfektendungen 
hat,  nicht  ohne  weiteres  zu  schliessen,  dass  es  wirklich  ein 
Perfektum  ist.  Denn  auch  athematische  Präsenstämme  stimmen 
in  einem  Teil  ihrer  Formen  mit  dem  Perfektum  überein,  im 
Optativ  (vgl.  ahd.  si  und  gähi)  und  in  der  Verbindung  mit 
sekundären  Personalendungen  auch  im  PI.  Ind.  (vgl.  an.  erum^ 
erud,  eru  §  32);  und  diese  Übereinstimmung  konnte  den  An- 
lass  geben,  zu  den  scheinbaren  Perfektformen  einen  dem  Per- 
fektum der  starken  Verba  entsprechenden  Singular  zu  bilden. 
3.  Bei  einigen  Prät.-Präsentia  ist  diese  Erklärung  not- 
wendig, g.  liiinnum  wir  können,  wissen,  Opt.  Tiunnjau  gehört, 
wie  sich  aus  dem  nn  und  der  Vergleichung  altindischer  Formen 
ergibt,  zweifellos  zu  einem  athematischen,  tiefstufigen  mit  n- 
Suffix  {näjnd  oder  neujnu)  gebildeten  Präs.  der  Wz.  gen  (vgl. 
ai.  Sg.  jd-nä-mi,  Fl.  jä-m-mds  Brgm.  2,  973.  1013);  der  dazu 
gehörige  Sg.  kann,  Jcant,  'kann  ist  eine  germanische  Neu- 
bildung. Da  kunnum,  kunnjau  in  ihrer  Form  ganz  mit  dem 
Perf.  der  stV.  1^  zusammenfielen,  so  schuf  man  nach  diesem 
Muster  einen  neuen  Singular  (kann  :  kunnum,  kunnjau  =  wann  : 
wunnum,  wunnjau).  Ebenso  ist  vermutlich  ahd.  an,  unnum 
zu  beurteilen,  und  wie  Kluge  (Grdr.  1  ^  440)  gesehen  hat, 
ahd.  {darf),  durfum,  durfi.  (vgl.  ai.  1  Sg.  trp-nö-mi,  PI. 
trp-nu-mds).  Läge  hier  ein  Perfektum  vor,  so  wäre  darf, 
durhum,  durbi  zu  erwarten  oder,  falls  man  annehmen  wollte, 
dass  der  grammatische  Wechsel  ausgeglichen  sei,  darf,  durvum, 
durvi  (inl.  v  =  germ.  f,  idg.  p).  Das  f,  das  in  diesen  Formen 
ganz  fest  steht  (Br.  §  139  A.  2),  zeigt,  dass  verschärftes  p 
(pp  <  pn)  zugrunde  liegt.  Gewöhnliche  Perfektformen  mit 
regelmässigem  grammatischen  Wechsel  zeigt  dagegen  g.parf, 
paurhum,  —  Die  angeführten  Verba  sind  an  ihrem  ?2-Suffix 
als  zu  Präsensstämmen  gehörige  Formen  zu  erkennen.  Natür- 
lich aber  können  auch  Stämme,  die  durch  kein  Suffix  er- 
weitert  sind,    Formen    von    perfektischem  Aussehen    ergeben; 


94  Präterito  Präsentia,  [§  52. 

dann   aber  sind   sie   im  Germanischen   als  injunktive  Präsens- 
formen nicht  zu  erkennen.     Über  solche  s.  Brgm.  2,  909.  1260. 
Anm.     Inwiefern  für   die  Prät.-Präs.  Perfektbedeutung-   an- 
zunehmen ist,  darüber  s.  Delbr.  4,  330  f. 

52.  (Flexion  des  Präsens.)  1.  Was  den  Vokal  der 
Wurzelsilbe  betrifft,  so  findet  in  den  meisten  zwischen  Sin- 
gular und  Plural  dasselbe  Verhältnis  wie  im  starken  Verbum 
statt:  liann  kunnum,  parf  paurbum,  gadars  gadaursum\ 
wait  witum,  daug  *dugum  (ahd.  tugun)  etc.  Aber  nirgends 
erscheint  der  e-Typus.  Es  heisst  mag  magum,  ganah  ^ganauh- 
uniy  slcal  sTculum,  man  munum.  Daraus  ist  zu  schliessen,  dass 
diese  Formen  nie  redupliziert  waren,  sei  es  dass  sie  Injunktive 
waren,  wie  man  für  munum  annimmt,  oder  dass  sie  zu  redupli- 
kationslosen Perfektis  gehörten;  denn  der  e- Typus  hat  sich 
nur  im  reduplizierten  Perfektum  entwickelt  (§  16).  Bezeugt 
durch  die  verwandten  Sprachen  ist  die  reduplikationslose 
Perfekt-Bildung  für  wait.  —  Eine  unregelmässige  Bildung  ist 
jedenfalls  mag  magum.  Das  Wort  gehört  zu  einer  Wurzel 
mit  langem  Vokal  (vgl.  gr.  jurjxavri,  dor.  luäxavä)  und  sollte 
sein  Perfektum  nach  unserer  vierten  Konjugation  bilden,  also 
*mög,  ^mögum.  Die  Formen  werden  verschieden  erklärt.  Osthoff 
(PBb.  15, 213)  nimmt  an,  dass  ein  echtes  Perl  ^mög  magum  mit  schwachem 
Stamm  im  Plural  zu  Grunde  liegt  (vgl.  §20,4),  andere  nehmen  mit 
Rücksicht  auf  aksl.  m,ogq  Umbildung  eines  thematischen  Präsens 
Tnagö  an  (Brgm.  2, 1255). 

2.  Mit  der  schwachen  Vokalstufe  ist  grammatischer  Wechsel 
verbunden,  den  in  diesen  Verben  auch  das  Gotische  teilweise 
bewahrt  hat:  parf  paurhum,  aih  (aig)  aigum  {aihum).  Für 
ganah  ist  er  aus  dem  Got.  nicht  zu  belegen  (vgl.  ae.  jenujon)-, 
in  gadars  gadaursum  ist  er  ausgeglichen. 

3.  Die  Flexionsendungen  der  Prät.-Präsentia  sind  im 
Gotischen  ganz  dieselben  wie  im  starken  Verbum;  im  Ahd. 
unterscheiden  sie  sich  dadurch,  dass  die  2  Sg.  die  alte  Per- 
fektform auf  t  bewahrt  hat.  Wie  im  starken  Verbum  gilt 
das  t  unter  allen  Umständen,  nicht  nur  nach  Spiranten,  sondern 
auch  nach  anderen  Lauten,  die  an  und  für  sich  die  Ver- 
schiebung zu  p   nicht  hindern:    kant^  sJcalt.     Die  Verba,    die 


§  53.]  Flexion  des  Präsens.  95 

auf  einen  Dental  auslauten,  also  in  der  2  Sg.  eigentlich  auf 
s  ausgehen  sollten,  haben  nach  der  Analogie  der  übrigen  dem 
s  ein  t  angehängt:  g.  waist,  ahd.  weist,  inuost.  Nicht  sicher 
erklärt  ist  das  st  in  ahd.  Jcansty  mhd.  g-anst  (vgl.  §  55).  Ahd. 
gitarst  ist  natürlich  nicht  zu  vergleichen.  Zwar  erscheint  in 
dieser  Form  neben  der  1  Sg.  gitar  st  als  Endung,  aber  nur 
weil  diese  das  auslautende  s  verloren  hat  (g.  gadars).  —  In 
g.  magt  ist  die  lautgesetzliche  Entwickelung  des  Stammauslauts 
durch  die  Analogie  der  andern  Formen  gestört;  ahd.  regelmässig: 
mäht.  Die  entsprechenden  Formen  von  g.  6g,  daug  sind  nicht  belegt. 

53.  (Jüngere  Entwickelung.)  1.  Die  Zahl  der  Prät.- 
Präsentia  ist  mit  der  Zeit  kleiner  geworden,  g.  man,  Jais, 
dg  fehlen  im  Hochdeutschen  von  Anfang  an;  ganah  ist  schon 
im  Ahd.  selten  und  nur  in  dieser  Form  belegt;  von  aih  kommt 
nur  noch  der  Plural  und  der  Optativ  vor,  im  Mhd.  ist  das 
Wort,  abgesehen  von  dem  Adj.  eigen,  verschwunden;  das 
Nhd.  hat  auch  getar  aufgegeben,  toug  und  g.  an  sind  in  die 
schwache  Konjugation  tibergetreten,  jenes  mit  dem  Vokal  des 
Singulars,  dieses  mit  dem  Vokal  des  Plurals  {ö  <  ü  I  §  225). 
Von  toug  kommen  schwache  Formen  schon  seit  dem  12.  Jh. 
auf  (Whd.  §  420);  ähnliche  Formen  von  andern,  wie  mage  für 
mag,  sind  nicht  durchgedrungen.  Erhalten  sind  als  Prät.- 
Präsentia  mag,  soll,  'kann,  darf,  weiss,  muss.  will  hat  sich 
ihnen  angeschlossen  (§  36). 

2.  mag  zeigt  in  den  ältesten  hochdeutschen  Quellen 
Formen,  die  den  gotischen  genau  entsprechen:  mag,  magum, 
megi.  Aber  schon  früh  werden  unter  dem  Einfluss  der  be- 
nachbarten Laute  und  nach  dem  Muster  von  skal  sJculum, 
kann  kunnum  u.  a.  auch  ablautende  Formen  gebildet;  zu- 
nächst im  Plural,  dessen  Endungen  u  haben,  darnach  im  Optativ; 
O.  braucht  im  PI.  mugun,  im  Opt.  aber  noch  stets  megi.  Im 
Fränkischen  zeigen  sich  die  w-Formen  zuerst  (T.  0.);  später 
dringen  sie  auch  in  das  Alemannische  ein  und  sind  bei  N. 
schon  Regel  (PI.  mugen,  Opt.  muge).  Am  längsten  halten 
sich  die  alten  «-Formen  im  Bairischen.  Kraus,  Festgabe  für 
Heinzel  S.  150. 


96  Präterito-Präsentia.  [§  5;^. 

3.  Neben  scal  begeg-nen  in  den  westgermanischen  Sprachen 
früh  Formen,  in  denen  c  unterdrückt  ist.  Man  nimmt  an, 
dass  sie  aus  uralter  Zeit  stammen  und  sich  in  Formen  mit 
schwächster  Wurzelstufe  {sei-)  ergeben  hatten  (Pßb.  14,  295). 
Doch  sind  auf  hd.  Gebiet  im  8.  und  9.  Jh.  die  Formen  mit 
sc  noch  durchaus  herrschend;  erst  seit  dem  10.  Jh.  gewinnen 
die  mit  s  die  Oberhand;  in  der  mhd.  Zeit  halten  sich  sc  und 
scJi  nur  noch  auf  beschränktem  Gebiet,  namentlich  im  Bairischen 
und  Thüringischen  (Br.  §  374  A.  1.2.  Whd.  §  411).  —  Auch 
der  Vokal  entartet,  indem  unter  dem  Einfluss  des  l  a  schon 
im  späteren  Ahd.  in  o  übergeht.  N.  braucht  bereits  sol,  und 
das  ist  im  Mhd.  die  gewöhnliche  Form;  in  fränkischen  und 
thüringischen  Hss.  und  Urkunden  herrscht  sah  noch  im  13. 
und  14.  Jh.  Aus  dem  Singular  dringt  dann  seit  dem  12.  Jh. 
das  0  auch  in  den  Plural  ein,  gewinnt  aber  erst  allmählich 
Boden;  die  gewöhnlichen  mhd.  Formen  sind  solj  suln  (Whd. 
§  411). 

4.  Die  2  Sg.  hat  im  Nhd.  überall  die  Endung  st.  In 
weist  muost,  Jccmst,  gitarst  erscheint  im  Hd.  von  Anfang  an 
st  als  Endung  (§  55,  3),  die  andern  erhalten  sie  durch  jüngere 
Formübertragung,  solst  begegnet  vereinzelt  schon  bei  N. 
(Br.  §  374  A.  1),  magst  und  darfst  kommen  seit  dem  12.  und 
13.  Jh.  auf  (Whd.  §  409.  416). 

5.  Der  Umlaut,  der  zunächst  nur  dem  Optativ  zukam, 
dringt  allmählich  auch  in  den  PI.  Ind.,  so  dass  megen  mügen^ 
dürferij  müe^en  etc.  indikativisch  und  optativisch  gebraucht 
werden.  Das  Nhd.  erkennt  den  Umlaut  in  allen  seinen  Prät.- 
Präsentia  an,  ausser  in  sollen;  wie  weit  dieser  Ausgleich  be- 
reits im  Mhd.  eingetreten  war,  ist  darum  schwer  zu  erkennen, 
weil  gerade  der  Umlaut  von  u  mangelhaft  bezeichnet  wird 
und  mancherlei  mundartlichen  Einschränkungen  unterliegt.  Dass 
er  dem  Mhd.  nicht  fremd  war,  zeigt  am  deutlichsten  der  indi- 
kativische Gebrauch  von  megen  (Whd.  §  409).  —  Dieser 
Ausgleich  zwischen  Ind.  und  Opt.  ist  darum  merkwürdig,  weil 
die  Unterscheidung  der  beiden  Formen  durch  den  Umlaut  im 
Perf.  der  starken  Verba  fest  steht  und  allmählich  sogar  in 
die  schwachen  Verba  eindringt  (§  43,  2).     Brenners  Vermutung 


§  54.]  Imperativ  und  Nominalformen.  97 

(PBb.  20,  84),  dass  der  Umlaut  durch  enklitische  Pronomina 
veranlasst  sei,  hat  Beifall  gefunden  und  mag  nicht  unrichtig 
sein.  Doch  dürfte  auch  der  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen 
sein,  dass  diese  Prät.-Präsentia  eben  nicht  als  Präterita,  sondern 
als  Präsentia  empfunden  wurden,  und  im  Präsens  Ind.  und 
Opt.  denselben  Vokal  haben  (PBb.  15,212);  dass  die  Form 
des  Opt.  über  die  Indikativform  siegte,  hängt  wohl  mit  der 
Bedeutung  der  Verba  zusammen  (vgl.  §  114,5).  In  nhd.  sollen 
hinderte  die  Anlehnung  an  ivollen,  vielleicht  auch  das  Z,  dass 
der  Umlaut  zur  Geltung  kam. 

6.  Ferner  wird  der  Vokalismus  dieser  Verba  dadurch 
umgestaltet,  dass  im  PL  und  Opt.  u,  ü  durch  o,  ö  bedrängt 
wird.  Bei  suhi  tritt  diese  Änderung  zuerst  ein;  sie  erklärt 
sich  hier  aus  dem  Einfluss  des  Singulars;  ergreift  später  aber 
auch  die  andern  Verba,  namentlich  im  Md.  und  Alemannischen: 
mögen,  Jcon^ien,  gönnen^  dorfen,  torren,  dogen  und  mögen, 
'können  etc.  Teils  haben  hier  die  Formen  der  Präterita  ein- 
gewirkt, teils  auch  die  mundartliche  Neigung  u,  ü  in  o,  ö  über- 
gehen zu  lassen.  In  der  nhd.  Schriftsprache  haben  Plural 
und  Optativ  stets  den  Umlaut  des  Vokals,  der  im  Prät.  gilt, 
ü  in  dürfen,  ö  in  mögen,  können,  {gönnen). 

54.  (Imperativ  und  Nominalformen.)  1.  Der  Bildung 
von  Imperativformen  ist  die  Bedeutung  der  meisten  Präterito- 
Präsentia  nicht  günstig.  Aber  auch  da,  wo  die  Bedeutung 
kein  Hindernis  bietet,  fehlen  sie  in  der  älteren  Sprache,  denn 
von  Perfektstämmen  werden  im  Germanischen  keine  Imperative 
gebildet.  Im  Gotischen  sind  eigentliche  Imperativformen  zu 
diesen  Verben  gar  nicht  belegt.  Wo  sich  das  Bedürfnis  gel- 
tend machte,  imperativische  Funktionen  auszudrücken,  treten 
andere  Formen  zum  Ersatz  ein ;  gewöhnlich,  wie  beim  Verb, 
substantivum,  der  Optativ,  so  die  2  PI.  muneip,  kunneip, 
ögeip]  einmal  in  der  2  Sg.  eine  alte  Konjunktivform:  ögs  <. 
idg.  agh-e-s  (Brgm.  2,  1282  vgl.  §  6  Anm.  2).  Im  Hd.  be- 
gegnet zuerst  der  Imp.  wi^^e,  ici^^et,  später  im  Mhd.  auch 
gunne  nach  der  Analogie  der  schwachen  Verba,    zu  denen  g. 

W.  Wilinanns,  Deutsche  Grammatik  III.  7 


98  Präterito-Präsentia.  [§  54. 

an   übertritt^   und   vereinzelt   hunne  (Whd.  §  412.  413).     Uns 
sind  gönne  und  loisse  geläufig'. 

2.  Auch  Infinitive  und  Partizipia  wurden  in  den  ger- 
manischen Sprachen  zu  Perfektstämmen  im  allgemeinen  nicht 
gebildet.  Wo  sie  neben  den  Prät. -Präsentia  auftreten,  zeigen 
sie  immer  dieselben  Endungen  wie  die  zu  Präsensstämmen 
gehörigen  Nominalformen,  im  Inf.  -an,  im  Part,  -ands;  die 
Stammsilbe  stimmt  immer  mit  dem  Plural  überein.  Man  wird 
darin  ein  Zeichen  des  Einflusses,  den  Präsentia  auf  die  Ge- 
staltung der  Prät.-Präs.  geübt  haben,  anerkennen  müssen-,  von 
den  Verben,  die  auf  einem  Präsens  beruhten  oder  Präsens- 
und Perfektformen  verbanden,  gingen  die  Bildungen  aus,  die 
sich  dann  analogisch  über  echte  Perfekta  verbreiteten. 

3.  Die  Infinitive  sind  uns  jetzt  von  allen  Verben  ge- 
läufig. Im  Gotischen  sind  belegt:  munan,  kunnan,  gadaur- 
san,  witan,  -aihan  (nur  einmal  in  fair-ailian)]  im  Ahd.  magan 
od.  mugan,  scolan,  kunnafi,  unnan^  -durfan  (nur  in  M- 
durfan)^  wi^^an,  P]s  fehlen  also  im  Ahd.  die  Infinitive  nicht 
nur  zu  dem  früh  erloschenen  ganali,  und  dem  defektiven  eigun, 
sondern  auch  zu  gitar,  tong,  miio^  und  dem  Simplex  dai'f. 
Im  Mhd.  kommen  sie  vor,  aber  selten  und  dürfen  nur  in 
Kompositis. 

4.  Merkwürdig  ist  die  Verbreitung  der  Part.  Präs.  Im 
Gotischen  sind  sie  für  die  meisten  Verba  zu  belegen:  magands, 
7nunands,  Jcunnands,  paiirbands,  witands,  ögands  (daneben 
mit  schwacher  Wurzelstufe  un-agands  furchtlos),  aigands\ 
weniger  im  Ahd. :  maganti  od.  muganti,  scolanti,  kunnanti, 
wi^^anti,  toganti.  Ob  die  Formen  alle  der  lebendigen  Rede 
angehörten,  lässt  ihr  seltener  Gebrauch  im  Mhd.  bezweifeln. 
Nach  den  Angaben  Weinholds  waren  geläufig  mugende  (me- 
gende)  und  wi^^ende;  bedurfende  kommt  hier  und  da  im 
13.  Jh.  vor,  die  übrigen  sind  jünger.  Auch  wir  pflegen  ausser 
ioissend,  all-,  un  wissend,  vermögend,  diese  Partizipia  nicht 
zu  gebrauchen.  —  Der  Grund,  dass  der  Inf.  allgemein  üblich 
geworden  ist,  nicht  das  Part.,  liegt  offenbar  darin,  dass  nur 
jener  in  zusammengesetzten  Zeitformen  gebraucht  wird. 


§  55.]  Präteritum  und  Part.  Prät.  99 

55.  (Präteritum  und  Part.  Prät.)  1.  Als  Tempus  der 
Vergangenheit  wurde  zu  den  Prät.-Präs.  ein  ^Präteritum  nach 
Art  der  schwachen  Verha  gebildet,  überall  ohne  Mittelvokal 
(§  38,  2).  Die  Stammsilben  zeigen  denselben  Vokal  wie  der 
Plural,  also  schwache  Vokalstufe.  Wie  im  Hd.  neben  magun 
ein  jüngeres  mugun  tritt,  so  neben  maJita  mohta;  doch  braucht 
N.  neben  mugen  durchaus  noch  das  ältere  mahta.  Über  Be- 
tonung und  grammatischen  Wechsel  s.  §  39,  2. 

2.  Die  lautgesetzlichen  Änderungen,  welche  die  Verbin- 
dung des  Stammauslauts  mit  dem  t  der  Endung  verlangt, 
sind  meist  eingetreten  und  festgehalten:  g.  mahtaj  paurfta^ 
gadaursta,  öhta,  aihfa,  wissa\  ahd.  maJita  od.  mohta^  dorfta, 
gitorsta,  wisssa  od.  wessa,  muosa.  Aber  gamöt  bildet  bereits 
im  Gotischen  nach  der  Analogie  der  übrigen  das  Prät.  gamösta 
und  im  Ahd.  erscheint  neben  wissa  wessa  auch  wista  westa; 
erst  später,  zuerst  bei  Williram,  auch  muosta  neben  muosa 
(Br.  §371);  doch  bleiben  die  regelmässigen  Formen  auch  im 
Mhd.  noch  neben  den  jüngeren  in  Gebrauch.  —  Merkwürdig 
lind  nicht  sicher  erklärt  ist  das  st  in  as.  konsta,  onsta,  die 
auch  auf  fränkischem  Gebiet  erscheinen.  Erklärungsversuche 
sind  oft  unternommen,  zuletzt  von  Franck  ZfdA.  46,  329  ff. 
und  Michels  IF.  14, 228.  Möglicherweise  sind  die  Formen, 
und  ebenso  die  gemein  westgermanische  2  Sg.  kanst,  ähnlich 
zu  erklären  wie  waist  zu  wait,  baust  zu  hiudan  u,  a.,  nämlich 
so,  dass  regelmässige  Formen  mit  p  oder  d  durch  t  erweitert 
wurden  und  der  dentale  Spirant  vor  ^  in  ^  überging  (konsta  < 
konpta,  konpa).  —  Im  Nhd.  ist  -te  die  allein  gültige  Endung 
geworden;  auch  das  d,  das  im  Mhd.  namentlich  nach  n,  aber 
auch  nach  l  gilt  (künde,  solde),  ist  aufgegeben. 

Anm.  Osthoff  (Perf.  S.  397  f.)  sieht  in  ivissa  einen  5-Aorist: 
3  PI.  wissun  =  i'aav  (hom.)  <<  Fibaav,  1  PL  tvissum  =  fjaiuev  <<  rj-FiöaiuGv; 
vgl.  Brgm.  2,  1186. 

3.  Auffallend  ist,  dass  im  Hd.  in  allen  Formen  dieser 
Präterita  u  in  o  übergegangen  ist,  da  doch  allein  die  drei  Formen 
des  Singulars  Endungen  haben,  die  diesen  Übergang  recht- 
fertigen. Es  heisst  nicht  nur  scolta,  gitorsta,  dorfta,  tohta^ 
mohta y    sondern    auch    scoltim,    gitorstun    etc.    und    scolttnj 


100  Präterito-Präsentia.  [§  55; 

gitorstin  etc.;  ja  sogar  Iwnda  Icondun,  onda  ondun,  obwohl 
sonst  Nasalverbindungen  den  Übergang  von  u  zu  o  hindern. 
Nur  bairische  Quellen  zeigen  im  Ahd.  vereinzelt  die  Form 
Jcunda  (Br.  §  373  A.  3).  —  Im  Mhd.  macht  sich  die  Neigung 
geltend,  den  Vokal  im  Fl.  Präs.  und  im  Prät.  in  Überein- 
stimmung zu  bringen  und  damit  gewinnt  ii  weitere  Verbreitung; 
Tcunde,  gunde  werden  die  herrschenden  Formen,  muhte,  sulde, 
turste  kommen  vor,  namentlich  md.  Im  Nhd.  ist  diese  Über- 
einstimmung zwischen  Präs.  und  Prät.  durchaus  Regel;  ent- 
weder gilt  der  gebrochene  Vokal  auch  im  Präs.  {können 
konnte,  mögen  mochte,  sollen  sollte),  oder  er  ist  auch  im 
Prät.  aufgegeben  {dürfeii  durfte). 

4.  Beschränkter  als  der  Übergang  von  u  zu  o  war  der 
von  i  zu  e.  wissa  ist  die  allgemein  oberdeutsche  Form,  noch 
bei  N.;  wessa  und  westa  sind  fränkisch  (T.  0.)-  Im  Mhd. 
halten  sich  die  verschiedenen  Formen;  Gottfried  reimt  wiste 
und  weste.  Hartmann  fast  nur  loeste,  Wolfram  und  Wirnt 
brauchen  messe  (Zwierzina,  Festgabe  für  Heinzel  S.  444.  448. 
ZfdA.  45,  95).  Daneben  kommen  unter  dem  Einfluss  des  anl. 
V)  woste  und  wüste  auf,  die  namentlich  seit  dem  14.  Jh.  sich 
im  Md.  und  Elsässischen  verbreiten  (Whd.  §  419).  Im  Nhd. 
ist  wusste  zur  Anerkennung  gekommen. 

Umlaut  im  Opt.  macht  sich  im  Mhd.  geltend  und  ist  im 
Nhd.  allgemein  geworden,  ausser  in  sollen,  das  ebenso  wie 
wollen  sowohl  im  Präs.  wie  im  Prät.  jetzt  o  verlangt. 

5.  Mit  ^o-Suffix  gebildete  Verbaladjektiva  begegnen  im 
Gotischen  zu  mehreren  Prät.  Präs.:  mahts  möglich,  bi-nauhts 
erlaubt,  skulds  schuldig,  munds  geglaubt,  gehalten  für  (Lc. 
3,  23),  kunps  bekannt,  paurfts  nötig,  -weis  weise,  unwiss  un- 
gewiss; im  Ahd.  sculd,  kund,  dürft,  gawiss.  Aber  diese 
Wörter  sind  nicht  sowohl  Partizipia  als  Adjektiva,  die  neben 
den  Verben  bestehen,  aber  nicht  zum  System  der  Verbal- 
formen gehören,  kimd,  schuld,  gewiss  brauchen  auch  wir 
noch  adjektivisch.     Eigentliche  Partizipia  auf  t  fehlten. 

6.  Dasselbe  gilt  von  den  sehr  viel  selteneren  mit  dem 
Suffix  -ono  gebildeten  Verbaladjektiven.  Im  Got.  fehlen  sie 
ganz    (yH^jpdft^h     ajgjv    N.    Eigentum).      Im    Hd.    ist    am 


§  56.]  Die  Partizipia.  101 

häufigsten  alid.  eigan;  daneben  kommt  giwi^^an  gnarus  und 
ungitorran  inausum  vor.  gewi^^en  begegnet  auch  im  Mhd.; 
jetzt  hat  sich  nur  noch  eigen  erhalten. 

7.  Die  Bildung  eigentlicher  Partizipia  beginnt  erst  in 
der  mhd.  Zeit,  zuweilen  nach  der  starken^  Öfter  nach  der 
schwachen  Konjugation:  gewist,  gewest,  gewi^^en;  ^gegonnen, 
gegunnen,  erhunnen,  enbunnen,  gunnet,  erhunnet,  gegont,  ge- 
gönt,  gegunst,  gegonst'^  gekonst,  erJcunnen,  erkunnet;  hedorfen, 
bedorft;  vermoht\  aber  die  Formen  werden  im  allgemeinen 
selten  gebraucht,  am  wenigsten  wo  die  Verba  als  Hülfszeit- 
wörter  stehen  \).  Die  schwachen  Partizipia  der  Hülfszeitwörter 
sind  erst  im  Nhd.  zu  einem  festen  Bestandteil  des  Konjugations- 
systems geworden.  —  Über  den  Gebrauch  des  Infinitivs  statt 
des  Part.  s.  §  86. 

Grebraucli  der  Verbalformen. 

Die  Nominalformen  des  Yerbums. 

Die  Partizipia^). 

56.  1.  Ihrem  Ursprung  nach  sind  die  Partizipia  Ad- 
jektiva,  die,  weil  sie  aus  Verbalwurzeln  entsprossen  waren, 
sich  allmählich  dem  Verbalsystem  angliederten  und  in  frucht- 
barem Wachstum  über  Verba  aller  Art  verbreiteten.  Durch 
ihre  nahe  Beziehung  zum  Verbum  erscheinen  sie  als  eine  be- 
sondere Wortart,  w^erden  aber  jeder  Zeit  leicht  wieder  ganz 
zu  Adjektiven,  so  dass  sie  ohne  jede  Empfindung  der  Zeit- 
momente, die  für  das  Verbum  charakteristisch  geworden  sind, 
gebraucht  werden  können.  In  Verbindungen  wie  eine  reizende 
Aussicht^  eine  blendende  Schönheit,  eine  leuchtende  Farbe, 
-eine  zerstörte  Stadt,  ein  ausgetrocknetes  Flussbett  bezeichnen 
uns  die  Partizipia  nur  ruhende  Zustände  oder  Eigenschaften 
wie   andere  Adjektiva.     Oft   gibt  der  gotische  Übersetzer  ein 


1)  Whd.  §  410  f.  G.  Maier,  ZfdW.  1,  304  f. 

2)  Gr.  4,  64—71.  125-131.  1251  f.  Erdmann  §  132  f.  Wunderlich 
1,  120—128.  Blatz  2,  597—625.  Gering,  Über  den  Gebrauch  des 
Part,  im  Gotischen.  ZfdPh.  5,  294  ff.  Matthias,  Zur  Geschichte  der 
deutschen  Mittel  Wortfügungen  ZfdU.  11,  681. 


102  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  57. 

griechisches  Partizipium  durch  ein  Adjektivum  wieder  und 
umgekehrt,  und  dasselbe  Verhältnis  zeigt  sich  zu  jeder  Zeit. 
2.  Den  Charakter  von  Verbalformen  verlieren  die  Parti- 
zipia,  wenn  eigentümliche  Entwickelung  der  Bedeutung  oder 
der  Form  den  Zusammenhang  zwischen  ihnen  und  dem  Verbum 
überhaupt  löst,  oder  wenn  sie  zu  ihrem  Verbum  nicht  in  dem 
Verhältnis  stehen,  das  sich  im  allgemeinen  zwischen  ihnen 
herausgebildet  hat.  Fälle  der  ersten  Art  sind  in  der  Lehre 
von  der  Wortbildung  angeführt  (II  §  384,  4.  §  325.  336) ; 
andere  kommen  hier  zur  Sprache.  Tempus,  Genus  und  die  in 
der  Bedeutung  des  Verbums  wurzelnden  syntaktischen  Ver- 
hältnisse kommen  dabei  in  Betracht. 

57.  (Tempus.)  1.  Nach  den  Suffixen  wären  dreierlei 
Partizipia  zu  unterscheiden:  nt-^,  n-  und  ^Partizipia,  doch  fasst 
man  die  beiden  letzten  unter  demselben  Namen  zusammen, 
weil  ein  Unterschied  in  ihrer  Bedeutung  nicht  mehr  wahr- 
zunehmen ist.  Die  M^Partizipia  nennt  man  Part.  Präs.,  die 
beiden  andern  Part.  Prät.  Die  Form  rechtfertigt  den  Namen 
nur  für  die  Tz^Partizipia,  denn  diese  haben  sich  sämtlich  dem 
Präsensstamm  angelehnt;  die  beiden  andern  nehmen  in  dem 
Formensystem  eine  selbständige  Stellung  ein.  Die  i2-Partizipia 
der  starken  Verba  sind  eine  von  den  Tempusstämmen  unab- 
hängige Bildung,  die  nur  zufällig  bei  einem  Teil  der  Verba 
dem  PI.  Prät.  besonders  nahe  steht  (bundum  hundans,  sti- 
gum  stigans,  hudum  hudans)\  die  ^Partizipia  der  schwachen 
Verba  erscheinen  zwar  überall  in  enger  Beziehung  zum  Prä- 
teritum {nasida  nasips,  salhöda  salböps,  hahaida  hahaips), 
doch  beruht  diese  enge  Beziehung  nicht  auf  ursprünglicher 
Verwandtschaft  (§  39).  Mit  dem  Präteritum  haben  beide 
Formen  keinen  engeren  Zusammenhang. 

2.  Was  die  Bedeutung  betrifft,  so  bezeichnet  das  Part. 
Präs.  regelmässig  eine  unvollendete,  das  Part.  Prät.  gewöhn- 
lich eine  vollendete  Handlung.  Beide  pflegen  auf  die  Zeit 
der  Satzaussage  bezogen  zu  werden,  so  dass  das  Part.  Präs. 
eine  dieser  gleichzeitige,  das  Part.  Prät.  eine  ihr  voran- 
gegangene Handlung   bezeichnet.     Doch  gelten   diese  Bestim- 


§  57,]  Tempus  der  Partizipia.  103 

mungen  nicht  unbedingt,  namentlich  nicht  für  das  Part.  Prät. 
In  Sätzen  wie  Mc.  1,13  jah  was  in  pizai  aupidai  dage  fidwör 
tiguns,  fraisans  fram  Satanin  ('iTeipaZ;6|uevo^  utto  toO  Xaxava) ; 
Mt.  11,7  raus  fram  wifida  wagidata  (KdXajuov  uttö  toO 
dve'iuou  crotXeuöjuevov)  entspricht  das  g.  Part.  Prät.  einem  gr. 
Part.  Präs.  (ZfdPh.  5,  295.  299)  und  bezeichnet  eine  der 
Handlung  des  Verbum  finitum  gleichzeitige  Handlung.  Es 
kann  selbst  auf  einen  Vorgang  weisen,  der  später  eingetreten 
ist,  nur  vom  Standpunkt  des  Redenden  betrachtet  der  Ver- 
gangenheit angehört;  z.  B.  Mein  verstorbener  Freund  dachte 
■  anders  darüber.  Schon  der  {jetzt)  geschlossene  Landtag  hat 
darüber  verhandelt.  Ja  es  braucht  nicht  einmal  eine  abge- 
schlossene Handlung  zu  bezeichnen,  sondern  kann  von  manchen 
Verben  ganz  wie  ein  Part.  Präs.  eine  währende  Handlung 
ausdrücken.  Eine  zerstörte  Stadt  ist  eine  Stadt,  die  man 
zerstört  hat;  aber  Verbindungen  wie  geschätzter  Freund,  ge- 
ehrter Herr,  geliebtes  Kind  entsprechen  den  Sätzen  er  wird 
geschätzt,  geliebt,  geehrt.  Ebenso  er  führt  ein  beicegtes 
Leben,  ist  vom  Fieber  geplagt,  allgemein  geachtet  \  die  Stadt 
ist  auf  einem  Berge  gelegen  u.  a.  Eine  solche  zeitlich  un- 
begrenzte Bedeutung  setzt  der  ahd.  Gebrauch,  das  Präs.  Pass. 
durch  icesan  c.  Part,  wiederzugeben  voraus  (§  73).  Gewöhn- 
lich aber  wird  das  Part.  Prät.  auf  eine  vorangegangene  Hand- 
lung bezogen;  andere  fassen  wir  jetzt  als  Adjektiva  auf. 

3.  Ähnliche  Freiheit  gestattete  früher  auch  das  Part. 
Präs.  Im  Gotischen  bezeichnet  es  oft,  einem  gr.  Part.  Aor. 
oder  Perf.  entsprechend,  eine  der  Handlung  des  Satzes  voran- 
gegangene Handlung;  z.  B.  Mt.  6,6  galüJcands  haurdai peinai 
bidei  du  attin  peinamma,  KXeicrac;  xfiv  Gupav  crou  TrpocreuHai 
TUJ  TTttTpi  (Tou.  Jh.  6,  19  paruh  farjandans  swe  spaurde-k- 
jahegasaihand  lesu,  e\r|\aKÖTe<;  ouv  iIk;  criabiouc;  eiKOCTi 
TievTe  GeuüpoOaiv  töv  'lr|crouv.  Mc.  15,  46  jah  usbugjands  lein 
jah  usnimands  ita  biwand  pamma,  leinajah  galagida  ita  in 
hlaiwa,  Kai  a-^opäcac,  cTivböva  Kai  KaGeXduv  auxöv  eveiXr|(Jev  if} 
aivbovi  Kai  KaieGriKev  auiö  ev  |uvri|ueiuj.  Auch  späterhin  führt 
der  Mangel  eines  Part.  Prät.  mit  aktiver  Bedeutung  hin  und 
wieder  zur  Bildung   ähnlicher  Sätze;   z.  B.  In  Zug  ans  Land 


104  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  58. 

steigend  kehrten  wir  im  Ochsen  ein  (Goethe).  Aber  sie 
widerstreiten  dem  Sprachgefühl.  Wie  das  Part.  Präs.  in  seiner 
Form  sich  dem  Präsens  näher  anschliesst  als  das  Part.  Prät. 
dem  Präteritum,  so  ist  es  auch  in  seiner  Tempusbedeutung 
gebundener  als  dieses. 

58.  (Genus  und  Subjekt  der  Partizipia.)  1.  Die  Part. 
Präs.  haben  regelmässig  aktive  Bedeutung,  die  Part.  Prät.  teils 
aktive,  teils  passive;  aktive,  wenn  sie  zu  intransitiven,  passive 
wenn  sie  zu  transitiven  Verben  gehören.  Die  aktiven  Parti- 
zipia dienen  zur  näheren  Bestimmung  von  Substantiven,  die 
das  Subjekt  der  Handlung  sind:  die  rauschende  Woge,  die 
Woge  rauscht'^  eine  verblühte  Blume,  die  Blume  verblüht', 
die  passiven  zur  näheren  Bestimmung  solcher,  die  das  Objekt 
der  Handlung  sind:  der  gefällte  Baum,  den  Baum  fällen. 
Partizipiale  Bildungen,  die  sich  diesen  Bestimmungen  nicht 
fügen,  erscheinen  als  Adjektiva. 

2.  Partizipia  Prät.  transitiver  Verba  mit  aktiver  Be- 
deutung sind  nicht  häufig  und  beruhen  meistens  auf  absolutem, 
also  intransitivem  Gebrauch  der  Verba:  g.  df^ugkans  trunken, 
ahd.  bitrogan  einer  der  betrügt,  giwi^^an  einer  der  weiss, 
foragiwi^^an  providus,  mhd.  genoj^en  (vom  Jagdhund)  einer 
der  genossen  hat,  bescheiden  verständig  (einer  der  zu  scheiden 
weiss),  verswigen  schweigsam,  nhd.  belesen,  ein  gedienter 
Soldat  (der  gedient  hat,  meritus),  ein  gelernter  Schneider, 
einem  bedient  sein  =  behülflich  sein  (DWb.  1,  1231)  und  daher 
der  Bediente.  Auf  einen  jetzt  erloschenen  reflexiven  Gebrauch 
(vgl.  §  59)  sind  zurückzuführen:  nhd.  erfahren  und  verdient 
(bene  meritus,  sich  verdienen  =  sich  verdient  machen) 

Anm.  1.  Anderer  Art  sind  Wörter  wie  beredt,  gewillt,  gesinnt. 
II  §  338. 

Anm.  2.  Da  die  Part,  transitiver  Verba  passive  Bedeutung 
haben,  können  sie  nicht  ein  Objekt  regieren.  Unrichtig,  obschon 
ziemlich  gebräuchlich,  sind  daher  Verbindungen  wie:  'eine  statt- 
gehabte od.  stattgefundene  Versanimlung\ 

3.  Öfter  werden  Partizipia  Präs.  auf  ein  Substantivum 
bezogen,  das  nicht  Subjekt  der  Handlung  ist.  Doch  sind 
solche    Fälle    aus    dem    Gotischen    kaum    nachzuweisen    (vgl. 


§  58.]  Genus  und  Subjekt  der  Partizipia.  105 

ZfdPh.  5,  297),  und  wo  sie  im  Hochdeutschen  begegnen,  han- 
delt es  sich  nicht  um  die  Bedeutung  eines  Partizipiums  über- 
haupt, sondern  nur  in  gewissen  Verbindungen.  In  manchen  kann 
man  das  Partizipium  auf  ein  unbestimmtes  persönliches  Subjekt 
beziehen;  ahd.  vallandiu  suht,  mhd.  vallende  suht,  der  vallend  siech- 
tuom,  da^  vallend  übel,  Fallsucht,  Epilepsie  ist  die  Krankheit,  bei 
der  man  hinfällt  (1.  morbus  caducus)'^  mhd.  schameiide  arbeit  Müh- 
sal, deren  man  sich  schämen  muss.  In  andern  bezieht  es  sich  auf 
ein  bestimmtes  persönliches  Subjekt;  z.  B.  mhd.  alle  mtne  lebenden 
tage  so  lange  ich  lebe,  in  ir  lebenden  jdren  in  den  Jahren,  die  sie 
erlebt  hatte.  Passivisch  lässt  sich  auffassen  mhd.  mit  windender 
hant  od.  mit  icindenden  henden,  auch  ansehende^  leit  ein  Leid,  das 
man  sieht  oder  das  gesehen  wird,  sichtbar  zu  Tage  Hegt;  nhd.  eme 
melkende  Kuh,  essende  und  trinkende  Waare.  Wieder  anders  mhd. 
der  minnende  unsin  (MF.  117,33)  die  Liebesraserei,  die  Raserei,  die 
mit  dem  Minnen  verbunden  ist;  diu  minnende  not  Liebesgram, 
sterbendiu  stccere  Todesnot. 

4.  Wie  andere  Ableitungssilben  (vgl.  z.  B.  -hoere  II  §  377) 
kann  also  auch  das  Suffix  des  Partizipiums  dazu  dienen, 
Wörter  mit  verschiedenem  Sinn  auszuprägen;  aber  das  sehr 
bestimmte  Verhältnis,  das  im  allgemeinen  zwischen  dem  Part, 
und  dem  Verb.  fin.  besteht,  hemmt  die  freie  Bedeutungs- 
entwickelung, die  wir  bei  andern  Suffixen  gewahren.  Im 
älteren  Nhd.  treten  solche  unregelmässigen  Verbindungen  oft 
auf;  nur  wenige  sind  geblieben:  eine  schwindelnde  Höhe  eine 
Höhe  bei  der  einem  schwindelt,  eine  sitzende  Lebensiveise,  mit 
spielender  Leichtigkeit  dh.  mit  einer  L.,  als  ob  man  spielte,  auch 
wohl  der  alte  Ausdruck  bei  nachtschlafe7ider  Zeit  (Gr.  4,  907)  und 
bes.  ausneh7nend  (auch  ndl.  uitnemende,  mndl.  ütnemende)  ein  aus- 
nehmender Erfolg,  dh.  ein  E.,  der  ausg"enonimen,  ausser  Vergleich 
gestellt  werden  muss.  Einige  lehnen  sich  an  verbale  Verbindungen 
an:  die  stillschweigende  Bedingung  (stillschweigend  bedingen),  der 
meistbietende  Verkauf  (meistbietend  verkaufen),  ein  reissender  Ab- 
satz od.  Abgang  (reissend  abgehen  vgl.  Anm.  4).  Andere  sind  ver- 
altet und  mehr  oder  weniger  anstössig:  zu  seiner  vorhabenden  Meise, 
eme  ivohlschlafende  Nacht  wünschen,  eine  erstaunende  Menge  (frz. 
etonnante  quantite);  andere  würden  uns  ganz  lächerlich  klingen, 
z.  ß.  eine  durstende  Hitze,  zitternde  Kälte,  errötende  Unverschämt- 
heit, obwohl  sie  mit  schwindelnde  Höhe  wesentlich  gleich  sind.  Vgl. 
frz.  cafe  chantant,  soiree  dansante  u.  ä. 

Anm.  3.  Der  scheinbar  passive  Gebrauch  von  betreffend  be- 
ruht  auf  Ellipse  des  Objekts  und  Bedeutungsentwickelung.     Regel- 


106  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  59. 

massig",  in  aktiver  Bedeutung:  der  diese  Sache  betreff  ende  Umstand^ 
dann:  der  betreffende  Umstand  =  der  in  Betracht  kommende  Um- 
stand, und  darnach  die  betreffende  Behörde. 

Anm.  4.  meistbietend  verkaufen^  reissend.  Absatz  finden  wider- 
sprechen der  Regel,  dass  adverbiale  Partizipia  im  aktiven  Satz  das- 
selbe Subjekt  wie  das  Verbum  finitum  verlangen. 

Anm.  5,  Part.  Präs.  reflexiver  Verba  werden  zuweilen  ohne 
Fron.  refl.  gebraucht  (Blatz  2,  602),  in  der  gewöhnlichen  Rede  aber 
nur,  wenn  sie  ganz  zu  Adjektiven  geworden  sind:  ein  herablassender 
Herr,  eine  hingebende  Freundschaft:,  vgl.  §  59,  2. 

59.  (Verba,  deren  Part.  Prät.  sich  zu  adjektivischem 
Gebrauch  nicht  eignet.)  1.  Obwohl  die  Partizipia  aus  Ad- 
jektiven hervorgegangen  sind,  können  doch  nicht  alle  adjek- 
tivisch gebraucht  vs^erden.  Die  Part.  Prät.  eignen  sich  dazu 
nur,  wenn  sie  einen  durch  die  Handlung  des  Verbums  herbei- 
geführten Zustand  bezeichnen.  In  diesem  Sinne  werden  sie 
von  allen  transitiven  Verben  gebildet,  von  intiansitiven  aber 
nur  dann,  wenn  sie  bezeichnen,  dass  das  Subjekt  durch  die 
Handlung  in  einen  gewissen  Zustand  gerät,  d.  h.  wenn  sie 
perfektive  Bedeutung  haben  (vgl.  §  77).  Man  sagt:  der  ge- 
fällte Baum,  ein  verkommener  Mensch,  aber  nicht  ei7ie  ge- 
hlühte  Blume,  gezahnte  Khider\  man  sagt:  eine  gesprungene 
Saite,  ein  entlaufener  Sklave,  aber  nicht  ei^i  gesprungenes 
Kind,  ein  gelaufener  Sklave.  Partizipia  von  reflexiven 
Verben,  von  imperfektiven  Intransitiven  und  unpersönlichen 
Verben  werden  im  allgemeinen  nur  in  den  zusammengesetzten 
Zeiten  gebraucht,  nicht  als  Adjektiva.  Werden  sie  aber  als 
Adjektiva  gebraucht  so  pflegen  sie  ihren  verbalen  Charakter 
zu   verlieren    und    ganz    als  Adjektiva    empfunden  zu  werden. 

2.  Ziemlich  häufig  sind  solche  Partizipia  von  reflexiven 
Verben: 

g.  anda-pähts  einer  der  sich  zu  bedenken  pflegt,  fratvaurhts 
sündhaft  {sis  fraiüaurkjan)\  nihd.  wol  bedäht,  vernie^^en,  verwcenet 
anmassend,  verwegen  frisch  entschlossen  (zu  sich  verwegen),  ver- 
sonnen besonnen,  verstanden  verständig  (zu  sich  versten),  verlegen 
einer  der  zu  lange  müssig  gelegen  hat  und  daher  untauglich  ge- 
worden ist  (zu  sich  verligen),  vergangen  einer  der  sich  verirrt  hat; 
nhd.  erkältet  einer  der  sich  erkältet  hat,  erhitzt,  ergeben,  besonnen, 
bemüht,   bestrebt,   bescheiden,  betrunken,  verliebt,  verirrt,  verbissen 


§  59.]  Partizipium  und  Adjektivum.  107 

einer  der  sich  in  etwas  verbissen  hat,  gewandt  der  sich  zu  wenden 
versteht  (vgl.  frz.  tourne,  tournure),  entschlossen  der  sich  rasch  ent- 
schliesst,  ein  erklärter  Liebhaber,  ausgesprochener  Feind,  gesetztes 
Wesen  u.  a.  (Blatz  2,  609). 

Anm.  1.  Unstatthaft  ist  die  Verbindung  des  Part,  mit  dem 
refl.  Pron.  z.  B.  der  Freudenschrei  der  sich  so  plötzlich  Gefundenen'^ 
ein  sich  schon  längst  fühlbar  gemachtes  Bedürfnis  (vgl.  §  58  Anm  ). 

3.  Zu  imperfektiven  Intransitivis  gehören:  g.hauh-,mikil- 
fiühts  hochmütig,  paurfts  nötig-,  brauchbar  (zu  paurban  c.  Gen.); 
mhd.  verlogen  lügenhaft,  verge^;^en  vergesslich,  verruochet  unbe- 
kümmert, sorglos,  enbi^i^en  einer  der  gefrühstückt  hat,  gesivoren 
einer  der  geschworen  hat,  geriiot  in  Ruhe  g'elassen,  ruhig,  gewegen 
einer  der  hilft  {zu  giivegen),  nhd.  gewogen^  mhd.  geriten  zu  Pferde; 
nhd.  beritte7i.  Auch  ahd.  gilegan  situs,  gise^^an  angesessen,  wola 
gise^^an  idoneus  sind  hierher  zu  rechnen.  Denn  die  Verba  ligen 
und  sitzen  haben  zwar  auch  perfektive  Bedeutung  und  werden  in- 
folge dessen  mit  sein  verbunden,  die  genannten  Adjektiva  aber 
gehören  offenbar  zu  den  imperfektiv  aufgefassten  Verben  (vgl. 
§  83  Anm,  §  57,  2).  —  Zu  dem  unpersönlichen  g.  mik paurseips  gehört 
paursips  durstig. 

Anm.  2.  Ahd.  gidionöt  mancipatus,  humiliatus,  untardeonöt 
subditus  ist  nicht  als  Part,  zu  dionön,  sondern  als  selbständige  Bil- 
dung anzusehen. 

4.  Als  eine  besondere  Gruppe  sind  die  mit  un-  zusammen- 
gesetzten Partizipia  Prät.  zu  erwähnen,  die  im  Mhd.  nicht 
selten  in  einer  dem  positiven  Partizipium  nicht  entsprechenden 
Weise  gebraucht  w^erden :  ungesungen  sin  nicht  singen^  unge- 
reiet  beliben  nicht  zum  Tanze  kommen,  ungesprochen  gän 
ohne  zu  sprechen  etc.  (vgl.  §  61,  9).  Daher  noch  jetzt:  un- 
gegessen, ungetrunJcen  aufbrechen,  ohne  gegessen,  getrunken 
zu  haben.  —  Dass  diese  Wörter  in  loserem  Verhältnis  zum 
Verbum  fin.  stehen,  zeigt  sich  schon  darin,  dass  sie  nicht  wie 
das  Verbum  durch  ne,  sondern  mit  un-  negiert  werden.  Wir 
empfinden  sie  ganz  als  Adjektiva  und  unterscheiden:  er  ist 
ungebttndeji,  unbestraft  und  nicht  gebunden,  nicht  bestraft 
{er  ist  dafür  nicht  bestraft  loordem,  nicht  unbestraft  worden). 
Im  Mhd.  stehen  sie  in  Verbindung  mit  sein  dem  Wert  eines 
negierten  Verbums  wenigstens  noch  nahe;  z.  B.  Parz.  767,28 
ob  dir  u7igeldnet  wcere  wenn  dir  nicht  gelohnt  würde,  wenn 
du  ohne  Lohn  bliebest.  Loh.  5565  dem  was  ungeholfen  dem 
wurde  nicht  geholfen,  er  blieb  ohne  Hülfe;   aber  zur  Bildung* 


108  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  60. 

eigentlicher  Passivformen  mit  loerden  sind   sie  auch  im  Mhd. 
nicht  geeignet. 

60.  (Syntaktische  Verbindungen  der  Partizipia.)  1.  Par- 
tizipia,  die  ihren  verbalen  Charakter  behalten,  unterscheiden 
sich  von  den  Adjektiven  namentlich  in  zwei  Punkten.  Einmal 
sind  sie  infolge  ihrer  verbalen  Natur  mehr  geeignet,  mit  näheren 
Bestimmungen  bekleidet  zu  werden,  sodann  werden  sie  öfter 
durch  Pausen  und  Wortstellung  als  relativ  selbständige  Teile 
der  Rede  bezeichnet,  so  dass  sie  gewissermassen  die  Bedeutung 
von  Sätzen  gewinnen.  Zwar  sind  auch  die  Adjektiva  von 
diesem  Gebrauch  nicht  ausgeschlossen,  wie  z.  B.  bei  Walther 
46,  10  Adjektiva  und  Partizipia  nebeneinander  stehen:  swä 
ein  edeliu  schoene  frouwe  reine,  wol  gekleidet  unde  wol 
gebunden,  durch  kurzewile  zuo  vil  Muten  get,  hovelichen 
höhgemuot,  niht  eine,  umhesehende  ein  wenic  under 
stunden  etc.;  aber  durch  ihren  verbalen  Charakter  eignen 
sich  vor  allem  die  Partizipia  zu  diesem  satzartigen  Gebrauch, 
mögen  sie  allein  stehen,  z.  B.  als  meine  Hunde,  wutentbrannt, 
an  seinen  Bauch  mit  grimmigen  Bissen  sich  warfen,  oder 
nähere  Bestimmungen  bei  sich  haben;  z.  B.  Hier  hausete  der 
Wurm  und  lag,  den  Raub  erspähend,  Nacht  und  Tag.  Sehr 
kräftig  hat  sich  der  Gebrauch  satzartiger  Partizipia  im  Griechi- 
schen und  Lateinischen  entfaltet,  am  freiesten  äussert  er  sich 
in  den  absoluten  Partizipialkonstruktionen. 

2.  In  den  germanischen  Sprachen  finden  sich  zu  den 
absoluten  Partizipien  nur  geringe  Ansätze;  andere,  die  sich 
der  Konstruktion  des  Satzes  einfügen  (appositive  Partizipia), 
begegnen  häufig  zu  jeder  Zeit,  gehören  aber  doch  mehr  der 
Kunst-  und  Schriftsprache  an  und  stehen  oft  sichtlich  unter 
dem  Einfluss  fremder  Originale  und  Muster.  In  der  gewöhn- 
lichen Rede  pflegen  Partizipia  nur  gebraucht  zu  werden,  wenn 
sie  sich  als  attributive  oder  prädikative  Bestimmungen  dem 
Satzgefüge  fest  eingliedern.  Im  prädikativen  Gebrauch  er- 
scheinen die  Partizipia  dem  Verbum  des  Satzes  je  nach  dem 
Bedeutungsverhältnis  bald  mehr  bald  weniger  eng  verbunden. 
In  Sätzen   wie:    Er  gi^ig  pfeifend  aus  dem  Zimmer,    suchte 


§  61.]  Partizipium  Präs.    Konkurrenz  des  Infinitivs.  lOO" 

schwimmend  das  Land  zu  erreichen,  lag  gefesselt  am  Boden; 
ich  stand  gelehnet  an  den  Mast,  sass  in  Gedanken  versunken, 
sah  ihn  gerettet,  glaubte  mich  getäuscht  empfinden  wir  beide 
Glieder  als  selbständige  Satzteile.  In  andern  verschmelzen  sie 
zur  Einheit,  am  meisten  in  den  zusammengesetzten  Zeitformen, 
in  denen  die  Verba  sein,  imrden,  haben  neben  Part.  Prät.  zu 
Htilfszeitwörtern  herabsinken  (§  73).  Einige  andere  Verba 
stehen  diesen  nahe;  besonders  hervorgehoben  sei  kommen, 
das  zunächst  im  Prät.,  dann  auch  im  Präs.  mit  einem  Part. 
Prät.  verbunden  wurde.  Im  Mhd.  waren  diese  Verbindungen  sehr 
beliebt  geworden  und  auch  jetzt  beg'egnen  sie  oft  in  der  Literatur 
und  in  der  Umgangssprache:  er  kommt  geschlichen,  gegangen,  ge- 
ritten, angerausclit,  angesungen.  Kommt  ein  Vöglein  geflogen  (Gr. 
4, 9.  Blatz  2, 618).  In  manchen  andern  Fällen  zeigt  sich  die  enge 
Verbindung  eines  Part.  Prät.  mit  dem  Verbum  fin.  nur  in  gewissen 
Redensarten:  verloren  gehen,  es  steht  geschrieben,  verborgen  halten, 
gefangen  h.,  gefangen  nehmen,  sich  gefangen  geben,  etivas  ange- 
schleppt bringen,  geschenkt  kriegen  od.  bekommen  u.  a.  Ähnliche 
Verbindungen  mit  dem  Part.  Präs.  haben  sich  nicht  erhalten.  Nur 
als  Adjektivum  behauptet  es  sich  neben  sein  (vgl.  §  90).  —  Über  die 
satzartigen  Partizipia  ist  im  folgenden  Bande,  über  die  absoluten 
auch  in  der  Kasuslehre  zu  handeln. 

61.  (Konkurrenz  des  Infinitivs.)^)  In  manchen  Ver- 
bindungen, in  denen  das  Partizipium  früher  möglich  war,  hat 
die  Sprache  es  aufgegeben.  Wenn  es  sich  als  Subjekt  oder 
Objekt  auffassen  lässt,  brauchen  wir  statt  seiner  den  Infinitiv 
oder  Nebensätze  mit  dass,  wie,  ivenn. 

2.  Mit  dem  Part.  Präs.  konkurriert  der  Infinitiv  bei 
manchen  Verben  von  Anfang  an  und  ist  wohl  als  das  der 
deutschen  Sprache  gemässere  anzusehen ;  prädikativ  gebrauchte 
Part.  Präs.  waren  in  der  älteren  Sprache  offenbar  wenig  be- 
liebt, wenn  auch  die  Übersetzer  sie  nach  dem  Muster  ihrer 
Vorlagen  oft  genug  zulassen^).  In  anderen  Verbindungen  tritt 
der  Infinitiv  erst  später  ein  und  beruht  dann  meistens  auf  dem 
Verfall  der  partizipialen  Endung  (§31). 


1)  Gr.  4, 125  ff.     Gering  ZfdPh.  5,  423  f.     Blatz  2,559. 

2)  Kick,  Das  prädikative  Part.  Präs,  im  Ahd.     Bonn  1905. 


110  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  61. 

3.  Zunächst  finden  wir  den  Infinitiv  bei  einigen  transi- 
tiven Verben  der  Bedeutung  'erkennen,  wahrneb men,  tun*. 
Im  Got.  steht  Lc.  8,46  neben  ufkunnan  das  Part.:  ufkunpa  onaht 
usgaggandein  us  mis  (^HeX0oOöav),  im  Tat.  c.  60,  6  an  der  ent- 
sprechenden Stelle  neben  dem  synonymen  wi^^an  der  Infinitiv:  ih 
tvei^  megin  fon  raii^  ü^gangan,  wie  im  lat.  novi  virtutem  exiisse\ 
ebenso  bei  0.  3, 14,  36  ih  irkanta  thia  kraft  Mar  faran  fona  mir.  — 
Neben  hören  brauchen  wir  den  Inf.  wie  0.  1,25,15  then  fater  hört 
er  sprechan;  2,  13,  5;  im  Got.  steht  das  Part.  Mc.  14,  58  gahausidedun 
qipandan  ina  (X-^yo^tgc;)  und  so  öfter  bei  den  ahd.  Übersetzern  nach 
dem  Original.  —  sehaii  verbindet  der  Übersetzer  des  Tatian  nur 
6  mal  mit  dem  Infinitiv,  40  mal  mit  dem  Part.,  immer  der  Vorlage 
entsprechend ;  aber  schon  im  Got.  erscheint  bei  diesem  Verbum  zu- 
weilen der  Inf.  statt  des  gr.  Part,  und  Otfried  braucht  das  Part, 
nur  noch  einmal  (5, 13, 32),  sehr  oft  den  Inf.  Gleichwohl  erscheint 
uns  bei  diesem  Verbum  das  Part,  erträglicher  als  bei  hören,  weil 
wir  bei  hören  mehr  als  bei  sehen  die  Tätigkeit  als  Objekt  zu  em- 
pfinden pflegen.  Ebenso  haben  sich  bei  finden  beide  Konstruk- 
tionen gehalten,  wie  sie  schon  im  Ahd.  und  Mhd.  vorkommen;  z.  B. 
Iw.  282  den  ich  da  stende  vant;  Wh.  305,  3  sumeltche  vant  man  släfen. 

4.  Bei  ahd.  lä^an  findet  sich  ein  Part,  nur  vereinzelt;  nicht 
selten,  auch  in  originaler  Rede,  bei  tuon,  gituon-,  öfter  jedoch 
auch  bei  diesen  der  Infinitiv,  und  der  Inf.  stellt  sich  dann  später 
im  Mhd.  auch  bei  machen,  schaffen,  vrumen  ein.  Erhalten  hat  er 
sich  nur  bei  machen,  z.  B,  er  macht  viel  von  sich  reden\  das  macht 
mich  lachen,  und  selbst  bei  diesem  Wort  klingt  er  uns  meistens 
einigermassen  fremd.  Vielleicht  steht  die  jetzige  Konstruktion,  ob- 
wohl in  altem  Boden  wurzelnd,  doch  unter  französischem  Einfluss 
[tun  ist  auf  den  auxiliaren  Gebrauch  beschränkt;  s.  §  61,  8).  — 
Jung,  auf  dem  Verfall  des  Partizipiums  beruhend,  ist  der  In- 
finitiv bei  h ab 6  71  (z.  B.  Er  hat  eine  Feder  am  Hut  stecken) 
und  einigen  andern  transitiven  Verben,  bei  denen  er  nicht 
durchgedrungen  ist.     Gr.  4,  627  f.     Bech  S.  102  f. 

5.  Wo  der  Infinitiv  neben  intransitiven  Verben  für  das 
Partizipium  eintritt,  ist  er  wohl  überall  auf  die  Verstümmelung 
des  Part,  zurückzuführen.  Eine  stattliche  Reihe  solcher  Ver- 
bindungen zählt  Bech  ZfdW.  1,  88  ff.  auf,  nur  wenige  haben 
sich  erhalten.  Die  weiteste  Verbreitung  hat  der  Infinitiv 
neben  werden  gefunden,  in  dem  umschreibenden  Futurum 
(§  92).  Formelhaft  beschränkt  sind  die  Infinitivverbindungen 
mit  bleiben]  wir  sagen  sitzen,  stehen,  liegen,  stecken,  haften. 


§  61.]         Partizipium  Präteriti.     Konkurrenz  des  Infinitivs.  111 

Tdehen  bleiben,  aber  nicht  essen,  trinken,  schlafen  bleiben. 
Sonst  gilt  er  nur  noch  in  einzehien  Redensarten,  wie  betteln 
gehn,  spazieren  gehen,  fahren,  reiten.  Ungewöhnlich:  Der  Her- 
zog Milan  schlafen  lag  in  einer  Eiche  Schatten  (ühland);  anders 
schlafen  gehen  s.  §  63,  7). 

Anm.  1.  Bemerkenswert  ist,  dass  im  Got.  zwar  heilan  und 
gaandjan  mit  dem  Part,  verbunden  sind,  das  synonyme  siveiban 
aber  Lc.  7,45  mit  dem  Infinitiv:  ni  swaif  bikukjan  fötuns  meinans 
(oö  bieXeiirev  KaTaqpiXoOaa) ;  vgl.  duginnan  und  anastödjan  c,  Inf. 
und  Gering  ZfdPh.  5,  429. 

6.  Mannigfaltiger  sind  die  Verbindungen,  in  denen  ein 
Part.  Prät.,  das  als  Subjekt  oder  Objekt  aufgefasst  werden 
kann,  aufgegeben  und  durch  den  Infinitiv  ersetzt  ist.  Parti- 
zipium und  Infinitiv  sind  nicht  gleichbedeutend;  jenes  be- 
zeichnet die  Handlung  als  abgeschlossen,  dieser  als  unvollendet. 
Zuweilen  sind  beide  Auffassungen  und  demgemäss  auch  jetzt 
noch  beide  Formen  gestattet.  So  bei  heissen  und  nennen : 
Das  heisst,  nenne  ich  gearbeitet  oder  arbeiten.  Dann  in 
Sätzen,  in  denen  das  Part,  den  Charakter  eines  unvollkommenen 
Satzes  hat:  Frisch  gewagt  ist  halb  gewonnen.  Aufgeschoben 
ist  nicht  aufgehoben.  (Nur  der  formelhafte  Charakter  hindert 
hier  die  Umsetzung  in  den  Infinitiv.)  Auch  mit  abhängigem 
Akkusativ,  der  deutlich  auf  den  elliptischen  Gebrauch  des 
Part,  hinweist:  Das  Messe  den  BocJc  zum  Gärtner  gesetzt, 
Gut  vei'loren  etwas  verloren,  Ehre  verlor eii  viel  verloren, 
Mut  verloren  alles  verloren.  (Gr.  4,  127.  129.  1256.  ßlatz 
2,623)1). 

7.  Aufgegeben  ist  das  Part,  als  Subjekt  neben  Aus- 
drücken wie  ist  gut,  leicht,  schwer,  lieb,  nützlich,  neben  sollen, 
taugen,  helfen'.^  z.  B.  Herb.  4141  loa^  sol  lenger  hie  gelegen  wozu 
soll  man  hier  länger  liegen.  Wig.  74,  20  ica;^  touc  nü  m^r  davon 
geseit.  Iw.  4711  da^  ist  also  guot  vermiten  es  wäre  ebenso  gut, 
dies  zu  vermeiden.  Trist.  148,  37  da^  in  vil  sivcere  was  vernomen. 
292,  30  da;^  mir  lieber  ivcBre  der  truhsce^e  ze  manne  genomen  wenn 
ich  nähme.  Walther  106, 6  wa^  sol  diu  rede  bescfioenet.  MSH, 
2,  214 1>  7iiht  hilf  et   al  der  werkte  hört  gekoufet  es  hilft  nichts  .  .  zu 


1)  Doppelte  Konstruktion,  Part.  Prät.  und  passivischer  Inf., 
mit  merklich  verschiedenem  Sinn  bei  sehen  :  ich  sah  ihn  gebunden, 
ihn  binden.    Part,  und  Inf.  dienen  hier  der  Tempusunterscheidung. 


112  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  61. 

kaufen,  dass  oder  wenn  man  kauft.  Auch  jetzt  noch:  Das  ist  leicht 
gesagt^  leicht  getan,  wo  wir  freilich  dazu  neigen  leicht  als  Adverb 
zu  fassen  (vgl.  das  ist  bald  gesagt  und  Gr.  4, 129).  —  Seltener  als 
Objekt:  Wh.  67,  10  wa^  loolt  ich  swerts  umb  dich  gegart.  MSH. 
3,65  b  nü  hän  ich  oft  hört  gesaget.  Wh.  275,8  die^  im  da  heten 
lä^en  üf  der  tavelen  gestanden,  hatten  stehen  lassen.  Wolfdietrich  D 
VIII,  70  schcene  frouwe^  hetstu  dir  geholfen  län,  hättest  du  dir  helfen 
lassen  1).  Auffallender,  weil  neben  dem  Part,  das  handelnde  Subjekt 
steht.  Nib.  585,  6  ob  in  diu  edele  vrouive  het  lä^en  da^  getan,  wenn 
sie  ihn  das  hätte  tun  lassen.  Der  Grund^  dass  in  solchen  Ver- 
bindungen das  Part,  aufgegeben  ist,  liegt  darin,  dass  wir 
durch  das  Part.  Prät.  nicht  nur  eine  vollendete,  sondern  zu- 
gleich eine  der  Vergangenheit  angehörige  Handlung  zu  be- 
zeichnen pflegen  (§  57).  Wo  der  Zusammenhang  diese  Be- 
deutung verlangt,  lässt  es  sich  nicht  durch  den  Inf.  ersetzen; 
z.  B.  MF.  137,3  wa^  sol  daß  golt  begraben  bedeutet  nicht: 
w^as  nützt  es  Gold  zu  begraben,  sondern  v^as  nützt  begrabenes 
Gold,  Gold,  w^enn  es  begraben  ist.  Ebenso:  Das  wäre  eben 
so  gut  unterblieben,  besser  verschioiegen  u.  ä. 

8.  Auch  neben  tuon  {machen,  frumen,  schaffen)  begeg- 
net einigemal  schon  im  Ahd.,  oft  im  Mhd.  ein  Part.  Prät.,  das 
später  durch  den  Infinitiv  ersetzt  w^ird^).  Doch  wird  diese 
Verbindung,  in  der  tun  zu  einem  inhaltsleeren  Auxiliare  wird, 
jetzt  in  der  Schriftsprache  im  allgemeinen  vermieden;  wir 
brauchen  das  blosse  Verbum;  z.  B.  Trist.  274,  7  ich  tuon  7iäch  iu 
gesant  ich  sende  nach  euch.  MSH.  1, 357^  wer  tuot  seiiden  man 
von  sorge  erlöst.  Parz.  26,  30  si  iccenent,  da^  i'n  schlief  erslagen. 
Nur  wenn  wir,  um  das  Verbum  hervorzuheben,  den  Infinitiv 
an  die  Spitze  des  Satzes  stellen  oder  mit  nichts  als  verbinden, 
verzichten  wir  ungern  auf  die  Umschreibung:  Schwätzen  tut 
er.  Er  tut  nichts  als  schwätze7i;  selbst  bei  Verben,  die  gar 
kein  tun  bezeichnen:  Schlafen  tut  er.  Regnen  tut's.  Auch 
in  Gedichten  im  Volkston,  namentlich  die  Form  tat  =  mhd. 
tete\  z.  B.  er  tat  sie  freundlich  grüssen  (§  33,  8). 

1)  Vgl.  auch  Sätze  in  denen  ein  Adjektivum  neben  lä^en  steht; 
z.  B.  0.  3,24,21  ni  lä^  thir  i^  ser.  5,8,32  in  muate  lä^  thir  i^ 
heiQ.  Parz.  159,  2  lä^  dir  min  laster  leit.  Der  abhängige  Dativ 
zeigt,  dass  diese  Verbindungen  au.f  Ellipse  von  sin  beruhen. 

2)  Gr.  4. 127  f.  94  f.     Wunderlich  1, 167  f. 


§  62.  Infinitiv.  113 

Anm.  2.  Das  auxiliare  tuon  mit  dem  Inf.  ist  im  guten  Mhd. 
noch  selten;  z.B.  Walther  6,2  da;^  si  uns  tuon  hewarn  (vgl.  §69 
Anm.).  Auch  Luther  braucht  es  nicht.  Aber  andere  bedienen  sich 
seiner  gern,  so  schon  um  1400  Hugo  von  Montfort  (AfdA.  24,  209). 
Im  17.  Jh.  verspottet  es  A.  Gryphius  (Heyse  1,  780).  Sehr  beliebt 
ist  die  Konstruktion  im  Mnl.  und  im  Engl.,  dem  Ags.  aber  ebenso 
fremd  wie  dem  Ahd. 

9.  Besonders  zu  erwähnen  sind  auch  hier  die  mit  un- 
zusammengesetzten  Partizipia.  Sie  behaupten  sich  bei  lassen 
und  bleiben:  ungestraft,  unbelohnt,  unerwähnt,  unberücksichtigt 
lassen  oder  bleiben,  jedoch  nur,  wenn  sie  sich  in  passivem 
Sinn  prädikativ  auf  das  Objekt  oder  Subjekt  beziehen  lassen. 
Also  wohl  in  Sätzen  wie  0.  2,  A,  9  er  tliär  niheina  stigilla  ni  firlia^ 
ouh  unfirslagana.  Bit,  1300  der  helt  lie^  ungezürnet  daQ\  aber  nicht 
in  solchen,  wo  sie  aktive  Bedeutung  haben  (§59,4);  auch  nicht  in 
solchen,  wo  sie,  wenn  man  sie  mit  Paul  §  291  passivisch  oder  neu- 
tral fasst,  nicht  prädikativ  sondern  absolut  stehen;  z.  B.  Walther 
96,  20  dem  ungedienet  ie  vil  wol  gelanc  (ohne  dass  gedient  war  od. 
ohne  dass  er  gedient  hatte),  j.  Tit.  5189  ungevräget  bin  ich  von 
dannen  gescheiden  (ohne  dass  eine  Frage  stattgefunden  hatte  od. 
ohne  dass  Ich  gefragt  hatte),  oder  endlich  in  solchen,  wo  sie  selbst 
die  Stelle  des  Objekts  einnehmen  MF.  205^  8  ich  wil  ir  ungevluochet 
län ;  208,  3  si  wil  mir  ungelönet  lau. 

Infinitiv^). 

62.  1.  Infinitive  werden  in  den  germanischen  Sprachen 
nur  zum  Präsensstamme  gebildet  und  von  uns  als  aktivische 
Präsensformen  empfunden.  Ursprünglich  aber  hatten  sie  wie 
andere  Nomina  aktionis  kein  bestimmtes  Verhältnis  zum  Genus 
und  Tempus  Verbi;  erst  dadurch,  dass  wie  zum  Verbum  finitum 
auch  zu  ihnen  zusammengesetzte  Formen  gebildet  wurden 
{finden,  gefunden  haben,  gefunden  werden  etc.),  ist  ihre  Be- 


1)  Gr.  4,  90-124.  Wunderlich  1,  378-384.  Bernhardt,  Gr. 
§  186-191.  Paul  §  293—300.  Blatz  2,547-597.  -  Köhler,  der  syn- 
taktische Gebrauch  des  Infinitivs  im  Gotischen.  Germ.  12, 421  ff. 
A.  Denecke,  Der  Gebrauch  des  Infinitivs  bei  den  ahd.  Übersetzern 
des  8.  und  9.  Jh.  Lpz.  1881  (Diss.).  S.  vonMonsterberg-Münckenau, 
Der  Infinitiv  in  den  Epen  Hartmanns  von  Aue.  Breslau  1885.  Ders., 
Der  Inf.  nach  neuen  und  den  Präterito-Präsentia  in  den  Epen 
Hartmanns.    ZfdPh.  18,  1  f.  144  f.  301  f. 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  IIl.  8 


114  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  63. 

deutung-  bestimmter  g-eworden  (§  87  ff.).  —  Die  ostgermanischen 
Sprachen  besitzen  nur  den  mit  dem  Suffix  -{o)no-  gebildeten 
Infinitiv,  der  seiner  Form  nach  als  Akkusativ  anzusehen  ist; 
die  westgermanischen  haben  daneben  einen  durch  ^o-Suffix 
erweiterten  Stamm,  von  dem  ein  Dativ  und  Genitiv  gebildet 
werden  (§  7).  Doch  ist  der  Genitiv  verhältnismässig  selten 
und  neigt  von  jeher  zu  substantivischer  Bedeutung  (vgl.  §  69,  5 
und  II  §  303,  3).  Verbale  Kraft  und  Lebendigkeit  zeigen  nur 
die  beiden  anderen  sehr  oft  gebrauchten  Infinitivformen. 

2.  In  der  Regel  dient  der  Infinitiv  wie  die  Casus  obliqui 
zur  Ergänzung  oder  näheren  Bestimmung  eines  andern  Wortes, 
besonders  des  Verb,  finitum  und  dieser  Gebrauch  ist  für  die 
germanischen  Sprachen  als  der  ursprüngliche  anzusehen.  Die 
Verwendung,  die  er  als  Prädikat  an  Stelle  des  Verb.  fin. 
findet,  beruht,  obwohl  Ähnliches  schon  in  der  idg.  Ursprache 
vorkam  (Delb.  4,453),  auf  jüngerer  Entwickelung  und  kommt 
hier  nicht  in  Betracht. 

3.  Mit  dem  regierenden  Wort  wird  der  Infinitiv  ent- 
weder unmittelbar  verbunden  oder  durch  eine  Präposition  (im 
An.  at,  im  Got.  du,  in  den  westgermanischen  Sprachen  zu). 
Die  ostgermanischen  Sprachen  müssen  in  beiden  Fällen  die 
mit  dem  Suffix  -{p)no-  gebildete  Infinitivform  brauchen,  die 
westgermanischen  lassen  auf  die  Präposition  den  Dativ  der 
mit  *o -Suffix  erweiterten  Form  folgen  (Gerundium). 

63.  1.  Das  Gebiet  des  blossen  Infinitivs  war  in  den  ger- 
manischen Sprachen  nicht  klein  und  erhielt  durch  das  Zurück- 
weichen des  Partizipiums  noch  einigen  Zuwachs  (§  61).  Stärker 
aber  war  dieEinbusse,  die  er  durch  das  Vordringen  konkurrierender 
Konstruktionen  erfuhr,  namentlich  durch  den  Infinitiv  mit  zu, 
der  jetzt  fast  überall  gilt,  wo  früher  der  blosse  Infinitiv  ge- 
braucht werden  konnte.  Ob  dieser  sich  behauptet  hat,  hängt 
wesentlich  von  dem  Verhältnis  seines  Subjekts  zum  regierenden 
Satz  ab;  unter  diesem  Gesichtspunkt  sind  also  die  Änderungen 
des  Sprachgebrauchs  zu  verfolgen. 

2,  Am  besten  hat  der  Infinitiv  stand  gehalten,  wenn  sein 
Subjekt  zugleich  Subjekt  des  regierenden  Satzes  ist.     Gewöhn- 


§  63.]  Der  blosse  Infinitiv.  115 

lieh  hängt  er  von  einem  Verbum  ab,  dem  er  sich  bald  enger 
anschliesst,  wie  ein  ergänzendes  Objekt,  bald  loser,  wie  eine 
adverbiale  Bestimmung.  Als  Ergänzung  erscheint  der  In- 
finitiv z.  B.  neben  g.  mag,  skal,  parf  ich  habe  nötig  (e'xuu 
dvcxYKriv) ;  imljan,  loaljan,  frijön^  sökjan,  ganiman  lernen,  us- 
daudjan  sich  beeifern,  hiarhaidjan  nach  etwas  streben,  mia- 
nanpjan  sich  erkühnen;  munan,  ög,  wenjan,  galaubjan,  pugk- 
jan,  wait  verstehen  (1  Thess.  4,  4),  wissen  (Lc.  4,  41),  ufarmunön 
vergessen  (Mc.  8,14),  galiaitan  versprechen;  duginnmi^  du- 
stödjan  anfangen,  sweiban  aufhören  (§  61  Anm.  1);  ebenso  nach 
den  Reflexiven  laisjan  sik  lernen  (1  Tim.  b,  13),  skaman  siJc 
(Lc.  16,  3).  Die  meisten  dieser  Verba  bezeichnen  die  Richtung 
auf  eine  Tätigkeit,  so  dass  der  Infinitiv  nicht  auf  eine  Tat- 
sache, sondern  auf  etwas  Vorgestelltes,  Zukünftiges  hinweist. 
In  diesem  Sinne  wird  er  auch  bei  haban  gebraucht;  Lc.  14, 14  ni 
liaband  usgildan  pus^  öuk  ^xo^'^i'^  dvTaTroboOvai  aoi;  das  Verbum  dient 
im  Gotischen  sogar  zur  Futururaschreibung  (§  91). 

3.  Dem  Wert  einer  adverbialen  Bestimmung  des 
Zieles  steht  der  Infinitiv  näher  bei  den  Verben  der  Bewegung: 
g.  qiman,  gaggan,  galeipan,  urrinna7i,  sniioan  eilen  (1  Kor- 
9,25),  faursniwan  (Mc.  14,8),  sniumjan  (1  Thess.  2,  17).  In 
demselben  Sinne  bei  insaihan  (Lc.  1,  25),  atsaihan  (Mt.  6,  1), 
gaweisön  besuchen  (Lc.  1,  78). 

4.  Ähnliche  Bedeutung  und  Mannigfaltigkeit  zeigen  die 
Verba,  die  im  Deutschen  den  blossen  Infinitiv  regiereu.  Manche, 
die  das  Gotische  besitzt,  fehlen  natürlich,  andere  treten  dafür 
ein,  z.  B.  gerön  begehren,  zilön  streben,  ilen  eilen,  denken, 
gedenken,  lernen^  trüwen  getrauen,  mhd.  geniochen,  swern, 
geloben,  pflegen.  Bei  manchen  mag  es  Zufall  sein,  dass  sie 
im  Gotischen  nicht  mit  dem  Infinitiv  belegt  sind  z.  B.  bei 
gadars\  bei  andern  hängt  es  offenbar  mit  der  Bedeutung  zu- 
sammen, g.  hann  ich  weiss,  kenne,  erkenne  regiert  keinen  Infini- 
tiv, wohl  aber  ahd.  Uan  in  der  Bedeutung  zu  etwas  befähigt  sein; 
doch  ist  auch  im  Ahd.  der  Infinitiv  zunächst  noch  selten,  bei  Otfried 
begegnet  er  nur  zweimal  nach  negiertem  Ican:  1,1,120  ist  ther  fir- 
neman  zj  ni  kunni.  4,5,10  ni  kan  inan  bimtdan^).  g".  gamöt  ich 
finde  Platz  ist  nicht  geeignet,  den  Infinitiv  zu  regieren,  wohl  aber 

1)  OS.  II  S.  202;  vgl.  Kahl,  ZfdPh.  22,11  f. 


116  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  63. 

ahd.  muo^   in    der    abgeleiteten  Bedeutung   'ich   bin  im  stände,    in 
der  Lage.' 

5.  Mit  einem  Inf.  des  Zieles,  wie  die  Verba  der  Be- 
wegung, wird  im  Ahd.  stantan  sich  stellen  verbunden,  das 
ganz  in  die  Bedeutung  "anfangen'  übergeht  (vgl.  das  verwandte 
g.  dust6djan)\  oft  bei  Otfried,  aber  auch  sonst,  z.  B.  Hild.  8 
fragen  gistuont.  Selbst  bei  wesan  braucht  0.  einmal  den  Inf.  in 
diesem  Sinne  2, 14, 100  si  wärun  in  thero  bürg,  koufen  iro  nötdurf 
(OS.  1  §  335). 

Anm.  Zum  Teil  treten  die  regierenden  Verba  so  sehr  hinter  den 
abhängigen  zurück,  dass  sie  als  Hülfsverba  erscheinen;  als  Hülfsverba 
des  Tempus  (§91),  od^v^-Q^Modus  {können,  mögen,  sollen  qIq.  §112),  oder 
der  Aktionsart  (g.  dugmnan,  ahd.  biginnan,  girätan,  gistantan  etc.). 

6.  Konkurrenz  des  Inf.  mit  zu  ist  bei  manchen  Verben 
früh  wahrnehmbar  (§  70),  und  im  Hochdeutschen  schwin- 
det allmählich  der  Unterschied,  der  ursprünglich  zwischen 
beiden  Konstruktionen  bestand.  Bei  biginnan,  denken,  gerön,  gan- 
gan,  queman  begegnet  schon  im  Ahd.  statt  des  blossen  Infinitivs 
auch  der  präpositionale,  im  Mhd,  auch  bei  geruochen,  pflegen,  tlen 
u.  a.  (Gr.  4,  108.  Blatz  2,  581  f.).  Zuweilen  stehen  beide  Formen 
nebeneinander  (§  70,5).  Im  Nhd.  verlangen  die  meisten  Verba, 
die  in  der  älteren  Sprache  den  blossen  Inf.  regieren  konnten, 
oder  würden  haben  regieren  können,  wenn  sie  die  jetzige  Be- 
deutung gehabt  hätten,  die  Präposition;  so  suchen,  begehren, 
wünschen,  lieben,  pflegen,  wagen,  streben',  kommefi,  eilen-,  scheinen 
(erst  nhd.),  meinen,  wähnen,  denken,  glauben,  wissen,  vergessen; 
hoffen,  fürchten',  versprechen,  geloben,  leugnen',  haben  [er  hat  zu  tun), 
anfangen,  unternehmen,  untei'lassen,  aufhören-,  sich  beeifern,  sich 
getrauen,  sich  schämen  u.  a. 

7.  Nur  bei  wenigen  hat  sich  der  blosse  Infinitiv  be- 
hauptet:  bei  den  Prät. -Präsentia  ausser  wissen,  also  bei  mögeriy 
Icönnen,  dürfen,  sollen,  müssen  und  bei  wollen  und  lernen] 
doch  verbinden  wir  lernen  mit  dem  Inf.  mit  zu,  wenn  nicht  das 
Objekt,  sondern  das  Ziel  des  Lernens  bezeichnet  werden  soll;  z.B. 
Ich  habe  ohne  dich  zu  leben  noch  nicht  gelernt  (vgl.  helfen  §  64,  2). 
V^eniger  üblich  und  formelhaft  beschränkt  ist  der  Infinitiv  bei 
den  Verben  der  Bewegung,  am  häufigsten  noch  bei  gehen: 
schlafen,  baden  gehen,  auch  einJcaufen  g.  u.  ä.  In  demselben 
Sinne  bei  sein  in  Verbindungen  wie :  er  ist  baden,  Schlittschuh 
laufen,    wo    man   jedoch    leicht   das   Part,    gegangen    ergänzt 


§  64.]  Der  blosse  Infinitiv.  117 

(§  92,  1).  Dazu  kommen  dann  noch  einige  Verba,  in  denen 
der  Infinitiv  für  das  Part,  eingetreten  ist  oder  im  Sinne  eines 
Part,  gebraucht  wird  (§  61). 

8.  Infinitive,  die  von  einem  Nomen  abhängen  und  das- 
selbe Subjekt  haben  wie  der  regierende  Satz,  begegnen  im 
Gotischen  hin  und  wieder;  z.  B.  Mt.  27, 15  biühts  was  fraletan, 
eiuOGei  dTioAueiv,  ebenso  bei  mahteigs  ist  2  Kor.  9,  8;  manwus  im 
2  Kor.  12,14;  gawilja  ist  1  Kor.  7,13;  oft  bei  skulds  ist  bei,  |ue\\ei 
(§  87,  2).  Neben  einem  Substantivum  z.  B.  Jh.  19, 10  waldufni  aih 
ushi'amjan  puk,  eEouaiav  ^iy^yu  öxaupOüaai  öe;  ebenso  bei  lustu  hahan 
Phil.  1,  23,  überall  in  Übereinstimmung  mit  dem  griechischen 
Original.  Im  Ahd.  sind  solche  Verbindungen  sehr  selten,  selbst 
bei  den  Übersetzern  (Gr.  4,  102).  Nur  neben  giwon  ist  scheint 
der  blosse  Infinitiv  geläufig;  dafür  bietet  auch  Otfried  zwei 
Beispiele  (1,17,43.  4,16,10).  Sonst  wird  der  Inf.  mit  zn 
gebraucht;  z.B.  Tat.  c.  197,8  ih  haben  giwalt  thih  zi  irhähanne, 
potestatem  habeo  crucifigere  te;  auch  neben  giwon,  z.  B.  Tat.  c. 
199, 1  was  giwon  ther  grdvo  zi  forlä^^anne,  consuerat  praeses  dimittere 
(g.  biühts  was  fraletan).  Später  gilt  überall  der  präpositionale  In- 
finitiv (§  70,  4).  —  Über  du  hast  gut  reden  s.  Gr.  4, 102. 

64.  Wenn  der  Infinitiv  ein  anderes  Subjekt  hat  als 
der  regierende  Satz,  so  kann  es  entweder  in  einem  Dativ  oder 
Akkusativ  ausgedrückt  werden  oder  es  kann  unbezeichnet 
bleiben. 

1.  Der  Dativ  lässt  sich  überall  als  abhängig  von  dem 
regierenden  Prädikat  auffassen;  so  bei  g.  uslaubjan  erlauben, 
anabiudan  gebieten,  qipan  und  meljan  (im  Sinne  von  befehlen), 
gihan  (z.  B.  Mc.  15,  23  gebun  imma  driglian  wein;  Rom.  15,  5 
gibai  izwis  pata  samö  frapjan).  Ferner  neben  einigen  un- 
persönlichen Ausdrücken,  wo  dann  der  Infinitiv  als  Subjekt 
erscheint,  bei  galeikan  gefallen  (Lc.  1,3  galelkaida  jah  mis 
meljan,  eboSe  Kdjuoi  ypdqpeiv),  öfters  bei  wairpan  (z.  B.  Mc. 
2,  23  jah  warp  pairhgaggan  imma  pairh  atisl{,  Kai  eYeveio 
TrapairopeueaGai  auxov),  bei  passivisch  gebrauchten  Transitivis, 
wie  Mc.  4,  11  izwis  atgiban  ist  Jcunnan  rüna  u)nTv  beborai 
TViuvai  TÖ  luucfTripiov,  und  namentlich  bei  nominalen  Prädikaten : 
Mc.  9,  5  göp  ist  iinsis  her  wisan,  KaXöv  ecriiv  f|juä(;  ujbe  eivai. 


118  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  65. 

Lc.  18,  25  rapizö  ist  ulbandau  pairh  pairkö  neplös  pairhga- 
leipan,  euKOTTUiiepov  ecriiv  Kd|ur|\ov  .  .  bieXGeiv;  und  nach  einem 
Substantiv  Rom.  13,  11  mel  ist  uns  urreisan  ujpa  fijLiä(^ 
eYepOrjvai. 

2.  Auch  im  Hochdeutschen  finden  sich  solche  Kon- 
struktionen, aber  überall  gilt  schon  im  Ahd.  neben  dem  blossen 
Infinitiv  der  Inf.  mit  zu.  So  bei  gibiotan,  gehan,  Mlfariy 
rätan,  den  unpersönlichen  ist  irloubit,  gilimphit  oportet,  licet 
und  namentlich  bei  Nominibus;  z.B.  Tat.  c.  91.2  guot  ist 
uns  Tiir  zi  wesanne  (§  70,  3). 

3.  Jetzt  wird  bei  Verben  wie  erlauben,  gestatten,  be- 
fehlen, raten,  gebieten,  geben  {zu  essen,  zu  tr.  geben),  mir 
gefällt,  geMhrt,  ziemt,  genügt:^  mir  ist  gut,  nützlich,  leicht, 
schwer  u.  ä.  immer  der  Infinitiv  mit  zu  oder  ein  Satz  mit 
dass  gebraucht.  Nur  bei  helfen  hat  sich  der  blosse  Inf.  neben 
dem  Inf.  mit  zu  mit  ähnlicher  Unterscheidung  wie  bei  lernen  (§  63,  7) 
gehalten;  der  blosse  Inf.  bezeichnet  das  Objekt,  der  Inf.  mit  zu  das 
Ziel;  vgl.  er  half  mir  arbeiten  (bei  der  Arbeit);  er  half  ihm  (ver- 
half ihm  dazu)  sich  tvieder  zurecht  zu  finden. 

Qb.  1.  Wie  der  Dativ  so  lässt  sich  neben  manchen  In- 
finitiven auch  der  Akkusativ  als  Objekt  des  regierenden 
Verbums  auffassen,  so  bei  bidjan,  baidjan  zwingen,  insand- 
jan,  laisjan  lehren,  galatjan  und  warjan  hindern,  afhug- 
Jan  betören,  gasaihan,  dömjan  beurteilen,  afaikan  leugnen; 
z.  B.  1  Kor.  1, 17  insandida  7nik  daupjan.  Gal.  3, 1  hicas  izwis 
afhugida  sunjai  ni  ufhausjan.  Gal.  5,  7  has  izwis  galatida  sunjai 
ni  ufhausjan.  Mc.  1.*^,  29  gasaihip  pata  wairpan  TaÖTa  ^\v6\x^va. 
Phil.  3, 8  all  dömja  sleipa  tvisan,  riYo^iiiai  Trdvxa  Zrijuiav  etvai.  Gal. 
2, 14  haiwa  piudös  baideis  judaiwiskön  muc;  Tct  g9vr|  dvaTKd^eic; 
ioubaiZieiv,  oder  passivisch,  wo  dann  natürlich  für  den  Akk.  der 
Nom.  eintritt  Gal.  2,  3  baidips  was  bimaitan  r\va-^K6.oQr\  7repiT|uri0f|vai. 

2.  Aber  dies  Doppel  Verhältnis  findet  nicht  überall  statt; 
wir  finden  Akkusative,  die  nicht  als  Objekt  des  regierenden 
Verbums  angesehen  werden  können,  taujan  und  waurJcjan 
z.  B.  sind  transitive  Verba,  aber  in  Sätzen  wie  Mc.  7, 37 
baudans  gataujip  hausjan  und  Jh.  6,  10  waurheip  pans  mans 
anaJcumbjan  bezeichnen  nicht  die  Akkusative  das  eigentliche 
Objekt  (nicht  Taube  und  Menschen  werden  gemacht),  sondern 
die  Infinitive   hausjan   und  anakumbjan\    die  Akkusative  be- 


§  65.]  Akk.  c.  Infinitiv.  119 

zeichnen  das  Subjekt  der  Infinitive.  Ebenso  ist  das  Doppel- 
verhältnis gelöst  Phil.  2,  26  Tiausidedup  ina  siuJcan,  auTÖv 
^a0r|Kevai;  Mt.  8,  18  haihait  galeipan  sipönjans  seinans  hin- 
dar  mar  ein]  denn  in  dem  Sinne,  in  dem  hier  hausjan  und 
haitan  gebraucht  sind,  könnten  sie  einen  persönlichen  Akku- 
sativ nicht  regieren;  ähnlich  bei  letan  und  fraletan.  Hier 
haben  wir  also  die  Konstruktion,  die  man  als  Akk.  c.  Inf.  zu 
bezeichnen  pflegt.  So  ist  auch  2  Kor.  6,  1  zu  beurteilen:  bidjan- 
dans  ni  sware  anst  gudis  niman  izwis\  denn  wenn  man  hier  auch 
izwis  als  Objekt  zu  hidjandans  nehmen  könnte,  so  zeigt  doch  die 
Wortstellung,  dass  es  nicht  so  aufgefasst  wurde. 

3.  Solche  Akk.  c.  Inf.  finden  sich  ferner  bei  qipan, 
wiljan,  sökjan,  munan,  loenjan,  rahnjaiiy  hugjmi,  galauhjan 
(nur  Lc.  20,6),  witan  (nur  Lc.  4,41);  einmal  auch  neben 
anahiudanj  das  sonst  den  Dat.  regiert:  1  Tim.  6,13  ana- 
hiuda  .  .  fastan  puk  pö  ancdmsn^  TrapaYfeWuu  .  .  xripficrai  (Je 
i\\v  evTo\r|v.  —  Dass  diese  Konstruktion  dem  Goten  nicht 
ungeläufig  w^ar,  zeigt  sich  namentlich  darin,  dass  er  zuweilen 
sogar,  wenn  das  regierende  Verbum  und  der  Infinitiv  dasselbe 
Subjekt  haben,  ohne  Not  und  abweichend  vom  Griechischen 
dem  Infinitiv  das  Fron.  refl.  als  Subjekt  hinzufügt;  z.  B. 
1  Kor.  16,  7  wenja  mik  saljan,  eXniloj  eTrijueivai  (vgl.  1.  spero 
me  manere)\  ebenso  bei  munan.  sökjan,  rahnjan. 

4.  Fast  immer  aber  hängt  der  gotische  Akk.  c.  Inf.  von 
einem  persönlichen  aktiven  Verbum  ab;  neben  unpersönlichen 
Ausdrücken  begegnet  er  ganz  selten  (Beruh.  §  189),  und  war 
der  gotischen  Sprache  offenbar  nicht  gemäss.  Dies  zeigt  sich 
darin,  dass,  wenn  der  Infinitiv  von  dem  unpersönlichen  warp 
es  begab  sich  und  von  adjektivischen  Prädikaten  abhängt, 
der  griechische  Akkusativ  durch  einen  der  Satzkonstruktion 
sich  einfügenden  Dativ  ersetzt  wird  (Beispiele  in  §  64,  1). 
Vereinzelte  Ausnahmen  sind  z.  B.  Lc.  4,  36  ivarp  afslaupnan  allans, 
eTevexo  edjußoc;  eiri  irdvTac;,  wo  vielleicht  ana  vor  allans  ausgefallen 
ist,  und  Lc.  16,  17  azetizö  ist  himin  jah  airpa  hindarleipari  pau  wi- 
tödis  ainana  ivrit  gadriusan,  wo  die  unpersönlichen  Subjekte  dem 
Dativ  widerstanden. 

Anm.  Als  Nachahmung  griechischer  Weise  sieht  man  den 
Akk.  c.  Inf.  an,    der   wie   nach  gr.  oiaxe   nicht   selten  nach  siüaswS 


120  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  66. 

swaei,  sive,  gebrauciit  wird  (Bernh.  §  191  und  zu  Mc.  4, 1;  vgl.  jedoch 
Mourek  §  159). 

6Q.  1.  In  ähnlicher  Freiheit  wie  die  gotische  Über- 
setzung lässt  die  an.  Poesie  und  Prosa  den  Akk.  c.  Inf.  zu; 
sehr  beschränkt  dagegen  ist  sein  Gebrauch  im  As.  und  Ags. 
(Gr.  4,  120).  Wie  weit  er  im  Hochdeutschen  heimisch  war, 
ist  schwer  zu  erkennen,  weil  die  einzelnen  Denkmäler  stark 
von  einander  abweichen.  Otfried  zeigt  ihn  nur  bei  wenigen 
Verben  und  nur  bei  solchen,  die  auch  ohne  Beifügung  des 
Inf.  einen  Akk.  gestatten  (OS.  1  §  338) ;  bei  einigen  Verben 
der  Willensäusserung:  lä^an,  hei^an  und  hitten^  denen  sich 
senten  anschliesst,  bei  den  Verben  sehan  und  hören  und  je 
einmal  bei  irkennen  und  dem  unpersönlichen  mih  güustit: 
3,  14,  36  ih  irJcanta  .  .  thia  kraft  Mar  faran  fona  mir\  1,  1,  10 
then  lesan  ij  gilusti.  Sehr  zahlreich  dagegen  sind  die  Akk. 
c.  Inf.  bei  Notker.  Er  braucht  die  Konstruktion  nicht  nur 
neben  gituon  und  vielen  Verben  der  Willensäusserung,  der 
Wahrnehmung,  des  Denkens  und  des  Affektes,  sondern  auch 
nach  Verben  der  Meinungsäusserung,  die  bei  0.  ganz  fehlen, 
nach  cheden,  sagen,  sprechen,  scriben,  lougnen,  antumrten, 
zihen,  hezeichenen,  ougen  (beweisen),  und  selbst  über  das 
Gotische  hinausgreifend  auch  oft  bei  unpersönlichen  Aus- 
drücken: i^  dunchit,  wola  skhiet,  ij  giskihit,  offen  ist,  ist 
wola  chunt,  ist  not,  sito  was  etc.  (die  Belege  OS.  1  §  344). 
'Notker  tut  unserer  Sprache  nicht  leicht  Gewalt  an'  (Gr.  4,  116)^ 
auch  braucht  er  die  Konstruktion  nicht  nur  im  Anschluss  an 
das  lateinische  Original,  'sondern  auch  frei  und  selbständig, 
wo  dieses  keinen  Anlass  dazu  bot,  am  kühnsten  in  den  Über- 
setzungen der  logischen  Schriften  des  Aristoteles'  (OS.  a.  O.), 
aber  doch  wird  man  wohl  annehmen  müssen,  dass  seine  Sprache 
und  vermutlich  auch  die  Sprache  der  gelehrten  Kreise,  denen 
er  angehörte,  unter  dem  Einfluss  des  Lateinischen  den  Ge- 
brauch der  Konstruktion  über  seine  ursprünglichen  Grenzen 
hinausgetrieben  hatte. 

2.  Auch    bei    den    mhd.    Dichtern,    die    im    ganzen    nur 
wenige  Beispiele  bieten  (vgl.  §  67,  3),  ist  lateinischer  Einfluss 


§  67.]  Akk.  c.  Infinitiv.  121 

nicht  überall  ausgeschlosseiij  z.  B.  nicht  bei  Herbort  von  Fritslar 
und  dem  Verfasser  des  Passionais.  Noch  weniger  im  Zeit- 
alter des  Humanismus,  wo  er  sich  bei  manchen  Autoren  stark 
und  bis  in  die  klassische  Literaturperiode  fortwirkend  geltend 
macht  ^).  Aber  wie  stark  auch  die  Einwirkung  der  lateinischen 
Schulsprache  gewesen  sein  mag,  so  hat  man  doch  anderseits 
zu  bedenken,  dass  auch  dem  Germanischen  von  Anfang  an 
der  Akk.  c.  Inf.  nicht  fremd  war,  und  dass  man  keinen  Grund 
hat,  für  den  ahd.  Gebrauch  so  enge  Grenzen  vorauszusetzen, 
wie  wir  im  Heliand  und  im  Ags.  finden. 

Anm.  Selbst  wo  dasselbe  Subjekt  bleibt,  steht  zuweilen,  wie 
im  Gotischen  (§65,3)  der  Akk.  c.  Inf.  Tat.  c.  230,3  wäntun  sih 
geist  gisehan  existimabant  se  spiritum  videre.  Notker  Ps.  2,  28,  30 
er  sih  saget  kot  sin,  se  deum  esse  dixit.  2,  355, 1  er  chad  sih  fluiden 
sin  herza  dixit  se  invenire ;  und  im  Mhd.  Mone  6.  408,  642  si  enpfant 
sich  in  ir  Übe  ein  kint  tragen. 

67.  1.  In  der  jetzigen  Sprache  gilt  der  Akkusativ  nur 
da,  wo  er  von  dem  regierenden  Verbum  abhängig  ist,  und 
nur  wenige  Verba  gestatten  neben  dem  abhängigen  Kasus  den 
blossen  Infinitiv,  andere  verlangen  den  Infinitiv  mit  zu,  oder 
statt  des  Infinitivs  einen  abhängigen  Satz  (§  72j.  Der  blosse 
Infinitiv  behauptet  sich  bei  lassen,  heissen,  lehren  und  im 
Sinne  eines  Part.  Präs.  (§61)  bei  sehen  und  hören,  finden, 
fühlen,  haben,  machen.  Neben  den  sechs  ersten  ist  der 
Inf.  seit  alters  üblich,  neben  fühlen,  das  sich  den  Verben  der 
Wahrnehmung  anschloss,  erst  im  Mhd.  spärlich  belegt;  über 
inachen  und  haben  s.  §61,4.  In  einzelnen  Wendungen  begeg- 
nen auch  sonst  noch  Akk.  c.  Inf.:  sich  schlafen  legen,  die  Kinder 
schlafen  legen  (vgl.  mhd.  tragen  Gr.  4,  101),  die  Kinder  schlafen 
schicken.  Bei  heissen  findet  sich  auch  der  Inf.  mit  zu,  öfter  bei 
lehren,  das  schon  im  Ahd.  mit  zi  vorkommt.  Bei  diesem  Verbum 
brauchen  wir  beide  Konstruktionen  mit  ähnlicher  Unterscheidung 
wie  bei  helfeji  (§64,3):  Er  lehrte  ihn  lesen  und  schreiben  (Objekt). 
Kr  lehrte  ihn  bescheiden  aufzutreten  (Ziel). 

2.  Der  blosse  Infinitiv  bezeichnet  die  engste  Beziehung 
zwischen  dem  regierenden  Verbum  und  dem  Infinitiv;  der  In- 

1)  Beleg-e  Gr.  4,  119.  Heyse  2,  697  f.  Kehrein,  Gram,  des 
15—17.  Jh.  II,  §  38;  vgl.  auch  §  67,  3. 


122  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  68.. 

finitiv  mit  zu  ist  da  eingetreten,  wo  die  Beziehung-  zum 
Akkusativ  enger  als  zum  Infinitiv  empfunden  wurde,  der  In- 
finitiv also  nur  nähere  Bestimmung  zu  einem  transitiven  Verbum 
war.  So  brauchen  wir  ihn  neben  hüten,  mahnen,  nötigen, 
zwingen,  schicken  und  neben  den  unpersönlichen  mich  gelüstet, 
mich  verdriesst,  wo  nach  älterem  Sprachgebrauch  der  blosse 
Infinitiv  möglich  war;  z.  B.  0.  2,  14,  109  ih  santa  iwih  arnön.  Wig. 
84, 9  diu  küniginne  bat  den  riter  mit  ir  varn.  Walther  109,  4  mich 
mant  singen  ir  vil  werder  gruo^.  Kanzler  MSH.  2,  390^  swer  iuch 
hetwunge  hin  scheiden  ü^  der  edelen  rät,  da^  wurde  im  Ithte  guot. 
Hadloub  MSH.  2,  308 1>  ticinge  si  min  noch  genäde  hdn.  Gen.  4804 
söne  lustet  micJi  mere  leben.  Anno  694  dö  bidrö^  ine  lebi^i  längere. 
Bei  manchen  kommt  auch  schon  in  der  älteren  Sprache  der  Inf. 
mit  zu  vor,  bei  ahd.  manön,  senten,  mich  lustet,  mhd.  ')nich  bedriuzet 
(Gr.  4,  108  f.). 

3.  Versagt  ist  uns  der  Infinitiv  bei  glauben,  meinen, 
denken,  wähnen,  wissen,  wenn  er  ein  anderes  Subjekt  hat. 
Ferner  bei  sagen,  mitteilen,  auch  bei  hören,  wenn  es  nicht 
die  sinnliche  Wahrnehmung  bezeichnet-,  also  in  Sätzen  wie 
0.3,14,36  ih  irkanta  thia  kraft  faran  fona  mir.  Ecke  211,4  er 
wcßnet  bi  dem  gewcefen  dtn  dich  minen  bruoder  Ecken  sin.  Gudr. 
634,  4  ich  hoere  uns  geste  binngen  (hospites  nobis  afferri).  Bit.  5164 
ich  hortin  ivol  den  ersten  sin.  7290  ja  gehörte  ich  noch  nie  m^r 
s6  manegen  edeln  wigant  durch  hoves  iver  komen  in  ein  lant.  8345 
lobt  ich  Verliesen  iuch  diu  marc,  gelobte  ich,  dass  ihr  die  Pferde 
verlieren  sollt.  Andere  ahd.  mhd.  Beispiele  Gr.  4,  116  ff.  Im  altern 
Nhd.  konnte  in  solchen  Sätzen  der  Inf.  mit  zu  stehen,  also  Akk. 
c.  Inf.  (Germ.  32,  359  f.,  Blatz  2,  582  f.),  wir  brauchen  Nebensätze 
mit  dass. 

68.  Endlich  ist  noch  des  Falles  zu  gedenken,  dass  der 
Infinitiv  zwar  ein  anderes  Subjekt  voraussetzt  als  das  regierende 
Verbum,  dieses  Subjekt  aber  nicht  ausgedrückt  ist.  Der  Ge- 
brauch des  blossen  Infinitivs  unterliegt  dann  denselben  Be- 
schränkungen, wie  wenn  es  durch  einen  Dativ  oder  Akkusativ 
bezeichnet  ist.  Der  blosse  Infinitiv  gilt  also  z.  B.  nach  hören  und 
lassen:  Er  hörte  [jemand]  klopfen,  er  Hess  [den  Kutscher]  an- 
spannen etc.  Dagegen  könnten  wir  ihn  nicht  brauchen  in  Sätzen 
wie  Lc.  16,32  faginön  skuld  tvas,  xctpfjvai  ^6ei;  Tat.  c.  69,4  oba  i^ 
irloubit  si  in  samba^tag  icola  tuon  odo  ubilo,  si  licet  sabbato  bene 
facere  an  male;  0.  3,  23, 15  si  santun  zi  Kriste,  künden  iro  ser.  Hier 


§  69.]  Substantivierter  Infinitiv.  123 

müssten  wir  den  Inf.  mit  zu  brauchen;  ebenso:  er  bat  einzutreten, 
gebot  aufzubrechen,  ich  bitte  zu  bedenken,  rate  zu  ivarten,  es  ist 
leicht  zu  sagen  etc. 

Über  die  passive  Ikdeutiing  subjektloser  Infinitive  s.  §  88. 

69.  (Substantivierter  Infinitiv.)  1.  Eine  neue  Grundlage 
gewann  der  blosse  Infinitiv  in  der  allmählich  durchdringenden 
Neigung,  den  Infinitiv  als  Substantiv  zu  gebrauchen.  Von 
Anfang  an  lässt  sich  der  Infinitiv  neben  nominalen  Prädikaten 
als  Subjekt,  öfter  neben  verbalen  als  Objekt  auffassen,  aber 
da  er  auch  in  solchen  Verbindungen  seine  verbale  Bedeutung 
behält,  bleibt  im  ganzen  der  Unterschied  zwischen  diesen  In- 
finitiven und  substantivischen  Subjekten  und  Objekten  doch 
sehr  fühlbar.  Nur  selten  verleugnet  in  der  älteren  Sprache 
der  Infinitiv  seine  verbale  Natur  und  erscheint  als  ein  gewöhn- 
liches Substantivum,  zum  Teil,  besonders  im  Gotischen,  unter 
offenbarer  Einwirkung  fremder  Originale  (II  §  303).  Uns  ist 
dagegen  der  substantivische  Gebrauch  und  die  substantivische 
Auffassung  eines  Infinitivs  ganz  geläufig,  mag  er  durch  eine 
nähere  Bestimmung  (Präposition,  Artikel,  attributives  Adjektiv, 
abhängigen  Genitiv)  als  Substantivum  gekennzeichnet  sein  oder 
nicht.  Wie  man  mit  deutlich  substantiviertem  Inf.  sagt:  Er 
unterrichtet  im  Rechnen  und  Schreiben,  so  auch:  Er  lehrt 
Rechnen  und  Schreiben. 

2.  Aber  so  deutlich  wir  im  ganzen  den  Unterschied 
zwischen  verbalem  und  substantivischem  Infinitiv  empfinden, 
so  findet  eine  scharfe  Abgrenzung  doch  nicht  statt,  und  daher 
ist  auch  schwer  zu  bestimmen,  wann  der  Einfluss  der  Sub- 
stantivierung auf  den  Gebrauch  des  Infinitivs  beginnt.  Aber 
das  ist  klar,  dass  der  substantivische  Infinitiv  in  demselben 
Masse  zunimmt,  als  der  verbale  durch  den  Infinitiv  mit  zu 
verdrängt  und  auf  wenige  Verbindungen  eingeschränkt  wird. 
Man  darf  wohl  annehmen,  dass  schon  im  Mhd.  tiberall  wo  der 
Inf.  mit  zu  dem  blossen  Infinitiv  den  Rang  streitig  macht, 
in  diesem  substantivische  Auffassung  wirksam  ist;  z.  B. 
Nib.  1145,4  so  ist  iu  alreste  von  schulden  sorgen  (ze  sorgen  A)  ge- 
schehen. Walther  124,  27  uns  ist  eidoubet  trüren  und  fröude  gar 
benomen.    Nib.   1185, 2   clagen  unde  weinen  rnir  iemer   zceme   ba^ 


124  Die  Nominalformen  des  Verbiims,  [§  69. 

123,1  ivie  zceme  uns  mit  iu  strUen\  (dagegen  A^erbal  mit  ze:  1776,2 
uns  zimet  disiu  sorge  (Subjekt!)  ensamt  ze  tragene\  2044, 1  im  zceme 
niht  ze  dagene).  Freid.  155, 19  sU  Äkers  niht  ivil  erwinden,  so  ist 
öejjer  schern  dan  schinden  (passivisch:  geschoren  zu  werden), 

3.  Wir  unterscheiden:  Es  ist  hesser  zu  heiraten  als  zu 
bremien,  und :  Heiraten  ist  besser  als  Brennen.  In  dem  ersten 
Satz  sind  die  Infinitive  Verbalformen,  in  dem  andern  neigen 
wir  zu  substantivischer  Auffassung.  Aber  schwerlich  wäre 
diese  für  das  gotische  hatizö  ist  liugan  pau  intundnan  (1  Kor. 
1,  9)  gerechtfertigt.  Eher  für  das  Mhd.  bei  H.  von  Melk  Prl. 
175  he^^er  st  gehien  danne  brinnen,  be^^er  st  toben  danne 
loinnen.  Denn  im  Mhd.  ist  substantivierter  Infinitiv  als  Sub- 
jekt auch  neben  solchen  Prädikaten  ganz  gewöhnlich,  die  auf 
einen  verbalen  Infinitiv  überhaupt  nicht  bezogen  werden  können; 
z.  B.  Walther  124, 22  tanzen  unde  singen  zergät  mit  sorgen  gar. 
28,  27  sol  liegen  witze  sin,  so  pfiegent  si  tugendelöser  witze.  Freid. 
138, 15  Bi  hunden  und  hi  katzefi  was  ie  btzen  unde  kratzen.  86,  12 
Geben  tuot  dem  milten  ba^  dan  enphähen,  wi^^et  da^.  Als  Objekt 
z.  B.  Berthold  146,  20  da^  ir  getriuweliche  machet,  niht  halbem  ver- 
stelt,  noch  ander  untriuwe  darzuo  tuot,  här  unde  wollen  mischen 
noch  zerdenen  ü^er  einarider.  529,  33  so  gtt  man  dir  dekeine  gndde, 
niwan  gelten  unde  wider  geben  nach  rehte.  Andere  ältere  und 
jüngere  Belege  bei  Blatz  2,  551  f.  554  f. 

Anm.  Auch  dem  Inf.  neben  dem  auxiliaren  tuon  (§  61  A.  2) 
lag  ursprünglich  wohl  oft  substantivische  Auffassung  zu  Grunde; 
z.  B.  Kudr.  1065,  4  klagen  si  dö  beide  von  ir  dienste  herzelichen 
täten.  1484,  2  wer  stt  ir  juncvrouwe,  diu  uns  vrägen  tuot.  Nib. 
716,4  der  ir  vil  grölen  milte  wart  in  da  danken  getan  \  (vgl,  1107,2 
dö  wart  ein  scho^ne  danken  mit  vli^e  da  getä7i,  wo  der  Artikel  und 
das  Adj.  schcene  den  Inf.  als  Subst.  charakterisieren). 

4.  Die  zwischen  Verbum  und  Substantivum  schwankende 
Doppelnatur  des  Infinitivs  gestattet  auch  bei  substantivischer 
Auffassung  die  Verbindung  mit  näheren  Bestimmungen,  die 
eigentlich  nur  dem  Verbum  zukommen  (Adverb  und  Objekt)^); 
z.  B.  Unrecht  leiden  ist  besser  als  Unrecht  tun.  Das  heisst 
nicht  Gott  vertrauen,  das  heisst  Gott  versuchen.  Und  so  auch 
früher,  z.  B.  Freid.  1, 5  Gote  dienen  äne  wanc  deist  aller 
wtsheit  anevanc.  Ja  es  finden  sich  in  der  älteren  Literatur  zu- 
weilen  Verbindungen,  die  uns   befremden:   Nib.   296,3  ir   wart  er- 

1)  Gr.  4,  716. 


§  70.]  Der  präpositionale  Infinitiv.  125 

loubet  küssen  den  wcetlichen  man.  729,  4  dö  ivart  vil  michel  grüe^en 
die  lieben  geste  {den  liehen  gesten  D)  getan.  570,  2  güetlichen  um- 
bevähen  tvas  da  vil  bereit  von  Sifrides  armen  da^  minnecliche  kint ; 
(vgl.  §  71).  —  Über  das  Pron.  refl.  neben  substantivierten  Infinitiven 
s.  II  §  303  Anm.  2. 

5.  Halb  substantivischen  Charakter  trägt  auch  der  Genitiv 
des  Infinitivs,  der  neben  dem  blossen  Infinitiv  zuweilen  von 
Wörtern  abhängt,  die  den  Genitiv  regieren;  z.B.  0.5,7,21 
mag  mich  gilusten  weinönnes.  5,  13,  25  Petrus  sär  tJies  sindes 
higonda  swimmannes.  Ebenso  im  Mhd.  Der  tiuvel  irret  dich 
betendes  (=  betennes),  er  irret  dich  bihtendes.  Der  Jcünec 
sich  vrägens  sümte  niht.  Du  wirst  niemer  vehtens  sat  (Blatz 
2,  582.  590).  Auch  in  diesen  Genitiven  lebt  die  Rektionskraft 
des  Verbums  fort:  Ir  nigens  si  begunden,  lehne  hän  si 
ha^^ens  keinen  rät,  kann  nicht  umhin  sie  zu  hassen. 

Der  präpositionale  Infinitiv. 

70.  1.  Der  Infinitiv  mit  zu  bezeichnet  eine  losere  Ver- 
bindung als  der  blosse  Infinitiv;  er  dient  wie  präpositionale 
Verbindungen  überhaupt  ursprünglich  nicht  zur  Ergänzung, 
sondern  nur  zur  näheren  Bestimmung,  ist  also  auch  von  der 
Bedeutung  des  regierenden  Wortes  weniger  abhängig.  Im 
Gotischen  ist  das  noch  deutlich  wahrnehmbar.  Hier  bezeichnet 
der  Infinitiv  mit  du  gewöhnlich  Absicht  und  Zweck ;  z.  B.  Mt. 
27,  7  usbauhtedun  äkr  Jcasjins  du  usfilhan,  i^TÖpacrav  tov  axpöv 
ToO  KepajueoK;  eicg  xacpriv.  Mt.  6,  1  atsaihip  armaiön  izwara  ni 
taujan  in  andwairpja  manne  du  saihan  im,  TTp6(;  tö  9ea0f)vai 
auToTc;;  zuweilen  auch  Ergebnis  und  Wirkung.  Aber  eine 
scharfe  Scheidung  von  dem  blossen  Infinitiv  findet  nicht  statt, 
da  einerseits  auch  dieser  sich  nicht  selten  als  eine  losere  Be- 
stimmung auffassen  lässt  (§  63, 3),  und  anderseits  auch  der 
Inf.  mit  du  zuweilen  als  Ergänzung  des  regierenden  Wortes 
erscheint;  z.  B.  Mc.  3,  14  jah  gawaurhta  twalif  du  wisan 
mip  sis,  eTToirjcrev  öuubeKa  iva  oicriv  juex'  auiuj;  hier  ist  nicht 
twalif  das  eigentliche  Objekt  von  waurhta,  sondern  wisan 
(§  65,  2).  Insbesondere  pflegt  schon  im  Gotischen  du  zu 
stehen,  wenn  sich  der  Infinitiv  ergänzend  an  Substantiva  an- 
schliesst  (vgl.   §  63,  8) ;  z.  B.  Lc.  l,  9  hlauts  imma  urrann  du  saljan, 


126  Die  Nominalformen  des  Verbums.  [§  70. 

^^XaxGv  Tou  Gufiiaaai.  Lc.  1,57  usfullnöda  mel  du  bairan,  k-n\r\aQY\  6 
Xpövoc;  TOU  T€Keiv  auTrjv.  Lc,  2,  21  usfullnodedun  dagös  du  himaitan 
ina,  €^z\y\GQr\(3ü.v  ai  r)|uepai  xoO  TrepiT€|ui€iv  auTÖv. 

2.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  sowohl  der  Unterschied  als 
auch  die  Ähnlichkeit  der  beiden  Konstruktionen^  wenn  sie 
von  demselben  Wort  abhängen  (Beruh.  §190);  z.B.  Jh.  12, 13 
urrunnun  wipragamötjan  imma,  e\c,  dTrdvTriöiv;  Mc.  4,  3  urrmin  sa 
saiands  du  saian,  toö  o-rretpai.  Mc.  3,  15  insandida  ins  merjan,  Kripvjo- 
aeiv:  Lc.  4,  18  insandida  mik  du  ganasjan,  idaaöGai.  Mc.  15,  23 
gebun  imma  drigkan  icein,  irieTv:  Jh.  6,31  hlaif  us  himina  gaf  im 
du  matjan,  qpaYeiv.  Mc,  2, 10  waldufni  habaip  sunus  maus  aflötan 
fraivaurhtins:  3,  15  haban  waldufni  du  hailjan,  toO  GepairGÖeiv.  Der 
blosse  Infinitiv  und  der  Inf.  mit  du  verhalten  sich  hier  ähn- 
lich wie  jetzt  der  Inf.  mit  zu  und  der  mit  um  zu.  An  an- 
deren Stellen  jedoch  tritt  ein  solcher  Unterschied  nicht  hervor; 
z.  B.  Lc.  8,  31  ei  ni  anabudi  im.  galeipan,  \xf\  eiriTaSr)  auxoic;  dTueXGeiv: 
Lc.  4, 10  aggilum  anabiudip  du  gafastan  puk,  ö.'^jkXoic,  evTeXeixai  tou 
biacpuXdSai  oe  (Gr.  4,  106). 

3.  Weniger  als  im  Gotischen  hat  der  Infinitiv  mit  zu 
im  Hochdeutschen  die  Bedeutung  einer  adverbialen  Bestimmung. 
Von  Anfang  an  erscheint  er  hier  öfter  als  eine  notwendige 
Ergänzung  des  regierenden  Wortes  und  beschränkt  in  dieser 
abstrakteren  Bedeutung  den  blossen  Infinitiv  allmählich  auf 
ein  sehr  kleines  Gebiet  (§  63,  6.  §  64,  3.  §  67,  2).  Es  vollzieht 
sich  beim  Infinitiv  also  derselbe  Prozess  wie  beim  Substan- 
tivum:  präpositionale  Verbindungen  nehmen  den  Charakter  er- 
gänzender Objekte  an  und  verdrängen  die  einfachen  Kasus. 
Selbst  mit  Verben,  deren  Bedeutung  der  Präposition  zu  eigent- 
lich widerstrebt:  von  etwas  abstehen,  ablassen^  einen  abhalten^ 
verschmähen^  sich  weigern,  sich  entwöhnen  kann  er  ver- 
bunden werden. 

Besonders  pflegt  von  Anfang  an  auch  im  Hochdeutschen 
die  Präposition  zur  Verbindung  des  Infinitivs  mit  einem  Sub- 
stantivum  oder  Adjektivum  gebraucht  zu  werden  (§  63,  8); 
z.  B.  0.  1,  4,  51  uns  sint  kint  zi  beranne  daga  furifarane.  N.  Bth. 
1, 168,  22  habo  ih  zU  je  ougenne.  N.  Bth.  1,  64,  20  ili  tuon  dir  stata 
ze  sprechenne.  Tat.  c.  199, 1  was  giwon  zi  forlä^anne.  Tat.  c.  161,  3 
garo  bin  zi  faranne  etc.  Nach  unpersönlichen  Sätzen:  0,  2,9,73 
lang  ist  i^  zi  saganne.     Tat.  c,  54,  6  w'edar  ist  ödira  zi  quedanne  .  . 


§  70.]  Der  präpositionale  Infinitiv.  127 

odo  zi  quedanne,  quid  est  facilius  dicere  au  dicere  (vgl.  g.  Mt.  9,  5 
az§tiz6  ist  qipan).  Tat.  c.  106,  4  ödira  ist  olbentün  thuruh  loh  näl- 
dün  zi  faranne  (Akk.  c.  Inf.  wie  im  Lateinischen  facilius  est  ca- 
melum  per  foramen  acus  transire;  dagegen  g.  Lc.  8, 25  rapizö  ist 
ulhandau  .  .  galeipan).  Auch  bei  unpersönlichen  Verben  steht 
fast  ausschliesslich  der  Inf.  mit  zi  (§  64,3);  bei  gilimphit  licet, 
oportet  kommt  beides  vor,  aber  der  Inf.  mit  zi  ist  das  gewöhnliche. 
Ebenso  steht  er  bei  touc:  N.  Ps.  85,  5  (2,  355;  10)  ica^  übe  imo  ne 
tohta  ze  lebenne\  scal  (=  nützt)  0.  3,20,124  wag  scal  es  so  zi  frä- 
genne\  lüirdit  0.  ad  Lud.  21  oba  ig  ward  gi  fehtanne  wenn  es  zum 
Kampfe  kam  ;  oft  bei  mnir  gescUiht  ^  z.  B.  Iw.  6653  stt  mir  ze  strttenne 
geschiht. 

4.  Als  ergänzendes  Satzglied  hat  sich  der  Infinitiv  mit 
zu  auf  Kosten  des  blossen  Infinitivs  allmählich  weit  verbreitet  ^) ; 
dagegen  ist  er  als  adverbiale  Bestimmung  zurückgewichen. 
Um  Absicht  und  Zweck  zu  bezeichnen,  wird  er  zwar  auch 
jetzt  noch  oft  genug  gebraucht,  namentlich  nach  Verben  der 
Bewegung.  Sätze  wie  0.  1,4,  63  santa  er  mih  von  himile  thiz  selba 
thir  zi  saganne.  1, 9,  7  si  quämun  al  zisamane  thag  kindilln  zi  se- 
hanne.  Tat,  c.  185,  7  giengut  ir  mit  suey^ton  inti  mit  stangon  mih 
zi  fähanne  u.  a.  entsprechen  auch  unserm  Gebrauch.  Aber  je 
weniger  das  regierende  Wort  einer  Ergänzung  bedarf,  um  so 
weniger  genügt  uns  die  alte  Weise;  wir  fügen  eine  neue  Prä- 
position hinzu,  brauchen  umzu  (§  71),  oder  einen  Satz;  z.  B. 
0.  3,  7,  64  sie  blyent  sär  zerthorrenne  sie  blühen,  um  gleich  zu  ver- 
dorren. N.  Cap.  1,  784, 10  ziu  si  iro  froivun  etetcag  neliege  släfen, 
iro  scöni  ze  behalteime,  damit  sie  ihre  Schönheit  behielte,  gratia 
servandi  decoris.  Nur  durch  umzu  wird  noch  deutlich  Absicht 
und  Zweck  bezeichnet.  Wo  beide  Konstruktionen  möglich 
sind,  ist  der  Unterschied  deutlich  zu  empfinden:  Er  eilte  uns 
■ZU   befreien]  —  um   uns  zu   befreien.     Er  plagte   sich,    das 

Unternehmen   ivieder  in  Gang   zu   setzen ;  —  um  zu   setzen. 

5.  Fremder  ist  uns  der  Inf.  mit  zu  geworden,  wo  er  die 
Wirkung  bezeichnet;  z.  B.  Er.  5586  im  ze  sehenne  er  in  sluoc, 
so  dass  er  es  sah.  Gudr.  499,  3  dag  ma^i  des  fluivers  ivint  sluoe  üg 
herten  helmen  ze  sehenne  schoenen  frouwen^  so  dass  sie  es  sehen 
konnten.  Nib.  382,  3  sin  Salden  da  niht  stin  den  fremden  an  ze 
sehenne. 


1)  Die  wichtigsten  Bedeutungsgruppen  der  regierenden  Verba 
bezeichnet  Blatz  2,  577;  ebenso  gibt  er  reichlich  Beispiele. 


128  Die  Nomin alforrnen  des  Verbums.  [§  70. 

6.  Eine  eigentümliche  Bedeutong"  gewinnt  der  Inf.  mit 
zu  in  Verbindung  mit  sein\  mit  der  Vorstellung  des  Zieles, 
auf  das  die  Präposition  hinweist,  verbindet  sich  die  Vor- 
stellung der  Notwendigkeit.  Dem  Gotischen  ist  dieser  Ge- 
brauch unbekannt,  im  Hochdeutschen  finden  wir  ihn  von  An- 
fang an,  sowohl  unpersönlich  z.  B.  Hym.  17,  1  za  petönne  ist, 
orandum  est,  Js.  35,  19  nist  zi  chilauhanne  non  creditur;  als 
auch  neben  bestimmtem  Subjekt,  z.  B.  Js.  19,  12  ni  sindun  zi 
chilaubanne,  non  credendi  sunt.  Tat.  c.  93,  1  mannes  sun  ist 
zi  sellenne  in  hant  manno  (tradendus  est).  Ebenso  später  bei 
stehn  und  bleiben,  auch  bei  scheinen  :  es  steht  zu  erwarten, 
bleibt  noch  zu  erledigen,  scheint  lüohl  zu  bedenken.  Ähn- 
liche Bedeutung  nimmt  haben  mit  dem  Inf.  mit  zu  an:  Tat. 
c.  138,  8  ih  haben  thi?^  sihioa^  zi  quedanne,  habeo  tibi  aliquid 
dicere.  —  Aus  dem  prädikativen  Gebrauch  dieses  Infinitivs 
erwächst  später  das  Part,  necessitatis;  vgl.  §  31. 

7.  Seine  verbale  Natur  behauptet  der  Infinitiv  mit  zu 
besser  als  der  blosse  Infinitiv;  doch  nimmt  auch  er,  besonders 
wenn  er  auf  eine  bestimmte  handelnde  Person  nicht  bezogen 
wird,  leicht  substantivischen  Charakter  an  und  geht  Verbin- 
dungen ein,  in  denen  er  nicht  als  verbale  Ergänzung  des 
Prädikats,  sondern  als  Subjekt  oder  Objekt  erscheint.  Verbal 
und  abhängig  z.  B.  in  dem  Satze:  Es  war  deine  Pflicht,  dem 
Verlassenen  beizustehen-^  als  Subjekt  und  mehr  substantivisch: 
Dem  Verlassenen  beizustehen  ist  Pflicht.  Ebenso :  Zu  dienen 
ist  des  Weibes  Los.  Den  Reichtum  zu  verschmähen^  ist  auch  Reich- 
tum. Niedrig  nenne  dem,  Glück  zu  schmeicheln,  schändlich,  seine 
Gunst  zu  erbetteln.  Und  SO  oft  in  der  jetzigen  Sprache,  aber 
auch  schon  im  Mhd.  bei  Bruder  Berthold:  ej  ist  so  gar  ein 
verworren^  dinc  von  der  e  ze  reden.  Also  auch  hier  kon- 
kurriert der  Inf.  mit  zu  mit  dem  blossen  Infinitiv.  —  Zuweilen 
stehen  beide  Formen  nebeneinander;  z.B.  0.2,4,5  thö  sleih  ther 
färäri  irfindan,  wer  er  wäri,  tha^  zi  irsuachenne  ubar  al.  Tat.  c. 
21,6  in  gilimphit  wahsan,  mih  zi  Tninniröne.  Berth.  72,30  Eg  ist 
vil  be^^er  ein  jär  ze  brennen  in  dem  vegeviur,  dan  iemer  und  iemer 
brinnen  in  der  helle.  Gehorchen  ist  mein  Loos  und  nicht  zu  denken 
(Goethe).  Kraus,  Deutsche  Gedichte  XI,  176  Anm.  Blatz  2,  575. 
587.  589.  552  Anm.  4. 


§  71.]  Präpositionale  Infinitive  {um  zu).  129 

Anm.  Im  Gotischen  tritt  unter  dem  Einfluss  des  Originals 
zuweilen  sogar  der  Artikel  vor  den  Infinitiv  mit  du-^  Mc.  9, 10.  12,  33. 

71.  (Andere  Präpositionen.)  1.  Die  Präposition  zu  ist 
die  einzige,  mit  der  der  Infinitiv  sich  seit  alter  Zeit  verbindet, 
die  einzige,  neben  der  er  seine  verbale  Natur  frei  entfaltet. 
Andere  Verbindungen  tauchen  erst  im  Mhd.  auf.  So  begegnet 
er  neben  äne:  Wolfr.  Lied.  4,29  er  muo^  et  hinnen  halde 
und  äne  sümen  sich:,  neben  üf:  Kelin  MSH.  3,  408^  Algast 
der  wolte  riten  üf  stelen\  öfters  neben  durch-.  Iw.  4293  dö 
ich  dar  Jcom  durch  Magen,  um  zu  klagen.  Iw.  6265  da^  ist 
durch  vrägen  getan.  Offenbar  hängt  dieser  Gebrauch  wieder 
mit  der  Sitte  zusammen,  den  Infinitiv  zu  substantivieren  (§  69); 
aber  die  verbale  Natur  ist  doch  noch  lebendig  genug,  um  ein 
Objekt  zuzulassen.  In  dem  aus  Wolfram  angeführten  Beispiel 
hängt  das  Pron.  refl.  vom  Infinitiv  ab,  ein  Substantivum  Iw.  7736 
dö  vlöh  man  unde  wip  durch  behalten  den  lip.  Parz.  790,  4  lac  ge- 
brochen undr  ir  füe^en  durch  den  luft  süe^en,  um  die  Luft  zu 
versüssen;  und  noch  auffallender  in  einer  Chronik  des  15  Jh.  (Gr. 
4,756)  La7idgraf  Ludwig  von  Hessen  hiess  der  abenteuerliche  Land- 
graf, um  sein  leicht  uf setzen  Land  und  Leut,  dh.  weil  er  Land  und 
Leute  so  leichtsinnig  aufs  Spiel  setzte. 

2.  Häufig  sind  solche  Verbindungen  des  blossen  Infini- 
tivs mit  Präpositionen  nicht  und  keine  ist  zu  dauernder  An- 
erkennung gekommen.  Wo  wir  den  Infinitiv  mit  einer  andern 
Präposition  als  zu  verbinden,  empfinden  wir  ihn  ganz  als 
Substantivum:   ohne   Zaudern,   mit  Klagen  und  Weinen  u.  ä. 

3.  Dagegen  haben  einige  Konstruktionen  Geltung  ge- 
wonnen, in  denen  vor  dem  Inf.  mit  zu  noch  eine  andere  Prä- 
position erscheint.  Zuerst  finden  wir  so  einigemal  durch 
gebraucht:  Klage  1168  durch  ir  heil  ze  m^ren.  Tit.  154,4  durch 
die  Schrift  ü^  ze  l'esenne.  Auch  im  Mnl.  begegnet  diese  Verbindung 
(Martin  zu  Tit.  a.  0.);  aber  im  Deutschen  behauptet  sie  sich  nicht. 
Sehr  viel  später  und  ohne  Zusammenhang  mit  der  älteren 
Konstruktion  tritt  in  derselben  Bedeutung  umzu  auf.  Im 
Mhd.  noch  kein  Beispiel,  auch  nicht  bei  Luther,  wohl  aber 
im  Mnl.  Beobachtungen  über  die  Verbreitung  der  Konstruktion 
im  Hochdeutschen,  die  vielleicht  mit  dem  Einfluss  ndl.  Literatur 
im   17.  Jh.   zusammenhängt,   fehlen.     Jetzt  wird   der  Inf.   mit 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  9 


130  Die  Nominalformen  des  Verbums.    Infinitiv.  [§  71. 

umzu  sehr  oft  gebraucht,  um  eine  Absicht  zu  bezeichnen, 
jedoch  nur,  wenn  nicht  schon  der  regierende  Satz  den  Infinitiv 
als  Ergänzung  verlangt.  Es  heisst:  Ich  beabsichtigte  ihn  zu 
besuchen'^  er  gebot  zu  schweigen;  aber:  Hier  bin  ich,  {um) 
dir  ein  Wort  zu  sagen.  Alle  flohen,  um  ihr  Leben  zu  retten. 
Ferner  brauchen  wir  die  Konstruktion  nach  Adjektiven,  welche 
durch  gradbestimmende  Adverbia  wie  genug,  zu  u.  ä.  näher 
bestimmt  sind:  Er  ist  alt  genug,  {um)  sich  selbst  zu  raten\ 
zu  edel,  {um)  sich  zu  rächen.  Und  selbst  die  Bedeutung  einer 
Zielbestimmung,  die  in  diesen  Verbindungen  noch  gilt,  hat 
die  Sprache  schliesslich  fallen  lassen.  Oft  bezeichnet  der  In- 
finitiv mit  iimzu  nur  noch  eine  zeitliche  Folge;  z.  B.  Der 
Rhein  war  bis  zur  Mitte  des  Monats  gestiegen,  um  dann  rasch 
loieder  zu  fallen.     Blatz  2,  1143. 

4.  Wie  om  te  wird  im  Ndl.  zonder  te  und  im  Anschluss 
daran  auch  im  Hd.  vorübergehend  sonder  zu,  dann  ohne  zu 
gebraucht.  Dieses  ist  sehr  üblich  geworden  und  dient  dazu 
negative  Bestimmungen  der  Art  und  Weise  zu  bezeichnen:  Er 
ging  hinaus,  ohne  ein  Wort  zu  sagen.  Er  hehrte  heim,  ohne 
ih7i  gefunden  zu  haben.  Der  Blitz  schlug  ein,  ohne  zu 
zünden.  —  Endlich  lässt  sich  auch  noch  die  unechte  Präp. 
anstatt  mit  dem  Inf.  verbinden.  —  In  den  verwandten 
Sprachen  sind  noch  andere  ähnliche  Verbindungen  allmählich 
aufgekommen,  von  denen  das  neunordische  for  at,  das  eng- 
lische for  to  hervorgehoben  werden  mögen,  das  auch  in  rhei- 
nischen Mundarten  vorkommt. 

5.  Was  den  Ursprung  dieser  Verbindungen  betrifft,  so 
erklärt  Paul  (Wb.  481^^)  umzu  durch  eine  "Verschiebung  der 
Gliederung'.  In  einem  Satze  wie:  "Er  arbeitet,  um  sein  Brot 
zu  verdienen^  sei  um  sein  Bi'ot  ursprünglich  von  er  arbeitet 
abhängig  gewesen,  und  dazu  sei  dann  zu  verdienen  als  weitere 
Bestimmung  getreten.  Allmählich  habe  man  den  Akk.  nicht 
von  um,  sondern  vorn  Infinitiv  abhängig  gedacht,  und  infolge- 
dessen seien  dann  um  und  zu  in  nähere  Beziehung  zu  einander 
getreten,  so  dass  dann  weiter  auch  Sätze  ohne  Akkusativ  ge- 
bildet werden  konnten :  Er  arbeitet,  um  zu  lehen.  Das  mag 
richtig  sein;  vielleicht  aber  hatte  die  Konstruktion  doch  noch 


§  72.]  Konkurrenz  von  Nebensätzen.  131 

einen  andern  Ausgangspunkt,  nämlicli  den,  dass  man  ebenso 
wie  den  blossen  Infinitiv  auch  den  Inf.  mit  zti  nebst  seinen 
näheren  Bestimmungen  als  Einheit  auffasste^)  und  durch  die 
Präposition  dem  regierenden  Satze  anschloss.  Zunächst  wurden 
jedenfalls  die  Präpositionen  so  gebraucht,  welche  die  auf 
Zweck  und  Absicht  hinweisende  Bedeutung-  des  Inf.  mit  zu 
nur  stärker  hervorhoben  und  gewissermassen  neu  belebten  (so 
fasst  Grimm  die  Sache  auf),  also  durch,  um,  für\  später 
folgten  dann  andere. 

72.  (Konkurrenz  von  Nebensätzen.)  1.  Mit  den  Infini- 
tiven konkurrieren  von  Anfang  an  abhängige  Sätze,  nament- 
lich Sätze  mit  g.  ei,  patei,  hd.  da^-^  z.  B.  Mc.  10,  14  letip 
p6  barna  gaggan  du  mis:  Mc.  11,16  ni  lailöt,  eihaspairh- 
berei  Jcas  pairh  pö  alh.  Lc.  4,  41  loissedun  silban  Xristu  Ina 
wisan :  Mt.  9,  6  ei  witeip,  patei  waldufni  habaip  sa  siinus 
maus.  Das  Verhältnis  der  beiden  Konstruktionen  ist  noch 
nicht  genauer  verfolgt-).  Jetzt  hängt  der  Gehrauch  der  einen 
oder  anderen  Konstruktion  in  erster  Linie  davon  ab,  ob  das 
Subjekt  des  abhängigen  Verbums  im  regierenden  Satze  vor- 
kommt oder  nicht. 

2.  Da  die  Sprache  den  absoluten  Akk.  c.  Infinitiv  nicht 
anerkennt  (§  66),  kann  der  Infinitiv  im  allgemeinen  nur  ge- 
braucht werden,  wenn  sein  Subjekt  im  Hauptsatz  vorkommt, 
sei  es  als  Subjekt  oder  als  Kasus  obliquus;  z.  B.  Ich  ivünsche 
ihn  zu  sprechen.  Er  befahl  mir  zu  warten.  Er  hiess  mich 
^chweige7i.  Kommt  das  Subjekt  des  abhängigen  Verbums  im 
regierenden  Satz   nicht  vor,   so    kann    der  Infinitiv    nur   dann 


1)  Wie  eng  im  Hochdeutschen  von  jeher  die  Verbindung  des 
Infinitivs  mit  der  Präposition  zu  aufgefasst  wurde,  zeigt  die  Ge- 
wohnheit der  alten  Schreiber,  beide  Wörter  auch  in  der  Schrift  zu 
verbinden.  Im  Gotischen  konnten  sie  noch  durch  andere  Satz- 
glieder getrennt  werden;  z.B.  Phil.  4,10  gapaihup  du  faur  mik 
frapjan.  Rom.  7,  5  winnöns  waurhtedun  .  .  du  ala^an  hairan  daupau. 
Im  Hochdeutschen  sind  sie  unlösbar  (Gr.  4, 106  Nachtr.). 

2)  Vgl.  Mourek  §86.  171.  172.  Blatz  2,  1141  f.  1145.  Heysc 
2,  680  ff. 


132  Die  Nominalformen  des  Verbums.    Infinitiv.  [§  72. 

gebraucht  werden^  wenn  sein  Subjekt  eine  unbestimmte  oder 
aus  dem  Zusammenhang  leicht  erkennbare  Person  ist  und  die 
Bedeutung  des  regierenden  Satzes  für  den  Infinitiv  notwendig 
ein  anderes  Subjekt  voraussetzt  (vgl.  §  87,  3);  z.  B.  Es  ist  Pflicht 
dem  Unter' drückten  beizustehen  =  dass  man  beistehe.  Es  ist  nicht 
gut  allein  zu  sein.  Ich  bitte  {dich)  zu  bedenken.  Gestatten  Sie  {rnir) 
die  Geschichte  zu  erzählen.  Ebenso :  Er  befahl  zu  öffnen  =  dass 
man  öffne,  oder  dass  geöffnet  iverde.  Die  Polizei  hat  verordnet.,  die 
Strassen  zu  sprengen.  Aber  nicht  in  demselben  Sinne:  Erwünschte 
zu  öffnen^  die  Polizei  verlangte  die  Strassen  zu  sprengen.  Denn 
befehlen  und  verordnen  verlangen  für  das  abhängige  Verbum  ein 
anderes  Subjekt,  nicht  aber  ivünschen  und  verlängert.  Diese  lassen 
sich  ebenso  gut  auf  eine  Handlung-  desselben  Subjektes  beziehen 
und  deshalb  pflegen  wir  das  Subjekt  des  regierenden  Satzes  auch 
als  Subjekt  des  Infinitivs  vorauszusetzen.  Der  Satz:  Ich  wünsche 
wohl  gespeist  zu  haben  =  dass  Sie  wohl  gespeist  haben,  ist  fehlerhaft. 

unpersönliche  (subjektlose)  Verba  können  nach  Verben, 
die  ein  persönliches  Subjekt  haben,  oder  die  Beziehung  auf 
eine  Person  voraussetzen,  die  wir  als  Subjekt  des  abhängigen 
Verbums  anzusehen  pflegen,  nicht  im  Infinitiv  stehen.  Man 
kann  wohl  sagen:  Mich  fängt  an  zu  frieren.  Es  scheint  zu  regnen. 
Aber  nicht:  Ich  hoffe  zu  regnen.  Es  ist  nützlich  zu  regnen,  sondern: 
dass  es  regnen  wird,  dass  es  regnet. 

3.  Ob  für  den  Infinitiv  ein  Sat:-'.  mit  dass  eintreten  kann,, 
hängt  von  der  Bedeutung  des  regierenden  Satzes  oder  Wortes 
ab.  Liegt  es  in  dessen  Natur,  dass  das  abhängige  Verbum 
notwendig  dasselbe  Subjekt  hat,  so  behauptet  sich  der  Infini- 
tiv unbestritten.  Nach  mögen^  können,  .wlle7i,  dürfen,  müssen,. 
nach  anfangen,  beginnen,  aufhören;  vermögen,  pflegen,  geruhen,, 
wagen,  suchen,  versuchen,  sich  bemühen,  unterlassen,  sich  weigern, 
sich  scheuen,  sich  getrauen,  dem  persönlichen  scheinen  u.  a.  brauchen 
wir  keinen  dassS&iz.  Ebenso  nicht  nach  Verbindungen  wie  ich 
habe  Lust,  den  Trieb,  die  Neigung,  die  Fähigkeit,  die  Pflicht,  Ge- 
legenheit, Zeit,  besitze  die  Kunst,  die  Geschicklichkeit-,  bin  fähig, 
bereit,  begierig,  bin  es  müde  u.  ä. 

Anm.  1.  Auch  in  Sätzen  wie:  Die  Nachricht  war  mir  an- 
genehm zu  hören.  Die  Speise  ist  gut  zu  essen.  Das  Unglück  ist 
schwer  zu  ertragen  u.  ä.,  in  denen  das  Subjekt  zugleich  Objekt  des 
abhängigen  Verbums  ist,  steht  der  Infinitiv  fest,  obwohl  er  hier, 
wenn  man  ihn  aktivisch  auffasst  {vg\.  §88,3),  ein  anderes  Subjekt 
als  der  regierende  Satz  hat. 


§  72.]  Konkurrenz  von  Nebensätzen.  133 

4.  Gestattet  dagegen  die  Bedeutung  des  regierenden 
Satzes  für  das  abhängige  Verbum  sowohl  dasselbe  wie  ein 
anderes  Subjekt,  so  sind,  wenn  das  abhängige  Verbum  das- 
selbe Subjekt  hat,  beide  Konstruktionen  möglich.  Also  nach 
glauben,  wähnen,  sich  einbilden,  hoffen,  fürchten^  sich  freuen'^  z.  B, 
Ich  glaube  mich  nicht  zu  irren,  glaube  dass  ich  mich  nicht  irre. 
Ebenso  wenn  das  Subjekt  des  abhängigen  Verbums  durch 
einen  vom  regierenden  Wort  abhängigen  Dativ  oder  Akkusativ 
ausgedrückt  ist  oder  ausgedrückt  werden  kann,  nach  befehlen, 
gebieten,  verbieten,  tvehren,  erlauben,  raten\  bitten,  ermahnen,  nötigen, 
zwingen-,  z.B.  er  bat  uns  zu  bleiben,  dass  wir  noch  etwas  blieben. 
Jedoch  ist  heissen  (=  befehlen)  auf  den  Infinitiv  beschränkt. 

5.  Wie  nach  manchen  Verben  stets  der  Infinitiv  gebraucht 
wird,  so  verlangen  andere,  auch  wenn  das  abhängige  Verbum 
dasselbe  Subjekt  hat,  stets  einen  Satz  mit  dass.  Im  Latei- 
nischen regieren  die  Verba  declarandi  den  Akk.  c.  Inf.;  im 
Deutschen  werden  sie  verschieden  konstruiert.  Den  Infinitiv  ge- 
statten behaupten,  versichern,  beteuern,  leugnen,  bekennen,  gestehen] 
versprechen,  verheissen,  geloben,  schwören;  einen  Objektsatz  mit 
dass  verlangen  sagen,  mitteilen,  melden,  berichten,  erzählen,  ver- 
künden, ankündigen  u.  a.  Die  Verschiedenheit  ist  in  der  Bedeutung 
der  Wörter  begründet.  Einen  Satz  mit  dass  müssen  wir  brauchen, 
wo  zwischen  dem  regierenden  Subjekt  und  dem  abhängigen 
Verbum  das  kalte  Verhältnis  reiner  Objektivität  waltet,  der 
Infinitiv  mit  zu  ist  gestattet,  wo  sich  ein  persönliches,  sub- 
jektives Moment  einmischt.  —  Ähnlich  verhalten  sich  in  Be- 
deutung und  Konstruktion:  glauben,  wähnen,  meinen,  sich  einbilden, 
sich  schmeicheln,  sich  erinnern  gegenüber  wahrnehmen,  bemerken, 
sich  etwas  vorstellen,  einsehen,  erkennen,  begreifen.  —  Einige 
Verba  werden  hiernach  je  nach  der  Auffassung  verschieden 
konstruiert:  Er  weiss,  dass  er  Jcrank  ist.  Er  vergass,  dass 
er  mir  Dank  schuldete.  Ich  dachte  nicht  daran,  dass  ich 
es  versprochen  hatte.  Dagegen  mit  dem  Infinitiv  (nach  Ab- 
satz 2):  Er  weiss  sich  zu  benehmen^  vergass  mir  zu  danken-., 
dachte  daran   (=  gedachte,   beabsichtigte),   ihn  zu  verlassen. 

Anm.  2.  In  anderer  Weise  scheiden  sich  die  Konstruktionen 
von  sehen,  hören,  fühlen.  Als  Verba  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
gestatten  sie  den  Infinitiv  (§  67) ;  in  abg-eleiteter  Bedeutung  ver- 
langen sie  dass:  Ich  hörte,  dass  er  verreist  sei.  Ich  sah,  dass  es  zu 
spät  war.    Ich  fühlte,  dass  ich  ihn  gekränkt  hatte. 


134  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  73. 

Anoi.  3.  Bei  der  Untersuchung,  wie  weit  die  Gesichtspunkte^ 
die  jetzt  gelten,  die  Sprache  auch  früher  beherrscht  und  in  ihrer 
Entwickelung  geleitet  haben,  wird  darauf  zu  achten  sein,  ob  die 
Unfähigkeit,  Genus  und  Tempus  am  Infinitiv  zu  unterscheiden 
(§  87. 89)  den  Gebrauch  eines  Nebensatzes  veranlasst  hat,  also  in 
Sätzen  wie  Mt.  6, 7  pugkeip  im  ei  andhausjaindau.  Philem.  22 
wSnja  auk  ei  f7mgihaidau  izivis.     Vgl.  §  89,5. 

6.  Für  die  Infinitive  mit  um  zti,  ohne  zu,  anstatt  zu 
lassen  sich  immer  abhängige  Sätze  brauchen.  Mit  ohne  zu, 
anstatt  zu  konkurriert  ohne  dass,  anstatt  dass.  Neben  um 
zu  stand  früher  das  im  17.  Jh.  untergegangene  um  dass 
(Paul  Wb.  90^);  w^ir  brauchen  statt  dessen  damit  od.  auf  dass, 
nach  Adjektiven  mit  zu  :  als  dass.  Nötig  sind  diese  Sätze  im 
allgemeinen,  wenn  das  abhängige  Verbum  ein  anderes  Subjekt 
hat  als  der  regierende  Satz.  Nur  der  Infinitiv  mit  um  zu  kann 
auch  in  diesem  Falle  zuweilen  unbedenklich  gebraucht  werden, 
namentlich  wenn  er  ein  unbestimmtes  persönliches  Subjekt  voraus- 
setzt; z.  B.  Es  ist  zu  kalt,  um  im  Freien  zu  sitzen;  oder  wenn  sein 
Subjekt  aus  einem  abhängigen  Dativ  oder  Akkusativ  des  re- 
gierenden Satzes  ergänzt  werden  kann;  z.  B.  Er  rief  mich  an,  um 
ihm,  zu  helfen.  Er  gab  ihm  einen  Brief,  um  ihn  auf  die  Post  zu 
bringen.  Aber  nicht:  Er  fesselte  ihn,  U7n  nicht  zu  enttceichen.  Er 
band  den  Baum  an,  utn  grade  zu  wachsen;  vgl.  Heyse  1,  902.  2,  701  f. 
Anm.  Blatz  2,1142. 

Partizipium  und  Infinitiv 
in  zusammengesetzten  Yerbalformen. 

Das  Part.  Prät.  in  zusammengesetzten  Passivformen  i). 
73.  1.  Schon  im  Gotischen  werden  prädikative  Ver- 
bindungen des  Partizipiums  Prät.  mit  wisan  und  wairpan  zur 
Ergänzung  und  Vertretung  passiver  Formen  gebraucht,  im 
Hochdeutschen  sind  sie  das  einzige  Mittel  das  Passiv  aus- 
zudrücken. Da  die  Partizipia  ilirem  Ursprung  nach  Adjektiva 
sind,  konnten  sie  auch  in  diesen  Verbindungen  ursprünglich 
nur  als  Adjektiva  empfunden  werden.  Aber  früh  verschmolzen 
sie  mit  den  Hülfsverben  zur  Einheit,   so    dass   sie   nicht  mehr 


1)  Gr.  4,  9  f.  Erdmann  §  134.  Gering  ZfdPh.  5,  408  f.  Wunder- 
lich 1, 138.  Paul  §  288.  —  Cuny,  Der  temporale  Wert  der  Passiv- 
umschreibungen im  Ahd.     Bonn  1906  (Diss.). 


§  73.]  Passivformen.  135 

selbständig  als  prädikative  Adjektiva,  sondern  zusammen  mit 
den  Verben  als  verbale  Prädikate  empfunden  wurden  oder 
empfunden  werden  konnten.  In  dem  Satze :  Die  Bäume  sind 
gefällt,  können  wir  gefällt  ganz  adjektivisch  als  Zustands- 
bezeichnung  auffassen;  aber  wenn  man  sagt:  Gestern  sind 
wieder  einige  Bäume  gefällt,  bezeichnet  uns  das  Prädikat 
nicht  einen  Zustand^  sondern  eine  Handlung,  der  das  Subjekt 
unterworfen  ist. 

2.  Für  die  Entwickelung  verbaler  Bedeutung  waren  die 
Verbindungen  mit  werdanj  das  den  Eintritt  in  den  durch  das 
Part,  bezeichneten  Zustand  ausdrückte,  offenbar  geeigneter 
als  die  mit  wesan,  die  das  Beharren  in  diesem  Zustande  be- 
zeichneten; und  jetzt  werden  sämtliche  Passivformen,  wenn 
die  verbale  Auffassung  deutlich  empfunden  wird  und  zum 
Ausdruck  gebracht  werden  soll,  mit  werden  gebildet,  auch 
das  Perf.  und  Plusq.  {ist,  was  —  worden).  Zweifellos  aber 
konnten,  wie  noch  jetzt,  so  schon  im  Ahd.  auch  die  Verbin- 
dungen mit  wesan  verbal  aufgefasst  w^erden.  Die  Erwähnung 
des  Subjekts  der  Handlung  neben  ihnen,  auch  gewisse  Adverbia 
weisen  darauf  hin;  z.  B.  0.  1,  4,  28  ist  gibet  thinag  fon  druh- 
tine  gihörta^.  1,  8,  25  si  birit  sun  zei^an,  ther  ofto  ist  uns 
gihei^an.  Eine  scharfe  Grenze  zwischen  adjektivischer  und 
verbaler  Auffassung  lässt  sich  jedoch  nicht  ziehen. 

3.  In  der  Verbindung  mit  werdan  wird  ferner  die  Be- 
deutung des  Hülfszeitwortes  modifiziert.  Es  verliert  seine  ur- 
sprüngliche perfektive  Bedeutung,  weist  nicht  mehr  auf  den 
Eintritt  in  einen  Zustand  hin,  sondern  drückt  wie  wesan  auch 
das  Beharren  in  demselben  aus.  Der  Baum  wird  gefällt  be- 
deutet nicht,  dass  der  Baum  unter  die  Einwirkung  des  Füllens 
gerät,  sondern  dass  er  sich  unter  ihr  befindet.  Die  Verwen- 
dung von  lüirdit  c.  Part,  als  gewöhnliches  Präsens  bezeichnet, 
dass  diese  Bedeutungsentwickelung  sich  vollzogen  hat  (§  74,  1). 

4.  Die  Tempusunterscheidung  konnte  zunächst  nur  im 
Verbum  liegen;  ist  und  wirdit  c.  Part,  waren  Präsentia,  was 
und  ward  c.  Part.  Präterita.  Aber  da  das  Part,  gewöhnlich 
perfektisch  als  Ergebnis  einer  vorangegangenen  Handlung  auf- 
gefasst wird,  so  lag  in  den  Verbindungen  mit  wesan  der  Keim 


136  Zusammeng'esetzte  Verbalformen.  [§  74. 

zu  weiterer  Tempusunterscbeidung*;  sie  wurden  zu  Zeitformen 
der  Vergangenheit.  Im  absoluten  Gebrauch,  d.  h.  wenn  das 
Tempus  vom  Zeitpunkt  der  Rede  aus  bestimmt  wird,  gewann 
ist  c.  Part,  die  Bedeutung*  eines  Perf.,  im  relativen  Gebrauch, 
wenn  das  Tempus  auf  einen  Zeitpunkt  der  Zukunft  oder  der 
Vergangenheit  bezogen  wurde,  gewann  in  Beziehung  auf  die 
Zukunft  ist  c.  Part,  die  Bedeutung  eines  Fut.  II,  in  Beziehung 
auf  die  Vergangenheit  was  c.  Part,  die  eines  Plq.  Selbst- 
verständlich aber  können  die  zusammengesetzten  Formen  diese 
Bedeutung  nur  gewinnen,  wenn  das  Part,  als  Ergebnis  einer 
abgeschlossenen  Handlung,  d.  h.  perfektisch,  nicht  wenn  es  als 
Ergebnis  einer  noch  fortlaufenden  Handlung,  d.  h.  präsentisch 
aufgefasst  wird.  Der  Satz:  Die  Stadt  ist  zerstört,  bedeutet 
etwas  ganz  anderes  als  die  Stadt  wird  zerstört'^  dagegen  be- 
deutet der  Satz:  Der  Mann  ist  verachtet  wesentlich  dasselbe 
wie  der  Mann  wird  verachtet.  In  der  Verbindung  ist  zer- 
stört ist  das  Partizipium  perfektisch,  in  der  Verbindung  ist 
verachtet  präsentisch  zu  verstehen.  Zu  diesem  präsentischen 
Gebrauch  des  Partizipiums  neigt  die  Sprache  besonders  in  Wunsch-, 
Forderungs-  und  Absichtssätzen,  in  denen  man  nicht  sowohl  die 
Handlung  als  das  Ergebnis  der  Handlung  im  Auge  hat.  Wo  sie 
im  einfachen  Aussagesatz  stehen,  wie  in  dem  eben  angeführten  Bei- 
spiel, fassen  wir  sie  überhaupt  nicht  verbal,  sondern  adjektivisch 
auf  (§  57). 

Anm.  Für  die  mit  luerdan  zusammengesetzten  Formen  kommt 
die  Unterscheidung  von  perfektischem  und  präsentischem  Part, 
wenig  in  Betracht,  da,  wie  man  auch  das  Part,  auffassen  mag,  die 
Bedeutung  des  Hilfszeitwortes  es  hindert,  in  der  Verbindung  den 
Ausdruck  einer  abgeschlossenen  Handlung  zu  sehen.  Beziehung 
auf  die  Vergangenheit  kann  hier  nur  durch  das  Verbum  fin.  aus- 
gedrückt werden. 

74.  Über  die  Geschichte  der  beiden  Arten  von  Zu- 
sammensetzungen sei  folgendes  bemerkt: 

1.  {werdan  c.  Part.)  Umschreibungen  mit  wairpan 
braucht  der  Gote  im  Präsens  selten,  denn  da  standen  ihm  noch 
die  einfachen  Formen  zu  Gebote.  Aber  wie  er  das  Futurum 
des  imperfektiven  wisan  öfters  durch  loairpan  wiedergibt  (gr. 
laojuai  =  wairpa  §  91),  so  hat  er  an  einigen  wenigen  Stellen 


-§  74.]  Passivformen  mit  werdcni.  137 


auch  die  Verbindung-  von  wairpan  mit  dem  Part,  benutzt,  um 
das  fehlende  Futurum  auszudrücken ;  im  Ind.  Lc.  14, 12  ibai  auf- 
tö  .  .  wairpip  pus  usguldan  \xr\noi:e  .  .  Y^vriarixai  aoi  dvTairööoiLia ; 
und,  neben  einer  einfachen  Passivform,  Phil.  1,  20  unte  ni  waihtai 
gaaitüisköps  wairpa  ak  mikiljada  Xristus,  6ti  ^v  cuöevl  aiöxvjv0r]ao- 
|uai,  dWd  |ueYaXuv9ria€Tai  Xpiöxöc;.  Ebenso  im  Optativ  1  Kor.  9, 27 
ibai  uskusans  tvairpau,  juriirojc;  döÖKiiuoc;  Y^vuj|uai;  Mc.  9,  12  ei  frakunps 
wairpai,  i'va  ^Houbevojer).  —  In  futurischcm  Sinne  werden  diese 
Formen  auch  in  den  älteren  hochdeutschen  Denkmälern  (Is. 
Tat.  0.)  vorzugsweise  gebraucht.  Bei  Otfried,  der  sie  über- 
haupt nicht  oft  anwendet,  kommt  der  Indikativ  nur  dreimal  in 
Sätzen  von  allgemeiner  Geltung,  also  nicht  zur  Bezeichnung  der 
eigentlichen  Gegenwart  vor:  3,16,37,  wo  von  der  Beschneidung  die 
Rede  ist:  wirdit  thaQ  ouJi  äna  wän  ofto  in  samha^dag  gidän.  Ferner 
%  12, 48.  5,  6, 61.  Dagegen  in  Notkers  Boetius  erscheint  wirdit 
c.  Part,  als  ein  ganz  geläufiges  Mittel  der  Präsensumschreibung-, 
in  der  die  eigentümliche  Bedeutung  von  werdan  unter- 
gegangen ist. 

2.  warp  c.  Part,  wurde  schon  im  Gotischen  oft  ge- 
braucht, um  das  fehlende  Prät.  des  Passivs  auszudrücken,  und 
natürlich  nicht  nur  in  dem  Sinne  unseres  Imperfektums,  son- 
dern, wie  das  Prät.  des  aktiven  Verbums  auch  da,  wo  wir 
das  Perf.  oder  Plq.  zu  setzen  pflegen;  das  Plq.  z.  B.  Mc.  1, 14 
ip  afar  patei  atgibans  warp  Johannes,  qam  Jesus,  luexd  bk  xö  irapa- 
boöfjvai ;  das  Perf.  z.  B.  Mt.  27,  8  duppe  haitans  warp  akrs  jains 
äkrs  blöpis  und  hina  dag,  daher  ist  derselbige  Acker  genannt 
(^KXyi9r|)  der  Blutacker,  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Jh.  13, 31  nu 
gaswiraids  warp  sunus  nians  jah  gup  hauhips  ist  in  imma,  nun 
ist  des  Menschen  Sohn  verklärt  und  Gott  ist  verklärt  in  ihm  (im 
Griechischen  heidemal  kho^doQr]).  16,21  bipS  gabaurans  ist  barn 
(öxav  hk  YGvvTiöri,  aber  in  /":  cum  natus  fuerit  infans),  ni  panaseips 
gaman  pizös  aglöns  faura  fahedai,  unt§.  gabaurans  warp  manna, 
wenn  sie  geboren  hat,  denkt  sie  nicht  mehr  an  die  Angst,  um  der 
Freude  willen,  dass  ein  Mensch  geboren  ist.  —  Ähnlich  ist  es 
auch  zunächst  im  Hd.  So  würden  wir  die  mit  sein  gebildeten 
Zusammensetzungen  brauchen  0.  1, 17,  39  so  er  giiuisso  thär  bifand, 
war  druhtin  krist  giboran  ward  (geboren  war), J  thäht  {'er  sär  .  . 
mihhilo  unkusti.  1,20,1  s6  H^röd  ther  kuning  thö  bifand,  tha^  er 
fon  in  bidrogan  ward,  inbran  er  sär\  ebenso  3,22^67.  5,11,25. 
Und  im  Opt.  1, 17, 13  wärun  fräg&nti,  war  er  giboran  wurti ;  eben- 
so 1, 17, 17.  34.     Doch  sind  solche  Stellen  nicht  eben  häufig.  In  N.'s 


138  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  75. 

Boetius  findet  sich  der  Opt.  sehr  selten,  der  Indikativ  kaum 
an  einer  Stelle,  die  unserem  Sprachgebrauch,  der  ja  auch 
vielfach  sowohl  das  Imp.,  als  das  Perf.  oder  Plq.  gestattet, 
widerstrebte  (Cuny  S.  17  f.).  Den  Optativ  witrti  braucht  auch 
Notker  noch  einigemal  in  indirekten  Sätzen,  wo  wir  tcäre 
setzen  würden  (1,134,20.  336,2). 

75.  {icesan  c.  Part.)  1.  Die  Bedeutung  der  mit  wesan 
zusammengesetzten  Formen  hängt,  wie  bemerkt  (§  73,  4j, 
wesentlich  davon  ab,  ob  das  Partizipium  perfektisch  als  Er- 
gebnis einer  vorangegangenen,  oder  präsentisch  als  Ergebnis 
einer  fortlaufenden  Handlung  aufgefasst  wird.  Perfektische 
Auffassung  des  Part,  ttberwiegt  in  den  Verbindungen  mit 
wesan  von  Anfang  an  und  kam  je  länger  um  so  mehr  zur 
Geltung,  ist  c.  Part,  weist  also  in  der  Regel  auf  eine  Hand- 
lung, die  vor  dem  Zeitpunkt  der  Gegenwart  oder  Zukunft, 
was  c.  Part,  auf  eine  Handlung,  die  vor  einem  Zeitpunkt  der 
Vergangenheit  ihren  Abschluss  gefunden  hat.  Verbindungen, 
in  denen  das  Part,  präsentische  Bedeutung  hatte,  wurden,  seit- 
dem werdan  seine  perfektive,  auf  den  Eintritt  der  Handlung 
hinweisende  Bedeutung  verloren  hatte,  durch  werdan  c.  Part, 
zurückgedrängt. 

2.  Im  Gotischen  findet  sich  neben  dem  Präs.  ist  das 
Part,  natürlich  selten  in  präsentischer  Bedeutung,  aus  dem- 
selben Grunde,  aus  dem  die  Präsensformen  von  wairpan  nur 
selten  zur  Passivbildung  benutzt  werden.  Nur  drei  Stellen 
sind,  anzuführen:  2  Kor.  1,  4  gaprafstidai  sijum,  TTapaKa\ou|Lie9a; 
Eph.  2,  22  mipgatimridai  sijup,  auvoiKoöo|LieiöOe;  Phil.  1,  23  dishabaip 
im,  öuvdxojuai.  An  zwei  anderen  Stellen,  wo  die  Verbindung  gleich- 
falls einem  griechischen  Präsens  entspricht,  ist  sie  perfektisch  auf- 
zufassen: Gal.  4^,20  afslaupips  im,  dTropoO^ai  (eigentlich:  ich  bin  in 
Angst  versetzt) ;  2  Kor.  7,  4  ufarfulHps  im.  fahedais,  imep-irepiaaeüo^ai 
Tir)  x^pö  (eig.  ich  ich  bin  überfüllt  mit  Freude). 

3.  Öfter  fehlt  dem  Part,  neben  dem  Prät.  was  die  per- 
fektische Bedeutung:  Mc.  1,6  jah  daupidai  wesun  allai  in  Jaur- 
dane  aJvai,  Kai  i^anxitovTO  TrdvTe^;  Lc.  7,  12  ushaurans  was  naus,  e2e- 
KO|uiz;eTo  TcGvriKuüq;  Mc.  1,  9  jah  daupips  icas  fram  Johanne,  Kai  eßaTi- 
TiaGri ;  1  Kor.  11,23  Jesus  in  pizaiei  naht  galewips  was,  ev  rj  vukti 
uapebibeTO.     In  solchen  Sätzen  würden   wir  ward  c.  Part,  setzen.  — 


§  75.]  Passivformen  mit  wesan.  139' 

Besonders  gern  wurden  die  Verbindungen  mit  tviscm  in  Ab- 
sichtssätzen gebraucht  (§73,4);  z.B.  Lc.  2,3  iddjedun  ei 
melidai  weseina,  eTropeüovio  dTT0Ypdcpea6ai;  Mc.  3, 9  qap  ei 
sJcip  liahaip  wesi,  emev  iva  TiXoidpiov  TrpoaKapTeprj. 

4.  Im  Hochdeutschen  begegnet  das  Part,  in  präsentischer 
Bedeutung  auffallend  oft  im  Tatian.  Die  Verbindung  mit  dem 
Präs.  ist  gibt  ein  lateinisches  Präsens  oder  Futurum,  die  mit 
was  ein  lateinisches  Imperfektum  oder  erzählendes  Perfektum 
wieder;  z.  B.  c.  145,19  sterron  fallent  fon  himile  inti  megin  himilo 
sint  giruorit,  et  virtutes  coelorum  commovebuntur ;  47,  7  kind  thesses 
rthhes  sint  furworphan  in  thia  ü^arün  finstarnessi,  eiicientiir  in 
tenebras  exteriores;  c.  49,2  senu  arstorhaner  was  gitragan  (wie  im 
Gotischen),  efferebatur;  c.  78, 3  inti  loärun  bisicihhan  in  imo,  et 
scandalizabantur  in  eo;  c.  3,  3  thö  siu  thiu  gisah,  icas  gitruobit,  quae 
cum  vidisset,  turbata  est;  c.  14, 4  senu  thö  aroffonöia  tcärun  imo 
himila,  ecce  aperti  sunt  ei  coeli.  Viel  seltner  ist  der  Gebrauch 
in  anderen  Denkmälern.  Im  Isidor  lässt  sich  ist  c.  Part,  fast 
immer  perfektisch  auffassen,  auch  da  wo  es  einem  lateinischen 
Präsens  entspricht;  z.  B.  23,  12  In  dhemu  heilegin  Daniheles 
cMscribe  ist  umbi  dJiea  Christes  chumft  ernustliihho  araughitj 
in  Danihele  tempus  adventus  eins  certissime  ostenditur.  Beide 
Tempora,  Präs.  und  Perf.  sind  hier  berechtigt;  das  Zeugnis 
Daniels  hat  bekundet  und  bekundet  immer  noch.  Ebenso  3,  6 
ist  armärit,  3,  9  ist  chichundit,  5,  30  ist  chiquhedan  etc.  —  icas  c.  Part, 
kommt  im  Is.  überhaupt  nicht  vor,  der  Opt.  wäri  nur  einmal,  in 
perfektischer  Bedeutung  (35.  14).  Auch  Otfried  hat  das  präsen- 
tische Partizipium  nicht  oft  gebraucht.  Er  bezeichnet  damit 
einen  in  der  Gegenwart  oder  Zukunft  fortdauernden  Zustand:  1,  3,  14 
bi  thiu  ist  er  gieret  nü  so  frani,  ist  oder  wird  er  nun  so  hoch  ge- 
ehrt; 1,  4,  36  fon  reve  thero  muater  so  ist  er  io  giicihter,  wird  er 
geheiligt  sein;  besonders  in  Sätzen  von  allgemeiner  Geltung:  2,  21,  44 
ther  thär  afur  so  ni  duat,  .  .  .  gizelit  sint  themo  in  thräti  allo  thio 
undäti^  dem  werden  alle  seine  Untaten  angerechnet;  b,2\,^  ist 
ferro  irdriban  fon  himile  ü^,  ther  andereyno  nimit  sina^  hüs.  Ebenso 
neben  dem  Opt:  2,17,  19  ni  mag  iß  werdan,  tha^  ir  stt  giborgan, 
dass  ihr  verborgen  bleib  t;  und  namentlich  in  Absichtssätzen:  1,19,14 
tha^  iß  .  .  baß  firholan  wäri,  verborgen  bliebe;  3,12,39  thaß  then 
thie  duri  sin  bidän,  verschlossen  bleiben;  vgl.  auch  1,1,40.  3,26,29. 
5,  3,  5  und  2,  24,  39  Firdrtb  fon  uns  allo  missidäti  .  .  thaß  wir  maiia- 
houbit  zi  thinen  sin  gifuagit,  dass  wir  armen  Knechte  den  deinen 
zugezählt  werden.  —  was  c.  Part,  hat  bei  0.  stets  den  Wert  des  Plq. 


140  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  75. 

5.  Am  dauerhaftesten  ist  das  präsentische  Partizipium 
neben  dem  Opt.  si  in  Hauptsätzen,  die  Wunsch  oder  Forderung 
ausdrücken,  obwohl  werde  auch  hier  nicht  ausgeschlossen  ist; 
z.  B.  0.  4,  4,  47  giwthit  st  er  filu  fram.  4, 19,  47  sts  himunigöt  thuruh 
th'en  himilisgen  got.  5, 3,  9  sin  mtno  brusti  gisegonöt.  5,  3, 15  s%  ih 
biseganöt  etc.,  nur  zweimal  begeg-net  iverdan:  1,2,31  irßrrit  wärde 
halo  .sfn;  5,  16,  32  gidoufit  werden  alle.  Im  Weissenburger  Kate- 
chismus und  im  Freisinger  Paternoster  heisst  es  kaivthit  si  namo 
dtn,  sanctificetur  nomen  tuum;  bei  Notker,  wie  bei  uns,  din  namo 
werde  geheüigot\  aber  anderwärts  (Boetius  1;,290, 4):  tvala  st  da^ 
fernomen,  hoc  tantum  perspexisse  sufficiat.  Und  auch  uns  ist 
dieser  Gebrauch  von  si  geläufig  geblieben:  Gott  sei  geloht 
und  gedankt \  Verflucht  sei,  wer  .  .  .;  gesegnet  sei  die  Frucht 
deines  Leibes  (vgl.  §  137).  —  In  der  2.  Person  des  Imperativs 
ist  uns  werden  überhaupt  versagt,  obschon  die  Formen  ge- 
legentlich gebildet  werden  nicht  nur  in  lateinischen  Gramma- 
tiken (amare  werde  geliebt),  sondern  auch  in  der  Literatur.  Zwar 
wenn  im  Tat.  c.  103,  3  das  lateinische  in  his  ergo  venite  et  curamini 
durch  in  then  cumet  ir  inti  werdet  giheilit  wiedergegeben  ist,  so 
mag  der  Übersetzer  den  Opt.  gemeint  haben;  eine  deutliche  Imperativ- 
form aber  begegnet  im  Parz.  267,20  wirt  erslagen,  bei  Berthold: 
nim  da^  kriuze  U7id  ivirt  erslagen,  und  so  auch  zuweilen  im  Nhd.^). 
Jedoch  sind  diese  Formen  nicht  zu  allgemeiner  Anerkennung  ge- 
kommen; wenn  wir  den  Imperativ  des  Passivs  überhaupt  bilden, 
brauchen  wir  sein-.  Sei  mir  gegrüsst.  Seid  umschlungen, 
Millionenl  oder,  wenn  wir  eine  Handlung  ins  Auge  fassen, 
Umschreibung  mit  lassen:  Lass  dich  doch  überzeugen.  Lasset 
euch  nicht  verführen. 

6.  In  Notkers  Boetius  halten  sich  sowohl  die  mit  icer- 
dan  wie  die  mit  ivesan  zusammengesetzten  Formen  schon  fast 
ganz  in  den  Schranken,  die  ihnen  noch  jetzt  gezogen  sind. 
Die  Passivforraen  wird  gebunden,  ward  geb.,  ist  geb.,  war 
geb.  verhalten  sich  zu  einander  wie  die  aktiven  bindet,  band, 
hat  geb.,  hatte  geb.  Während  ursprünglich  die  mit  werden 
und  sein  gebildeten  Formen  verschiedene  Aktionsarten  bezeich- 
neten, Eintritt  und  Beharren,  so  bezeichnen  sie  nunmehr  ver- 
schiedene Tempora;  jene  Präsens  und  Imperf.,  diese  Perf. 
und  Plq.  —  Über  den  Inf.  Pass.  s.  §  87. 


1)  Wunderlich  1,  262  A.  2.     Blatz  2,  535  f. 


§  76]  Jüngere  Passivformen.  141 

76.  (Jüngere  Passivformen.)  1.  Die  Passivformen,  über 
die  das  Ahd.  verfügte,  beschränkten  sich  auf  die  Verbindung 
des  Partizipiums  mit  den  einfachen  Formen  von  wesan  und 
werdan.  Erst  erheblich  später  verband  man  das  Part,  auch 
mit  den  jüngeren  zusammengesetzten.  Neben  ich  wirde,  ward 
gebunden  traten  ich  bin,  was  gebunden  worden,  neben  ich 
bin,  was  gebunden  :  ich  bin,  was  gebunden  gewesen.  Vor  dem 
13.  Jh.  sind  solche  Verbindungen  nicht,  nachgewiesen;  die  ältesten 
sind  für  werden  Parz.  57,29  nü  was  e^  ouch  über  des  järes  zil  da^ 
Gahmuret  geprlset  vil  was  worden-,  j.  Tit.  885,  1  mit  reimen 
sint  disiu  lider  worden  geme^^en  7'ehter  lenge',  für  sin:  K.  von 
Würzb.  Troj.  16937  ich  hin  begraben  gewesen  (Gr.  4,  162  A.). 

2.  Das  Formensystem  des  Passivs  wurde  durch  diese 
Bildungen  nicht  nur  erweitert,  sondern  auch  einigermassen 
modifiziert.  Die  mit  den  zusammengesetzten  Formen  von 
werden  gebildeten  Tempora  des  Perf.  und  Plq.  schränktea 
einerseits  die  unbestimmte  temporale  Bedeutung  des  alten 
Präteritums  er  ward  gebunden  ein ;  anderseits  übten  sie  Ein- 
fluss  auf  die  Auffassung  des  Partizipiums  in  den  Verbindungen 
mit  sein.  Je  mehr  man  sich  daran  gewöhnte,  die  umständ- 
licheren Bildungen  mit  ist,  war  ■-■-  worden  als  Perf.  und  Plq. 
zu  gebrauchen,  um  so  mehr  wurde  diese  Bedeutung  den  mit 
sein  gebildeten  Formen  entzogen.  Der  adjektivische  Wert, 
den  das  Part,  neben  sein  nie  verloren  hatte,  tritt  also  in  ihnea 
wieder  entschiedener  hervor.  Zwar  brauchen  wir  sie  —  nach 
Wunderlichs  Beobachtung  (1,  146)  namentlich  in  Norddeutsch- 
land —  noch  oft  genug  als  verbale  Prädikate,  um  eine  Hand- 
lung zu  bezeichnen;  aber  als  die  eigentlichen  Verbalformen 
empfinden  wir  doch  die  mit  iverden  zusammengesetzten;  neben 
sein  hat  das  Part,  überall  mehr  den  Charakter  eines  prädi- 
kativen Adjektivums,  am  meisten  natürlich  in  den  doppelt  zu- 
sammengesetzten Formen  er  ist  oder  war  gebunden  geioesen. 
Er  ist  gezwungen  worden  bezeichnet  eine  Handlung  der  Ver- 
gangenheit, er  ist  gezwungen  gewesen  einen  Zustand  der  Ver- 
gangenheit, er  ist  geziüungen  kann  beides  bezeichnen.  —  ün- 
historisch,  aber  dem  jetzigen  Sprachgefühl  entsprechend  könnte 
man  sagen:  'Wir  bilden  das  Passivum  mit  iverden,  können 
aber  in  den  Formen  der  Vergangenheit  worden  fortlassen*. 


142  Zusammengesetzte  Verbalform eii.  [§  77. 

3.  Die  mit  ist,  tvar  —  worden  zusainmengesetzteD  Formen 
der  Vergangenheit  verbreiten  sich  alhnählich  im  14.  und  15.  Jh., 
begegnen  jedoch  noch  in  Luthers  Bibel  nicht  oft  (Weigand, 
ZfdA.  Ij  587  f.).  Die  letzte  V'ermehrung  passiver  Formen  er- 
folgte, als  man  mit  dem  Hülfszeitwort  loerden  auch  die  passiven 
Infinitive,  die  selbst  junge  Bildungen  waren  (§  87),  verband 
und  damit  Formen  für  das  Futurum  und  den  Konditional  ge- 
wann. Hiernach  stellt  sich  das  ganze  System  passiver  Formen 
so  dar: 

Ind.  Opt. 

Präs.  wird  gebunden  werde  gebunden. 

Imp.   ward  geb.  würde  geb. 

würde  geb.  werden. 
Fut.   wird  geb.  werden  werde  geb.  werden. 

Perf.  ist  geb.  (worden)  sei  geb.  (worden). 

Plqp.  war  geb.  (worden)  wäre  geb.  (worden). 

würde  geb.  (worden)  sein. 
Fut.  II  wird  geb.  (worden)  sein  werde  geb.  (worden)  sein. 

Part.  Prät.  in  zusammengesetzten  Formen  der  Vergangenheit. 

77.  {wesan  c.  Part.)^)  1.  Wie  die  Partizipia  transitiver 
Verba,  so  können  auch  die  vieler  Intransitiva  prädikativ  auf 
das  Subjekt  bezogen  werden.  Beide  bezeichnen  einen  durch 
die  Handlung  des  Verbums  herbeigeführten  Zustand,  das  Part, 
der  Transitiva  einen  Zustand,  der  durch  die  Tätigkeit  eines 
andern  herbeigeführt  ist,  z.  B.  er  ist  getötet'^  das  Part,  der 
Intransitiva  einen  Zustand,  in  den  das  Subjekt  durch  die 
Handlung  von  selbst  gerät;  z.  B.  er  ist  gestorben.  Dass  diese 
Bedeutung  nur  dem  Part,  perfektiver  Intransitiva  zukam,  ist 
§  59  bemerkt,  und  daraus  folgt,  wie  Behaghel  in  der  ZfdPh. 
32,  72  zuerst  erkannt  hat,  dass  die  Bildung  zusammengesetzter 
Tempusformen   mit  sein   nur   solchen  Verben   zukommt.     Per- 


1)  Gr.  4,  149  f.  Erdmann  §  147  f.  Wunderlich  I,  195  f.  Wein- 
hold §  487  f.  H.  Paul,  Die  Umschreibung^en  des  Perfektums  im 
Deutschen  mit  haben  und  sein.  München  1902  (Abh.  der  K.  bayr. 
Ak.  d.  W.  I.  Kl.  XXII,  1).  J.  Dieninghoff,  Die  Umschreibungen 
aktiver  Vergangenheit  mit  dem  Part.  Prät.  im  Ahd.  Bonn  1904  (Diss.). 


§  77.]  Formen  der  Vergangenheit  (luesan  c.  Part.).  143 

fektive  Intransitiva,  lautet  die  Regel,  bilden  ihr  Perfektum 
mit  sei7i,  imperfektive  mit  haben.  Genaueres  über  die  Grenze 
zwischen  beiden  Formen  in  §  79  ff. 

2.  Während  zur  Bildung  des  Passivs  beide  Hülfsverba 
tc'esan  und  werdan  gebraucht  werden  und  tmrdan  schliesslich 
die  Herrschaft  gewinnt,  kommt  werdan  für  die  Bildung  der 
aktiven  Tempusformen  kaum  in  Betracht;  im  Gotischen  er- 
scheint es  nie,  im  Hochdeutschen  ganz  selten.  Ein  Präsens 
wirdit  quoman  (er  wird  ein  gekommener  d.  h.  er  kommt)  ist 
nirgends  belegt;  nur  der  Infinitiv  werdan  begegnet  einmal: 
Is.  31,  3  chundida  .  .,  dlia^s  ir  quhoman  scolda  tverdan  tes- 
tabatur  .  .  esse  venturum.  Öfter  kommen  Präterita  wie  ward 
quomaii,  ward  icortan  etc.  vor,  aber  auch  sie  sterben  bald 
ab  ^).  —  Dass  diese  mit  werdan  zusammengesetzten  Formen 
nicht  wie  im  Passiv  zu  einem  festen  Bestandteil  des  Konju- 
gationssystems wurden,  ist  offenbar  darin  begründet,  dass  es 
hier  für  Präs.  und  Prät.  die  einfachen  Tempusformen  quimitj 
quam  gab,  neben  denen  die  zusammengesetzten  überflüssig 
waren. 

3.  In  den  mit  wesan  zusammengesetzten  Formen  dagegen 
gewann  die  Sprache  zwei  neue  Tempora,  ein  Perfektum  und 
Plusquamperfektum,  wie  im  Passiv.  Schon  für  das  Gotische 
ist  dieser  Gebrauch  wohl  anzunehmen.  Zwar  in  dem  Satze 
Jh.  9,  21  silha  usicaJisans  ist,  ina  fraihnip  auiöq  fiXiKiav  e'xei, 
auTÖv  epojTricraTe  steht  uswahsans  noch  ganz  als  prädikatives 
Adjektivum,  \\\Q,vf\\'  erwachsen  zu  gebrauchen  pflegen;  dagegen 
Mc.  1,33  so  haiirgs  alla  garunnana  tcas  at  daura,  x\  ttöXk; 
öXr|  eTTicruvriYjuevri  fjv  rrpö«;  t\\v  Öupav  wird  der  Gote  wie  wir 
das  Part,  als  Ausdruck  verbaler  Tätigkeit  und  infolgedessen 
was  garunnana  als  ein  zusammengesetztes  Tempus  der  Ver- 
gangenheit empfunden  haben.  Wie  im  Ahd.  diese  Formen 
allmählich  geläufig  werden,  lassen  Dieninghoffs  Zusammen- 
stellungen deutlich  erkennen.  Bei  weitem  die  meisten  Verba 
sind  mit  Partikeln  zusammengesetzt  oder  verbunden,  die  auf 
das   Ziel    der    verbalen  Tätigkeit    hinweisen,    und    wo    solche 


1)  Dieninghoff  S.  8  f.  Gr.  4,  7.  156  Anm. 


144  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  78. 

Partikeln  fehlen^  bekundet  die  Vorsilbe  ga-  die  perfektive  Auf- 
fassung-. Nur  queman  entbehrt  diese  Partikel  immer,  werdan 
fast  immer,  weil  diese  Verba  an  und  für  sich  perfektiv  auf- 
gefasst  zu  werden  pflegen.     Dieninghoff  S.  11  f. 

Anm.  Der  perfektische  Wert  einer  Verbindung  des  Parti- 
zipiums mit  sein  erlischt  natürlich  wie  im  Passiv  (§  76,  2),  wenn  wir 
das  Part,  nicht  verbal,  als  Abschluss  einer  Handlung  auffassen, 
sondern  adjektivisch  als  Zustandsbezeichnung,  wie  jenes  got.  uswah- 
sans,  nhd.  erivachsen.  Ob  diese  oder  jene  Auffassung  gilt,  hängt 
vom  Sprachgebrauch  ab  und  ist  nicht  immer  sicher  zu  entscheiden. 
Partizipia,  die  oft  ganz  adjektivisch  gebraucht  werden,  sind  ahd. 
irholgan,  gidigan,  gilegan,  gise^^an\  vgl.  §  83  Anm.  1. 

78.  (haben  c.  Part.)  1.  In  demselben  Sinne,  in  dem  das 
Part,  transitivei-  Verba  neben  ivesan  und  werdan  auf  das 
Subjekt  bezogen  wird,  kann  es  neben  eigan  und  haben  auf 
das  Objekt  bezogen  werden.  Aus  jenen  Verbindungen  erwuchsen 
die  Passivformen,  aus  diesen  zusammengesetzte  Tempusformen 
des  Aktivs.  Im  Gotischen  kommen  solche  Formen  noch  nicht 
vor;  wo  wir  dort  ein  Part,  neben  haban  finden,  behauptet 
sich  hahan  als  Vollverbum,  der  Akkusativ  hängt  von  ihm  ab, 
das  Part,  ist  nur  prädikative  Bestimmung.  So  1  Tim.  4,2; 
oder  Lc.  19,20  im  Gleichnis  vom  ungetreuen  Knecht:  frauja, 
sai  sa  skatts  peins,  panei  habaida  galagidana  in  fanin\  das 
heisst  nicht  Men  ich  in  mein  Tuch  gelegt  hatte',  sondern  fiv 
eixov  d7roK6i)uevriv  ev  cToubapiuj,  den  ich  bewahrte,  bei  Seite 
gelegt  in  meinem  Tuche.  Ganz  ebenso  ist  das  Part,  an  der 
entsprechenden  Stelle  im  Tatian  gebraucht:  c.  151,7  thia  ih 
habeta  gihaltana  in  suei^duohe^  quam  habui  repositam  in 
sudario.  Ebenso  Tat.  c.  102,  2  (Lc.  13, 6)  pMgboum  habeta 
sum  giflanzötan,  arborem  fici  habebat  quidam  plantatam;  das 
heisst  nicht:  ^er  hatte  einen  Feigenbaum  gepflanzt',  sondern, 
wie  Luther  übersetzt:  ^Es  hatte  einer  einen  Feigenbaum,  der 
war  gepflanzt  in  seinem  Weinberge'.  Dagegen  wenn  es  Tat. 
c.  149,4  heisst:  senu,  nu  andero  ßmvi  ubar  tha^  haben 
gistriunitf  et  ecce  alia  quinque  superlucratus  sum,  so  bedeutet 
das  augenscheinlich  nicht:  'ich  besitze  fünf  andere  als  ge- 
wonnene',  was  der  ursprüngliche   Sinn  der  Verbindung   war, 


§  78.]  Formen  der  Vergangenheit  {haben  c.  Part.).  145 

soiidern:  ^fünf  andere  habe  ich  gewonnen';  d.  b.  das  Objekt 
hängt  nicht  mehr  von  ich  habe  ab,  sondern  von  der  zu  einer 
Einheit  /Aisanmiengesetzten  Verbindung  ich  habe  gewonnen. 
Noch  deutlicher  ist  der  Gebrauch  der  zusammengesetzten 
Tempusform  Tat.  c.  28,1  (Mt.  4,  28):  'Wer  ein  Weib  ansieht, 
ihrer  zu  begehren,  in  habet  sia  forlegana  in  sinemo  herzen, 
jam  moechatus  est  eam  (got.  ju  gahörinöda  izai)\  hier  w^äre 
es  widersinnig  sia  als  Objekt  aufzufassen.  Ebenso  0.  5,  7,  29 
sie  eigun  mir  ginomanan  liabon  druhtin  minan.  Wie  hier 
wird  haben  in  allen  andern  germanischen  Sprachen  ausser  im 
Gotischen  zur  Bildung  zusammengesetzter  Zeitformen  gebraucht, 
und  ebenso  in  den  romanischen,  gewiss  nicht  zufällig  (Gr. 
4,  153  f.). 

2.  Ob  die  Formen  mit  eigan  oder  haben  gebildet  sind, 
macht  für  die  Bedeutung  keinen  Unterschied,  doch  scheint, 
wo  beide  Wörter  im  Gebrauch  sind,  zunächst  eigan  als  das 
geeignetere  Mittel,  den  abstrakten  Sinn  des  Hülfszeitw^ortes 
auszudrücken,  empfunden  zu  sein.  Wenigstens  wendet  Otfried, 
so  weit  die  Formen  von  eigan  überhaupt  noch  erhalten  sind, 
nur  diese  an  (OS.  2  §  379).  Aber  Notker  lässt  überall  neben 
eigan  auch  haben  zu  und  bei  Williram  ist  das  defektive  Verbum 
ganz  verschwunden.  Im  Ags.  und  An.  begegnet  überhaupt  nur 
haben  als  Hülfszeitwort. 

3.  In  den  ältesten  hochdeutschen  Denkmälern  kommen 
die  umschreibenden  P^ormen  nicht  oft  vor,  in  manchen  gar 
nicht.  Den  ältesten  Beleg  gewährt  die  Exhortatio:  intfan- 
gan  eigut  accepistis;  im  ganzen  Tatian  finden  sich  nur  die 
beiden  angeführten  (c.  105,2  habes  managiu  guot  gisaztiu 
ist  mindestens  zweifelhaft),  häufiger  werden  sie  bei  Otfried, 
zahllos  sind  sie  bei  Notker.  Aber  wichtiger  als  die  Gesamt- 
zahl der  Belege  ist  es,  die  einzelnen  Bedeutungsgruppen  zu 
verfolgen.  Aus  dem  Ursprung  der  Form  folgt,  dass  sie  zu- 
nächst nur  von  solchen  Verben  gebildet  werden  konnte,  deren 
Objekt  ein  Bezitztum  des  Subjekts  ist,  z.  B.  eUras  erwerben, 
ein  Haus  bauen,  seinen  Acker  bestelle^i  etc.,  denn  das  Verbum 
haben,  von  dem  der  Akkusativ  ursprünglich  abhing,  setzt  ja 
ein    Besitzverhältnis    voraus.     Aber    Tat,  c.  2^^  1    zeigt,    dass 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  10 


146         Zusammen g'esetzte  Verbalformen  der  Vergangenheit.     [§  78. 

diese  Grenze  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  9.  Jh.  über- 
schritten war;  von  jedem  Verbum,  das  ein  transitives  Objekt 
regierte,  konnten  zusammengesetzte  Zeitformen  gebildet  werden. 
Sehr  bald  finden  wir  sie  dann  auch  in  Sätzen,  deren  Verbum 
statt  des  Objekts  einen  abhängigen  Satz  regierte,  (z.  ß.  0. 
1,  5,  39),  oder  einen  Genitiv  (erst  bei  Notker,  z.  B.  1,  26,  13  des 
er  hegunnen  JiaMtä),  endlich  auch  in  solchen,  deren  Verbum 
jeder  objektiven  Ergänzung  ermangelt.  Diese  Erweiterung  des 
Gebrauchs  auf  objektlose  Sätze  lag  nahe,  wenn  das  Verbum, 
obschon  es  in  dem  vorliegenden  Fall  absolut  gebraucht  war, 
doch  eine  Bedeutung  hatte,  die  die  Ergänzung  eines  Objekts 
gestattete;  z.  B.  Notker  1,  44,  24  also  du  nü  vernomen  habest. 
Schliesslich  aber  wurden  die  Formen  auch  von  rein  intransi- 
tiven Verben  gebildet,  natürlich  nur  von  solchen,  die  sich  der 
Verbindung  mit  sein  entzogen  hatten,  also  von  den  imper- 
fektiven, ziellosen.  Beispiele  dieser  Art  bei  Notker,  z.  B. 
1,  8,  19  wanda  si  mir  aber  nü  geswichen  habet  \  2,  151,  4 
wanda  ih  dir  gesundot  haho  etc.     Dieninghoff,  S.  15  f. 

4.  Mit  diesem  letzten  Schritt  hatte  die  Sprache  für  Verba 
jeder  Art  die  Möglichkeit  erreicht,  ein  gleichmässiges  System 
von  Tempusformen  auszubilden.  Im  Passiv  und  Aktiv,  bei 
transitiven  und  intransitiven  Verben  standen  vier  Formen  zur 
Unterscheidung  von  Präsens  und  Präteritum,  Perfektum  und 
Plusquamperfektum  zu  Gebote.  Zuerst  war  dieser  Reichtum 
im  Passiv  erreicht,  dann  bei  perfektiven  Intransitiven  und  bei 
Transitiven,  zuletzt  bei  imperfektiven  Intransitiven.  Aber  doch 
waren  nicht  alle  Verba  gleich  geeignet  zur  Bildung  zusammen- 
gesetzter Formen;  denn  die  Voraussetzung  dafür  war  die  Exi- 
stenz eines  Part.  Prät.  und  dies  war  gewiss  nicht  von  allen 
Verben  üblich.  Von  vielen  intransitiven  Verben  wird  das 
Part,  nur  in  den  zusammengesetzten  Formen  gebraucht  (§  59, 1) 
und  erst  die  Verbreitung  dieser  wird  den  Anlass  zu  seiner 
Bildung  gegeben  haben.  Die  allmähliche  Vermehrung  der 
Partizipia  ist  noch  nicht  beobachtet;  bekannt  ist,  dass  im 
Gotischen  Part.  Prät.  nur  von  sehr  wenigen  intransitiven  Verben 
belegt  sind  (ZfdPh.  5,  301  AfdA.  14,  286)  und  dass  sie  den 
Präterito-Präsentia    und    dem    Verbum    subst.    noch    im    Ahd. 


§  79.]  sein  und  haben  bei  intransitiven  Verben.  147 

fehlen.  Ja  in  gewissen  Verbindungen  sind  die  mit  dein  Part. 
Prät.  zusammengesetzten  Zeitformen  noch  jetzt  nicht  durch- 
gedrungen (§  86). 

5.  Dass  zum  Imperativ  zusammengesetzte  Formen  der 
Vergangenheit  im  allgemeinen  nicht  gebildet  werden,  ist  in 
der  Bedeutung  des  Modus  begründet;  doch  kommen  sie  hin 
und  wieder   vor,   schon  im  Mhd.  Blatz  2,  535.    Erdm.  §  161. 

sein  und  haben  bei  intransitiven  Verben. 

79.  1 .  Dass  von  einem  Teil  der  intransitiven  Verba  zu- 
sammengesetzte Zeitformen  mit  sei7i  gebildet  wurden,  war  in 
ihrer  perfektiven  Bedeutung  begründet;  dass  diese  Form  nicht 
auf  die  übrigen  Intransitiva  übertragen  wurde,  darin,  dass 
daneben  zusammengesetzte  Formen  mit  haben  entstanden,  die 
in  ihrer  grossen  Masse  die  imperfektiven  Intransitiva  in  ihre 
Bahn  zogen.  Auffallend  aber  ist,  dass  auch  in  der  Folgezeit 
die  perfektiven  Intransitiva  ihre  Sonderstellung  behaupteten. 
Denn  nachdem  die  Verbindung  des  Partizipiums  mit  dem 
Hülfszeitwort  zur  blossen  Zeitform  geworden  war,  schien  die 
Aktionsart,  die  ursprünglich  den  Gebrauch  geregelt  hatte, 
gleichgültig.  Wenn  trotzdem  die  alte  Grenze  im  ganzen  er- 
halten und  noch  heute  wohl  zu  erkennen  ist,  so  liegt  der 
Grund  darin,  dass  andere,  lebendigere  Bedeutungsmomente  sie 
auf  lange  Strecken  stützten  und  sicherten.  Wo  dieser  Schutz 
fehlte,  sind  auch  Verschiebungen  eingetreten. 

2.  Die  beiden  Verba,  die  im  Ahd.  am  frühesten  und 
häufigsten  in  zusammengesetzten  Zeitformen  mit  sein  vor- 
kommen, sind  queman  und  i€erdan\  fast  die  Hälfte  aller  Be- 
lege kommt  auf  diese  beiden  Verba  (Dieninghoff  S.  9).  Sie 
können  zugleich  als  Repräsentanten  der  beiden  umfassendsten 
Bedeutungsgruppen  perfektiver  Intransitiva  dienen;  kommen 
ist  ein  Verbum  der  Bewegung,  werden  (ursprünglich  gleich- 
falls ein  Verbum  der  Bewegung)  bezeichnet  den  Eintritt  des 
Subjekts  in  einen  neuen  Zustand.  Diesen  beiden  Gruppen  ge- 
hören fast  alle  Verba  an,  die  zusammengesetzte  Tempora  mit 
sein  bilden.     Wie  sich  der  Gebrauch  bei  den  einzelnen  Verben 


J48         Zusammengesetzte  Verbalformen  der  Vergangenheit.     [§  80. 

gestaltet  bat,  kann  hier  nicht  verfolgt  werdend;  einige  all- 
gemeinere Züge  werden  am  besten  hervortreten,  wenn  wir  die 
beiden  Hauptgruppen  ins  Auge  fassen. 

80.  (Verba  der  Bewegung.)  1.  Verba  der  Bewegung 
können  an  und  für  sich  perfektiv  und  imperfektiv  aufgefasst 
werden.  Wenn  wir  uns  die  Tätigkeit  als  solche  vorstellen, 
sind  sie  imperfektiv,  wenn  wir  Ende  oder  Ziel  der  Bewegung 
im  Auge  haben,  perfektiv.  Bei  kommen  pflegt  sich  perfektive 
Auffassung  schon  mit  dem  Verbum  an  sich  zu  verbinden, 
bei  andern  findet  sie  ihren  Ausdruck  in  Raumpartikeln  oder 
adverbialen  Bestimmungen;  neben  solchen  also  erscheint  das 
Perfektum  mit  sein,  ohne  sie  mit  haben;  vgl.  Wir  haben 
getanzt  :  sie  sind  aus  dem  Hause  getanzt.  Wir  haben  ge- 
rudert, gesegelt,  geschicommen :  ivir  sind  über  den  See  ge- 
rudert etc.  Er  hat  geioanM,  getaumelt :  ist  aus  der  Tür 
gewankt.  Der  Vogel  hat  geflattert :  er  ist  ins  Nest  geflattert. 
Die  Bienen  haben  geschwärmt :  sie  sind   ausgeschicärmt  etc. 

2.  Aber  nicht  immer  hängt  in  der  jetzigen  Sprache  der 
Gebrauch  von  sein  und  haben  von  der  perfektiven  Bedeutung 
ab.  Der  alten  Regel  gemäss  heisst  es  Kehr.  5056  nü  hän  ich  un- 
rehte  gevarn  ich  bin  verkehrt  g*efahren,  habe  mich  verirrt.  Herb. 
220  er  hete  gevarn  durch  diu  laut.  Hamle  MSH.  1,112  b  da^  ich 
mtne  vüe^e  setzen  müe^e^  da  min  vrouwe  hat  gegän.  Hartman  MF. 
210,  15  der  [der  Welt]  hacken  hän  ich  manegen  tac  gelaufen  nach. 
Schönbach,  Pred.  1,58,1  also  hat  uns  unser  hej're  Jesus  Christus 
vor  gevlogen.  Erec  6680  und  wcere  ich  gewesen  hl,  ich  hete  geflohen. 
Laurin  1509  die  vor  gevlohen  häten,  die  sluogen  wider  genöte.  Oft 
auch  noch  bei  Luther:  2  Kor.  12,  18  haben  tcir  nicht  in  einerlei 
fufsstapfen  gegangen.  Hiob  38, 16  bist  du  in  den  grund  des  meeres 
konien  und  hast  in  den  fufsstapfen  der  tiefen  geivandelt.  Gal.  2,2 
auff  dasz  ich  nicht  vergeblich  lieffe  oder  gelaufl^en  hatte.  4  Mos. 
22,  33  die  eselin  hat  mich  gesehen  und  mir  dreimal  geivichen.  Wir 
würden  in  allen  diesen  Sätzen  sein  brauchen.  Offenbar  ist  statt 
des  alten  Gesichtspunktes  ein  neuer  zur  Geltung  gekommen: 
wir  brauchen  sein,  wenn  wir  eine  Ortsveränderung  des  Subjekts 


1)  Vgl.  Gr.  4, 160  ff.     Wunderlich  1,  206  f.  und  namentlich  die 
inhaltreiche  Abhandlung  Pauls  (s.  §  77  Fussn.). 


§  80.]  sein  und  haben  bei  Verben  der  Bewegung.  149 

als  Resultat  der  Beweg-ung  ansehen,  mag  das  Verbum  per- 
fektiv oder  imperfektiv  sein.  Da  bei  allen  Verben  der  Be- 
wegung, wenn  sie  perfektiv  aufgefasst  werden,  eine  Orts- 
veränderung des  Subjekts  eintritt,  hatte  man  sich  daran 
gewöhnt,  darin  das  wesentliche  Moment  für  den  Gebrauch  von 
sein  /AI  erblicken  und  Hess  es  demgemäss  auch  bei  imper- 
fektiven Verben  zu.  Besonders  deutlich  zeigt  sich  dieser  neue 
Gesichtspunkt  bei  folgen.  Im  Mhd.  wurde  das  Verbum  immer  mit 
haben  verbunden;  auch  Luther  konstruiert  es  fast  immer  so  und 
viele  Belege  bieten  auch  noch  die  folgenden  Jahrhunderte;  aber 
seit  dem  15.  Jh.  zeigt  sich  neben  haben  auch  sein,  und  hat  schliess- 
lich jenes  fast  ganz  verdrängt.  Nur  wenn  das  Verbum  in  über- 
tragenem Sinne  und  ohne  dativische  Bestimmung  gebraucht  ist, 
behauptet  sich  noch  haben,  also  in  Sätzen  wie:  Das  Kind  hat  gefolgt 
(Paul  S.  190). 

Anm.  Selbst  neben  Zielbestimmungen  kommt  haben  vor; 
z.  B.  Nib.  393,  4  durch  wes  liebe  die  helde  her  gevarn  hän.  2029,  4 
wand  ich  vriuntltche  in  ditze  lant  geriten  hän.  Konrads  Silvester 
1291  wand  er  mit  sinen  pf äffen  hete  vor  Constanttne  dar  geflohen. 
Eine  Trübung  des  Sprachgefühls  braucht  man  deshalb  nicht  anzu- 
nehmen; denn  die  Erwähnung-  des  Zieles  schliesst  die  imperfektive 
Vorstellung  nicht  unbedingt  aus  (Paul  S.  18'2.  187). 

3.  haben  gilt  also  im  allgemeinen  nur  noch  da,  wo  die 
Bewegung  nicht  auf  eine  Ortsveränderung  hinzielt;  und  selbst 
in  diesem  Gebiet  ist  es  nicht  mehr  ganz  sicher.  In  dem  Satze: 
Die  Fahnen,  die  so  lustig  im,  Winde  geflogen  hatten  (Immermann) 
können  wir  haben  nicht  durch  sein  ersetzen.  Auch  Nib.  232,  3,  wo 
es  von  den  turnierenden  Helden  heisst:  die  recken  von  dem  JRtne, 
die  habent  so  gerite7i  widerspricht  unserem  Gebrauch  nicht.  Ebenso 
lassen  wir  haben  in  dem  Satze  Lessings  (M.  v.  B.)  gelten:  Der  Kutscher 
hatte  in  Wien  zehn  Jahre  gefahren.  Aber:  die  Uhr  hat  gut  ge- 
gangen sagt  man  kaum,  obwohl  die  Uhr  sich  gar  nicht  vom  Platze 
bewegt,  und  auch  das  mundartlich  noch  verbreitete:  es  hat  (ihm) 
gut  gegangen  wird  von  der  Schriftsprache  nicht  anerkannt.  Der 
weit  überwiegende  Gebrauch  von  sein  hat  bei  dem  Verbum  'gehen' 
haben  ganz  verdrängt.  —  varan  wird  in  der  älteren  Sprache  in  der 
Bedeutung  sich  benehmen,  verfahren  regelmässig  mit  haben  ver- 
bunden; z,  B.  N.  Boeth.  1,98,30  sid  si  wider  in  ba^  habe  gevaren 
danne  wider  andere;  ebenso  mhd.  mite  varn  und  selbst  im  Nhd. 
verfahren  mit;  z.  B.  von  Schiller:  Ma7i  hat  zu  rasch  verfahren.  Ja 
würdig  hast  du  stets  mit  uns  verfahren.  Jetzt  folgt  das  Wort  dem 
Simplex  und  verlangt  sein. 


150         Zusammengesetzte  Verbalformen  der  Vergangenheit.     [§  81. 

81.  1.  Manche  Verba  sind  erst  durch  Bedeutungswandel 
zu  intransitiven  Bewegungsverben  geworden;  so  sprengen, 
rennen,  setzen,  kehren,  lenken,  streichen,  streifen,  schweifen, 
landen  (mhd.  lenden),  rücken,  dringen,  jagen,  in  See  stechen', 
ferner  treiben,  stürzen,  ziehen,  stossen,  schlagen,  treten, 
brechen,  reissen,  eilen,  gelangen,  eintreffen.  Es  ist  begreif- 
lich, dass  man  solche  Verba  noch  mit  haben  verbunden  findet, 
wo  man  sie  doch  schon  als  intransitive  Bewegungsverba  auf- 
fassen kann  oder  muss,  sei  es  dass  die  alte  Bedeutung  noch 
nicht  ganz  erloschen,  oder  dass  die  in  ihr  wurzelnde  Form  in 
der  Sprache  festgehalten  ist.  So  findet  sich  unserem  Gebrauch 
widersprechend  in  älterer  und  neuerer  Literatur  haben  namentlich 
bei  treten:  Pass.  390,88  ich  habe  getreten  vor  got.  316,24  hete  ein 
böte  hin  getreten.  Kenner  14660  heten  si  kristen  glouben  bekant,  si 
heten  niemer  davon  getreten,  und  so  auch  noch  später.  Ebenso  bei 
eilen:  Luther  Hiob  31,  5  hat  mein  Fuss  geeilet  zum  Betrug.  A.  S. 
Clara  er  hat  zu  Pferde  dahin  geeilt',  bei  eintreffen:  Lessing:  Hat 
meine  traurige  Ahnung  eingetroffen P  Schiller:  So  hat  also  doch 
unsere  Prophezeiung  eingetroffen.  In  diesen  Sätzen  würden  wir 
jetzt  sein  brauchen. 

2.  Wo  sich  haben  neben  sein  gehalten  hat,  regelt  sich 
der  Gebrauch  nach  denselben  Gesichtspunkten  wie  bei  den 
ursprünglichen  Bewegungsverben.  Wenn  wir  in  dem  Verbum 
nur  den  Ausdruck  einer  Tätigkeit  oder  eines  Vorganges  sehn, 
gilt  haben,  sein  erscheint  um  so  notwendiger,  je  mehr  wir 
die  Ortsveränderung  des  Subjekts  im  Auge  haben;  vgl.  z.  B» 
Der  Habicht  hat  auf  Tauben  gestossen ;  er  hat  an  den  Tisch 
gestossen  :  Das  Schiff  ist  auf  den  Grund  gestossen  \  und  über- 
tragen: er  ist  auf  Schwierigkeiten  gestossen.  Sie  haben 
gejagt  {=  geeilt),  dass  Kies  und  Funken  stoben  :  Die  Reiter 
sind  aus  der  Stadt  gejagt.  Ich  habe  auf  einen  Stein  getreten  : 
Er  ist  eingetreten,  abgetreten,  ans  Fenster  getreten.  Der 
Blitz  hat  eingeschlagen  :  Er  ist  hingeschlagen  (=  hingefallen). 
Auch  in  Sätzen,  in  denen  wir  beide  Verba  brauchen  können, 
bleibt  oft  ein  merklicher  Unterschied  fühlbar;  z.B.  Er  ist  fort- 
gerückt, mir  näher  gerückt :  er  ist  od.  hat  gerückt  {=  Platz  gemacht). 
Der  Schiffer  hat  od.  ist  abgestossen.  Die  Flotte  hat  od.  i.st  gelandete 
Fr  hat  od.  ist  über  den  Bach  gesetzt.  Das  Heer  hat  od.  ist  über- 
gesetzt.   Er  hat  od.  ist  mit  dem  Kopf  auf  geschlagen.     Übertragene 


§  81.]  sein  und  haben  bei  Verben  der  Bewegung.  151 

Bedeutung  schützt  und  fördert  begreiflicher  Weise  den  Ge- 
brauch von  haben'^  vgl.  Z>er  Feind  ist  in  die  Stadt  gedrungen-. 
Er  hat  od.  ist  in  mich  gedrungen;  hat  darauf  ged7mnge7i.  Der 
Kutscher  ist  od.  hat  soeben  in  den  Hof  eingelenkt :  Er  hat  einge- 
lenkt (=  nachgegeben).  —  In  allen  angeführten  Beispielen  hat 
das  mit  sein  verbundene  Verbum  perfektive  Bedeutung.  Dass 
aber  wie  bei  den  ursprünglich  intransitiven  Bewegungsverben 
jetzt  nicht  die  Perfektivität  der  Handlung,  sondern  die  Orts- 
veränderung des  Subjekts  den  Ausschlag  gibt,  zeigen  einige 
andere.  Bei  reisen  ist  der  Gebrauch  von  haben  noch  nicht  ganz 
aufgegeben.  Wir  können  noch,  wie  Goethe  gelegenthch,  sagen: 
ein  Mann,  der  erst  in  Handels-,  dann  in  politischen  Geschäften  viel 
gereist  hatte,  aber  das  gewöhnliche  ist  doch  gereist  ivar.  Auch  bei 
rennen  ist  die  alte  Bedeutung,  in  der  es  z.  B.  in  der  Zimmerschen 
Chronik  I,  272, 17  steht:  so  haben  acht  graven  und  freiherren  gerannt 
und  gestochen,  fast  ganz  verloren  und  demnach  sein  allgemein 
geworden,  auch  in  Verbindungen,  in  denen  das  Verbum  durchaus 
nicht  perfektiv  aufgefasst  wird.  Adelung  verzeichnet  bei  diesem 
Wort  noch  haben. 

3.  Die  umgekehrte  Entwickelung,  dass  bei  einem  Verbum 
der  Bewegung  durch  Bedeutungswandel  sich  haben  für  sein 
festgesetzt  hat,  ist  selten.  Wie  vallen  wurde  das  Kompositum 
ge Valien  ursprünglich  mit  sin  verbunden,  auch  in  der  Bedeutung 
placere;  z.  B.  W.  Gast  11221  ich  wcen  da^  alle^  sin  gesanc  st  got 
niht  s6  wol  gevallen.  Ebenso  missevallen :  Krone  11084  da^  ej  den 
fürsten  allen  wcere  harte  missevallen.  Jetzt  brauchen  wir  haben.  — 
fortfahren  in  eigentlicher  Bedeutung  verlangt  sein,  in  über- 
tragener wird  es  mit  sein  und  haben  verbunden.  Er  ist  in  od.  mit 
seinem  Wagen  fortgefahren.  Er  ist  od.  hat  in  od.  mit  seinem  Vor- 
trage fortgefahren \  aber  nur:  Er  hat  fortgefahren  zu  reden:,  denn 
durch  die  Verbindung  mit  dem  Infinitiv  hat  das  Verbum  sich  weiter 
von  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  entfernt, 

Anm.  Wie  sich  der  Bedeutungswandel  bei  den  einzelnen 
Verben  vollzogen  hat,  ist  nicht  immer  leicht  und  sicher  zu  erkennen 
und  kommt  hier  nicht  in  Betracht,  reisen  (^von  reisa  abgeleitet) 
bedeutet  eigentl.  eine  Fahrt  unternehmen,  eilen  sich  beeifern,  ein- 
treffen ins  Schwarze  treffen,  langen,  gelangen  sich  erstrecken  bis 
zu  einem  Punkte,  die  Hand  wonach  ausstrecken.  Nicht  wenige  sind 
dadurch  aus  Transitiven  zu  Intransitiven  geworden,  dass  man  sich 
gewöhnte,  ein  Objekt  als  selbstverständlich  fortzulassen,  so  rennen, 
landen,  lenken,  aufbrechen.  Zu  intransitiven  Bewegungsverben  sind 
dann    die    meisten   jedenfalls  durch  häufige  Verbindung  mit  adver- 


152         Zusammengesetzte  Verbalformen  der  Vergangenheit.     [§  82. 

bialen  Bestimmungen  der  Richtung  geworden,  die  in  der  jüngeren 
Sprache  ja  geradezu  ein  Mittel  geworden  sind,  Verba,  die  an  und 
für  sich  keine  Bewegungsverba  sind,  zu  solchen  umzuschaffen :  Er 
ist  abgedampft,  eine  Dame  ist  an  uns  vorüber  gerauscht,  ein  Blitz 
ist  herab  vom  Himmel  geflammt  etc.  Paul  S.  198  f. 

4.  Als  eine  besondere  Gruppe  sind  die  Verba  anzuführen, 
bei  denen  die  Verschiedenheit  der  Bedeutung  mit  einena  eigen- 
tümlichen Wechsel  des  Subjekts  zusammenhängt.  Verba,  die 
an  und  für  sieh  keine  Bewegung  bezeichnen,  erscheinen  als 
Bewegungsverba,  wenn  das  Subjekt  zum  Ausgangspunkt  der 
Tätigkeit  gemacht  wird ;  vgl.  Das  Eisen,  das  Feuer  hat  Funken 
gesprüht :  Funken  sind  aus  dem  Feuer  gesprüht.  Er  hat  Wasser  od. 
Tnit  Wasser  gesp>ritzt :  Das  Wasser  ist  aus  der  Röhre  gespritzt.  Er 
hat  Blut  geschivitzt ;  Ihm,  ist  Blut  aus  dem  Leibe  geschwitzt.  Der 
Kessel  hat  geleckt :  Das  Wasser  ist  aus  dem  Kessel  geleckt.  Und 
umgekehrt  können  Bewegungsverba  diese  Bedeutung  verlieren, 
wenn  der  Gegenstand,  der  der  Ausgangspunkt  der  Bewegung 
ist,  zum  Subjekt  gemacht  wird :  Das  Wasser  ist  aus  dem  Topfe 
gelaufen,  geronnen  :  Der  Topf  hat  gelaufen.  Der  Schwei.ss  ist  von 
der  Stirne  getrieft :  Die  Stirne  hat  von  Schweiss  getrieft.  Das  Wasser 
ist  aus  der  Röhre  geflossen :  Die  Röhre  hat  geflosseji.  Bei  solchen 
Verben  bleiben  haben  und  sein  scharf  geschieden.  Wenn  es 
heisst:  Das  Fass  ist  ausgelaufen,  leer  gelaufen,  obwohl  laufen  hier 
doch  keine  Bewegung  des  Subjekts  bezeichnet,  so  ist  das  darin 
begründet,  dass  in  diesem  Satze  das  Prädikat  eine  Änderung  des 
Zustandes  bezeichnet,  also  in  die  zweite  Hauptgruppe  fällt. 

5.  Endlich  seien  noch  einige  Verba  erwähnt,  die  nicht 
sowohl  eine  räumliche  Bewegung  als  eine  räumliche  Ausdehnung 
des  Subjekts  bezeichnen.  Bei  ihnen  schwankt  der  Gebrauch. 
Gewöhnlich  braucht  man  sein:  Das  Feuer  ist  aufgeflackert,  auf- 
gelodert, es  hat  od.  ist  aufgeflammt.  Das  Wasser  ist  empor  gewallt, 
aber  übertragen:  Sein  Herz  hat  hoch  aufgewallt  (Paul  S.  198).  — 
Andere,  bei  denen  man  weniger  die  räumliche  Änderung  als  eine 
Änderung  der  Beschaffenheit  des  Subjekts  im  Auge  hat,  führen  zu 
der  zweiten  Hauptgruppe  hinüber.  Bei  ihnen  wird  sein  gebraucht 
und  das  Partizipium  nähert  sich  dem  Adjektivum  ;  Das  Wasser,  die 
Fäs.se  sind  geschwollen;  die  Haut  ist  eingeschrumpft;  das  Zahn- 
fleisch ist  geschwunden  etc.     Über  ehitvurzeln  s.  Paul  S.  171. 

82.  (Verba  des  Werdens.)  1.  Die  zweite  grosse  Gruppe 
von   intransitiven  Verben,   die   ihr  Perfektum   mit  sein  bilden, 


§  82.]  sein  und  haben  bei  Verben  des  Werdens.  153 


sind  Verba  des  Werdens,  Verba,  die  nicht  eine  äussere  Be- 
wegung^ sondern  eine  Entwickelung  von  innen  heraus  be- 
zeichnen. An  und  für  sich  kommt  ihnen  perfektive  Bedeutung 
ebensowenig  zu  wie  den  Verben  der  Bewegung.  Aber  die 
meisten  pflegen  doch  perfektiv  gebraucht  zu  werden,  bezeich- 
nen nicht  nur  ein  Werden,  sondern  ein  Werden  zu  etwas,  den 
Übergang  zu  einem  neuen  Zustand  oder  einer  neuen  Tätigkeit. 
Gewöhnlich  sind  diese  Verba,  besonders  in  der  jüngeren 
Sprache,  mit  Partikeln  zusammengesetzt,  entweder  untrenn- 
bar mit  unbetonten  Vorsilben,  z.B.  genesen,  gefrieren,  eutblühen, 
-brennen,  -schlafen,  •schlunime7^n,  namentlich  mit  er  (Ingressiv):  er- 
beben, -blühen,  -frieren,  -glänzen,  -glimmen,  -glühen,  -klingen,  löschen, 
-schallen,  -schrecken,  -staunen,  sticken,  tönen, -zitte7^7i  und  mit  v  er - 
(effektiv):  verblüheti,  -brenne?!,  -dampfen,  -derben,  -dorre7i,  -dunstefi, 
-dursten,  -harschen,  -hungern,  -glimmen,  -glüheii,  -klingen,  -krachen, 
-löschen,  -m^odern,  -rauchen,  -schallen,  -schimmeln,  -schmachten,  -siegen, 
-wesen\  oder  trennbar:  auf-leben,  -wachen,  -tauen-^  abbrennen, 
-welken;  an-brennen\  ein-frieren,  -nicken,  -schlafen,  -schrumpfen. 
Viele  sind  von  Nominibus  abg-eleitet,  die  den  Zustand  bezeichnen, 
dem  die  Entwickelung-  zustrebt;  z.  B.  altern,  bleichen,  fauleii,  trock- 
nen, und  viele  mit  er-  und  ver-:  erblassen,  -bleiche^!,  -blinden, 
-grimmen,  -kalten,  -kranken,  -lahmen,  -matten,  -i^öten,  -schlaffen, 
-starken,  -starren,  -warmen\  ver-armen,  -kalken,  -kohle^i,  -knöchern, 
-rohen,  -sauern,  -stummen,  -tvelken,  -icilde^m.  Bei  anderen  er- 
füllen prädikative  Bestimmungen  diesen  Zweck,  besonders  bei 
werden:  gross  werden,  stark  w.,  zu  nicht e.,  zu  Wasser 
werden;  nur  selten  drücken  einfache,  unabgeleitete  Verba  an 
sich  diesen  Sinn  aus:  ste7^ben,  bersten,  schmelzen',  ebenso 
einige,  die  auch  in  anderem  Sinne  gebraucht  werden:  Der 
Strick  ist  gerissen ;  das  Messer  ist  gebrochen ;  die  Saite  ist 
gesprungen:  das  Wasser  ist  gefroren,  (dagegen:  es  hat  ge- 
froren [=  war  unter  0^],  mich  hat  gefroren).  Alle  diese  Verba 
pflegen  perfektiv  aufgefasst  und  demgemäss  mit  sein  verbunden 
zu  werden.  Nur  wenige  fassen  wir  auch  imperfektiv  auf  und 
verbinden  sie  dann  mit  haben :  Er  hat  gealtert ;  sein  Haar 
hat  gebleicht-,  die  Wunde  hat  gut  geheilt;  die  Wäsche  hat 
gut  getrocknet.  Die  Verbindung  mit  sein  bezeichnet,  dass 
das  Subjekt  den  Zustand,  auf  den  das  Verbum  hinweist,  er- 
reicht, die  mit  haben,  dass  es  sich  ihm  nur  genähert  hat. 


154         Zusammengesetzte  Verbalformen  der  Vergangenheit.     [§  83. 

2.  Aber  wie  bei  den  Verben  der  Bewegung  setzt  auch 
bei  denen  des  Werdens  der  Gebrauch  von  sein  nicht  immer 
perfektive  Auffassung  voraus.  wachsen^  schicinden,  schiessen 
(=  schnell  emporwachsen),  gedeihen,  schwellen,  gälten,  arten  nach, 
geraten,  missraten,  glücken  bezeichnen  zwar  auch  eine  Entwickelung 
des  Subjekts,  weisen  aber  nicht  bestimmt  auf  den  Eintritt  in  einen 
anderen  Zustand,  und  demgemäss  kommt  bei  manchen  von  ihnen 
in  früherer  Zeit  auch  haben  vor;  so  bei  raten  (Paul  S.  168):  Erec 
2914  sin  sun  der  schöne  wol  geraten  hat  (istät);  im  älteren  Nhd. 
auch  bei  gelingen,  misslingen,  glücken  (a.  0.  S.  168  f.),  wachsen 
(a.  0.  S.  181);  bei  arten  nach,  gären  brauchen  wir  jetzt  noch  beide 
HülfszeitM'örter:  Er  hat  od.  ist  nach  seinem  Vater  geartet.  Der 
Wein  hat  gegoren,  (und  übertragen:  Es  hat  im  Volke  gegärt),  da- 
gegen: Der  Wein  ist  zu  Essig  gegoren.  Bei  den  andern  aber  ist 
nur  sein  üblich,  der  Gebrauch  des  Verbums  also  über  seine  ur- 
sprünglichen Grenzen  ausg'edehnt. 

3.  Umgekehrt  haben  einige  Verba,  deren  Bildung  und 
Bedeutung  perfektive  Auffassung  voraussetzen  Hesse,  haben 
angenommen.  Bei  verzagen  und  verzweifeln  finden  wir  haben 
neben  sein  schon  im  Mhd.,  jetzt  gilt  es  allein  (a.  0.  S.  171).  Das 
Partizipium  dieser  Verba  hat  neben  sein  rein  adjektivische  Bedeutung, 
kann  also  nicht  mehr  der  Bildung  des  Perfektums  dienen,  tagen 
wird  im  Mhd.  nur  mit  sin  verbunden;  jetzt  wie  dämmern,  dunkeln 
stets  mit  haben  (a.  0.  S.  204). 

Anm.  Es  liegt  in  der  Bedeutung  der  Verba  des  Werdens, 
dass  ihre  zusammengesetzten  Formen  nicht  in  demselben  Masse  wie 
die  der  Bewegungsverba  geeignet  sind,  die  Vergang-enheit  zu  be- 
zeichnen. Während  wir  in  Sätzen  wie:  Er  ist  abgereist,  ausgegangen, 
geflohen  etc.  das  Prädikat  als  Vorgang*  der  Vergangenheit  auf- 
zufassen pflegen,  neigen  wir  in  solchen  wie:  Die  Blume  ist  ver- 
blüht:, die  Flamme  ist  verloschen:,  das  Wasser  ist  gefroren  dazu, 
das  Prädikat  als  Zustand  der  Gegenwart,  das  Partizipium  als  Ad- 
jektivum  aufzufassen.  Verbale  Auffassung  und  Beziehung  auf  die 
Vergangenheit  ist  keineswegs  ausgeschlossen,  ebensowenig  wie  bei 
den  mit  sein  gebildeten  passivischen  Perfektformen  (vgl.  z.  B.  er  ist 
gestorben  :  Er  ist  tot)\  aber  sie  liegt  uns  oft  ferner  und  findet  in 
der  Sprache  keinen  bestimmten  Ausdruck.  Formen  mit  ist  worden, 
die  im  Passiv  das  Perfektum  als  einen  Vorgang  der  Vergangenheit 
bestimmt  bezeichnen,  fehlen  hier. 

83.  {sitzen,  liegen^  steJiv,  bleiben,  sein,)  1.  Noch  sind 
einige  Verba  zu  erwähnen,   die  sich  nicht  wohl  in  die  beiden 


§  83.]  sein  und  haben  bei  sitzen,  liegen^  stehen.  155 

grossen  Gruppen  einfügen  und  manche  Eigentümlichkeit  zeigen. 
Von  besonderem  Interesse  wegen  des  Unterschieds  zwischen 
Süd-  und  norddeutschem  Gebrauch  sind  die  Verba  liegen^ 
sitzen^  stehen  (Paul  S.  172).  Diese  Verba  konnten  sowohl 
imperfektiv  als  Ruheverba  gebraucht  werden  {—  1.  cubare^ 
sedere,  stare)^  als  auch  perfektiv  zur  Bezeichnung  des  Über- 
ganges in  die  Ruhelage  (=  1.  cumbere,  sidere,  sistere),  und 
dieser  doppelten  Bedeutung  entsprechend  sollte  man  auch 
doppelte  Perfektbildung  mit  haben  und  sein  erwarten.  In  der 
Tat  finden  wir  in  der  älteren  Sprache  auch  beide  Formen,  doch 
wird  gewöhnlich  auch  bei  imperfektiver  Auffassung  sin  gebraucht. 
z.  B.  Wh.  201,25  mit  kilchenvarwem  velle  ivas  er  üf  einer  hackebanc 
die  naht  gelegen  (hatte  er  gelegen).  Pass.  K.  460,  31  dö  si  und  ir 
man  ensamt  gese^^en  wären  an  der  e  ein  ganzem  jär.  Parz.  589,  9 
(eine  Säule)  s6  grö;^,  froun  Camillen  sarc  wcer  drüfe  ivol  gestanden 
(hätte  wohl  darauf  gestanden,  darauf  stehen  können);  auch  von 
Luther,  z.  B.  Jh.  11, 17  das  er  schon  vier  tage  im  grabe  gelegen  ivar. 
Mc.  11,2  ein  füllen,  auf  welchem  nie  kein  mensch  gesessen  ist.  Jer. 
18,20  lüie  ich  für  dir  gesta72den  bin.  haben  begegnet  im  Mhd.  im 
ganzen  selten ;  z.  B.  Reinmar  MF.  152,  4  so  ist  mir  also  wol  ze  muote, 
als  der  bt  frouwen  hat  [BC,  iiit  E]  gelegen.  Parz.  563,  20  ich  hän  für 
war  hie  gese^^en  manic  jär.  Reim,  von  Zweter  60,  7  ich  hän  däbl 
gestanden  wnd  gese^^en.  In  Stiddeutschland  ist  sein  ganz  all- 
gemein geworden,  so  dass  wie  im  Präsens  so  auch  im  Präte- 
ritum dieselbe  Form  in  beiden  Bedeutungen  gebraucht  wird. 
In  Norddeutschland  dagegen  ist  die  perfektive  Bedeutung  und 
mit  ihr  die  Verbindung  mit  sein  aufgegeben.  Wir  brauchen 
die  Verba  nur  als  Ruheverba  und  bilden  demgemäss  ihr  Perf. 
mit  hahefi. 

Anm.  1.  Da  gelegen  und  gesessen  zu  den  Partizipien  gehören, 
die  von  jeher  rein  adjektivisch  g-ebraucht  werden  konnten  (§  77 
Anm.),  so  konnten  ist  gilegan,  ist  gise^^an  auch  die  Bedeutung* 
eines  imperfektiven  Präsens,  icas  gilegan,  gise^^an  die  Bedeutung 
eines  imperfektiven  Präteritums  haben  (§  73,4);  z.  B.  Notker  Ps.  8,2 
(2,  20,  24)  da;^  du  da  gise^^an  bist  ad  dexteram  patris  =  dass  du  da 
sitzest.  Nib.  325, 1  e^  was  ein  küneginne  gesessen  über  s^  (sie  sass 
da,  wohnte  da).  Iw.  89  ouch  was  gelegen  däbt  der  zuhtlose  Keit. 
Auch  wir  brauchen  die  Worte  noch  adjektiviseh  {gesessen  freilich 
nur  noch  in  Kompositis  wie  angesessen,  erbgesessen):,  'die  Stadt  ist 
am  Meere  gelegen'  und  'liegt  am  Meere'  sind  wesentlich  gleich. 
Mit  dieser  adjektivischen  Bedeutung*  der  Partizipia  war  dann  weiter 


156         Zusammeng-esetzte  Verbalformen  der  Yerg-angenheit.     [§  83. 

die  Möglichkeit  gegeben,  die  Formen  was  güegari,  was  gise^^an  im 
Sinne  eines  imperfektiven  Plusquamperfektums  (=  hatte  gel.,  ges.) 
zu  gebrauchen,  denn  icas  konnte  wie  jedes  Präteritum  ursprünglich 
sowohl  als  Imperfektum  wie  als  Plusquamperfektum  gebraucht 
werden.  Dies  Verhältnis  mag  dazu  beigetragen  haben,  dass  im 
Oberdeutschen  der  Gebrauch  von  haben  bei  sitzen  und  liegen  nicht 
aufkam. 

2.  Für  die  Komposita  ist  der  Gebrauch  der  Simplizia 
natürlich  nicht  massgebend ;  es  kommt  auf  ihre  eigene  Be- 
deutung- an.  Zwar  in  Süddeutschland  werden  auch  von  ihnen 
<iie  zusammengesetzten  Formen  allgemein  mit  seiii  g-ebildet, 
mögen  sie  Bewegungs-  oder  Ruheverba  sein;  in  Norddeutsch- 
land dagegen  haben  sich  beide  Formen  im  ganzen  mit  regel- 
rechter Unterscheidung  erhalten.  Bei  den  imperfektiven  Ruhe- 
verben brauchen  wir  haben  :  einem  anliegen,  einer'  Sache  obliegen, 
aufliegen,  ausliegen\  bevorstehen,  dahinstehen,  entgegen-,  vor-.,  ivider- 
zurückstehen\  bei  den  perfektiven  Bewegungs verben  sein:  Der  Reiter 
ist  aufgesessen,  abgesessen:,  er  ist  aufgestanden,  auferstanden,  es  ist 
eiitstanden.  Doch  sind  bei  einigen  durch  Verdunkelung  der 
ursprünglichen  Bedeutung  Verschiebungen  eingetreten.  Perfektiv 
Avaren  ursprünglich  mhd.  beiigen  liegen  bleiben  (namentlich  tot 
beiigen),  besitzen  sitzen  bleiben,  gestän  und  bestän  stehen  bleiben; 
nur  das  letztere  hat  sich  erhalten,  aber  in  wesentlich  modifizierter 
Bedeutung,  und  deshalb  schliesslich  die  Verbindung  mit  sin  auf- 
gegeben. Im  Mhd.  gilt  sin,  z.B.  Nib.  1066,3  b%  im  (dem  Schatze) 
wcere  Kriemhilt  hendeblög  bestän.  2266,  4  alles  mines  tröstes  des  bin 
ich  eine  bestän;  ebenso  noch  im  Nhd.  Luther:  bestanden  ist  das  reich 
nicht  durch  eigne  Kraft:  Lessing:  tcie  oft  bin  ich  darauf  bestanden:, 
Goethe;  die  früher  erwähnte  Gesellschaft  war  noch  im^ner  bestan- 
den:, jetzt  brauchen  wir  haben.  Denselben  Wandel  hat  beistehen 
erfahren,  eigentlich  'einem  beitreten',  (mhd.  gewöhnlich  bi  gestän); 
zustehen  =  gebühren  (eigentlich  'zu  Teil  werden,  widerfahren'). 
Schwankend  ist  der  Gebrauch  bei  anstehen  (=  zaudern) :  er  hat  od. 
ist  angestanden  (gewöhnlich  sagen  wir  Anstand  nehmen).  Auch  er 
hat  für  ihn  einge.standen  ist  nicht  unerhört,  und  vielfach  belegt: 
er  hat  unterlegen  (so  auch  Adelung). 

3.  bleiben  (Paul  8.  169)  war  nach  seiner  ursprüng- 
lichen Bedeutung-  (kleben  bleiben)  ein  perfektives  Verbum  und 
kann  auch  in  seinen  jüngeren  abgeleiteten  Bedeutungen  per- 
fektiv gebraucht  werden ;  in  unserer  jetzigen  Sprache  nament- 
lich neben  Infinitiven:  haften,  hangen,  hieben,  steckeyi  bleiben. 


§  83.]  sein  und  haben  bei  bleiben  und  sein.  157 

seltner  neben  einem  nominalen  Prädikat:  übrig  bleiben,  Sieger 
bleiben.  Er  blieb  Sieger  steht  einem:  Er  wurde  Sieger  nahe 
und  im  Schwedischen  und  Dänischen  hat  bleiben  ganz  die 
Bedeutung-  von  werden  angenommen.  Im  Deutsehen  aber  be- 
zeichnet das  Verbum  gewöhnlich  das  Beharren  in  einem  Zu- 
stande, wird  also  imperfektiv  aufgefasst:  zu  Hause  bleiben, 
unvermählt  bleiben,  sitzen  bleiben;  trotzdem  bilden  wir  das 
Perfektum  nie  mit  haben.  Dass  der  in  der  ursprüng-lichen  Be- 
deutung des  Verbums  wurzelnde  Gebrauch  von  sein  sich  unbestritten 
behauptet  hat,  dazu  mag  beigetragen  haben,  dass  oft  auch  da,  wo 
das  Verbum  imperfektiv  gebraucht  ist,  die  Vorstellung  veränderter 
Verhältnisse  im  Hintergrunde  steht.  Wir  brauchen  bleiben  oft  da^ 
wo  eintretende  Umstände  eine  Änderung  hätten  erwarten  lassen; 
z.  B.  er  blieb  sitzen,  wenn  die  Umstände  ein  Aufstehen  hätten  herbei- 
führen sollen. 

Anm.  2.  Auch  einige  andere  Ruheverba  werden  gelegentlich 
als  perfektive  Verba  aufgefasst  und  mit  sein  verbunden.  An  liegen, 
sitzen,  stehen  reihen  sich  knien  und  hocken  an  (Paul  S.  172),  an 
bleiben :  kleben  (a.  0.  S.  178),  hangen  und  stecken  (S.  204),  sowie  be-^ 
verharren. 

4.  Eine  sehr  auffallende  Erscheinung  ist,  dass  das  Verbum 
sein  trotz  seiner  imperfektiven  Bedeutung  im  Hochdeutschen 
stets  mit  sein  verbunden  ist  (Paul  S.  205).  Wie  bereits  Grimm 
(4,  169  f.  Nachträge  1261)  bemerkt  hat,  herrscht  im  An.,  Ags., 
Altfries,  haben,  ebenso  im  Mnd.  und  Mnl.  Auch  in  md.  Ge- 
bieten ist  es  anfangs  gar  nicht  so  selten;  vereinzelt  kommt  es 
noch  bei  Luther  vor.  ich  bin  gewesen  od.  gesin  hat  seinen 
eigentlichen  Sitz  im  Oberdeutschen,  hat  dann  aber  auch  im 
Niederdeutschen  und  selbst  in  niederländischen  Mundarten  Fuss 
gefasst.  Die  Möglichkeit  zu  dieser  auffallenden  Verbindung'  war 
damit  gegeben,  dass  sie  überhaupt  jung  ist;  die  Partizipia  getvesen, 
gewest,  ge.stn  sind  junge  Sprachschöpfungen,  die  das  Ahd.  noch  gar 
nicht  kennt.  Die  zusammengesetzten  Perfektformen,  müssen  wir 
schliessen,  entstanden  erst  zu  einer  Zeit,  da  im  Sprachgefühl  das 
Moment,  das  zunächst  den  Gebrauch  von  haben  und  sein  bestimmt 
hatte,  die  Unterscheidung  perfektiver  und  imperfektiver  Aktionsart, 
nicht  mehr  zur  Geltung  kam.  Zu  gunsten  der  Verbindung  ich  bin 
gewesen  entschied  vermutlich  der  Umstand,  dass  das  Verbum  sein 
so  oft  mit  einem  prädikativen  Nomen  verbunden  wird.  Sowohl  in 
den  passiven  Formen  als  bei  den  Verben  des  Werdens  standen  die 


158         Zusammengesetzte  Verbalformen  der  Vergangenheit.     [§  84. 

Partizipia  einem  prädikativen  Adjektivum  nahe,  und  da  hier  sein 
als  Hülfszeitwort  fungierte,  trat  es  auch  in  die  Verbindungen  mit 
sein  ein.  Das  nächste  Muster  bot  jedenfalls  werden-^  wie  er  wird 
gross,  er  ist  gross  neben  einander  stehen,  so  bildete  man  nach  er 
ist  gross  geworden  auch:  er  ist  gross  gewesen. 

Anm.  o.  Auffallend  ist  auch,  dass  trouraen  im  Mhd.  fast  immer 
mit  sin  verbunden  ist  (Paul  S.  181  f.),  z.  B.  Nib.  1449,  3  mir  ist  ge- 
troumet  htnte  von  angestllcher  not,  wie  alle^  da^  gefügele  in  dem 
lande  wcere  tot.  Im  Nhd.  hat  das  Verbum,  das  keiner  der  beiden 
Hauptgruppen  angehört,  haben  angenommen. 

84.  (Rückblick.)  1.  Die  intransitiven  Verba  stimmea 
in  der  Bildung  ihrer  zusammengesetzten  Formen  bald  mit  dem 
Passiv  der  transitiven  überein,  bald  folgen  sie  dem  Aktiv. 
Die  Scheidung  hing  zunächst  davon  ab,  ob  man  sie  perfektiv 
oder  imperfektiv  auffasste.  Dann  aber  verwischt  sich  dieser 
Unterschied.  Perfektive  Verba  verbinden  sich,  auch  ohne  dass 
ihre  perfektive  Auffassung  sich  ändert,  zuweilen  mit  haheriy 
öfter  imperfektive  mit  sein.  Eine  neue  Anschauung  zeigt  sich 
wirksam,  sein  verbindet  sich  mit  Prädikaten,  die  auf  das 
Subjekt  zurückwirken,  eine  Änderung  des  Ortes  oder  Zustandes 
herbeiführen;  haben  mit  solchen,  die  von  jeder  Rückwirkung 
frei  nur  als  Wesensäusserung  des  Subjekts  aufgefasst  werden. 
Bei  diesen  findet  also  zwischen  dem  Subjekt  und  Prädikat 
ein  ähnliches  Verhältnis  statt  wie  beim  Aktiv,  bei  jenen  ein 
ähnliches  wie  beim  Passiv  der  transitiven  Verba,  und  so  ist 
zu  vermuten,  dass  die  feste  Unterscheidung  der  beiden  Formen 
bei  den  transitiven  Verben  die  Änderung  des  Gebrauchs  bei 
den  intransitiven  geleitet  hat.  Aktivische  Auffassung  des  Sub- 
jekts förderte  den  Gebrauch  von  haben,  passivische  den  Gebrauch 
von  sein.  —  Die  Reflexiva,  die  in  der  Mitte  zwischen 
aktiven  und  passiven  Verben  stehen,  folgen  im  Deutschen  durch- 
aus dem  Aktiv,  im  Französischen  dem  Passiv. 

2.  Zu  strenger  Durchführung  kam  auch  dieser  Gesichts- 
punkt nicht.  Es  gibt  einige  intransitive  Verba,  die  ihre  zu- 
sammengesetzten Formen  mit  sein  bilden,  obschon  das  Subjekt 
keine  Änderung  des  Ortes  oder  Zustandes  erfährt,  und  um- 
gekehrt.    Denn   wenn  auch  die  Sprache  darnach  strebte,    die 


§  85.]  sein  im  Aktiv  transitiver  Verba.  159 

zusammengesetzten  Formen  der  Transitiva  und  Intransitiva 
tibereinstimmend  zu  gestalten,  so  blieb  doch  immer  ein  deutlich 
gefühlter  Unterschied  bestehen,  wie  sich  darin  zeigt,  dass  die 
neue  passivische  Perfektbildung  mit  ist  worden  den  Intransi- 
tiven nicht  zuteil  wurde. 

Anm.  Im  ganzen  hat  die  Entwickelung  der  Sprache  dazu 
geführt,  dass  sein  öfter  über  seine  natürlichen  Grenzen  vorgedrungen 
ist  als  haben',  ganz  besonders  weit  geht  die  Baseler  Mundart.  Binz 
(Zur  Syntax  der  Baselstädtischen  Ma.  S.  70)  gibt  an,  dass  die  Verba, 
welche  die  Ruhe  an  einem  Ort  ausdrücken,  das  Perf.  mit  si  bilden.  Man 
sagt:  i  bi  irn  Heu  gschlofe,  si  sind  im  klai  Basel  gewohnt \  nur  wenn 
eine  Ortsbestimmung  nicht  hinzugefügt  ist,  wird  haben  bei  schlafen 
und  wohnen  gebraucht  (Paul  S.  205).  —  Umgekehrt  fehlt  es  in  der 
Übergangszeit  vom  Mhd.  zum  Nhd.  nicht  an  Verbindungen  mithaben, 
die  von  der  Hauptrichtung  der  Sprachentwickelung  abweichen. 
(Paul  S.  193).  Der  Festsetzung  eines  Sprachgebrauchs  geht  natur- 
gemäss   ein  Zustand    der  Unsicherheit  und   des  Schwankens  voran. 

sein  im  Aktiv  transitiver  Verba. 

85.  1.  In  den  zusammengesetzten  Formen  der  transi- 
tiven Verben  sind  haben  und  sein  im  allgemeinen  scharf  ge- 
sondert; sie  verlangen  im  Aktiv  haben,  im  Passiv  sein.  Aber 
bei  Partikelkompositis,  die  von  intransitiven  Verben  der  Be- 
wegung gebildet  sind,  finden  sich  nicht  selten  Ausnahmen 
(Paul  S.  206). 

Dass  intransitive  Verba  in  der  Komposition  transitiv 
werden,  setzt  im  allgemeinen  untrennbare  Komposition  voraus 
und  solche  untrennbaren  Komposita  werden  zunächst  mit  den 
Partikeln  gebildet,  die  zu  unbetonten  Vorsilben  geworden  sind; 
z.  B.  einen  Vorteil  erschleichen,  ein  Fest  begehen,  viel  Geld 
verreisen  etc.;  dann  aber  auch  mit  Partikeln,  die  sich  als 
selbständige  Wörter  erhalten  haben;  z.  B.  ein  Land  durch- 
reisen, durchlaufen,  durchstr eichen y  durchwandern;  umgehen, 
umfahren;  übergehen,  hintergehen.  Die  Verba  der  ersten 
Art  bilden  ihr  Perfektum  immer  mit  haben,  und  haben  kommt 
von  rechtswegen  auch  den  andern  zu;  doch  finden  sich  einige 
von  ihnen  auch  bei  guten  Schriftstellern  hin  und  wieder  mit 
sein  verbunden;  z.  B.  von  dort  aus  bin  ich  Frankreich  hi  zwei 
Richtungen  durchreist  (H.  Kleist).     Er  ist  diese  Länder  nicht  durch- 


160  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  85. 

flogen  (Fichte).     Ich  hiii  die  Stadt  umfahren  und  umgangen  (Goethe). 
Er  mag  die  übrigen  um  so  viel  eher  übergangen  sein  (Lessing). 

2.  Dass  Intransitiva,  die  iin  feste  Zusammensetzung  mit 
einer  Partikel  eingegangen  sind,  transitiv  werden,  ist  im  all- 
gemeinen selten^  aber  nicht  ausgeschlossen.  Namentlich  für 
Verbindungen  mit  an  ist  der  Gebrauch  schon  früh  bezeugt. 
Wir  brauchen  so  anfallen,  angehen,  anwandeln,  eingehen, 
einschlagen,  also  Verbindungen  mit  an  und  ein.  Diesen  Ver- 
bindungen, in  denen  das  Verbum  seine  Selbständigkeit  be- 
hauptet, gebührt  von  rechtswegen  sein\  aber  der  Einfluss  der 
übrigen  Transitiva  hat  daneben  haben  zur  Geltung  gebracht, 
bald  mehr  bald  weniger.  Er  hat  od.  ist  mich  um  Geld  ange- 
gangen. Eine  üble  Laune  hat  od.  ist  ihn  angeivandelt.  Wir  pflegen 
zu  sagen :  Er  ist  eine  Wette,  Verpflichtungen  eingegangen  (notwendig 
natürlich:  Er  ist  darauf  eingegangen);  aber  Goethe  schreibt  ein- 
mal: Sie  haben  einen  Wettstreit  eingegangen.  Umgekehrt  pflegen 
wir  zu  sagen :  Er  hat  einen  Weg  eingeschlagen  ;  aber  Lessing  schreibt : 
ob  ich  nicht  viel  lieber  einen  anderen  Weg  eingeschlagen  iväre. 
Durchaus  notwendig  ist  uns  haben  bei  anfallen  (aggredi);  aber 
Trist.  1396  ouive  nü  minne  und  ouwe  ma7i\  loie  stt  ir  mich  gevallen 
an  mit  so  maneger  arebeit;  und  in  anderem  Sinn  5213  die  stete  und 
diu  kastei  diu  in  wären  angevallen  von  stnen  vordem  allen  (Gr.  4,  165). 

Anm,  1.  Auch  Beispiele  für  den  transitiven  Gebrauch  anderer 
unfester  Zusammensetzungen  finden  sich,  namentlich  mit  durch: 
durchgehen,  -wandeln.,  -tcandern,  -laufen  u.  a.  oft  auch  einen  vorbei 
od.  vorübergehen-,  aber  der  Gebrauch  widersteht  uns.  Er  ist  mich 
vorbeigegangen:,  icir  sind  das  ganze  Land  durchgewandert  ist  dem 
Sprachgefühl  fast  ebenso  wenig  gemäss,  wie  er  hat  mich  vorbei- 
gegangen, wir  haben  das  ganze  Land  durchgewandert.  Nicht  das 
Hülfszeitwort  erregt  den  Hauptanstoss,  sondern  der  transitive  Ge 
brauch.  —  Gemeingültig  ist:  Der  Lehrer  geht  mit  den  Schülern  die 
Arbeit  durch;    das  Perf.    bildet  man  bald  mit  sein,    bald  mit  haben. 

Anm.  2.  Verbindungen  wie :  Er  ist  drei  Meilen,  drei  Stunden 
gegangen;  ich  bin  den  Weg  schon  oft  gegangen;  er  ist  die  neue 
Strasse  gefahren,  geritten  widersprechen  der  Regel  nicht;  denn  die 
Akkusative,  die  Raum  und  Zeit  bezeichnen  oder  das  Terrain,  über 
das  sich  die  Bewegung  erstreckt,  sind  keine  Objekte.  Auch  ich 
bins  vergessen  ist  keine  Ausnahme  von  der  Regel;  denn  1.  ist  es 
hier  nicht  Akk.,  sondern  Gen.  und  2.  ist  vergessen  als  Adjektiv  an- 
zusehen (vgl.  ehr-,  Pflicht-,  gottvergessen;  §  59,  3). 


§  86.]  Der  Infinitiv  statt  des  Part.  Prät.  161 

Der  Infinitiv  statt  des  Part.  Prät. 
86.  1.  Wir  sagen  ich  habe  gekonnt,  aber  nicht:  Ich 
habe  dich  sehen  gekonnt,  sondern:  Ich  habe  dich  sehen  können^ 
statt  des  Partizipiums  brauchen  wir  den  Infinitiv.  Dieser 
'Ersatzinfinitiv'  ist  uns  nur  bei  den  Verben  geläufig,  die  den 
blossen  Infinitiv  regieren:  bei  den  Präterito-Präsentia  ausser 
loissen,  also  bei  können,  mögen,  dürfen^  sollen,  nfiüssew,  dann 
bei  loollen  und  lassen',  bei  helfen,  heissen;  sehen,  hören,  fühlen'^ 
lernen  und  lehren.  Auch  tun  und  machen  konnten  so  gebraucht 
werden:  Wir  haben  nach  dir  schicken  tun  (H.  Sachs).  Ihr 
habt  mich  weidlich  schwitzen  machen  (Goethe);  doch  pflegen 
wir  die  Verbindung  dieser  Verba  mit  dem  Infinitiv  zu  ver- 
meiden (§61,  4).  —  Neben  dem  Infinitiv  mit  zu  lassen  wir  den 
Ersatzinfinitiv  nur  allenfalls  bei  brauchen  zu,  das  sich  durch  seine 
Bedeutung  den  Präterito-Präsentia  anschliesst  (vgl.  namentlich  dürfen), 
nach  weit  verbreitetem  mundartlichem  Gebrauch  auch  mit  dem  blossen 
Infinitiv  verbunden  wird  und  sogar  die  Form  der  Präterito-Präs. 
annimmt:  'Das  brauch{t)  er  nicht  {zu)  tun.  Das  hätte  er  nicht  {zu) 
tun  brauchen'.  In  der  älteren  nhd.  Literatur  findet  sich  auch  der 
Infinitiv  von  ivi.ssen.,  pflegen,  anfangen,  z.  B.  so  hat  man  unsere 
Mu.'ien  zu  malen  pflegen  (Opitz).  Hat  Rom,  sein  siebenbergicht  Haupt 
sonst  nirgends  hinzulegen  tcis.sen  (Lohenstein).  In  noch  weiterem 
Umfang*,  selbst  bei  Verben,  die  ihr  Perfektum  mit  sein  bilden,  erkennt 
das  Ndl.  diesen  Gebrauch  an,  z.  B.  Hij  heeft  dat  trachten  te  doen. 
Hij  is  blijven  .^itaan.  Hij  is  gaan  bedelen.  Den  übrigen  ger- 
manischen Sprachen  ist  er  fremd. 

2.  Im  Hochdeutschen  reichen  die  ersten  Spuren  des  Ge- 
brauchs nicht  über  das  13.  Jh.  zurück:  Trist.  6801  durch 
welchen  list  hast  du  da^  schif  sus  lä^en  gän.  16341  si 
hcete  im  heilen  machen  ein  uninneclicheg  hüselin.  Gudr. 
637,3  ich  hän  des  hoeren  jehen.  Rabensch.  98,4  ir  habt 
ej  oße  hoeren  sagen,  wozu  Martin  aus  einem  mittelrheinischen 
Gedichte  des  14.  Jh.  vergleicht:  Ich  hän  si  hören  nennen. 
Das  hän  ich  von  eme  hören  jen. 

3.  Den  Ursprung  dieses  eigentümlichen  Gebrauchs  ver- 
mutete Grimm    nach  Lachmanns  Vorgang   in   der  irrtümlichen 


1)  Gr.  4, 168  f.  Erdm.  §  153.  Wunderlich  1,  240  f.  Blatz  2,  612  f. 
Merkes,  Beiträge  zur  Lehre   vom  Gebrauch  des  Infinitivs  (Leipzig 
1896)  S.  31  f.  AfdA.  23,  249  f.  29,  29  f.     G.  Maier  ZfdW.  1,  304  f. 
W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik  III.  H 


162  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  86. 

Auffassung-  partizipialer  Formen.  In  Sätzen  wie  er  hat  in 
komen  län,  er  hat  in  heilen  Jcomen  seien  län  und  heizen 
eigentlich  Partizipia  ohne  ge-  (Gr.  2,  847.  Whd.  §  373),  die 
man  als  Infinitive  aufgefasst  habe.  Diese  Erklärung  ist  öfters 
angezweifelt,  aber  wie  die  Ausführungen  G.  Maiers  (ZfdW. 
1,  304  f.)  zeigen,  mit  Unrecht.  Man  muss  nur  bedenken,  dass 
die  Konstruktion  in  einer  Zeit  aufkam,  da  die  Unterdrückung 
der  Vorsilbe  ge-  bereits  weit  verbreitet  war,  und  dass  dadurch 
nicht  nur  bei  den  drei  Verben  lassen,  heissen,  sehen,  sondern 
auch  bei  wollen  und  den  Präterito-Präsentia  Infinitiv  und 
Partizipium  zusammenfielen.  Denn  als  das  Bedürfnis  genauerer 
Tempusunterscheidung  auch  bei  diesen  Verben  zur  Bildung- 
zusammengesetzter  Zeitformen  führte,  wurde  das  Part,  zunächst 
sowohl  stark  als  schwach,  mit  und  ohne  ge-  gebildet  {geiüollt 
und  gewolleny  mocht  und  gemögen,  dorft  und  gedoj^fen),  ohne 
ge-  namentlich  da,  wo  sie  als  Hilfszeitwörter  vor  dem  Infinitiv 
standen.  Dass  diese  Scheininfinitive  dann  als  wirkliche  Infini- 
tive aufgefasst  wurden  und  andere  Verba  wie  helfen,  hören, 
lehren,  lernen,  die  wie  jene  den  blossen  Infinitiv  regierten, 
nach  sich  zogen,  ist  begreiflich.  In  der  Infinitivform  des  ab- 
hängigen Verbums  fanden  die  Scheininfiuitive  eine  natürliche 
Stütze.  Nur  in  dieser  Verbindung  haben  sich  die  starken 
Partizipia  der  Prät.-Präsentia  gehalten. 

4.  Zur  Alleinherrschaft  ist  der  Infinitiv  nicht  gekommen; 
am  festesten  wurzelt  er  bei  den  Prät.-Präs.  und  bei  wollen. 
Wenn  man  von  persönlichen  Liebhabereien  einzelner  Autoren 
absieht,  die,  wie  Rückert,  den  Infinitiv  geflissentlich  meiden, 
erscheint  er  in  der  Literatur  des  18.  und  19.  Jh.  durchaus 
als  das  Normale.  Auch  bei  lassen  brauchen  wir  fast  immer 
den  Infinitiv;  nur  wo  es  in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  = 
^loslassen'  steht,  lassen  wir  uns  das  Part,  gefallen,  nicht  aber 
wo  es  die  Bedeutung  von  'zulassen,  bewirken'  hat.  In  dem 
Satze:  Die  Mutter  hat  ihr  Kind  taufen  lassen  ist  der  Inf. 
notwendig;  in  dem  Satze :  Sie  hat  es  fallen  lassen  würde  auch 
gelassen  angehen.  Nicht  so  entschieden  herrscht  der  Infinitiv 
bei  den  übrigen  Verben,  bei  helfen,  heissen  etc.  und  unver- 
kennbar ist  die  Neigung  zur  einen  oder  andern  Form  bei  den 


■§  87.]  Partizipium  Präteriti  in  zusammengesetzten  Iiifinitivformen.  163 

einzelnen  Verben  nicht  gleich  stark;  (vgl.  AfdA.  23,252).     In 

passiven  Konstruktionen  braucht   man   den  Infinitiv   nie;   vgl. 

Man  hatte  alle  Bedenken  fallen  lassen  :  Alle  Bedenken  waren 

fallen  gelassen. 

Anm.  Mit  der  eigentümlichen  Konstruktion  verbinden  sich 
Eigentümlichkeiten  in  der  Wortstellung.  Ursprünglich  ging,  wie  es 
scheint,  der  regierende  Infinitiv  immer  dem  abhängigen  voran.  So 
in  allen  mhd.  Beispielen,  die  oben  angeführt  sind,  und  so  auch  noch 
oft  im  älteren  Nhd. ;  z.B.  Luther:  kein  Turck  het  Welschlandt  so 
mugen  vortei^ben-^  wir  würden  sagen:  'Kein  Türke  hätte  Wälschland 
so  verderben  können'.  Die  ältere  Stellung  lassen  wir  namentlich 
dann  noch  zu,  wenn  der  abhängige  Infinitiv  zusammengesetzt,  oder 
auch,  wenn  er  durch  andere  Satzglieder  näher  bestimmt  ist:  das 
Haus  hätte  können  verkauft  werden.  Er  hätte  vor  Schrecken  mögen 
in  die  Erde  sinken.  Das  gewöhnliche  ist  aber,  dass  der  regierende 
Infinitiv  an  das  Ende  tritt.  Diese  Endstellung  behauptet  nun  der 
Ersatzinfinitiv  auch  im  Nebensatz,  der  sonst  dem  Verbum  finitum 
die  letzte  Stelle  einräumt.  Wir  können  nicht  sagen:  Wenn  ich  ihn 
sehen  können  hätte,  sondern  nur:  Wenn  ich  ihn  hätte  seheyi  können. 
Ebenso  wenn  das  Hülfszeitwort  haben  selbst  im  Infinitiv  steht:  Er 
lüird.  ihn  haben  sehen  können^  nicht:  Er  wird,  ihn  sehen  können 
.haben.  Und  mit  diesem  Inf.  Perf.  verbindet  sich  die  weitere  Eigen- 
tümlichkeit, dass  die  Präp.  zu  immer  vor  dem  Ersatzinfinitiv  steht, 
nicht,  wie  sie  von  rechtswegen  sollte,  vor  haben.  Der  Niederländer 
sagt  richtig":  Ik  geloof  het  te  hebben  kunnen  doen;  wir  können 
weder:  Ich  glaube  es  zu  haben  können  tun  sagen,  noch:  Ich  glaube 
es  tun  können  zu  haben:,  sondern:  Ich  glaube  es  haben  tun  zu 
können.  Er  scheint  ihn  nicht  haben  sehen  zu  können.  Ich  freue 
mich  ihn  habeii  begrüssen  zu  dürfen  etc. 

Partizipium  Präteriti  in  zusammengesetzten  Infinitivformen. 

87.  (Der  Infinitiv  Passivi.)^)  1.  Da  das  germanische 
Verbum  für  den  Infinitiv  nur  eine  Form  hatte,  konnten  an 
ihm  die  Unterschiede  des  Genus  und  Tempus  nicht  ausgedrückt 
werden.  Wir  empfinden  und  brauchen  ihn  in  der  Regel  als 
^ine  aktive  präsentische  Form,  und  so  war  es  auch  schon  im 
Gotischen.  Trotzdem  kann  er  in  gewissen  Fällen  dazu  dienen, 
einen  lat.  oder  gr.  Infinitiv  Passivi  wiederzugeben ;  z.  B. 
Lc.  8, 55    anabaud  izai  gihan  mat,    er   gebot    ihr  Speise   zu 

1)  Gr.  4,  57  f. 


164  Zusammengesetzte  Verbalform en.  [§  ST. 

geben,  bieiaEev  auxrj  boGfivai  qpaYtiv.  Lc.2, 1  urrann  gagrefts,, 
gameljan  allana  midjungard,  i^lveio  boTjua  dTrofpdqpeaOai 
iräcTav  xrjv  oiKOujuevTiv.  Denn  da  der  Infinitiv  in  diesen  Satzes 
auf  ein  unbestimmtes  persönliches  Subjekt  bezogen  ist  (§  68), 
gewinnt  er  den  Wert  einer  passiven  Form,  die  ja  gleichfalls 
eine  Handlung  ohne  Rücksicht  auf  das  handelnde  Subjekt 
ausdrückt  (§  150,2):  er  gebot,  dass  man  ihr  Speise  gehe  = 
dass  ihr  Speise  gegeben  würde. 

2.  Infinitive  Passivi,  die  sich  auf  ein  bestimmtes  Subjekt 
beziehen,  musste  der  Gote  auf  andere  Weise  wiederzugeben 
versuchen.  Zuweilen  bot  sich  ihm  ein  passendes  intransitives 
Verbum  dar,  z.  B.  Lc.  9,  22  usqiman  für  diTGKTavGfjvai,  2  Kor.  10, 15 
mikünan  für  laeYaXuvGfivai,  1  Kor.  7,  9  intundnan  für  irupouaGai.  Ge- 
legentlich hilft  auch  das  Reflexivum  aus:  Lc.  6,  17  qemun  hailjan 
sik,  r|X9ov  iaOfivai.  Öfter  braucht  er  statt  des  Infinitivs  einen  Satz, 
z.  B.  Gal.  2,  17  sökjandans  ei  garaihtai  dömjaindau,  Z;riToOvT€<;  hx- 
Kaiuuefivai.  Zuweilen,  aber  nur  selten,  wendet  er  dieümschreibung 
mit  ivairpan  an;  z.  B.  Lc.  9,  22  skal  sunus  maus  .  .  uskusans 
fram  sinistam  loairpan,  bei  tov  uiov  toO  dvGpuuTTOU  diroboKi- 
juacrGfjvai  dirö  tujv  Ttpecf ßuxepuuv ;  nur  einmal,  in  der  Unterschrift 
des  ersten  Korintherbriefes,  die  mit  wisan  (ZfdPh.  5,  419f.). 

3.  An  manchen  Stellen  ist  der  Infinitiv  doch  auch  in 
passivischer  Bedeutung  gebraucht,  dh.  so,  dass  das  Subjekt 
oder  Objekt  des  regierenden  Satzes,  auf  das  er  bezogen  wird, 
nicht  Subjekt  sondern  Objekt  der  Infinitivhandlung  ist;  z.  B 
Lc.  2,  5  urrann  pan  Jös^f  anatneljan  mip  Mariin,  dveßr]  d-TTOYpdcpea- 
Gai;  Lc.  5,  15  garunnun  hiuhmans  managai  hausjön  Jah  leikinön, 
auvyipxovTO  öxXoi  iroWoi  dKoueiv  kqi  GepaireuGaOai,  wo  aktiver  und 
passiver  Infinitiv  neben  einander  stehen;  1  Kor.  11,6  agl  ist  qinön 
du  kapillön,  aiaxpöv  yuvaiKl  tö  KCipaöGai.  Mc.  9,  45  göp  pus  ist  ga- 
leipan  in  lihain  haltornma  pau  ticans  fötuns  habandin  gaivairpan 
in  gaiainnan,  ßXriGqvai  eic;  Tr\v  jeevvav.  Auch  der  Infinitiv  mit  du: 
Mt.  26,  2  sa  sunus  mans  atgibada  du  ushramjan  eic;  tö  öTaupuuGfjvai. 
Ja  es  kann  solchen  Infinitiven  der  oblique  Kasus  hinzugefügt 
werden,  durch  den  neben  dem  Passiv  die  handelnde  Person 
bezeichnet  zu  werden  pflegt,  der  Dativ  oder  die  Präposition 
fram\  z.B.  Mt.  6,  1  atsaihip  ormaiön  ni  taujan  in  and.icairpja 
manne  du  saihan  im,  Trpöc;  tö  GeaGfivai  auToiq.  Lc.  16,  22  warp  pan 
gasiüiltan  pamma  unledin  jah  briggan  fram  ag gilu7n,   efiveio 


].]  Der  passive  Infinitiv  im  Hochdeutschen.  165 


he  dTToGavelv  Kai  ctTrevexOnvai  uttö  tOuv  äj-i4Xujv.  Einmal  sog-ar  neben 
dem  transitiven  Objekt:  2  Kor.  1,16  tvilda  frani  izwis  gasandjan 
mik,  6ßouX.ö|uriv  uqp'  ufiüüv  Trpo7Te|uq)0fivai.  Aber  solche  Konstruktionen 
sind  eher  als  Notbehelfe  des  Übersetzers  anzusehen,  als  dass 
daraus  zu  schliessen  wäre,  dem  gotischen  Infinitiv  sei  noch 
die  unbestimmte,  aktiver  und  passiver  Auffassung  gleich  zu- 
gängliche Bedeutung  eines  Nomen  actionis  eigen  gewesen. 
Geläufige  Verbindungen  mit  passivem  Infinitiv  sind  mahts  im, 
skulds  im  giban  =  possum,  debeo  dari  neben  mag,  sJcal  gihan 
possum,  debeo  dare.  Aber  die  Unterscheidung  zeigt  auch 
hier,  dass  der  Infinitiv  an  sich  zu  passiver  Bedeutung  nicht 
geeignet  war. 

88.  (Der  passive  Infinitiv  im  Hochdeutschen.)  1.  Dass 
im  Gotischen  eine  geläufige  Umschreibung  für  den  Infinitiv 
Passivi  fehlt,  hängt  jedenfalls  damit  zusammen,  dass  eine 
solche  auch  für  die  finiten  Präsensformen  noch  nicht  aus- 
gebildet war  (§74  f.);  im  Hochdeutschen  sind  schon  in  den 
ältesten  Denkmälern  Umschreibungen  mit  loesan  und  werdan 
belegt,  z.  B.  keunfrewlt  wesan,  chiboran  werdhan  etc.  Doch 
scheinen  sie  erst  allmählich  geläufig  zu  werden.  Zwar  bei 
den  Übersetzern  finden  wir  sie  oft,  aber  bei  Otfried  kommt 
nur  zweimal  ein  Infinitiv  Pass.  vor:  2,  3,  20  wio  mag  tha^  sin 
firlougnit\  3,  14,  38  thiu  selba  dät  sin  ni  mohta  tliö  firJiolan 
sin.  —  Eine  genaue  temporale  Unterscheidung  der  beiden 
Formen  ist  im  Tatian  noch  nicht  durchgeführt,  werdan  c. 
Part,  hat  natürlich  immer  die  Bedeutung  des  Inf.  Präs.;  in 
demselben  Sinn  begegnet  aber  oft  auch  toesan  c.  Part.  z.  B. 
c.  112,2  mugut  ir  gitoufit  wesan,  potestis  baptizari;  c.  90,  4 
gilimflt  inan  arslagan  wesan,  oportet  eum  occidi;  c.  145,  1 
thanne  thisu  ellu  biginnent  gientöt  wesan,  cum  haec  omnia 
incipient  consummari.  Dagegen  braucht  Notker  beide  Formen, 
und  zwar  sehr  oft,  in  derselben  Bedeutung  wie  wir,  werdan 
um  auf  eine  Handlung  der  Gegenwart  oder  Zukunft,  wesan 
um  auf  eine  Handlung  der  Vergangenheit  hinzuweisen.  Neben 
sein  c.  Part,  trat  dann  später  den  Formen  des  Verb,  finitum 
entsprechend    noch    worden  sein.     Aber  obschon  nun  Passiv- 


166  Zusammen j^esetzte  Verbalformen.  [§  88. 

formen  des  Infinitivs  zu  Gebote  stehen,  wenden  wir  sie  doch 
nicht  in  allen  Fällen  an^  wo  wir  ihn  passivisch  auffassen 
oder  auffassen  können.  Der  Grund  liegt  in  dem  vorhin  er- 
wähnten Verhältnis  des  auf  ein  unbestimmtes  persönliches 
Subjekt  bezüglichen  Infinitivs  zum  Passivum. 

2.  Passivische  Auffassung  dieses  unbestimmten  Infinitivs 
macht  sich  besonders  nach  den  Verben  lassen,  heissen,  sehen, 
hören  geltend.  Selbst  Objekte  die  von  ihm  abhängen,  hindern 
die  passivische  Auffassung  nicht;  z.  B.  Wie  hörten  sprechen. 
Ich  sah  die  Tür  öffnen.  Er  Hess  die  Tür  sprengen.  Und 
dieser  Bedeutung  gemäss  kann  dann  wie  schon  im  Gotischen 
das  Subjekt  des  Infinitivs  durch  die  beim  Passiv  üblichen 
Präpositionen  bezeichnet  werden;  z.  B.  Nib.  987,  2  7iü  lä^e  e^  gof 
errechen  von  stner  friunde  hant  (nur  A,  {noch)  sine?^  die  übrigen 
Hss.);  Bit.  70  Tnan  vernaTn  nie  von  tumben  noch  von  ivtsen  ein 
frouive  ba$  geprtsen.  Wir  Hessen  die  Tür  durch  deii  Schlosser 
öffnen.  Von  tvem  hast  du  das  erzähleri  hören  u.  ä.  Ja,  wir 
wenden  diese  Konstruktion  oft  sogar  lieber  an  als  die  aktive, 
in  der  die  handelnde  Person  durch  den  Akk.  bezeichnet  ist. 
Parz,  235,  26  heisst  es:  die  sich  der  gräl  tragen  lie^]  wir  würden 
lieber  sagen  :  Von  der  der  Gral  sich  tragen  liess'.  Ebenso  Parz.  809,11 
sich  lie^  der  gräl  die  selben  tragen  eine.  Nib.  1163,  4  da^  si  sich 
den  recken  überreden  müese  län.  Winsb.  9,  5  lä  dich  niht  über g an 
den  wtn  und  so  auch  sonst,  wo  von  dem  Infinitiv  ein  persönliches 
Objekt  abhängt;  (Beispiele  in  Gr.  4,630).  Aber  trotz  dieser  deut- 
lich empfundenen  passiven  Bedeutung  behauptet  der  Infinitiv 
seine  einfache  Form.  Zwar  bei  den  altdeutschen  Übersetzern 
begegnen  hin  und  wieder  Zusammensetzungen  (Gr.  4,  62  A.l); 
aber  sie  klingen  uns  ungewöhnlich  und  meist  unerträglich. 
Wir  hörten  gesprochen  loerden;  er  liess  die  Tür  gesprengt 
werden  sagt  niemand.  Nur  bei  lassen  sind  in  gewissen  Ge- 
brauchsarten Passivformen  üblich:  Walther 79,  20  lä  einen  stn  gebojm 
von  küneges  rippe,  lass  einen  von  einem  Könige  gezeugt  sein 
(concessiv).  Homer  lässt  den  Odysseus  erschlagen  werden  (Erdm. 
§  136). 

3.  Auch  bei  anderen  Verben  neigen  wir  wohl  zu  passi- 
vischer Auffassung  des  abhängigen  unbestimmten  Infinitivs; 
z.  B.  Parz.  225,  29  bit  die  brücke  iu  niderlä^en.  Nib.  252,  1 
ir  Schilde  behalten  man  dö  truoc  (Gr.  4,  101).     Doch  ist  sie 


§  88.]  Der  passive  Infinitiv  im  Hochdeutschen.  167 

hier  weniger  stark  und  gestattet  nicht,  das  Subjekt  der  Hand- 
lung durch  eine  präpositionale  Verbindung  zu  bezeichnen. 
Man  sagt  wohl:  jE^r  befahl  anzuspannen  =  dass  angespannt 
werde,  aber  nicht:  Er  befahl  vom  Kutscher  anzuspannen. 

4.  Die  von  Adjektiven  abhängigen  Infinitive  mit  zu  be- 
haupten im  allgemeinen  aktive  Bedeutung,  auch  wenn  wir  den 
Dativ,  der  das  Subjekt  des  Infinitivs  bezeichnet,  fortlassen, 
z.  B.  Es  ist  {mir)  nicht  leicht,  darüber  zu  sprechen',  es  war 
{mir)  erfreulich,  ihn  so  munter  zu  sehen-,  es  fällt  {mir) 
schiüer,  ihn  zu  ertragen.  x\ber  das  Verhältnis  ändert  sich 
und  passivische  Auffassung  tritt  ein,  wenn  das  Adjektivum 
auf  ein  Substantivum  bezogen  wird,  das  zugleich  Objekt  der 
Infinitivhandlung  ist  (§  72  A.  1);  z.B.  Genesis  698  da^  obe^  was 
^rltch,  an  ze  sehenne  zierlich.  Alex.  4032  da^  wcere  ungeloubltch 
iemanne  ze  sagene.  MF.  181,  12  da^  sol  niht  senfte  nü  z'erwerben 
stn.  Aktivisch:  Es  ist  schioer  den  Text  zu  entziffern',  passi- 
visch: Der  Text  ist  schwer  zu  entziffern.  Doch  kann  auch 
hier  das  Subjekt  der  Handlung  nicht  durch  die  beim  Passiv 
üblichen  präpositionalen  Verbindungen  bezeichnet  werden. 
Höchstens  durch  den  Dat.  com.  oder  durch  die  Präp.  für,  also 
durch  Formen,  durch  die  das  Subjekt  der  Handlung  beim  Passiv 
nicht  ausgedrückt  wird,  kann  auf  das  Subjekt  hingewiesen  werden, 
z.  B.  Parz.  657,  6  doch  sint  diu  selben  mcere  mir  ze  sagene  un- 
gebcere.  Nib.  276,  2  da^  er  an  ze  sehenne  den  frouwen  wcere  guot. 
In  solchen  Sätzen  tritt  dann  die  passive  Bedeutung  des  Infinitivs 
wieder  zurück, 

5.  Noch  entschiedener  gilt  passive  Auffassung  für  die 
Infinitive  mit  zu,  durch  die  wir  neben  manchen  Verben  be- 
zeichnen, dass  etwas  geschehen  kann  oder  muss  (§  70,  6).  In 
der  jetzigen  Sprache  schliessen  sie  sich  namentlich  an  es  ist 
{steht,  bleibt):  Es  ist  od.  steht  zu  erwarten,  ist  nicht  zu 
sagen,  nicht  auszuhalten,  oder  mit  bestimmtem  Subjekt,  das 
zugleich  Objekt  des  Infinitivs  ist:  Er  ist  hart  zu  tadeln; 
sein  Übermut  ist  nicht  zu  ertragen;  eine  schwere  Pflicht  ist 
od.  bleibt  dir  noch  zu  erfüllen.  Überall  behauptet  sich  die 
reine  aktive  Form. 


168  Zusammeng-esetzte  Verbalt'ormen.  [§  89. 

89.  (Infinitiv  Perf.  Akt.)^)  1.  Da  die  germanischen 
Sprachen  i^einen  Infinitiv  Präteriti  hatten,  musste  entweder 
der  zum  Präsensstamme  gehörige  Infinitiv  auch  die  Funktion 
des  Inf.  Prät.  erfüllen,  oder  es  musste,  wenn  das  Zeitverhältnis 
zwischen  dem  abhängigen  Verbum  und  dem  regierenden  Satz 
überhaupt  bezeichnet  werden  sollte,  statt  des  Infinitivs  ein 
abhängiger  Satz  genommen  werden.  Das  letztere  ist  das 
gewöhnliche,  aber  auch  das  andere  wird  im  Ahd.  nicht  ge- 
mieden; z.  B.  Tat.  60,  6  th  wei^  megin  fon  mir  u^  gangan  = 
novi  virtutem  de  me  exisse;  ebenso  0.  3,14,36  th  irJcanta 
tJiia  Tiraft  faran  fona  mir.  N.  Boeth.  1,5,5  wer  zwtvelöt 
Romanos  wesen  allero  richo  hevren,  quis  nesciat  Romanos 
omniuni  rerum  dominos  fuisse  etc.  Während  im  Passiv  die 
beiden  Hülfszeitwörter  werdan  und  wesan  früh  ein  Mittel 
gaben,  den  Inf.  Präs.  und  Perf.  zu  unterscheiden  (§  87,  3), 
werden  die  zusammengesetzten  Formen  des  Aktivs  erst  geraume 
Zeit,  nachdem  sie  für  das  Verbum  finitum  üblich  geworden 
waren,  zur  Bildung  eines  Inf.  Perf.  gebraucht.  Zuerst  erscheinen 
solche  Formen  bei  Notker,  vermutlich  nicht  ohne  Einfluss  des 
Lateinischen  (vgl.  §66,1),  z.B.  Boeth.  1,35,3  zigen  si  mih 
pesmi^^en  haben,  mentiti  sunt  polluisse  me  u.  a.  Wie  weit 
sie  aber  dem  gemeinen  Sprachgebrauch  gemäss  waren,  ist 
schwer  zu  bestimmen.  Oft  werden  sie  jedenfalls  nicht  ge- 
braucht sein.  Denn  in  den  Verbindungen,  in  denen  der  Infinitiv 
am  festesten  und  ohne  Konkurrenz  mit  abhängigen  Sätzen 
wurzelt,  pflegt  er  eine  vorangegangene  Handlung  überhaupt 
nicht  zu  bezeichnen,  so  dass  hier  der  Anlass  fehlte,  die  Formen 
zu  bilden.  Daraus  erklärt  sich  einmal,  dass  wir  den  zusammen- 
gesetzten Infinitiv  in  den  ältesten  mhd.  Gedichten  gar  nicht 
finden,  sodann,  dass  er  in  der  Blütezeit  der  höfischen  Dichtung 
vorzugsweise  in  Verbindungen  erscheint,  in  denen  er  eigentlich 
unberechtigt  oder  entbehrlich  ist. 

2.  Am  häufigsten  finden  wir  den  Inf.  Perf.  nach  den 
Verben  m.ac,  sol,  kan,  tar,  darf,   muo^,   wil,   besonders  nach 

1)  Gr.  4,  170  f.  1263.  Wunderlich  1,  241  f.  Paul  §  298.  Blatz 
2,545.  614.  Braune,  PBb.  25, 31  f.  Cordes,  Nie.  von  Basel.  §241 
(S.  95  f.).     Berger  zu  Orendel  1252  u.  a. 


§  89.1  Infinitiv  Perf.  Akt.  169 

dem  Opt.  Prät.,  wenn  dieser  in  irrealem  Sinne  auf  die  Ver- 
gangenheit zu  beziehen  ist ;  z.  B.  Parz.  404, 30  von  Veldeke  der 
wtse  mari  der  künde  se  ba^  gelobet  hän^  der  hätte  sie  besser  loben 
können.  Trist.  3660  ir  dorftet  mich  niht  häfi  gemant  so  verre^  hättet 
mich  nicht  zu  mahnen  gebraucht.  Nib.  792,  2  du  niöhtes  wol  gedaget 
hän  und  ivcer  dir  ere  liep,  du  würdest  geschwieg'en  haben,  wenn 
dir  deine  Ehre  lieb  wäre,  also  zur  Umschreibung*  des  Konditional. 
Ebenso  Nib.  1242, 2  genuoge  ü^  Beierlande,  soldens  hän  genomen 
den  raup  üf  der  strafen  .  .  s6  heten  sie  den  gesten  da  getan  vil 
llhte  leit.  1518,  1  er  wolde  sin  genesen^  ob  im  ieman  hülfe,  er  würde 
mit  dem  Leben  davong'eUomnien  sein,  wenn  ihm  jemand  geholfen 
hätte.  In  allen  diesen  Sätzen  bezieht  sieh  die  Aussage  auf 
die  Vergangenheit,  aber  die  Vergangenheit  hätte  von  rechts- 
wegen  nicht  an  dem  Infinitiv,  sondern  an  dem  regierenden 
Verbum  ausgedrückt  werden  sollen.  Dass  es  nicht  geschah, 
ist  darin  begründet,  dass  diesen  Verben  das  Part.  Prät.  und 
infolge  dessen  die  zusammengesetzten  Zeitformen  fehlten.  Im 
Ahd.  steht  in  solchen  Sätzen  ganz  mit  Recht  der  Inf.  Präs.;  z.  B. 
O.  8, 19,  27  ni  wolt  er  iviht  thes  sprechan,  thoh  er  sih  mohti  rechan 
(obwohl  er  sich  hätte  rächen  können),  si  duan  ouh  ob  er  uolti  (wenn 
er  gewollt  hätte)  innan  abgrunti.  Die  zusammengesetzten  Infini- 
tivformen erscheinen  in  diesen  Konstruktionen  erst  etwa  seit 
der  Mitte  des  12.  Jh. 's.  In  der  Wiener  Genesis  und  im  Vorauer 
Alexander  findet  sich  noch  kein  Beispiel;  wohl  aber  in  der 
Kaiserchrouik.  In  den  Nibelungen  und  der  Kudrun  überwiegt 
noch  der  alte  Gebrauch,  bei  Hartman  dagegen  der  neue.  — 
Dass  man  später,  als  man  die  abnorme  Konstruktion  änderte,  einer 
neuen  Abnormität  verfiel,  indem  man  in  dem  zusammengesetzten 
Präteritum  dieser  Verba  statt  des  Partizipiums  oder  neben  ihm 
den  Infinitiv  brauchte  (er  hätte  lohen  können  st.  gekonnt)^  ist  oben 
(§  86)  bemerkt. 

3.  In  andern  Verbindungen  mit  denselben  Verben  ist  der 
Inf.  Perf.  gebraucht,  weil  es  dem  Redenden  nicht  darauf  ankam 
die  Handlung,  sondern  das  Ergebnis  der  Handlung  zu  bezeich- 
nen, also  aus  demselben  Grunde,  aus  dem  in  Forderungs-  und 
Absichtssätzen  die  Perfektformen  gebraucht  wurden  (§  75,  5.  99). 
Besonders  häufig  ist  dieser  Gebrauch  nach  wollen-^  z.B.  Nib, 
1785,3  wolt  ir  släfende  uns  erm,ordert  häuf  wollt  ihr  uns  im  Schlaf 
ermorden?  1017,1  dö  der  künic  Sigemunt  wolle  sin  geriten.  1775,4 
die  Kriemhilde  man  wolden  an  den  gesten  schaden  gerne  hän  getan. 


170  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  89. 

1830,  3  si  wolden  Volkeren  ze  töde  erslagen  liän.  Aber  auch  nach 
andern  Verben  begegnet  er;  z.B.  Nib.  14,4  du  muost  in  schiere 
vloren  hän\  Walther  79,  32  swie  gerne  ich  in  behalten  hcete,  da^  ich 
in  muoste  hdn  verlorn.  Auch  nach  Id^en:  Mauritius  von  Craun  1485 
Idt  in  sus  niht  haben  verlorn.  Und  im  Passiv:  Iw.  4322  und  wi^^et^ 
da^  ich  iemer  teil  den  ivillen  für  diu  werc  hdn  :  ir  sult  der  rede  sin 
erlän.  5408  ouch  ensparten  si  Up  noch  den  muot :  soltens  davon 
stn  behuot,  si  wären  teerhaft  genuoc  (Gr.  4, 15  f.).  Wir  pflegen  den 
Inf.  Perf.  nur  zu  gebrauchen,  wenn  wir  mit  besonderem  Nach- 
druck auf  den  Vollzug  der  Handlung  hinweisen  wollen  {ich 
wollte  das  einmal  deutlich  ausgesprochen  haben);  aber  in 
Mundarten,  z.  B.  hier  am  Rhein,  ist  er  auch  sonst  sehr  be- 
liebt; ich  wollte  Sie  gestern  Abend  besucht  haben  u.  ä. 

4.  Temporale  Bedeutung  dagegen  hat  der  Inf.  Perf.  in 
Sätzen  wie  Nib.  914, 4  C  der  sol  hdn  gewunnen,  den  man  siht  ze 
vorderst  stän]  hier  wird  die  durch  den  Inf.  bezeichnete  Hand- 
lung als  vorangegangen  vorausgesetzt;  der  vorderste  gewinnt 
nicht,  sondern  hat  gewonnen.  Ebenso  in  Dietrichs  Totenklage 
Nib.  2259, 1  Oive,  lieber  Wolfhart,  sol  ich  dich  hdn  verlorn,  so  mag 
mich  balde  riuwen,  da^  ich  ie  wart  geborn.  Walther  79,  20  lä  einen 
stn  geborn  vo7i  küneges  rippe.  —  In  der  jetzigen  Sprache  steht  nach 
den  Prät.-Präs.  und  nach  wollen  oft  ein  Inf.  Perf.  mit  Vergang-en- 
heitsbedeutung;  aber  diese  Verbindungen  beruhen  meist  auf  jüngerer 
Bedeutungsentwickelung  der  regierenden  Verba.  Er  will  =  er  be- 
hauptet; z.B.  er  will  ih7i  gesehen  haben  =  er  behauptet,  ihn  ges.  zu 
liaben;  er  soll  =  man  sagt;  er  muss  =  die  Verhältnisse  zwingen  zu 
der  Annahme;  er  kann  =  die  Verhältnisse  gestatten  die  Annahme; 
es  dürfte  =  es  ist  zu  vermuten. 

5.  Bisher  sind  nur  Verbindungen  in  Betracht  gezogen, 
in  denen  das  regierende  Verbum  notwendigerweise  in  einem 
Infinitiv  seine  Ergänzung  findet  und  nur  durch  die  zusammen- 
gesetzte Form  des  Infinitivs  das  Zeitverhältnis  bezeichnet 
werden  kann.  Wir  finden  sie  aber  auch  in  andern;  z.  B.  Nib. 
914, 4  dem,  sol  man  jehen  danne,  den  man  sihet  gewunnen 
hdn,  wo  sich  das  Zeitverhältnis  an  dem  regierenden  Verbum 
hätte  ausdrücken  lassen:  den  man  sach  geu'innen,  den  man 
hat  gewinnen  sehen.  Oder  in  Verbindungen,  in  denen  statt 
des  Inf.  ein  Satz  mit  da^  hätte  gebraucht  werden  können; 
z.  B.  Walther  52, 30  ob  ich  da  enzwischen  loben  muoz,  sä 
woßne  ich  me  beschouwet  hdn.     Bari.  204,  39  der  hünic  sich 


§  90.]  Partizipium  Präsentis  in  zusammengesetzten  Zeitformen.     171 

noch  tüol  versach  den  besten  rät  hän  vunden.  Pass.  16,  26 
er  dähte  alsus  sin  ere  verloren  häii.  Die  Verbreitung  des 
zusammengesetzten  Infinitivs  in  solchen  Fällen  ist  noch  genauer 
zu  untersuchen.  Das  Gebiet  des  Inf.  Präs.  deckt  sich  nicht 
ganz  mit  dem  des  zusammengesetzten  Inf.  Perf.  Wir  sagen: 
Ich  sah  ihn  lommen,  aber  nicht  ich  sah  ihn  gelcommen  sein, 
sondern  dass  er  gekomme?!  war.  Ich  sah  ihn  fesseln  (passivisch), 
aber  nicht  ich  sah  ihn  gefesselt  sein,  sondern  dass  er  gefesselt 
war,  oder  mit  dem  Part.  Ich  sah  ihn  gefesselt  (vgl.  §  61.  §  72 
Anm.  3). 

6.  Der  Gebrauch  eines  Infinitiv  Perf.  nach  zu  ist  aus  der 
mhd.  Literatur  überhaupt  noch  nicht  nachgewiesen;  die  ur- 
sprüngliche Bedeutung  der  Präposition  vertrug  sich  nicht  mit 
einem  Inf.  Perf.  Jetzt  ist  sie  vergessen;  auch  neben  zu  können 
wir,  wenn  es  der  Sinn  des  Satzes  gestattet,  den  Inf.  Perf. 
brauchen;  ebenso  nach  ohne  zu,  anstatt  zu.  Dem  Gebrauch 
des  Infinitivs  überhaupt  ist  dadurch  wesentlich  Vorschub  ge- 
leistet; denn  die  Stütze,  welche  die  abhängigen  Sätze  in  ihrer 
Konkurrenz  mit  dem  Inf.  darin  fanden,  dass  diesem  die  Tempus- 
unterscheidung fehlte,  ist  damit  gefallen.  Leider  ist  die  Ver- 
breitung des  Inf.  Perf.  und  seine  Einwirlvung  auf  den  Gebrauch  des 
Infinitivs  überhaupt  noch  wenig  untersucht.  Darauf,  dass  vermut- 
lich auch  ein  Zusammenhang  zwischen  dieser  Form  und  der  per- 
fektiven Verwendung  der  Partikel  ge-  besteht,  hat  schon  Grimm 
4, 172  Anm.  **  hingewiesen. 

Partizipium  Präsentis 
in  zusammengesetzten  Zeitformen  ^). 

90.  1.  Wie  das  Part.  Prät.,  so  wird  in  der  älteren 
Sprache  auch  das  Part.  Präs.  nicht  selten  prädikativ  mit  sein 
und  werden  verbunden;  aber  diese  Verbindungen  sind  nicht 
zu  Mitteln  der  Tempusunterscheidung  geworden,  sie  beharren 
in  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung.     Das  Partizipium  weist  auf 


1)  Heyne,  DWb.  10,  313  f.  Gr.  4,  5  f.  125.  942.  Erdm.  §  139.  146. 
142,  5.  145,  2.  Wunderlich  1, 163  f.  188  f.  252  f.  Gering  ZfdPh.  5, 423. 
K.  Rick,   Das  prädikative  Partiz.  Präs.  im  Ahd.     Bonn  1905  (Diss.). 


Whd.  S.  465  f.     Blatz  1,  572. 


172  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  90. 

die  Dauer  der  Haüdlung;  wesan  bezeichnet,  dass  das  Subjekt 
sich  in  ihr  befindet,  werdari,  dass  es  in  sie  eintritt.  Dass 
das  Moment  der  Dauer  öfter  neben  wesan  als  neben  werdan 
Ausdruck  findet,  liegt  in  der  Natur  der  Sache. 

2.  In  der  ahd.  Literatur  sind  die  Verbindungen  mit  wesan 
ausserordentlich  häufig,  viel  häufiger  offenbar,  als  sie  in  der 
natürlichen  Rede  gewesen  sind.  Die  Übersetzer  fanden  den 
Anlass  zu  ihrem  Gebrauch  meist  in  ihrem  lateinischen  Original; 
Otfried  wurde  durch  den  Reimzwang  verleitet  (vgl.  namentlich 
1,4).  Für  werdan  c.  Part,  bietet  er  nur  zwei  Belege;  in 
beiden  würde  das  einfache  Verbum  dem  Sinne  nicht  ent- 
sprochen haben.  1,9,29  heisst  es  von  Zacharias  thö  ward 
mund  siner  sär  sprechanter,  dh.  nicht  ^er  fing  an  zu  sprechen', 
sondern  ^er  erhielt  die  Sprache  wieder',  und  3,  20,  122  vom 
geheilten  Blinden:  wio  er  sehenü  wurti,  dh.  wie  er  das  Ge- 
sicht wieder  gewann  (Rick  S.  28). 

3.  Auch  bei  den  mhd.  Dichtern  finden  sich  beide  Ver- 
bindungen, doch  zeigen  sie,  wie  bereits  Gr.  4,  6f.  bemerkt  ist, 
starke  Verschiedenheiten  in  ihrem  Gebrauch.  Im  Übermass 
und  ohne  Gefühl  für  die  Bedeutung  der  Form  lässt  sie  der 
Verfasser  des  jüngeren  Titurel  zu,  aber  auch  Gotfried  von 
Strassburg  liebt  sie,  mit  stn  z.  B.  13966  umbe  da$  ist  er  mich 
alle^  streichende^  liste7ide  unde  smeichende  darum  streichelt,  heuchelt 
und  schmeichelt  er  mir  immer,  od.  in  einem  fort.  19424  er  was 
naht  unde  tac  gedenkende  unde  trahtende  und  angestlichen  ahtende 
umbe  sin  leben\  mit  werden  19244  diu  maget  diu  wart  sich  ivider 
den  man  so  rehte  lieplich  machende,  smiere^ide  unde  lachende, 
kältende  unde  kosende^  smeichende  unde  lösende,  bi^  da^  si'n  aber 
enzunde ;  futurisch  8706  man  wirt  uns  schiere  körnende  an  .  .  mit 
übellichen  mceren.  14129  und  werdent  mir  danne  alle  gebende  die 
schulde. 

4.  Bis  ins  15.  und  16.  Jh.  hält  sich  die  Konstruktion, 
allmählich  macht  dem  Partizipium  der  Infinitiv  Konkurrenz 
(§61,2);  dann  erlischt  sie.  Andere  Verbindungen  dienen  als 
Ersatz;  für  das  Beharren  in  einer  Tätigkeit,  Wendungen  wie: 
er  ist  heim  Schreiben,  am  Schreiben,  im  Schreiben  begriffen] 
für  den  Eintritt:  anfangen,  beginnen,  auch  gedenken  mit  dem 
Inf.   mit   zu.      Wo  wir  das  Part.  Präs.  als  Prädikat  brauchen,    em- 


§  91.]       Der  Infinitiv  in  zusammengesetzten  Verbalformen.  173^ 

pfinden  wir  es  als  Adjektiv,  z.  B.  Sein  Äusseres  ist  abstos  send  j 
die  Gründe  sind  durchschlagend^  überzeugend,  einleuchtend^  diese 
Richtung  ist  jetzt  vorherrschend^  die  herrschende  u.  ä.  Doch  nach 
der  alten  Art:  Ich  ivas  mir  nichts  verniuten{d).  DWb.  12,  900. 

Anm.  1.  Genauere  Beobachtungen  über  die  Geschichte  der 
Form  vom  Mhd.  an  fehlen  (vgl.  Wunderlich  1,  252  f.  Rick  S.  3  Anm.). 
Besonders  wird  darauf  zu  achten  sein,  in  welchem  Verhältnis  die  Ver- 
bindungen mit  sin  zu  denen  mit  iverden,  und  die  mit  werden  zu 
dem  perfektiven  Gebrauch  der  Vorsilbe  ge  steht. 

5.  werden  Q,.  Part,  wäre  wohl  geeignet  gewesen,  zu 
einer  Futurumschreibung  ausgebildet  zu  werden  (vgl.  §  74); 
aber  wenn  Ansätze  dazu  vorhanden  gewesen  sind,  so  sind  sie 
jedenfalls  nicht  zur  Entwickelung  gekommen.  Wie  ülfilas 
öfters  gr.  ecrecrOai  durch  wairpan  wiedergibt,  so  braucht  er 
gelegentlich  auch  die  Verbindung  des  Verbums  mit  dem  Part. 
Präs.  für  das  Futurum:  Jh.  16,  20  saurgandans  ivairpip 
XuTrrjOriaecyOe;  aber  in  der  Regel  doch  nur,  wenn  das  Original 
den  Anlass  zu  einer  solchen  zusammengesetzten  Form  gab: 
Lc.  17,  35  twös  icairpand  malandeins  samana,  bvo  loovrai  öXriGouaai 
€111  TÖ  aÖTÖ ;  Mc.  13,  25  jah  stairnöns  himinis  ivairpand  driusandeins^ 
Kai  Ol  daTepec;  toö  oupavoO  eacvrai  iriiTTCVTec;.  Noch  weniger  lässt 
sich  für  das  Ahd.  futurische  Bedeutung  der  Verbindung  nach- 
weisen (Rick  S.  28).  Nur  einmal  entspricht  sie  einem  lat. 
Futurum:  Tat.  c.  2,  9  loirdist  swigenti,  eris  tacens,  und  da 
folgt  der  Übersetzer  wieder  dem  Original.  Wenn  in  manchen 
Sätzen  die  Verbindung  sich  auf  die  Zukunft  bezieht,  wie  in 
den  beiden  letzten  aus  Gotfrid  angeführten  Beispielen,  so 
folgt  daraus  nichts,  da  das  germ.  Präsens  überhaupt  das  Fu- 
turum ersetzen  musste.  Eine  bestimmte  futurische  Bedeutung* 
gewann  erst  werden  c.  Inf.  (§  92). 

Anm.  2.  Rick  S.  20  f.  vermutet,  dass  man  selbst  ^t?ese^^  c,  Part ► 
futurisch  aufzufassen  geneigt  gewesen  sei. 

Der  Infinitiv  in  zusammengesetzten  Verbalformen. 

91.  (Bezeichnung  des  Futurums  im  Got.  und  Ahd.)  1.  Mit 
dem  Infinitiv  gehen  die  Präterito-Präsentia  mögen,  Jcönnen, 
sollen,  dürfen,  müssen,  sowie  ivollen  und  lassen  oft  Ver-^ 
bindungen  ein,  in  denen  ihre  eigentliche  Bedeutung  mancherlei 
Änderungen  erfährt  und  im  Laufe  der  Zeit  mehr  oder  weniger 


174  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  91. 

zurücktritt,  so  dass  sie  mit  den  einfachen  Verbalformen  kon- 
kurrieren und  sie  teilweise  ganz  ersetzen.  Diese  Eutwickelung 
bei  den  einzelnen  Verben  darzulegen,  muss  den  Wörterbüchern 
oder  Spezialuntersuchungen  überlassen  werden  ^) ;  einiges  wird 
in  der  Moduslehre  zur  Sprache  kommen;  hier  sollen  nur  die 
Verbindungen  in  Betracht  gezogen  werden,  die  der  Tempus- 
unterscheidung dienen  und  zu  einem  festen  Bestandteil  des 
Konjugationssystems  geworden  sind.  Es  handelt  sich  um  die 
Bildung  des  Futurums,  für  das  das  germanische  Verbum  eine 
besondere  Form  nicht  hatte  ^). 

2.  Der  gotische  Übersetzer  braucht  für  das  griechische 
Futurum  fast  überall  die  Präsensform.  Selbst  wo  im  griechi- 
schen Text  Präsens  und  Futurum  einander  gegenüber  stehen, 
scheut  er  nicht  den  Gebrauch  des  Präsens  für  beide  Tempora; 
z.  B.  Jh.  14,  12  pö  waurstwa,  pöei  ik  tauja,  jah  is  taujip  xa 
^pYot  a  b{(x}  TTOiuj  KotKeTvoc;  TToirjcrei;  nur  hin  und  wieder  wählt 
er  eine  charakteristische  Form.  Imperfektive  Verba  verbindet 
er  mit  der  Partikel  ga-,  die  auf  den  Eintritt  der  Handlung  hin- 
weist (§  107);  das  Futurum  des  imperfektiven  elvai  übersetzt  er  in 
demselben  Sinne  oft  durch  wairpa,  z.  B.  Mt.  8,  12  jainar  wairpip 
grets  jah  krusts  punpiwe,  enei  loim  ö  KAauajuöc;  Kai  ö  ßpuyiLiöc;  tOuv 
öbövTUüv.  An  andern  Stellen  braucht  er  den  Optativ  (§  109^  2).  Nicht 
oft  finden  sich  zusammengesetzte  Verbalformen,  auch  diese  ge- 
wöhnlich bei  imperfektiven  Verben :  einigemal  ivairpan  c.  Part. 
Präs.  (§  90),  oder  duginnan  c.  Inf.;  z.  B.  Lc.  6,  25  icai  izwis  jus 
hlahjandans  nu,  unte  gaunön  jah  gretan  dugin7iid,  -rrevBriöeTe  Kai 
KXaüaexe;  Phil.  1,  18;  oder  hahan  (Gr.  4,  93.  178):  2  Kor.  11,  12  ip 
patei  tauja  jah  taujan  haha,  ö  hk  ttguu  Kai  iroiriauü;  Jh.  12,26  parei 
im  ik,  paruh  sa  andbahts  meins  wisan  habaip,  öttou  ei|ui  ejuj,  eKei 
Kol  6  öi(iKovo<;  6  ^luöc;  löxai;  2  Thess.  3,  4;  nur  einmal  skal,  bei  dem 


1)  Lucae,  Bedeutung  und  Gebrauch  der  Verba  auxiliaria  im 
Mhd.  1868.  Kahl,  Die  Bedeutung-en  und  der  syntaktische  Gebrauch 
der  Verba  können  und  mögen  im  Altdeutschen.  ZfdPh.  22,  1 — 60. 
von  Monsterberg-Münckenau,  Der  Infinitiv  nach  loollen  und  den 
Präterito-Präsentia  in  den  Epen  Hartmanns  von  Aue  ZfdPh.  18,  If. 
Zehme,  Über  Bedeutung  und  Gebrauch  der  Hülfsverba  soln  und 
müe^en  bei  Wolfram.    Halle  1891  (Diss.). 

2)  Gr.  4,  176  ff.  93.  Erdra.  §  142.  Wunderhch  1,  169  f.  Whd. 
§  433  f.  Blatz  1,  567  f.  Hinsdale,  Über  die  Wiedergabe  des  lat.  Fu- 
turums bei  den  ahd    Übersetzern.    Göttingen  1897  (Diss.). 


§  91.]       Der  Infinitiv  in  zusammeng-esetzten  Verbalformen.  175 

perfektiven  ivairpan,  im  abhängigen  Satz  Lc.  1,  66  qipaiidans,  Iva 
skuli  pata  harn  wairpan,  Xe^ovrec;,  t{  äpa  tö  iraibiov  toöto  eaxai, 
(Was,  meinest  du,  will  aus  dem  Kindlein  werden).  Andere  Stellen, 
an  denen  der  Übersetzer  im  Anschluss  an  gT.  |ue\\eiv  mit  dem  Infinitiv 
umschreibende  Verba  braucht  {haban,  skulan,  munan,  einmal  auch 
sik  skaftjan  und  anaioairp  wisan)  kommen  hier  nicht  in  Betracht. 
Gr.  4,  93.  178  f. 

3.  Im  Hochdeutschen  werden  umschreibende  Verbal- 
formen öfter  gebildet,  namentUch  mit  scal  und  willu,  auch 
mit  mag  und  muo^,  also  mit  Verben,  die  naturg-emäss  gewöhn- 
lich bei  Handlungen  gebraucht  werden,  die  erst  in  der  Zu- 
kunft eintreten,  sollen  ist  in  den  meisten  germanischen 
Sprachen  zu  einem  Mittel  der  Futurbildung  geworden :  im 
Englischen,  Niederländischen,  Niederdeutschen,  im  Dänischen 
und  Schwedischen;  aber  das  Hochdeutsche  verhält  sich  ziem- 
lich spröde.  Während  im  Heliand  die  Umschreibung  mit  scal 
häufig  ist,  wird  sie  im  Tatian  fast  ganz  vermieden.  Öfter 
entspricht  sie  im  Is.  und  bei  Otfried  dem  lateinischen  Fu- 
turum, z.  B,  1,  12,  17  sagen  ih  iu,  wio  ir  nan  sculut  findan 
(Lc.  2,  11  invenietis  infantem);  1,  23,  23  herga  sculun  suinan 
(Lc.  3,  5  et  omnis  mons  humiliabitur);  4,  7,  32  tha^  er  ni  ivard 
10  sulih  fal  ouh  iamer  vjerdan  ni  scal  (Mt.  24,  21  tribulatio 
qualis  non  fuit  .  .  neque  fiet).  So  beginnt  der  Dichter  auch 
1,  5,  23  thu  scalt  heran  einan  alawaltendan  (Lc.  1,  31  filium 
paries),  fährt  dann  aber  mit  dem  Präsens  fort:  got  gibit  imo 
wiha  .  .  er  ricMsöt  gitliiuto  (hie  erit  magnus  et  filius  altissimi 
vocabitur  .  .  et  regnabit  in  domo  Jacob).  Das  einfache  Präsens 
ist  auch  bei  Otfried  durchaus  das  gewöhnliche.  —  Für  die 
Futurumschreibung  mit  wollen  bieten  Is.  und  Tat.  kein  Bei- 
spiel, Otfried  wenige:  5,  17,  3  loil  thü  tha^  rieht  irsezzen 
(Ap.  1,  6  restitues  regnum).  scal  und  iclllu  neben  einander: 
0.  1,5,  52  er  scal  sinen  drüton  thräto  gimuntön,  then  altan 
Satanasan  wilit  er  gifähan,  wo  wir  beidemal  das  Futurum 
mit  werden  nehmen  würden.  —  mag:  0.  3,  6,  17  war  mugun 
wir  nü  higinnan,  mit  koufu  hröt  giwinnan  (Jh.  6,  5  unde  ememus 
panes)?  1,  5,  37  wio  meg  iz  io  tverdan  war,  tha^  ih  werde  suangar 
(Lc.  1,  34  quomodo  fiet  istud  =  Tat.  3,  6  wuo  m,ag  tha^  sin).  — 
muoz:  N.  Ps.  92,  5  (2,  393,  3)  an  dero  iverlte  muozzi7it  ir  fressun 
hahin,  in  mundo  pressuram  habebitis. 


176  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  92. 

Anm.  Die  Verbindung"  von  haben  mit  dem  Inf.,  die  im  Got. 
gebräuchlich  ist  und  in  den  romanischen  Sprachen  ein  neues  Fu- 
turum entstehen  lässt,  wird  im  Deutschen  nicht  so  gebraucht.  Tat. 
c.  108,  7  ih  haben  touft  gitoufit  v:erdan  ist  dem  lat.  baptismum 
habeo  baptizari  nachgebildet.    Gr.  4,  93.  Wunderlich  1,  183  f. 

4.  Ähnlich  wie  im  Ahd.  setzt  sich  der  Gebrauch  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  fort,  bis  in  die  Gegenwart.  An  der 
Mehrzahl  der  angeführten  Stellen  finden  wir  in  der  Lutherschen 
Bibelübersetzung  zwar  das  Griechische  oder  Lateinische  Fu- 
turum durch  werden  mit  dem  Inf.  wiedergegeben,  aber  daneben 
behauptet  sich  das  Präsens  (Jh.  6,  5)  und  Umschreibungen  mit 
sollen  (Jh.  12,  26  Lc.  1,34.  3,5)  und  wollen  (Phil.  1,  18. 
2  Kor.  11,  12.  Lc.  1,  66),  überall  in  voller  Übereinstimmung 
mit  dem  heutigen  Sprachgebrauch.  Zu  einem  reinen  Ausdruck 
der  Zeitstufe  sind  diese  modalen  Httlfszeitwörter  jedoch  nicht 
geworden.  In  Sätzen  wie:  'Das  Feuer  will  ausgehen;  heute 
Nachmittag  soll  Konzert  sein;  was  soll  od.  will  daraus 
werden;  damit  soll  er  wohl  bald  fertig  sein  bezieht  sich 
das  Verbum  zwar  immer  auf  die  Zukunft,  aber  wir  empfinden 
die  Sätze  anders,  als  wenn  wir  werden  mit  dem  Infinitiv 
brauchen.  Die  feinen  Bedeutungsunterschiede  sind  oft  schwer 
zu  fassen,  aber  sie  sind  vorhanden  und  auch  früher  vorhanden 
gewesen,  natürlich  nicht  gerade  in  derselben  Umgrenzung  wie 
jetzt.  Nicht  selten  liegen  uns  andere  Umschreibungen  näher, 
als  die  wir  in  älteren  Denkmälern  finden;  z.B.  Walther  17, 11 
wir  suhl  den  kochen  raten  (wollen);  53,  29  gern  ich  in  allen  dienen  sol 
(will);  32,  31  edel  Kerendcere  ich  sol  dir  klagen  mere  (muss);  35,31 
wil^  iu  niht  versmähen  (sollte  es  auch  nicht  unangenehm  sein); 
67,  17  dUi  jämertac  wil  achiere  können  (wird  bald  kommen).  Wun- 
derlich 1,  176  f.  184  f. 

92.  {sein  und  icerden  mit  dem  Infinitiv.)  1.  Verbii> 
düngen  von  sein  und  werden  mit  dem  Infinitiv  sind  im  Ahd. 
noch  unerhört;  erst  im  Mhd.  treten  sie  neben  die  älteren  Ver- 
bindungen dieser  Verba  mit  dem  Part.  Präs.  Zum  Teil  hängt 
die  Änderung  der  Konstruktion  wohl  mit  der  Entwickelung  der 
Bedeutung  zusanmien.  Bei  sin  trat  sie  ein,  indem  das  Verbum 
durch  Ellipse  von  Partizipien  wie  gegangen,  gevarn  selbst  zu 
einem  Bewegungsverbnm  wurde  (Gr.  4,  137).      Wie    wir    sagen 


§  92.]  sein  und  werden  mit  dem  Infinitiv.  177 

können;  er  ist  über  Land,  aufs  Feld,  nach  Amerika,  so  konnte  auch 
schon  im  Mhd.  sin  mit  adverbialen  Bestimmungen  des  Zieles  ver- 
bunden werden,  z.  B.  Alex.  V.  823  nü  was  Alexander  nach  den 
houmen  über  mer.  Parz.  118,20  du  wcere  hinü^  üf  den  plän\  und 
dementsprechend  verband  es  sich  dann  wie  andere  Bewegungsverba 
(ahd.  faran,  tleji,  gangan  §  63)  mit  dem  Infinitiv,  z.  B.  Gregor  946 
da^  si  benamen  wceren  vor  tage  vischen  üf  den  se.  Lanz.  3014  er 
loas  schouwen  die  rtterschaft.  —  werden  scliloss  sich  Verben 
wie  ahd.  biginnan,  gistantan  u.  ä.  an;  denn  wie  diese  neben 
dem  Infinitiv,  so  diente  werden  neben  dem  Part.  Präs.  dazu 
den  Eintritt  in  die  Handlung  zu  bezeichnen  (§  90).  Unter  dem 
Einfluss  der  synonymen  Verba  trat  an  die  Stelle  des  Parti- 
zipiums der  Infinitiv.  —  Dann  aber  wurde  die  Verbreitung 
der  Infinitivkonstruktion  bei  beiden  Verben  kräftig  unterstützt 
durch  den  lautlichen  Verfall  der  Partizipialendungj  durch  den 
eine  Vermischung  von  Partizipium  and  Infinitiv  herbeigeführt 
wurde  (vgl.  §  31).  So  wurde  bei  beiden  Verben  der  Infinitiv 
gebräuchlich ;  aber  während  bei  sin  das  Part,  häufiger  gewesen 
war^  wurde  es  umgekehrt  der  Infinitiv  bei  werden. 

2.  Verbindungen  des  Infinitivs  mit  sin  werden  beliebt 
im  14.  Jh.,  sterben  aber  im  16.  wieder  ab;  spottend  erwähnt 
sie  Erasmus  Alberus  (Neudrucke  No.  104  S.  4).  werden  zeigt 
zunächst  stärkere  Neigung  zum  Infinitiv,  wenn  es  im  Präteritum, 
als  wenn  es  im  Präsens  steht.  Ein  Beispiel  für  das  Präteritum 
bietet  schon  das  Annolied  v.  613  so  di^  Hut  nahtes  ward 
släfin\  für  das  Präsens  sind  die  Belege  im  13.  Jh.  noch  sehr 
spärlich;  die  ältesten  bietet  Konrad  Fleck  Fl.  3414  ich  iccene 
ir  loerdent  mir  es  jehen.  3609  der  wirt  iuch  wol  enhalten, 
4656  so  wirt  er  sprechen  zehant.  Erst  in  der  Prosa  des  14. 
15.  Jh.s  wird  diese  Umschreibung  häufiger^). 

3.  Futurische  Bedeutung  konnte  diesen  mit  loerden  zu- 
sammengesetzten Formen  ursprünglich  nicht  zukommen;  sie 
bezeichneten  nur  den  Eintritt  der  Handlung;  aber  wie  jedes 
Präsens  konnte  auch  das  zusammengesetzte  Präsens  wird 
sprechen  auf    die   Zukunft  bezogen    werden    und    wegen    der 


1)  Belege  für  sin  c.  Inf.  Gr.  4,92.  Mhd.  Wb.  1,128a.  .3,766a. 
Whd.  §  428  etc.  für  werden  c.  Inf.  Gr.  4,7.  92.  182.  184.  Mhd.  Wb. 
3,730  b.     Whd.  §  435. 

W.  Würaanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  12 


178  Zusammengesetzte  Verbalformen.  [§  92. 

perfektiven  BedeutuDg  von  werden  war  es  besonders  geeignet 
dazu  (vgl.  §  94,  2).  Je  mehr  diese  futurische  Auffassung  der  Form 
zur  Geltung  kam,  um  so  mehr  Hess  der  Sprachgebrauch  das  Prät. 
wart  sprechen,  das  diese  Bedeutung  nicht  teilen  konnte,  fallen*, 
nur  den  irrealen  Optativ  loürde  sprechen^  der  keine  Ver- 
gangenheitsbedeutung hatte,  hielt  er  fest.  Im  älteren  Nhd. 
finden  wir  noch  wird  und  ward  sprechen,  aber  das  Präsens 
überwiegt  und  ist  namentlich  bei  Luther  ein  ganz  geläufiges 
Mittel  der  Futurbildung  (Wunderlich  1,  192). 

4.  So  hatte  also  die  Sprache  in  ihrer  Entwickelung  vom 
Mhd.  zum  Nhd.  ein  Mittel  gewonnen,  das  ein  reinerer  Aus- 
druck des  Futurums  war  als  die  Verba  sollen  und  wollen. 
Wie  man  aber  auch  diese  noch  als  Mittel  der  Futurbildung  empfand, 
zeigen  die  Angaben  der  Grammatiker.  In  einer  Zeitzer  Grammatik i) 
des  15.  Jh.s  zwar  wird  als  stehende  Übersetzung*  des  lat.  amabo 
schon  ich  werde  lihin  gebraucht,  dagegen  heisst  es  in  einer  Gramma- 
tik die  c.  1480  in  Münster  in  Westfalen  erschien :  Legam  ick  will 
edder  ick  schal  lesen ;  edder  alse  de  avei^lender  seggen :  ik  werde 
lesen  (Müller,  Quellenschriften  S.  241);  dem  niederdeutschen  Autor 
war  also  die  Form  mit  werden  noch  nicht  geläufig.  Aber  auch  in 
Oberdeutschland  war  sie  noch  achtzig  Jahre  später  nicht  allgemein 
anerkannt.  Oelinger  (1573.  Neudruck  von  Scheel  S.  82  f.)  bezeich- 
net ich  will  schreiben  als  Fut.  primum,  ich  werd  schreiben  als  ein 
paulo  post  Futurum;  und  noch  im  17.  Jh.  führt  Stephan  Eitter 
beide  Formen  neben  einander  an.  Doch  mag  in  solchen  Angaben 
der  Schlendrian  der  Schulbücher  mitwirken;  die  landschaftliche  Ver- 
breitung der  Formen  bleibt  noch  zu  untersuchen.  Für  uns  ist 
werden  mit  dem  Inf.  reines  Hülfszeitwort  der  Zeit  und  unser 
Sprachgefühl  unterscheidet  deutlich  diese  Funktion  des  Verbums 
von  andern.  Wir  sagen :  'Er  wird  sein  Haus  verkaufen  und 
auswandern ,  aber  nicht:  'Er  wird  hier  zu  viel  behelligt  und 
deshalb  auswandern ,  noch  weniger:  'Er  wird  Kaufmann  und 
auswandern  . 

5.  So  sehr  auch  die  Umschreibungen  mit  wollen  und 
sollen  durch  das  jüngere  werden  verdrängt  sind:  in  einem 
kleinen  Gebiet  haben  sie  sich  doch  unbestritten  behauptet;  im 
Infinitiv    können    wir    die    mit    werden    zusammengesetzten 


1)  Bech,  Von  der  Abschleif ung  des  Part.  Präs.  etc.  Zeitz  1882 
(Prgr.)  S.  112. 


§  93.]  werden  mit  dem  Inf.  Perf.  —  Fut.  II.  179 

Formen  nicht  brauchen.  Wenn  in  lateinischen  Grammatiken 
amaturum  esse  durch  liehen  loerden,  amatwm  tri  durch  werden 
gelieht  werden  übersetzt  wird,  so  werden  da  der  deutschen 
Sprache  Formen  zugemutet,  die  sie  nie  gehabt  hat.  Wir  liönnen 
nicht  sagen:  Er  scheint  sein  Gut  verkaufen  zu  werden,  oder 
gar:  Das  Gut  scheint  verkauft  werden  zu  werden^  sondern 
nur:  Er  scheint  sein  Gut  verkaufen  zu  wollen]  das  Gut 
scheint  verkauft  werden  zu  sollen.  —  Über  den  Gebrauch 
dieser  Formen  in  relativen  Zeitbestimmuugen  s.  §  101,  2. 

Anm.  Um  eine  unmittelbar  bevorstehende  Handlung  zu  be- 
zeichnen, brauchen  wir  im  Begriff  sein  mit  dem  Inf.  mit  zu.  Be- 
obachtungen über  die  Verbreitung  dieser  uns  ganz  geläufigen 
Wendung  fehlen.  Das  DWb.  2,  1312  belegt  sie  nur  durch  eine  Stelle 
aus  Wieland,  Heyne  durch  ein  paar  Stellen  aus  Schiller  und  Goethe 

93.  {werden  mit  dem  Inf.  Perf.  —  Fut.  II).  1.  Wie  der 
Inf.  Präs.  dazu  diente,  ein  Futurum  und  einen  irrealen  Opt 
Prät.  zu  bilden,  so  seit  der  mhd,  Zeit  der  Inf.  Perfekti  zur 
Bildung  eines  Futurum  exactum  und  eines  irrealen  Opt.  Plq 
Auch  hier  finden  wir  zunächst  wollen  und  sollen  als  Hülfs 
Zeitwörter.  —  Das  Fut.  II  erscheint  selten-,  z.  ß.  Iw.  4650 
ich  sol  s  im  schiere  hän  henomen  ich  werde  od.  will  sie  ihm 
bald  abgenommen  haben.  Roseng.  278  Gr.  da^  sol  geschehen 
sin  das  wird  bald  geschehen  sein  (Höflichkeitsformel  =  das 
will  ich  sofort  tun).  Häufiger  ist  der  Irrealis;  z.  B.  Iw.  2401 
wan  düht  si^  alle  missetän,  si  wolt  in  doch  genomen  hän, 
sie  würde  ihn  doch  genommen  haben.  Nib.  1518,  1  er  wolde 
sin  genesen,  würde  mit  dem  Leben  davon  gekommen  sein 
Nib.  792,  2.  1242,  2  (§  89.  §  102,  2).  Später  treten  dann  die 
entsprechenden  Verbindungen  mit  werden  ein.  Am  häufigsten 
brauchen  wir  den  Irrealis:  ich  würde  gesehen  haben,  wenn 
.  .  .,  sodann  den  Ind.  in  modalem  Sinne  als  Potentialis:  er 
wird  ihn  {wohl)  gesehen  haben  =  vermutlich  hat  er  ihn  ge- 
sehen- das  Zeitverhältnis  durch  die  schwerfällige  Umschreibung 
auszudrücken  meidet  man  gern. 

2.  Mit  diesen  Umschreibungen  hat  unser  Konjagations- 
system  seinen  Abschluss  gefunden;  der  Indikativ  hat  sechs 
Tempusformen,  der  Optativ  acht.  Die  üngleichmässigkeit  ergab 


180  Gebrauch  der  Tempora.  [§  94. 

sich  dadurch;  dass  die  Verbindungen  des  Indikativs  ward  mit 
dem  Infinitiv  nicht  festgehalten  sind. 

Präs.  er  gibt  er  gebe 

Prät.  er  gab  er  gäbe 

Perf.  er  hat  gegeben  er  habe  gegeben 

Plq.    er  hatte  gegeben  er  hätte  gegeben 

Fut.  I  er  wird  geben  er  werde  geben 

Fut.  II  er  wird  gegeben  h.  er  werde  gegeben  haben 

Irr.  Prät.  er  würde  geben 

„      Plq.  er  würde  gegeben  h. 

Anm.    Über  Umschreibungen  mit  hat,  hatte  —  gehabt  s.  §  100 
Anm.  2;  über  ist  im  Begriff  zu  §  92  Anm. 

Gebrauch  der  Tempora. 

94.  1.  So  nahe  uns  die  Unterscheidung  der  drei  Zeit- 
stufen der  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  liegt;  so 
hat  sie  doch  weder  die  Bildung  der  Tempusformen  veranlasst, 
noch  hat  sie  in  ihnen  reinen  Ausdruck  gefunden.  In  der  idg. 
Urzeit  existierten  überhaupt  keine  Tempora ;  die  Verbalformeu 
an  sich  hatten  keine  Beziehung  zur  Zeitstufe.  Die  Vergangen- 
heit wurde  durch  ein  zur  Verbalform  tretendes  Adverbium, 
das  Augment  e  ausgedrückt;  für  Gegenwart  und  Zukunft  war 
eine  besondere  Bezeichnung  nicht  vorhanden ;  hier  genügte  die 
zeitlose  Handlung  (Delbr.  4,10;  vgl.  IF.  6,245).  Dagegen 
gab  es  viele  Mittel  zur  Unterscheidung  der  Aktionsarten  und 
diese  sind  zum  Teil  zu  Mitteln  der  Tempusunterscheidung  ge- 
worden. Wie  weit  das  Idg.  in  dieser  Entwickelung  gekommen 
war,  und  was  die  einzelnen  Sprachen  von  diesem  alten  Erbe 
übernahmen,  untersucht  die  vergleichende  Grammatik  (Delbr. 
4, 389  ff.).  Das  germanische  Verbum  stellte  nur  noch  zwei 
Tempora  zur  Verfügung.  Das  Präsens  bezeichnet  im  allge- 
meinen Aussagen,  die  sich  auf  Gegenwart  oder  Zukunft,  das 
Präteritum  solche,  die  sich  auf  die  Vergangenheit  beziehen. 
Doch  greift  das  Präsens  in  gewissen  Fällen  auf  das  Gebiet 
des  Präteritums  über  (Präs.  historicum)  und  umgekehrt  das 
Präteritum  auf  das  Gebiet  des  Präsens.  Der  Opt.  des  Prät. 
konnte  von  jeher  als  Modus  der  Irrealität  und  der  indirekten 


§  94]  Gebrauch  der  Tempora.  181 

Rede  auch  auf  die  Gegenwart  oder  Zukunft  bezogen  werden; 
z.  B.  JVäre  er  doch  hierl  Käme  er  doch  haldl  Er  meinte,  es 
wäre  schon  zu  spät.  —  Aussagesätze,  die  wir  auf  eine  be- 
stimmte Zeit  überhaupt  nicht  beziehen  (allgemeine  Aussagen), 
werden  gewöhnlich  durch  das  Präsens  ausgedrückt,  können 
aber  auch  im  Präteritum  stehen  (Delbr.  4,  261)  §  95. 

2.  Die  Zeit,  auf  die  sich  die  Aussage  bezieht,  deckt  sich 
nicht  mit  der  Zeit,  in  der  die  Handlung  sich  abspielt.  Das 
Präsens  bezeichnet,  dass  eine  Handlung  in  der  Gegenwart 
unvollendet  ist,  lässt  aber  ungewiss,  ob  der  Eintritt  der  Hand- 
lung in  die  Vergangenheit  oder  in  die  Zukunft  fällt.  In  dem 
Satze:  Es  regnet  schon  zwei  Stunden,  fällt  er  in  die  Ver- 
gangenheit; in  dem  Satze:  Er  'kommt  bald,  in  die  Zukunft. 
Das  Präteritum  bezeichnet,  dass  die  Handlung  in  der  Ver- 
gangenheit eingetreten  ist,  lässt  aber  ungewiss,  wann  die 
Handlung  ihren  Abschluss  findet.  Als  ich  an  seinem  Bette 
war,  schlief  er  schon  kann  ich  sowohl  von  einem  sagen,  der 
jetzt  wach  ist,  als  von  einem,  der  noch  schläft.  Die  Bedeutung 
der  Tempusform  steht  unter  dem  Einfluss  der  Aktionsart  In 
dem  Präsens  eines  imperfektiv  aufgefassten  Verbums  liegt  nur 
eine  Beziehung  auf  die  Gegenwart,  mit  dem  perfektiv  auf- 
gefassten dagegen  verbindet  sich  leicht  ein  Blick  in  die  Zukunft, 
da  der  Abschluss  der  Handlung,  den  der  Sprechende  im  Auge 
hat,  in  die  Zukunft  fällt;  vgl.  Der  Mann  trägt  mir  das  Gepäclt 
(imperfektiv)  :  er  bringt  mir  das  Gepäch  (perfektiv).  Das 
Präteritum  des  imperfektiven  Verbums  bezeichnet  eine  Handlung 
der  Vergangenheit  ohne  Andeutung  über  ihre  zeitliche  Be- 
grenzung, bei  dem  Präteritum  des  perfektiven  Verbums  fällt 
auch  der  Abschluss  der  Handlung  in  die  Vergangenheit.  So 
begreift  es  sich,  dass  Formen,  welche  die  Aktionsart  bestimmen, 
zu  Mitteln  der  Tempusunterscheidung  werden  können. 

3.  Neue  Mittel  zur  Bezeichnung  des  Tempus  gaben  die 
zusammengesetzten  Tempora,  und  in  demselben  Masse,  als  sie 
sich  gewisse  Teile  des  Gebietes,  das  ursprünglich  die  einfachen 
Tempora  allein  beherrschten,  aneigneten,  wurden  auch  diese 
in  ihrer  Bedeutung  eingeschränkt,  so  dass  ihr  allgemeinerer 
Gebrauch    in    der    älteren  Sprache   uns  oft  befremdet.     Doch 


182  Gebrauch  der  Tempora.  [§  95. 

hat  die  Sprachentwickelung  auch  jetzt  noch  nicht  zu  festen 
Grenzen  geführt;  oft  ist  uns  sowohl  die  ältere  einfache,  als 
die  jüng-ere  zusammengesetzte  Form  gestattet. 

4.  Besonders  wichtig  sind  die  zusammengesetzten  Formen 
als  Mittel  der  relativen  Zeitbestimmung  geworden.  Ur- 
sprünglich wurde  das  Tempus  der  Aussage  lediglich  durch  ihr 
Verhältnis  zur  Zeit  der  Rede  bestimmt  (absolutes  Tempus);  in 
der  jüngeren  Sprache  findet  vielfach  auch  das  Verhältnis  ver- 
schiedener Aussagen  zu  einander  Ausdruck  (relatives  Tempus)  ^). 
Nach  alter  Weise  sagen  wir  z.  B.  Gegen  Abend  hörte  es  auf 
zu  regnen;  wir  machten  einen  Spaziergang  und  kehrten  erst 
in  der  Dunkelheit  heim;  dagegen  mit  relativer  Zeitbestimmung: 
Gegen  Abend  hatte  es  aufgehört  zu  regnen'^  wir  machten 
einen  Spaziergang  etc.  Die  drei  Verba  beziehen  sich  in  diesen 
Sätzen  auf  drei  verschiedene  Zeitpunkte,  nichtsdestoweniger 
stehen  sie  in  dem  ersten  Satze  in  demselben  Tempus,  das 
Präteritum  bezeichnet  vom  Standpunkt  des  Redenden  aus  nur 
die  Vergangenheit  schlechthin.  In  dem  anderen  Satze  weist 
das  Plusquamperfektum  hatte  aufgehört  darauf  hin,  dass  diese 
Aussage  den  folgenden  vorangegangen  ist.  Die  Bezeichnung 
der  relativen  Zeitbestimmung  ermöglicht,  was  früher  gewisser- 
massen  ohne  Perspektive  auf  einer  Fläche  erschien,  kulissen- 
artig hintereinander  zu  schieben. 

In  der  folgenden  Betrachtung  soll  zuerst  das  Verhältnis 
von  Präsens  und  Präteritum  behandelt  werden ;  dann  das  Ver- 
hältnis der  zusammengesetzten  Formen  zu  den  einfachen,  zuletzt 
die  eigentümlichen  Erscheinungen,  die  im  Irrealis  und  in  den 
indirekten  Sätzen  hervortreten-), 

95.  (Präteritum  in  allgemein  gültigen  Sätzen.)^)  1.  Sätze, 
die  auf  eine  bestimmte  Zeit  nicht  bezogen  werden,  stehen  im 

1)  Das  Idg.  kannte  trotz  seines  Reichtums  an  Verbalformen 
nicht  den  Unterschied  von  absoluten  und  relativen  Tempora. 
Delbr.  4,312. 

2)  Abhandlungen  und  Untersuchung-en  über  den  Sprach- 
gebrauch einzelner  Schriftsteller,  in  denen  auch  das  Tempus  be- 
handelt wird,  sind  zu  §  109  angeführt. 

3)  Gr.  4, 175  Erdm.  §  144.     Whd.  §  438.     Blatz  2,  505  A.  4. 


§  95.]  Präteritum  in  allgemein  gültigen  Sätzen.  183 

allgemeinen  im  Präsens;  insofern  sie  aber  auf  wiederholter 
Erfahrung  oder  Wahrnehmung  beruhen,  können  sie  auch  im 
Präteritum  stehen;  dem  Zuhörer  bleibt  es  dann  tiberlassen,  aus 
der  auf  die  Vergangenheit  bezüglichen  Mitteilung  den  Schluss 
auf  die  allgemeine  Gültigkeit  zu  ziehen.  In  der  älteren  Zeit 
ist  dieser  Gebrauch  häufiger  als  jetzt;  z.  B.  0.  8al.  20  ungi- 
lönöt  ni  bileib,  tlier  gotes  wi^^öde  Meib,  nie  blieb  der  un- 
belohnt,  der  an  Gottes  Gesetz  festhielt.  Liedersaal  173,  215 
bi  einer  imle  gedäht  ich  :  der  gewagete,  der  genas,  die  teile 
er  unver zaget  was.  Oft  wird  die  allgemeine  Gültigkeit  durch 
10  hervorgehoben;  z.  B.  0.  Hartm.  108  io  ähta  thes  guaten, 
ther  thär  ubil  icas,  der  Böse  stellt  immer  dem  Guten  nach. 
Walther  13,30  tören  schulten  ie  der  wisen  rät.  92,15  sioä 
man  noch  wibes  güete  ma^,  da  wart  ir  ie  der  habedanc. 
Praes.  und  Prät.  nebeneinander  90,  9  swer  ie  gepflac  ze  singen 
tageliet,   der  wil   mir  wider   morgen   beswceren  minen  muot. 

2.  Ungewöhnlich  klingt  uns  das  Prät.  namentlich  in 
Glück-  und  Segenswünschen  N.  Ps.  126,5  (2,558,  11)  Icesah 
in  got,  der  sih  Tceröt  iro  ze  gesatönne.  Freid.  80,  14  wol  im 
wart,  der  vil  gereit  (=  redet),  und  wei^  er  rehte,  wa^  er 
seit.  Wir  pflegen  den  Hauptsatz  ohne  Verbum  als  blossen  Ausruf 
zu  bilden,  wie  Walther  13,  25  wol  im,  der  ie  nach  .stceten  fröuden 
ranc.  16,  14  wol  im  dort,  der  hie  vergalt.  17,  8.  73,  2.  115,  3.  Hölty  : 
Wunder. selig  er  Mann,  tvelcher  der  Stadt  entfloh. 

3.  In  Segenswünschen  kann  das  Präteritum  sogar  dann 
gebraucht  werden,  wenn  sich  die  Aussage  nicht  auf  die  Ver- 
gangenheit beziehen  lässt:  0.  5,  19,  11  ward  wola  in  then 
thingon  (beim  jüngsten  Gericht)  thie  selbun  mennisgon,  thie 
thär  sint  sichor  iro  dato.  Ebenso  4, 26, 36.  Solche  Sätze 
deuten  vielleicht  darauf  hin,  dass  ehedem  das  Präteritum  in 
noch  weiterem  Umfang  zeitlos  gebraucht  werden  konnte,  wie 
der  Aorist  (IF.  6,  250  ff.),  dessen  Funktionen  ja  im  allgemeinen 
auf  das  germ.  Präteritum  übergegangen  sind;  vgl.  auch  den 
Gebrauch  des  Opt.  Prät.  als  Irrealis.  —  Über  Sätze,  in  denen 
das  zusammengesetzte  Perfektum  auf  Gegenwart  und  Zukunft 
geht,  s.  §  99. 


184  Gebrauch  der  Tempora.  [§  96- 

Präsens  historicum^). 

96.  1.  Ereignisse  der  Vergangenheit  werden  im  all- 
gemeinen durch  das  Präteritum  ausgedrückt.  Die  weit  ver- 
breitete Neigung  unter  gewissen  Umständen  sie  durch  das 
Präsens  zu  bezeichnen,  ist  den  germanischen  Sprachen  ur- 
sprünglich fremd  gewesen;  wie  im  Slavischen  so  hat  auch  in 
ihnen  das  Präsens  historicum  erst  in  historischer  Zeit  Wurzel 
gefasst.  Der  ags.  Beowulf  und  die  eddischen  Erzählungen 
kennen  es  ebenso  wenig  als  der  Dichter  des  Heliand,  und 
selbst  der  gotische  Übersetzer,  so  treu  er  seinem  Original  folgt, 
überträgt  ein  griechisches  auf  die  Vergangenheit  bezügliches 
Präsens  regelmässig  durch  das  Präteritum;  namentlich  wird 
das  häufige  XeYei,  XeYOucri  immer  durch  qap,  qepun  wieder- 
gegeben. Verhältnismässig  sehr  selten  finden  wir  ein  Präsens, 
z.  B.  Mc.  5,  15  jah  atiddjedun  du  Jesua  jak  gasaihand 
pcma  wödan  sitandan,  Kai  ^pxoviai  rrpö^  töv  'IrjCTouv  Kai  Oem- 
poOcTiv  TÖV  bai)Liovi2ö|uevov  Kaörijuevov,  und  so  noch  an  wenigen 
anderen  Stellen. 

2.  Im  Ahd.  bietet  Otfried  einigemal  ein  auf  die  Ver- 
gangenheit bezügliches  Präsens,  das  aber  doch  nicht  als  Präsens 
historicum  angesehen  werden  kann.  3,  26,  1  nü  krist  in 
therera  redinu  (auf  diese  Weise)  zeichan  duit  so  menigii,  nu 
duemes  tha^  zuival  thana  sär  ubaral.  Der  Dichter  vergegen- 
wärtigt sich  hier  den  Inhalt  dessen,  was  er  vorher  erzählt 
hat  und  zieht  daraus  seine  Schlüsse.  Das  Präsens  ist  hier 
gebraucht,  wie  wir  es  anwenden  in  Sätzen  wie:  "Paulus 
schreibt  an  die  Römer,  Plato  sagt  in  seinem  Phädon"  etc. 
Wir  haben  das  Buch  vor  Augen  und  sprechen  von  seinem 
Inhalt  wie  von  etwas  Gegenwärtigem,  obwohl  das  Sagen  und 
Schreiben  der  Vergangenheit  angehört;  vgl.  auch  0.  4,  1,  1. 
4, 25,  1.  Ähnlich  brauchen  wir  das  Präs.  von  sagen  und 
hören,  wenn  eine  vorangegangene  Mitteilung  als  in  der  Gegen- 
wart fortwirkend  vorgestellt  wird;  z.  B.  Wie  ich  höre,  ist  er 
verreist.  Was  sagst  du  da?  Du  sprichst  ein  grosses  Wort 
gelassen  aus. 

1)  Gr.  4,  140.  1260.  Erdm.  §  140.  Wunderlich  1,  155  f.  Whd. 
§  432.  Blatz  2,  500  f.  Behaghel  Zeitformen  2  S.  199—206.  Delbr.  4,  261. 


§  96.]  Präsens  historicum.  185 

3.  Dem  Präs.  bist.  Daher  steht  schon  der  Gebrauch 
mancher  mhd.  Dichter,  die  fortschreitende  Erzählung  zu  unter- 
brechen, um  den  Hörern  gleichsam  ein  Bild  vorzustellen,  in 
dem  sie  den  Helden  zuständlich  betrachten  sollen;  z.  B.  Parz. 
451,  1  er  neic  und  die  midern  nigeji.  da  wart  ir  klage  nilit 
vermiten.  —  Hin  ritet  Herzeloyde  fruht.  4:b2,  29  der  Täusche 
Trevrizent  da  sa^,  der  manegen  mäntac  übel  ga^.  Nun  folgt  die 
Schilderung  seines  Lebens:  An  dem  ervert  nu  Parziväl  diu 
verholnen  mcere  umben  gräl.  Mit  Bildern  ausgestattete  Werke 
legten  solche  Wendungen  besonders  nahe.  Salm.  Str.  768  er 
gap  irrt  mit  creften  einen  slag,  da^  der  degen  edele  vor  im  üf  den 
knüwen  lag.  —  Nu  Hg  et  der  dogenthaffte  man  vor  dem  konige 
Princiän  und  musz  Verliesen  sin  leben,  man  ivolle  dan  dem  leser 
eyns  drincken  geben.  Im  untergeordneten  Satz:  Wh.  361,  2  nü  hoert., 
iver  sölhe  tat  da  tuo,  da^  man  in  drumbe  prise  (Gr.  4, 1260).  Grimm 
hat  diesen  Gebrauch  beobachtet  bei  Wolfram,  Gotfried,  Wirnt 
von  Gravenberg,  Konrad  Fleck  und  einigen  andern;  aber 
Nibelungen  und  Kudrun  kennen  ihn  nicht  und  auch  verschiedene 
höfische  Erzähler  enthalten  sich  seiner:  Hartmann,  Eudolf  von 
Ems,  Konrad  von  Würzburg.  Über  einen  entsprechenden  Ge- 
brauch des  Perf.  statt  des  Plq.  s.  §  99  Anm. 

4.  Von  dem  eigentlichen  Präsens  historicum  ist  auch 
dieser  Gebrauch  noch  merklich  verschieden.  Jenes  ist  nur  da 
anzuerkennen,  wo  der  Erzähler  nicht  in  Betrachtung  seines 
Berichtes,  sondern  weil  er  sich  die  Ereignisse  selbst  in  ihrer 
Entwicklung  lebhaft  vergegenwärtigt,  in  die  Präsensform  ver- 
fällt. Dieser  Gebrauch  verbreitet  sich  langsam  seit  dem  13.  Jh. 
Die  höfischen  Dichter  bieten  noch  kein  Beispiel;  wenige  die 
Predigten  des  Bruder  Berthold,  ziemlich  viele  im  14.  Jh. 
Nicolaus  von  Basel  (Cordes  S.  36);  eine  starke  Zunahme  ist 
seit  dem  16.  Jh.  zu  beobachten  (Behagel  S.  94.  Wunderlich 
1,  158).  In  späteren  Volksliedern  ist  er  allgemein,  nicht  nur 
in  deutschen,  sondern  auch  in  schwedischen  und  dänischen. 
Jetzt  wird  das  Präs.  bist,  überaus  häufig  gebraucht,  sowohl 
in  der  lebendigen  Rede  als  in  der  Literatur,  natürlich  nicht 
ohne  Rücksicht  auf  die  Stilart.  Die  ruhig  gemessene  Dar- 
stellung von  Hermann  und  Dorothea  hat,  wie  Grimm  beob- 
achtet hat,  das  historische  Präsens  nirgends  zugelassen;  in  Voss 


186  Gebrauch  der  Tempora.  [§  97. 

Luise  begegnet  es  Dur  zu  Anfang  des  dritten  Gesanges,  sehr 
oft  dagegen  in  Wielands  Oberon.  Andere  Beobachtungen  der 
Art  bei  Erdmann.  —  In  der  Bedeutung  der  Form  liegt  es, 
dass  sie  zunächst  und  vorzugsweise  in  selbständige  Hauptsätze 
eintritt;  aber  früh  wird  sie  auch  im  Satzgefüge  verwendet, 
selbst  neben  Konjunktionen  die  sonst  das  Präteritum  verlangen; 
z.  B.  Lessing  im  Nathan  5, 1  Schon  den  Hals  ensblösst,  kniet'  ich  — 
als  mich  schärfer  Saladin  ins  Äuge  fasst,  mir  näher  springt 
U7id  tvinkt.  Schiller  Wal.  T.  Da  ergriff,  als  sie  den  Führer  fallen 
seh 71,  die  Truppen  grimmig  wütende  Verzwei feiung,  der  eignen 
Rettu7ig  denkt  jetzt  keiner  mehr,  gleich  ivilden  Tigern  fechten  sie; 
es  reizt  ihrer  starker  Widerstand  die  unsrigen,  und  eher  nicht  er- 
folgt des  Kampfes  Ende,  als  bis  der  letzte  Mann  gefallen  ist. 
In  diesem  letzten  Satze  hat  das  Perfektum  den  Wert  eines  Plq. 
dh.  es  steht  als  Tempus  der  relativen  Vergang-enheit  (vgl.  §  99  Anm.), 
wie  schon  Parz.  422, 19  nü  get  der  künec  an  st7ien  rät.  diu  kilne- 
ginne  geno7ne7i  hat  ir  vetern  sun  und  ir  gast,  (der  König  ging  — 
und  die  Königin  hatte  genommen). 

5.  Die  Verbreitung  des  Präsens  hist.  hängt,  wie  Behaghel 
wohl  richtig  annimmt,  damit  zusammen,  dass  die  Partikel  ge- 
als  Mittel  die  perfektive  Aktionsart  zu  bezeichnen,  ausser  Ge- 
brauch kommt.  Um  so  auffallender  ist,  dass  einmal  schon  im 
9.  Jh.  ein  Präsens  begegnet,  das  ganz  den  Charakter  eines 
Präs,  hist.  trägt:  Ludw.  45  thö  ni  was  ij  burolang  fand  her 
thia  Northman  gode  lob  sageda,  her  sihit  thes  her  gereda 
(vgl.  ZfdA.  33,  415  f.).  Der  altfranzösischen  Dichtung  ist  das 
Präs.  hist.  von  Anfang  an  geläufig;  ebenso  der  mittelalterlichen 
lateinischen,  z.B.  im  Waltharius  (ZfdA.  43,  117  A.).  Ob  man  im 
Lndwigsliede,  das  im  äussersten  Westen  des  fränkischen  Gebietes 
auf  später  französischem  Boden  entstanden  ist,  Einfluss  fremder 
Redeweise  annehmen  darf,  mag  unentschieden  bleiben.  Die  ganze 
ahd.  Literatur  weist  sonst  nichts  der  Art  auf. 

Anm.  Mundartlich  geht  lebhafte  Erzählung  aus  dem  Prät. 
sogar  in  das  zusammengesetzte  Futurum  über.  Möglicherweise 
wirkt  in  diesem  Gebrauch  die  ursprüngliche  inchoative  Bedeutung* 
von  iverden  m.  d.  Inf.  weiter  (§  92);  doch  kann  er  sich  auch  aus  rein 
futurischer  Auffassung  ergeben  haben;  vgl.  Delbr.  4,308. 

Präteritum  und  Perfektum. 
97.     1.  Die  Präterita  der  starken  und  schwachen  Verba 
sind  auf  verschiedene  Weise  gebildet  und  mögen  ursprünglich 


§  97.]  Präteritum  und  Perfektum.  187 

auch  verschiedene  Bedeutung-  gehabt  haben.  Die  Formen  der 
schwachen  Verba  beruhen  wahrscheinlich  zum  grossen  Teil 
auf  Zusammensetzung  mit  einem  wirklichen  Präteritum  (§  38), 
das  Präteritum  der  starken  Verba  war  dagegen  ein  Perfektum^ 
das  ursprünglich  einen  Zustand  des  Subjekts  bezeichnete  und 
nur  dadurch  eine  Beziehung  auf  die  Vergangenheit  erhielt, 
dass  man  den  Zustand  als  Ergebnis  einer  vorangegangenen 
Handlung  auffasste  ^).  Doch  ist  in  historischer  Zeit  ein  Unter- 
schied zwischen  beiderlei  Formen  nicht  mehr  wahrnehmbar. 
Wir  haben  also  für  das  Germanische  zwar  zwei  verschiedene 
Formen,  aber  nur  ein  tempus  präteritum  anzuerkennen. 

2.  Eine  Teilung  des  Gebietes  trat  erst  durch  die  jüngeren 
mit  haben  und  sein  gebildeten  umschreibenden  Formen  ein. 
Sowohl  im  Aktiv  als  im  Passiv  ergaben  sich  dadurch  drei 
Formen,  die  auf  die  Vergangenheit  bezogen  werden  konnten 
und  in  analoger  Weise  von  einander  unterschieden  wurden, 
im  Aktiv  band,  hat  gebunden,  hatte  gebunden  oder  ging,  ist 
gegangen,  war  gegangen,  im  Passiv  wai'd  gebunden,  ist  ge- 
bunden, war  gebunden.  Ob  die  Scheidung  im  Aktiv  und 
Passiv  in  gleichmässigem  Fortschritt  vor  sich  ging,  ist  noch 
nicht  untersucht.  Leichter  konnte  sie  sich  im  Passiv  voll- 
ziehen, denn  hier  konkurrierten  drei  junge  zusammengesetzte 
Formen,  während  im  Aktiv  die  zusammengesetzten  Formen 
dem  älteren  einfachen  Präteritum  zur  Seite  traten,  das  seinen 
Anspruch  auf  das  ganze  Gebiet  nicht  so  leicht  fahren  Hess. 
Dass  im  Passiv  schon  zu  Anfang  des  11.  Jh.  die  Formen  fast 
ganz  so  wie  jetzt  gebraucht  wurden,  zeigen  die  Zusammen- 
stellungen Cuny's  (§  75,  6).  —  Wir  fassen  zunächst  den  Unter- 
schied zwischen  dem  einfachen  Präteritum  (Imperfektum)  und 
dem  Perfektum  ins  Auge^). 

3.  Das  einfache  Präteritum  behauptet  sich,  wo  eine 
Handlung  schlechthin  als  der  Vergangenheit  angehörig  be- 
zeichnet werden  soll;  das  Perfektum  hat,  seiner  Bildung 
entsprechend,    da  statt,    wo   der  Sprechende,    obschon   er  auf 

1)  Delbr.  4, 177.  275. 

2)  Gr.  4, 157  f.  186.  Erdm.  §  143.  Wunderlich  1,  214—230. 
Blatz  2,  503  f.     Wustmann  ^  99—104. 


188  Gebrauch  der  Tempora.  [§  07. 

eine  Handlung  der  Vergangenheit  hinweist,  zunächst  doch 
das  der  Gegenwart  angehörige  Ergebnis  der  Handlung  im 
Auge  hat.  Ich  sage:  Was  machten  Sie  denn  gestern  in  Ihrem 
Garten?  wenn  ich  dem  Nachbarn  zugesehen  habe;  dagegen, 
wenn  ich  nur  die  Spuren  seiner  Tätigkeit  wahrnehme,  frage 
ich:  Was  hahen  Sie  denn  da  in  Ihrem  Garten  gemacht?  In 
dem  Satze:  Nun  hat  er  seinen  besten  Freund  verloren  bezeich- 
nen wir  zwar  ein  Ereignis,  das  in  der  Vergangenheit  ein- 
getreten ist;  aber  wir  denken  dabei  an  die  Gegenwart,  die 
Vereinsamung  des  Überlebenden,  und  auf  die  Gegenwart  bezieht 
sich  das  Adverbium  nun.  Dagegen  führt  uns  der  Satz: 
Nun  verlor  er  seinen  letzten  Freund  nicht  über  die  Ver- 
gangenheit hinaus;  wir  erwähnen  in  ihm  das  Ereignis  ohne 
es  zur  Gegenwart  in  Beziehung  zu  setzen  und  weisen  mit  dem 
Adverbium  nun  auf  einen  Zeitpunkt  der  Vergangenheit.  Das 
Präteritum  ist  also  das  gewöhnliche  Tempus  der  Erzählung, 
das  Perfektum  tritt  ein,  wo  die  Wirkung  des  Erzählten  in  der 
Gegenwart  wahrgenommen  und  ausgedrückt  wird.  So  beginnt 
Walther  seinen  Spruch  25,  11  mit  dem  erzählenden  Präteritum: 
Künec  Constantin  der  gap  so  vü,  als  ich  e^  iu  bescheiden  wil,  dem 
staol  ze  Röme^  sper,  kriuz  unde  kröne.  Zehant  der  enget  lüte  schre : 
'oive,  owe,  z'em  dritten  tue !  E  stuont  diu  kristenheit  mit  zühten  schöne. 
Dann  geht  er  in  das  Perfektum  über:  Der  ist  nü  ein  gift  gevallen., 
ir  honec  ist  icorden  zeiner  galten,  da^  wirt  der  werlt  her  nach  vil 
leit.  alle  fürsten  lebent  nü  mit  eren,  wan  der  hcechste  ist  geswachet : 
da^  hat  der  pf äffen  wal  gem,achet.  da,^  si  dir,  süsser  got,  gekleit 
(§  75,  5).  die  pfaffen  wellent  leien  reht  verkeren.  d€r  enget  hat  uns 
war  geseit.  Ebenso  ist  der  Wechsel  der  Tempora  im  Iw.  6035  f. 
begründet.  Ein  Bote  berichtet  dem  Helden  von  der  Tochter  des 
Grafen  vom  schwarzen  Dorn:  nü  hat  si  des  gewtset  diu  werlt,  diu 
iuch  prtset,  da^  si  iuch  ze  tröste  hat  erkorn\  unde  enhät  da^  niht 
verlorn  durch  höhvart  noch  durch  trächeit,  da^  si  niht  selbe  nach 
iu  reit,  si  tvas  üf  den  wec  komen :  ehaftiu  not  hat  ir'z  benomen, 
wan  si  leider  üf  der  vart  von  der  reise  siech  lüart,  unde  ist  also 
under  wegen  mit  mtnem  vater  belegen,  der  sante  mich  her  an  ir 
stat:  nü  bit  ich  iuch  als  si  mich  bat.  Und  so  oft  in  der  älteren  und 
neueren  Literatur. 

4.  Aus  dieser  in  der  Bildung  des  Perfektums  begründeten 
Bedeutung  ergab  sich  dann  eine  andere  Verwendungsart:  Die 
Form,    die    zunächst   Handlungen    bezeichnete,    die    mit    ihrer 


§  98.]  Präteritum  und  Perfektum.  189 

Wirkung  in  die  Gegenwart  hineinragen  und  dadurch  für  die 
Gegenwart  bedeutend  sind,  wird  auch  angewandt,  um  eine 
Aussage  überhaupt  als  wesentlich  und  bedeutend  hervorzuheben. 
In  diesem  Sinne  steht  das  Perfektum  sehr  wirksam  am  Schluss 
des  Werther:  Handwerker  trugen  ihn,  kein  Geistlicher  hat 
ihn  hegleitet.  Hier  handelt  es  sich  nicht  um  das  Ergebnis 
einer  früheren  Handlung,  sondern  um  die  Handlung  selbst; 
das  Verhalten  der  Geistlichen  bei  der  Bestattung  Werthers  soll 
nachdrücklich  betont  werden.  Das  Präteritum  ist  das  Tempus 
der  Erzählung,  in  der  das  einzelne  Ereignis  nur  als  Glied  in 
der  zusammenhängenden  Eeihe  vergangener  Ereignisse  auf- 
gefasst  wird;  das  Perfektum  braucht  man,  wenn  man  ein  Er- 
eignis als  Faktum  von  selbständiger  Bedeutung  hinstellen  will. 

5.  Hieraus  erklärt  sich  dann  weiter  die  oft  gemachte 
Beobachtung,  dass  man  das  Präteritum  zu  gebrauchen  pflegt, 
wenn  man  einen  Vorgang  erwähnt,  bei  dem  man  zugegen  ge- 
wesen ist,  das  Perfektum,  wenn  dies  nicht  der  Fall  war;  z.  B. 
Als  ich  gestern  am  Rhein  spazieren  ging,  fiel  ein  Kind  ins 
Wasser.  Aber:  Denk  mal,  gestern  ist  tvieder  ein  Kind  er- 
trunken. Der  Augenzeuge  braucht  das  Präteritum,  weil  sich 
für  ihn  der  Vorgang  mit  anderen  umständen  verknüpft,  auch 
wenn  er  sie  nicht  erwähnt;  der  Berichterstatter  braucht  das 
Perfektum,  weil  er  nur  die  Tatsache  mitzuteilen  hat. 

6.  Ganz  ähnlich,  wie  sich  im  Deutschen  Präteritum  und 
Perfektum  geschieden  haben,  verhielten  sich  nach  den  Aus- 
führungen Delbrücks  schon  im  Indogermanischen  Imperfektum 
und  Aorist:  „Das  Imperfektum  erzählt,  der  Aorist  konstatiert  (zieht 
das  Fazit)"  (Delbr.  4,302).  „Will  man,  dass  der  Zuhörer  sich  in 
der  Phantasie  die  Entwickelung  der  Ereignisse  vorstelle,  so  wählt 
man  das  Imp.;  hat  man  lediglich  die  Absicht  zu  konstatieren,  dass 
etwas  geschehen  ist,  den  Aorist  oder  (im  Ai.)  das  Perfektum"  (306). 
„Das  Imperf.  wird  insbesondere  gebraucht,  wenn  der  Sprechende 
aus  seiner  eigenen  Erinnerung  etwas  mitteilt  oder  an  die  Erinner- 
ung des  Hörenden  appelliert"  (S.  309). 

98.  (Grenzstreitigkeiten  zwischen  Prät.  und  Perf.)  1.  Um 
den  tatsächlichen  Gebrauch  der  beiden  Tempora  im  Deutschen 
richtig    zu    beurteilen,    hat    man   aber   zweierlei   zu   beachten; 


190  Gebrauch  der  Tempora.  [§  98. 

einmal,  dass  oft,  je  nachdem  der  Redende  den  einzelnen  Satz 
in  seiner  selbständigen  Bedeutung  oder  als  Glied  einer  zu- 
sammenhängenden Reihe  auffasst,  sowohl  das  eine  als  das 
andere  Tempus  berechtigt  sein  kann;  sodann  dass  das  Per- 
fektum  als  ein  junges  Tempus  sich  seinen  Boden  erst  allmählich 
hat  erobern  müssen.  So  ist  es  natürlich,  dass  wir  oft,  nicht 
nur  im  Gotischen,  das  ein  zusammengesetztes  Perfektum  im 
Aktiv  überhaupt  noch  nicht  hatte^  sondern  auch  im  Hoch- 
deutscheuj  bis  in  die  neuste  Zeit,  ein  Präteritum  finden,  das 
uns  mehr  oder  weniger  befremdet;  z,  B.  Jh.  16,32  qimüiveüa  jah 
nu  qam^  es  kommt  die  Stunde  und  ist  schon  gekommen.  Mc.  11,2 
fulan,  ana  paruTnei  nauh  ainshun  ni  sat.  0.  3, 16,  43  (Da  ihr  am 
Sabbath  eure  Kinder  beschneidet)  ziu  ist  tu  ividarmuati^  theih  einan 
man  allan  in  th'en  dag  d€ta  heilan,  quia  totum  hominem  sanum  feci 
in  sabbato.  4,  21,  29.  Walther  16,  14  wol  im,  dort,  der  hie  vergalt 
(vgl.  §  95,  2).  Schiller  D.  C.  2,  1  Reizend  malst  du  ein  Glück^  das 
du  mir  nie  gewährtest.  Oft  werden  Abweichungen  von  der  im 
allgemeinen  anerkannten  Norm  durch  audere  Umstände,  in  der 
Dichtung  durch  Vers  und  Reim,  in  der  Prosa  durch  die  Rück- 
sicht auf  den  Rhythmus  und  Wohlklang  veranlasst.  Denn  je 
freieren  Spielraum  der  Sprachgebrauch  dem  subjektiven  Er- 
messen lässt,  um  so  leichter  können  solche  Momente  zur  Gel- 
tung kommen  (Wunderlich  1,215). 

2.  Wenn  einerseits  das  Perfektum  nicht  überall  angewandt 
wird,  wo  es  berechtigt  wäre,  so  hat  es  anderseits  das  ihm 
gebührende  Gebiet  auch  überschritten.  Schon  Otfried  bietet 
ein  Beispiel,  wo  es  in  der  Erzählung  gebraucht  ist:  4,  15,  53 
in  thö  drulitin  zelita,  want  er  se  selho  welitüy  manöta  sie 
thes  nahtes  manag f altes  rehtes.  er  habet  in  thär  gizaltan 
dröst  manag faltan.  quad  after  thera  fristi  in  niamer  sin 
ni  brusti.  Doch  steht  dieses  Beispiel,  das  offenbar  der  Reim 
veranlasst  hat,  noch  ganz  vereinzelt.  Häufiger  wird  der  Ge- 
brauch erst  im  15.  Jh.  und  hat  dann  in  manchen  Teilen  des 
Sprachgebietes  so  zugenommen,  dass  er  jetzt  in  der  Mundart 
uneingeschränkt  gilt.  Schon  Gottsched  bemerkt  in  seiner 
Sprachkunst  ^  S.  479  'dass  die  Oberdeutschen  in  Franken, 
Schwaben,  Bayern  und  Österreich  mit  der  jüngst  vergangenen 
Zeit  (d.  h.  dem  Präteritum)  sich  gar  nicht  zu  behelfen  wissen, 


§  99.]        Perf.  in  Beziehung  auf  Gegenwart  und  Zukunft.  191 

ja  wohl  itzt  und  kaum  geschehene  Sachen  mit  der  völlig  ver- 
gangenen Zeit  (d.  h.  dem  Perfektum)  erzählen'^).  —  Der 
Grund,  warum  manche  Mundarten  das  Präteritum  ganz  ver- 
loren haben,  liegt,  wie  Behaghel  bemerkt,  zum  Teil  jedenfalls 
darin,  dass  mit  dem  Schwinden  der  Endsilbenvokale  bei  den 
meisten  schwachen  Verben  das  Präteritum  in  der  3.  Sg.  mit 
dem  Präsens  zusammenfiel,  also  kein  ausreichendes  Mittel  mehr 
war,  die  Vergangenheit  zu  bezeichnen.  Daneben  aber  wird 
auch  das  Streben  zu  nachdrücklicher  Rede  dem  Gebrauch  des 
Perfektums  Vorschub  geleistet  haben  (Wunderlich  1,221.225). 

99.  (Perf.  in  Beziehung  auf  Gegenwart  und  Zukunft.) 
1.  Nicht  immer  bezeichnet  das  Perfektum  eine  Handlung 
der  Vergangenheit.  Wie  es  nach  seinem  Ursprung  ein  Präsens 
ist,  so  kann  es  auch  jetzt  noch  auf  Gegenwart  und  Zukunft 
bezogen  werden;  von  dem  einfachen  Präsens  unterscheidet  es 
sich  dann  dadurch,  dass  es  auf  den  Abschluss  der  Handlung 
hinweist.  Wenn  z.  B.  Walther  32,  16  sagt:  vind  ich  an  Liupolt 
höveschen  tröst,  so  ist  mir  min  muot  entswoUen,  so  bezeich- 
net der  Hauptsatz  nicht  etwas,  was  bereits  eingetreten  ist, 
sondern  erst  eintreten  soll,  etwas  Zukünftiges,  Erhofftes,  aber 
mit  Zuversicht  als  notwendige  Folge  der  Bedingung  Aus- 
gesprochenes; das  Perfektum  hat  gegenüber  dem  einfachen 
Präsens,  das  der  Dichter  auch  hätte  brauchen  können,  gewisser- 
massen  modale  Bedeutung. 

2.  In  diesem  Sinne  wird  es  in  Bedingungssätzen  oft  ge- 
braucht (vgl.  §  95);  z.  B.  Walther  29,35  er  hat  niht  wol  ge- 
trunken, der  sich  ühertrinJcet.  11,  30  swer  sich  von  zwivel 
Tier  et,  der  hat  den  geist  hewart.  124,  33  swer  dirre  wünne 
volget,  der  hat  jene  dort  iierlorn.  Nikolaus  von  Basel  167,  1 
zvenne  du  das  getuost,  so  hest  du  einen  stein  in  die  herte  müre  gebrochen. 
250,  17  und  so  er  uffe  die  sehste  staffele  kummet^  so  ist  im  alles  sins 
leides  vergessen.  Im  Haupt-  und  Nebensatz:  250,  30  so  er  die  andern 
staffeln  alle  uberstigen  het  und  uffe  die  sibende  kumnien  ist,  so  het 


1)  Genauere  Beobachtungen  über  die  zeitliche  und  örtliche 
Verbreitung  dieser  wichtigen  und  interessanten  Erscheinung  geben 
Behaghel,  Zeitformen  S.  208  f .     Wunderlich  1,215  f. 


192  Gebrauch  der  Tempora.  [§  99, 

er  denne  erst  befunden  (Cordes  §  93,  2.  95,  2.  3.  4).  Vgl.  auch  0.  1, 1,  81 
nist  Hut,  tha^  es  biginne,  tha^  widar  in  ringe  \  in  eigun  sie  i^  fir- 
meinit,  mit  wäfanon  gizeinit.  1, 1,  76  ni  gidurrun  sies  biginnan^ 
sie  eigun  se  ubarivunnan.  Als  Ausdruck  dienstbeflissener  Höf- 
lichkeit: Iw.  522  oh  du  iht  von  mir  geruochest,  da^  ist  alle^ 
getan,  243  swa^  ir  gebietent,  deist  getan.  Ebenso  im  impe- 
rativischen  Optativ:  MF.  5,  20  swer  nü  disiu  Uet  singe  vor 
ir,  der  habe  si  gegrüe^et  von  mir  (vgl.  §  75,  5)  und  im  In- 
finitiv (§  89,3). 

3.  Da  das  Perfektum  sich  auf  die  Zukunft  beziehen  lässt, 
kann  es  als  relatives  Tempus  der  Vergangenheit  nicht  nur  in 
Beziehung  auf  ein  wirkliches  Präsens,  sondern  auch  in  Be- 
ziehung auf  ein  Futurum  oder  futurisches  Präsens,  also  im 
Sinne  eines  Futurum  exaktum  (§  101)  gebraucht  werden.  In 
diesem  Falle  musste  früher  das  Präsens  gebraucht  werden,  so 
dass  das  relative  Zeitverhältnis  unbezeichnet  blieb  (vgl.  jedoch 
§  1U8,  1),  und  auch  wir  begnügen  uns  noch  gern  mit  dem  ein- 
fachen Tempus,  namentlich  in  Bedingungssätzen ;  z.  B.  Walther 
14,  ^0  sist  so  guot,  sivenne  ir  güete  erkennet  min  gemüete^ 
da^  si  mir  da^  beste  tuot  =  nhd.  erkennt,  od.  erkannt  hat. 
Ebenso  in  Temporalsätzen,  wenn  es  nur  darauf  ankommt  den 
Zeitpunkt  zu  bestimmen,  z.  B.  Wenn  od.  sobald  wir  nach 
Hause  kommen^  wollen  wir  uns  zu  Tische  setzen\  aber  nicht 
in  solchen,  in  denen  die  Handlung  als  abgeschlossen  bezeichnet 
werden  soll;  z  B.  nicht:  Wenn  er  sein  Haus  verkauft,  wird 
er  fortziehen,  sondern  wenn  er  es  verkauft  hat.  Unmöglich 
wäre  uns  auch  das  Präsens  in  dem  Satze  Tat.  c.  162,  1  oh 
ih  gangu  inti  garawu  iu  stat,  abur  quimu  inti  intfähu  iuwih,  si 
abiero  et  praeparavero  vobis  locum,  iterum  venio  et  accipiam  vos. 

Anm.  Wie  mhd.  Dichter,  wo  ein  Ruhepunkt  in  der  Erzählung 
eintritt,  das  Präsens  statt  des  Präteritums  brauchen  (§  96,  3),  so  er- 
scheint auch  zuweilen  das  Perf.  statt  des  Plq.;  z.  B.  Trist.  5849  Nu 
Rüal  unde  stniu  kint  belehent  unde  geerbet  sint  von  ir  herren  Tri- 
standes  hant,  Tristan  ergab  Hut  unde  lant  gote  und  fuor  von  lande. 
Ebenso  7336.  Anders,  wohl  nur  dem  Reim  zu  Liebe  13872  da  frumte 
in  beiden  samet,  da^  Hst  wider  Hst  gesetzet  ist  (st.  was). 


§  100,]  Plusquamperfektum.  193 

Plusquamperfektum  ^). 

100.  1.  Das  Perfektum  kann  seiner  präsentischen  Form 
entsprechend  sich  auch  auf  die  Zukunft  beziehen;  das  mit  dem 
Präteritum  gebildete  Plusquamperfektum  geht  immer  auf  die 
Vergangenheit.  Bei  weitem  in  den  meisten  Fällen  erscheint 
es  als  relatives  Tempus,  das  eine  Handlung  bezeichnet,  die 
einer  andern  Handlung  der  Vergangenheit  vorangegangen  ist; 
z.  B.  Trist.  2158  nu  da:^  die  fremeden  koufman  ir  marlcet 
hceten  ü^geleit,  vil  schiere  wart  ze  Tiove  geseit,  wa^  da  houf- 
rätes  wcere.  Dieses  relative  Plusquamperfektum  hat  sich  im 
Laufe  der  Zeit  ausserordentlich  verbreitet;  wir  brauchen  es  gern 
in  Hauptsätzen  und  in  Nebensätzen  der  verschiedensten  Art, 
in  abhängigen  Substantivsätzen,  in  Relativsätzen,  in  temporalen, 
kausalen,  konzessiven  und  komparativen  Sätzen,  doch  wird  es 
auch  jetzt  keineswegs  überall  gebraucht,  wo  es  statthaft  wäre. 
Oft  gentigt  schon  die  Reihenfolge  der  Sätze,  um  das  Zeit- 
verhältnis erkennen  zu  lassen.  So  in  dem  zu  §  94  angeführten 
Beispiel:  Gegen  Abe?id  hörte  es  auf  zu  regnen,  wir  machten 
einen  Spaziergang  und  kehrten  erst  mit  der  Dunkelheit  heim. 
Dagegen  in  veränderter  Satzfolge:  Gegen  Abend  machten  wir 
einen  Spaziergang-.,  es  hatte  aufgehört  zu  regnen.  Hier  ist 
das  Plq.  unentbehrlich ;  das  einfache  Prät.  es  hörte  auf  würde 
zu  der  Auffassung  führen,  dass  der  Regen  erst  während  des 
Spazierganges  aufhörte. 

2.  Da  das  Plq.  sich  erst  allmählich  seinen  Platz  neben 
dem  Prät.  erobern  musste,  stossen  wir  in  der  älteren  und  auch 
in  der  neueren  Literatur  nicht  selten  auf  Sätze,  in  denen  das 
Präteritum  uns  mehr  oder  weniger  befremdet;  z.  B.  Mc.  IQ,^  atau- 
gida  Mariin  pizai  Magdalene,  af  pizaiei  uswarp,  sihun  unhulpöns, 
dqp'  f\c,  ^KßGß\r]Kei  ^tutci  baijuövia.  Tat.  c.  221, 1  Maria  Magdalenisgiu, 
fon  theru  her  umwarf  sihun  diuvala,  stuont  zi  themo  grabe,  de  qua 
eiecerat.  Hildebr.  33  want  er  dö  ar  arme  wuntane  bouga,  so  imu 
se  der  chuning  gap.  Walther  15,  40  und  da^  man  in  Sit  lehendic 
sach,  den  ir  hant  sluoc  unde  stach.  102, 19  ich  vant  die  stüele  leider 
leere  stän,  da  wtsheit  adel  unde  alter  gewaltecUche  sd^en  e.  Trist. 
7666  aber  seile  er  iegeltchem  dö,  als  er  den  boten  e  seile.  16184  dem 
was  vil  innecliche  leit,    da^  sich   Tristan  ie  an  genam  und  ie  ze 

1)  Erdm.  §  147.  149.     Wunderlich  1,  230  f.     Blatz  2,  512  f. 
W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  13 


194  Gebrauch  der  Tempora.  [§  100. 

disem  kavipfe  kam.  1449  nu  Blanscheflür  ze  ir  selber  kam  und 
aber  ir  friundea  war  genam.,  si  sach  in  jcemerlichen  an.  5375  dö 
diz  grüezen  gar  gescach,  Tristan  ze  Morgäne  sprach.  Zuweilen 
stehen  auch  Präteritum  und  Plusquamperfektum  nebeneinander: 
Trist.  11264  hie  w,erket  alle  wunder  a^i,  dö  ich  den  trachen  hcete  er- 
slagen  und  ich  im  mit  Ithter  arebeit  ü^  sinem  töten  rächen  sneit 
dise  Zunge  und  si  danne  truoc,  da^  er  in  sider  ze  töde  sluoc.  1816 
dö  Blanscheflür,  ir  frouwe,  erstarp  und  Riwalin  begraben  was,  des 
weisen  dinc  —  gefuor.  —  In  derselben  Weise  wird  der  Opt.  Prät. 
gebraucht,  wo  der  spätere  Gebrauch  das  Plq.  verlangt. 

3.  Wie  sich  das  Plq.  als  Mittel  der  relativen  Zeit- 
bestimmung allmählich  verbreitete,  bedarf  noch  genauerer  Unter- 
suchung i).  Als  ältesten  Beleg  eines  aktiven  Plq.  in  einem 
Temporalsatz  führt  Wunderlich  1,  239  aus  einer  Homilie  des 
10.  Jh.  an  (MSD.  P,  233):  so  he  it  imo  thö  gegivan  hadda^ 
so  wieda  he  it  an  üses  drohtines  era.  Otfried  braucht  es 
noch  nie  in  den  Nebensätzen  mit  thö  und  sid-^  Hartmann  wohl 
nach  döj  als,  e  (mit  dem  Opt.),  nicht  bei  so  und  sit.  Wir 
setzen  nach  nachdem  regelmässig  das  Plq.,  nach  da,  als,  weil 
oft  das  einfache  Präteritum.  Natürlich  sind  nicht  die  Kon- 
junktionen die  Ursache,  warum  dieses  oder  jenes  Tempus  ge- 
braucht ist,  sondern  das  Verhältnis  der  Sätze  bestimmt  sowohl 
die  Wahl  der  Konjunktion  als  des  Tempus.  —  Über  das  Prät. 
mit  ge-  in  der  Bedeutung  eines  Plq.  s.  §  108. 

4.  Seltener  begegnen  Plusquamperfekta,  die  sich  als 
relative  Zeitbestinnnung  nicht  auffassen  lassen,  sondern  der  ur- 
sprünglichen Bedeutung  der  Form  entsprechend  nur  eine 
Handlung  der  Vergangenheit  als  abgeschlossen  bezeichnen; 
z.  B,  Trist.  13167  dö  wart  er  vil  unde  vil  gebeten,  da^  er  sin  rotten- 
spil  von  ime  hcete  getan.  12935  den  zwein  gap  si  ze  solde  zweinzec 
marc  von  golde  den  Worten  da^  diz  mcere  von  in  verholen  ivcere. 
Nie.  von  Basel  324,  37  f.  zuo  .stunt,  do  wir  unsern  willen  darin  ge- 
gobent,  zuo  stunt  do  wörent  wir  gesunt  und  gerech  worden.  Ebenso 
noch  im  Nhd. :  Sobald  er  eintrat,  hatte  ich  ihn  erkannt.  Kaum  er- 
blickte er  ihn,  so  hatte  er  sich  auf  ihn  gestürzt.  In  diesen  Sätzen 
bezeichnet  das  Plq.  sogar  eine  spätere  Handlung  als  das  einfache 
Präteritum. 

Anm.  1.     Da   es  uns   oft  freisteht,   sowohl  den  Abschluss  der 


1)  Über  die  passiven  Formen  im  Ahd.  s.  Cuny,  Der  temporale 
Wert  etc. 


§  101]  Futurum  und  Futurum  II.  195 

Handlung  als  das  relative  Zeitverhältnis  zu  bezeichnen  oder  un- 
bezeichnet  zu  lassen,  können  sich  für  denselben  Satz  mannigfache 
Formen  ergeben,  am  meisten  bei  ehe  und  bevor-  z.  B.  1.  Weder 
das  relative  Zeitverhältnis  noch  der  Abschluss  der  Handlung  ist  be- 
zeichnet :  Noch  ehe  er  eintrat,  erkannte  ich  ihn  an  seiner  Stimme. 
2.  Nur  das  Zeitverhältnis  ist  bezeichnet:  Noch  ehe  er  eintrat,  hatte 
ich  ihn  erkannt.  3.  Nur  der  Abschluss  der  Handlung:  Noch  ehe  er 
eingetreten  war,  erkannte  ich  ihn.  4.  Abschluss  und  Zeitverhältnis: 
Noch  ehe  er  eingetreten  war,  hatte  ich  ihn  erkannt. 

Anm.  2.  Die  Gewohnheit,  das  Plq.  als  relatives  Tempus  und 
nicht  zugleich  als  eine  in  der  Vergangenheit  abgeschlossene  Hand- 
lung'  aufzufassen,  führte  zu  neuen  ungefügeren  Zusammensetzungen, 
wenn  dies  zweite  Moment  betont  werden  sollte.  Er  hatte  längst 
beschlossen  gehabt,  war  ihm  zuvorgekommen  gewesen  u.  dgl.  Über 
die  Verbreitung  solcher  Formen'in  Mundarten  s.  Blatz  1,  513  Anm.  4. 

Futurum  und  Futurum  II  ^). 

101.  1.  Viel  später  als  zum  Perf.  und  Plusq.  ist  die  Sprache 
zu  einer  anerkannten  Form  für  das  Futurum  gekommen  (§91  f.) 
und  noch  immer  brauchen  wir^  wenn  der  Zusammenhang  eine 
falsche  Auffassung  nicht  befürchten  lässt,  in  Haupt-  und  Neben- 
sätzen gern  das  einfache  Präsens;  z.  B,  Ich  komme  bald.  Mor- 
gen reist  er  ab.  Sobald  er  kommt,  brechen  wir  auf.  Rufe  den 
ersten  Ä7^zt,  den  du  triffst.  Da  ich  morgen  keine  Zeit  habe,  toill 
ich  die  Sache  heute  e^^ledigen.  Ich  erwarte,  dass  er  mich  besucht. 
Ich  fürchte,  dass  wir  zu  spät  koTumen.  Ich  weiss  noch  nicht,  wann 
ich  abreise.  Besonders  meiden  vs^ir  die  zusammengesetzte  Form 
im  bedingenden  Nebensatz,  zumal  w^enn  er  ohne  Konjunktion 
gebildet  ist:  Beeilst  du  dich,  loenn  du  dich  beeilst,  so  wirst 
du  ihn  noch  einholen.  Ganz  versagt  ist  sie  uns  in  Forderungs- 
und Absichtssätzen;  z.  B.  Ich  wünsche,  dass  du  zu  ihm  gehst, 
Lass  uns  eilen,  damit  wir  ihn  noch  erreichen-.^  obwohl  doch 
früher  auch  in  ihnen  werden  stehen  konnte,  nicht  um  die  Zukunft, 
sondern  um  den  Eintritt  der  Handlung,  die  Aktionsart,  zu  bezeich- 
nen; z.  B.  Nie.  von  Basel  155,  6  nuo  sol  ich  iuch  von  der  andern 
(sachen)  ouch  sagen,  das  ir  deste  me  Wortzeichen  befindende 
werdent  (Cordes  §  170).  Dagegen  pflegen  wir  in  Folgesätzen, 
<lie  von  einem  Präsens  oder  Präteritum  abhängen,  das  Futurum 

1)  Gr.  4,  176  ff.  Erdm.  §  141  f.  Wunderlich  1,  175  f.  Blatz 
2,  507  f.  514  f. 


196  Gebrauch  der  Tempora.  [§  102. 

zu  gebrauchen:  Es  ist  so  trocken,  dass  bald  Wassermangel 
eintreten  wird.  Nur  nach  einem  Futurum  meiden  wir  auch  in 
Folgesätzen  lieber  die  Wiederholung  der  schwerfälligen  Form. 

2.  Als  relatives  auf  ein  Tempus  der  Vergangenheit  be- 
zügliches Tempus  der  Zukunft  würde  dem  präsentischen  wird 
gehest  die  Form  ward  gehen  entsprechen;  aber  nur  der  Optativ 
würde  gehen  hat  sich  erhalten  und  kann  in  diesem  Sinne 
gebraucht  werden;  z.  B.  Sie  freute  sich,  dass  er  bald  heim- 
kehren würde.  Wo  der  Indikativ  erforderlich  ist,  müssen  wir 
die  relative  Zukunft  auf  andere  Weise  ausdrücken,  durch 
wollen  oder  sollen,  die  alten  Hülfszeitwörter  des  Futurums 
(§  91),  oder  das  junge  im  Begriff  sein',  z.  B.  Ich  traf  ihn, 
als  er  ausgehn  wollte  oder  sollte,  —  im  Begriff  war  aus- 
zugehn.  Als  ich  zu  ihyn  kam,  wollte  oder  sollte  er  gerade 
ausgehen,  war  er  im  Begriff  auszugehen.     Vgl.  auch  §  92,  5. 

3.  Das  Futurum  exactum  nimmt  nach  seiner  Bildung^ 
an  der  Bedeutung  des  Futurums  und  des  Perfektums  teil,  am 
Futurum  durch  das  Hülfszeitwort,  am  Perfektum  durch  den 
Infinitiv.  Es  kann  als  absolutes  Tempus  eine  zukünftige 
Handlung  als  abgeschlossen  bezeichnen;  z.  B.  Er  wird  sein 
Geld  hald  durchgehracht  haben.  Es  kann  als  relatives  Tempus 
in  hypothetischen  und  temporalen  Nebeusätzen  eine  zukünftige 
Handlung  bezeichnen,  die  einer  andern  zukünftigen  Handlung 
vorangegangen  ist;  z.  B.  Wenn  ich  wiederkomme,  wird  er 
bereits  abgereist  sein.  Häufig  ist  weder  die  eine  noch  die 
andere  Verwendung.  Im  relativen  Gebrauch  behauptet  sich 
in  der  Regel  das  Perfektum  oder  das  Präsens  (§  99,  3). 

Anm.    Über  den  modalen  Gebrauch  der  Futura  s.  §  109. 

Das  Tempus  des  irrealen  Opt.  Prät.  ^) 

102.  1.  Der  Optativ  Präteriti  konnte  im  Germanischen 
als  Modus  irrealis  von  jeher  sowohl  auf  die  Vergangenheit  als 
auf  die  Gegenwart  oder  Zukunft  bezogen   werden  2).   Auf  die 

1)  Gr.  4, 183  f.  Erdm.  §  167  f.  Wunderlich  1,  366  f.  Blatz 
2,530.  533.  1,569. 

2)  Dass  der  Opt.  Prät.  zum  Modus  der  Irrealität  wurde,  er- 
klärt Delbr.  4,  403  f.  408  daraus,  dass  die  Vergangenheit  selbst  schon 
eine  Entfernung  von  der  Wirklichkeit  ist.     Vgl.  §  95,  3. 


§  102.]  Das  Tempus  des  irrealen  Opt.  Prät.  197 

Vergangenheit  bezieht  er  sich  z.  B.  Mt.  11,  21  unti  ip  waurpeina  in 
Tyr^  jah  Seidöni  landa  mahteis  pös  waurpanös  in  izwis,  airis 
pau  .  .  idreigödMeina.  Auf  die  Gegenwart :  Jh.  8, 42  jabai  gup 
atta  izwar  wesi,  friodedeip  pau  mik.  Präteritale  und  präsentische 
Bedeutung  neben  einander  Mt.  11,  23  jabai  in  Saudaumjam  waur- 
peina mahteis  pös  waurpanös  in  izwis,  aippau  eis  weseina  und 
hina  dag.  Erst  die  Bildung  der  zusammengesetzten  Zeitformen 
gab  die  Möglichkeit  genauerer  Tempusunterscheidung,  indem 
man  in  Beziehung  auf  die  Vergangenheit  den  Opt.  Plq.  setzte. 
Im  Ahd.  behauptet  sich  noch  die  einfache  Form;  z.  B.  0. 
3,24,51  wärist  thu  Mar,  ni  thultin  wir  nu  thesa  quist] 
auch  im  Mhd.  kann  sie  noch  gebraucht  werden,  z.  B.  Nib. 
927,  3  het  er  sin  stvert  in  hende,  so  wcere  ej  Hagenen  tot. 
Daneben  aber  erscheint  die  zusammengesetzte,  z.  B.  Iw.  678 
ich  hete^  ha^  geladen  e.  Walther  10,  30  het  er  gewestj  da^ 
davon  übel  Jcünßic  wcere,  so  het  er  wol  underJcomen  des 
riches  swcere.  Und  wie  stark  allmählich  das  Bedürfnis  der 
Tempusunterscheidung  empfunden  wurde,  zeigt  sich  darin,  dass 
neben  Verben,  von  denen  ein  Plq.  nicht  gebildet  werden 
konnte,  die  Beziehung  auf  die  Vergangenheit  durch  den  Inf. 
Perf.  ausgedrückt  wurde  (§  89),  z.  B.  Nie.  von  Basel  290,  13 
möhte  ich  es  heimliche  geton  haben,  ich  hette  uioern  bruedern 
einen  sunderlichen  brief  geschriben.  Jetzt  wird  stets  das 
Plusquamperfektum  gebraucht. 

2.  Mit  den  Formen  des  Prät.  und  Plq.  treten  dann  ferner 
futurische  Formen  in  Konkurrenz,  zunächst  solche  mit  sollte 
und  wollte,  dann  die  mit  würde  gebildeten,  die  anfangs  noch 
inchoative  Bedeutung  haben  (§  93,  1);  z.  B.  Nib.  1703  da^  wolde 
ich  iemer  dienen,  swer  rceche  miniu  leit.  Walther  62,  20  wän  unde 
wünsch  da^  wolde  ich  alle^  ledic  län.  83, 5  dich  selben  wolde  ich 
lützel  klagen.  Freid.  130, 12  selten  alle  flüeche  kleben,  so  müesten 
lützel  Hute  leben.  Nie.  von  Basel  254,  12  und  dete  er  das,  so  getrüwe 
ich,  got  solte  in  erlühten  mit  siner  göttelichen  wisheit.  234, 27 
würdest  du  dag  ende,  so  wer  est  du  alleine  one  alle  gezügnisse. 
284,  7  wurdent  ir  danne  umb  üch  suochende,  villihte  wurdent  ir 
ettewa^  wildes  nohe  bi  üch  spürende  (Cordes  §  241). 

3.  Die  Umschreibungen  mit  würde  behalten  auch  da, 
wo  sie  den  irrealen  Opt.  Prät.  vertreten,  etwas  von  ihrer 
futurischen    Bedeutung,    und    sind    nicht   in    allen    Sätzen,    in 


198  Gebrauch  der  Tempora.  [§  102. 

denen  der  Irrealis  statt  hat,  zulässig  oder  geläufig.  Ihre 
Hauptstätte  haben  sie  in  konditionalen  Hauptsätzen;  in  den 
konditionalen  Nebensätzen  soll  man  sie  meiden;  z.  B.  Wenn 
ich  Geld  hätte,  würde  ich  das  Haus  häufen,  nicht:  wenn  ich 
Geld  haben  würde,  etc.  Die  Rücksicht  auf  den  Wohlklang 
empfiehlt  allerdings  diese  Forderung  der  Grammatiker ;  ander- 
seits aber  drängt  der  Umstand,  dass  die  Formen  des  Indi- 
kativs und  Konjunktivs  oft  nicht  unterschieden  sind,  zum 
Gebrauch  der  Umschreibungen.  Als  berechtigt  wird  mau  sie 
besonders  da  anerkennen  müssen,  wo  die  Aussage  zugleich  als 
nichtwirklich  und  als  zukünftig  bezeichnet  werden  solP);  z.  B. 
Warum  sollte  man  nicht  die  Regierungen  nach  jeder  Kriegs- 
erklärung vor  Gericht  stellen?  Wenn  nur  die  Völker  das 
begreifen  würden,  wenn  sie  selbst  die  Gewalten,  die  sie  zum 
Mord  führen,  dem  Gericht  unterwerfen  würden,  tvenn  sie 
sich  weigern  würden  .  .  .  dann  würde  der  Krieg  ausgerottet. 
Namentlich  wird  diese  Form  in  indirekten  Bedingungssätzen 
gebraucht,  um  die  relative  Zukunft  zu  bezeichnen:  Er  sagte, 
wenn  sie  ihm-  sein  Gut  verkaufen  würden,  sei  er  ruiniert. 
Dass  auch  die  ältere  Sprache  in  den  konditionalen  Neben- 
sätzen die  Umschreibungen  nicht  mied,  zeigen  einige  der  an- 
geführten Beispiele. 

4.  Noch  deutlicher  tritt  die  futurische  Bedeutung  in  den 
irrealen  Vergleichsätzen  mit  als  ob  hervor  (§  139);  vgl.  Es 
schien,  als  ob  sie  sich  nicht  verständen :  es  schien,  als  ob  sie 
sich  nie  verstehen  würden.  Ähnlich  in  den  einer  Negation 
untergeordneten  Sätzen :  Ich  wüsste  keinen,  der  das  täte:  — , 
keinen,  der  das  tun  würde.  —  Ungebräuchlich  sind  die  Formen 
mit  würde  in  den  Exzeptivsätzen  (§  143, 3),  in  den  Wunschsätzen 
(§  115,3),  in  Aussagesätzen  mit  fast  und  beinahe  (§  114,2);  auch  in 
dem  'vorsichtigen  Konjunktiv*,  dem  deliberativen  Irrealis  (§  116,  3.  4) 
und  in  manchen  andern  Fällen.  Wir  unterscheiden:  Du  müsstest 
ihm  helfen  und  Du  würdest  ihm  helfen  müssen;  jenes  bezeichnet 
eine  nicht  erfüllte  Pflicht,  dieses  setzt  einen  (ausgesprochenen  oder 
gedachten)  Bedingungssatz  voraus. 


1)  Merkes,  Infinitiv  S.  25  f. 


§  103.]  Tempusgebrauch  in  indirekten  Sätzen.  199 

Tempusgebraiich  in  indirekten  Sätzen^). 

103.  1.  Indirekte  Sätze  sind  zunächst  Sätze,  in  denen  eine 
wirklich  gesprochene  Rede  in  eine  Form  gekleidet  ist,  die  sie 
als  Eef erat  erkennen  lässt;  direkt:  Er  sagte:  'es  ist  zu  spät'\ 
indirekt:  Er  sagte,  es  sei  zu  spät;  dann  aber  auch  Sätze,  in 
denen  ein  vorher  nicht  ausgesprochener  Gedanke,  eine  Wahr- 
nehmung oder  Erkenntnis,  Hoffnung  oder  Befürchtung,  ein 
Wunsch  oder  eine  Absicht  in  entsprechender  Form  Ausdruck 
findet.  Direkte  Sätze  bilden  überall  die  Grundlage  der  in- 
direkten und  jederzeit  ist  diese  ursprüngliche  Form  der  Satz- 
verbindung neben  der  jüngeren,  enger  gefügten,  in  Geltung 
geblieben;  z.  B.  Nib.  208  dem  vogete  was  da^  wol  geseit,  stn  hruoder 
ivas  gevangen.  Nib.  50  da^  ist  mir  wol  bekant,  nie  keiser  wart  so 
riche  Walther  20,  14  got  wei^  ivol,  ich  bin  dir  gram,.  Iw.  6450  ich 
tvcene  wol,  si  tvas  stn  wvp.  Und  so  noch  jetzt:  Ich  weiss,  er  kommt. 
Ich  fürchte,  du  bist  getäuscht.     Er  hofft,  das  SchlimTnste  ist  vorbei. 

2.  Die  charakteristischen  Zeichen  der  indirekten  Rede 
gegenüber  der  direkten  sind  vor  allem  die  Verschiebung  in 
der  Bezeichnung  der  Person  und  im  Tempus,  weiterhin  Än- 
derungen im  Modus,  Konjunktionen  und  Wortstellung^).  Der 
Satzverbindung:  Er  sagte:  'Du  kommst  zu  spät'  kann  als 
indirekter  Satz  entsprechen:  Er  sagte,  du  kämest  zu  spät\ 
aber  nur  wenn  die  in  dem  direkten  Satze  mit  du  bezeichnete 
Person  zugleich  für  den  Berichterstatter  die  angeredete  Person 
ist;  sonst  heisst  es,  je  nachdem  in  dem  direkten  Satze  der 
Berichterstatter  oder  eine  dritte  Person  angeredet  war:  Er 
sagte,  ich  käme  zu  spät,  oder:  Er  sagte,  er  käme  zu  spät. 
Der  letzte  Satz  könnte  auch  einem  direkten:  Er  sagte:  'Ich 
komme  zu  späf  entsprechen.  Immer  erfolgt  in  dem  indirekten 
Satze  die  Bezeichnung  der  Person  nach  dem  Standpunkt  des 
gegenwärtig  Redenden.  Ebenso  ist  es  mit  dem  Tempus.  Daraus 


1)  Erdm.  S.  129  f.  141.  178  f.  Mourek  §  127—129.  Wunderlich 
1,351—356.  Blatz  2,796-801.  986-989.  1014—1020.  Vor  allem: 
Behaghel,  Der  Gebrauch  der  Zeitformen  im  konjunktivischen 
Nebensatz  des  Deutschen.  Paderborn.  1899.  (Literaturangaben 
daselbst  auf  S.  3  f.) 

2)  Behaghel  S.  160  f.     Wunderlich  1,  345  t    Blatz  2, 1010  f. 


200  Gebrauch  der  Tempora.  [§  103. 

ergeben    sich    für    die    Sätze,    in    denen    die    alten    einfachen 
Tempora  gebraucht  wurden,  folgende  Bestimmungen^). 

3.  (A.  Im  Hauptsatz  steht  ein  Präsens  oder  ein  Präteritum.) 
Nach  einem  Präsens  im  Hauptsatze  steht  in  dem  indirekten 
Satze  dasselbe  Tempus,  das  dem  direkten  Satze  zukäme;  denn 
der  Standpunkt  des  gegenwärtig  Redenden  ist  derselbe,  von 
dem  aus  die  direkte  Aussage  erfolgte.  Der  Opt.  Präs.  bezieht 
sich  also  auf  Gegenwart  oder  Zukunft,  der  Opt.  Prät.  auf  die 
Vergangenheit  2);  z.  B.  Walther  19,17  Phüippes  künec,  die  nähe 
spehende7i  zthent  dich,  du  sts  niht  dankes  railte  (direkt:  er  enist 
niht  dankes  milte).  63,  10  ich  hän  tröst,  da^  mir  noch  fröude  bringe^ 
der  ich  mtnen  kumber  hän  geklaget  (direkt:  si  bringet  mir  noch 
fröude  =  sie  wird  mir  noch  Freude  bringen).  Dagegen  Walther 
25,  26  Ob  iemen  spreche,  der  nü  lebe,  da^  er  gescehe  ie  grce^er  gebe 
(direkt:  ichn  gesach  nie  größter  gebe).  Beide  Tempora  nebeneinander: 
Er.  2100  so  saget  man  mir  danne,  da^  kein  tw€rc  wcere  noch  si 
kurzer  danne  BlUi  (direkt:  kein  twerc  enwas  noch  ist).  Ohne  Be- 
ziehung auf  die  Vergangenheit  steht  der  Opt.  Prät.,  w^enn  er 
in  irrealem  Sinne  gebraucht  ist;  denn  dann  kommt  er  auch 
der  direkten  Rede  zu ;  z.  B.  Walther  82,  8  dem  setze  ich  mtne  wts- 
heit  des  ze  pfände,  wolle  er  ir  geleite  folgen  mite,  da^  in  unfuoge 
niht  erslüege. 

4.  Nach  einem  Präteritum  im  Hauptsatz  steht  in  der 
Regel  der  Opt.  Prät.,  nicht  nur  wenn  auch  dem  direkten  Satze 
das  Prät.  zukäme,  sondern  auch  wenn  dort  das  Präsens  ge- 
braucht sein  müsste;  denn  indem  der  Redende  im  Hauptsatz 
das  Prät.  braucht,  weist  er  damit  die  Aussage  des  abhängigen 
Satzes  der  Vergangenheit  zu.  Einem  Präteritum  des  direkten 
Satzes  entspricht  das  Präteritum;  z.  B.  Walther  75, 17  mich  dühte, 
da^  mir  nie  lieber  wurde  (direkt:  nie  enwart  mir  lieber);  einem 
Präsens :  23,  1 1  ej  troumte  dem  künege,  ej  wurde  boeser  in  den  riehen 
(direkt:  ej  wirdet  boeser)]  59,  19  ich  wände,  da^  si  woere  missewende 
frt  (direkt:  si  ist  frt).  Nur  in  dem  Falle  ist  das  Präsens  nach 
einem  Präteritum  berechtigt,  dass  die  Aussage  des  Nebensatzes, 


1)  Beispiele  für  indirekte.  Sätze  auch  in  §  120  ff. 

2)  Dass  dem  Opt.  Prät.  ursprünglich  Vergangenheitsbedeutung 
zugekommen  sei,  bestreitet  Behaghel;  warum  er  dennoch  in  der 
indirekten  Rede  in  dieser  Bedeutung  erscheine,  erörtert  er  S.  181 — 
195;  vgl.  auch  Wunderlich  1,353. 


§  103.]  Tempusgebrauch  in  indirekten  Sätzen.  201 

obsclion  sie  in  der  Vergangenheit  erfolgte,  doch  noch  für  die 
Gegenwart  gilt  ^);  z.  B.  0.  4,23,25  Die  Juden  verlangen  Christi 
Tod  wanta  er-  gikundta  herasun,  tha^  er  st  selbo  gotes  sun.  Walther 
95,  15  dennoch  seif  st  mir  däbt,  da^  mtn  düme  ein  vinger  st.  Ebenso 
114,18.84,20.12,14.33,5.  Jedoch  ist  in  diesem  Falle  das  Präs. 
nur  gestattet,  nicht  nötig;  in  Hartmanns  Iwein  folgt  auf  ein 
Prät.  nie  ein  Präsens. 

5.  Ausnahmen^)  sind  im  Ahd.  und  Mhd.  nicht  häufig 
und  lassen  sich  oft  durch  die  besonderen  Umstände  erklären. 
Auffallend  oft  begegnen  sie  in  Forderungs-  und  Absichtssätzen, 
wo  also  der  Modus  eine  doppelte  Bedeutung  in  sich  vereint, 
zugleich  der  Bezeichnung  der  indirekten  Rede  und  der  Forder- 
ung dient.  Ferner  in  Nebensätzen  zweiten  Grades,  wo  der 
abweichende  Modus  den  untergeordneten  Nebensatz  von  dem 
übergeordneten  unterscheidet.  Nicht  selten  hat,  namentlich 
bei  Otfried,  auch  wohl  der  Reim  seinen  Einfluss  geltend 
gemacht.  Beispiele,  in  denen  der  Reim  in  Betracht  kommt, 
sind  mit  einem  *  bezeichnet. 

a)  Auf  ein  Präsens  folgt  ein  Präteritum.  In  Forderungs-  und 
Absichtssätzen:  0.  1,27,53*  tha^  ist  thoh  ärunti  mtn,  tha^  ih  iu 
gizalti^  wa^  er  hera  wolti.  1, 27, 38*.  3,  6, 17*.  Auch  Christus  und 
Samariterin  v.  21  Mrro^  ih  thicho  ze  dir,  tha^  wa^^er  gähtst  du  Tnir, 
da^  ih  mer  ubar  tac  ne  liufi  hera  durstac\  doch  mag  hier  eine 
irreale  Vorstellung  'gäbest  du  mir  Wasser,  so  liefe  ich  nicht',  hinein- 
spielen. In  einem  indirekten  Aussagesatz  0.  2, 13, 28*  giduent  sie 
lütmäri,  tha^  er  io  druhtin  wäri.  In  einer  indirekten  Frage  3, 17,  17* 
nü  zeli  uns  avur  follon  hiar  th'en  thtnan  willon,  tha^  thtna^  giräti, 
wa^  i^  theses  quäti,  gib  uns  vollständig  deinen  Willen  kund,  dein 
Urteil,  was  es  dazu  sagt.  Jüngere  Belege  aus  mhd.  Prosa:  Behaghel 
S.  38  f.     Blatz  2,988. 

b)  Auf  ein  Präteritum  folgt  ein  Präsens:  In  Forderungs-  und 
Absichtssätzen:  0.  1,8,20*  kundt  er  imo  in  droume,  er  thes  wtbes 
wola  goume;  ebenso  1,21,4*.  3,6,45*.  4,7,82*.  1,23,21.  In  einem 
Absichtsatz  zweiten  Grades,  in  dem  die  Präsensform  auf  etwas 
späteres  hinweist,  als  das  Prät.  im  übergeordneten  Nebensatz:  1,  23,  3 
so  quam  thiu  gotes  stimna  in  thia  wuastinna  .  .  .  tha^  er  (Johannes) 
fuari  thanana  fram  Ü3  untar  tvoroltman,  tha^  er  (Christus)  thie 
wenige  ni  finde  so  firdäne  joh  mannilth  thes  gähe,  zi  huozu  gifähe. 


1)  Behaghel  S.  21  f. 

2)  Behaghel  S.  30.  34  ff.  38  f. 


202  Gebrauch  der  Tempora  in  indirekten  ISätzen.  [§  104. 

Ebenso  3,  26,  51 ;  in  einem  untergeordneten  Bedingungssatz  mit  in 
thiu  4,  20,  23;  in  einem  untergeordneten  Folgesatz  3,  6,  22  f.  Wechsel 
des  Modus  in  koordinierten  Forderungssätzen  zweiten  Grades: 
1,  23,  22  giböt,  man  afolötiy  thie  wUga  gote  garoti,  thie  heristrä,^a 
insciere,  ouh  scöno  giziere.  3, 21, 31  f.  [Dagegen  ist  bei  Walther 
16,  31  hie  lie^  er  sich  reine  toufen,  dag  der  mensche  reine  st ;  dö 
lies  er  sich  hie  verkaufen^  da^  wir  eigen  wurden  fri  der  Wechsel 
des  Tempus  in  der  Bedeutung  der  Sätze  begründet;  die  Aussage 
des  ersten  erstreckt  sich  auch  auf  Gegenwart  und  Zukunft,  die  des 
zweiten  bezeichnet  einen  Vorgang  der  Vergangenheit.  Und  so  lässt 
sich  wohl  auch  0.  4,  20,  17  deuten:  quädun^  sih  bihia^i,  Sr  iro  kuning 
tcäri,  zelle  ouh  in  giwissi,  tha,^  er  selbo  krist  st,  er  habe  sich  be- 
rühmt und  behaupte  (vgl.  §  96,  2)]. 

104.  (B.  Im  Hauptsatz  steht  ein  Perfektum  oder  aorist- 
isehes  Präsens.)  1.  Vi^enn  im  regierenden  Satz  das  Perfektum 
steht  *),  also  ein  Tempus^  das  nach  Bildung  und  Bedeutung 
teils  zum  Präsens,  teils  zum  Präteritum  neigt,  gilt  im  ab- 
hängigen Satz  im  allgemeinen  derselbe  Tempusgebrauch  wie 
nach  einem  Präsens.  Das  Präteritum  steht  also,  wenn  die 
Aussage  in  die  Vergangenheit  fällt,  z.  B.  Erec  3687  wände  wir 
haben  vernomen  von  dem  gräven  mcere,  da^  er  benamen  wcere  beide 
biderbe  unde  guot  (dass  er  gewesen  sei);  ebenso  7337  Sit  ich  nü 
gesaget  hän,  wie  dag  phert  wcere  getan.  Dagegen  ist  das  Präsens 
durchaus  Regel,  wenn  die  Aussage  auch  noch  für  die  Zeit  des 
gegenwärtig  Redenden  gültig  ist.  Oft  drückt  der  abhängige  Satz 
eine  Forderung  oder  Absicht  aus;  z.  B.  0.  5,  12,65  mit  thiu  ist  gi- 
zeinot  ma7inon,  sih  untar  in  io  minnön.  2, 4, 57  ig  ist  giscriban 
fona  thir,  thag  faren  engila  mit  thir  (fahren  sollen).  1,  5,  39  hab^n 
ih  gimeinit  .  .  thag  ih  einluzzo  mtna  worolt  nuzzö.  Eine  Aussage 
z.  B.  Erec  5781  dag  ich  hän  von  dir  vernomen,  dag  du  barmherzic 
stst.  8855  ouch  ist  mir  dag  für  war  geseit,  got  st  noch  als  er  ie 
was.  Aussage-  und  Forderungssatz  neben  einander  Walther  62,28 
ir  habt  mir  geseit  also,  stver  mir  beswcere  mtnen  muot,  dag  ich  den 
viache  wider  frö\  er  schäme  sich  lihte.  In  solchen  Sätzen  unter- 
scheidet sich  also  der  Tempusgebrauch  nach  einem  Perfektum 
von  dem  nach  einem  Präteritum.  Nach  einem  Präteritum 
pflegt,  auch  wenn  die  Aussage  des  untergeordneten  Satzes 
für  die  Gegenwart  noch  gilt,  das  Prät.  zu  stehen;  nach  einem 


1)  Behaghel  S.  26  f. 


§  105.]  Bezeichnung  des  relativen  Zeitverhältnisses.  203 

Perfektum  dagegen  das  Präsens.  Doch  ist  die  Sache  wohl  nicht 
so  aufzufassen,  dass  das  Perfektum  im  Hauptsatz  das  Präsens  im 
abhängigen  Satze  zur  Folge  hat,  sondern  umgekehrt,  im  Hauptsatz 
steht  das  Perfektum,  weil  die  Aussag-e  des  abhängigen  Satzes,  die 
doch  die  Hauptsache  ist,  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Gegenwart 
hervorgehoben  werden  soll  (§  97,  3). 

2.  Nur  ausnahmsweise,  zum  Teil  unter  Reimzwang,  er- 
scheint das  Präteritum,  z.  B.  0.  1,  l,9f  13  dunkal  eigun  funtan, 
zisamane  gibuntan,  sie  ouh  in  thiu  gisag^ttn,  tha^  then  thio  buoh 
nirsmäMtin  etc.  O.  2,  4, 75  thö  sprah  krist  zi  imo  sär :  giscriban 
ist  hl  alawär,  tha^  mannillh  giweriti  (sich  hütete),  selbdruhünes  ni 
koröti,  wo  zu  beachten  ist,  dass  der  regierende  Satz  selbst  durch 
das  vorangehende  sprah  als  ein  der  Vergangenheit  angehöriger 
Ausspruch  bezeichnet  wird.  Vgl.  auch  1,  1,  9.  4,  21,  5  und  (in  einem 
untergeordneten  Temporalsatz)  4,15,56.  Wechsel  des  Tempus: 
2,  4,  95  thär  ist  gibotan  harto,  tha^  man  imo  io  gilicho  thiono  foraht- 
Itcho,  man  ouh  bidrahtöti,  er  anderan  ni  betöti. 

3.  Auch  auf  ein  Präsens,  das  eine  Handlung  der  Ver- 
gangenheit bezeichnet  (§  96),  folgt  uaturgemäss  das  Präsens^): 
0.  4,  1,  1  Nil  thie  eivarton  machönt  tha^  giräti,  .  .  biginnent  frammort 
ivtsen^  ivie  sie  inan  firliesen^  joh  tha^  io  thenkit  iro  muat,  wie  sie 
firthuesben  thagguotmu  will  ih  sci'iban  etc.  Das  Präteritum  1.1,21 
sie  ditent  i^  filu  sua^i  joh  me^ent  sie  thie  fuagi,  thie  lengi  joh  thie 
kurti,  thei^  gilustltcha^  ivurti  ist  nicht  weniger  auffallend  als  nach 
einem  wirklichen   Präsens  oder  nach  dem  Perfektum. 

Über  den  Einfluss  des  Irrealis  auf  das  Tempus  (eigent- 
lich Modus)  des  abhängigen  Satzes  s.  §  148. 

105.  (Bezeichnung  des  relativen  Zeitverhältnisses.)  1.  So 
lange  das  Verbum  nur  die  beiden  einfachen  Tempora  hatte, 
kam  das  relative  Zeitverhältnis  zwischen  der  Handlung  des 
Haupt-  und  des  Nebensatzes  nur  wenig  zum  Ausdruck.  Zwar 
wenn  im  Hauptsatz  ein  Präsens  steht,  bestimmten  die  beiden 
im  Nebensatz  gebrauchten  Tempora  mittelbar  auch  dieses 
relative  Zeitverhältnis,  denn  der  Standpunkt  des  gegenwärtig 
Redenden  ist  derselbe,  von  dem  aus  die  Aussage  des  ab- 
hängigen Satzes  in  direkter  Form  erfolgte.  Aber  wenn  im 
Hauptsatz  ein  Präteritum  stand,  blieb  das  relative  Zeitverhältnis 


1)  Behaghel  S.  29  f. 


204  Gebrauch  der  Tempora  in  indirekten  Sätzen.  [§  105. 

unbezeichnet.  Das  Präteritum  im  Nebensatz  konnte  eine  Hand- 
lung bezeichnen,  welche  der  Aussage  des  Hauptsatzes  gleich- 
zeitig ist,  oder  ihr  folgt,  oder  ihr  vorangeht;  es  kann  einem 
Präsens  oder  einem  Futurum  oder  einem  Präteritum  der 
direkten  Rede  entsprechen;  z.  B.  0.  3,8,24  prnämun  in  gi- 
wäri,  thei^  ein  gidrog  wärt  (er  ist  ein  Gespenst).  1,17,69 
kundtun  sie  uns,  thaj  er  bi  unsih  döt  wurti)  er  wird  für  uns 
sterben).  4,  19,  30  quädun,  si^  gehörtin  (wir  haben  es  gehört). 
Durch  die  Bildung  der  zusammengesetzten  Zeitformen  trat  eine 
Änderung  in  diesen  Verhältnissen  ein.  Statt  des  alten  Prä- 
teritums konnte  nun  nach  einem  Präsens  das  Perfektum,  nach 
einem  Präteritum  das  Plusquamperfektum  statt  des  futurischen 
Präsens  endlich  die  zusammengesetzten  Futurformen  mit  wollen, 
sollen,  werden  gebraucht  werden;  z.  B.  Walther  45, 7  ein 
frouwe  wil  ze  schedeliche  schimpfen,  ich  habe  %  gelobet. 
18,  31  da  muget  ir  alle  schouwen  wol  ein  wunder  bi,  wie^ 
ime  der  smit  so  ebene  habe  gemachet.  —  Eneit  1936  si  sprach, 
si  hedde  et  versworen.  Iw.  8026  si  sagete  ir,  da^  er  komen 
wcere.  Aber  langsam  dringen  diese  zusammengesetzten  Formen 
durch.  Noch  im  Mhd.  finden  sich  allenthalben  zahlreiche  Belege 
für  das  einfache  Präteritum;  z.  B.  Walther  nach  einem  Präsens; 
40, 13  was  er  mit  mir  pficege,  niemer  niemen  bevinde  da^,  wan  er 
unt  ich-,  60, 10  doch  solt  du  gedenken,  ob  ich  ie  getrcete  fuo^  von 
meiner  stoete;  ebenso  66,19.  104,15.  25,26.  Nach  einem  Präteritum: 
84, 19  die  Seiten  mir,  ir  malhen  schieden  danne  leere  (sie  wären  mit 
leeren  Taschen  abgezogen);  ferner  75,17.  121,34.  124,12.  Ebenso 
behauptet  sich  das  futurische  Präsens.  Umfassende  Beobachtungen 
über  die  Fortschritte  der  zusammengesetzten  Tempora  fehlen 
noch.  Das  Perfektum  kommt  nach  Behaghels  Beobachtungen 
(Zeitfolge  S.  25)  bei  Otfried  nur  einmal  vor:  3,12,21  nüy 
quad  er,  ni  helet  mih,  wio  ir  frnoman  eigit  mih  (wofür  ihr 
mich  gehalten  habt);  im  Erec  fand  er  auf  19  Belege  des 
Präteritums  nur  9  des  Perfektums.  'Erst  seit  dem  15.  Jh. 
gehört  dieser  Form  die  Alleinherrschaft.' 

2.  Durch  die  Einführung  der  Perfektform  wurde  für  die 
relative  Tempusbezeichnung  nichts  gewonnen ;  denn  nach  einem 
Präsens  fand  von  jeher  auch  das  relative  Zeitverhältnis  durch 
die   beiden  Tempora  des  Präsens  und  Präteritums  Ausdruck. 


§  106.]  Consecutio  temporum.  205 

Dagegen  nach  einem  Präteritum  ermöglichte  erst  das  Plus- 
quamperfektum,  die  Aussage  des  Nebensatzes  als  der  des 
Hauptsatzes  vorangegangen  zu  bezeichnen.  Die  Futurformen 
endlich  gaben  Mittel  zu  genauerer  Zeitbestimmung  sowohl  nach 
einem  Präsens^  wie  nach  einem  Präteritum. 

3.  Wie  im  Aktiv  werden  auch  im  Passiv  die  Formen 
erst  allmählich  zu  Mitteln  der  relativen  Zeitbestimmung  aus- 
gebildet. Zur  Bezeichnung  der  relativen  Vergangenheit  konnte 
nach  einem  Präteritum  neben  wäri  c.  Part,  auch  wurti  c.  Part, 
gebraucht  werden;  z.  ß.  0.  1,17,17  er  ni  hörta  man  tha^y 
tha^  io  fon  magadhurti  man  giboran  wurti.  Und  selbst  zur 
Bezeichnung  der  relativen  Zukunft  wird  in  Absichts-  und 
Forderungssätzen  neben  werde  und  wurti  c.  Part,  st  und  wäri 
gebraucht,  indem  man  nicht  die  Handlung  sondern  den  Ab- 
schluss  der  Handlung  im  Auge  hatte  (§  99);  z.B.  0.  2,24,33 
Firdrtb  fon  uns  in  thräti  allo  missedäti  .  .  •  tha^  wir  manahouhit 
zi  thtnen  sin  gifuagit,  3,  26, 27  er  riat,  tha^  man  biivurbi,  tha^  ther 
man  eino  irsiurhi  .  .  joh  thuruh  sinan  einan  dolk  wäri  al  gihaltan 
ther  folk,  damit  durch  seinen  Tod  das  ganze  Volk  erhalten  würde 
od.  bliebe.  In  Notkers  Boethius  aber  ist  in  solchen  Sätzen 
schon  stets  werden  c.  Part,  gebraucht.     Cuny  S.  36  f. 

Formales  Verhältnis  der  Tempora  im  Haupt-  und  Nebensatz 

(Consecutio  temporum). 
106.  1.  Eine  vollkommene  formale  Übereinstimmung 
zwischen  dem  Tempus  des  regierenden  und  des  abhängigen 
Satzes  konnte,  solange  nur  die  einfachen  Tempora  gebraucht 
wurden,  nicht  stattfinden.  Auf  ein  Präteritum  zwar  folgte  in 
der  Regel  ein  Präteritum,  auf  ein  Präsens  aber  nicht  selten 
ein  Präteritum,  nämlich  erstens,  wenn  der  abhängige  Satz  im 
Modus  Irrealis  stand  (§  134  f.),  zweitens,  wenn  die  Aussage 
in  die  Vergangenheit  fiel.  Durch  die  Einführung  der  zusammen- 
gesetzten Tempora  wurde  die  formale  Übereinstimmung  grösser. 
Denn  jetzt  brauchte  nach  einem  Präsens  eine  in  die  Vergangen- 
heit fallende  Aussage  nicht  mehr  durch  das  Präteritum  be- 
zeichnet zu  werden;  es  durfte  dafür  das  Perfektum,  also  eine 
präsentische  Form  (ich  habe  gegeben,  ich  sei  gekommen)  ein- 
treten,    und    um    eine   in   die  Zukunft  fallende  Handlung  zu 


206  Gebrauch  der  Tempora  in  indirekten  Sätzen.  [§  106. 

bezeichnen,  standen  nach  einem  Präsens  die  Formen  mit 
werde,  nach  einem  Präteritum  die  mit  würde  gebildeten  zu 
Gebote.  Somit  ergeben  sich,  wenn  wir  von  dem  Irrealis  ab- 
sehen, als  normale  Formen 

a)  für  die  ältere  Sprache:  b)  für  die  jetzige: 

(  er  saqt,  er  komme, 
saqet,  queme.       {  ^  ,     , 

[        „         er  werde  kommen. 

saget,  quämi.  „         er  sei  gekommen. 


[  er  sagte,  er  käme. 


sageta,  quämi.       |         „         würde  kommen. 
\         „         wä7'e  gekommen. 

Aber  diese  reinliche  Scheidung  ist  aus  verschiedenen  Gründen 
nicht  zur  Geltung  gekommen. 

2.  ursprünglich  war  das  Tempus  auch  des  abhängigen 
Satzes  auf  den  Standpunkt  des  gegenwärtig  Redenden  bezogen 
worden;  je  mehr  sich  der  hypotaktische  Satzbau  ausbildete, 
je  enger  die  Verbindung  des  regierenden  und  des  abhängigen 
Satzes  aufgefasst  wurde,  um  so  mehr  gewöhnte  man  sich,  die 
Tempusformen  des  Nebensatzes  als  relative  Zeitbestimmungen  auf 
den  regierenden  Satz  zu  beziehen,  und  damit  wurde  dann  die 
Unterscheidung  präsentischer  und  präteritaler  Formen  wertlos; 
er  komme  und  er  käme,  beide  Formen  bezeichnen  die  Gleich- 
zeitigkeit; er  sei  gekommen  und  er  wäre  gekommen  die  relative 
Vergangenheit,  er  imrde  kommen  und  er  würde  kommen,  die 
relative  Zukunft^).  Es  ist  also  begreiflich,  wenn  die  Sprache  die 
Formen  als  gleichbedeutend  behandelte  und  darnach  strebte 
eine  von  beiden  fallen  zu  lassen.  Die  Entscheidung  fiel  in 
den  verschiedenen  Teilen  des  Sprachgebietes  verschieden  aus, 
und  in  den  Mundarten  anders  als  in  der  Schriftsprache  2).     Die 

1)  Darin,  dass  die  Tempora  des  abhängigen  Satzes  als  relative 
Zeitbestimmungen  aufgefasst  wurden,  sehe  ich  den  Hauptgrund  dafür, 
dass  die  Consecutio  temporum  aufgegeben  wurde.  Behaghel,  Zeit- 
folge S.  197  ff.  sucht  ihre  Auflösung  aus  dem  gesteigerten  Gebrauch 
zu  erklären,  den  das  Präsens  und  das  Perfektum  als  erzählende 
Tempora  erfuhren.  Die  Form  dieser  Tempora  habe  im  abhängigen 
Satz  den  Opt.  Präs.,  ihre  Bedeutung  dagegen  den  Opt.  Prät.  em- 
pfohlen.    Dieser  Widerstreit  habe  zur  Verwirrung  geführt. 

2)  Behaghel  S.  40  f. 


§  106.]  Coiisecutio  temporum.  207 

Mundarten  haben  sich  für  eine  der  beiden  Formen  entschieden. 
Im  Schwäbisch-Alemannischen  gilt  ausschliesslich  der  Optativ 
Präsentis;  in  den  mitteldeutschen,  niederdeutschen  und  ober- 
fränkischen Mundarten  der  Optativ  Präteriti;  das  Bairische 
schliesst  sich  teils  dem  einen,  teils  dem  andern  Gebiet  an.  In 
der  Schriftsprache  werden  nebeneinander  Formen  des  Präs. 
und  des  Prät.  gebraucht,  jedoch  nicht  rein  nach  Willkür. 

3.  um  diese  Entwickelung  zu  verstehen,  haben  wir  so- 
wohl die  Form  als  die  Bedeutung*  der  konkurrierenden  Optative 
ins  Auge  zu  fassen.  Durch  den  Verfall  der  Endungen  ist  im 
Nhd.  der  unterschied  zwischen  dem  Indikativ  und  Optativ 
zum  grossen  Teil  beseitigt.  Im  Präsens  unterscheidet  nur 
das  Verbum  sein  die  beiden  Modi  in  allen  Formen;  bei  allen 
übrigen  Verben  findet  ein  durchgreifender  Unterschied  nur 
noch  in  der  3  Sg.  statt  {er  lebt :  er  lehe).  Die  2  Sg.  und  PL 
unterscheiden  sich  bei  den  meisten  Verben  dadurch,  dass  im 
Indikativ  das  e  der  Endung  synkopiert  zu  werden  pflegt,  im 
Optativ  nicht  (du  steigst :  du  steigest'^  ihr  steigt:  ihr  steiget)'^ 
die  2  Sg.  bei  einigen  ausserdem  auch  durch  Vokalwandel 
{du  gibst :  du  gebest ;  du  fährst :  du  fahrest) ;  bei  Verben  die 
weder  an  der  Synkope,  noch  am  Vokalwandel  teilnehmen, 
fallen  sie  ganz  zusammen  {du  redest,  rettest,  setzest).  Die 
1  Sg.  ist  nur  bei  den  Prät.-Präs.  und  wollen  noch  unter- 
schieden {ich  soll :  ich  solle) ;  die  1  und  3  PI.  nirgends  mehr. 
So  ist  es  in  der  jetzigen  Sprache;  doch  tritt  dieser  Zustand 
nicht  auf  dem  ganzen  Sprachgebiet  gleichzeitig  ein.  In  der 
3  PI.  hielt  das  Oberdeutsche,  namentlich  das  Alemannische, 
noch  an  deutlich  unterschiedenen  Formen  fest  {gebent :  geben), 
als  sie  das  Nieder-  und  Mitteldeutsche  längst  aufgegeben 
hatten ;  das  Alemannische  bewahrte  ausserdem  noch  zahlreiche 
Optative  mit  der  charakteristischen  Endung  -eje.  Wenn  es 
also  darauf  ankam,  durch  deutlich  erkennbare  Optativformen 
den  abhängigen  Satz  zu  charakterisieren,  so  lagen  im  Ale- 
mannischen die  Umstände  für  die  Erhaltung  und  Verbreitung  des 
Opt.  Präs.  jedenfalls  günstiger  als  auf  dem  übrigen  Sprachgebiet. 

4.  Auch  im  Präteritum  sind  die  beiden  Modi  nur  noch 
mangelhaft  unterschieden,  im  ganzen  aber  doch  besser  als  im 


208  Gebrauch  der  Tempora  in  indirekten  Sätzen.  [§  106. 

Präsens.  Zwar  die  zahlreichen  schwachen  Verba  haben  fast  alle 
dieselben  Formen  im  Indikativ  und  Optativ  {ich  meinte)^  aber  die 
meisten  starken  Verba  und  einige  schwache  haben  im  Umlaut  ein 
Mittel  den  ganzen  Optativ  vom  Indikativ  zu  unterscheiden  [gab  : 
gäbe,  bot :  böte,  fuhr  :  führe,  dachte  :  dächte).  Die  1  und  3  Sg. 
unterscheiden  ferner  alle  starken  Verba  durch  die  Endung 
[stieg :  stiege) '^  zum  Teil,  durch  die  grössere  oder  geringere 
Neigung  zur  Synkope,  auch  die  2  Sg.  und  PI.  Im  ganzen  also 
unterscheiden  sich  die  Modi  im  Prät.  besser  als  im  Präs.,  und 
so  erscheint  es  natürlich,  dass  wenn  eins  der  beiden  Tempora 
aufgegeben  wurde,  die  Entscheidung  zu  Gunsten  des  Präteritums 
ausfiel,  wie  es  in  den  meisten  Mundarten  geschehen  ist.  Ja 
selbst  im  Alemannischen  hätte  wohl  das  Präteritum  den  Vor- 
zug verdient,  wenn  es  allein  auf  die  Form  angekommen  wäre. 
Es  kommt  aber  auch  die  Bedeutung  in  Betracht. 

5.  Schon  früh  zeigt  sich,  dass  der  Opt.  Präs.  als  Aus- 
druck eines  bestimmten  Modus  geringere  Lebenskraft  hat,  als 
der  Opt.  Prät.  Während  dieser  als  Modus  der  Irrealität  sich 
bis  auf  den  heutigen  Tag  kräftig  behauptet,  hat  der  Opt.  Präs. 
je  länger  um  so  mehr  seine  selbständige  Bedeutung  verloren 
(§  119.  135,  2).  So  war  es  natürlich,  dass  die  Sprache  darnach 
strebte,  den  Opt.  Prät.  auf  seine  charakteristische  Bedeutung 
zu  beschränken  und  dem  Opt.  Präs.  überall  da  Raum  zu  geben, 
wo  die  Vorstellung  der  Irrealität  sich  nicht  mit  dem  Optativ 
verband.  Dies  Moment  der  Bedeutung  war  es  also,  was  den 
Opt.  Präs.  als  Modus  der  indirekten  Rede  empfahl  und  ver- 
mutlich zu  seiner  unbeschränkten  Anerkennung  im  Schwäbisch- 
Alemannischen  wesentlich  beigetragen  hat,  während  im  übrigen 
Sprachgebiet  die  Form,  die  mangelhafte  Unterscheidung  zwischen 
Indikativ  und  Konjunktiv,  den  Ausschlag  gab. 

6.  In  der  Entwickelung  der  Schriftsprache  machen  sich 
beide  Momente,  Form  und  Bedeutung,  jedes  in  zweckmässigen 
Grenzen,  geltend.  Sie  strebt  darnach,  den  Opt.  Präs.  als 
Modus  der  indirekten  Rede  zur  Anerkennung  zu  bringen,  jedoch 
nur  soweit  seine  Formen  nicht  mit  denen  des  Indikativs  zu- 
sammenfallen. Als  Norm  für  den  jetzigen  Brauch  stellt  Behaghel 
S.  65  folgende  Beispiele  auf: 


§  106.]  Consecutio  temporum.  209 

Er  meint,  meinte,  ich  sei. 

schlafe,      schliefe. 

du  seiest. 

schlafest,  schliefest. 

er  sei,  schlafe. 

wir  seien,      schliefen. 

ihr  lüäret,  schliefet. 

sie  seien,  schliefen. 
Bei  dem  Verbum  sein  gilt  überall  der  Opt.  Präs.,  ausser  in 
der  2  PL,  die  erst  spät  und  künstlich  vom  Indikativ  geschieden 
ist  (mhd.  Sit  =  nhd.  seit,  seiet).  Von  schlafen  herrscht  in  der 
3  Sg ,  die  bei  allen  Verben  eigentümliche  Form  hat,  unbestritten 
das  Präsens;  dagegen  im  Plural,  wo  die  Modi  im  Präsens  zu- 
sammenfallen, unbestritten  der  Opt.  Prät.  In  der  1  und  2  Sg. 
gelten  beide  Formen.  Dass  in  der  2  Sg.  neben  dem  Präs. 
das  Prät.  erscheint,  mag  man  daraus  erklären,  dass  hier  bei 
den  meisten  Verben  Ind.  und  Opt.  nur  mangelhaft  (durch  Syn- 
kope), bei  manchen  (den  schwachen  Verben  auf  d,  t,  ss,  z) 
gar  nicht  unterschieden  sind.  Auffallender  ist,  dass  in  der 
1  Sg.  das  Prät.  nicht  allein  herrscht;  hier  muss  der  im  Singular 
im  allgemeinen  geltende  Gebrauch  die  Form  bestimmt  haben. 
7.  Die  Neigung  zum  Opt.  Präs.  findet  jedoch  ihre 
Schranken.  Nicht  nur  behauptet  sich  der  Opt.  Prät.  in  Sätzen^ 
denen  er  schon  in  der  direkten  Rede  zukommen  würde,  sondern 
wir  pflegen  ihn  auch  in  Forderungs-  und  Absichtssätzen,  die 
von  einem  Präteritum  abhängen,  zu  brauchen  (§  130,  2),  auch 
in  solchen,  die  durch  ein  Relativum  mit  ihrem  Hauptsatz  ver- 
bunden sind;  z.  B.  Er  rief  nach  einem  Fährmann,  der  ihn 
hinüber  brächte  oder  bringen  sollte  (weniger  üblich  bringe).  Und 
besonders  können  wir  ihn  nicht  wohl  entbehren,  wenn  wir  sub- 
jektive auf  die  Zukunft  bezügliche  Vorstellungen  oder  Äusserungen 
in  der  Form  unabhängiger,  konjunktionsloser  Sätze  wiedergeben ; 
z.  B.  'Er  hatte  sie  wiedergefunden.  Er  verlangte  nichts,  er 
war  wunschlos.  Sie  würde  bei  ihm  sein,  stets  in  seiner 
Nähe,  das  war  ihm  genug.  Die  Toiletten,  welche  sie  her- 
stellte, fanden  Beifall;  wenn  sie  nur  gesund  bliebe,  würde 
alles  sich  wieder  machen.  Durch  strenge  Sparsamkeit  würde 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik  III.  14 


210  Gebrauch  der  Tempora.  [§  107. 

sie  versuchen'  etc.  ^).     Über  Sätze,  die  von  einem  Verbum  im 
Irrealis  abhängen,  s.  §  148. 

8.  Der  erste  Grammatiker,  der  die  Bahn  erkannte,  in 
der  sich  die  Schriftsprache  bewegte,  war  Heynatz  (1770),  der 
erste,  der  sie  historisch  verfolgt  hat,  ist  Behaghel.  Wann  die 
Mundarten  die  alte  Consecutio  temporum  aufgegeben  haben, 
lässt  der  Mangel  zuverlässiger  Zeugnisse  schwer  erkennen; 
Behaghel  vermutet,  dass  sie  schon  im  16.  Jh.  ihren  jetzigen 
Zustand  erreicht  hatten  (S.  48.  159).  In  der  Schriftsprache 
nimmt  man  ein  Vordringen  des  Opt.  Präs.  zuerst  natürlich  in 
dem  Gebiete  wahr,  wo  es  durch  die  Mundart  unterstützt  wurde, 
also  im  Schwäbisch- Alemannischen,  hier  schon  seit  den  sechziger 
Jahren  des  16.  Jh.s;  erst  hundert  Jahre  später  im  übrigen 
Deutschland  (a.  0.  S.  134  f.).  Zu  einer  starren  Regel  hat  es 
die  Sprache  auch  jetzt  noch  nicht  gebracht  und  immer  noch 
lässt  der  Gebrauch  den  Einfluss  der  Mundart  wahrnehmen. 
Am  besten  wird,  was  wir  als  vorbildliche  Norm  bezeichnet 
haben,  in  Schriften  durchgeführt,  die  sich  bemühen,  die  Schrift- 
sprache in  ihrer  abstraktesten  Form,  ohne  alle  Nebenzwecke 
zur  Darstellung  zu  bringen,  also  in  Werken,  die  nicht  sowohl 
künstlerischen  als  wissenschaftlich  belehrenden  Zwecken  dienen ; 
die  Verkehrssprache  und  Schriften,  die  dem  Ton  der  Verkehrs- 
sprache nahe  bleiben  wollen,  folgen  noch  gern,  bald  mehr, 
bald  weniger,  der  Mundart  (a.  0.  S.  213  f.). 

Die  Vorsilbe  ge-^). 

107.  1.  Ähnlich  wie  die  Suffixe,  die  TempuS;  Modus, 
Person  und  Numerus  bezeichnen,  sich  mit  dem  Verbalstamm 
verbinden,  ohne  seinen  Bedeutungsgehalt  zu  ändern,  kann  auch 
die  Partikel  ga-  gebraucht  werden.  In  ihrer  eigentlichen 
Bedeutung  weist  sie  wie  das  lat.  com-,   mit  dem  sie  vermut- 


1)  Herdin,  ZfdU.  17,191  f;  Matthias  eb.  S.  419  f.;  Behaghel, 
Zeitfolge  S.  70  f.  80  f.  91 ;  auch  Erdm.  S.  180. 

2)  Ausser  der  II  §  131  Anm.  angeführten  Literatur  vgl.  Mou- 
reck,  AfdA.  21, 195—204.  Delbr.  4,  152  ff.  Streitberg  IF.  Anz.  11,  57  ff. ; 
auch  Paul  §  305-308,  371—373.  Michels  §  261.  266.  Blatz  2,  503  A.  8. 
514  A.  7.  517  A.  4. 


§  107.]  Die  Vorsilbe  ge-,  211 

lieh  identisch  ist  (I  §  24),  auf  Vereinigung-  und  Gemeinschaft; 
öfter  aber  wurde  sie,  schon  im  Gotischen,  in  abstrakterem 
Sinne  gebraucht  (II  §  130  f.),  als  Steigerung  oder  Verstärkung 
•des  Verbalbegriffes  oder  als  Mittel  imperfektiven  Verben  per- 
fektive Bedeutung  zu  verleihen.  Als  Verstärkung  konnte  die 
Partikel  erscheinen,  wenn  schon  in  dem  Simplex  die  Vor- 
stellung der  Vereinigung  lag,  z.  B.  in  gahindan  fesseln;  als 
Ausdruck  der  perfektiven  Aktionsart,  wenn  das  Kompositum 
nicht  wie  das  Simplex  eine  fortlaufende,  unbegrenzte  Handlung 
bezeichnete,  sondern  auf  einen  bestimmten  Zeitpunkt,  eben  den 
der  Vereinigung  hinwies,  wie  in  gagaggan  zusammenkommen, 
garinnan  zusammenlaufen.  Sowohl  in  dem  einen  als  in  dem 
andern  Sinne  konnte  sie  nun  auch  in  Verben  gebraucht  werden, 
für  welche  die  Vorstellung  der  Gemeinschaft  oder  Vereinigung 
gar  nicht  mehr  in  Betracht  kam;  als  Mittel  der  Verstärkung 
z.  B.  in  gastandan  beharren,  als  Mittel  der  Perfektivierung 
z.  B.  in  gastandan  sich  stellen,  gaslepan  einschlafen,  gahausjan 
vernehmen,  gasaiJvan  erblicken,  gapahan  verstummen,  garinnan 
erlaufen,  durch  Laufen  gewinnen  (1  Kor.  9,24). 

2.  Durch  weitere  Bedeutungsentwickelung  konnte  zwischen 
Simplex  und  Kompositum  eine  stärkere  Differenzierung  ein- 
treten; vgl.  z.  B.  mhd.  hern  tragen  und  gehern  gebären,  bieten 
und  gebieten  befehlen,  fallen  und  gefallen  zu  Teil  werden, 
gefallen,  winnen  sich  quälen,  wüten  und  gewinnen^  brechen 
und  gebrechen  fehlen,  heilen  und  geheimen  versprechen.  In 
solchen  Verben  erlosch  dann  natürlich  das  Gefühl  für  die  per- 
fektive Bedeutung  der  Partikel,  ja  manche  konnten  zu  imper- 
fektiven werden,  wie  gefallen  in  der  Bedeutung  placere,  ge- 
bieten in  der  Bedeutung  befehlen,  herrschen. 

3.  Später  erscheint  die  Partikel  noch  in  einer  andern 
formalen  Bedeutung.  Sie  dient  dazu  die  Aussage  möglichst 
allgemein  zu  machen,  namentlich  neben  dem  Adverbium  ie  und 
seinen  Kompositis  {nie,  iemer  etc.).  In  dieser  Bedeutung,  die 
sich  vermutlich  aus  der  perfektiven  entwickelt  hat  (Paul  §  306 
A.  1),  ist  sie  im  Mhd.  ausserordentlich  beliebt.  Bei  Walther  von 
der  Vogelweide  erscheint  sie  in  Sätzen  mit  ie  etc.  vor  dem  Verbum 
finitum  im  ganzen   41  mal  (im  Hauptsatz  18,  im  Nebensatz  23  mal), 


212  Gebrauch  der  Tempora.  [§  107. 

in  andern  Sätzen  im  ganzen  50  mal),  also  verhältnismässig  selten* 
(12  mal  in  Haupt-,  38  mal  in  Nebensätzen),  und  unter  diesen  sind 
noch  mehrere  mit  swer,  in  denen  sich  die  Partikel  wie  neben  ie 
verallgemeinernd  auffassen  lässt:  20,  3  mich  hilf  et  nicht,  swa^  ich 
daran  geklopfe.    73,13.116,20. 

Anm.  1.  Bei  dieser  Schätzung  durften  natürlich  nur  solche 
Verba  in  Betracht  gezogen  werden,  bei  denen  die  Partikel  ihre  freie 
Beweglichkeit  bewahrt  hat.  Auszuscheiden  waren  also  die  von  Nomi- 
nibus mit  ge-  abgeleiteten,  wie  geliehen  gleichstellen,  genäden,  ge- 
bären, sich  gesinden.  Dann  aber  auch  alle  verbalen  Komposita,  in 
denen  die  Partikel  schon  mehr  oder  weniger  erstarrt  ist,  sei  es,  dass 
sie  neben  dem  Simplex  eine  eigentümliche  Bedeutung  angenommen 
haben,  wie  die  oben  angeführten  gebern,  gebieten  etc.,  sei  es,  das& 
ihr  Simplex  ganz  oder  fast  ganz  erloschen  ist,  wie  das  von  genesen^ 
gelouben,  gescehen,  gunnen.  Da  aber  die  Grenze  zwischen  beweg- 
licher imd  unbeweglicher  Partikel  fliessend  ist,  schien  es  zweck- 
mässig, auch  von  den  Verben  abzusehen,  die  zwar  im  Mhd.  noch 
als  Simplicia  vorkommen,  aber  oft,  zum  Teil  überwiegend,  mit  ge- 
gebraucht  werden,  entweder  überhaupt,  wie  "^gelingen^  "^gehirmen, 
*getriuwen,  *gestaten,  getürren,  gewern,  gezemen  (die  mit  *  bezeich- 
neten kommen  bei  Walter  ohne  ge-  nicht  vor),  oder  in  gewissem 
Sinne:  *gebresten  fehlen,  mangeln,  genießen  c.  Gen.  Vorteil  von  etwas 
haben  (einmal  in  diesem  Sinne  niesen  c.  Acc.  81,  2),  gedenken  ein- 
gedenk sein,  an  etwas  denken,  etwas  bedenken  (einmal  in  dieser 
Bedeutung  ohne  ge-,  19,  23).  Denn  auch  in  diesen  Fällen  ist  der 
Verdacht  begründet,  dass  eine  selbständige  Bedeutung  der  Partikel 
nicht  empfunden  wurde. 

Anm.  2.  Merkwürdig  ist,  dass  die  Partikel  im  Deutschen  von 
Anfang  an  auch  neben  anderen  Wörtern,  namentlich  neben  Prono- 
minibus, zur  Verallgemeinerung  dient,  auch  hier  oft  in  Verbindung 
mit  io-,  z.  B.  gitago  quotidie,  giTuanno  viritim  (II  §  449  A.  1),  iogilih, 
iogiwer,  (^c>)^^^^ede7•etc.(Il§  431,  3).  Dieser  Gebrauch  ist  wohl  auf  die 
sociative  Bedeutung  unmittelbar  zurückzuführen:  gimanno  Mann 
für  Mann,  alle  zusammen. 

4.  Hier  kommt  es  nur  auf  die  perfektive  Bedeutung  der 
Partikel  an  (ingressive  und  effektis^e  vgl.  §  82,  1),  in  der  sie 
sich  mit  den  Mitteln  der  Tempusunterscheidung  berührt;  denn 
auch  die  umschreibenden  Tempora  bezeichneten  zunächst  nicht 
die  Zeitstufe,  sondern  die  perfektive  Aktionsart,  werden  c.  Inf. 
den  Eintritt,  haben  und  sein  c.  Part.  Prät.  den  Abschluss  der 
Handlung.  Dass  die  Partikel  mit  dem  Begriff  von  Dauer  und 
Vergangenheit    zusammenhange,    war    schon    dem    Scharfsinn 


§  108.]  ge-  bei  Walther.  213 

J.  Grimms  nicht  entgang-en,  (Gr.  2,  843  f.  4,  149.  850);  später 
ist  unsere  Einsicht  namentlich  durch  Streitberg  gefördert,  und 
an  dessen  Arbeit  haben  sich  andere  angeschlossen ;  doch  sind 
sie  noch  nicht  so  weit  gefördert,  um  die  Geschichte  des  Ge- 
brauchs zu  übersehen.  Ich  muss  mich  daher  darauf  beschränken, 
ihn  durch  die  Belege,  die  Walther  von  der  Vogelweide  bietet, 
zu  beleuchten.  Sätze,  in  denen  die  Partikel  neben  ie  etc. 
erscheint,  habe  ich  als  doppeldeutig  bei  Seite  gelassen. 

108.  (ge-  bei  Walther),  l.  Mit  dem  Präsens  kann  sich  die 
Partikel  nur  verbinden,  wenn  es  in  allgemein  gültigen  Sätzen  oder 
in  futurischem  Sinne  gebraucht  ist,  denn  ein  auf  die  unmittelbare 
Gegenwart  bezogenes  Präsens  wird  notwendig  imperfektiv  auf- 
gefasst.  In  einem  allgemein  gültigen  Satze  steht  es  92,  93  der  blic 
gefreut  (erfreut,  versetzt  in  Freude)  em  herze  gar^  den  minnecliche 
ein  wtp  an  siht.  115,  22  alse  ich  underiütlent  zir  gesitze  (bei  ihr 
Platz  nehme),  .  .  so  benimt  si  mir  so  gar  die  witze.  115,  27  gesihet 
si  mich  einest  an,  so  hdn  ichs  vergessen.  Im  Sinne  eines  relativen 
Perfektums:  22,  11  spise  .  .  diu  wirt  ringe,  so  si  durch  den  munt 
■gevert.  30,  7  siuelh  man  so  getrinket,  da^  er  sich  noch  got  erkennet, 
so  hat  er  gehrochen  ime  sin  höh  gebot.  6,  11  stt  got  deheine  sünde 
lät,  die  niht  geriuwent  zaller  stunt. 

2.  Auf  die  Zukunft  bezüglich :  53,  15  ich  weiz  wol,  wie^  ende 
ergät:  vint  und  friunt  gemeine,  der  gestets  aleine.  119,  33  da^  niir 
iemer  nähe  lit,  unz  ich  getuon,  des  er  mich  bat.  89,  2  e  &?  dir  aber 
ich  gelige,  miner  swcere  ist  leider  al  ze  vil.  73,  34  tvesse  ich,  ob  sig 
noch  gerüwe,  ich  wolte  mich  durch  got  erbarmen.  32,  13  stt  si  die 
schalkheit  wellen,  ich  gemache  in  vollen  kragen  (will  ihnen  den  Hals 
schon  voll  stopfen).  82,  13  ich  hdn  nicht  rosses,  da^  ich  dar  gerite. 
82,  15  herre  gerite  al  deste  ba^.  Im  Sinne  eines  Fut.  II  (relative 
Zeitbestimmung'  §  99,3):  12,19  her  keiser,  swenne  ir  Tiuschen  vride 
gemachet  stcete  .  .  .  s6  bietent  iu  die  frem^den  zungen  ire.  66,  3  so 
kleine,  swenne  ichz  iu  gesage,  ir  lachet  min.  118,  26  swenne  ej  sich 
gefüeget  so  .  .  so  stlgent  mir  die  si7ine. 

3.  Beliebt  ist  der  Gebrauch  in  Wunsch-  und  Forderungs- 
sätzen, weil  der  Wünschende  nicht  den  Verlauf,  sondern  den  Eintritt 
oder  die  Erfüllung  der  Handlung  im  Auge  hat  (vgl.  §  89,  3).  Haupt- 
sätze: 115,4  got  gesegene  iuch  alle.  115,6  herre  got,  gesegene  raich 
vor  sorgen.  64,  34  da^  dich  schiere  got  gehoene.  75,  8  owe,  gescehe 
ichs  linder  kranzel  Nebensätze,  die  von  einem  Imperativ  oder  for- 
dernden Opt.  abhängen:  3,19  hilf  uns,  da^  wir  mit  dir  obe  geligen 
(obsiegen).  7,  40  hilf  uns,  da^  tcir  si  (die  Sünden)  abe  gebaden. 
ßS,  18  schaffe,  da^  ich  frö  geste.     123,  32  gip  mir  die  list,    da^  ich 


214  Gebrauch  der  Tempora.  [§  108.. 

geyneine  dich  (dich  liebe).  10,  22  die  rehten  pfaffen  warne  (warne 
er)  das  si  niht  gehceren  den  unrehten.  30,  5  sus  trinke  ein  iegelich 
man,  da^  er  den  durst  gebiie^e. 

4.  Neben  dem  Irrealis  auf  die  Zukunft  bezüglich:  46,  7  so 
sage  ich,  wa^  mir  dicke  baz  in  minen  ougen  hat  getan  und  tcete 
ouch  noch,  gescehe  ich  daz. 

5.  Neben  dem  Präteritum  Ingressiv:  68,  1  därvon  gesweie 
da^  bilde  iesä  (verstummte).  94,  26  bi  dem  brunnen  ich  gesa^  (Hess 
ich  mich  nieder).  —  Effektiv,  den  AbschJuss  der  Handlung  bezeich- 
nend, wie  das  zusammengesetzte  Perfektum :  45,22  er  engajy  ir  niht 
ze  kleine,  der  si  geschuof  schoene  unde  reine  (der  sie  so  schön  ge- 
schaffen hat).  So  auch  wohl  zweimal  in  dem  Liede  Do  der  sumer 
komen  was :  94,  29  dö  getroumte  mir  ein  troum  und  95,  8  wan  ein 
wunderaltez  wtp,  diu  getröste  mir  den  lip\  beide  Sätze  treten  aus 
der  Schilderung  und  Erzählung,  in  der  sich  das  Gedicht  im  allge- 
meinen bewegt,  in  selbständiger  Bedeutung  hervor  (vgl.  §  97).  —  Im 
Sinne  des  relativen  Plusquamperfektums:  15,34  dö  er  den  tiuvel 
dö  geschande  . .  dö  vuor  er  her  wider  ze  lande,  19,  29  dö  Vriderich  . . 
also  gewarp  .  .  dö  fuorte  er  mtne  krenechen  trite  in  d'erde.  66,  8  ich 
ma^  da^  selbe  deine  strö,  als  ich  hievor  gesach  von  kinden.  71,  4  sin 
gehiez  mich  nie  geleben  nach  ir  lere,  sivie  jämer liehe  ich  sis  gebat^ 

6.  Sätze,  in  denen  ein  mit  ge-  verbundenes  Verbum  fin.  per- 
fektiver Auffassung  widerstrebt,  begegnen  nicht  oft.  An  die  alte 
soziative  Bedeutung  könnte  man  denken  121,  26  swie  dicke  ich  ir 
noch  b  %  gesa^ ,  so  wesse  ich  minner  danne  ein  kint.  45,  29  die  den 
verschämten  bi  gestänt,  die  wellent  lihte  ouch  mit  in  schaffen.  Eine 
mit  der  perfektiven  Aktionsart  zusammenhängende  Modifikation  der 
Bedeutung,  (wie  sie  schon  im  gotischen  gahausjan  wahrnehmbar  ist,^ 
Lc.  8, 8  saei  habai  ausöna  du  hausjan,  gahausjai)  könnte  ge-  be- 
zeichnen 9,  18  ich  sach  mit  mtnen  ougen  man  unde  lotbe  tougen, 
deich  gehörte  und  gesach,  swa^  ieman  tete  etc, ;  auch  90,  36  hei,  wie 
wol  man  in  dö  sprach,  dö  man  die  fuoge  an  in  gesach.  115,  35  wie 
kumt,  da^s  als  übel  gesiht.  121,  30  si  ist  ein  wtp,  diu  niht  gehoeret 
und  guoten  willen  kan  gesehen.  Eine  Verstärkung:  61,35  Owe  hove- 
llche^  singen  .  .  da^  dtn  wirde  also  geliget  (darnieder  liegt).  55, 33 
e^  enwart  nie  slö^  so  manecvalt,  da^  vor  dir  gestüende  (C,  bestüende 
E,  ie  bestüende  F,  stüende  A).  —  Die  übrigen  Belege  sind:  91,38 
hei,  wa^  dir  danne  froiden  bringet,  so  si  sunder  loer  vor  dir  gestät. 
101,  9  do  ich  dich  gesach  reht  under  d' ougen,  dö  was  dtn  schouiven 
wunderlich.  11, 17  durch  got  bedenket  iuch  däbt,  ob  ir  der  pfaffen 
ere  iht  geruochet. 

7.  Von  den  Nominalformen  eignet  sich  am  meisten  zur 
Verbindung  mit  ge-  das  Part.  Prät.,  dem  sie  schon  im  Ahd.  fast  not- 
wendig ist;  am  wenigsten  das  Part.  Präs,     Zwar^im  Gotischen,   wo 


§  108.]  ge-  bei  Walther.  215 

es  noch  oft  gebraucht  wird,  um  ein  griechisches  Part.  Aor.  oder 
Perf.  wiederzugeben,  wird  es  oft  auch  mit  ^ü!-  verbunden;  aber  die 
präsentische  und  durative  Auffassung,  die  im  Deutschen  durch- 
gedrungen ist,  widerstrebt  dem.  Bei  Walther  kommt  ein  so  ge- 
bildetes Part,  nur  einmal  vor,  neben  ie:  5,31  ein  got^  de?^  ie  ge- 
wesende (C,  ie  wesende  kl). 

8.  Sehr  zahlreich,  aber  formelhaft  beschränkt,  sind  die  Belege 
für  den  Infinitiv  mit  ge-.  Nur  vor  Infinitiven,  die  unmittelbar 
vom  regierenden  Verbum  abhangen,  erscheint  bei  Walther  die  Par- 
tikel, und  zwar  nach  mac  23  mal,  nach  kan  21  mal,  nach  muo^  9  mal, 
je  6  mal  nach  sol  und  {ge)tar,  2  mal  nach  wil  (73, 1.  32,  7),  je  einmal 
nach  lä^en  (119,8),  ruochen  (56,1),  heilen  71,3).  Am  öftesten  steht 
also  ge-  nach  mac  und  kan,  am  regelmässigsten  aber  nach  {ge)tar, 
wo  6  Belegen  mit  ge-  (26,  5.  110,  23.  7, 2.  114,  11.  71, 18.  54, 1)  nur 
zwei  (36,  3.  62,  32)  ohne  ge-  gegenüberstehen.  Auffallend  selten  ist 
die  Partikel  nach  dem  häufigen  wollen;  bei  diesem  Verbum  hatte 
der  Inf.  Perf.  die  weiteste  Verbreitung  gefunden  (§  89,  3).  Der  von 
ze  abhängige  Infinitiv  zeigt  bei  Walther  nie  ge-,  überhaupt  keine 
unbetonte  Partikel. 

Anm.  Im  Got.  kommt  nur  das  Kompositum  gadars  vor, 
ebenso  im  As.  und  Ahd.;  erst  im  Mhd.  taucht  das  Simplex  tar  auf. 
Gab  die  Gewohnheit,  dem  Infinitiv  ge-  zu  geben,  den  Anlass  es  dem 
regierenden  Verbum  zu  entziehen? 

9.  Am  charakteristischsten  ausgeprägt  ist  der  Gebrauch  des 
Infinitivs  mit  ge-  bei  müe^en.  Fast  nur  neben  dem  Optativ  in  Wunsch- 
sätzen, in  denen  auch  das  Verbum  fin.  gern  ge-  annimmt,  erscheint 
bei  Walther  die  Partikel:  67,20  min  sele  müe^e  wol  gevarn.  83,13 
d%n  sele  müe^e  wol  gevarm.  31, 27  noch  miie^e  ich  geleben,  da^  ich 
den  gast  ouch  grüe^e.  98,  22  doch  müe^e  ich  noch  die  ztt  geleben^ 
da^  etc.  73, 32  hiure  m^üe^ens  beide  esel  und  der  gouch  gehceren. 
n,  16  stn  geist  müe^  uns  gefristen,  da^  etc.  120,  32  nü  müe^e  e^ 
got  gefüegen  so,  da^  etc.  31,  35  da^  ich  gesingen  müe^e  in  dirre 
ictse  also,  da^  etc.  Einmal  nach  demPrät. :  112,3  müeste  ich  noch 
gelUben,  da^  etc.  Sonst  begegnet  der  Inf.  mit  ge-  nur  bei  Verben, 
die  ohnehin  als  Komposita  geläufig  sind:  gezemen  105,36.  116,19; 
gestaten  115, 19. 

10.  In  anderer  Weise  ist  der  Gebrauch  des  Infinitivs  mit  ge-  bei 
dem  häufigen  suln  beschränkt.  Walther  braucht  ihn  nur  sechsmal, 
fast  immer  in  fragenden  Ausrufsätzen:  118,11  sol  ich  iemer  so  ge- 
ligen? 59,37  wie  sol  man  gewarten  dir?  123,14  wie  sol  ein  man 
gedingen  (Hoffnung  haben)?  26,10  tvie  solle  ich  den  geminnen? 
41,12  wer  solle  iu  denn  iemer  iht  geklagen?  Nur  einmal  anders, 
aber  auch  in  einem  Ausruf:  30,  20  sit  got  ein  rehter  rihter  heilet  .  ., 
das  ^^  solt  Ü3  siner  milte  des  geruochen,  da^  etc. 


216  Gebrauch  der  Modi.  [§  109. 

11.  Mit  dem  Mhd.  verschwindet  der  selbständige  Gebrauch 
der  Partikel.  Obligatorisch  war  er  nie  gewesen;  vom  Passiv 
und  den  mit  andern  unbetonten  Partikeln  zusammengesetzten 
Verben  überhaupt  ausgeschlossen.  Je  mehr  die  umschreibenden 
Zeitformen,  die  sich  vielfach  mit  der  Partikel  berührten,  in 
Aufnahme  kamen,  um  so  mehr  wurde  ihr  der  Boden  entzogen, 
und  die  Neigung  der  Mundarten,  sie  ganz  verstummen  zu 
lassen,  beschleunigte  den  Verfall.  Die  Verba,  die  sich  noch 
jetzt  in  doppelter  Form  erhalten  haben,  sind  fast  immer  durch 
ihre  Bedeutung  differenziert,  und  wo  eine  Differenzierung  nicht 
eingetreten  ist,  ist  fast  immer  eine  der  beiden  Formen  auf- 
gegeben, meistens  die  mit  ge-  (II  §  133).  Eine  abweichende 
Behandlung  haben  nur  die  Part.  Prät.  erfahren  (§  9). 

Grebraucli  der  Modi. 

Indikativ. 

109.  1.  Von  den  drei  Modi^),  die  das  germanische 
Verbum  unterscheidet,  ist  der  Indikativ  der  häufigste  und  zu- 
gleich der  farbloseste.     Durch  den  Imperativ  und  Optativ  wird 


1)  Über  die  Modusformen,  welche  die  idg.  Ursprache  besass, 
und  über  die  Gründe,  warum  sie  in  den  Eiiizelsprachen  zum  Teil 
erloschen  sind,  handelt  Delbrück  4,  346  ff.  Bojunga,  Der  idg.  Kon- 
junktiv im  Germanischen.  IF.  2,  184 — 197.  Über  Modusgebrauch 
im  Gotischen:  A.  Köhler,  Der  syntaktische  Gebrauch  des  Optativs 
im  Gotischen.  (Bartsch,  Germanistische  Studien  (1872).  1,  77  f.) 
E.  Bernhardt,  Der  gotische  Optativ.  ZfdPh.  8, 1  ff.  (1882).  P.  E. 
Mourek,  Syntax  des  zusammengesetzten  Satzes  im  Gotischen  (Abh. 
der  böhmischen  Kaiser  Franz  Joseph-Ak.  Jahrg.  2.  Abt.  3  No.  1. 
Prag"  1893.  S.  287—334  enthalten  einen  deutschen  Auszug  des  czechisch 
geschriebenen  Werkes).  B.  Delbrück,  Der  germanische  Optativ 
im  Satzgefüge.     PBb.  29,201—305  (1904). 

Über  den  Gebrauch  im  Deutschen:  W.  E.  Lidforss,  Beiträge 
zur  Kenntnis  von  dem  Gebrauch  des  Konjunktivs  im  Deutschen. 
(1862.  Upsala,  Universitets  Ärskrift).  L.  Bock,  Über  einige  Fälle 
des  Konjunktivs  im  Mhd.  Strassburg  1878  (QF.  XXVII).  L.  Wein- 
gartner,  Die  von  L.  Bock  aufgestellten  Kategorien  des  Konj.  im 
Mhd.,  untersucht  an  Hartmann  von  Aue.  Troppau  1881  (Progr.). 
E.  Pantl,  Die  von  L.  Bock  aufgestellten  Regeln  über  den  Gebrauch 


§  109.]  Indikativ.  217 

die  Aussage  des  Verbums  als  Gegenstand  subjektiven  Vor- 
stellens  bezeichnet,  im  Indikativ  abstrahiert  der  Redende  von 
der  Einmischung  jedes  subjektiven  Momentes;  er  hat,  als  Modus 
angesehen,  eigentlich  nur  negative  Bedeutung.  Imperativ  und 
Optativ  kann  man  als  subjektive  Modi  bezeichnen,  den  Indi- 
kativ nicht  mit  demselben  Recht  als  objektiven;  er  drückt  die 


des  Konj.  im  Mhd.  untersucht  an  den  Schriften  des  Meister  Eckart. 
Freistadt  in  O.-Österreich.     1901.  1902  (Progr.). 

Über  den  Gebrauch  einzelner  Autoren:  M.  Rannow,  Der 
Satzbau  des  ahd.  Isidor  im  Verhältnis  zur  lat.  Vorlage.  (Schriften 
zur  g-erm.  Phil.  hrsg.  von  Rödiger.  Heft  2.  Berlin  1888).  K.  Förster, 
Gebrauch  der  Modi  im  ahd.  Tatian.  Kiel  1895  (Diss.).  H.  Wunder- 
lich .  Beiträge  zur  Syntax  desBoethius.  Berlin  1883  (Diss.).  Heynisch, 
Der  Konj.  im  Alexanderlied  des  Pfaffen  Lamprecht.  Meiningen 
1890  (Progr.).  P.  Köhler,  Der  zusammengesetzte  Satz  in  den  Ge- 
dichten Heinrichs  von  Melk  und  in  des  Armen  Hartmann  Rede  vom 
glouben.  1.  Temporalsätze.  Berlin  1895.  (Diss.).  J.  Knepper, 
Tempora  und  Modi  bei  Walther  von  der  Vogelweide.  Lingen  1889 
(Diss.).  Holtheuer,  Der  deutsche  Konjunktiv  nach  seinem  Ge- 
brauch in  Hartmanns  Iwein.  ZfdPh.  Ergänzungsband  (1874)  S.  140 — 
182.  Star  Willard  Cutting*,  Der  Konjunktiv  bei  Hartmann  von 
Aue.  Germanic  Studies  (hrsg.  von  der  Univ.  Chicago  1894;  vgl. 
ZfdPh.  31, 410  f.  H.  Goehl,  Die  Modi  in  den  Werken  Wolframs 
von  Eschenbach.  Lpz.  1889  (Diss.).  Fr.  Berdolet,  Die  Modi  bei 
Neidhart  von  Reuenthal.  Tübing-en  1899.  (Diss.).  J.  P.  Hoskins, 
Über  die  Arten  der  Konjunktivsätze  in  der  Klage.  Berlin  1895. 
(Diss.).  H.  Rötteken,  Der  zusammengesetzte  Satz  bei  Berthold 
von  Regensburg.  Strassb.  1884  (QF.  53).  John  Kjederquist,  Über 
den  Gebrauch  des  Konjunktivs  bei  Berthold  von  Regensburg.  I.  Der 
Konj.  in  Hauptsätzen  indirekter  Rede  und  Absichtssätzen.  Lund 
1896  (Diss.).  R.  Neuse,  Über  Tempora  und  Modi  bei  Nicolaus  von 
Strassburg.  Lpz.  1892  (Diss.),  K.  Stolze,  Der  zusammengesetzte 
Satz  im  Ackermann  aus  Böhmen.  Bonn  1888  (Diss.).  W.  Cordes, 
Über  den  zusammengesetzten  Satz  bei  Nicolaus  von  Basel.  Bonn 
1889  (Diss).  E.  Rosendahl,  Untersuchung-en  über  die  Syntax  der 
Sprache  Albrechts  von  Eyb.  1.  Der  zusammengesetzte  Satz.  Hel- 
singfors  1895  (Diss.). 

Über  den  Modus  in  einzelnen  Satzarten:  Klinghardt,  S^^n- 
tax  der  got.  Partikel  ei.  ZfdPh.  8,  127  f.  289  f.  —  Relativsätze: 
F.  Ullsp erger,  Über  den  Modusgebrauch  in  mhd.  Relativsätzen. 
Schmichow  1884—86  (Progr.).  —  Temporale  Nebensätze:  R. 
Kynast,    Die   temporalen  Adverbialsätze  bei  Hartmann   von  Aue. 


218  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  109. 

Aussage  schlechthin  aus  und  wird  oft  auch  in  Sätzen  gebraucht, 
die  der  Redende  selbst  als  der  Wirklichkeit  entsprechend  nicht 
ansieht,  in  der  jüngeren  Sprache  noch  öfter  als  in  der  älteren. 
2.  Nur  Ausdruck  einer  Vorstellung  ist  der  Indikativ 
namentlich  überall,  wo  er  sich  auf  die  Zukunft  bezieht.  Im 
Futurum  berühren  sich  daher  Indikativ  und  Optativ  am  nächsten, 
und  gar  nicht  selten  hat  der  Gote  ein  griechisches  Futurum 
durch  den  Opt.  Präs.  wiedergegeben,  nicht  nur  da,  wo  man 
ihn  als  Modus  der  Aufforderung  ansehen  könnte,  z.  B.  Lc.  1, 13. 
Mc.  10,  7,  oder  als  Dubitativ,  z.  B.  Jh.  6,  68,  sondern  auch 
in  deliberativen  Fragen  und  selbst  in  Aussagesätzen  (§  113)^). 
Und  umgekehrt  brauchen  wir  unsere  Futurformen,  um  eine 
Aussage  als  Vermutung  zu  kennzeichnen,  nicht  nur  wenn  sie 
sich  auf  die  Zukunft,  sondern  auch  wenn  sie  sich  auf  die 
Gegenwart  oder  Vergangenheit  bezieht:  Er  wird  {wohl,  sicher) 
bald  Jcommen.  Er  wird  schon  da  sein.  Er  wird  schoji  ab- 
gereist sein.  Das  Fut.  II  brauchen  wir  sogar  öfter  in  diesem 
modalen  als  in  temporalem  Sinne.  Ja  in  manchen  Mundarten 
wird  das  Futurum  nur  modal  gebraucht^). 


Breslau  1880  (Diss.).  F.  Heyck,  Die  Temporalsätze  und  ihre  Kon- 
junktionen bei  den  Lyrikern  des  12.  Jh.  Berlin  1896  (Diss).  — 
Kausale  Nebensätze:  H.  Gering,  Die  Kausalsätze  und  ihre  Par- 
tikeln bei  den  ahd.  Übersetzern  des  8.  und  9.  Jh.  Halle  1876. 
F.Reinhardt,  Die  Kausalsätze  und  ihre  Partikeln  im  Nibelungen- 
liede. Aschersleben  1884 (Diss.).  —  Beding'ungssätze:  E.Weisker, 
Über  die  Bedingungssätze  im  Gotischen.  Freiberg  i.  Schi.  1880 
(Progr.).  M.  Erbe,  Über  die  Konditionalsätze  bei  Wolfram  von 
Eschenbach.  PBb.  5,1—50.  P.  Rothe,  Die  Konditionalsätze  in 
Gotfrids  Tristan.  Halle  1895  (Diss.).  J.  Hildner,  Untersuchungen 
über  die  Syntax  der  Konditionalsätze  bei  Burchard  Waldis.  Lpz. 
1899  (Diss.).  —  Konzessivsätze:  0.  Mensing,  Untersuchungen 
über  die  Syntax  der  Konzessivsätze  im  Ahd.  und  Mhd.  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  Wolframs  Parzival.  Kiel  1891  (Diss.).  H.  Kuhlmann, 
Die  Konzessivsätze  im  Nibelungenlied  und  in  der  Gudrun  mit  Ver- 
gleichung  der  übrigen  mhd.  Volksepen.     Kiel  1891  (Diss.). 

1)  In  anderen  Sprachen,  namentlich  im  Lateinischen,  vertritt 
der  im  Germanischen  erloschene  Konjunktiv  das  Futurum.  Delbr. 
4,  242  f.  320  f.  ^ 

2)  Gr.  4, 177.   183.     Wunderlich   1, 193.  331.    ßlatz  2, 507.   516. 


§  110.]  Imperativ  und  Optativ  Präsentis.  219* 

3.  Wenn  der  Indikativ  auch  nicht  als  Modus  der  Realität 
angesehen  werden  kann,  so  kommt  ihm  diese  Bedeutung  doch 
im  Vergleich  mit  den  anderen  Modi  zu,  und  in  diesem  Sinne 
brauchen  und  empfinden  wir  ihn  in  Sätzen,  denen  nach  gemeinem 
Sprachgebrauch  ein  subjektiver  Modus  zukommt.  So  nament- 
lich wenn  er  statt  eines  Imperativs  gebraucht  wird;  z.  B.  Du 
bleibst  Jiierl  Du  wirst  hier  bleibenl  Schiller  Teil  3,3  Du 
wirst  den  Äpfel  schiessen  von  dem  Kopf  des  Knaben.  Wall. 
Tod  2,  1  Du  übernimmst  die  spanischen  Regimenter,  machst 
immer  Anstalt  und  bist  niemals  fertig,  und  treiben  sie  dich 
gegen  raich  zu  ziehen,  so  sagst  du  ja  und  bleibst  gefesselt 
stehn.  Die  Mitwirkung  des  anderen,  die  der  Imperativ  voraus- 
setzt, wird  hier  gar  nicht  in  Betracht  gezogen;  die  Aussage 
wird  als  Tatsache  der  Gegenwart  oder  Zukunft  ausgesprochen 
(Erdm.  §  141).  Vgl.  auch  den  Indikativ  Prät.  statt  des  Irrealis 
in  Bedingungssätzen  §  134,  2  f. 

Anm.    Während   in  dem  potentialen  Futurum  die  Bedeutung 
des  Indikativs  herabgesetzt  wird,  wird  sie  gewissermassen  gesteigert,, 
wenn    eine    unvollendete   Handlung    als    abofeschlossen   bezeichnet 
statt  des  Präsens  das  Perfektum  gebraucht  wird;  §  99. 

Die  subjektiven  Modi  im  Hauptsatz. 

110.  1.  (Imp.  und  Opt.  Präs.  als  Voluntativ.)^)  Im  Optativ 
werden  die  Formen  des  Präsens  und  Präteritums,  obwohl  sie 
mit  demselben  Suffix  gebildet  sind,  also  einst  auch  demselben, 
Zweck  gedient  haben  müssen,  von  Anfang  an  so  verschieden 
gebraucht,  dass  sie  gesondert  behandelt  werden  müssen;  und 
anderseits  berührt  der  Opt.  Präs.  in  einer  seiner  Funktionen, 
sich  so  eng  mit  dem  Imperativ,  dass  er  trotz  der  abweichenden 
Bildung  nicht  ganz  von  ihm  getrennt  werden  kann.  Der 
Imperativ  bezeichnet  eine  Forderung,  der  Opt.  Präs.  kann 
einen  Wunsch  bezeichnen  und,  da  in  dem  Wunsch  eine  be- 
scheiden gestellte  Forderung  liegen  kann,  für  den  Imperativ 


AfdA.  20,  5.     Vgl.  auch  ZfdU.  17, 117,  wo  jedoch  die  Bedeutung  der 
Form  verkannt  ist. 

1)  Gr.  4,  75  f.   80  f.    1253.     Erdmann   §  160.  164  f.     Wunderlich. 
1,  260  i.  276  f.  302  f.  308  f.    Blatz  2,  522  ff.  535. 


•220  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  110. 

eintreten.  Auch  herausfordernd  und  einräumend,  in  konzessivem 
Sinne,  können  beide  Modi  gebraucht  werden:  Geh  dochl  Meinet- 
wegen gehl  Er  möge  immerhin  gehenl 

2.  Der  Imperativ  erscheint  in  den  germanischen  Sprachen 
als  ein  dürftig-  entwickelter,  absterbender  Modus.  Schon  im 
Gotischen  weist  er  nur  sechs  Formen  auf,  alle  zum  Präsens- 
stamm gehörig  und  zur  Hälfte  von  den  entsprechenden  Formen 
des  Indikativs  nicht  unterschieden.  Im  Hochdeutschen  begeg- 
nen nur  noch  drei:  nim,  nemet,  nemames,  und  die  letzte  er- 
lischt schon  im  Ahd.;  nur  nim,  nemet  bleiben  übrig.  Für  die 
untergehenden  Formen  tritt  der  Optativ  ein.  Oft  werden  auch 
Umschreibungen  gebraucht,  notwendigerweise  da,  wo  die  Impera- 
tivformen fehlen.     Wir  fassen  die  einzelnen  Personen  ins  Auge. 

3.  In  der  dritten  Person  wird  schon  im  Gotischen  fast 
allgemein  der  Optativ  gebraucht;  Imperativformen  sind  nur 
noch  selten  belegt,  dreimal  im  Singular  (Mt.  27,42.  Mc.  15,32 
atsteigadau  Kaiaßdiiu;  Mt.  27,43  lausjadau  pucrdcyöuj),  einmal 
im  Plural  (1  Kor.  7, 9  liugandau  fa^ilcrdTuucTav).  Im  Hoch- 
deutschen steht  nur  noch  der  Optativ  zur  Verfügung;  z.  B.  0. 
Ludw.  5  themo  st  iamer  heilV.  5,23,211  thin  herza  mir  gilouhe. 
Walther  18,  25  zuo  fliege  im  aller  scelden  flu^,  niht  wildes  mtde  sinen 
schu^,  sin  hörn  erhelle  im  und  er  schelle  im  wol  nach  irew^  und 
konzessiv.  Walther  53,  32  ein  ander  wei^  die  stnen  tvol,  die  loh  er 
äne  mtnen  zorn;  hab  ime  icts  unde  wort  mit  Tnir  gemeine,  lob  ich 
hie,  s6  lobe  er  dort.  Ebenso  im  Plural:  0.  1,1,123  nu  frewen  sih 
es  alle;  Walther  13, 35?/i6  tuon^  durch  got  und  durch  ir  selber  ere\ 
99,  31  nu  hüeten,  swie  si  dunke  guot.  Im  Singular  brauchen  wir 
die  Form  auch  jetzt  noch,  wünschend:  z.  B.  Lang  lebe  der 
Königl  Behüte  Gottl  Er  trete  einl  Nu  sag  einer \  oder  heraus- 
fordernd und  einräumend:  Man  nenne  mir  doch  einen  etc.; 
aber  im  Plural,  wo  Indikativ  und  Optativ  zusammengefallen 
sind,  pflegen  wir  sie  zu  meiden.  Nur  in  der  höflichen  plura- 
lischen Anrede  hat  sie  allgemeine  Geltung  und  in  den  Um- 
schreibungen mit  mögen  (§  112);  z.  B.  Nehmen  Sie  Platzl 
Mögen  sie  uns  verfolgenl  Sonst  begegnet  sie  selten,  z.  B. 
Schiller  Teil  2,  2  Gehn  einige  und  zünden  Reisholz  an\ 

4.  In  der  1  PL,  die  gebraucht  wird,  wenn  der  Redende 
sich  in  die  Aufforderung,  die  er  an  eine  oder  mehrere  richtet, 


§  110.]  Imperativ  und  Optativ  Präsentis.  221 

einschliesst  (Adhortativ),  steht  im  Gotischen  gewöhnlich  die 
mit  dem  Indikativ  übereinstimmende  Imperativform  auf  -arriy 
obwohl  der  griechische  Konjunktiv  den  Gebrauch  der  Optativ- 
form nahe  legen  musste;  z.  B.Lc.  15,  23?^;25amtüai7öf,  euqppavGiJüiLiev! 
Lc.  8,  22  galeipam,  bi^Xeujjuev!  etc.;  verhältnismässig  selten  begegnet 
der  Optativ,  nur  in  den  ersten  10  Kapiteln  des  Lucas  und  in  den 
Episteln  (regelmässig  in  den  negativen  Sätzen;  Bernh.  §179,2). 
Auch  in  den  ältesten  hochdeutschen  Denkmälern  wird  meistens 
die  mit  dem  Indikativ  übereinstimmende  Form  auf  -mes  ge- 
braucht, so  namentlich  sehr  oft  von  Otfried,  der  diese  Form 
fast  auf  den  Adhortativ  beschränkt  hat,  hier  aber  beinahe  aus- 
nahmslos braucht;  z.B.  1,18,33  farames;  1,28,1  bittemes 
etc.  (OS.  1  §  33.  Br.  §  313).  Aber  früh  werden  auch  Optativ- 
formen gebraucht,  so  stets  in  den  Hymnen,  singem  psallamus! 
petoem  oremus!  duruch  wacheem  pervigilemus!  und  schon  im 
10.  und  11.  Jh.  sind  die  Formen  auf  -mes  ganz  verschwunden. 
In  dem  jüngeren  Adhortativ  haben  wir  also  einen  Optativ  an- 
zuerkennen. Beispiele  sind  im  Mhd.  häufig;  z.  B.  Nib.  1541  nü 
binden  üf  die  helme^  oder  mit  Pron.  Nib.  887  7iü  rümen  tvir  den  tan, 
Walther  46,  22  gen  ivir  zuo  des  meien  höhgezUe.  Auch  uns  ist  die 
Konstruktion  ganz  geläufig,  aber  in  der  Literatur  erst  im 
18.  Jh.  durch  die  Schweizer  neu  belebt.  Als  Mendelssohn  1767 
ein  Buch  Iselins  rezensierte,  bemerkte  er,  ein  ganzes  Kapitel 
darin  werde  durch  diese  fremde  Bildung,  die  noch  dazu  Zwei- 
deutigkeiten verursachen  könne,  sehr  unangenehm  zu  lesen, 
beinahe  unverständlich  ^). 

5.  Am  festesten  stehen  die  Imperativformen  in  der  zweiten 
Person;  die  Konkurrenz  des  Optativs  wird  hier  allmählich  ganz 
zurückgedrängt.  Im  Gotischen  finden  wir  ihn  nicht  selten- 
namentlich  um  etwas  zu  bezeichnen,  was  für  alle  Zukunft 
vorgeschrieben  wird,  einigemal  auch  bei  einer  auf  einen  ein- 
zelnen Fall  bezüglichen  Vorschrift,  die  nach  einer  gewissen 
Zeit  ausgeführt  werden  soll  (Delbr.  4,  392  f.);  z.  B.  Rom.  13,  3 
piup  taujaiSy  t6  dfaGov  iroiei;  besonders  mit  der  Negation, 
z.  B.  Lc.  9,3  ni  waiht  nimaip  in  wig,  \xr\bav  aipexe  eic;  xfiv  öööv;  Mt. 

1)  Scherer 2  S.  309  Anm.  Erdm.  §  4.  Kurelmeyer,  the- 
historical  development  of  the  first  person  plural  imperative.  Strass- 
burg  1900;  vgl.  AfdA.  27,  270  f. 


222  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  111. 

5,  21  ni  maurprjais,  ou  qpbveuaeK;,  du  sollst  nicht  töten,  27  ni  hörinös, 
Ol)  luoixeuaeic;,  33  ni  ufarswarais^  ip  usgihais,  oök  ^TriopKriaeic;,  diro- 
ÖLÜöeK;  hi.  Mc.  11,3  jah  jahai  Jvas  iggqis  qipai :  dufve  pata  taujats? 
qipaits,  Kai  ^dv  tk;  öjuiv  eiirr),  ti  7roi€iT€  toOto,  eiiraTe  (vgl.  auch 
%  149,1).  Auch  im  Ahd.  begegnet  er;  oft,  wohl  unter  dem 
Einfluss  des  Lateinischen,  bei  Notker,  z.  B.  Ps.  6,  2  (2, 14,  25) 
ne  irrefsest  du  mih,  ne  corripias  me;  aber  bei  Otfried  meist 
nur  von  Verben,  die  keinen  Imperativ  bilden  (§  111).  Später 
ist  nur  der  Opt.  von  mögen,  {wollen,  müssen)  in  Umschrei- 
bungen üblich  geblieben  (§  112). 

6.  In  der  1  Sg.  konnte  selbstverständlich  nur  der  Opt. 
gebraucht  werden;  z.  B.  Philem.  20  jai,  hröpar,  ik  peina  niu- 
tau  in  fraujin,  vai,  dbeXcpe,  ifw  öov  övai)ur|v  (Luther:  gönne 
mir,  dass  ich  mich  an  dir  ergötze);  0.  Hartm.  3  himide  ih  tha^ 
wi^i.  Doch  weicht  er  auch  hier  zurück,  seitdem  Ind.  und 
Opt.  in  der  ersten  Person  zusammenfallen.  Nur  von  Verben, 
die  den  Unterschied  bewahrt  haben,  brauchen  wir  ihn  noch: 
von  sein,  z.  B.  ich  sei,  gewährt  mir  die  Bitte,  in  eurem 
Bunde  der  dritte,  und  von  mögen  in  Umschreibungen,  z.  B. 
Möge  ich  ihn  nie  wiedersehen. 

IIL  (Verba  ohne  Imperativ.)  1.  Einige  Verba:  g.  wisan, 
das  Verbum  wollen  und  die  Präterito-Präsentia  entbehrten  ur- 
sprünglich den  Imperativ;  nur  bei  wenigen  tritt  im  Hoch- 
deutschen eine  Ergänzung  des  Formensystems  ein.  Zu  wesaii 
ist  schon  im  Ahd.  der  Imperativ  wis^  weset  üblich,  z.  B.  0.  1,  3,  29 
ni  wis  zi  dumpmuati;  2, 17,  20  ofan  weset  thrdto.  Ein  Imperativ  von 
wiesen  ist  zuerst  bei  Williram  belegt,  97,2  da^  wisset;  im  Mhd. 
kommt  der  Imperativ  von  gan  hinzu:  günne,  enkünne  (§  54).  Von 
den  andern  begegnen  Imperative  nur  als  kühnere  Neubildungen,  die 
nicht  zum  festen  Bestand  der  Sprache  gehören;  von  loollen  z.  B. 
schon  bei  Gotfried  Trist.  9925  minne,  da^  dich  minne,  welle  da^ 
dich  welle  (Erdm.  §  161). 

2.  Wenn  diese  Verba  im  Modus  der  Forderung  aus- 
gesprochen werden  sollten,  musste  also  notgedrungen  der  Optativ 
gebraucht  werden,  doch  kommt  auch  er  nicht  von  allen  in 
diesem  Sinne  vor,  weil  die  Bedeutung  der  Verba  dem  Modus 
widerstrebte.  Sehr  häufig  sind  die  Optativformen  des  Verbums 
sein  im  Gotischen;   auch  im    Hochdeutschen  fehlen   sie  nicht 


§  111.]  Umschreibung  des  Imperativs,  223 

z.  B.  0.  3,23,8.  24  thes  sist  thu  mir  giloubo;  2,3,40  sit  io 
wakar  (ebenso  2,  19,  19.  4,  7,  53.  62.  83);  1,  11,  18  al  sit  13 
hrieventi  etc.  Allmählich  verdrängen  sie  die  Formen  wis, 
weset  und  veranlassen  die  Bildung-  einer  neuen  Imperativform 
sei,  —  Ferner  erscheinen  fordernde  Optative  von  wissen, 
wollen,  müssen,  mögen  und  einigen  andern,  die  im  Hd.  fehlen 
oder  früh  erlöschen;  z.  B.  Mt.  27,4  pu  wlteis,  ov  ömj€i,  lat.  tu 
videris;  0.2,11,65  wi^tzt  äna  bäga;  2,20,13  wi^tt  ir  tha^',  Diut. 
1, 183^  magis,  xoiip^,  vale;  0.  5,  16,  35  zeichono  eigtt  ir  giivalt;  3, 13, 15 
ni  wolUs,  3, 14, 103  ni  tvollet'^  0.  2,4,  88  tha^  raua^tn  wir  hiwankön\ 
0.  Ludw.  32  fon  got  er  mua^i  haben  munt  (Gr.  4,  75.  84),  Üblich 
sind  nur  die  Optative  von  wollen  und  mögen  in  Umschreibungen 
geblieben  (§  112). 

3.  Auch  im  zusammengesetzten  Perfektum  und  im  Passivum 
muss  der  Optativ  den  Imperativ  vertreten;  z.B.  0.4,19,47 
sis  Mmunigot  =  monetor ;  MF.  5,  22  der  habe  si  gegrüe^et  von 
mir.  Einen  häufigen  Gebrauch  schliesst  die  Bedeutung  der 
Formen  aus.  Über  gelegentliche  Bildung  wirklicher  Imperativ- 
formen zum  Passiv  und  zum  Perfektum  s.  §  75,  5.  78,  5. 

112.  (Umschreibungen  des  Imperativs.)  1.  In  demselben 
Sinn  wie  der  Imperativ  und  der  fordernde  Optativ  werden 
oft  die  Verba  müssen,  wollen,  sollen,  mögen,  auch  Jcönnen 
und  lassen  mit  dem  Infinitiv  gebraucht.  Bald  stehen  diese 
Hülfszeitwörter  des  Modus  im  Optativ,  bez.  Imperativ,  bald 
im  Indikativ.  In  dem  ersten  Falle  ist  der  Modus  noch  durch 
die  Form  des  Verbums  bezeichnet,  in  dem  andern  nur  durch 
seine  Bedeutung;  für  den  Forderungssatz  ist  ein  Aussagesatz 
eingetreten. 

2.  Der  Optativ  von  müssen  mit  dem  Infinitiv  steht  dem 
einfachen  Verbum  gleich;  müssen  bezeichnet  in  diesen  Ver- 
bindungen nicht  die  Verpflichtung,  sondern  hat  seine  alte  Be- 
deutung ^statt  haben';  z.  B.  0.  Ludw.  93  niazan  mua^i,  es 
möge  statt  haben,  dass  er  Nutzen  habe  =  nia^e  in  v.  92. 
Walther  57,  14  lange  müe^e  ich  leben  darinne,  lange  möge 
es  mir  beschieden  sein  dort  zu  leben.  Iw.  5530  got  müe^e 
iuch  bewarn.     Der   Gebrauch    ist    im  Mhd.    und    später    sehr 


224  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  112: 

beliebt;  jetzt  ist  er  veraltet,  wir  brauchen  mögen  (Wunderlich 
1,  312  f.). 

3.  Der  Optativ  von  wollen  bezeichnet  rücksichtsvoller 
als  der  einfache  Optativ  die  Forderung;  sie  richtet  sich  nicht 
auf  die  Handlung  unmittelbar,  sondern  auf  den  Willen  de^- 
Subjekts;  z.  B.  0.  3,  20,  132  himidan  thü  ni  wolles.  So  auch 
noch  jetzt:  Gott  wolle  euch  schützen.  Wollen  die  Herren 
Platz  nehrnenl  und  halb  abhängig:  Wir  bitten^  du  wollest 
uns  gnädig  sein.  Doch  hält  sich  der  Gebrauch  in  engen 
Grenzen  (Wunderlich  1,  312).  —  Durch  den  Ind.  wir  wollen 
kann  die  1  PI.  umschrieben  werden:  gemes  wir  wollen  gehen; 
der  Redende  lässt  die  angeredete  Person  an  seiner  Entschliessung 
teil  nehmen. 

4.  Der  Imperativ  von  lassen  (=  sinere)  wird  oft  in 
hypothetischen  und  konzessiven  Vordersätzen  gebraucht,  z.  B. 
Walther  91,  1  lät  mich  zuo  den  frouwen  gän,  so  ist  da^  min 
aller  meiste  klage.  66,  33  lät  mich  an  eime  stahe  gän  und 
werben  umhe  werdekeit  .  .  .  so  hin  ich  doch  etc.  Dann  auch 
selbständig  in  konzessivem  Sinne:  Lass  es  (doch)  regnenl  Lasst 
ihn  nur  kommen !  und  für  den  Adhortativ :  Lass  od.  lasst  uns 
gehen,  eig.  gestattet,  dass  wir  gehen.  Über  Alter  und  Verbreitung 
dieser  Höflichkeitsformel  s.  Gr.  4,  88  f.     Wunderlich  1,  270. 

5.  Die  Indikative  von  sollen  und  mögen  können  an 
sich  keine  Forderung  bezeichnen ;  der  Eedende  deutet  sie  nur 
an,  indem  er  durch  jenes  auf  die  Verpflichtung,  durch  dieses 
auf  die  Fähigkeit  des  Subjekts  hinweist,  die  Handlung  aus- 
zuführen; z.  B.  0.  Ludw.  25  thes  scal  er  gote  thankön  =  v.  26 
thes  thankö'.,  1,26,6  Mar  mag  er  lernen  hier  kann  (und 
möge)  er  lernen,  mag  ist  höflicher,  scal  gebieterischer;  aber 
der  Unterschied  verschwindet;  z.  B.  Nib.  1094,2  got  sol  iuch 
hewarn.  2182,  1  da^  ensol  niht  wellen  got.  Walther  58,  23 
nu  mugen  si  doch  bedenken  die  gemeinen  not.  Für  mag  in 
seiner  ursprünglichen  Bedeutung  brauchen  wir  jetzt  lieber 
kann  :  Du  kannst  gehen.  Um  die  Forderung  zu  bezeichnen, 
pflegen  wir  das  Verbum  in  den  Optativ  zu  setzen:  Möge  Gott 
euch  schützenl  Mögen  sie  glücklich  heimkehren \  In  dieser 
Verwendung,  in  der  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Verbum» 


§  113.]     Der  Optativ  Präsentis  als  Dubitativ  u.  Deliberativ.  225 

ganz  vergessen  ist,  ist  es  an  die  Stelle  des  älteren  mile^e 
getreten  und  die  gev^öhnlicbste  Imperativumschreibung  geworden. 
Über  die  Sitte  suln  c.  Inf.  neben  dem  Imperativ  zu  gebrauchen  s. 
§  149,7;  über  den  Ersatz  des  Imperativs  durch  einen  Aussagesatz 
im  Indikativ  ^109;  durch  einen  Fragesatz  Gr.  4, 84.  Wunderlich 
1,263.  Über  unvollkommne  Imperativsätze  (Inf.,  Part.  Prät.  u.  ä.: 
aufstehn\  aufgestandenl)  s.  Bd.  IV. 

Der  Optativ  Präsentis^). 

113.  1.  (A.Fragesätze;  Dubitativ,  Deliberativ.)  In  Frage- 
sätzen drücken  die  ersten  Personen  des  Opt.  Präs.  Zweifel  und 
Unentschlossenheit  des  Redenden  aus  (Dubitalivus),  die  übrigen 
Zweifel  und  Verwunderung  (Deliberativus) ;  in  der  ersten 
Person  berührt  sich  der  Modus  am  nächsten  mit  dem  Adhor- 
tativ  (§  110,4),  in  den  andern  mit  dem  Potentialis.  Im  Goti- 
schen ist  der  Gebrauch  noch  ganz  lebendig;  z.  B.  1  Pers.  Jh.  12, 27 
Iva  qipau,  ti  eiTTUu  Jh.  6,  68  du  hamma  galeipaima^  dTr€\€uaö|ue0(t. 
Mt.  11,  \Spu  is  sa  qimanda  pau  anparizuh  heidaima,  irpoaboKuJiuev.  — 
Andere  Personen:  Lc.  1,34  fvaiwa  sijai  pata  (eöTai),  pand^  ahan 
ni  kann,  wie  wäre  das  möglich,  könnte  od.  sollte  das  geschehen; 
Jh.  7,  31  jah  qepun,  ei  Xristus  pan  qinnip  ibai  managizeins  taik- 
nins  taujai,  öti  ö  Xpiaxö^  öxav  e\Gri  |ur|Ti  -nXeicva  arnueia  TToniöei;  wird 
er  auch  mehr  Zeichen  tun  als  dieser?  Jh.  7,35  qepun  du  sis  missö  : 
Jvadrß  sa  skuli  gaggan,  pei  weis  ni  bigitaima  ina?  nihai  in  dista- 
hein  piudö  skuli  gaggan  .  .  Iva  sijai  pata  waurd  patei  qap,  ttgO 
oijTO<;  ju^XXei  Trop€ueö0ai  .  .  |Liri  ei«;  ri\v  biaaTropdv  |u^\\€i  Tropeüeöeai  .  . 
Tic,  eaxiv  gutoc;  6  Xöyoc;;  wo  will  dieser  hingehen  .  .  will  er  unter  die 
Griechen  gehen  .  .  was  ist  das  für  eine  Rede.  1  und  3  Pers.  neben- 
einander: Lc.  7,31  fve  nu  galeikö  pans  mans  jah  Ive  sijaina  galei- 
kai,  Tivi  oöv  öiuoiujöuu  .  .  Kai  tivi  eiaiv  öjlioioi;  wem  soll  ich  vergleichen 
.  .  und  wem  sind  sie  gleich.  Gewöhnlich  bezieht  sich  die  Aussage 
auf  die  Zukunft,  und  oft  entspricht  der  got.  Opt.  einem  gr.  Futurum.  — 
Im  Hochdeutschen  stirbt  der  Gebrauch  früh  ab.  Die  1  Pers. 
ist  noch  durch  Notker  Ps.  58,  14  (2,  224,  17)  belegt:  wa^ 
tuoien  wirs  bruodera,  quid  faciemus  fratres?  die  2  P.  durch 
0.  4,  24,  8  thu  sus  inan  nu  lä^es  und  du  wolltest  ihn  so  frei 
lassen  ?  Aber  Walther  55,  3  ja  friunt,  wa^  ich  von  friunden 
sage  bedeutet  nicht  'was  soll  ich  sagen'  (Knepper  S.  41),  son- 


1)  Delb.  4,  394.  Gr.  4, 177.  PBb.  29,  204.  Erdm.  §  166.  Wunder- 
lich 1,327—331. 

W.  Wiimanns,  Deutsche  Grammatik.  III,  15 


226  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  113. 

dern  'was  rede  ich  von  Freunden'  (Ind.).  Und  wenn  wir  sagen: 
Was  tu  ich  nun?  Was  tun  wir  nun,  so  verbinden  wir  damit 
zwar  dubitativen  Sinn,  aber  die  Verbalformen  empfinden  wir 
als  Indikative.  Wo  wir  den  Modus  ausdrücken  wollen,  brauchen 
wir,  wie  die  Beispiele  zeigen,  modale  Hülfsverba,  besonders 
sollen  und  wollen,  oder  irrealen  Opt.  Prät.  (§  116). 

Anm.  1.  In  der  Form  abhäng-ig'er  Sätze  kommen  solche  Fragen 
auch  im  Hd.  vor,  im  Opt.  Fräs.  z.  B.  0.  4, 26,  33  ziu  [^zi  wiu]  sie 
nan  sus  nu  thuesben,  thia  fruma  in  imo  irlesgSn,  warum  sie  ihn 
nur  so  peinig-en,  das  Heil  in  ihm  auslöschen  ?  Walther  25, 2Q  ob 
ieman  spreche,  der  nu  l'€be,  da^  er  gescehe  etc.  Im  Opt.  Prät.,  auf  die 
Vergangenheit  bezüglich:  Is.  47,  8  huuer  eo  diz  gahörti,  quis  unquam 
audiverit  tale !  0.  2,  6,  39  wa^  er  Uwes  wunni,  was  er  doch  leider  er- 
duldet hat!  Vgl.  auch  got.  Jh.  7,48  sai  jau  ainshun  pize  reike 
galaubidedi  imma?  iir]  tk;  ^TriöTeuaev,  Wie  jene  aus  dem  Sinne  der 
Zuhörer  gesprochenen  Fragen,  durch  die  Wolfram  die  Erzählung 
zu  unterbrechen  liebt  (Frz.  23,11.  36,22.  74,2.  87,25),  setzen  diese 
Fragen  einen  Hauptsatz  voraus,  der  keinen  sprachlichen  Ausdruck 
gefunden  hat.  §  115,4.     Gr.  4,76.  Behaghel,  Zeitformen  S.  182  f. 

Anm.  2.  In  der  1  PI.  kommt  neben  der  Form  auf  -aima  auch 
die  auf  -am  vor;  z.  B.  Mt.  6,  31  Iva  matjam  {(pdf{u\xev)  aippau  Iva 
drigkam  (Triuujuev)  aippau  Jve  wasjaima  (irepißaXuuiLieGa);  Mc.  4,  30  Jv§ 
galeiköm  (öjuoiajauj|uev)  piudangardja  gudis  jah  in  Jvileikai  gajukon 
gäbairam  (eOuiuev)  p6.  Die  Form  ist  nicht  als  Ind.  (ZfdPh.  8,  10), 
sondern  als  der  Imperativische  Adhortativ  (§  110,4)  aufzufassen; 
vgl.  Delb.  4,  391. 

2.  (B.Aussagesätze;  Potentialis.)  Am  wenigsten  behauptet 
sich  der  Opt.  Präs.  in  Aussagesätzen,  um  eine  Handlung  als 
nur  vorgestellt,  als  möglich  oder  nur  zukünftig  zu  bezeichnen.  — 
Im  Gotischen  findet  er  sich  öfters,  namentlich  in  Bedingungs- 
sätzen: z.B.  1  Kor.  13,3  jabai  fraatjau  allös  aihtins  nieinös  jah 
jabai  atgibau  leik  mein,  ei  g abrann jaidau,  ip  friapwa  ni  habau, 
ni  ivaiht  bötös  mis  tau  jau,  kav  (puj|uiauu  —  Trapaöuj  —  ^x^>  oubev 
cu(peÄ.ou|uai  =  wenn  ich  gäbe  —  so  würde  es  mir  nichts  nützen. 
Jh.  8,  55  Jah  jabai  qepjau,  patei  ni  kunnjau  ina,  sij  au  galeiks  izwis 
liugnja,  fedv  eiiru)  —  eao|aai  —  so  ich  würde  sagen  —  so  würde  ich  sein. 
Ausserhalb  des  konditionalen  Satzgefüges,  aber  doch  eine  bedingte 
Aussage  bezeichnend  Phil.  4,  9  patei  jah  galaisidedup  izwis  — 
pata  taujaip\  jah  gup  gawairpeis  sijai  mip  izwis,  ä  Kai  eiudGexe  — 
Tttöxa  Trpdaö6Te.  Kai  6  Oeöq  Tfjc;  elprjvric;  ^axai  )ne0'  ujuüjv  =  so  wird  der 
Herr  des  Friedens  mit  euch  sein.  Ebenso  Gal.  5, 10.  6, 4.  Rom.  11,35. 
Im  Griechischen  steht  überall  das  Futurum.  Andere  Beispiele  §  149,2. — 


§  114.]  Der  Optativ  Präteriti.  227 

Dieser  Gebrauch  des  potentialen  Optativ  Präs.  ist  schon  aus 
dem  Ahd.  nicht  mehr  sicher  zu  belegen.  Zwar  begegnen  ein- 
zelne Sätze,  in  denen  man  den  Modus  als  Potential  auffassen 
kann,  aber  die  Auffassung  ist  nirgends  geboten.  Als  Modus  der 
Forderung*  lässt  er  sich  verstehen  im  Hildebrandslied  v.  58  der  si 
doh  nu  argosto  östarliuto,  der  dir  nu  utges  warne.  —  Ein  abhän- 
giger Satz  ist  0.  1,1,85  ni  si  thiot  etc.i)  —  Wo  wir  im  Gotischen 
"den  Potential  finden,  können  wir,  wenn  ein  Gegensatz  zur 
Wirklichkeit  stattfindet,  wie  in  den  beiden  ersten  Beispielen, 
den  Opt.  Prät.  brauchen,  sonst  setzen  wir  den  Indikativ  und 
bezeichnen  den  Modus  durch  Adverbia  oder  Hülfszeitwörter. 
Anm.  3.  Dass  das  Germanische  von  wollen  im  Präsens  nur 
den  Optativ  besass  (g.  iciljau),  ist  wohl  aus  seiner  Verbindung  mit 
dem  abhängigen  Verbum  zu  erklären.  Der  Willensinhalt,  den  dieses 
bezeichnet,  ist  nach  dem  Präsens  immer  nur  etwas  Vorgestelltes, 
nicht  etwas  Wirkliches.  Im  Prät.,  wo  dies  Verhältnis  nicht  stattfindet, 
stehen  Ind.  und  Opt.  neben  einander  (g.  wilda,  wildedjau).  Ebenso 
ist  der  Opt.  ih  wäne,  den  Otfried  einigemal  braucht  —  z.  B.  1,  25,20 
ih  icäne,  therSr  fidle  alla^  tha^  ih  wille  —  zu  erklären.  Dagegen 
kann  man  megi^  1,  18,  4.  4,  12,  58  auch  als  einen  durch  das  enklitische 
ij  umgelauteten  Optativ  {7nag  ^J)  auffassen.  OS.  1,  §  37  ff.;  vgl.  nach- 
her §  114,  5. 

Der  Optativ  Präteriti^). 

114.  1.  Während  der  Opt.  Präs.  im  Hauptsatz  wenig 
Dauerhaftigkeit  zeigt,  hat  der  Opt.  Prät.  im  Laufe  der  Zeit 
sein  Gebiet  erweitert,  nicht  nur  auf  Kosten  des  zurückweichenden 
Opt.  Präs.,  sondern  auch  des  Indikativs. 

2.  (Irrealis  in  Aussagesätzen.)  Meistens  bezeichnet  der 
Opt.  Prät.  die  Aussage  als  im  Gegensatz  zur  Wirklichkeit 
stehend,  sei  es  dass  Wahrnehmung  oder  Erkenntnis  sie  als 
der  Wirklichkeit  widersprechend  erweisen,  oder  dass  sie 
wenigstens  in  der  Gegenwart  nicht  erfüllt  oder  als  wirklich 
erkannt  ist.  Der  Modus  ist  also  ein  Ausdruck  der  Nichtwirk- 
lichkeit ;  jedoch  nicht  der  Nichtwirklichkeit  schlechthin,  sondern 


1)  Behaghel,   Modi  S.  18.   LEI.  24,  395.    Zeitfolge  S.  23    (Erdm. 
S.  123).    Wunderlich  1,  327. 

2)  Delbr.  4,  405  f.  PBb.  29,  262  f,  Mourek  S.  327.  Erdm.  §168—170. 
Wunderlich  1,320-326.  361-370.     Blatz  2,  526  f. 


228  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  114, 

einer  Nichtwirklichkeit,  die  in  der  Irrealität  einer  anderen 
Vorstellung  begründet  ist;  z.  B.  Bei  milderem  Wetter  würden 
die  Bäume  mehr  Früchte  angesetzt  haben.  Der  Fruchtansatz 
ist  gering,  das  milde  Wetter  fehlte.  Zeitunterschiede  fanden 
in  diesem  Modus  ursprünglich  keinen  Ausdruck.  Trotz  der 
präteritalen  Form  konnte  und  kann  er  auf  Gegenwart  und 
Zukunft  bezogen  werden  (§  102).  In  diesem  Sinne,  als  Modus 
der  bedingten  Nichtwirklichkeit,  wird  er  namentlich  und 
von  jeher  in  Bedingungssätzen  gebraucht,  z.  B.  in  Bezug  auf 
die  Vergangenheit:  Mt.  11,21  unte  ip  waurpeina  in  Tyre  joh 
Seidöne  landa  mahteis  pös  iraurpanös  in  izicis,  airis  pau 
idreigödedeina  ei  ey^vovTO  —  irdXai  av  juerevöricrav;  mit  Bezug 
auf  die  Gegenwart:  Jh.  5,46  jahai  allis  Mose  galaubidedeip, 
gapau-1  aubidedeip  mis,  ei  ydp  eTTiaT€U6T6  MuucreT,  eiTicrTeüeTe 
av  eiuoi. 

3.  Oft  ist  die  irreale  Bedingung  aus  dem  Zusammen- 
hang zu  ergänzen;  z.  B.  1  Kor.  7,  14  weihaida  ist  qens  so  un- 
galaubjandei  in  abin,  jah  gaweihaids  ist  aba  sa  ungalaubjands 
in  qenai\  aippau  barna  izwara  unhrainja  weseina,  sonst 
wären  eure  Kinder  unrein.  In  manchen  Fällen  tritt  sie  kaum 
ins  Bewusstsein;  so  namentlich  in  Sätzen  mit  dem  Adv.  gcrno. 
Auch  diese  können  mit  einem  Bedingungssatz  verbunden  sein; 
z.  B.  Walther  32,  24  swer  willecliche  Hprichet  jä^  der  gcebe  ouch  gerne, 
und  wcere  e^  denne  da.  Aber  oft  treten  sie  selbständig  auf  und 
werden  auch  kaum  als  bedingt  empfunden;  z.  ß.  Notker  Kap.  1,  11 
(1,  708,  5)  genuoge  getrunchtn  gerno,  viele  hätten  gern  getrunken, 
(eig.  hätten  begierig  getrunken,  sc.  wenn  sie  gekonnt  hätten).  Walther 
94,  38  gerne  sliefe  ich  iemer  da.  Oder  gar  Nib.  1690  diu  mcßre  ich 
weste  gerne,  wo  sich  Etzels  Bitte  um  Auskunft  höflich  in  die  Form 
eines  unerfüllten  Wunsches  kleidet. 

4.  Die  Gewohnheit,  den  Opt.  Prät.  als  Modus  einer  be- 
dingten NichtWirklichkeit  aufzufassen,  hat  ihm  auch  neben 
dem  Adv.  beinahe  {fast,  bald)  Eingang  verschafft.  Wir 
unterscheiden:  Er  hat  mich  beinahe  überredet  und  Er  hätte 
mich  beinahe  überredet.  Der  Indikativ  bezeichnet,  dass  das 
Ziel  nicht  ganz  erreicht,  der  Optativ,  dass  es  verfehlt  ist;  es 
würde  erreicht  sein,  wenn  nicht  irgend  welche  Umstände 
hindernd  dazwischen  getreten  wären.     In  der  älteren  Sprache 


§  114.]     Der  Optativ  Präteriti  als  Irrealis  in  Aussagesätzen.         229 

gilt  auch  für  diesen  Fall  der  Indikativ;  z.B.  Notker  Boet.  1,1 
(1,  8, 16)  Tö  haheta  rtiiJi  tiu  leida  stunda  näh  kenomen,  wie  im  Latei- 
nischen: pene  merserat  tristis  hora  caput  meum.  Walther  47,2  ich 
was  vil  nach  ze  nidere  tot.  Nib.  1612,  4  des  was  vil  nach  erstorben 
des  kilnec  Guntheres  man.  Und  nur  der  Indikativ  ist  eigentlich 
berechtigt.  Denn  wenn  auch  der  Opt.  in  der  Beziehung  der 
Aussage  auf  eine  irreale  Bedingung  wurzelt,  so  wird  sie  tat- 
sächlich doch  durch  die  Bedeutung  des  Adverbiums  beinahe 
ausgeschlossen:  Wenn  nicht  das  und  das  eingetreten  wäre^ 
hätte  er  mich  überredet,  nicht  hätte  er  mich  beinahe  über- 
redet. Der  Umstand,  dass  in  mhd.  hete  Ind.  und  Opt.  zusammen- 
fallen, mag  den  Gebrauch  des  Opt.  gefördert  haben;  z.  B.  Nib.  1604,4 
ich  hete  von  stnen  handen  vil  nach  gewunnen  den  tot. 

5.  Nicht  immer  setzt  der  Optativ  eine  irreale  Bedingung 
voraus;  er  kann  auch  in  andern  Beziehungen  der  Aussage  auf 
«ine  irreale  Vorstellung  begründet  sein,  sei  es  dass  diese  in 
einem  abhängigen  Satz  zum  Ausdruck  kommt,  oder  sich  mit 
«inem  Satzgliede,  einem  Infinitiv  oder  Substantivum,  verbindet ; 
z.  B.  Walther  42,  38  des  stät  in  trüren  übel  und  stüende  in  fröude 
wol  (die  Freude  ist  nicht  da).  Mc.  14, 4  mäht  wesi  auk  pata  balsan 
frabugjan,  es  wäre  möglich  gewesen  den  Balsam  zu  verkaufen  (es 
war  möglich  —  ribOvaxo  irpaGrivai  —  aber  er  ist  nicht  verkauft). 
O.  2,14,43  thu  Tnohtls  ein  gifuari  mir  giduan,  du  könntest  mir 
einen  Gefallen  tun.  Walther  56, 3  ich  wolte,  da^  ir  ougen  an  ir 
nacken  stüenden.  45,  25  er  solte  iemer  bilde  gießen,  der  da^  selbe 
bilde  gÖQ.  55, 16  owe,  du  soldest  selbe  dar.  Tat.  c.  158,  6  guat  wäri 
imo,  tha^  giboran  ni  wäri  ther  man,  bonum  erat  ei,  si  natus  non 
fuisset.  Walther  17,  23  dem  .^tuende  ba^,  da^  er  nie  spi^  gewünne. 
97;  34  ej  wcer  uns  allen  einer  hande  scelden  not,  da^  man  rehter 
fröude  schöne  pflcege  als  i.  57,23  Minne  diu  hat  einen  site:  da^  si 
d€n  vermiden  woldel  da^  gezceme  ir  ba^.  Nib.  1637  uns  wcßre  loirtes 
not,  der  uns  noch  Mute  gcebe  durch  sine  lügende  sin  bröt.  Oft 
könnte  man  in  solchen  Sätzen,  von  der  Nichtwirklichkeit  ab- 
strahierend (vgl.  §  134,  2),  auch  den  Indikativ  brauchen. 
Wie  0.  1,4,  54  sagt  ni  gibit  uns  tha^  alta,  tha^  thiu  jugund  scolta, 
das  Alter  gewährt  uns  nicht,  was  die  Jugend  zu  leisten  schuldig 
war  od.  schuldig  gewesen  wäre;  oder  4,  17, 15  sogar  neben  einem 
Bedingungssatz  im  Opt.  Prät.  ih  mag  giwinnan  heriscaf,  engilo  gi- 
zcelti,  ob  ih  i^  duan  ivolti,  ich  vermag  himmlische  Heerscharen  zu 
gewinnen,  wofern  ich  es  wollte,  so  könnte  es  auch  an  jener  aus 
Mc.  14,  4  angeführten  Stelle  heissen :  mäht  was  pata  balsan  frabug- 


230  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  115, 

jan^  oder  0.  2,  14,  43  du  mäht  ein  gifuari  mir  giduan.  Aber  der 
Optativ  ist  in  solchen  auf  eine  irreale  Vorstellung  bezüglichen 
Aussagen  je  länger  um  so  mehr  üblich  geworden.  Besonder» 
wird  er  gebraucht,  um  zu  bezeichnen,  dass  eine  Möglichkeit 
nicht  verwirklicht,  eine  Schuldigkeit  oder  ein  Verlangen  nicht 
erfüllt  ist,  bei  den  modalen  Hülfszeitwörtern  mögen,  wollen^ 
sollen,  können,  müssen,  dürfen  und  bei  wünschen.  Ferner 
bei  Ausdrücken  wie  es  wäre  leicht,  schwer,  gut,  nützlich, 
nötig,  zu  loeitläufig,  es  ziemte  sich,  es  wäre  a7i  der  Zeit 
u.  ä.,  wo  im  Lateinischen  der  Indikativ  steht  und  unausgedrückt 
bleibt,  ob  die  durch  den  abhängigen  Infinitiv  bezeichnete 
Handlung  eingetreten  ist  oder  nicht. 

Anm.  Oft  lassen  sich  auch  solche  Sätze  in  ein  konditionales 
Satzgefüge  umsetzen;  z.  B.  des  stüende  in  fröude  wol,  es  würde  ihnen 
wohl  anstehen,  wenn  sie  vergnügt  wären.  Walther  85, 18  im  uceve 
alze  senfte  ein  eichin  wit  umb  sinen  kragen,  es  wäre  eine  zu  milde 
Strafe,  wenn  er  gehenkt  würde. 

115.  (Irrealis  in  Wunschsätzen.)  1.  Den  Charakter  der 
Irrealität  zeigt  der  Optativ  Prät.  auch  in  Wunschsätzen.  Die 
Aussage  muss  nicht  gerade  etwas  Nichtwirkliches  bezeichnen. 
Den  Satz  Lehte  er  doch  nochl  kann  man  mit  Beziehung  auf 
einen  Verstorbeneu  gebrauchen;  er  kann  sich  aber  auch  auf 
einen  noch  Lebenden  beziehen,  über  dessen  Schicksal  man  im 
Ungewissen  ist;  immer  aber  bezeichnet  er  einen  Wunsch,  den 
der  Redende  mit  dem  Bewusstsein  ausspricht,  dass  er  die  Ver- 
wirklichung nicht  herbeiführen  kann.  Dadurch  unterscheidet 
sich  der  Modus  von  dem  Optativ  Präs.;  vgl.  Er  sterbel  und 
Stürbe  er  dochl 

2.  In  den  älteren  Denkmälern  begegnet  dieser  Gebrauch 
des  Opt.  Prät.  nicht  oft.  Das  Gotische  bietet  zwei  Belege, 
beide  mit  wainei  eingeleitet:  1  Kor.  4,8  wainei  piadanö- 
dedeip,  ocpeXov  eßaaiXeuaaxe,  utinam  regnetis,  wollte  Gott,  ihr 
herrschetet;  2  Kor.  11,1  wainei  uspulaidedeip,  öcpeXov  dveixeaOe, 
utinam  sustineretis.  Otfried  braucht  die  Konstruktion  nicht; 
(die  Beispiele,  die  Erdm.  §  167  anführt,  sind  untergeordnete 
Sätze),  wohl  aber  Notker  B.  1,31,21  wolti  got,  habetin  wir 
deheina,  utinam,  esset  ulla!   1,98,  2  wolti  got,  erwundin  dise 


§  115.J     Der  Optativ  Präteriti  als  Irrealis  in  Wunschsätzen.  231 

zite,  utinam  redirent!  Viele  Belege  bietet  das  Mhd.  z.  B. 
Walther  70,  10  wesse  ichy  war  si  wollen  strichen]  75,  8  öwSy 
gescehe  ichs  under  Jcranzel  Damentlich  nach  wan:  Walther 
12,  28  wan  woltens  an  die  heidenschaftl  Parz.  135,  19  ivan 
Jcoem  mir  doch  derselbe  man\  etc.  Auch  im  zusammen- 
gesetzten Perf.;  z.  B.  En.  2192  hedet  ir  doch  ein  Mndelin  an 
mir  gewonnen]  10772  ouwi  wan  hedde  ich't  verswegenl  l.Büchl. 
1886  wan  wcere  er  erhangen]  Ebenso  ist  im  Nhd.  der  Ge- 
brauch ganz  geläufig;  z.  B.  Schiller  Jgfr.  3,  1  Frommer  Stab, 
0  hätt  ich  nimmer  mit  dem  Schwerte  dich  vertauscht]  Hätt 
es  nie  in  deinen  Zweigen,  heiige  Eiche,  mir  gerauscht]  Wärst 
du  nimmer  mir  erschienen,  holde  Himmelskönigin] 

3.  Umschreibungen  mit  müssen^  sollen,  wollen  sind  auch 
hier  gebräuchlich;  z.  ß.  Walther  112,3  mUeste  ich  noch  geleben, 
da^  ich  die  rösen  mit  der  rninnecllchen  solte  lesen]  Iw.  1660  ouwt 
wan  solde  si  nü  pflegen  gebcerde  nach  ir  güetel  Walther  98,  12  hei 
sollen  si  zesamene  komenl  69,24  owe  zvoldest  du  mir  h&lfen,  vrouwe 
min]  39,6  möhte  ich  versläfen  des  winters  ä?^  =  könnte  ich  doch 
verschlafen!  In  Hartmanns  Iwein  begegnet  der  einfache  Konj.  Prät. 
nie,  wohl  aber  mac  und  sol  mit  Inf.  Holtheuer  S.  149.  —  Jetzt 
wird  mit  ganz  verblasster  Bedeutung  wollte  gebraucht,  z.  B. 
Wollte  es  doch  regnen]  und  namentlich  möchte\  nie  würde 
(vgl.  §102,3). 

4.  Dass  wir  den  Opt.  Prät.  als  Ausdruck  des  Wunsches  in 
selbständigen  Sätzen  brauchen,  scheint  erst  das  Ergebnis  allmäh- 
licher Entwickelung  zu  sein  (vgl.  §  113.  A.  l).  Die  gotischen 
Belege  charakterisiert  das  einleitende  wainei  (d.  i.  wai,  neiy 
schade,  dass  nicht!)  als  Nebensätze.  Die  ahd.  mit  wolti  got  einge- 
leiteten Sätze  lassen  sich  als  konditionale  Satzgefüge  auffassen, 
als  Aussagesätze,  mit  denen  man  wünschenden  Sinn  verband; 
'Wenn  Gott  wollte,  würden  diese  Zeiten  wiederkehren'.  —  Auf 
konditionalen  Sätzen,  neben  denen  der  Hauptsatz  unaus- 
gesprochen geblieben  ist,  beruhen  vermutlich  die  mhd.  Sätze 
wie:  owe,  gescehe  ich  si  under  kränze]  dh.  (wie  würde  ich 
mich  freuen),  wenn  ich  sie  sähe;  die  Interjektionen,  die  so 
oft  diesen  Wunschsätzen  vorangehen,  sind  der  unartikulierte 
Ausdruck  der  schlummernden  Vorstellung.  Nie  haben  diese 
Wunschsätze  die  Wortstellung  des  Hauptsatzes.  —  Die  Sätze 


232  Gebrauch  der  Modi  im  Hauptsatz.  [§  116. 

mit  wan  endlich  beruhen  auf  indikativischen  Fragesätzen,  die 
im  Sinn  einer  Aufforderung  ausgesprochen  wurden:  'Warum 
kommst  du  denn  nicht  =  So  komm  doch!'  Andere  Wunsch- 
und Forderungssätze  tragen  den  Stempel  ursprünglicher  Ab- 
hängigkeit noch  deutlicher.  Sätze  mit  t^aj:  0.  4,26,37  tha^  sälig 
stj  thiu  kindes  unbera  st.  Walther  14,  34  frouwe,  da^  ir  scelic  stt. 
41,8  neina,  frouwe,  da^  sis  niht  engSl  57,24  da^  si  den  vermtden 
soldel  (Später  auch  im  Indikativ:  dass  du  dich  nicht  unterstehst l 
u.  ä.  Wunderlich  1,291).  Klage  1508  da^  ich  erstorben  wcerel  nhd. 
Dass  er  doch  käme]  —  Mit  der:  Walther  46,27  owe,  der  mich  da 
welen  hie^e,  deich  da^  eine  dur  da^  ander  lie^el  Nhd.  mit  w; er  und 
wenn:   Wer  mir  hülfe\   Wenn  mir  doch  einer  hülfe. 

Anm.  Dass  die  Wunschpartikel  wan,  die  im  Mhd.  oft  begegnet, 
aber  doch  nicht  in  allen  Denkmälern,  z.  B.  nicht  in  den  Nibelungen, 
und  überhaupt  kaum  zwei  Jahrhunderte  in  den  Quellen  erscheint 
(Gr.  4,  79  und  86),  auf  ahd.  huajita  ni  'warum  nicht'  zurückzuführen 
ist,  hat  Lachmann  zu  den  Nibelungen  S.  64  f.  gezeigt.  Wie  sehr 
man  sich  gewöhnt  hatte,  solche  Fragen  als  Aufforderung  aufzufassen, 
zeigen  Sätze,  in  denen  die  Frage  mit  einem  Imperativ  verbunden 
ist,  z.  B.  Rol.  48,  14  wane  lä^estu  die  Karlinge  handelen  ir  Sache 
unde  leve  du  m,it  gemache  =  Lass  doch  die  Karlinge  ihre  Angelegen- 
heit besorgen  und  kümmere  dich  nicht.  Der  Opt.  Prät.  aber  kann 
in  sie  erst  eingedrungen  sein,  als  man  sie  als  irreale  Forderungssätze 
auffasste.  Einen  Wechsel  im  Modus  belegt  Genes.  Fundgr.  1,  23,  31 
wanta  ne  was  si  (Eva)  ^me  gevallen  an  den  fuo^  und  häte  (=  hcete) 
ime  geklaget  ir  gruo^,  lie^e  (hier  =  hcete  lä^en)  si  der  zähere  ?iicht 
betüren  — ,  hete  im,e  weinnent  an  gelegen  — ,  häte  doch  gesprochenl 
Das  ist  vermutlich  so  aufzufassen :  'Warum  war  Eva  ihm  nicht  zu 
Füssen  gefallen  und  hätte  ihm  dann  geklagt'  etc.  Die  fragende 
Wortstellung  ist  nur  einmal  aufgegeben :  Maria  136  owe  wan  ich 
tot  wcerel  Mhd.  Wb.  3,500a. 

116.  Die  Irrealität  7A\  bezeichnen  ist  die  erste  und  vor- 
nehmlichste  Aufgabe  des  Opt.  Prät.  Doch  wird  er  auch  ähn- 
lich wie  der  Opt.  Präs.  in  deliberativem  und  potentialem  Sinne 
gebraucht. 

1.  Als  Modus  deliberativer  Fragen  wird  er  geläufig, 
nachdem  der  Opt.  Präs.  diesem  Gebrauch  abgestorben  ist; 
z.  B.  Is.  9,  8  odho  mahti  angil  sösama  s6  got  mannan  chifrumman, 
numquid  angelus  cum  deo  potuit  facere  hominem?  0.  3,  16,58  scolti 
er  sin  krist  guat^r,  wir  kennen  seine  Herkunft  und  der  sollte  Christus 
sein!  Iw.  6157  war  möhte  ich  nü  gertten?  Nib.  284,  1  wie  künde 
(moht  Jh)  da3  ergän,  das  ^^^  dich  minnen  solde.  1018, 1   wie  möhte 


§  116.]  Der  Optativ  Präteriti  als  Deliberativ  233 

ich  den  mit  ougen  immer  an  gesehen,  von  dem  m.ir  armem  ivthe  so 
leide  ist  geschehen?  Sehr  oft  im  Nhd.  Wärs  möglich?  könnt  ich 
nicht  mehr^  wie  ich  wollte?  Du  wärst  so  falsch  gewesen?  Wer  hätte 
das  geglaubt?  Käme  da  etwa  noch  Nachricht?  Wie  wäre  der  dazu 
gekommen?  Und  aus  diesem  deliberativen  Gebrauch  ergab  sich 
dann  leicht  ein  anderer,  dass  man  ihn  in  Fragen  anwandte, 
die  mit  einer  gewissen  vorsichtigen  oder  bescheidenen  Zurück- 
haltung ausgesprochen  werden;  z.  B.  Tätest  du  mir  wohl  einen 
Gefallen'?  Wäre  es  erlaubt  einzutreten'^^  Wäre  es  nicht  Zeit 
aufzubrechen?  Hättest  du  nicht  Lust  auszugehen?  etc. 

2.  Die  deliberative  Bedeutung  kann  sich  auch  mit  der 
irrealen,  in  der  Beziehung  auf  eine  andere  nicht  wirkliche 
Vorstellung  begründeten  Bedeutung  verbinden;  z.  B.  Nib.  2095, 1, 
wo  Rüdiger  Etzel  bittet,  ihn  seiner  Dienste  zu  entlassen,  und  dieser 
antwortet :  wer  hülfe  danne  mir  (sc.  wenn  ich  dich  entliesse).  Ebenso 
Nib.  1627,  2  wä  ncemet  ir  die  spise?  Notker  Ps.  2,  322,  17  tver  getorsti 
föne  gote  s6  sprechen  äne  spiritus  eius.  Nib.  1144,  1  warumbe  solde 
ichs  volgen  niht  (§  114,  5)  etc. 

3.  In  demselben  deliberativen,  zweifelnden  und  zurück- 
haltenden Sinne  konnte  der  Modus  dann  auch  in  Aussagesätzen 
gebraucht  werden.  Eine  scharfe  Grenze  zwischen  den  verschie- 
denen Nuancen  der  Bedeutung-  gibt  es  natürlich  nicht.  Wenn  Notker 
Boet  1, 135,  23  ta^  neinahti  nicht  smähe  sin,  dara  alle  mennisken 
zuo  tlent  =  neque  enim  vile  quiddani  est  etc.  den  lateinischen  Indi- 
kativ est  durch  den  Optativ  nemahti  sin  wieder  gibt,  so  bezeichnet 
hier  der  Optativ  weder  selbst  eine  irreale  Vorstellung,  noch  wird  er 
auf  eine  solche  bezogen,  vielmehr  ist  er  der  Ausdruck  sinnender 
Betrachtung  und  Erwägung:  'Das  möchte'  oder  'könnte  doch  wohl 
nichts  Geringes  sein'.  Als  einen  Potentialis,  der  ironisch  für  eine 
ganz  sichere  Aussage  gebraucht  wäre,  könnte  man  ihn  Gudr.  190,  4 
auffassen:  s6  miltes  vilrsten  höhztt  niöhte  noch  den  armen  7iiht 
gewerren.  Eine  bescheidene  Aussage  bezeichnet  er  Bit.  8998  ez 
wcere  Hildebrantes  rät,  da^  man  turnierte  äne  fride\  eine  mit  be- 
hutsamer Zurückhaltung  ausgesprochene  Gudr.  239,  wo  Hetel  Waten 
zu  der  gefährlichen  Werbung  um  Hilde  auffordert:  boten  ich  bedörfte 
in  des  wilden  Hagenen  lant.  Im  Nhd.  ist  dieser  Gebrauch  des 
Vorsichtigen  Konjunktivs'  sehr  beliebt  geworden.  Dem  Irrealis 
steht  er  am  nächsten,  wo  die  Aussage  sich  zwar  nicht  auf 
eine  irreale,  aber  doch  in  Bezug  auf  ihre  Kealität  noch  nicht 
erkannte,  zweifelhafte  Vorstellung  bezieht:  Ich  dächte  oder 
mir  däuchte,  ich  hätte  ihn  schon  öfters  gesehen.    Ich  wüsste 


234  Gebrauch  der  Modi.  [§  116. 

nichty  dass  ich  ihm  schon  begegnet  wäre.  Man  sollte  meinen, 
die  Sache  verhielte  sich  anders.  Das  könnte  oder  dürfte 
wohl  eine  Fälschung  sein. 

In  Umschreibungen  wird  möchte,  könnte,  sollte  gebraucht^ 
besonders  gern  aber  dürfte,  bald  um  eine  Aussage  als  blosse 
Vermutung  zu  bezeichnen,  bald  um  einer  Bitte  die  Form  einer 
bescheidenen  Frage  zu  geben:  Das  dürfte  sich  doch  anders 
verhalten.  Dürfte  ich  eintreten?  Dürfte  ich  bitten? 

Anm.  Um  eine  Vermutung  zu  bezeichnen,  konnte  der  Ind. 
Prät.  von  dürfen  (eig.  nötig  haben,  Ursache  haben)  schon  im  Mhd. 
gebraucht  werden;  z.  B.  Nib.  2232,4  e^n  dorfte  künec  so  junger 
niemer  küener  sin  gewesen,  es  dürfte  wohl  nie  ein  so  junger  König 
kühner  gewesen  sein,  eig'entlich:  'nie  hätte  ein  jung-er  König'  nötig 
gehabt,  kühner  zu  sein,  er  besass  die  Kühnheit,  deren  ein  jung'er 
König  bedarf,  vollkommen'.  Iw.  1312  ezn  dorft  nie  wthe  leider  ze 
dirre  weide  geschehen.  Die  Bedeutung-  "Erlaubnis  zu  etwas  haben' 
ist  noch  etwas  jünger  In  dem  Sinne,  in  dem  wir  jetzt  dürfte  in 
bescheiden  bittenden  Fragen  brauchen,  konnte  früher  törste  ge- 
braucht werden.    ZfdU.  3,551.    Wunderlich  1,367. 

4.  Deliberativen  Charakter  hat  der  Optativ  auch  in 
Sätzen  wie:  Das  wäre  nun  glücklich  vollbrachtl  Der  tcäre 
nun  auch  gestorbenl  Da  wärest  Du  ja  auchl  Über  den  Berg 
wären  tcirl  (aber  — ). 

Hier  ist  der  Modus  der  Irrealität  gewissermassen  in  sein 
Gegenteil  verkehrt.  Er  bezeichnet  nicht  eine  bedingte  Nicht- 
wirklichkeit,  hat  auch  nicht  die  unsichere  Bedeutung  eines 
Potentialis,  sondern  weist  mit  grösster  Bestimmtheit  auf  eine 
handgreifliche  Tatsache.  Aber  —  und  darin  ist  der  Gebrauch 
des  Modus  begründet  —  mit  der  Aussage  verbindet  sich  ein 
sinnender  Blick  in  die  Vergangenheit  oder  Zukunft,  ein  Moment 
subjektiver  Betätigung,  worin  ja  überhaupt  der  wesentliche 
Unterschied  zwischen  Optativ  und  Indikativ  liegt.  Den  ältesten 
Beleg  für  diesen  in  den  letzten  Jahren  oft  behandelten  Ge- 
brauch hat  Pietsch  aus  einer  Predigt  Luthers  beigebracht: 
Das  wehren  dy  drey  Capittel  de  Jacob  =  Hec  sunt  3  capita 
de  Jacob.  Jetzt  ist  er  in  der  Schriftsprache  und  den  Mund- 
arten weit  verbreitet^). 


1)  Hildebrand  ZfdU.    3,  553  f.     Th.  Matthias,    eb.    4,  433—440. 


§  117.]  Die  Modi  im  Nebensatz.  23& 

Die  Modi  im  Nebensatz. 

117.  So  lange  parataktischer  Satzbau  galt,  konnte 
der  Modus  auch  in  solchen  Sätzen,  die  als  untergeordnet 
empfunden  wurden,  durch  keine  anderen  Momente  bestimmt 
werden  als  in  den  Hauptsätzen,  die  Art,  wie  der  Redende 
den  Inhalt  des  Satzes  auffasste,  bestimmte  den  Modus;  und 
auch  später,  als  in  Konjunktionen  und  Wortstellung  besondere 
Formen  für  den  hypotaktischen  Satzbau  gewonnen  waren,, 
blieb  für  den  Modus  dies  Verhältnis  das  wesentlichste  Moment. 
In  Sätzen  derselben  Form  finden  wir  verschiedene  Modi,  und 
selbst  wenn  in  einzelnen  Fällen  der  Modus  an  eine  gewisse 
Satzform  gebunden  scheint,  liegt  der  Grund  für  den  Modus 
doch  nicht  in  dieser  Form.  Daher  darf  die  Behandlung  des 
Modus  sich  auch  nicht  an  die  übliche  Einteilung  der  Neben- 
sätze anschliessen,  mag  man  diese  nun  auf  das  syntaktische 
Verhältnis  von  Haupt-  und  Nebensatz  gründen  (Substantiv-^ 
Attributiv-,  Adverbialsätze)  oder  auf  ihr  logisches  Verhältnis 
und  die  Mittel  der  Satzverbindung.  Aber  auch  aus  der  Be- 
deutung der  Modi  selbst  würde  sich  schwerlich  eine  befrie- 
digende Einteilung  des  Stoffes  gewinnen  lassen;  denn  diese 
ist  nicht  unverändert  geblieben  und  nicht  immer  sicher  zu  er- 
kennen. Am  schärfsten  treten  der  Imperativ  und  der  Optativ 
Präteriti  als  Irrealis  hervor.  Den  Sätzen,  in  denen  diese  Modi 
gelten,  steht  dann  die  grosse  Masse  derer  gegenüber,  in  denen 
je  nach  dem  Tempus  der  Opt.  Präs.  oder  Prät.  gebraucht  ist. 
Oft  kann  man  in  diesen  den  Modus  als  Potentialis  oder  Deli- 
berativus,  als  Voluntativus  und  Konzessivus  in  Anspruch  nehmen; 
in  andern  Fällen  bleibt  die  Entscheidung  unsicher,  weil  ver- 
schiedene Auffassungen  möglich  sind,  oder  weil  sich  die  Be- 
deutung des  Modus  verflüchtigt  hat,  so  dass  er  nur  noch  als 
Mittel  der  syntaktischen  Unterordnung  erscheint.  Dies  gilt 
namentlich  für  den  Potentialis  (§119).  Um  zu  einer  über- 
sichtlichen Behandlung  dieser  Masse  zu  kommen,  schien  es  mir 
am  zweckmässigsten,    zunächst   indirekte   und  direkte  Neben- 


Tomanetz,    eb.    7,  788-807.     Hildebrand,    eb.   8,    690-692.     Pietsch^ 
eb.  10,  444  f. 


r2S6  Gebrauch  der  Modi  im  Nebensatz.  [§  118. 

Sätze  zu  scheiden.  Den  indirekten  Sätzen  habe  ich  die  For- 
derungs-  und  Absichtssätze  angeschlossen,  unter  den  direkten 
die  vorangestellt,  in  denen  die  Bedeutung  des  Modus  am 
schärfsten  ausgeprägt  ist,  die  Sätze  mit  konzessivem  und 
irrealem  Optativ;  dann  folgen  solche,  in  denen  dies  weniger 
der  Fall  ist;  den  Schluss  bilden  Sätze,  deren  Modus  unter 
dem  Einfluss  des  im  Hauptsatz  gebrauchten  Modus  steht.  Vor 
den  Optativsätzen  aber  behandle  ich  die  Imperativsätze. 

Imperativ. 

118.  1 .  Der  Imperativ  wird  in  Nebensätzen  wenig  gebraucht. 
Hin  und  wieder  findet  er  sich  in  Forderungs-  und  Absichts- 
sätzen^). Im  Gotischen  nach  einem  Imperativ:  Mc.  8,  15  saiJvip 
ei  atsaiJvip  izwis  pis  heistis  Farisaie,  öGäxe,  ßX^Trexe  arrö  Tf\c,  2;üjur|(;. 
Mt.  27,  49.  Mc.  15,  34  Mt,  ei  saHvivam,  äqpexe  i6ujju€v.  Anderwärts  auch 
unter  anderen  Bedingungen.  Heliand  3268  ewa  gebiudid,  that  thu 
man  ni  slah,  ni  thu  menes  ni  sweri.  0.  4, 19,47  sts  himunigöt,  tha^ 
thu  unsih  nu  gidua  wts,  du  seiest  beschworen,  dass  du  uns  unter- 
richtest. Notker  Ps.  39.  4  (Wiener  Hs.)  nu  liehe  dir,  trohtin,  da^  du 
mih  irlöse  (irlösest  St.  Galler  Hs.).  Auch  später  in  einem  nfrk.  Oster- 
spiel (ZfdA.  2,  323)  V.  645  ich  bidde,  dat  du  heilich  mich.  Aber 
solche  Sätze  erscheinen  doch  immer  als  Abnormitäten^).  — 
Eine  Ausnahmestellung  nimmt  der  Imp.  tuo  ein,  der  in  mhd. 
Gedichten  oft  in  indirekten  Fragen  vorkommt:  ich  sage  dir 
od.  rate  dir,  wa^  du  tuo,  immer  so,  dass  tuo  im  Reime  steht^). 

2.  Geläufig  geblieben  ist  der  Imperativ  in  konditionalen 
und  konzessiven  Satzverbindungen^).  Zuweilen  kann  man  in 
solchen  Verbindungen  Vorder-  und  Nachsatz  noch  als  selb- 
ständige Hauptsätze  auffassen,  z.  B.  Walther  37,  29  minne  got. 


1)  Mourek  §  123.  OS.  1  §  284.  Scherer  2  305.  Behaghel  IF.  14,  443. 

2)  Die  gotischen  Belege  empfiehlt  Mourek  als  direkte  Sätze 
mit  deiktischem  ei  aufzufassen.  Andere  fasst  Behaghel  als  Anako- 
luthe  (Rückkehr  in  die  syntaktische  Ruhelage)  auf;  vgl.  Kraus, 
Deutsche  Gedichte  S.  85  und  Erdmann  zu  0.  4,  24,  6.  Die  Verbindung 
zweier  Imperative  meidet  der  gotische  Übersetzer  Gr.  4, 1253. 

3)  Grimm,  KZ.  1,144  (=  kl.  Sehr.  7,  338  f.).  Whd.  §  345.  Martin 
zu.  Kudrun  149,  2. 

4)  Erdm.  §  163.  Wunderlich  1,  271  f.  301  f.  Gr.  4, 1253.  Blatz 
2,1163.  1175  f.  1189. 


§  119.]  Imperativ.  23T 

so  mahtu  frö  helihen;  liebe  Gott,  dann  wirst  du  glücklich 
sein.  Aber  dieselbe  Form  wird  auch  beibehalten,  wo  die  Ver- 
bindung' enger  ist  und  der  Imperativ  nicht  mehr  nach  seiner 
eigentlichen  Bedeutung  aufgefasst  werden  kann;  z.B.  condi- 
tional  0.  1,  18,  7  ni  bist  es  io  giloubo,  selbo  thu  iz  ni  scouwö, 
wenn  du  es  nicht  selbst  siehst:  konzessiv:  0.  3,  20,  155  leset 
allo  huali  thio  sin,  ni  findit  ir.  Imperativ  im  Vorder-  und 
Nachsatz:  Notker  Boet.  1,302,22  ubele  tuo,  heueren  newäne. 
Berth.  471,30  selbe  tuo,  selbe  habe.  —  Besonders  gern  wird 
der  Imperativ  von  lä^en  in  konzessiven  Sätzen  gebraucht,  fast 
wie  eine  Konjunktion;  z.  B.  Walther  79,  20  lä  einen  stn  gehom  von 
küneges  rippe:  ern  habe  friunt,  wa^  hilfet  da^.  Berth.  539,34  Id^et 
golt  zehenstunt  geliutert  stn,  s6  ivart  cht  nie  niht  gesehen,  da^  s6 
gar  lüter  woere  alse  diu  suiiiie.  —  Auch  negative  Beding-ungen 
können  durch  den  Imp.  ausgedrückt  werden;  im  Nachsatz  steht 
dann  anders,  oder  oder\  z.  B.  Ackerm.  29,  7  begent  die  bescheiden- 
heit,  anders  es  musz  der  hamer  den  ambosz  treffen. 

3.  In  demselben  Sinne  wie  der  Imperativ  können  auch  die 
für  ihn  üblichen  Umschreibungen  gebraucht  werden,  z.  B^ 
Berthold  492,  23  du  solt  got  versuochen  unde  sprinc  in  die 
Tuonouwe  .  .,  du  mäht  wol  den  Itp  Verliesen. 

Optativ  in  indirekten  Sätzen. 

119.  In  indirekten  Sätzen  berichtet  man  zunächst  über 
Aussagen  oder  Gedanken  eines  andern ;  man  kann  aber  auch 
eigene  Aussagen  oder  Gedanken  in  der  Form  eines  indirekten 
Satzes  aussprechen.  Ersteres  ist  z.  B.  der  Fall  in  dem  Satze 
Walther  10, 35  min  guoter  Mösencere  .  .  der  fürhtet  aber 
der  goteshüse  ir  meister  werden  Tcranc\  letzteres  in  dem  Satze 
34,  34  wcen  aber  min  guoter  Mösencere  clage  und  sere  weine. 
Der  Modus  des  indirekten  Satzes  wurde  ursprünglich  durch 
das  Verhältnis  bestimmt,  in  dem  der  Urheber  der  indirektem 
Aussage  (dh.  die  Person,  aus  deren  Sinne  der  untergeordnete 
Satz  gesprochen  ist),  zu  der  Aussage  stand.  Als  Ausdruck 
dieses  Verhältnisses  lässt  sich  der  Optativ  in  den  beiden  an- 
geführten Sätzen  auffassen;  beide  lassen  sich  auf  eine  direkte 
Aussage  im  Potentialis  zurückführen:  'die  Meister  der  Gottes- 
häuser   werden    wohl    wieder    schwach    werden;    mein    guter 


-238  Gebrauch  der  Modi  im  Nebensatz.  [§  120. 

Klausner  wird  wol  wieder  klagen  und  weinen'.  Ebenso  steht 
der  Irrealis,  wenn  er  schon  der  direkten  Aussage  zukommt, 
z.  B.  Walther  82,  8  dem  setze  ich  mine  wär'heit  des  ze  pfände, 
wolt  er  ir  geleite  volgen  mite^  da^  in  unfuoge  niht  erslüege 
(direkt:  'Wer  der  wahren  Minne  folgte,  den  würde  Unfuge  nicht 
erschlagen'),  und  früher  auch  der  Imperativ:  Hei.  3268  ewa 
gehiudid  that  thu  man  ni  slah.  Der  Imperativ  stirbt  früh  ab 
(§  118);  der  Irrealis  behauptet  sich  fest  in  dem  ihm  zuständigen 
Gebiet;  der  potentiale  Optativ,  von  Anfang  an  weniger  fest 
umgrenzt,  breitet  sich  weiter  aus.  Indem  er  im  selbständigen 
i^atz  früh  seine  Bedeutung  verlor,  entschwand  sie  auch  im  ab- 
hängigen Satze  dem  Sprachbewusstsein,  und  da  die  Sprache 
gleichwohl  an  der  Form  festhielt,  gewöhnte  man  sich,  in  dem 
Modus  nicht  mehr  den  Ausdruck  des  besonderen  Verhältnisses, 
in  dem  der  Urheber  zur  Aussage  stand,  zu  sehen,  sondern  nur 
den  Modus  der  Abhängigkeit,  nur  ein  Mittel,  durch  welches 
der  Redende  die  Aussage  in  die  Vorstellung  eines  andern 
verlegt.  Offenbar  bekundet  sich  in  diesem  Einfluss  des  Reden- 
den auf  die  Form  des  abhängigen  Satzes,  dass  dieser  unselb- 
ständiger geworden  war,  der  regierende  und  der  abhängige 
Satz  wurden  mehr  als  früher  als  Einheit  empfunden.  Und 
daraus  erklärt  sich  dann  weiter  die  Wahrnehmung,  'dass  der 
Optativ  der  Oratio  obliqua  um  so  seltener  wird,  je  weiter  wir 
in  der  Sprache  hinaufsteigen'.   (Beliaghel,  Zeitfolge  S.  163.) 

Indirekte  Aussagesätze^). 

120.  (Indirekte  Aussagesätze  im  Optativ.)  1.  Ich  führe 
zunächst  Beispiele  an,  in  denen  es  nahe  liegt,  den  Optativ  als 
Reflex  des  Modus  der  direkten  Rede  anzusehen,  eines  Poten- 
tialis  der  Gegenwart,  oder  eines  Futurums;  denn  das  Futurum, 
das  nie  etwas  Wirkliches  bezeichnet,  sondern  immer  nur  in 
Aussicht  stellt,  steht  dem  Potentialis  nahe  und  berührt  sich 
mit  ihm.     Dann  solche  Beispiele,  in  denen  es  näher  liegt  den 


1)  Delbr.  PBb.  29,  217—236.  Mourek  §  121  f.  Erdm.  §198. 
Wunderlich  1,343-351.  Blatz  2,  787  f.  981-986.  1007  f.  Über  den 
Gebrauch  der  Tempora  s.  §  103  ff. 


§  121.]  Indirekte  Aussagesätze.  239 

Modus  als  Ausdruck  der  Abhäugigkeit  aufzufassen.  Freilich 
ist  diese  Scheidung,  da  die  Form  keinen  Anhalt  bietet,  mehr 
oder  weniger  willkürlich.  Auch  in  den  Sätzen  der  ersten  Art 
ist  der  Modus  vielleicht  nur  noch  Ausdruck  der  Abhängigkeit, 
und  unter  denen  der  andern  sind  manche,  deren  Optativ  man 
auch  schon  für  die  direkte  Rede  in  Anspruch  nehmen  könnte. 

2.  a)  Die  Aussage  bezieht  sich  auf  die  Zukunft.  Nach 
einem  Präsens:  2  Kor.  13,6  winja^  patei  kunneip  {-{VKba^oQ^). 
Köm.  8,  38  gatraua  auk,  patei  ni  daupus  ni  lihains  magi  uns  afskaidan 
af  friapwai  gudis  (öuvr]aeTai).  0.  5,  24,  11  ist  uns  in  thir  giwissi, 
tha^  unser  stubbi  füla^  werde  avur  sulth  soso  i^  was.  Walther  7,  38 
so  hän  wir  des  gedinge,  diu  schulde  werde  ringe.  50, 15  so  bin  ich 
des  an  angest  gar^  da^  mir  iemer  herzeleit  mit  di7iem  willen  wider- 
var.  —  Nach  einem  Präteritum:  Lc.  19, 11  pühta  im,  ei  suns  skulda 
ivesi  (lueWei)  piudangardi  gudis  gaswikunpjan.  0.  4, 19,  45  bizeinta, 
tha^  sin  ivirdi  zi  niwihti  scioro  wurti.  3, 18, 49  Abraham  ther  altoi 
er  bltdta  sih  thes  harto,  er  thes  sih  muasi  frouwön.  2, 9, 43  er 
(Isaac)  ej  habeta  furi  niwiht  (achtete  es  für  nichts,  besorgte  nicht), 
er  fon  thes  fater  henti  .  .  döt  wurti.  Greg.  1059  die  muosten  im 
beide  wol  bestceten  da^,  si  ensagtenz  niemer.  729  si  häte  das  ge- 
dingen,  da^  ej  got  solte  bringen  den  Hüten  zen  handen.  Iw.  5751 
si  ivas  des  an  angest  gar,  da^  si  (die  Schwester)  iemen  brcehte  dar, 
der  ir  kempfen  überstrite. 

b)  Die  Aussage  bezieht  sich  nicht  auf  die  Zukunft,  lässt 
sich  aber  potential  auffassen:  Hild.  29  m  wäniu  ih,  iu  Üb  habbe. 
O.  1,  27, 1  thie  liuti  dätun  muri,  tha^  Johannes  Krist  wäri,  joh  uärun 
ahtönti,  thei^  wola  wesan  mohti. 

121.  1.  Unter  den  Beispielen,  in  denen  der  Optativ  nur 
als  Ausdruck  der  Abhängigkeit  erscheint,  stelle  ich  solche 
voran,  in  denen  der  Redende  die  Aussage  des  Nebensatzes 
als  der  Wirklichkeit  entsprechend  nicht  anerkennt,  also  be- 
sonderen Anlass  hatte,  die  Aussage  durch  den  Modus  als  in- 
direkt zu  charakterisieren.  Nach  einem  Präsens:  Mc.  9,11  qi- 
pand  pai  bökarjös,  patei  Helias  skuli  (bei)  qiman  faurpis.  1  Kor. 
10, 19  ha  nu  qipam !  patei  p6  galiugaguda  ha  sijaina  (öti  el'b'JuXöv 
Ti  eaxiv).  Mt.  6,  7  pugkeip  im,  ei  in  filuwaurdein  seinai  andhaus- 
jaindaw,  auch  zu  §  120).  0.  4,  13,34  stueris  filu  hei^o,  ni  sts  thero 
giiiöQO.  1, 1,  60  ni  parf  man  tha^  ouh  redinön,  tha^  Kriachi  in  thes 
giwidarön.  Walther  16, 30  Kristen,  Juden  unde  heiden  jehent,  da^ 
diz  ir  erbe  st.    55,  31  dun  darft  niht  jehen,    da^  du  in  ir  herze  en- 


240  Gebrauch  der  Modi.  [§  121.. 

mügest.  45, 8  ein  frouwe  wil  ze  schedelichen  schiTnpfen,  ich  habe 
ü^  gelobet.  —  Opt.  Prät.  im  abhängigen  Satz:  Jh.  9,  19  sau  ist  sa 
sunus  izwar,  ßanei  jus  qipip-,  patei  blinds  gabaurans  waurpi  {b^^v- 
vr\Qr\).  1  Kor.  1,  16  pata  anpar  ni  wait,  ei  ainnöhun  daupidedjau 
(ei  ^ßdTTTiaa)  =  im  übrigen  wüsste  ich  nicht,  dass  ich  getauft  hätte. 
Walther  104,15  er  seit  von  größer  swcere,  da^  Tnln  pferit  moere  dem, 
rosse  sippe  wcere  (verwandt  gewesen  wäre). 

Nach  einem  Präteritum:  Lc.  20,7  andhöfun,  ei  ni  wisse- 
deina.  Jh.  11,13  hugidedun.  patei  is  bi  slep  qepi  {Iholav  öxi  X^y^i). 
Jh.  13,  29  sumai  mundMun^  patei  qepi  (X^T^i)  imma  Jesus.  Lc.  18,  9 
trauaidedun  sis,  ei  weseina  garaihtai  (öti  eiöiv).  Lc.  16, 1  frawrö- 
hips  warp.  ei  distahidedi  aigin  is  {\hc,  bmaKopiriSojv).  0.  4, 18, 15 
quad,  ni  wäri  thero  manno,  mit  eidu  i^  deta  festi,  thag  er  then  man 
ni  w€sti.  4,  15,  26  giloubt  er,  ther  fater  wäri  furira.  5,  5, 16  giloub- 
tun  sär,  tha^  er  firstolan  wäri.  1,8,  12  joh  thähta  (Joseph),  i^  imo 
sä^i,  ob  er  sia  (Maria)  firlia^i  (auch  zu  §120).  3,8,24  firnämun 
in  giwäri,  thei^  ein  gidrog  wäri.  Walther  73,  \\  dö  m,ich  dühte, 
das  ^^  wcere  guot.  Iw.  3951  der  lewe  ivände,  er  wcere  tot.  —  Opt. 
Präs.  im  abhängigen  Satz  0.  4,  23,  25  er  gikundta  herasun,  tha^  er 
st  selbo  gotes  sun. 

2.  Der  Redende  hat  keiue  Ursache,  die  Aussage  des 
Nebensatzes  abzulehnen  oder  zu  bezweifeln.  Nach  einem  Prä- 
sens: Mt.  9,28  g-u-laubjats,  patei  magjau  pata  taujan  (öti  öüvauai)? 
0.  5, 19,  22  er  zelit,  tha^  thär  st  mihhila,^  githuing.  2, 14, 103  ir  quedet 
in  alawäri,  tha^  mänödo  noh  sin  fiari.  3,  12,  17  sprechent  thie  liuti, 
thu  sts  thero  forasagono  einer.  2, 14, 55  mtn  muot  duat  mih  wts^ 
tha^  thu  forasago  sts.  AValther  13,  3  uns  dunket,  eine^  st  gelogen.  — 
Opt.  Prät.  im  abhängigen  Satze.  0.  4,  26,  19  ja  saget  man  tha^  zi 
wäru,  si  scrigtln  fon  theru  bäru.  4,  36, 13  so  zellent  stno  guati,  tha^ 
er  fon  tode  irstuanti.  2, 14,  9  ther  evangelio  thär  qutt,  thei^  mohti 
ivesan  sexta  ztt  (auch  zu  §  120). 

Nach  einem  Pr  äteritum  :  Jh.  12, 18  iddjedun  gamötjan  imma 
managei,  unte  hausidedun,  ei  gatawidedi  p6  taikn  (auTÖv  Tr6Troir]K6vai). 
Mc.  6,  55  hausidedun^  ei  is  wesi  (öti  ^ötiv).  0.  1,  21, 11  thö  gihört  er 
m,äri,  thär  ander  kuning  wäri.  3,  2,  27  zaltun  imo  ouh  innan  thes^ 
tha^  rehto  in  alawäri  sin  sun  gineran  iväri.  5, 13,  24  sprah  in  ala- 
wäri, thei^  s€lbo  druhttn  wäri.  4,  19,  30  quädun,  sie  ij  gihörttn. 
Greg.  405  da^  sich  diu  vrouive  des  enstuont,  da^  si  swanger  wcere. 
680  er  jah,  da^  nie  zer  weite  quceme  ein  kint  also  genceme.  1176 
da^  der  meister  selbe  swuor,  er  gescehe  nie  so  sinnertche  jugent.  — 
Opt.  Präs.  im  abhängigen  Satz:  Walther  95, 15  dennoch  seit'  si  mir 
däbt,  da^  mfin  düme  ein  vinger  st.  114, 18  sit  da^  ime  die  besten 
jähen,  da,^  er  also  schöne  künne  leben.  Opt.  Präs.  und  Prät.  in  be- 
gründetem Wechsel  0.  1, 1,  87  las  ih  iu  in  alawär  in  einen  buachon. 


§  122.]  Indirekte  Aussagesätze  im  Indikativ.  241 

si  in  sibbu  joh  in  alitu  sin  Alexandres  slaMu\  joh  fand  in  theru 
redinu,  tha^  fon  Macedoniu  ther  Hut  in  gihurti  gisceidiner  wurti. 
3.  Hierher  gehören  auch  solche  Sätze,  deren  Aussage  der 
Redende  im  Widerspruch  zu  der  andern  Person  für  richtig 
hält:  Jh.  9, 18  ni  gilaubididun  pan  Judaieis  bi  ina,  patei  is  blinds 
w^si,  jah  usseJvi  (öti  tu9\öc;  fjv  Kai  dv^ßX€i|;ev).  0.  H,  20,  75  ni  moh- 
tun  si  gilouben,  tha^  er  gisähi. 

122.  (Indirekte  Aussagesätze  im  Indikativ.)  1.  All- 
gemeine Geltung  hat  der  Optativ  als  Modus  abhängiger  Aussage- 
sätze nie  erreicht;  zu  jeder  Zeit  konnten  sie  auch  im  Indikativ 
stehen,  sei  es,  dass  der  Redende  die  Aussage  als  der  Wirk- 
lichkeit entsprechend  bezeichnen  wollte,  oder  dass  er  kein 
Interesse  daran  hatte,  den  Nebensatz  als  indirekt  zu  charak- 
terisieren: z.B.  0.1,16,17  si  kundta  thär,  söso  i^  was^  tha^  in 
thiu  fruma  queman  was.  1,25,10  kundta  imo,  er  i^  wolta,  i^  ouh 
s6  wesan  scolta.  2, 3, 49  sin  selbes  stimma.  sprah  uns  tha^,  thei^ 
sun  sin  einigo  was.  2, 11,  43  er  lerta  uns  joh  zeinta,  tha^  druhtin 
unser  meinfa  thes  .^tnes  Itchamen  hüs.  4, 19,59  nach  einem  Optativ: 
tha^  ther  Hut  westi  tha^,  thei^  imo  filu  zorn  ivas.  Greg.  475  ouch 
ist  uns  dicke  vor  geseity  da^  ein  kint  niene  treit  stnes  vater  schulde. 
In  diesen  Sätzen  könnte  auch  der  Optativ  stehen,  freilich 
nicht  in  ganz  gleichem  Sinne.  Der  Indikativsatz  und  der 
Optativsatz,  beide  sind  abhängig,  beide  können  auch  als  in- 
direkte Sätze  aufgefasst  vrerden ;  bezeichnet  aber  ist  der  Satz 
als  indirekt  nur,  wenn  er  im  Optativ  steht.  Im  Indikativsatz 
macht  der  Redende  eine  eigene  Aussage  zum  Objekt  des  re- 
gierenden Satzes,  im  Optativsatz  ist  das  Objekt  aus  dem  Sinne 
des  regierenden  Subjekts  gestaltet,  er  ist  also  mit  seinem 
Hauptsatz  durch  ein  engeres  innerlicheres  Band  verknüpft. 
Am  deutlichsten  tritt  der  Unterschied  hervor,  wenn,  wie  das 
oft  geschieht,  ein  demonstratives  Pronomen  auf  den  abhängigen 
Indikativsatz  hinweist.  Der  Satz:  Er  glaubt^  dass  er  JcranJc 
ist,  kann  denselben  Sinn  haben  wie:  Er  glaubt,  dass  er  krank 
sei;  nicht  aber  der  Satz:  Er  glaubt  es,  dass  er  krank  ist. 

2.  Je  weniger  der  Redende  in  dem  Inhalt  des  abhängigen 
Satzes  einen  Anlass  findet,  ihn  als  indirekte  Aussage  hin- 
zustellen, um  so  mehr  wird  er  zum  Indikativ  neigen.  Ver- 
schiedene Momente  kommen  dabei  in  Betracht. 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  16 


242  Gebrauch  der  Modi.  [§  122. 

Zunächst  die  Bedeutung  des  regierenden  Verbums.  Es 
ist  natürlich,  dass  auf  Verba,  deren  Bedeutung  als  Objekt 
etwas  Tatsächliches  voraussetzt,  wie  die  Indikativformen  von 
wissen,  öfter  der  Indikativ  folgt,  als  auf  solche,  die  sich  eben- 
sowohl mit  einer  der  Wirklichkeit  nicht  entsprechenden  Aus- 
sage verbinden  lassen,  wie  sagen,  mitteilen,  hoffen,  fürchten, 
oder  auf  solche,  deren  Bedeutung  auf  eine  unsichere  Vermutung 
hinweist,  wie  wähnen,  dünken.  Es  treten  dabei  feine  Unter- 
schiede hervor.  So  steht  bei  Otfried  in  den  tha^Ssiizen  nach 
quedan  fast  immer  der  Optativ,  nur  einmal  (4, 21, 29)  der 
Indikativ;  nach  sagen  umgekehrt  nur  einmal  der  Optativ 
(4,  26,  19),  sonst  der  Indikativ  (OS.  I  §  321.  324).  Der  Grund 
ist  nicht  in  dem  regierenden  Verbum  zu  suchen,  vielmehr  ist 
beides.  Modus  und  Wortwahl,  durch  die  Vorstellung  bedingt, 
die  der  Redende  ausdrücken  will.  Mit  sagen  verband  der 
Dichter  eine  Vorstellung,  die  ein  reales  Objekt  verlangte, 
nicht  aber  mit  quedan.  Im  Mhd.  hängt  von  jehen  der  Optativ 
ab,  aber  von  einem  jehen  =  einem  etwas  zuerkennen  der  Indi- 
kativ; z.  B.  Greg.  1033  ein  Jcint,  da^  im  sin  herze  jach,  da^ 
er  so  schcenes  nie  gesah.  Wig.  101,  30  und  wil  ich  im  der 
wärheit  jehen,  da^  ich  nicht  schoeners  hän  gesehen.  —  Je 
nach  der  Bedeutung  und  Auffassung  der  abhängigen  Sätze 
kann  nach  demselben  Verbum,  selbst  in  demselben  Satze  ver- 
schiedener Modus  gebraucht  werden;  z.B.  0.  1,11,  Id  sagetun, 
tha^  si  gähün  sterron  einan  sähun  (Tatsache),  joh  dätun  filu  märi, 
tha^  er  sin  wärt  (Deutung).  Nib.  1225  die  zeigten,  da^  in  ivcere  leit 
(sie  gaben  ihrer  Empfindung  Ausdruck)  und  Nib.  2152  vil  wol  zeigte 
Rüedeger,  da^  er  was  starc  genuoc  (er  zeigte,  was  jeder  sah).  Auch 
O.  1, 10,  21  tha^  wi^in  these  liuti,  tha^  er  ist  heil  gebenti  inti  si  ouh 
irwente  fon  diufeles  gebente  (dass  er  Heil  spendet  und  befreien  wird). 

Anm.  1.  In  anderen  Sätzen,  wozu  erst  der  Indikativ,  dann  der 
Optativ  gebraucht  ist,  mag-  der  Wechsel  nach  §  149  zu  erklären  sein : 
1  Kor.  7,16  hya  auh  kannt,  qinö,  ei  aban  ganasjis?  aippau  ha 
kannt,  guma,  patei  qen  peina  ganasjais  (ei  öd)a€i<;,  ob  du  werdest 
selig  machen). 

3.  Ebenso  ist  die  Neigung  zum  Indikativ  natürlich,  wenn 
der  Redende  im  abhängigen  Satz  nicht  die  Vorstellung  eines 
andern,  sondern  eine  eigene  für  richtig  und  wirklich  gehaltene 


§  122.]  Indirekte  Aussagesätze  im  Indikativ.  243 

Vorstellung-  ausspricht  (a),  zumal  wenn  sich  die  Aussage  auf 
ihn  selbst  bezieht  (b),  z.  B.  (a).  0.  l,  i,  80  ih  weis,  ^3  Qot  worahta. 
3,  20,  74  gikei^it  mir  tha^  mina^  muat,  tha,^  er  ist  forasago  guat. 
5, 12, 10  wir  gilouhen  tha^  ouh  fram,  er  wäran  lichamon  nam.  1, 1, 111 
gidän  ist  es  nu  redina,  tha^  si  sint  guate  thegana.  Nach  einem 
Optativ:  Walther  57,6  s6  steilere  ich  wol,  da^  hie  diu  wtp  heiser 
sint  dann  ander  frouwen.  Selbst  nach  dünken  und  wähnen:  Nib. 
2270  mich  dunket,  da^  diu  moere  iu  niht  rehte  sint  geseit  (A,  sin  B); 
Walther  22,  30  ich  woen  si  beide  tören  sint.  30,  1  ich  wcen  er  houbet- 
Sünde  und  schände  zuo  im  trinket.  111,21  ich  wcene  da^  gebende 
ungltche  stät.  Auffallender  im  Gotischen  nach  einem  Praet.  bei  einer 
auf  die  Zukunft  bezüglichen  Aussage:  2  Kor.  1,  10  du  pammei 
wSnididum,  ei  galauseip,  exe,  öv  i'i\Tr(Ka)u€v  öxi  Kai  ^üaexai  (vgl.  ZfdPh, 
8,  171).  —  (b).  0.  3, 16,  63  tvi^it  tha^  ouh  filu  fram,  theih  fon  mir  selbo 
ni  quam.  4,  13,  3  wiztt  nu,  theih  bin  mit  iu  luzzila  wila.  4,  21,  29 
thü  quts,  quad  er,  theih  kuning  bin.  Walther  49,  30  wa^  sol  ich  dir 
sagen  m&,  wan  da^  dir  niemen  holder  ist  dann  ich.  71,  10  ich  tvil 
dir  jehen,  da^  du  min  dicke  s^re  bcete.  92, 8  doch  tuot  mir  der  ge- 
dinge  wol  —  deiche  noch  erwerben  sol.  114,  8  owS  des  fürhte  ich 
vil  sere,  da^  ich  muoz  verjehen,  su:es  er  wil. 

4.  Ferner  kommt,  je  länger  um  so  mehr,  das  Tempus 
des  regierenden  Satzes  in  Betracht.  Das  Präsens  begünstigt 
den  Indikativ,  das  Präteritum  den  Optativ.  In  der  jetzigen 
Sprache  ist,  wenn  der  Redende  die  Aussage  des  Nebensatzes 
als  wirklich  ansieht,  nach  einem  Präsens  der  Indikativ  ge- 
boten; z.  B.  Er  weiss  {weiss  nicht),  dass  sie  hier  ist.  Er 
fühlt,  dass  er  alt  wird.  Er  merkt,  dass  man  ihn  beobachtet. 
Auch  nach  Verben  des  Affekts:  Er  freut  sich,  dass  du  hier 
bist  etc.  Dagegen  können  wir  nach  einem  Präteritum  überall 
den  Optativ  brauchen,  selbst  da,  wo  der  Nebensatz  ein  ganz 
sicheres  Ereignis  meldet;  z.  B.  Er  wusste  (wusste  nicht) ^  dass 
sie  hier  sei  od.  wäre.  Er  fühlte,  dass  er  alt  würde.  Er 
merkte,  dass  man  ein  Äuge  auf  ihn  hätte.  Er  freute  sich, 
dass  du  hier  wärest.  In  einem  Falle  ist  der  Optativ  sogar 
notwendig,  nämlich  dann,  wenn  die  Aussage  des  Nebensatzes 
für  das  regierende  Subjekt  in  die  Zukunft,  für  den  Redenden 
in  die  Vergangenheit  fällt.  Sie  sagte,  vermutete,  wusste,  freute 
sich,  dass  er  bald  zurückkäme,  —  zurückkehren  würde.  Der 
Grund  liegt  darin,  dass  die  Sprache  die  dem  Optativ  zurück- 
kehren würde  entsprechende  Indikativform  zurückkehren  ward 


244  Gebrauch  der  Modi.  [§  122. 

nicht  mehr  besitzt  (§  101,2);  zurückkehren  wird  könnte  nur 
gesagt  werden,  wenn  die  Handlung  auch  für  den  Eedenden 
zukünftig  ist. 

5.  In  Nebensätzen,  deren  Aussage  der  Redende  für  irr- 
tümlich oder  falsch  hält,  behauptet  sich  nach  einem  Prät.  der 
Optativ  ganz  fest:  Er  dachte^  dass  ich  sein  Freund  wäre. 
Er  gab  vor,  dass  er  mich  gesehen  hätte  etc.  Man  kann  sagen: 
Er  lüollte  zeigen,  dass  er  stark  genug  wäre  oder  war,  wenn 
die  Absicht  gelungen  ist;  ist  sie  nicht  gelungen,  nur  wäre. 
Ähnlich :  Er  freute  sich,  dass  sie  glücklich  angekommen  war 
od.  wäre,  wenn  die  Ankunft  wirklich  erfolgt  ist;  ist  sie  nicht 
erfolgt  nur  wäre.  Dagegen  in  Nebensätzen,  die  von  einem 
Präsens  abhangen,  wird  auch  in  diesem  Fall  der  Indikativ 
zugelassen;  z.  B.  Er  denkt,  dass  ich  sein  Freund  hin.  Er 
gibt  vor,  dass  er  mich  nicht  gesehen  hat  u.  ä.  Da  der  Optativ 
in  solchen  Fällen  nichts  ausdrücken  würde,  was  nicht  schon 
aus  der  Satzform  und  der  Bedeutung  des  regierenden  Verbums 
zu  erkennen  wäre,  so  erscheint  er  als  überflüssig  und  darin 
wird  der  Grund  für  diese  von  manchen  Grammatikern  noch 
bekämpfte  Entartung  des  Sprachgebrauchs  liegen. 

Anm.  2  DenEinfluss,  den  das  Tempus  des  regierenden  Verbums 
auf  den  Modus  des  abhängigen  Satzes  hat,  erklärt  man  gewöhnlich 
aus  dem  Zeitverhältnis,  in  dem  der  Redende  zu  der  Aussage  des 
abhängigen  Satzes  steht.  Ein  Präteritum  im  Hauptsatz  nötigt  ihn, 
die  Aussage  des  Nebensatzes  von  einem  Zeitpunkt  aus  zu  betrachten, 
der  ihm  fern  lieg-t;  steht  dagegen  im  Hauptsatz  das  Präsens,  so 
sieht  er  sie  vom  eigenen  Standpunkt  aus.  Daher  erscheint  in  diesem 
Fall  der  direkte,  in  jenem  der  indirekte  Modus  als  natürlicher.  Ob 
diese  Erklärung  ausreicht,  mag  dahin  gestellt  sein.  Behaghel  (Zeit- 
formen S.  72  Anm.)  hat  sie  entschieden  abgelehnt  und  eine  andere 
versucht. 

6.  Endlich  hängt  die  Wahl  des  Modus  davon  ab,  ob  der 
abhängige  Satz  mit  oder  ohne  Konjunktion  gebildet  ist.  Wenn 
die  Konjunktion  fehlt,  ist  der  Optativ  unentbehrlich,  weil  dann 
der  Modus  allein  die  indirekte  Rede  beginnt.  So  besonders 
in  der  sogenannten  Oratio  obliqua.  —  Über  den  Indikativ  in 
Nebensätzen,  die  einem  indirekten  Satz  untergeordnet  sind^ 
s.  §  147,  2. 


§  123.]  Indirekte  Fragesätze.  245 

Indirekte  Fragesätze^). 

123.  Die  Fragesätze  sind  entweder  Entscheidungsfragen,  z.  B. 
kommt  er?  oder  Ergänzungsfragen,  z.  B.  Wer  kom,mt?  Wann  kommt 
er?;  jene  lassen  die  Handlung  überhaupt  zweifelhaft,  diese  lassen  sie 
nur  in  einem  durch  ein  indefinites  Pronomen  oder  Pronominaladverb 
bezeichneten  Punkte  unbestimmt;  jene  erwarten  von  dem  Angeredeten 
eine  Entscheidung',  diese  eine  Ergänzung'. 

(Ergänzungsfragen  im  Optativ.)  1.  In  den  Ergänzungs- 
fragen können  von  Anfang  an  beide  Modi  gebraucht  werden. 
Den  Optativ  verlangen  diejenigen,  die  einen  Zweifel  des 
Subjekts  über  seine  eigene  Tätigkeit  ausdrücken,  oder  die  für 
eine  im  Hauptsatz  bezeichnete  Person  Gegenstand  des  Nach- 
forschens  oder  der  Erwägung  sein  sollen.  Jenen  entsprechen 
in  der  direkten  Rede  Sätze  im  dubitativen,  diesen  Sätze  im 
deliberativen  Optativ. 

Dubitativ  ist  der  Optativ  nach  einem  Präsens  z.  B. 
Mt.  ß,  25  ni  maui^naip  saiwalai  izwarai,  Iva  matjaip,  ti  qpdYriTe.  Mt. 
8,  20  sunus  mans  ni  habaip^  fvar  haubip  sein  anahnaiwjai,  ttoö 
K\ivr).  0.2,22,6  mit  suorgön  ouh  ni  ratet,  mit  tviu  ir  iuih  watet. 
2, 17,  8  wer  findit  untar  manne,  mit  wiu  man  gisalze  thanne.  —  Nach 
einem  Präteritum:  Lc.  16,4  andpähta  mik,  Iva  taujau.  0.  4,8,4 
dätun  ein  githingi,  wio  man  nan  giwunni.  1,11,33  war  si  nan 
gihadöti  jah  war  si  nan  gilegiti,  ni  wdnu  tha^  si^  wessi.  3,  26,  7  sie 
rietun,  was  sies  wolttn,  joh  was  sies  duan  scolttn.  Wie  es  in  dem 
letzten  Beispiel  geschehen  ist,  so  pflegen  auch  wir  jetzt  Umschrei- 
bungen mit  sollen  oder  auch  könrien  zu  brauchen. 

2.  Häufiger  sind  die  Sätze,  in  denen  der  Optativ  in 
deliberativem  Sinne  gebraucht  ist.  Oft  weist  schon  das 
regierende  Verbum  darauf  hin,  wie  der  abhängige  Satz  auf- 
zufassen ist,  und  es  ist  kein  Zufall,  wenn  z.  B.  bei  Otfried 
nach  fragen,  ir  fragen,  forspön,  eiscön  u.  ä.  der  Fragesatz 
stets  im  Optativ  steht  (OS.  1  §  326).  Aber  wie  bei  den  indirekten 
Aussagesätzen  liegt  der  Grund  für  den  Gebrauch  des  Optativs 
doch  nicht  in  dem  regierenden  Verbum  an  sich,  sondern  in 
der  Bedeutung  der  ganzen  Satzverbindung.  Nach  demselben 
Verbum  kann  je  nach  dem  Sinn  der  Indikativ  oder  Optativ 
berechtigt  sein.     So    steht    z.  B.  nach  wissen,    erfahren,    mit- 


1)  Erdm.  174—176.  Mourek  §  124—126.  Delbr.  PBb.  29,  248—257. 
Blatz  2,934-939. 


246  Gebrauch  der  Modi.  [§  123. 

teilen  im  allgemeinen  der  Indikativ,  dagegen  wenn  das  Ver- 
langen nach  Wissen  oder  Mitteilung  ausgedrückt  wird  {ich  wollte 
wissen,  sage  mir)  der  Optativ.  Auch  an  Prädikate,  die  gar 
keinen  Hinweis  auf  einen  abhängigen  Fragesatz  enthalten, 
kann  sich  ein  solcher  anschliessen;  z.  B.  0.  5, 21, 3  refsit 
sie  .  .  ziu  si  irgä^in,  sin  thionost  so  firlia^in.  2,1,43  ij 
was  imo  io  quegka^  joh  filu  Uhhaßa^,  wielih  ouh  joh  wanne 
er  ej  wolti  yrougen  manne. 

Beispiele.  Auf  einen  Hauptsatz  im  Präsens  folgt  der  Opt. 
Präs.:  0.  5,23,41  hugit  er  io,  war  i^  si,  der  Liebende  denkt 
immer  daran,  wo  die  Geliebte  sei.  5,  20,  63  hanton  joh  ouh  ougön 
higinnent  si  nan  scouwön,  wio  er  sina^  wort  gimeine,  joh  wa^  '€r 
in  irdeile.  Der  Opt.  Prät.  5,1,1  ist  filu  manno  wuntar,  ziu  druhtin 
thes  krüzes  töd  irweliti.  —  Auf  einen  Hauptsatz  im  Präteritum 
der  Opt.  Prät.:  Jh.  13,24  handwiduh pan  panima  (sc.  dem  Johannes) 
Seimön  Paitrus  du  fraihnan,  has  wesi,  Tic;  av  €l'r|.  Mc.  5,  14  qemun 
saihan,  ha  wesipata  waurpanö,  t(  eöxiv.  Jh.  13,  22  sehun  du  sis  missö 
pai  sipönjös  pagkjandans,  bi  Jvar^jana  qepi,  irepi  rivoc,  Xe-^ei.  Lc.  9,  46 
galaip  pan  mitöns  in  ins,  pata  harjis  pau  izi,  maists  ivesi.  0.  2,4,  5 
tho  sleih  ther  färäri  irfindan,  wer  er  wärt.  2,  7, 18  toir  woltun  lui^^an 
in  giwis,  war  thü  emmizigen  biruwis.  1,16,6  habeta  si  in  githähti, 
war  siu  then  dröst  suahti.  1,4,71  ü^e  stuant  ther  Hut  thär,  was 
sie  filu  wuntar,  ziu  ther  ewarto  dualeti  s6  harto.  —  Sehr  oft  finden 
sich  solche  abhängigen  Fragesätze  nach  einem  Imperativ,  der 
zur  Aufmerksamkeit  auffordert,  oder  eine  Mitteilung  verlangt; 
z.  B.  a)  Mt.  9, 13  ganimip  ha  sijai  (judGere  ti  eoxiv),  armahair- 
tipa  wiljau  jah  ni  hunsl.  0. 1, 12,  26  hugi,  wa^  thär  fers  singe, 
2,19, 13  wio  ih  hiar  gibiate,  tha^  höret  io  zi  guate;  und  vor  einem 
Präteritum:  1,3,29  hugi,  weih  thir  sageti.  b)  0.  1,27,31  thes  gidua 
thu  nu  unsih  ivts,  wer  thoh  manno  thu  sts.  4,  21,  35  sage  thü  mir  .  . 
wa^  thu  nennis  tha^  war,  gidua  mih  thes  giwissi,  wa^  st  tha^  war- 
nissi.  3, 17, 17  nu  zeli  uns  tha^  thtna^  giräti,  wa^  i^  theses  quäti^ 
Auch  3, 24,  61  giböt  er,  sie  mo  zelittn,  wara   sie  nan  legittn.  — 

3.  In  demselben  Sinne  steht  der  Optativ  auch  in  den 
folgenden  Beispielen,  in  denen  das  regierende  Verbum  den 
abhängigen  Satz  nicht  als  Gegenstand  des  Nachforschens  oder 
Erwägens  bezeichnet:  0.5,7,17  sie  sprächun  thio  unthulti  joh 
wa^  si  thara  wolti.  3, 16,  70  joh  sprächun  ouh  in  rihti,  wio  tha^ 
wesan  mohti  tha^  selben  kristes  guati  mera  wuntar  ddti.  2,  4,  26  ni 
hörta  wergin  Tnäri,  wer  ther  fater  wäri.  Ebenso  nach  ni  wei^ 
3, 16,  59 ;  nist  kund  3, 20,  91 ;  ni  firnimist  2, 12, 45 ;  ni  firnämun  1, 21, 55. 


§  124.]  Indirekte  Ergänzungsf ragen.  247 

124.  (Ergänzungsfragen  im  Indikativ.)  1.  Den  Optativ- 
sätzen stehen  Indikativsätze  gegenüber;  zunächst  solche,  in 
denen  die  Aussage  des  Nebensatzes  als  Gegenstand  der  Wahr- 
nehmung, des  Wissens  oder  der  Mitteilung  aut'gefasst  wird; 
z.  B.  Lc.  18,  6  hauseip,  Iva  staua  inwindipös  qipip  (es  ist  so  eben 
erzählt).  Jh.  13,  28  patuh  pan  ainshun  ni  wissa,  duTv^  qap  irtima. 
0.  4, 19,  40  thu  höris,  wa^  si  nennent  joh  thih  ana^ellent.  5,  4,  57 
iagilth  Mar  s'ehan  mag^  war  ther  Itchamo  lag.  5,  6,  68  ioh  irkennit 
tha^  muat,  ivio  selbo  druhttn  irstuant.  3, 20,  137  wanana  ther^r 
avur  ist^  thes  wiht  uns  sär  io  kund  nist.  2,  7, 1  higinnu  ih  Mar  nu 
redinön,  ivio  er  bigonda  bredigön.  2,  3,  27  ther  evangelio  ouh  giwuag, 
wio  man  tMu  kindütn  irsluag.  3,  20,  110  zalta,  wes  er  fualta  joh 
wa^  thär  inan  ruarta.  Selbst  nach  Imperativ  und  Optativ:  Mt.  6,28 
gäkunnaip  blömans  haipjös,  hnaiwa  ivahsjand.  0.  2,  7, 1 1  sehet,  quad 
er,  herasun^  war  geit  ther  druhtines  sun.  1,  2, 11  tha^  ih  ouh  Mar 
giscrtbe,  wio  firdän  er  unsih  fand  joh  ivio  er  fuar  ouh  thanne  ubar 
himila  alle.  2,  14,  23  oba  thu  thia  gotes  giß  irknätis,  joh  wer  dih 
hitit  thanne  ouh  Mar  zi  drinkanne,  thu  bätis  etc.  In  diesen  Bei- 
spielen weist  der  Nebensatz  auf  etwas  vor  Augen  liegendes 
oder  als  Tatsache  anerkanntes  hin;  aber  auch  das  Unvollendete 
und  Zukünftige  kann  im  Indikativ  stehen;  z.B.  Jh.  8,14  unti 
wait  (ich  weiss),  haprö  qam  jah  hap  galeipa;  ip  jus  ni  witup, 
haprö  qiraa  aippau  hap  galeipa.  0.  5,  14,  6  will  ih  gizeigön,  ivär 
thu  es  lisis  mera. 

2.  Nicht  selten  lässt  sich  ein  Satz  ebensowohl  als  Gegen- 
stand der  Wahrnehmung  etc.  wie  als  Gegenstand  des  Forschens 
und  Erwägens  auffassen,  so  dass  die  Wahl  des  Modus  frei 
steht.  Der  Indikativ  wäre  z.  B.  erlaubt  0.  2,  3, 11  mäht  lesan,  wio 
i^  wurti  zi  theru  druhtines  giburti ;  4,  6,  4  Tnaht  lesan,  wio  er  däti, 
joh  wio  er  se  bredigöti  (vgl.  2,  3, 29  mäht  lesan  ouh  Mar  forna,  wio 
er  kösön  bigonda).  3, 16,  59  ni  wei^  i^  manno  nihein,  wanana  Sr 
selbo  quämi  (vgl.  3, 20, 137  wanana  ther^r  avur  ist,  thes  wiht  uns 
sär  io  kund  nist).  3,  24,  71  thö  ahtotun  thie  liuti^  wio  er  nan  min- 
nöti  (Christus  den  Lazarus).  1,13,18  (Maria  barg  die  Worte  in 
ihrem  Herzen)  ahtönti,  wio  thiu  wort  Mar  gaganttn  (wie  die  Worte 
sich  erfüllt  hatten).  —  Umgekehrt  wäre  der  Optativ  gerechtfertigt 
0.  5, 10, 27  bigondun  thingön  thö  untar  in,  wio  er  giang  kösönti  mit 
in,  wio  tha^  herza  bran  in  in.  5, 10,  35  sie  in  thö  reda  dätun,  wio- 
sie  nan  ouh  irknätun,  joh  wio  se  in  thera  ferti  giangun  kösönti.. 
5,  23, 155  nihein  ouh  thes  githenkit,  wio  er  (der  Teufel)  sie  em^mizi- 
gen  sc7^enkit.  Ebenso  0.  1,18,43  hugi,  wio  ih  thär  fora  quad  (vgl. 
1,3,29  hugi,   weih   thir   sagiti]    1,12,26).     Jh.  9,  15  frihun   ina  pai 


248  Gebrauch  der  Modi.  [§  125. 

Farisaieis,  haiwa  ussaJv,  Trox;  dveßXeipev.  —  Auffallend  ist  der  Indi- 
kativ O.  5,  21,  1  nim  nu  gourna  harto  thero  druhtines  worto,  in  herzen 
harto  thir  gibint,  wio  filu  egislih  siu  sint]  und  mehr  noch  Mc.  9,10 
pata  ivaurd  habaidedun  du  sis  missö  sökjandans,  Iva  ist  pata  us 
daupaim  usstandan,  wenn  hier  nicht  unabhäng-ige  Frage  anzunehmen 
ist  (ZfdPh.  8,  16). 

So  begegnet  denn  auch  Wechsel  des  Modus  in  dem- 
selben Satze;  z.  B.  0.  H.  27  nim  gouma  in  alathräti,  wio  Abel  däti, 
wio  er  hugu  rihta  stnan  in  sUh  druMlnan,  Ebenso  4,  6,  4  ff.  4,  7,  7. 
4,  6,  35.  5, 12,  7.  Dagegen  mit  charakteristischem  Unterschied  0.  3,20,43 
sage  uns  nu  giwäro,  wio  siliist  thu  so.  ziero  (vor  Augen  liegende 
Tatsache)  joh  wer  tliir  däti  thia  mäht,  tha^  thu  so  scöno  sehan  mäht. 

125.  (Jüngere  Entwickelung.)  1.  Indem  der  Optativ  die 
Aussage  des  Nebensatzes  als  Gegenstand  der  Nachforschung* 
und  Erwägung  bezeichnet,  verlegt  er  sie  zugleich  in  die 
Vorstellung  der  im  Hauptsatz  bezeichneten  Person,  und  so 
wird  in  den  Fragesätzen  wie  in  den  Aussagesätzen  der  Opta- 
tiv zum  Modus  der  indirekten  Rede,  der  auch  da  gebraucht 
wurde,  wo  der  Deliberativ  keine  Berechtigung  hatte;  z.  B. 
Walther  67,  26  der  ivären  minne  giht  si  ganzer  stcetekeit,  wie  guot 
si  st,  wies  iemer  teer.  46,  6  suln  wir  sprechen,  wa^  sich  dem  geliche. 
96,  11  d&r  töre  kan  sich  nicht  versten,  iva^  e^  fröude  und  ganzer 
wir  de  gebe.  19,  18  des  bedunket  mich,  wie  du  dämite  verliesest  michels 
Tnere.  66,  19  mir  st  liep  da^  die  betrogenen  wi^^en,  wa^  si  trüge. 
Nach  einem  Präteritum:  119,20  mich  Tnüet,  da^  ich  si  hörte  jehen, 
wie  holt  si  7nir  in  triuicen  wcere.  114,  27  da  sah  ich  bluomen  strtten 
wider  den  grüenen  kle,  weder  ir  lenger  ivcere.  94,  29  dö  bedühte  mich 
zehant,  wie  mtn  sele  wcere  ze  himile.  104,  23  man  seif  mir  ie  von 
Tegerse,  wie  wol  da^  hüs  mit  ere^i  sti.  12, 14  er  hie^  iu  sagen,  wie 
erj  verschulden  welle. 

2.  Die  jüngere  Entwickelung  des  Modus  verläuft  daher 
in  diesen  Fragesätzen  ebenso  wie  in  den  Aussagesätzen;  das 
Tempus  des  regierenden  Satzes  gewinnt  Einfluss  auf  den 
Modus  des  abhängigen.  Nach  einem  Präsens  neigen  wir  zum 
Indikativ,  wenn  wir  keine  besondere  Ursache  haben,  die  Aus- 
sage als  indirekt  zu  bezeichnen;  nach  einem  Präteritum  zum 
Optativ,  wenn  nicht  der  Redende  die  Aussage  des  abhängigen 
Satzes  von  seinem  Standpunkte  aus  geben  will:  Er  will  wissen^ 
wer  das  getan  hat  (habe);  —  wann  sie  wieder  kommt  (komme). 
Er  wollte  wissen,  wer  das  getan  hätte 'j  —  wann  sie  wieder 


^  126.]  Indirekte  Entscheidungsfragen.  249 

Tcäme  •,  oder  vom  Standpunkt  des  Redenden :  —  wer  das  getan 
hatj  —  wann  sie  wieder  kommt.  Wo  im  Ahd.  und  Mhd. 
nach  einem  Präsens  der  Optativ  steht,  liegt  uns  meistens, 
namentlich  in  der  Umgangssprache,  der  Indikativ  näher; 
z.  B.  Walther  103,  6  mau  sol  iemer  fragen  von  d'eyn  Tnan,  wie^  umb 
sin  herze  sti.  99,  20  in  wei$  niht  wol,  tvie^  darumbe  st.  99,  27  trelt 
ir  ici^^en,  wa^  diu  ougen  stn  etc.  Und  umgekehrt :  wo  im  Ahd. 
nach  einem  Präteritum  der  Indikativ  steht,  können  w^ir  oft 
ebensogut  oder  besser  den  Optativ  der  indirekten  Rede  brauchen; 
z.  B.  0.  3,  20,  184  want  er  in  zalta,  wer  er  was,  weil  er  gesagt  hatte, 
wer  er  wäre.  5,  10,  35  sie  in  thö  reda  dätun,  wio  sie  nan  ouh  irk- 
nätun  ioh  wio  se  in  thera  ferti  giangun  kösönti,  sie  berichteten, 
wie  sie  erkannt  hätten  und  gegangen  wären.  Aber  4,  19,  64  ir 
hörtut  tha^  ungimah,  tvio  er  widar  gote  sprah  müssen  auch  wir  mit 
dem  Indikativ  übersetzen,  weil  der  Redende  selbst  auf  eine  Tat- 
sache hinweist. 

126.  (Indirekte  Entscheidungsfragen.)  1.  In  den  indirekten 
Entscheidungsfragen  steht  in  der  altern  Sprache  fast  immer 
der  Optativ;  z.B.  nach  einem  Präsens;  Mt.  27,49  let  ei  saih)am, 
qimaiu  Hellas  nasjan  ina,  ei  epxexai.  2  Kor.  13, 5  izwis  silbaiis 
fraisip,  sijaidu  in  galaubeinai,  ei  eöxe.  Nach  einem  Präteritum: 
Mc.  8,  23  frah  ina,  ga-u-ha-sehi,  ei  ti  ßXeirei.  Lc.  3, 15  pähtedun  allai 
in  hairtam  seinam  bi  lohannein,  niu  auftö  sa  wesi  Christus. 

Gewöhnlich  lässt  schon  die  Bedeutung  des  regierenden 
Verbums  einen  abhängigen  Fragesatz  erwarten;  doch  kann 
sich  dieser  auch  loser  anschliessen;  z.  B.  2  Tim.  2,  25  in  qairrein 
talzjands  pans  andstandandans,  niu  han  gibai  im  gup  idreiga 
(|ar]TroTe  öujr]),  die  Widerspenstigen  mit  Sanftmut  lehrend,  ob  ihnen 
nicht  Gott  Reue  gebe.  —  Indikativ  erscheint  im  Gotischen  nur 
einmal,  im  zweiten  Gliede  einer  Doppelfrage:  Jh.  7,17  jabai  has 
wili  wiljan  is  taujan,  ufkunnaip  bi  p6  laisein,  framuh  gupa  sijai, 
pau  iku  fram  mis  silbin  rödja.  Ebenso  bietet  Otfried  nur  ein 
Beispiel,  im  Reim  und  Anagramm:  Sal.  6;  keins  Notker  und 
Williram;  sie  brauchen  stets  den  Optativ  (Erdm.  §  202).  Dass 
in  den  indirekten  Entscheidungsfragen  der  Indikativ  fast  gar 
nicht  vorkommt,  ist  darin  begründet,  dass  wir  sie  überhaupt 
nur  da  anwenden,    wo    die  Aussage  durchaus  unbestimmt  ist. 

2.  Im  Mhd.  tritt  allmählich  ein  Wandel  ein.  Zwar  über- 
wiegt   noch    entschieden    der  Optativ;    aber    öfter    als    früher 


250  Gebrauch  der  Modi.  [§  12G. 

begegnet  nach  einem  Präsens  auch  der  Indikativ;  z.  B.  bei 
Walther  86,  11  ichn  wei^,  oh  ich  schoane  hin.  46,  26  da^ 
he^^er  spil,  oh  ich  da^  hän  genomen.  Und  die  jetzige 
Sprache,  namentlich  die  Umgangssprache,  neigt  nach  einem 
Präsens  entschieden  zum  Indikativ,  obschon  uns  der  Optativ 
nicht  versagt  ist:  Sie  fragt,  loill  wissen,  weiss  nicht,  oh  er 
zu  Hause  ist  {sei);  —  oh  er  gestern  in  der  Stadt  war,  ge- 
wesen ist  {gewesen  sei)'^  —  oh  er  hald  wieder  kommt,  kommen 
wird  {komme,  kommen  werde).  Bei  Walther  heisst  es  66, 9  nu 
hceret  unde  merket,  ob  si^  denne  tuo-,  55,30  nu  wil  ich  schouwen, 
ob  du  iht  tilgest',  51,  18  ine  wei^,  oh  er  zouber  künne;  60,  9  doch 
solt  du  gedenken  wol,  ob  ich  ie  getrcete  fuo^  von  miner  stcete  etc.;, 
uns  würde  überall  der  Indikativ  näher  liegen. 

3.  Dagegen  nach  einem  Präteritum  hat  sich  im  allge- 
meinen der  Optativ  behauptet:  Sie  fragte,  tcollte  wissen, 
wusste  nicht,  oh  er  zu  Hause  loäre,  sei',  —  oh  er  gestern  in 
der  Stadt  gewesen  sei,  wäre'^  —  oh  er  hald  wieder  käme 
od.  komme,  kommen  ivürde  od.  werde.  Nur  wenn  die  Aussage 
des  Nebensatzes  für  den  Redenden  und  das  regierende  Subjekt 
in  dieselbe  Zeit  fällt,  der  Redende  also  die  Aussage  ebenso 
gut  von  seinem  eigenen  zeitlichen  Standpunkt  aus  betrachten 
kann,  stellt  sich  wohl  auch  der  Indikativ  ein :  Er  wollte  wissen, 
ob  du  schon  wieder  hier  bist ;  —  gestern  zu  Hause  warst.  Er  fragte, 
ob  du  ihn  ganz  vergessen  hast;  —  ihn  bald  besuchen  wirst;  aber 
notwendig;  Sie  zweifelte,  ob  er  wieder  käme,  wenn  für  den  Redenden 
die  Aussage  schon  entschieden  ist.  Im  Nhd.  ist  also  der  Modus- 
gebrauch  in  den  indirekten  Fragesätzen  in  derselben  Weise 
wie  in  den  indirekten  Aussagesätzen  geregelt. 

Anm.  Abhängige  Frage-  und  Aussagesätze  berühren  sich. 
Im  Gotischen  finden  wir  die  Konjunktion  ei,  die  gewöhnlich  Aus- 
sage- oder  Absichtssätze  einleitet,  zuM^eilen  in  einem  Satz,  der 
einem  griechischen  Frag-esatz  entspricht;  z.  B,  Mc.  15,  44  sildalei- 
kida,  ei  is  jupan  gaswalt,  eGaüjuaaev,  ei  f\bY]  xeGvriKev.  An  derselben 
Stelle  beg'egnet  ein  abhängiger  Frag'esatz  ohne  Konjunktion:  Pei- 
latus  frah  ina,  jupan  gadaupnödedi,  ei  fjöri  air^öavev.  Ebensolche 
Sätze  im  Hd.;  bei  Otfried  einigemal  in  der  Doppelfrage:  3,  16,  17 
yrkenne  er  thesa  lera  joh  sehe  thärana  in  ivära,  si  fon  gote  queme 
thir,  odo  ih  sia  eigine  mir;  4,22,11.  In  einer  einfachen  Frage: 
Nib.  1775, 1  ine  wei^,  e^  €  geschach.  —  Umgekehrt  werden  im  Hd. 
Sätze  mit  ob  zuweilen  in  ähnlichem  Sinne  wie  dass-Sätze  gebraucht; 


§  127.1  Forderungs-  und  Absichtssätze.  251 

z.  B.  0.  4,  23,  20  ni  mag  ih  in  imo  irfindan^  oha  er  firdän  st  so  fram. 
Gudr.  459,  8  des  hin  ich  in  swceren,  oh  min  vater  mit  schiffen  nach 
uns  Ue.  Erin.  202  si  latent  übele  schinen,  oh  sie  die  wären  minne 
in  dem  herzen  suln  gewinnen.  432  da  setze  wir  tüsent  widere,  den 
nieman  mac  Urkunde  gehen,  oh  si  tugentUchen  leben.  Und  von  den 
Ergänzungsfragen  stehen  die  mit  wie  oft  den  dass-Sätzen  sehr  nahe; 
z.  B.  Nib.  13  e^  troumde  Kriemhilde,  wie  sie  einen  valken  zilge. 
Walther  34,  18  er  seit  uns,  wie  da^  rtche  ste  vericarren  (Blatz  2,  951). 
Ebenso  berühren  sich  indirekte  Fragen  und  Absichtssätze, 
indem  man  das  Ziel,  das  man  zu  erreichen  wünscht,  durch  den  Aus- 
druck ungewisser  Erwartung,  das  Ziel,  das  man  vermeiden  will,, 
durch  den  Ausdruck  zweifelnder  Besorgnis  ausdrücken  kann.  Bei- 
derlei Sätzen  kommt  der  Optativ  zu,  aber  in  verschiedenem  Sinne, 
den  Absichtssätzen  als  Modus  der  Forderung,  den  Fragesätzen  als 
Potentialis  (Deliberativ,  Dubitativ).  Otfried  braucht  nach  fären  'auf 
etwas  lauern,  nach  etwas  trachten'  in  ähnlichem  Sinne  tha^  und 
oha\  3,  4,  10  th'es  wärun  färenti,  tha^  sih  tha^  wa^^ar  ruarti.  4,  35,  25 
tha^  siu  th'es  gifärttn,  oha  sie  nan  thana  fuartin.  Ebenso  wir,  neben 
Wir  warteten,  oh  er  käme  auch  dass  er  käme.  Vgl.  ferner  Nib.  359, 1 
nach  den  hergesellen  wart  hote  dö  gesant,  oh  si  schouwen  tvolten 
niuwe^  ir  gewant.  Gudr.  209,  1  davon  s6  wart  im  not,  oh  er  ein  wtp 
hoete.  Parz.  363, 4  dem  was  vil  not,  oh  er  hejac  mühte  an  richer 
koste  hän.  —  Besonders  hervorgehoben  seien  die  mit  der  Fragepartikel 
ihai  eingeleiteten  Sätze,  die  sich  im  Gotischen  an  die  Verba  fürchten, 
sorgen,  verhüten  anschliessen;  z.  B.  2  Kor.  8,20  hiwandjandans  pata, 
ihai  has  U7is  fairinödedi,  das  verhütend,  dass  uns  nicht  jemand  übel 
nachreden  möge  2  Kor.  12, 20  unte  6g  ihai  auftö  higitau  izivis, 
qpoßoOiaai  yctp  ^r]TTuu<;  eüpuu  ujuäc;.  Solche  Sätze  können  ganz  die  Be- 
deutung finaler  Nebensätze  annehmen;  z.B.  Mt.  5, 25  sijais  waila 
hugjands  andastauin peinamma,  ihai  hau  atgibai  puk  stauin,  luri-rroTd 
ae  TrapaÖLU.  Aber  dass  der  Satz  doch  kein  Forderungssatz  und  der 
Modus  als  Potentialis  aufzufassen  ist  {er  wird  dich  vielleicht  dem 
Richter  übergehen)  zeigt  der  Mangel  der  Negation.  Mourek  §  183  f. 
Delbr.  PBb.  29,  248. 

Der  Optativ  in  Absichts-  und  Forderungssätzen  i). 

127.  1.  Als  indirekte  Sätze  kann  man  meistens  auch 
die  untergeordneten  Aussage-  und  Fragesätze  ansehen,  mit 
denen  man  die  Vorstellung  eines  zu  erreichenden  Zieles,  einer 
Absicht  oder  Forderung  verbindet.     Ihr  Modus  entspricht  dem 


1)  Mourek    §  175-184.     Delbr.    29,  214  f.     Erdm.    §  175-180'. 
Wunderlich  1,285-291.  282.    Blatz  785  f.  1140-1145. 


252  Gebrauch  der  Modi.  [§  127. 

Imperativ  oder  voluntativen  Optativ  der  direkten  Rede.  — 
Gewöhnlich  schliessen  sich  diese  Sätze  dem  Prädikat  an,  bald 
in  dem  loseren  Verhältnis  einer  näheren  Bestimmung,  bald  in 
dem  engeren  einer  Ergänzung;  beide  Arten  neben  einander 
z.  B.  0.  4,  11,  16  giböt,  sie  stillo  säßn,  thio  sino  diurun  henti 
wuasgin  se  unz  in  enti.  Die  relative  Bedeutung  des  Verbums 
gebieten  findet  ihre  Ergänzung  in  dem  Satze  sie  stillo  sä^tn. 
Dieser  hingegen  bedarf  einer  Ergänzung  nicht;  er  erhält  in 
dem  abhängigen  Satz  nur  eine  nähere  Bestimmung.  —  Die 
Prädikate,  die  der  Ergänzung  bedürfen,  weisen  oft  schon 
durch  ihre  Bedeutung  auf  einen  abhängigen  Forderungs-  oder 
Absichtssatz  hin;  so  die  Verba  gebieten,  auffordern,  beab- 
sichtigen, sich  bemühen.  Andere,  wie  sagen,  mitteilen,  zeigen 
können  ebenso  gut  auf  einen  Aussage-  oder  Fragesatz  bezogen 
werden,  lassen  also  die  Bedeutung  des  abhängigen  Satzes  un- 
bestimmt; z.  B.  0.  1,  19,  5  unz  ih  thir  zeigö,  wanne  thu  biginnes 
(beginnen  sollst).  Walther  100, 24  Frö  Welt,  du  solt  dem 
wirte  sagen,  da^  er  mich  von  dem  brieve  schabe.  Beide  Sätze 
haben  dieselbe  Form  wie  die  indirekten  x\ussage-  oder  Fragesätze; 
aber  der  Modus  ist  hier  in  anderem  Sinne  gebraucht  (§  126  A.). 
2.  In  derselben  Bedeutung  wie  in  den  indirekten  Sätzen 
kann  der  Modus  auch  in  attributiven  Relativsätzen  gebraucht 
werden;  z.  B.  0.  1,18,  33  farames  then  weg,  ther  unsih  wente 
zi  eiginemo  lante.  Nib.  817,3  wir  heilen  boten  riten,  die 
hie  niemen  sin  belcant.  1028,  2  ich  muo^  hie  beliben  bi  den 
minen  mägen,  die  mir  helfen  clagen.  Ferner  in  relativischen 
Vergleichsätzen,  z.  B.  Iw  296  do  empfienc  er  mich  als  schöne^ 
als  ime  got  iemer  löne.  Walther  61,9  mir  ist  liep,  da^  si 
mich  klage  ze  mä^e,  als  e^  ir  schöne  ste.  Und  besonders  in 
Temporalsätzen  mit  bis,  wenn  die  Fortdauer  der  Haupthand- 
lung bis  zum  angegebenen  Zeitpunkt  beabsichtigt  ist;  z.  ß. 
Lc.  1,  20  sijais  pahands  und  pana  dag,  ei  icairpai  pata,  ecTrj 
(TiLUTTUJV,  dxpi  f\<;  fijuepac;  T^vriiai  laOra.  0.  1,  19,  5  in  Aegypto 
wis  thu  sär,  unz  ih  thir  zeigö  avur  thär.  Nib.  974  ir  sult 
^3  lä^en  stän,  unz  e^  sich  ba^  füege.  1854,  1  ziehet  in  ze  eren, 
unz  er  werde  man.  Stets  enthält  der  Hauptsatz  eine  Forderung, 
der  durch  den  Nebensatz  das  Ziel  gesetzt  ist  (vgl.  §  145). 


§  128.]  Forderungs-  und  Absichtssätze.  25S 

3.  Gewöhnlich  ist  der  Modus  in  dem  Verhältnis  begrün- 
det, in  dem  das  Subjekt  des  regierenden  Satzes  zu  der  ab- 
hängigen Aussage  steht;  diese  bezeichnet  das  Ziel,  das  da& 
Subjekt  in  seiner  Tätigkeit  verfolgt,  und  zwar  eine  Absicht, 
wenn  Haupt-  und  Nebensatz  dasselbe  Subjekt  haben;  z.  B. 
0.  2,2,  12  quam,  si  man6ti\  eine  Forderung,  wenn  sie  ver- 
schiedene Subjekte  haben,  z.  B.  0.  1,4,77  was  er  houhnenti, 
tha^  menigi  fuari.  Ist  der  regierende  Satz  aber  selbst  ein 
Forderungssatz,  so  bezeichnet  der  abhängige  nicht  eine  Absicht 
des  Subjekts,  sondern  eine  Absicht  oder  Forderung  des  Reden- 
den; z.  B.  0.  1,  1,37  ili  thu  zi  nöti,  thei^  scöno  thoh  gilüte, 
beeifere  dich,  dass  es  schön  klinge.  0.  1,  10, 21  thu  scalt 
druhtine  rillten  wega  sine,  tha^  wi^in  these  liuti.  Endlich 
kann  der  abhängige  Satz  auch  einen  weniger  persönlichen 
Charakter  haben  und  eine  in  den  Verhältnissen  begründete 
Forderung  oder  Notwendigkeit  bezeichnen,  so  namentlich  nach 
Hauptsätzen,  die  eines  persönlichen  Subjektes  entbehren  (§  128,4). 
Nach  diesen  Gesichtspunkten  sind  die  folgenden  Beispiele  ge- 
ordnet. 

128.  1.  Der  regierende  und  der  abhängige  Satz  haben 
dasselbe  Subjekt.  Nach  einem  Präsens:  Gal.  2,17  sökjandans 
ei  garaihtai  dömjaindau,  ^riToüvric;  biKaiuuGfivai.  EÖm.  13,  8  ni  ainum- 
mehun  waihtais  skulans  sijaip,  niba  patei  izivis  missö  frijöp,  ei  iii) 
TÖ  ä\\Y)\ovc,  dYciTräv,  seid  niemand  etwas  schuldig,  ausser  dass  ihr 
euch  einander  liebet.  0.  1,1,32  ilit  er,  gigdhe,  tha^  stna^  io  gihohe, 
1, 5,  39  haMn  ih  gimeinit,  tha^  ih  einluzzo  mtna  worolt  nuzzo,  ich 
habe  beschlossen  unvermählt  zu  leben.  5, 25, 67  luagent  io  z'emo 
argen^  tha^  sie  gena^  berginJ^i,  30,  26  nu  ni  mag  biwerban,  tha^ 
sih  giheile  selban.  —  Nach  einem  Präteritum:  Gal.  2, 16  in  Xristau 
Jesua  gälaubidedum,  ei  garaihtai  wairpaima.  0.  3, 1,  4  er  was  Mar 
in  worolti,  er  tödes  bi  unsih  koroti.  1,22,2  sie  fli^^un,  tha^  sie 
gitlttn.  3, 14, 17  bigonda  genu  drahtön^  si  sih  zi  thiu  gifiarti,  tha^ 
siu  inan  ruarti.  4,  28,  9  thö  rietun  thie  ginö^a,  sie  würfln  iro  lö^a. 
3,  9,  9  si  wunsgtun,  muastn  rtnan  thoh  stnan  trädon, 

2.  Die  beiden  Sätze  haben  verschiedene  Subjekte.  Nach 
einem  Präsens:  Mc.  6,25  wiljau,  ei  mis  gibais  haubip  Johannis. 
Mc.  5, 7  biswara  puk  bi  guda,  ni  balwjais  mis.  Lc.  9, 54  wileizu^ 
ei  qipaima,  fön  atgaggai^us  him^ina,  G^Xck;  €iTruu|uev  irOp  Kaxaßfjvai. 
0.  4,  8, 15  wir  sculun  huggen^  tha^  sie  uns  nan  ni  irzuk€n.    4,  23,  27 


^54  Gebrauch  der  Modi.  [§  128. 

ther  wi^^od  l€rit  thäre,  in  crüce  man  then  hähe.  1,  28, 1  bittemis 
nu  druhtin,  er  unsih  .  .  ni  gisceide.  4, 15,  51  theist  gibot  mina^  zi 
iu^  ir  iuih  minnöt  untar  lu  joh  iagilth  thes  thenke  etc.  0.  H.  141 
evangelion  gibieient  uns,  wir  unsih  minnön.  —  Nach  einem  Prä- 
teritum: Mc.  7,36  anabaup  im,  ei  mann  ni  qepeina.  1  Kor.  16,2 
filu  ina  bap,  ei  is  girni.  Mc.  6,  12  m^ridedun,  ei  idreigödideina. 
0.  4,  6,  37  sie  minnötun  thdr,  tha^  man  sie  hia^i  meistar.  3, 16,  73 
thie  furiston  ein  girdti  dätun,  tha^  m,an  nan  gifiangi.  1,1,3  sie 
thes  fli^un,  in  buachon  man  gimeinti  thio  iro  chuanheiti.  4.  6, 13 
sie  i^  ouh  thö  gimeintun  joh  in  selbo  irdeiltun,  tha^  man  thia  fruma 
in  nämi  inti  anderen  gdbi.  Präsens  nach  Prät.  0.  1,  22,  59  er  ivolta 
unsih  leren,  wir  unsan  fater  eren. 

3.  Der  regierende  Satz  selbst  ist  als  Forderung-  aus- 
gesprochen* z.B.  0.3,17,57  sih,  tha^  thü  bigoumes.  Mt.  9,30 
saihats,  ei  manna  ni  witi.  Lc.  4,  3  qip  pamma  staina,  ei  wairpai 
hlaibs.  Walther  63,18  schaffe,  da^  ich  frö  geste.  3, 19  und  hilf  uns, 
da^  wir  mit  dir  obe  geligen  und  da^  din  craft  uns  gebe  so  starke, 
stcete  widerstrebe,  da  von  dtn  name  st  geret.  Greg.  469  vint  uns 
eteltchen  rät,  da^  doch  unser  kindeltn  mit  uns  iht  verlorn  st. 

4.  Der  regierende  Satz  entbehrt  eines  persönlichen  Sub- 
jekts Mc.  9, 12  hiaiwa  garnelip  ist  bi  sunu  mans,  ei  manag  tvinnai 
jah  frakunps  tvairpai,  dass  er  viel  leiden  und  verachtet  werden 
soll.  Jh.  17, 3  söh  pan  ist  so  aiiveinö  libains,  ei  kunneina  puk 
■ainana  sunjana  gup,  dass  sie  dich  als  den  wahren  Gott  erkennen 
sollen,  i'va  yivojaKujaiv.  So  besonders  nach  Ausdrücken  wie  'es  genügt, 
ist  Recht,  Sitte,  Zeit'  u.  ä.  Mt.  10,  25  ganah  sipöni,  ei  wairpai  S2vi 
laisareis.  Jh.  18,  39  ist  biuhti  izwis,  ei  ainana  izwis  fr  aletau.  Und 
in  milderem  Sinne,  wie  man  auch  durch  den  Imperativ  Handlungen 
bezeichnet,  die  man  nicht  grade  fordert,  sondern  nur  zulässt:  Mt. 
5,  29.  30  batizö  ist  pus,  ei  fraqistnai  ains  lipiwe  peinaize  jah  nih 
allata  leikpein  gadriusai  in  gaiainnan.  1  Kor.  4,  3  m,is  in  minnistin 
ist,  ei  fram  izwis  ussökjaidau,  mir  ist  es  ein  geringes,  dass  ich  von 
euch  gerichtet  werde,  Iva  dvaKpiGu).  —  Ebenso  im  Hochdeutschen: 
0.  1, 13, 12  tha^  scolta  stn  bi  nöti,  tha^  er  in  thionöti.  5, 1, 14  uns 
ist  fruma  in  thiu  gizalt,  joh  s'^gan  flu  manag falt,  sälida  zi  Übe, 
tha^  .scado  uns  hiar  ni  kltbe.  4,22,9  ist  iu  zi  giwonaheite,  ih  einan 
firlä^e.  4, 2, 3  sih  thiu  ztt  ndhta,  er  unsih  gidrösti.  4, 2,  13  then 
thiu  sälida  gireim,  tha^  thär  zi  disge  sä;^tn.  Musp.  63  pidiu  ist 
d'^mo  manne  s6  guot  .  .  da^  er  rahhöno  weltha  r'4hto  arteile.  0. 
3, 25, 25  ba^  ist,  man  biwärbe.  Walther  35, 8  ej  ist  mtn  site,  da^ 
man  mich  iemer  bt  den  tiursten  vinde.  35,  27  an  wtbe  lobe  stit  ivol, 
da^  man  si  hei^e  schcene.  Iw.  207  e^  ist  reht,  da^  der  mist  stinke. 
5429  nü  was  ej  ze  den  ztten  site,  da^  der  schuldegcere  Ute  etc. 


§  129.]  Forderungs-  und  Absichtssätze.  255 

5.  Ähnlich,  als  Ausdruck  einer  unpersönlichen  Forderung, 
lässt  sich  der  Modus  auch  in  manchen  Sätzen  auffassen,  die 
von  einem  Verbum  mit  persönlichem  Subjekt  abhangen;  z.  B. 
Jh.  12,  34  weis  hausidedum,  patei  Xristus  sijai  du  aiwa,  dass  Christus 
ewiglich  bleiben  werde  (m^v€i,  Potentialis  der  indirekten  Rede),  oder 
bleiben  soll  (Forderung);  der  Satz  fährt  fort:  jah  Tvaiwa  pu  qipis 
patei  skulds  ist  (bei)  ushauhjan  sa  sunus  mans.  Ebenso  0.  5,  24, 11 
ist  uns  in  thir  giwissi  ouh  tha^  irstantnissi,  tha^  unser  stubbi  füla^ 
iverde  avur  sulth  soso  i^  was.  Vielleicht  auch  in  Sätzen,  die 
nicht    sowohl    eine    Tatsache    als    ihre    Bedeutung    berichten. 

0.  2,  9,  7  fern^met  sär  in  rihti,  tha^  krist  ther  brütigoTno  st.  1,  17,  69 
kundtun  si  (die  Gaben  der  heiligen  drei  Könige)  uns  thanne,  tha^ 
er  urmäri  uns  ewai^to  wäri,  ouh  kuning  in  giburti  joh  bi  unsih  döt 
wurti.  4, 19,  45  bizeinta^  tha^  sin  wirdi  zi  niwihti  scioro  wurti,  zu 
Grunde  gehen  sollte.  Und  in  Ergänzungsfragen:  Lc.  8,9  frehun  pan 
ina  pai  siponjös  is  qipandans,  has  sijai  s6  gajukö.  0.  5,  8, 1  ih 
willu  Mar  gimeinen,  wa^  thie  engila  bizeinen,  bedeuten  sollen.  4,  5, 1 
hiar  scal  man  zellen  .  .  wa^  tha^  fihu  meine,  thiu  wät  ouh  Mar  bi- 
zeine. Walther  95,11  nu  hat  si  mir  bescheiden,  wa^  der  troum  be- 
diute  (zu  bedeuten  hat). 

129.      (Sätze,    die    sich    verschieden    auffassen    lassen.) 

1.  Nicht  selten  gestattet  der  Zusammenhang  verschiedene  Auf- 
fassung des  abhängigen  Satzes  und  dementsprechend  auch 
verschiedenen  Modus.  Sätze,  die  an  und  für  sich  Absichts- 
und Forderungssätze  sein  könnten,  stehen  im  Indikativ,  wenn 
sie  nicht  als  solche  aufgefasst  werden.  Besonders  dann  tritt 
dieser  Modus  ein,  wenn  die  Aussage  für  den  Redenden  eine 
Tatsache  ist.  Der  Ind.  Perf.  z.  B.  0.  3, 14,  45  ziu  si  fdreta,  tha^  si 
thia  trädun  ruarta  warum  sie  darnach  getrachtet  hatte,  den  Saum 
zu  berühren.     3,  26,  60  er  eino  tha^  biwarb,  tha^  er  bi  unsih  irstarb. 

2.  l,  21  thö  er  deta,  tha^  sih  zarpta  ther  himil  sus  io  tcarpta.  Nib. 
951, 4  ej  hat  geraten  Brünhilt,  da^  e$  hat  Hagene  getan  (Brünhild 
hat  es  angestiftet).  —  Der  Ind.  Präs.  Mc.  11,  28  has  pus  pata  wal- 
dufni  atgaf,  ei  pata  taujis,  i'va  iroi^c;,  wer  hat  dir  die  Macht  g'egeben, 
dass  du  solches  tust.  0.  2,  22,  21  er  giduit,  tha^  thu  nakot  ni  geist. 
1, 1,  23  eigun  sie  iz  bithenkit,  tha^  sillaba  in  ni  wenkit.  0.  Lud.  72 
thoh  habU  therer  thuruh  not,  tha^  ftant  uns  ni  gaginit,  thiz  fasto 
binagilit ;  simbolon  bisperrit,  uns  widarwert  ni  merrit.  —  Selbst  für 
Zukünftiges  kann  der  Indikativ  gebraucht  werden :  Jh.  14,  3 
franima  izwis  du  mis  silbin,  ei,  parei  im  ik,  paruh  sijup  jah  jus 


256  Gebrauch  der  Modi.  [§  130. 

(iva  fJTe).  16,2  qimip  Tveila^  ei  pugkeip  (iva  6ö?ri).  0.4,8,21  gi- 
machön,  tha^  thär  nist  manno  mera.  5,  7,  5L  ih  giagälei^ön^  tha^ 
ih  inan  giholön  thär.  3,  22,  61  oh  ih  avur  thenku,  theih  stnu  werk 
wirku.  2, 14,  37  ther  thuruh  thurst  githenkit,  tha^  thesses  brunnen 
drinkit.  Nib.  601,  2  ich  schaffe^  da^  si  hlnaht  so  nähen  bt  iu  Itt.  — 
Mit  wechselndem  Modus  0.  2,  5,  15  themo  alten  det  er  sua^i,  tha^  er 
tha^  oba^  ä^i,  gispuan,  tha^  er  ouh  tha^  firlia^,  thaQ  druhttn  inan 
duan  Mag.  Ebenso  0.  Lud.  9  f.;  4,  2,  1;  dagegen  mit  charakteristischem 
Unterschied  3,  1,  13  er  deta,  tha^  halze  liafun  .  .  er  due,  theih  Mar 
ni  hinke-,  liafun  weist  auf  ein  erreichtes  Resultat,  ni  hinke  auf  eins, 
das  erst  erreicht  werden  soll. 

2.  Umgekehrt  finden  wir  den  fordernden  Optativ  in  Sätzen, 
die  sich  als  Folgesätze  auffassen  lassen;  z.  B.  Trist.  4589  wie  ge- 
vähe  ich  nü  min  sprechen  an.,  da^  ich  den  tcerden  houbetman 
Tristanden  s6  bereite  ze  stner  swertleite.,  da^  man  ^^  gerne  v ernenne 
und  an  dem  mcere  wol  gezeme.  ichn  wei^,  wa^  ich  davon  gesage, 
da^  iu  gelt  che  und  behage  und  schöne  an  disem,e  mo&re  sti. 
Walther  51,  9  Minne  sol  sin  gemeine,  so  gemeine,  da^  si  ge  durch 
zwei  herze  und  dur  dekeine^  mi.  120,  32  nü  müe^e  ej  got  gefüegen 
so,  da^  ich  noch  von  wären  schulden  werde  frö.  Wig.  39,  33  diX  solt 
den  gürtel  so  bewarn,  da^  stn  ieman  werde  gewarn.  113,  25  die  sint 
mit  steinwenden  beslo^^en  und  mit  huote,  s6  da^  des  ieman  muote, 
das  6^  ^^^  ^^  Mre.  Greg.  770  dö  beslu^^en  si  da^  {va^),  mit  solher 
gewarheit,  da^  deheiner  slahte  leit  geschcehe  dem  kinde.  Der  Optativ 
weist  darauf  hin,  dass  diese  Sätze  als  Forderungssätze  aufgefasst 
wurden,  mag  auch  in  manchen  das  Adverbium  s6  es  uns  näher 
legen,  sie  als  Folgesätze  aufzufassen. 

130.  (Jüngere  Entwickelung.  Umschreibungen.)  1.  Im 
Laufe  der  Zeit  hat  der  Indikativ  an  Ausdehnung  gewonnen. 
Während  er  in  der  älteren  Sprache  schliessen  lässt,  dass  der 
abhängige  Satz  überhaupt  nicht  als  Absichtssatz  aufgefasst  ist, 
begegnet  er  in  der  jüngeren  auch  in  solchen  Sätzen,  die  offen- 
bar als  Absichtssätze  empfunden  werden  und  durch  die  Kon- 
junktion auch  deutlich  als  solche  bezeichnet  sind.  Ähnlich 
wie  in  den  indirekten  Aussagesätzen  hängt  der  Modus  wesent- 
lich von  dem  Tempus  des  regierenden  Satzes  ab.  Nach  einem 
Präteritum  befremdet  uns  der  Indikativ  selbst  in  manchen 
Sätzen,  in  denen  der  ältere  Gebrauch  ihn  zuliess  (vgl.  die 
Beispiele  in  §  128),  nach  einem  Präsens  ist  er  ganz  geläufig, 
namentlich  in  der  Verkehrssprache.    Man  sagt:   Er  band  den 


i;   130.]      Forderungs-  und  Absichtssätze.     Uuischreibung-eii.  257 

Baum  ariy  damit  er  grade  wüchse\  aber  Er  bindet  den  Baum 
an,  damit  er  grade  wachse,  oder  wächst.  Nur  Dach  VerbeD, 
von  denen  auch  ein  Aussagesatz  abhängen  kann,  meidet  man 
ihn,  weil  hier  der  Modus  zur  Unterscheidung  von  Aussage- 
und  Forderungssatz  dient;  z.  B.  0.  4,  23,  27  ther  wi^^öd  lerit 
thäre,  in  crüce  man  then  hohe  =  dass  man  den  an  das 
Kreuz  hänge  (od.  hängen  soll),  nicht  hängt. 

2.  Zur  Umschreibung  dienen  zunächst  die  Verba  wollen 
und  sollen.  Diese  Verba  können,  da  sie  selbst  die  Funktion  des 
Optativs  erfüllen,  im  Indikativ  stehen;  z.B.  0.3,25,34  er  in  zalta, 
ivio  i^  alla^  tcesan  scolta,  tha^  druhtin  selbo  wolta,  hi  unsih 
sterhan  scolta.  Walther  27,31  got  hat  gehcehet  und  geheret  reine 
frouwen,  da^  man  in  wol  sol  sprechen.  Sie  können  aber  auch  im 
Optativ  stehen;  z.  B.  0.  3,26,7  sie  rietun,  was  nies  wolttn  joh  ivas 
sies  duan  scolttnl  Dann  aber  kann  der  Optativ  nicht  mehr  als 
Modus  der  Forderung  angesehen  werden;  nicht  das  Wollen  und 
Sollen  ist  Ziel  der  Priester,  sondern  das  Tun. 

3.  Eine  ähnliche  den  Modus  umschreibende  Bedeutung 
gewinnen  dann  auch  die  Verba  müssen  und  mögen\  z.  B.  0. 
1,  2,  5ö  thih  hittu  iJi,  tha^  ih  iamer  mit  themo  dröste  tnegi  sin.  5, 17,  38 
kapfetun  sie  lango  .  .  tha^  ha^  sie  onohttn  scou67i.  3,  9,9  sie  wunsg- 
tun,  m^uastn  rinan.  1,20,19  ira  ferah  bot  tha^  wth,  tha^  i^  (ihr 
Kind)  Tnuasi  haben  Üb.  Greg.  584  so  ist  des  eides  harte  not,  da^  si 
unser  vrouwe  mile^e  sin.  —  Jetzt  werden  besonders  sollen  und 
mögen  gebraucht,  am  meisten  natürlich  da,  wo  weder  die  Be- 
deutung des  regierenden  Verbums  noch  die  Satzverbindung 
den  Optativ  als  Modus  der  Forderung  charakterisieren.  Neben 
damit  brauchen  wir  sie  nicht,  weil  dies  Adverbium  die  bestimmte 
Bedeutung  einer  finalen  Konjunktion  angenommen  hat;  not- 
wendig dagegen  sind  sie  uns  in  konjunktionslosen  Nebensätzen 
und  in  den  c^a^s-Sätzen  nach  sagen  und  mitteilen.  In  der 
älteren  Sprache  kommen  konjunktionslose  Forderungssätze  vor;  z.  B. 
O.  3, 3, 9  ther  kuning  bat,  er  quämi,  2, 2, 12  er  quam,  si  manöti.  • 
Kaiserchronik  7821  gebiut  dlnen  holden,  si  gewinnen  mir  diu  kinde- 
Itn.  Und  noch  bei  Luther,  z.B.  Rom.  14,21  e.s'  ist  viel  besser,  du 
essest  kein  Fleisch.  Wir  können  solche  Sätze  mit  der  Wortstellung 
des  Nebensatzes  überhaupt  nicht  mehr  bilden,  mit  der  Wortstellung 
des  Hauptsatzes  nur  mit  Hülfe  der  modalen  Verba  und  nur  wenn 
der  Begriff  der  Forderung  schon  im  Hauptsatz  ausgedrückt  ist:  Der 
König  bat,  er  möchte  kommen;  aber:  Er  kam,  damit  er  sie  mahnte 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik.  III.  17 


258  Gebrauch  der  Modi.  [§  131. 

od.  um  sie  zu  mahnen.  —  In  c?ö5.95-Sätzeri  können  wir  nach  ver- 
langen und  befehlen  das  Vollverbum  und  das  Hülfszeitwort  brauchen; 
vg-1.  z.  B.  jSie  ve7'langte,  befahl,  dass  er  käme  od.  kommen  sollte. 
Nach  sagen  und  mitteilen  verlangt  der  Sprachgebrauch  das  Hülfs- 
zeitwort, damit  der  Forderungssatz  sich  vom  Aussagesatz  unter- 
scheide; z.  B.  Sie  Hess  ihm  sagen,  zeigte  ihm  an,  dass  er  komnnen 
möchte  od.  sollte,  nicht:  dass  er  käme. 

Anm.  Mit  den  Absichtssätzen  konkurriert  von  Anfang  an  der 
Infinitiv  (vgl,  §  72).  Mt.  5, 17  nolite  putare,  quoniam  veni  solvere 
legem  übersetzt  O.  2, 18, 1  ni  wänet  .  .  tha^  ih  zi  thiu  quämi  .  .  then 
wiQ,^6d  firbrächi\  im  Gotischen  dagegen  heisst  es:  ni  hugjaip  ei 
qemjau  gatairan  ivitöp,  und  im  Nhd.  wähnet  nicht,  dass  ich  ge- 
kommen sei,  das  Gesetz  zu  zerstören,  oder:  d am, it  ich  das  Gesetz 
zerstöre.  —  Infinitiv  und  Optativ  nebeneinander:  0.  2,15,7  sie 
gerötun  al  bi  manne  inan  zi  rtnanne,  joh  sih  zen  sinen  guatin  io 
ethesica,^  gifuagtin.  Je  länger  um  so  lieber  wird  die  kürzere  In- 
finitivkonstruktion gebraucht,  und  in  dem  Inf.  mit  umzu  hat  die 
jüngere  Sprache  ein  Mittel  gewonnen,  das  logische  Verhältnis  ebenso 
genau  zu  bezeichnen,  wie  durch  einen  Nebensatz  mit  damit. 

131.  (Anhang.  Über  die  Negation  in  Sätzen,  die  von 
Verben  mit  prohibitiver  Bedeutung  abhangen.)  1.  Wenn  Verba 
wie  verbieten,  hindern.,  warnen  affirmativ  gebraucht  sind,  hat 
der  Satz,  in  dem  sie  ihre  Ergänzung  finden,  an  und  für  sich 
negative  Bedeutung.  Wer  verbietet  oder  hindert,  dass  etwas 
geschieht,  will  dass  es  nicht  geschieht.  Dem  entsprechend 
werden  in  der  älteren  Sprache  diese  Sätze  regelmässig  mit  der 
Negation  gebildet;  z.B.  Mc,  6,8  faurbaup  im,  ei  ivaiht  ni  ne- 
m.eina  in  ivig,  i'va  jurib^v  ai'puumv  gi<;  ö6öv.  0.  3.  5,  3  er  mo  firböt  thio 
däti,  tha,^  er  ni  suntöti.  2, 19, 7  tha,^  man  sih  ni  firswerie,  tha^, 
wän  ih,  wi^^od  tverie ;  mXniu  wort  thiu  werrent,  tha,^  ir  sär  ni  suer- 
rent.  Walther  10,  22  die  r'ehten  pf äffen  warne,  tha^  si  niht  gehoßren 
den  unrehten.  Nib.  1646,  2  ich  wil  heilen  wol  bewarn,  da^  in  üf  der 
strafe  nieman  müge  schade?!.  Kudr.  1279,  1  da^  wil  ich  ividei^räten, 
da^  ir  mich  mit  besemen  gesträfet  niemer  m,er.  Wo  in  der  älteren 
Sprache  der  abhängige  Satz  der  Negation  entbehrt,  hat  er 
auch  keine  negative  Bedeutung;  z.  B.  Frauend.  501,  21  uns 
hat  min  herre  ü^  Oesterrich  verboten  (so  die  Hs.),  da^  wir 
hie  turnirn  lä^en  sin,  MSH.  1,10^  Ich  wil  den  hluomen 
verbieten^  da^  sie  sich  vor  ir  slie^en  zuo.  Boner  48,  105 
du  solt   ouch  gewarnet  sin,   da^  man  mit  fli^e   huote  min. 


§  131.]  Forderung-s-  und  Absichtssätze.     Negation.  259 

In  solchen  Sätzen,  die  übrigens  selten  sind,  müssen  wir  ver- 
bieten mit  gebieten,  warnen  mit  aufmerksam  machen  übersetzen. 
2.  Negierte  Sätze  nach  prohibitiven  Verben  begegnen  auch 
in  der  neuen  Literatur  nicht  selten  ^).  Aber  je  enger  die  Satz- 
verbindung und  je  bestimmter  die  Bedeutung  der  regierenden 
Yerba  wurde,  um  so  überflüssiger  musste  die  Negation  er- 
scheinen, und  so  pflegen  wir  sie  jetzt  zu  meiden.  Wir  fassen 
den  abhängigen  Satz  nicht  mehr  als  Forderungs-  sondern  als 
indirekten  Objektssatz  auf. 

Anm.  l.  Auch  in  der  älteren  Sprache  kommen  Sätze  vor, 
die  sich  als  negative  Forderungen  auffassen  lassen  und  doch  der 
Negation  entbehren.  vSo  kann  ahd.  lahan  vituperare  ähnlich  wie 
verbieten,  mhd.  wenden  ähnlich  wie  verhindern  gebraucht  werden; 
z.  B.  0.  4,  20,  36  ivanta  in  thio  buah  luagin,  iha^  sie  man  sluagln. 
Walther  78,  22  da;^s  uns  also  betwingen  (Opt.  nach  §  146),  da^  wende 
in  kurzer  frist.  Aber  das  Fehlen  der  Negation  zeigt,  dass  die 
Wörter  doch  anders  aufgefasst  wurden.  Die  abhängigen  Sätze  sind 
keine  Forderungs-  sondern  Aussagesätze.  —  Auch  auf  fürchten  folgte 
im  Deutschen  ein  Aussagesatz;  erst  später  im  16.  17.  18.  Jh.  (schon 
bei  Luther)  kommen  abhängige  Sätze  mit  der  Negation  vor,  z.  B. 
Ap.- Geschichte  5,  26  sie  fürchteten  sich  vor  dem  Volke,  dass  sie 
nicht  gesteinigt  icürden  (iva  \xy[  A.iGaa9iJüaiv).  Fremder  Sprachgebrauch,, 
lateinischer  und  namentlich  französischer,  mag  dazu  beigetragen 
haben,  dass  nach  diesem  Verbum  die  Negation  aufkam,  nach  ver- 
bieten, hindern  u.  ä.  festgehalten  wurde. 

Anm.  2.  Ganz  anders  zu  beurteilen  ist  das  Fehlen  der  Ne- 
gation in  mhd.  Sätzen  wie  Walther  33,  6  da,^  Tuan  gotes  gäbe  iht 
koufe  oder  verkoufe,  da^  ist  uns  verboten  bi  der  toufe.  23,  24  da^ 
iugendelöser  herren  iverde  iht  mere,  da^  solt  du  h'erre  got  bewarn. 
^7,  9  da,^  (mein  Missgeschick)  tvejide  scelic  frouwe  mtn,  da,^  [=  damit] 
ich  der  ungetriuiven  spot  von  mtner  stcete  iht  müe^e  sin.  Parz, 
514, 17  hüet,  da^  iuch  iht  gehcene  miner  frouwen  schoene.  Hier  ist 
•die  Negation,  die  dem  Verbum  proklitisch  vorangehen  sollte,  auf- 
gegeben, weil  man  sich  gewöhnt  hatte  mit  iht,  das  ursprünglich 
nur  die  Negation  verstärkte,  negativen  Sinn  zu  verbinden.  Auch 
in  anderen  dass-Sä,tzen  fehlt  im  Mhd.  nicht  selten  die  Negation  neben 
iht,  ie,  ieman,  iemer,  iender,  s':>wohl  in  Forderungssätzen  als  in 
Aussagesätzen,  namentlich  nach  ivonnen. 


1)  Belege    sind    oft    gesammelt;    z.  B.    von    0.   Schwab    ZfdU. 

7,  812—816. 


260  Gebrauch  der  Modi.  [§  132.. 

Der  Optativ  in  konzessiven  Nebensätzen^). 

132.  1.  Konzessiv  nennt  man  Satzgefüge,  in  denen 
ausgedrückt  vs^erden  soll,  dass  der  Inhalt  des  Nebensatzes^ 
o))wohl  man  es  an  und  für  sieh  erw^arten  sollte,  für  die  Aus- 
sage des  Hauptsatzes  nicht  in  Betracht  kommt.  Bald  w^ird 
die  Aussage  des  Nebensatzes  überhaupt  als  gleichgültig  an 
gesehen,  z.  B.  Der  Mensch  ist  frei,  und  würd'  er  in  Ketten 
geboren;  bald  bezeichnet  ein  Pron.  indefinitum  den  Punkr^ 
dessen  Bestimmung  gleichgültig  ist;  z.  B.  JVas  es  auch  sei,, 
dir  König  sei's  gestanden.  Sätze  der  ersten  Art  erscheinen, 
in  ihrer  äusseren  Form  als  die  nächsten  Verwandten  der  Be 
dingungssätze  —  ich  will  sie  daher  als  konzessive  Bedingungs- 
sätze bezeichnen  — ;  die  Sätze  der  andern  Art  gehören  zu 
den  „allgemeinen  Relativsätzen",  die  im  Gotischen  duich 
hazuh  saei,  pishazuh  saei,  im  Hochdeutschen  durch  so  wer 
so,  so  wio  so  etc.  eingeleitet  werden.  Zu  diesen  allgemeinen. 
Relativsätzen  gehören  auch  die  mit  sicie  gebildeten;  doch 
können  diese  auch  als  konzessive  Bedingungssätze  gebraucht 
werden,  indem  swie  aus  der  Bedeutung  eines  Adverbiums  der 
Art  und  Weise  in  die  abstrakte  einer  konzessiven  Konjunktion 
übergeht.  In  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  steht  es  z.  B. 
Nib.  328,  1  ich  tvil  an  den  se  hin  ze  Brünhilde,  swie  ej  mir 
erge,  in  der  abgeleiteten  Nib.  2312, 3  swie  er  mich  selben 
brähte  in  angestUche  not,  ledoch  so  wil  ich  rechen  des  küenen 
Trongceres  tot. 

2.  Der  Optativ  kommt  an  sich  den  konzessiven  Sätzen 
nicht  zu.  Im  Gotischen  steht,  wenn  nicht  andere  Momente 
(Imp.  od.  Opt.  im  übergeordneten  Satz)  den  Optativ  begünstigen^ 
der  Indikativ.  Der  Optativ  begegnet  neben  einem  indikativi- 
schen Hauptsatz  nur  einmal  Mc.  6,  23,  wo  Herodes  zu  seiner 
Tochter  sagt:  pishah  pei  bidjais  miTc.  gibapus,  ö  eav  a\TY\ar}<; 
|ue,  bdiCTuu  aoi,  'was  du  wirst  von  mir  bitten,  will  ich  dir  geben'; 
also  potentialer  Optativ  auf  die  Zukunft  bezüglich.  Im  Hoch- 
deutschen und  in  den  andern  germanischen  Sprachen  wird  der 

1)  Mourek  §  218  f.  227.  231.  Delb.  PBb.  29,  301  f.  Erdm.  §  183— 
185.  Wunderlich  1,  299-307  (vgl.  Behaghel  LBl.  24,  394).  Biat^. 
2,  524  f.  1197-1201,  1187-1191.  1203. 


:§   132.]  Der  Optativ  in  konzessiven  Nebensätzen.  261 

konzessive  Optativ  oft  gebraucht,  zunächst  in  den  Bedingungs 
Sätzen,  dann  auch  in  den  allgemeinen  Relativsätzen. 

3.  In  den  konzessiven  Bedingungssätzen  lässt  der  Optativ 
sich  zuweilen  w^ie  in  dem  gotischen  Beispiele  als  Potentialis 
auffassen;  z.  B.  0.  5,  23,  139  w^o  von  den  Leiden  des  mensch- 
lichen Lebens  die  Rede  ist:  ni  wirdit,  —  zi  stuntön  breste 
imo  thes,  ni  in  jungistemo  thinge  elti  nan  hithuinge\  viel- 
leicht fehlt  es  ihm  jetzt,  doch  kann  es  nicht  ausbleiben,  dass 
ihn  nicht  schliesslich  das  Alter  bezwingt.  Walther  93, 9  si 
lä^e  in  iemer  ungewert,  ej  fiuret  doch  wol  sinen  lip\  viel- 
leicht wird  ihm  nie  Erhörung  zuteil,  aber  er  wird  durch  den 
Dienst  besser.  Auch  für  die  mit  oh  gebildeten  Sätze  ist  ur- 
sprünglich Potentiale  Bedeutung  anzunehmen;  aber  wenn  Berth. 
2,  154,  9  sagt:  oh  ein  mensche  alle  tage  ein  iteniuwe  marter 
Ude  und  da^  also  trihe  hinz  an  sinen  tot,  des  möhte  im  got 
gelönen  in  einem  halhen  tage,  so  tritt  hier  die  potentiale  Be- 
deutung des  Modus  offenbar  zurück.  Wir  verbinden  mit  ihm 
die  Vorstellung  einer  Herausforderung,  fassen  ihn  also  in  dem 
Sinne  auf,  in  dem  auch  der  Imperativ  und  fordernde  Optativ 
gebraucht  werden  (§  110).  Und  diese  Auffassung  wird  für 
den  Optativ  in  Konzessivsätzen  die  herrsehende.  Geboten  ist 
sie,  wo  die  Aussage  nicht,  wie  in  den  angeführten  Beispielen, 
nur  auf  eine  Vorstellung-  hinweist,  sondern  auf  eine  zweifellose 
Tatsache;  z.B.  0.  1,2,24  tha^  herza^  thoh  i^  büe  innan  mir,  ist 
harto  kunder a  thir.  Ti  ist.  222  aleine  und  sin  si  lange  tot,  sin  süe^er 
nmne  der  lebet  iedoch.  Auch  im  Präteritum  mit  Bezug'  auf  ein 
Faktum  der  Vergangenheit:  0.2,3,31  thiu  wort  ivurtun  märi,  thoh 
er  thö  kind  wäri.  Walther  111, 16  ich  lob  ir  lip,  swie  ich  sie  doch 
nie  niht  gebcete.  Gegenwart  und  Vergangenheit  nebeneinander: 
0.  ö,  12, 85  thoh  er  st  so  märi  joh  ouh  s6  wis  wäri,  ni  irzalta  er 
tha^  gimuati'^  so  berühmt  er  auch  ist  und  so  weise  er  gewesen  ist, 
doch  hat  er  ihre  Lieblichkeit  nicht  ganz  dargestellt. 

4.  In  der  älteren  Sprache  ist  dieser  konzessive  Optativ 
sehr  beliebt,  namentlich  in  Sätzen,  die  sich  an  das  Adv.  (Konj.) 
thoh  anschliessen,  in  denen  z.  B.  Otfried  nur  einmal  den  Indi- 
kativ gesetzt  hat  (2,  1,  49).  Im  Nhd.  dagegen  ist  er  wesent- 
lich eingeschränkt.  In  der  Verkehrssprache  und  der  nüchternen 
Oeschäftsprosa    brauchen    wir,    w^ofern    wir    nicht    durch    den 


262  Gebrauch  der  Modi.  [§  132, 

Irrealis  die  Nichtwirklichkeit  der  Voraussetzung  ausdrücken 
wollen  (§  134),  fast  immer  den  Indikativ;  nur  Konjunktionen  und 
Partikeln  bezeichnen  dann  das  konzessive  Verhältnis,  oft  auch 
das  umschreibende  mag,  das  schon  im  Mhd.  zum  Ausdruck 
des  konzessiven  Verhältnisses  dient;  z.  B.  Walther  57,  22  mac 
diu  huote  mich  ir  lihes  phenden,  da  habe  ich  ein  troesten 
hl.  —  Am  üblichsten  ist  der  Optativ  in  konjunktionslosen  Neben- 
sätzen geblieben,  wo  er  auf  dem  voluntativen  Optativ  beruht  und 
als  ein  wesentliches  Mittel  der  syntaktischen  Unterscheidung  sich 
behauptet.  Aber  auch  bei  getrenntem  ob-gleich,  ob-schon,  wo  er 
auf  dem  Potentialis  beruht,  braucht  man  ihn  noch;  nicht  aber  bei 
verbundenem  obgleich,  obschon,  auch  nicht  bei  iviewohl,  wenngleich-^ 
und  nicht  in  Nebensätzen,  die  eine  vom  Redenden  selbst  anerkannte 
Tatsache  aussprechen;  höchstens  möge  wird  zugelassen:  Möge  das 
Herz  auch  in  meiner  Brust  ivohnen,  du  kennst  es  doch  besser.  — 
Die  Neigung  der  Sprache,  den  konzessiven  Optativ  auf  konjunktions- 
lose Sätze  zu  beschränken,  ist  schon  im  Mhd.  wahrzunehmen;  s» 
Rötteken  §  39.  28. 

5.  Indem  der  Redende  durch  den  konzessiven  Optativ 
die  Aussage  des  Nebensatzes  als  unwesentlich  bezeichnet,  hebt 
er  zugleich  die  Gültigkeit  der  Hauptaussage  hervor.  Gesteigert 
wird  diese  Wirkung,  wenn  der  Nebensatz  disjunktiv  geteilt 
wird;  z.B.  Iw.  604  man  hoeret  niemer  mere,  diu  werelt  ste  kurz 
oder  lanc,  s6  wünneclichen  vogelsanc.  Walther  11,34  ir  wellet  übel 
oder  wol,  so  m,ac  si  beidiu  rechen  unde  Ionen.  73,  24  si  heilen  zctp, 
.n  heilen  man,  disiu  sumerzit  diu  müe^  in  ba^  bekoinen.  Auch  im 
Präteritum  in  Bezug  auf  die  Vergangenheit:  Nib.  2105,2  e^  der 
hehn  wcere  od  des  Schildes  rant,  von  ir  gesinde  wart  ej  dar  getragen. 
In  solchen  Sätzen,  die  ja  nie  eine  Tatsache  aussprechen  können, 
ist  uns  der  Optativ  nötig  oder  Umschreibung  mit  mag,  mochte. 
In  der  altern  Sprache  konnte  auch  in  ihnen  der  Indikativ 
stehen:  0.  1,15,42  ist  zj  ubil  odo  war,  unfarholan  ist  i^ 
thär  (vgl.  Erdmanns  Anm.j.  Wechselnder  Modus:  Parz.  513,  6 
si  stuonden  ode  lägen  ode  sce^en  i7i  gezelten,  die  vergäben 
des  ml  selten. 

Anm.  Eine  ähnliche  Steigerung  erzielt  die  unterordnende 
Verbindung  zweier  Konzessivsätze;  z.  B.  Nib.  329,  13  nu  si  swie 
.star'c  .si  welle,  ine  läze  der  reise  niht.  Walther  100,  21  sie  habe  den 
willen,  den  si  habe,  min  wille  ist  guot. 

6.  In  den  verallgemeinernden  Relativsätzen  wird 


§  133.]  Opt.  in  Relativsätzen  nach  al  und  Superlativ.  263 

der  Optativ  erst  später  üblich,  überall  in  dem  spezifisch  kon- 
zessiven Sinne,  als  Modus  der  Herausforderung.  Otfried  bietet 
nur  ein  Beispiel:  4,21,27.  Als  Christus  gesagt  hat,  sein 
Reich  sei  nicht  von  dieser  Welt,  fragt  Pilatus:  so  war  so  si 
thin  7'ichi,  thoh  histu  Jcuning?  Häufig  ist  der  Gebrauch  im 
Mhd.;  z.  B.  Walther  50,11  stva^  si  sagen,  ich  bin  dir  holt.  41,25 
rüem(B7'e  unde  lügencere,  swä  die  sin,  den  verblute  ich  mtnen  sanc. 
49,  7  swie^  umb  alle  frouwen  var,  tvip  sint  alle  frouwen  gar.  Im 
Präteritum  mit  Bezug  auf  die  Vergangenheit:  Nib.  1690,4  suer  sin 
vater  wo^re  (wer  auch  sein  Vater  gewesen  sein  mag),  er  mac  wol 
sin  ein  recke  guot.  Wigal.  6601  swie  kurz  er  wcere,  sin  kraft  ivas 
grö^.  Walther  95,  22  stvie  vil  ich  tröstes  ie  verlür,  so  hat  ich  doch 
ze  fröuden  toän.  Daneben  aber  überall  der  Indikativ,  zuweilen 
in  demselben  Satze  (Rötteken  S.  14).  —  Im  Nhd.  hat  sich 
der  Optativ  erhalten,  jedoch  ist  er,  falls  nicht  zugleich  die 
Irrealität  der  Vorstellung  ausgesprochen  werden  soll,  auf  die 
Präsensformen  (er  sei,  er  sei  gewesen)  beschränkt.  Wo  der 
Tempusgebrauch  das  Imperfektum  erfordert  (Wig.  6601)  oder 
das  Plusquamperfektum  (Walther  95,  22),  können  wir  nur  den 
Indikativ  brauchen.  Sehr  beliebt  sind  Umschreibungen  mit 
mag,  möge,  mochte. 

Der  Optativ  in  Relativsätzen  nach  al  und  nach  Superlativen  i). 

133.  1.  Dem  konzessiven  Modus  nahe  steht  der  Optativ, 
der  hin  und  wieder  in  Relativsätzen  begegnet,  die  sich  an  all 
und  an  einen  Superlativ  anschliessen.  Nach  all  pflegt  Otfried 
den  Modus  zu  gebrauchen ;  z.  B.  5,  23,  209  allo  lounnä,  thio 
sin  odo  io  in  gidrahta  quemen  thin,  tha^  niugist  thu.  1,  6,  13 
allo  wihi  in  worolti,  thie  gotes  hoto  sageti,  si  quement  ubar 
thin  houhit,  ähnlich  2,  2,  14.  3,  26,  41.  Der  Modus  dient  hier 
offenbar  zur  Steigerung:  alle  Wonnen,  die  es  gibt  und  geben 
mag.  Aber  der  Gebrauch  ist  beschränkt;  im  Gotischen  steht 
nach  indikativischem  Hauptsatz  der  Indikativ  auch  im  Neben- 
Satz:  ebenso  bei  Notker  und  im  Mhd. 

2.  Beschränkt  ist  auch  der  Gebrauch  des  Optativs  nach 
Superlativen.     Weder  das   Gotische   noch   Otfried   bieten   Bei- 


1)  Erdm.  §  195.     Bock  S.  36. 


264  Gebrauch  der  Modi.  [§  134. 

spiele,  wohl  aber  die  ags.  Poesie  und  Prosa,  der  Heliand 
(Behag-hel,  Modi  §  24),  und  bin  und  wieder,  stets  in  Sätzen 
mit  ie  und  iemer^  das  Mhd.;  z.  B.  Anno  105  f.  in  der  scönister 
hurge,  diu  in  diutschemi  lande  ie  wurde.  MF.  56,  17  (C) 
die  ich  zer  besten  häte  erTcorn,  oder  in  der  werlte  ieman 
scliouwe.  Ernst  B.  192  er  schuof  den  allerbesten  vride  .  . 
der  e  oder  sider  oder  iemer  me  werde  üf  der  Balisen  erde. 
Behag'hel  a.  0.  S.  34  f.  meinte,  der  Optativ  bezeichne  hier  eine  Ver- 
neinung" in  Bezug  auf  diese  Stufe  der  Eigenschaft  und  somit  in 
gewissem  Sinn  eine  Verringerung  der  Realität;  Bock  S.  33  fand 
sogar,  dass  der  Optativ  den  superlativischen  Gedanken  mildere; 
denn  an  die  Aussage  der  Allgemeinheit  'überhaupt'  grenze  nahe  die 
Bedeutung:  'im  ganzen,  im  grossen  ganzen,  im  allgemeinen',  die 
dann  von  der  allzu  strikten  Anwendung  auf  den  einzelnen  Fall 
abrate.  Ganz  das  Gegenteil  soll  bewirkt  werden;  der  Superlativ 
wird  durch  den  Relativsatz  stärker  hervorgehoben. 

Der  Optativ  Prät.  als  Irrealis^). 

134.  (Der  Irrealis  in  Bedingungssätzen.)  1.  Die  Haupt- 
stätte des  irrealen  Opt.  Prät.  sind  von  jeher  und  zu  aller  Zeit 
die  hypothetischen  Satzgefüge;  z.  B.  Joh.  8,  19  ip  mik  Jcunpe- 
deip,  jah  pau  attan  meinana  kunpedeip,  8, 39  ip  harna 
Abrahamis  weseip,  waurstiva  Abrahamis  tawidedeip.  8, 42 
jabai  gup  atta  izwar  wesi,  friödedeip  pau  mik  (vgl.  §  114,  2). 
Und  in  konzessivem  Sinne  Rom.  9,  27  jabai  wesi  rapjö  suniwe 
Israelis  swaswe  malma  mareins,  laibös  ganisand,  eäv  ^  6 
dpi9)uö<;  Tujv  uiujv  'lapafiX  wc;  r\  ä}X}xo<;  Tfi(;  0aXdcrcrr|(;,  tö  Kaid- 
Xeijujua  (Juj6r|(JeTai. 

2.  NichtWirklichkeit  der  Bedingung  verlangt  jedoch  nicht 
den  Optativ.  Prät.  Auch  der  Indikativ  kann  stehen;  z.  ß. 
1  Kor.  15,  13  jabai  ustass  daupaim  nist,  nih  Xristus  urrais. 
Mc.  3,  26  jabai  satana  usstöp  ana  sik  silban^  jah  gadailips 
warpy  ni  mag  gastandan.  In  beiden  Sätzen  sieht  der  Redende 
die  Aussage  des  Nebensatzes  zweifellos  als  der  Wirklichkeit 
widersprechend  an,   dennoch  steht  der  Indikativ.     In  solchen 


1)  Mourek  §  233—237.  Delbr.  PBb.  29,  262.  271.  Erdm.  §  186. 
187.  S.  117  f.  129  ff.  Wunderlich  1,  361—370.  Blatz  2,  785.  1155.  1187. 
902.  905. 


§  184]  Der  Optativ  Präteriti  als  Irrealis.  265 

Satzgefügen  wird  nicht  das  Verhältnis  der  einzelnen  Sätze  zur 
Wirklichkeit  ins  Auge  gefasst,  sondern  nur  das  Verhältnis  der 
beiden  vSätze  zu  einander,  und  dadurch,  dass  nur  dieses  Moment 
hervorgehoben  wird,  wird  der  Indikativ  zu  einem  wirksamen 
Mittel,  den  Hauptsatz  als  notw^endige  Folge  des  Nebensatzes 
zu  bezeichnen.  Selbst  wo  ein  offenbarer  Gegensatz  zur  Wirk- 
lichkeit besteht,  kann  der  Indikativ  gebraucht  werden;  z.  B. 
Schiller:  Warf  er  das  Schwert  von  sich,  er  war  verloren. 
War  ich,  wofür  ich  gelte,  der  Verräter,  ich  hätte  mir  den 
guten  Schein  gespart  (oder:  ich  sparte  ■mir).  Nur  wenn  die 
Aussage  im  Gegensatz  zu  der  unmittelbaren  Gegenwart  steht, 
ist  uns  der  Indikativ  versagt.  In  dem  Satze:  Tratst  du,  Herr, 
nicht  zwischen  uns  hinein,  so  stünde  jetzt  auch  ich  als 
pflichtvergessen  mitschuldig  und  beschämt  vor  deinem  Blick 
(Goethes  Tasso  2,  4),  Hesse  sich  stünde  nicht  durch  stehe 
ersetzen. 

3.  Gewöhnlich  entspricht  dem  Irrealis  im  Nebensatz  der- 
selbe Modus  im  Hauptsatz;  gar  nicht  selten  aber  sind  die  Modi 
auch  verschieden.  Einem  Irrealis  im  Nebensatz  steht  ein  Potentialis 
irn  Hauptsatz  gegenüber;  z.  B.  Jh.  15,  20  jahai  mein  icaurd  fastai- 
dedeina  (exripriaav),  jah  iztcar  fastaina  (xrjpriaouaiv) ;  vgl.  §  113,2. 
Öfter  ein  Indikativ:  Iw.  2568  enhceten  sin  zitnge  iiiht  verivorht,  so 
gp.wan  der  hof  nie  tiurern  halt.  Walther  23, 13  wer  kan  den  herren 
von  dem  knehte  scheiden,  swa  er  ir  geheine  blö,^e^  fünde,  besonders 
in  konzessiven  Satzgefügen.  So  schon  in  dem  aus  dem  Gotischen 
angeführten  Beispiel  Rom.  9, 27,  und  ebenso  später;  z.B.  Biterolf 
8616  oh  man  unich  Menge  an  eine  wide,  holt  wird  ich  im  niemer 
mer.  9250  stüenden  an  mir  alliu  lant,  ich  ivil^  versuochen.  Der 
Mensch  ist  frei,  und  würd  er  in  Ketten  gehören.  In  solchen  Sätzen 
dient  der  Nebensatz  dazu,  die  Aussage  des  Hauptsatzes  kräftig 
hervorzuheben :  selbst  unter  den  ungünstigsten  Voraussetzungen 
behält  sie  Gültigkeit. 

4.  Umgekehrt  steht  im  Nebensatz  der  Indikativ,  im  Haupt- 
satz der  Irrealis :  Walther  109,  9  glt  da^  got,  da^  mir  noch  luol  an 
ir  gelinget,  seht,  so  wcere  ich  iemer  mere  frö.  Moriz  von  Craün  207 
swer  hilfet  rechen  mtniu  leit,  ich  gcebe  im  mtne  Sicherheit.  Der 
Indikativ  kann  sogar  notwendig  sein;  z.  B.  Walther  32.24  swer 
willecliche  sprichet  ja,  der  gcehe  ouch  gerne,  und  ivcere  e^  denne  da. 
69,  2  wei^  ich  des  ein  teil,  so  wiste  ichs  gerne  me.  54, 1  oh  ich^  vor 
Sünden  tar  gesagen,  so  scehe  ich^  iemer  gerner  an  dan  himel  oder 


266  Gebrauch  der  Modi.  [§  135. 

himelwage7i.  57,  3  kati  ich  rehte  schouwen  guot  gelä^  und  Itp,  sein 
mir  got,  so  sicüere  ich  ivol  etc.  —  Über  Potentialis  neben  Irrealis 
s.  §  148,  3. 

5.  Auch  innerhalb  des  Haupt-  und  Nebensatzes  begegnen 
verschiedene  Modi;  z.  B.  im  Nebensatz  Konzessivus  und  Irrealis: 
Schiller,  Lager  11  Liege,  wer  da  ivill^  mitten  auf  der  Bahn,  seis 
Tnein  Bruder,  mein  leiblicher  Sohn,  zerriss'  mir  die  Seele  sein 
Jammerton  —  über  seiiien  Leib  hinweg  muss  ich  jagen.  Im  Haupt- 
satz Indikativ  und  Irrealis :  Wallensteins  T.  2, 7  0  tvärst  du  wahr  ge- 
tvesen  und  gerade,  nie  kam  es  dahin,  alles  stünde  anders^  er  hätte 
nie  das  Schreckliche  getan.  In  beiden  Beispielen  ist  der  Modus- 
wechsel wohl  begründet;  in  dem  ersten  durch  die  Gedanken,  in 
dem  andern  durch  das  Tempus  (§  134,  2). 

135.  (Der  Irrealis  in  anderen  Sätzen.)  1.  Wie  weit  im 
Gotischen  der  Opt.  Prät.  als  Irrealis  auch  ausserhalb  der 
hypothetischen  Sätze  gebraucht  wurde,  ist  nicht  sicher  zu  er- 
kennen. Zwar  lässt  er  sich  öfters  auch  in  anderen  irreal  auf- 
fassen, doch  geht  er  dann  immer  auf  die  Vergangenheit,  so  dass 
man  ihn  als  einen  dem  Opt.  Präs.  entsprechenden  Potentialis  der 
Vergangenheit  auffassen  kann.  So  steht  er  ineinem  zeitbedingenden 
Nebensatz  Lc.  14,  29  ibai  auftö,  bipe  gasatidedi  grunduivaddju  jah 
ni  mahtedi  ustiuhan,  allai  duginnaina  bilaikan  ijia,  iva  jurj-rroTe, 
GevTOc;  auTou  GeiueXiov  Kai  }iy]  iöxuovToq  eKT€Xeaai  TrdvT€<;  äpEujvTai  e|u- 
TraiZieiv  auTuJ.  In  einem  Relativsatz :  2  Kor.  12,  13  Jva  auk  ist,  pizei 
wanai  weseip  ufar  anparos  aikklesjöns,  ti  y<^P  eaxiv  o  i^TTriOiixe  utrep 
tok;  Xüittck;  eKKXriaiaq.  In  einem  vergleichenden  Nebensatz  mit  swe: 
1  Kor.  4,7  ha  höpis,  swe  ni  nemeis?  ti  Kauxötaai,  uuq  |u)^  Xaßuüv;  mit 
sive  patei:  2  Kor.  11,31  bi  unswSripai  qipa,  swi  patei  weis  siukai 
weseima,  Kaxct  dTijuiav  Xeyuu,  uuc;  öxi  riineic;  riö9evr|aa|uev.  In  einem  durch 
einen  negativen  Hauptsatz  negierten  indirekten  Aussag-esatz:  Jh. 
5,  45  [ni  hugjaip),  patei  ih  ivröhidedjau  izwis  du  attin,  \xr\  ÖOKeix€, 
öxi  cfui  KaxriYopriauj  üjliüjv  irpöt;  xöv  iraxepa  (vgl.  Bernhardt).  In  einem 
Satze  nach  ni  patei -.  2  Thess.  3,  8  f.  nih  arwjö  hlaif  matidedum  at 
hjamma  .  .  ni  patei  ni  habaidedeima  waldufni,  ak  ei  uns  silbans 
du  fynsahtai  gebeima,  ovbe  öiupedv  apxou  eqpdyoiLiev  .  .  .  oux  öxi  oük 
Ixoiuev  eEouöiav,  dXX'  iva  eauxoix;  xüitov  öüufiev. 

2.  Je  mehr  die  Sprache  den  potentialen  Opt.  Präs.  auf- 
gab, um  so  mehr  Eaum  gestattete  sie  dem  Irrealis.  Im  Hoch- 
deutschen finden  wir  ihn  in  Sätzen  der  verschiedensten  Art; 
nicht  nur  in  solchen,  die  sich  den  Bedingungssätzen  zunächst 


§  135.]  Der  Irrealis  in  anderen  Sätzen.  267 

anschliessen:  in  konzessiven  Sätzen  wie  0.5.23,223  wäri  in  mir 
ginoto  manag  thüsunt  muato  .  .  ni  moht  ih  thoh  mit  worte 
thes  lobes  queman  z'ente.  In  zeitbedingenden  Nebensätzen  mit  so'- 
Walther  70, 35  so  ich  m  underwtlen  gerne  hl  mir  scehe,  so  ist  er 
von  mir  anderswä.  In  Nebensätzen  mit  swer,  sivelh,  stvenne  etc. 
z.  B  Walther  98,  20  swenne  ich  si  solte  sehen,  so  muo^  ich  sie  mtden. 
Nib.  1703,  1  da^  wolde  ich  iemer  dienen,  swer  rösche  mtniu  leit. 
Walther  28,  6  swelh  schoene  wtp  mir  danne  gcebe  ir  habedanc,  der 
lie^e  ich  rösen  unde  liljen  ü^  ir  wengel  schtnen,  65, 4  hei,  wie  wol 
man  des  gedcehte,  swä  man  von  im  seite  mcere-^  in  konzessivem 
Sinne:  Walther  114,  1  sivie  vil  er  mich  danne  bcefe,  al  die  wtle  so 
enhulfe  e^  niht.  In  bedingenden  Sätzen  mit  der :  Walther  46,  27  owe^ 
der  mih  da  tvelen  hie^e.  Klage  142  der  Etzeln  hete  kunt  getan  von 
§rst  diu  rehten  mcere,  so  hete  er  die  starkeii  mcßre  harte  lihtecliche 
erwant.  Walther  29,  15  ir  fürsten,  die  des  küneges  gerne  wceren 
äne,  die  volgen  mtnem  rate. 

Auch  andere  Sätze  zeigen  den  Modus  in  demselben  Sinne 
gebraucht:  attributive  Relativsätze:  Walther  20,12  der  lantgräve 
ist  so  gemuot,  da^  er  mit  stolzen  helden  sine  habe  vertuot,  der  ieges- 
Itcher  wol  ein  kempfe  wo&re.  188,  9  ich  ivil  einer  helfen  klagen,  der 
ouch  fröude  zczme  wol.  102,  29  mir  st  diu  ere  unmcBre,  davon  ich  ze 
järe  wurde  umvert.  Folgesätze :  63, 28  s6  lä^  ouch  dir  zwei  von 
mir  gevallen,  da^s  ein  keiser  küme  gcebe  dir.  70,  38  e^  tuot  so  ma- 
negem  ivtbe  ive,  da^  mir  dävo7i  niht  wol  geschcehe.  Ferner  Kompa- 
rativsätze (§  136),  Vergleichsätze  mit  als  ob  (§  139)  und  zu-  als 
dass  (§  138),  die  einer  Negation  des  Hauptsatzes  untergeordneten 
Sätze  und  die  Exzeptivsätze  (§  140  ff.)  Selbstverständlich  endlich 
auch  irreale  Bedingungssätze,  die  einem  andern  Satz  untergeordnet 
sind;  z.  B  Walthcr  82.6  dein  setze  ich  mine  wärheit  des  ze  pfände, 
wolte  er  ir  geleite  volgeri  mite,  da^  in  unfuoge  niht  erslüege.  10,  1 
Mehtiger  got,  du  bist  so  lanc  und  bist  so  breit,  gedceht  wir  darnach, 
das  ^'^'^  unser  arebeit  vei^lürn.  Erec  3862  wände  ich.  herre,  niene 
bin  iedoch  so  gar  äne  sin,  und  möhte  ich  mine  sache  zuo  ere  und 
ze  gemache  verivandeln,  da;^  entcete  ich.  —  Über  den  Modus  in 
Nebensätzen,  die  einem  Satz  im  Irrealis  untergeordnet  sind, 
s.  §  148. 

Anm.  Auffallend  ist  der  Opt.  Prät.  Mc.  9, 42  göp  ist  imma 
mais,  ei  galagjaidau  asiluqairnus  ana  balsaggan  is  jah  frawaurpans 
ivesi  in  marein  (ei  irepiKeiTai  .  .  Kai  ßeßXrixai).  0.  3,  6,  17  war  mugun 
wir  nü  biginnan,  mit  koufu  bröt  giwinnan,  tha^  ther  Hut  gisä,^i, 
unz  er  hiar  nü  gd^i.  Noch  mehr  0.  3,  3,  1  thiz  ist  uns  ungizämi, 
so  ih  i^  nü  firndmi  (s.  Erdm.'s  Anm.). 


268  Gebrauch  der  Modi.  [§   136. 

Der  Optativ  in  vergleichenden  Nebensätzen. 

136.  (Der  Optativ  nach  einem  Komparativ^).)  1.  P'ür 
die  vergleichenden  Nebensätze,  die  sich  an  einen  Komparativ 
anschliessend  gilt  in  der  älteren  Sprache  die  Regel,  dass  sie 
nach  einem  affirmativen  Hauptsatz  im  Optativ  stehen,  selbst 
wenn  sie  auf  eine  zweifellose  Tatsache  hinweisen,  nach  einem 
negativen  dagegen  im  Indikativ;  z.  B.  0.  3,  11,  4  fuar  ha^  in 
thereru  nöti,  thanne  ther  Jcuning  däti\  dagegen  2,  14,  31  furira 
thü  ni  bist,  thanne  unser  fater  Jacob  ist.  Walther  18,29 
diu  kröne  ist  elter ,  danne  der  künec  Philippes  si;  dagegen 
75,  17  mich  dühte,  da^  mir  nie  lieher  wurde,  danne  mir  ze 
muote  was;  ebenso  nach  einer  Frage  mit  negativem  Sinn: 
Greg.  1721  wes  bedarf  ich  me,  danne  ich  hän?  —  Ob  im 
Gotischen  derselbe  Gebrauch  galt,  lassen  die  beiden  Belege, 
in  denen  auf  einen  Komparativ  ein  Satz  mit  der  Konjunktion 
pau  (Mourek  §  23  f.)  folgt,  nicht  erkennen.  Eph.  3,  20  folgt 
auf  einen  affirmativen  Satz  der  Indikativ,  Rom.  12,  13  auf  einen 
negativen,  aber  von  qipa  abhängigen,  üer  Optativ.  Vgl.  den 
Modusgebrauch  nach  faurpizei  §  137. 

Beispiele  für  den  Optativ  nach  einem  Präsens:  Freid.  100,  18 
ein  man  wirt  uerder  danne  er  st,  gellt  er  hoher  minne  hi.  135,  4 
gedinge  uns  größter  fröude  git,  danne  uns  gebe  diu  sumerztt.  — 
Präteritum  (mit  Vergangenheitsbedeutung')  MF.  202,  31  wlser  denne 
ich  wcere  bin  ich  maneger  dinge  wol.  Freid.  175,  4  nu  suln  wir 
leisten  zehen  gebot  U7id  stn  doch  bloeder,  da^  wei^  got,  denn  Adam 
dö  wcere,  do  im  ein  gebot  was  ze  swcere.  —  Perfektum:  Erinner. 
947  mer  vreuden  mugen  si  da  jehen,  denne  ieman  habe  gehoert  oder 
gesehen  oder  iemen  gedenken  kunjie.  —  Nach  einem  Perfektum: 
Walther  106,  3  Ich  hän  dem  Missencere  gefileget  manec  mcere  ba^ 
danne  er  nü  gedenke  mtn. 

Nach  einem  Präteritum.  Kehr.  14353  Karl  vuor  dö  mere  durch 
die  boten  here  dan  er  durch  den  bruoder  tcete.  Greg.  1958  ouch 
behagete  ir  der  gast  ba^  danne  ie  man  getobte  (getan  hatte).  Nib. 
632, 1  der  ivirt  ivart  an  dem  morgen  verre  ba^  gemuot  dafiner  vore 
wcere.  ~  Präsens  (auf  die  Gegenwart  bezüglich):  Wig.  1226  i?i  einem 
järe  tuuohs  ej  Trier,  danne  ein  ander^  in  zwein  tuo.  Ulr.  v.  Zatzikh. 
9234  d^s  was  ze  Dodöne  mS,  danne  man  sit  oder  e  äne  lüge  habe 
vernomen. 

1)  Delbr.  PBb.  29,290  f.  Erdm.  §  190.  Wunderlich  1,337  f. 
Blatz  2,  781  f.  1079  ff. 


§  13f).]  Der  Optativ  in  vergleichenden  Nebensätzen.  26^ 

2.  Durchbrochen  wird  die  Regel  durch  die  Sätze,  die 
einem  affirmativen  Satze  im  Irrealis  untergeordnet  sind.  In 
ihnen  herrscht  der  Indikativ;  z.  B.  Iw.  3164  da  stüende  he^^er 
lö7i  nach,  danne  uns  von  iu  geschiht.  Freid.  68,  6  oh  der 
tiuvel  wcere  der  werlde  rihfoere,  der  rihte  ha^,  ah  ich^  ver- 
stä7i,  dan  noch  die  rihtcer  hänt  getan.  Nur  selten  begegnet 
der  Optativ^  und  zwar  der  Opt.  Präs.,  nicht  wie  man  erwarten 
sollte  (§  148),  der  Opt.  Prät.  (Bock  S.  21);  offenbar  vermied 
man  in  den  eng  verbundenen  Sätzen  dieselbe  Form  in  ganz 
verschiedenem  Sinne  zu  gebrauchen. 

Anm.  1.  Die  Verschiedenheit  des  Modus  erklärt  man  gemein- 
hin daraus,  dass  nach  einem  affirmativen  Satz  die  durch  den  Kom- 
parativ bezeichnete  Eigenschaft  für  den  Nebensatz  in  geringerem, 
nach  negativem  in  mindestens  gleichem  Masse  gilt  wie  für  den 
Hauptsatz.  Der  Satz  0.  3,  11,4  spricht  dem  König  ein  weniger  gutes 
Verhalten  zu  als  dem  kananäischen  Weibe,  der  Satz  2, 14,  31  dagegen 
dem  Jakob  mindestens  dieselbe  Würde  wie  Christo.  Das  geringere 
Mass  von  Realität,  meint  man,  habe  in  dem  potentialen  Optativ 
Ausdruck  gefunden.  (Erdmann  ZfdPh.  5,215.  Bock  S.  7).  Aber  dass- 
eine  solche  abstrakte  Bewertung  der  Realität  den  Anlass  zum  Optativ 
gegeben  habe,  ist  nicht  glaublich.  Mit  Recht  hat  daher  neuerdings 
Behaghel  (Zeitfolge  S.  175)  diese  früher  von  ihm  selbst  vertretene 
Auflassung  fallen  lassen  und  den  Modus  aus  der  Bedeutung  des 
Satzgefüges  und  der  verbindenden  Partikel  zu  erklären  versucht. 
Er  leitet  den  Optativ  aus  einem  ursprünglichen  Konzessivsatz  her. 
Der  Satz:  diu  kröne  ist  elter  daiine  der  künec  Philippes  st  habe 
parataktisch  etwa  so  gelautet:  'Die  Krone  ist  älter  im  Vergleich 
damit:  mag  es  auch  Philipp  sein,  d.  h.  mag  auch  Philipp  alt  sein.' 
Ob  damit  die  richtige  Erklärung  gefunden  sei,  bezweifele  ich,  wenn 
ich  auch  keine  bessere  weiss;  (vgl.  auch  PBb.  29,291).  Die  jüngere 
Entwickelung  deutet  jedenfalls  nicht  mehr  auf  konzessive  Auffassung 
des  Modus  hin,  er  unterliegt  vielmehr  dem  Geschick  des  potentialen 
Optativs. 

3.  Je  länger  um  so  mehr  weicht  der  Optativ  in  diesen 
Sätzen  zurück;  Indikativ  und  Irrealis  treten  an  seine  Stelle. 
Der  Indikativ  ist  im  Ahd.  noch  sehr  selten;  erst  im  Mhd. 
ward  er  häufiger;  z.  B.  Rol.  15,31  so  wirdit  ij  hoßser  danne 
ij  €  was  (:  da^).  Walther  92,  25  diu  liebe  stät  der  schoene 
hi,  ha^  danne  gesteine  dem  golde  tuot  (:  muot).  Auch  Walther 
57,  30.  1U6, 5  bekunden  die  Lesarten  die  Neigung  zu  dem 
jüngeren  Indikativ.     Nie.  von  Basel   braucht  ihn   fast  immer. 


270  Gebrauch  der  Modi.  [§  136. 

und  für  uns  ist  er  nötig,  wo  die  Aussage  des  untergeordneten 
Satzes  auf  die  Wirklichkeit  geht,  wie  das  in  fast  allen  oben 
angeführten  Beispielen  der  Fall  ist. 

4.  Der  Irrealis  ist  zunächst  da  berechtigt,  wo  ein  Gegen- 
satz zur  Wirklichkeit  besteht;  z.B.  MF.  50,26  noch  he^^er 
isty  da^  ich  si  mide,  danne  si  äne  huote  wcere  und  sprceche 
'mir  dehein  ze  nide.  Mai  29,  3  ir  tete  wirser  disiu  not,  danne 
ir  Mete  getan  der  tot.  Er  wird  dann  aber  auch  da  zugelassen, 
wo  die  Aussage  nur  als  Vorstellung  bezeichnet  werden  soll, 
also  der  potentiale  Optativ  an  seiner  Stelle  wäre;  z.  B.  Kehr. 
13500  nü  weset  gote  gehörsam,  da^  ist  he^^er,  danne  man 
iuch  irsluoge  unde  die  sele  dem  tiuvel  wurde.  Bari.  189,34 
ich  sol  hillicher  gän  ze  dir,  dan  din  kilnecUcher  name  dar 
kceme.  Engelhart  526  vil  he^^er  ist,  da^  ich  und  du  mit 
einander  strichen,  dan  oh  wir  sunderlichen  iegelicher  füeren. 
Uns  ist  der  potentiale  Optativ  in  solchen  Sätzen  nicht  versagt, 
lieber  aber  braucht  man  den  Indikativ  oder  den  Irrealis; 
also  auch  da,  wo  in  der  älteren  Sprache  noch  der  Opt.  Präs.  steht: 
z.  B.  Gr.  Reinh.  S.  320, 817  Itt  ein  man  mit  eren  tot,  da^  ist  ein 
löbeltcher  not,  denne  er  st7i  ere  üf  gebe  und  darnach  lasterlichen 
lebe  =:  Sils  dass  er  aufgibt  .  .  und  lebt,  oder  aufgäbe  und  lebte.  Iwein 
7317  ich  bin  noch  ba^  ein  arm  wip,  danne  ir  deweder  den  Itp  durch 
mich  hie  sül  Verliesen  =  als  dass  einer  von  euch  verliert,  oder  ver- 
löre od.  verlieren  sollte.  Oder  in  anderer  Form,  so  dass  beide  Sätze 
dem  Komparativ  untergeordnet  sind:  Kehr.  8747  ej  ist  be,^^er,  da^ 
einer  ir  sterbe,  dan  die  iverelt  alle  vir  wer  de  =  es  ist  besser,  dass 
einer  stirbt,  als  dass  zu  Grunde  ^-eht,  oder:  es  wäre  besser,  dass 
einer  stürbe,  als  dass  zu  Grunde  ginge.  (Der  Irrealis  auch  im  über- 
geordneten Satze  nach  §114,5.)  —  Begründeter  Moduswechsel  bei 
Nie.  von  Basel  324,  20  luer  es  nüt  iveger,  da,^  man  armen  lüten  hülfe, 
denne  da;^  man  cloßster  machet? 

Anm.  2.  Mit  dem  von  einem  affirmativen  Satze  abhängiji'en 
Nebensatz  verbindet  sich  leicht  eine  negative  Vorstellung  (die  Krone 
ist  alt,  König  Philipp  weniger,  oder  nicht),  und  daher  wird  er  schon 
im  Mhd.  zuweilen  durch  noch  statt  durch  unde  gegliedert  (Bock 
S.  8);  z.  B.  En.  5726  da  mede  sande  er  heme  ein  stvert,  dat  skarper 
ende  harder  was  dan  der  düre  Eggesas,  noch  der  märe  Mimminc 
etc  Im  Nhd.  wird  der  Satz  nicht  selten  negiert,  zuweilen  schon  im 
16.  u.  17.  Jh.,  öfter  im  18  ;  z.  B.  Schiller  Pico.  3, 1  wir  müssen  das 
Werk  in  diesen  nächsten  Jahren  weiter  fördern,  als  es  in  Jahren 
nicht   gedieh.     Dieser    jetzt    veraltete    Gebrauch    beruht    zum    Teil 


§  137.]  Der  Optativ  nach  g.  faurpizei,  ahd.  er  etc.  271 

jedenfalls  auf  französischem  Einfluss  (§  140  A.)  vgl.  Brandstäter, 
die  Gallicismen  S.  243.  Schwab,  ZfdU.  7,  816  und  Blatz  2,  1080  ff., 
der  auch  darauf  hinweist,  dass  der  Gebrauch  von  kein  im  unter- 
geordneten Satz  dem  der  Negation  nicht  gieich  zu  achten  ist;  denn 
kein  bedeutet  ursprünglich  ullus. 

137.  (Der  Optativ  nach  g.  faurpizei,  ahd.  er  etc.)^). 
1.  Den  Komparativsätzen  schliessen  sich  die  temporalen  Neben- 
sätze an,  die  im  Gotischen  durch  faurpizei,  im  Ahd.  durch 
er  thanne,  er,  im  Mhd.  durch  e,  e  danne  oder  e  da^,  im 
Nhd.  durch  ehe,  bevor,  eher  od.  früher  als  eingeleitet  werden, 
also  durch  Konjunktionen,  die  alle  komparative  Bedeutung 
haben,  meist  auch  durch  ihre  Form  als  Komparative  gekenn- 
zeichnet sind.  Der  Gebrauch  des  Modus  ist  in  diesen  Sätzen 
ebenso  geregelt  wie  in  den  eigentlichen  Komparativsätzen  und 
demgemäss  führt  Behaghel  (Zeitfolge  S.  174)  auch  in  ihnen 
den  Optativ  auf  einen  ursprünglichen  Forderungssatz  zurück 
(vgl.  §  136  Anm.  1).  Doch  lässt  sich  in  diesen  Temporalsätzen 
der  Optativ  auch  leicht  als  Potentialis  erklären.  Da  nach 
einem  affirmativen  Hauptsatz  die  Aussage  des  Nebensatzes, 
auch  wenn  sie  auf  ein  wirkliches  Faktum  weist,  relativ  später 
ist  als  die  des  Hauptsatzes,  also  vom  Standpunkt  des  Haupt- 
satzes angesehen  noch  nicht  verwirklicht  ist,  so  ist  in  diesem 
Falle  der  Optativ  ebenso  natürlich,  wie  nach  einem  negativen 
Hauptsatz,  der  die  Aussage  des  Nebensatzes  als  verwirklieht 
voraussetzt,  der  Indikativ. 

Beispiele.  Nach  einem  affirmativen  Satz  im  Präsens: 
Mt.  6, 8  wait  atta,  pizei  jus  paurbup,  faurpizei  jus  bidjaip  ina. 
O.  4, 13,  35  thu  lougnis  min  zi  wäre,  er  hinaht  hano  krähe.  Mit  einem 
auf  die  Vergangenheit  bezüglichen  Präteritum:  Jh.  8,58  faui^pizei 
Abraham  ivaurpi,  im  ik  (irpiv  —  ^eveaOai).  Nach  einem  Präteritum: 
O.  1,6,18  ja  kundt  er  uns  thia  heilig  er  er  giboran  wäri. 

Für  den  Indikativ  nach  einem  negativen  Satz  fehlen  im 
Gotischen  entscheidende  Belege  (Lc.  2,  26,  wo  nach  faurpizei  der 
Optativ  steht,  ist  dieser  durch  die  indirekte  Rede  veranlasst.)  Deut- 
liche Beispiele  bietet  das  Hochdeutsche.  Tat.  27, 3  ni  ges  thü  tha- 
nän  ü^,  er  tharuie  thü  giltis  (donec  reddas).  0.  2,  9,  45  er  ividorort 
ni  ica7it,  er  er  nan  fasto  gibant. 

1)  Delbr  PBb.  29,  295.  Mourek  §  146.  Erdmann  §  191.  Wun- 
derlich 1,  337.     Blatz  2,  1037  f. 


272  Gebrauch  der  Modi.  [§  137, 

2.  Ausnahmen  von  der  Regel  sind  im  Ahd.  noch  sehr 
selten,  öfter  begegnen  sie  im  Mhd.,  namentlich  wenn  der 
Nebensatz  im  Präteritum  steht  und  eine  Tatsache  der  Ver- 
gangenheit meldet,  oder  wenn  der  Irrrealis  eintritt;  z.B.  Kudr, 
5n(3.  4  ir  volgte  ich  manige  7nUe,  e  si  iuch  ze  friedel  erkös.  Nib. 
2002,  2  e  da^  man  dö  dem,  d'egene  dm  keim,  ahe  gebaut,  m.an  brach 
den  ger  von  houbie.  Walther  100,  29  e  ich  im  lange  schuldic  wcerey 
ich  wolle  e  s'  einem,  Juden  borgen.  Im  Nhd.  pflegen  wir,  ab- 
gesehen vom  Irrealis,  nach  affirmativem  wie  nach  negativem 
Hauptsatz  den  Indikativ  zu  gebrauchen:  Du  wirst  mich  ver- 
leugnen, bevor  der  Hahn  krälit  (ungewöhnlicher:  ehe  denn 
der  Hahn  krähe).  Er  verkündete  uns  das  Heil,  ehe  er  ge- 
boren war.  Schon  Nie.  von  Basel  braucht  den  Optativ  nicht 
mehr,  wenn  er  nicht  anderswie  begründet  ist. 

Aism.  1.  Als  Modus  der  indirekten  Eede  ist  der  Optativ  auf- 
zufassen in  Sätzen  wie:  Er  wün.schte  sie  noch  zu  sprechen,  ehe  sie 
die  Stadt  verliesse.  Er  wollte,  durfte  nicht  abreisen,  ehe  er  sie  ge- 
sprochen hätte.  Hier  werden  nicht  zwei  Aussagen  einfach  mit  Bezug 
auf  ihr  Zeitverhältnis  verglichen,  sondern  die  Aussage  des  Neben- 
satzes wird  als  Moment  subjektiver  Absicht  und  Erwägung-  hin- 
gestellt. Ebenso  ist  vermutlich  der  Optativ  aufzufassen,  der  schon 
im  Ahd  einigemal  nach  negativem  Hauptsatze  erscheint;  z.  B.  N. 
Ps.  111,8  (2,483,8)  er  ne  chumet,  e  er  da^  gesehe.  Nib.  919,  3  der 
helt  doch  niht  entranc,  e  da^  der  kvnec  getrunke.  Vgl.  den  Optativ 
nach  bis  §  127,  2. 

Anm.  2.  Nach  negativem  Hauptsatz  stellt  sich  im  18.  Jh, 
häufig,  jetzt  seltener,  auch  im  Nebensatz  eine  Negation  ein:  Er 
verzeiht  dir  nicht,  ehe  du  ihn  nicht  bittest.  Er  wollte  das  Buch 
nicht  ausleihen,  ehe  er  es  nicht  selbst  gelesen  hätte  (Belege  bei 
Erdm.  a.  0.).  Der  Grund  liegt  wohl  darin,  dass  die  Negation  des 
Hauptsatzes  eben  darauf  beruht,  dass  die  Aussage  des  Nebensatzes 
noch  nicht  verwirklicht  ist;  der  Nebensatz  wird  wie  ein  Bedingungs- 
satz aufgefasst;  vgl.  §  136  A.  2. 

Anm.  3.  An  das  Adverbium  .sit,  obwohl  es  auch  eigentlich 
ein  Komparativ  ist,  schliessen  sich  vergleichende  Nebensätze  mit 
danne  nicht  an,  vielmehr  wird  es  selbst  als  Konjunktion  gebraucht; 
z.  B.  0.  2,  8,  53  thiz  zeichan  deta  druhttn  krist  menfiisgon  zi  erist, 
,9fd  er  hera  in  icorolt  quam\  oder  später  auch  in  Verbindung  mit 
dttQ  z.  B.  Walther  114,  17  stt  da^  im  die  besten  jähen,  da^  er  also 
schöne  künne  leben,  so  hä?i  ich  ouch  im  vil  nähen  in  mtnem  herzen 
eine  stat  gegeben.  Der  Optativ  kommt  diesen  Sätzen,  deren  Aus- 
sage   der  Hauptsatz    als    bereits    geschehen    voraussetzt,    nicht    zu. 


§  138—139.]  Der  Optativ  in  Vergleichsätzen  nach  2;w  —  [als)  dasi^.     273 

Wenn  Notker  nach  kausalem  stt  wie  nach  andern  kausalen  Kon- 
junktionen den  Opt.  setzt,  so  beruht  das  auf  lateinischem  Einfluss; 
s.  §  145,  6. 

138.  (Der  Optativ  nach  zu  —  {als)  dass.)  1.  Die 
Nebensätze,  die  sich  ergänzend  an  ein  durch  zu  gesteigertes 
Adjektivum  anschliessen,  gehören  zu  den  Sätzen,  die  einen 
negativen  Gedanken  in  positiver  Form  aussprechen  (§  140  f.). 
Sie  bezeichnen  eine  nur  vorgestellte  Handlung,  deren  Ver- 
wirklichung durch  die  im  Hauptsatz  erwähnte  Eigenschaft 
verhindert  wird.  Das  Ahd.  kennt  diese  Verbindung  noch 
nicht;  im  Mhd.  wird  der  Optativ  gebraucht  nach  den  Regeln 
der  consecutio  temporum;  z.  B.  nach  einem  Präsens:  Trist. 
16593  da^  ich  iu  beiden  den  tot  oder  iht  Herzeleides  tuo,  da 
Sit  ir  mir  ze  liep  zuo.  Nach  einem  Präteritum:  Nib.  258 
darzuo  was  er  ze  riche,  da^  er  iht  nceme  solt.  Dass  man 
diesen  Optativ  als  Modus  der  Forderung  auffasste,  ist  daraus 
zu  schliessen,  dass  später  gern  die  Umschreibung  mit  sollte 
oder,  wenn  der  Nebensatz  dasselbe  Subjekt  hat  wie  der  Haupt- 
satz, der  Infinitiv  mit  um  zu  gebraucht  wird. 

2.  Neben  dem  Optativ  kommt  schon  im  Mhd.  auch  der 
Irrealis  vor;  z.  B.  Iw.  3170  st  ist  iu  ze  edel,  da^  ir  si  Jcehesen 
soldet.  Berth.  ir  sit  ze  edel  darzuo,  da^  ir  der  tiuvel  genö^ 
würdet.  Im  Nhd.  herrscht  dieser  Modus.  Daneben  gilt  der 
Indikativ,  kaum  noch  der  Optativ:  Er  ist  zu  reich,  als  dass 
er  Sold  nähme  od.  nimmt',  war  zu  reich,  als  dass  er  genommen 
hätte  od.  nahm',  ist  od.  war  zu  reich,  um  zu  nehmen. 

139.  (Der  Optativ  in  Nebensätzen  mit  «Zs  o?>.)  2)  I.Neben- 
sätze, die  zur  näheren  Bestimmung  des  Hauptsatzes  eine  andere, 
nur  vorgestellte  Handlung  vergleichsweise  heranziehen,  stehen 
im  Potentialis  oder  Irrealis:  Das  Gotische  belegt  zufällig  nur 
den  Opt.  Prät.  mit  Vergangenheitsbedeutung  (ZfdPh.  8,  38) : 
1  Kor.  4,  7  jahai  andnamt,  ha  höpis,  swe  ni  nemeis,  warum 


1)  Erdm.  §  192.     ßlatz  2,789.  1097.  1120.  1124. 

2)  Delbr.   PBb.   29,280  f.     Erdm.  §189.     Behaghel,    Zeitfolge 
S.  32f.  92  f.     Wunderlich  1,341.    Blatz  2,802.  1094.  1098.  1101  f. 

W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik  III.  lg 


274  Gebrauch  der  Modi.  [§  140. 

schreiest  du,  als  ob  du  nicht  genommen  hättest;  ebenso  2  Kor. 
11, 21.  Im  Hochdeutschen  finden  wir  beide  Tempora,  das 
Präsens  mit  Bezug  auf  die  Gegenwart,  das  Präteritum  mit 
Bezug  auf  die  Vergangenheit,  also  in  potentialem  Sinne. 
(a)  Mers  Zaub.  lid  ze  geliden,  so  se  gelimida  stn.  Walther  45,37 
so  die  hluomen  üq  dem  grase  dring ent,  same  si  lachen  gegen  der 
spilden  sunne.  54,  27  ir  houbet  ist  s6  wünnertch^  als  e^  min  himel 
welle  sin  [welle  Hülfszeitwort].  Nib.  1120,  3  si  varnt  wol  dem  ge- 
liche,  saTn  e^  si  Rüedeger.  —  (b)  0.  5,  9, 15  gab  einer  antwurtij  selb 
so  er  ^J  zurnti.  Walther  25,  33  silher,  als  e^  wcere  funden,  gab  man 
hin  und  rtche  wät.  25,  37  ors,  als  ob  ej  lember  tvceren,  vil  maneger 
dan  gefüeret  hat. 

2.  Aber  schon  im  Ahd.  kommt  auch  der  Irrealis  vor, 
also  der  Opt.  Prät.  nach  einem  Präsens  im  Hauptsatz  ohne 
Vergangenheitsbedeutung:  N.  Ps.  4,  4  (2,  10,  2)  da^  cMt  ecdesia, 
samo  so  si  chäde  zi  iro  chinden.  Berth.  1,  281,  11  ze  gelicher 
wise  rehte  als  ein  diep  vor  eime  rihter  stüende,  also  tuost 
du.  Bei  Albrecht  von  Eyb  tiberwiegt  schon  der  Irrealis  be- 
deutend, und  so  auch  jetzt  (Erdm.).  Selbst  wo  ein  Gegensatz 
zur  Wirklichkeit  gar  nicht  stattfindet,  wie  Nib.  1120,  3,  brauchen 
wir  den  Irrealis  als  Ausdruck  für  die  noch  nicht  erkannte 
Wirklichkeit;  doch  ist  auch  der  Opt.  Präs.  noch  üblich.  Da- 
gegen entspricht  der  Indikativ,  der  wie  in  irrealen  Bedingungs- 
sätzen (§  134,  2)  auch  hier  zuweilen  vorkommt,  dem  gemeinen 
Sprachgebrauch  nicht;  z.  B.  Dem  Knaben  war's,  als  ob  er 
der  Wellen  Flüstern  verstand  (Körner).  Mir  ist,  als  sass 
ich  winterlange  ein  Kranlcer  in  dunkler  Krankenstube  (Heine). 

Anm.  In  manchen  Fällen  konkurrieren  mit  diesen  Nebensätzen 
der  Art  und  Weise  substantivische  dass-Sätze:  Mir  träumt^  scheint, 
dass  od.  als  ob. 

Der  Optativ  unter  dem  Einfluss  einer  Negation  im  Hauptsatz^). 

140.  1.  Oft  sind  untergeordnete  Sätze  in  der  Weise 
mit  einem  negativen  Hauptsatz  verbunden,  dass  durch  die 
Negation   des   Hauptsatzes  die  Aussage   des  Nebensatzes  auf- 


1)  Erdm.  §  192.  Wunderlich  1,  334  f.  Blatz  2,789  f.  801.  903. 
982.  985.  983.  1120.  1125  f.  —  Kammel,  Über  den  Einfluss  der  Negation 
im  Hauptsatze  auf  den  Modus  in  Substantiv,  Konsekutiv-  und  Relativ- 
sätzen.    ZfdPh.  36,86-115. 


■'%  140.]  Der  Optativ  nach  negativem  Hauptsatz.  275 

g-ehoben  wird;  die  positive  Aussage  des  Nebensatzes  wird 
negativ:  z.B.  Walther  8,22  des  enmac  niht  sin,  da^  guot 
und  weltlich  ere  zesamene  in  ein  herze  komen-^  die  negative 
umgekehrt  positiv;  z.  B.  Frid.  45,  11  nieman  eine  wunde  mac 
nei'heilen,  däne  schine  der  slac.  In  beiden  Fällen  wird  in 
der  älteren  Sprache  der  Optativ  gebraucht,  weil  der  Neben- 
satz in  seiner  der  Wirklichkeit  entgegengesetzten  Form  nur 
dem  Bereich  der  Vorstellung  angehört.  Die  Sätze  haben  oft 
ein  rhetorisches  Gepräge;  die  Hauptaussage  enthält  der  Neben- 
satz; ist  er  positiv,  so  wird  durch  das  Satzgefüge  ein  negativer 
Oedanke  kräftig  hervorgehoben:  'Gut  und  weltliche  Ehre 
können  nimmer  zusammenkommen',  ist  er  negativ  ein  positiver: 
"Jede  Wunde  hinterlässt  eine  Narbe'.  —  Es  braucht  nicht 
gerade  die  Negation  ni  zu  sein,  die  den  Hauptsatz  negiert; 
dieselbe  Wirkung  üben  Adverbia  wie  liltzol,  selten,  mit  un- 
negierte  Wörter  und  Fragen  mit  negativem  Sinn. 

2.  (A.  Der  abhängige  Satz  ist  positiv.)  Bald  schliesst  er 
sich  als  Relativsatz  einem  negierten  Nomen  des  Hauptsatzes 
an,  bald  dient  er  als  Substantivsatz  zur  Ergänzung  des  Prädi- 
kats, bald  als  Adverbialsatz  zu  seiner  näheren  Bestimmung. 
Der  Optativ  kommt  in  diesen  Sätzen  auch  jetzt  noch  vor, 
öfter  aber,  je  nach  der  Natur  der  Sätze,  bald  der  Indikativ, 
bald  der  Irrealis. 

3.  (a)  Relativsätze.  Nach  einem  Präsens:  Lc.  1,61  ni 
ai7ishun  ist  in  kunja  peinamma,  saei  haitaidau  pamma  namin  (öc; 
KaXeixai).  0.  1, 11,  47  er  nist  in  erdringe,  th'er  ira  loh  irsinge.  5, 19,  33 
wer  ist^  th'er  tJianne  widarstante?  Nib.  497,  3  (C)  t^a/ic^e  wir  nieman 
hän,  der  muge  gertten.  Präteritum  auf  die  Vergangenheit  bezüglich: 
0.  1, 17,  1  nist  man  thihein  in  worolti,  tha^  saman  al  irsageti  (kein 
Mensch  hat  alles  berichtet).  —  Nach  einem  Präteritum:  Nib.  1711,  3 
ich  gesach  nie  so  manegen  Tnan,  die  stvert  in  henden  trüegen. 
i?110,  2  wä  sähet  ir  ie  so  manegen  helt,  die  trüegen  sw'ert  enhant? 
Walther  55,  32  e^n  wart  nie  slo^  so  manicvalt,  da^  vor  dir  gestuende 
(stand  gehalten  hätte).  Engelh.  593  da^  ich  gesellen  niht  envant,  der 
mich  diuhte  also  gewant,  da^  er  getriuwe  künde  stn, 

Abweichungen  finden  sich;  der  Indikativ  z.  B.  Trist. 
16103  nune  vant  er  nienfianj  der  ie  leben  gewan.  Parz.  311,  11 
^n  disem  ringe  niemen  sa^^  des  werdekeit  so  lützel  trouc; 
der   Irrealis,    noch    selten,    z.  B.    Iw.  4174    die    mirs    hülfen 


276  Gebrauch  der  Modi.  [§  140. 

wenden^  die  sint  vil  ungereit ;  Kudr.  239,  3  nü  enwei^  ich 
7iieman,  der  mir  da  he^^er  wcere.  Jetzt  sind  Irrealis  und 
Indikativ  die  gangbaren  Modi;  der  Indikativsatz  nähert  sieb 
dem  blossen  Satzglied,  das  durch  keinen  Modus  mehr  charakteri- 
siert wird,  im  Irrealis  behauptet  die  Aussage  selbständiges 
Leben.  Gewöhnlich  können  wir  beide  Formen  brauchen;  wenn 
jedoch  der  Hauptsatz  auf  die  Vergangenheit,  der  abhängig-e  Satz 
auf  die  Gegenwart  weist,  ist  der  Indikativ  ausgeschlossen.  Der 
Satz  Iw.  1032  si  wären  da  beide  und  ouch  nieman  M  m  me,  deir 
mir  d€r  rede  gest€  würde  jetzt  den  Irrealis  verlangen  :  'es  war  nie- 
mand da,  der  mir  jetzt  beistimmen  könnte'.  Der  Potentialis  ist 
uns  noch  nicht  versagt,  aber  man  pflegt  ihn  nicht  zu  ge- 
brauchen. Lc.  1,61  lautet  bei  Luther:  Ist  doch  niemand  in 
deiner  Freundschaft ^  der  so  heisse  (=  g.  haitaidau);  uns 
liegt  heisst  od.  Messe  näher. 

Anm.  Oft  wird  in  solchen  Sätzen  nicht  nur  ausgesprochen, 
dass  die  Aussage  nicht  wirklich,  sondern  dass  sie  nicht  möglich  ist: 
daher  wir  gern  das  Hülfszeitwort  können  anwenden  ;  z.  B.  0.  1,  11,  47 
es  gibt  niemand  auf  Erden,  der  ihr  Lob  aussingen  könnte.  1,17,1 
niemand  ist  in  der  Welt.,  der  alles  hätte  sagen  können. 

4.  (b)  Substantivsätze,  a)  nach  ^geschehen'.  Nach  einem 
Präsens:  0.  5,  23,  259  ni  wirthit  (im  Himmelreich),  tha^  man  thihein 
irsterbe\  .  .  bithiu  ni  wirdit  ouh  in  war.,  tha^  man  nan  bigrabe 
thär.  1,5,37  wio  meg  i$  io  werdan  war,  tha^  ih  ic'erde  swangar? 
Walther  60,  4  e^  ist  vil  unnähen,  da^  ich  dir  noch  sül  versmähen.  — 
Nach  einem  Präteritum:  0.  4, 14,  2  ivard  i^  io  wanne,  tha^  brüstt 
iu  icihtes  thanne?  Wilh.  190,26  ej  ist  im  selten  e  geschehen,  da^. 
man  in  fünde  in  unsiten.  Parz.  798,  26  e^  was  ie  ungewonheit,  da^ 
den  gräl  ieman  möhte  erstriten.  Greg.  967  diu  State  enwas  im  niht 
geschehen,  da^  si  hceten  besehen,  wa^  in  deme  va^^e  wcere  (sie  hatten 
keine  Gelegenheit  gehabt  etc.).  —  ß)  Nach  'zulassen,  sagen, 
wahrnehmen'.  Hier  ist  der  Modus  nicht  allein  in  der  Negation 
begründet.  Als  Ausdruck  einer  abgelehnten  Forderung  oder 
Absicht  erscheint  er  in  Sätzen  wie  Mc.  11, 16  ni  lailöt,  ei  has 
pairhberi  kas  pairh  alh,  iva  ti^  biev^Y'^^-  Tat.  117,  3  ni  lie^,  tha^- 
eining  fuorti  fa^  thuruh  tha^  tempal.  0.  4,  35,  4  ni  ivas  in  themo  willen, 
er  sulih  wolti  irfullen.  5,  20,  75  ir  ni  thultut,  tha^  ih  giangi  nachot. 
Freilich  können  solche  Sätze  nicht  auf  unabhängigen  Forderungs- 
sätzen beruhen,  denn  sonst  müssten  sie  negativ  sein  (niemand  soll 
tragen  etc.).  Aber  die  Bedeutung  des  ganzen  Satzgefüges  lässt  an- 
nehmen,  dass  man   doch   früh   in  dem  Optativ  den  Ausdruck  einer 


§  140.]  Der  Optativ  nach  negativem  Hauptsatz.  277 

Forderung  oder  Absicht  sah.  —  Als  Modus  der  indirekten  Rede 
iässt  er  sich  nach  Wahrnehmen  und  erfahren'  auffassen ;  z.  B. 
Tat.  132,  19  fori  tverelti  ni  ward  gihörit,  tha^  iver  gioffanöti  ougun 
Mint  giboranes  (non  est  auditum,  quia  aperuit);  ebenso  Luther  Jh. 
9,  32  von  der  Welt  ist  es  nicht  erhört,  dass  jemand  einem  gehornen 
JBUnden  die  Augen  aufgetan  habe. 

Wir  pflegen  jetzt,  wo  der  Optativ  in  der  Negation  be- 
gründet war,  nach  einem  Präsens  den  Indikativ,  nach  einem 
Präteritum  den  Indikativ  oder  den  Irrealis  zu  gebrauchen. 
Wo  der  Optativ  ohnehin  gerechtfertigt  ist,  kann  auch  nach 
einem  Präsens  der  Irrealis  gebraucht  werden.  Beide  Modi 
kommen  auch  schon  in  der  älteren  Sprache  vor.  Der  Indika- 
tiv z.  ß.  Wh.  310, 12  an  dem,  ich  niht  geprüeven  kan,  da^  er  kein 
untät  ie  begienc.  Und  im  Gotischen  Jh.  9, 32  fram  aiwa  ni  ga- 
hausip  ivas,  patei  uslükip  k>as  augöna  blindamma  gabauranarnma. 
Der  Irrealis  z.  B.  Nib.  2275, 1  da^  enwelle  got^  da^  sich  dir  ergceben 
zwene  degene.  Berth.  234,  19  ich  enger  des  niht,  da^  ich  ein  kilnec 
lucere  oder  würde.  Dagegen  Nib.  2278,  2  von  uns  enzimt  da^  moere 
niht  wol  ze  sagene,  da^  sich  iu  ergceben  zwen  also  küene  man, 
braucht  man  den  Opt.  Prät.  nicht  als  Irrealis  aufzufassen,  da  er 
sich  auf  die  Vergangenheit  bezieht:   Mass  sich  dir  ergeben  hätten.' 

5.  (c)  Adverbiale  Nebensätze.  Folgesätze,  Sätze  der  Art 
und  Weise,  der  Gradbestimmung,  des  Grundes.  Nach  einem 
Präsens:  0.  3,20,9  ni  sint  theso  unmahti,  tha^  er  i^  firworahti, 
nicht  ist  diese  Krankheit  der  Art,  dass  er  sie  verschuldet  hätte, 
nicht  er  hat  sie  verschuldet.  2, 17,  13  nist  bürg,  tha^  sih  giberge, 
es  gibt  keine  Stadt,  die  sich  verbergen  könnte^).  N.  Ps.  52,1 
(2,  201,  27)  wer  ist  so  unwizztg,  da^  er  chede,  da^  got  nest.  Ps.  87,  11 
(2,363,21)  sint  doch  eine  arzäte  so  guote,  doh  sie  lebenden  helfin, 
da^  sie  töte  erchicchen'?  Eneit  8697  ich  envorhte  üch  niet  so  sire, 
dat  ich  .  .  mtns  dankes  iwet  sterve.  Mai  100,  33  ir  habet  ej  so  ge- 
schaffen niht,  da^  ich  iu  welle  von  im  iht  weder  guot  noch  übel 
sagen.  Nach  einem  Präteritum:  Nib.  219  dane  heten  ouch  die 
Sahsen  so  hohe  niht  gestriten,  da^  man  in  lobes  jcehe  (dass  man  sie 
gerühmt  hätte).  Walther  7,  27  doch  brähten  si  din  lop  nie  dar,  da^ 
€^  volendet  würde  gar.  118,31  ich  ensah  die  guoten  hie  so  dicke 
nie,  da^  ich  des  iht  verbeer e. 


1)  Statt  der  Konjunktion  brauchen  wir  in  diesem  Satze  das 
Pronomen.  Umgekehrt:  0.  1, 11, 48  nist  unan  io  so  gimuati,  ther 
irzelle  ira  guati,  keiner  ist  so  beanlagt,  dass  etc.  2, 12,  61  nist  7nan 
nihein  s6  rtchi,  ther  sttge  in  himilrtchi. 


278  Gebrauch  der  Modi.  [§  141. 

6.  (d)  Besonders  eng  verbindet  sich  die  Negation  mit 
dem  abhängigen  Kausalsatz  (g.  ni  patei,  ni  peei,  ni  ei'^). 
Nach  einem  Präsens:  Phil.  3,  12  ni  patei  ju  andnemjau  (^\aßov), 
aippau  ju  garaihts  gadömips  sijau  (bebiKaiuüfial),  appan  afargagga, 
nicht  dass  ich  es  schon  ergriffen  habe  oder  vollkommen  sei,  ich 
jage  ihm  aber  nach.  0.5,8,39  nales  theih  thih  zeino  mit  worolti 
gimeino^  ih  wei^  thih  suntaringon  {=■  Alcuin  in  Joh.  non  te  gene- 
raliter,  sed  specialiter  scio).  MF.  15,  5  ich  rede  eg  umhe  da^  niht, 
da,^  rair^  diu  Sodde  habe  gegeben,  deich  ie  mit  ir  geredete.  Bert- 
hold 1, 459, 33  cfaj  rede  ich  davon  niht,  da^  ich  sant  Jacobe  sine 
bilgertne  enpfüere^i  welle.  —  Nach  Präteritum:  Jh.  12,6  patuh 
pan  qapy  ni  peei  (oux  öti)  ina  pize  parban^  kara  wesi  (^^eXev  auTuJ), 
ak  unte  piubs  was.  Jh.  7,  22  duppe  Mös^s  atgaf  izwis  bimait,  ni 
patei  fr  am.  Mose  sijai,  ak  us  attam.  Tat.  104,  6  thuruh  tha^  Moyses^ 
gab  iu  bisnitnessi,  nalles  bidiu  tha^  siu  fon  Moyse  si,  oh  fon  fa- 
toron.  0.  3,  26,  9  ni  sprächun  sie,  tha^  sie  giloubttn.  In  allen  diesen 
Sätzen  wird  eine  mögliche  Begründung  abgewiesen.  Wo  einer 
Tatsache  die  Bedeutung  eines  Grundes  abgesprochen  wird,  hat  der 
Indikativ  sein  Recht;  z.  B.  Jh.  6,26  sökeip  mik,  ni  patei  seJvup  taik- 
nins,  ak  patei  matidedup  pize  hlaibe.  Ihr  suchet  mich  nicht  darum/ 
dass  ihr  Zeichen  gesehen  habt,  sondern  dass  ihr  von  dem  Brot  ge- 
gessen habt 

7.  Der  Irreah's  kommt  in  diesen  adverbialen  Nebensätzen 
im  Mhd.  schon  vor,  im  13.  Jh.  aber  noch  selten  (Bock  S.  60); 
z.  B.  Kudr.  590,  2  si  ist  uns  s6  nähen  bt  mit  hüse  niht  gese^,^en,  da^,. 
wir  si  möhten  werben.  Kl.  1891  Tnin  sin  der  krefte  niht  enhät,  da,^. 
ichz  iu  künde  (al.  künne)  wol  gesagen.  (An  beiden  Stellen  Hülfs- 
verba.)  Jetzt  brauchen  wir  den  Irrealis  am  liebsten,  daneben 
auch  den  Indikativ.  Diesen  wohl  am  wenigsten  iu  den  Kausal- 
sätzen mit  nicht  dass:,  doch  ist  er  nicht  gerade  ausgeschlossen. 
Luther  übersetzt  Jh.  7, 22  Aloses  hat  euch  darum  gegeben 
die  Beschneidung,  nicht  dass  sie  von  Mose  kommt  etc. 

141.  1.  (B.  Der  untergeordnete  Satz  ist  negativ  2).  Für 
diese  Sätze  besassen  das  As.  und  Ahd.  eine  eigentümliche 
Form,  die  aber  bald  durch  andere  Formen  verdrängt  wurde. 
In    den   ältesten   hd.  Denkmälern   werden   sie  durch  m,    niba. 


1)  PBb.  29,  246  f.     Mourek  §  170. 

2)  Delbr.  PBb.  29,  266  f.  Erdm.  §  193.  Dittmar,  Über  die  Ne- 
gation ne  in  abhängigen  Sätzen.  ZfdPh.  Ergänzungsband  (1874) 
8.  2.55—297.     Anderes  zu  §  140. 


141.]  Der  Optativ  nach  negativem  Hauptsatz.  279 

nihu,  noba,  nuh  (auch  suntar)  eingeleitet,  also  durch  Wörter, 
die  soDst  in  negativen  Bedingungssätzen  gebraucht  werden; 
vgl.  g.  wi,  nih  (Mourek  §  234),  nihai,  niba.  Aber  schon  bei 
Notker  sind  dafür  konjunktionslose  Sätze  eingetreten,  die  zu- 
nächst mit  der  gewöhnlichen  Negation  ne^  bald  auch  ohne 
diese  gebildet  werden.  Diese  Form  lebt  in  nhd.  Sätzen  wie: 
er  komme  denn,  es  sei  denn,  dass  er  7comm,e  fort;  doch 
können  wir  sie  lange  nicht  überall  gebrauchen,  wo  sie  in  der 
älteren  Sprache  statt  hatte.  Im  allgemeinen  erhalten  jetzt  die 
negativen  Sätze,  die  einem  negativen  Hauptsatz  untergeordnet 
sind,  dieselbe  Form  wie  die,  welche  von  einem  positiven  Satz 
abhangen;  bald  erscheinen  sie  als  Relativsätze,  bald  als  Sub- 
stantivsätze mit  dass,  bald  als  adverbiale  Nebensätze  mit  so 
dass,  ohne  dass',  sehr  oft  wird  auch  der  Infinitiv  mit  zu  und 
ohne  zu  gebraucht,  oder  das  negative  Satzgefüge  durch  ein 
positives  ersetzt.  Der  Modus  ist  fast  immer  der  Irrealis  oder 
der  Indikativ. 

Anm.  Ursprünglich  waren  diese  Sätze  mit  m,  niba  etc.  wohl 
Fragesätze  und  der  in  ihnen  g'ebrauchte  Modus  der  deliberative 
Optativ. 

2.  (a)  Sätze,  die  sich  an  ein  negiertes  Nomen  im  Haupt- 
satz anschliessen,  also  durch  Relativsätze  wiedergegeben  werden 
können.  Nach  einem  Präsens:  Tat.  44,  17  niowiht  nist  hühactes, 
noha  i^  inthekit  werde,  nihil  enim  opertum,  quod  non  revelabitur. 
(Im  Gotischen  statt  dessen  ein  gewöhnlicher  Relativsatz,  wie  wir 
ihn  brauchen:  Mt.  10,26  ni  waiht  auk  ist  gahulip,  patei  ni  andhul- 
jaidau.)  Tat.  67,12  welih  iuwer  ist,  ther  wolle  turra  zimbrön,  nibi 
her  er  sizzenti  zelle  thiu  gifuoru  (im  Lateinischen  abweichend  ein 
direkter  Fragesatz:  quis  eim  ex  vobis  voLens  turrem,  aedificare  non 
prius  sedens  computat  sumptus'i  Ebenso  im  Griechischen  und  dem- 
gemäss  im  Gotischen  Lc.  14,  28  izwara  h>as  raihtis  wiljands  kelikn 
timbrjan,  niu  fruraist  gasitands  rahneip).  0.  5,2,  11  nist  flaut  hiar 
in  riche^  nuh  er  hiar  fora  intwiche.  5,  17,  35  thoh  nist  nihein  sterro, 
ni  er  ubarfuari  ferro,  alle  Sterne  hat  er  weit  hinter  sich  gelassen. 
Walther  42,11  ohne  Negation:  nieman  kan  hie  fröude  finden,  si 
zerge.  —  Nach  einem  Präteritum:  Nib.  1264,4  da^  man  der  vre- 
meden  harte  wenic  fant,  sin  trüegen  ir  gesteine.  Parz.  60, 6  sin 
oiige  ninder  hüs  dö  sach,  schilde  wcern  sin  ander  dach. 

3.  (b)  Nebensätze,  die  einen  notwendig  begleitenden  Um- 
stand ausdrücken;   wir  pflegen  sie  durch  ohne  dass,   ohne  zu 


280  Gebrauch  der  Modi.  [§  141. 

anzuknüpfen.  Nach  einem  Präsens:  Tat.  182,2  min  fater,  oba 
ni  mag  these  kelih  fu7nfaran^  nihih  in  trinke  (nisi  ut  bibam  illum, 
ich  trinke  ihn  denn  [Luther]),  wese  thin  willo.  Wigal.  101,  27  niemer 
Wirt  dehein  tac,  man  sehe  für  da^  hüs  gän  ein  Her.  —  Nach  einem 
Präteritum:  Walther  100,  4:  in  gesprach  nie  wol  von  guoten  wtben, 
was  mir  leit,  ich  wurde  frö.  Frid.  4,  17  selten  m,ir  ie  liep  geschach, 
mir  geschcehen  drt^ec  ungemach.  Parz.  25,  28  offenlich  noch  tougen 
gesach  si  niemer  m^r  kein  man,  sine  müesen  jämers  wunder  hän.  — 
Manche  Sätze  lassen  sich  sowohl  als  Umstandssätze  wie  als  Relativ- 
sätze auffassen;  z.  B.  N.  Ps.  68, 10  (II,  266,  4)  wanda  mih  nieman  ne 
seiltet,  er  ne  scelte  dih  =  er  schelte  denn  auch  dich,  ohne  auch  dich 
zu  schelten,  der  nicht  auch  dich  schölte.  Aneg.  26,  23  in  enmöhte 
nieman  gesehen,  im  enmüese  da  von  leit  geschehen. 

4.  (c)  Nebensätze  der  Folge,  der  Art  und  Weise,  des 
Grades  (nhd.  so  dass  nicht,  ohne  dass).  Frid.  45,  11  nie- 
m,an  eine  wunde  mac  verheilen,  dane  schtne  der  slac.  Kehr.  10143 
der  tiuvel  negewan  den  gewalt,  swä  er  mit  gote  vaht,  e^  innceme  ie 
böse  ende.  Iw.  292  er  lie^  mir  niht  die  muo^e  .  .  .  erne  hete  mir  e 
genomen  den  zoum.  —  Sehr  oft  weist  s6  auf  den  Nebensatz,  Nach 
Präsens:  Alex.  4347  der  mac  niemer  so  gegähen,  erne  gwinnis 
grö^e  not.  Litan.  287  da^  wir  so  niemer  mü^in  gevare,  ivir  ne  ge- 
nie^in  dtner  geburte.  Nib.  1022,  2  nieman  lebt  so  starker,  ern  m^üe^e 
ligen  tot,  selbst  der  stärkste  muss  den  Tod  erleiden.  Wig.  109,  40 
e^n  ist  dehein  so  grö^iu  not,  ichn  besti  si  gerne.  —  Nach  Präteritum: 
0.  1,  22,  40  ni  was  er  io  so  märi,  ni  thiz  bifora  wäri.  Walther  95,  26 
in  vant  so  stcete  fröude  nie,  si  wolle  mich  e  ich  si  län. 

5.  (d)  Ergänzende  Substantivsätze;  a)  nach  den  Verben 
geschehen,  unterbleiben,  ermangeln.  Nach  Präsens:  0.5,23, 
139  ni  ivirthit  ouh  innan  thes  .  .  ni  in  jungistemo  thinge  thoh  elti 
nan  githuinge.  Wigal,  6526  da^  '€^  mir  niemer  mer  geschiht  .  . 
ichn  slahe  iedoch  den  ersten  .^ilac.  0.  Hartm.  39  ni  bristit,  ni  thu 
hörtts,  unfehlbar  hast  du  gehört.  2,  14,  38  nist  lang  zi  themo  thijige, 
nub  avur  nan  thurst  githuinge,  es  wird  nicht  lange  dauern,  bis. 
Rol.  66, 6  so  ne  ist  des  nehein  rät,  wir  enhelfen  ime  däzuo.  —  Nach 
Präteritum:  0.4,32,4  ni  moht  ej  sin  in  arider,  ni  sia  ruarti  tha^ 
s^r.  Kl.  1948  do  enmöhte^  anders  niht  wesen,  sich  enrceche  dort 
her  Dietinch.  Bari.  310,  22  ouch  gebrast  in  des  niht,  si  geeben  also 
reinen  smac.  Iw.  2829  söne  wart  ich  ni  zewdre  des  über  ze  halbeme 
järe,  ichn  müese  koufen  da^  körn.  W.  Gast  8480  under  wegen  ist 
niht  beliben,  ich  enhabe  ouch  da^  geschriben.  —  ß)  Nach  tun,  be- 
wirken, unterlassen.  Nach  Präsens:  0.5,4,61  ni  due  ouh  Petrus 
nü  tha^  min,  ni  er  sih  fuage  thara  zi  in,  auch  Petrus  füge  sich  zu 
den  andern.     Kl.  916  nune  wei,^  ich  anders  wa^  ich  tuo,  ich  enbitte 


§  141.]  Der  Optativ  nach  neg'ativem  Hauptsatz.  281 

e^  got  verenden.  0.  5,  20, 49  ni  mugun  sie^  hihringan^  ni  i^  würde 
thär  infangan  etc.,  notwendig-  wird  dort  empfangen.  3,7,59  7ii 
ruachent  sie  bi  tha^,  ni  man  sie  .  .  zi  korhon  ginenne,  sie  lassen  es 
sich  gerne  gefallen,  dass  man  sie  als  Körbe  bezeichne.  3,  16,  35  ir 
ni  mtdet,  nir  iu  kind  hesntdet.  1, 1,  77  Hut  sih  in  nintfuai'it,  7ii 
sie  .  .  in  thionön.  —  Nach  Präteritum:  0.2,7,29  ni  moht  ih  niih 
enthahen  sär,  nih  hera  gitlti  zi  thir.  Nib.  1328,  1  sine  wolde  niht 
erwinde7i,  sine  ww^he  sint,  da^  getoufet  wurde  da^  kint.  Greg*.  1107 
der  arme  vischcere  niht  enlie^,  ern  tcete  als  im  sin  hürre  hie,^.  1169 
45?i  lie  sich  niht  betragen,  e^n  wolde  dingeliches  vrägen,  diu  guot 
ze  ivi^;^ene  sint. 

6.  (e)  Oft  auch  nach  Verben,  von  denen,  wenn  sie 
affirmativ  stehen,  ein  indirekter  Aussagesatz  abhängen  kann. 
Nach  einem  Präsens:  0.3,22,53  ouh  man  nihein  ni  lougnit,  ni^ 
allo  ivoroltfristi  st  io  filu  festi  (sc.  Gottes  Wort).  3,  20, 149  nintheijit 
mir  i5  inuat  min  (mein  Herz  stellt  nicht  in  Abrede),  ni  ther  von 
gote  sculti  stn.  2, 12, 37  ni  wuntorö  thü  thih  friunt  min,  nub  i^ 
wola  Tnegi  sin.  3,  23,  37  drof  ni  zwivolöt  ir  thes,  ni  er  blintilingon 
toerne  (dass  er  sich  blind  abmühe).  Greg.  296  man  enmac  im.  anders 
niht  enjehen,  eryie  phlcßge  ir  also  wol  (habe  sie  so  gepflegt),  als  ein 
get7'iuwer  b7'uoder  sol.  434  des  ist  unlougen,  mime  g§,  trurens 
not.  —  Nach  Präteritum:  Walther  99,15  von  der  mir  min  herze 
nie  gelouc,  e^n  sagete  mir  ir  güete.  Trist.  15829  da^  nieman  anders 
niht  enjach,  e^n  wcere  ici^er  danne  sne.  Pass.  K.  655,  87  da^  nieman 
anders  sprach  davon,  ej  enwcere  Simon. 

7.  Allmählich  vrird,  w^ie  bemerkt,  die  eigentümliche  Form 
dieser  untergeordneten  negativen  3ätze  durch  die  der  affirma- 
tiven verdrängt,  und  damit  treten  denn  auch  die  für  diese 
geltenden  Bestimmungen  über  den  Modus  in  Kraft.  Der 
Irrealis,  den  v^ir  jetzt  in  allen  diesen  Sätzen,  wofern  sie  negative 
Form  behaupten,  neben  dem  Indikativ  zu  brauchen  pflegen, 
findet  sich  vereinzelt  vielleicht  schon  im  Ahd.;  z.  B.  0.  i,  1,  116 
tha^  sie  ni  wesSn  eino  thes  selben  ädeilo,  ni  man  in  iro  gizungi 
kristes  lob  sungi.  Ps.  128,  23  drof  ih  thes  ni  lougino,  .  .  nupe  ih 
föne  gihurti  zi  erdün  avur  wu7^ti  (vgl.  jedoch  hierzu  die  Anm.  in 
MSD  2,  87  und  Behaghel,  Zeitfolge  S.  35  f.).  Nach  einem  nicht  auf 
die  Gegenwart  bezüglichen  Präsens  (§  96)  Parz.  393,  24  männiglich 
nu  niht  verhirt,  sine  füern  als  da  gelobet  was.  397, 23  Scherules, 
sin  stolzer  wirt,  mit  al  den  sinen  niht  verbirt,  ern  rite  ü^  mit  dmi 
degen  balt  (vgl.  Behaghel  Zeitfolge  S.  29  f.). 

8.  Ebenso  finden  sich  im  Mhd.  statt  der  alten  Konstruktion 
schon  Relativsätze  und  Sätze  mit  dass:    Servat.    2942    dö   was 


282  Gebrauch  der  Modi.  [§  142. 

nieman,  der  in  niht  anriefe.  Ludw.  Krf.  3205  luer  ist  hie,  der  niht 
habe  verlo7'n  werden  friunt.  Flore  5116  vil  lützel  ieman  vindet  keinen 
man  s6  stcete,  der  niht  missetcete  umb  also  grö^e  miete.  Albr.  von 
Halb.  9, 351  dem  was  dehein  s6  träge,  da^  er^  niht  wolde  wäge. 
Aber  ohne  dass  kommt  im  Mhd.  noch  nicht  vor,  auch  nicht 
der  jetzt  so  häufige  Infinitiv  mit  zu,  ohne  zu,  nur  substanti- 
vierter Infinitiv,  z.  B.  Wig.  6765  sin  riten  er  darin  vermeit, 

9.  x4uch  das  kommt  im  Mhd.  bereits  vor,  dass  der  nega- 
tive Nebensatz  ganz  unterdrückt  wird  und  statt  seiner  in  ganz 
selbständiger  Form  die  positive  Aussage  eintritt.  Wenn  der 
abhängige  Satz  ein  irrealer  Bedingungssatz  ist,  gewinnt  er 
diese  selbständige  Form  schon  durch  die  Unterdrückung  der 
Negation;  z.  B.  Wigal.  112,  13  ej  geschach  nie  man  so  leide, 
und  solde  er  undr  in  sin  gewesen,  er  wcer  vor  leide  gar 
geneseyi.  Offenbar  wird  die  Auflösung  des  Satzgefüges,  wenn 
für  den  Optativ  der  Indikativ  eintritt;  z.  B.  Diemer  12,  26  neTiem 
p'erch  was  so  höh,  deu  unde  dar  ube^^e  z6h  [st.  enzüge].  Wigam. 
4504  darnach  was  der  sparren  kein,  e^  lac  darin  ein  edel  stein. 
Osw.  2844  ziüär  e^  mohte  anders  niht  gewe.'^en,  man  lie^  ir  keinen 
niht  genesen.  Suchenw.  40,  96  da;^  mac  er  niht  gesehen  an,  e^  muo^ 
im  durich  stn  herze  gän.  So  auch  jetzt,  z.  B.  bei  Schiller:  Kein 
Dach  i.s-t  so  niedrig,  keine  Hütte  so  klein  :  er  führt  einen  Himmel 
voll  Götter  hinein. 

142.  (Anhang.  Über  die  Negation  in  Sätzen,  die  von  Verben 
mit  negativer  Bedeutung  wie  leugnen,  in  Abrede  stellen,  ver- 
meiden, sich  enthalten,  unterlassen,  verzichten,  vergessen, 
einem  etivas  verleiden  u.  ä.  abhängen)^).  1.  Wenn  diese 
Verba  affirmativ  gebraucht  sind,  hat  der  abhängige  Satz 
an  und  für  sich  negative  Bedeutung.  Wer  es  meidet,  unter- 
lässt,  vergisst  etwas  zu  tun,  tut  es  nicht;  wer  leugnet  etwa» 
getan  zu  haben,  erklärt,  dass  er  es  nicht  getan  habe.  Dem- 
entsprechend werden  in  der  älteren  Sprache  diese  Sätze  regel- 
mässig mit  der  Negation  gebildet,  nicht  nur  wenn  sie  noch  in 
der  Form  selbständiger  Sätze  auftreten,  sondern  auch  wenn 
sie  durch  die  Konjunktion  da^  als  abhängig  bezeichnet  werden; 
also  er  midit,  (tha^)  er  ni  quimit.     Beispiele  für  solche  öJaj-Sätze 


1)  Erdm.  §  193.     Dittmar  a.  0.  S.  299—302.     (Beide  haben  die 
Verhältnisse  nicht  richtig  erkannt.) 


§  142.]  (Neg'ation  nach  Verben  mit  negativem  Sinn.)  283 

sind  im  Mhd.  niciit  selten:  Kudr.  6,2  darumhe  lie^  er  da^,  da^  er 
niht  wolte  minnen.  769,  2  ich  wü  des  haben  rät  (darauf  verzichten), 
da^  der  küene  Hartmuot  M  mir  niht  enstät.  796,  4  mir  und  mtnen 
vriunden  solte  ouch  7iü  versmähen ^  da^  wir  hie  nieman  viengen. 
1492,  3  er  künde  in  da^  wol  leide?!,  da^  in  strite  nieman  in  von 
sinen  vtnden  torste  scheiden.  Iw.  1702  wie  küme  er  da^  verlie,  da^ 
er  niht  wider  si  sprach.  4688  vil  lützel  doch  des  gebrast,  da^  im 
niht  same  geschah.  Schwabensp.  34, 18  unde  lougent  der  her re  dem 
man,  da^  er  ime  niht  zins  gegebe?!  habe  etc.  Jetzt  erscheint  die 
Negation  überflüssig  oder  falsch,  weil  wir  den  abhängigen 
Satz  weniger  selbständig,  nur  noch  als  Satzglied  auffassen,  das 
durch  das  regierende  Verbum  negiert  wird. 

2.  Wenn  die  Verba  negativ  gebraucht  sind,  hat  der 
abhängige  Satz  umgekehrt  in  der  Regel  affirmative  Bedeutung, 
und  so  kommt  ihm,  wofern  er  ebenso  wie  der  von  affirmativen 
Verben  abhängende  mit  dass  gebildet  wird,  keine  Negation 
zu.  Erec  2716  da^  er  7iiht  vermeit,  da^  er  schöne  in  reit. 
Wilh.  345,  10  die  da^  niht  versmähent,  da^  si  ir  krön  von 
iu  enpfähent.  Kudr.  585,  4  da^  geliere  er  niemer,  da^  man 
in  üf  Hetelen  schaden  vunde.  Nur  wenn  schon  dem  unab- 
hängigen Satz  die  Negation  zukäme,  erscheint  sie  in  dem  ab- 
hängigen;  z.  B.  Erec  1080  nune  icei^  ich,  wes  ir  bitent,  da^ 
ir  niht  ritent.  Iw.  6040  si  enhät  da^  niht  verlorn  durch 
höhvart  noch  durch  trächeit,  da^  si  niht  selbe  nach  iu  reit. 
[Diese  Sätze  haben  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  die  alten  mit 
ni,  nub  gebildeten  und  die  konjunktionslosen  mit  ne.  Der  Vers  im 
Iwein  besagt,  dass  sie  nicht  ritt,  der  Satz:  si  verlos  niht  durch 
höhvart,  si  enrite  würde  bedeuten,  dass  sie  ritt.  In  dem  Satze  Mar. 
hf.  1010  wie  solde  si  da^  dö  vermiden,  dat  sie  nit  rüwec  wa&re,  Hesse 
.sich  der  abhängige  Satz  allerdings  auch  durch  sie  enwcere  rüwec 
wiedergeben.  Aber  auch  hier  ist  die  Negation  in  dem  unabhängigen 
Satz  begründet:  Wie  hätte  sie  nicht  traurig  sein  sollen?!  In  Sätzen 
dieser  Art  hat  das  Nhd.  der  Negation  insofern  weiteren  Raum 
gCAvährt,  als  es  sie  auch  in  Sätzen,  die  an  und  für  sich  posi- 
tiv sind,  getattet:  Es  konnte  nicht  fehlen,  nicht  unterbleiben j 
dass  sie  sich  {nicht)  zuweilen  trafen.  Du  wirst  nicht  leugnen, 
dass  es  so  [nicht)  besser  ist,  so  (nicht)  besser  gewesen  wäre 
(unabhängig :  so  ist  es  besser,  wäre  es  besser  gewesen).  Fast 
unentbehrlich   ist   uns   die  Negation,    wenn   für   den  Indikativ 


584  Gebrauch  der  Modi.  (§  143. 

•des  unabhängigen  Satzes  im  abhängigen  der  Irrealis  gebraucht 
ist :  Es  'konnte  nicht  ausbleiben,  dass  sie  sich  nicht  zuweilen 
getroffen  hätten  (unabhängig:  sie  haben  sich  getroffen).  — 
Anderseits  ist  die  Negation  auch  wieder  eingeschränkt.  Nach 
es  fehlte  nicht  viel  und  dem  gleichbedeutenden  es  fehlte  nur 
wenig  kann  sie  fehlen,  obwohl  der  abhängige  Satz  hier  stets 
negativen  Sinn  hat:  Es  fehlte  nicht  viel  oder  nur  wenig ^  dass 
-es  ihm  {nicht)  ebenso  erging,  {nicht)  ebenso  ergangen  wäre 
(unabhängig:  es  ist  ihm  nicht  ebenso  ergangen). 

143.  (Exzipierende  Sätze  ^).)  1.  Exzipierende  Sätze  sind 
negative  Bedingungssätze,  die  nachdrücklich  auf  den  einzigen 
Umstand  hinweisen,  durch  den  die  Aussage  des  Hauptsatzes 
aufgehoben  werden  kann.  Zunächst  erscheinen  solche  Sätze 
^Is  eine  besondere  Art  der  in  §  141  besprochenen  Optativsätze. 
Wie  diese  schliessen  sie  sich  an  einen  negativen  Hauptsatz,  und 
zwar  an  einen  Hauptsatz  im  Präsens,  und  werden  durch  die 
Konjunktion  niba  eingeleitet.  Aber  früher  als  jene  werden  sie 
xiuch  konjunktionslos  gebildet  und  schliessen  sich  bald  nicht  nur 
an  negative,  sondern  auch  an  positive  Sätze  an,  zunächst  an 
solche  mit  al,  dann  auch  an  andere  im  Präsens  und  Präteritum. 

2.  Im  Gotischen  werden  sie  durch  niba  eingeleitet  und 
stehen  im  Indikativ,  z.  B.  Jh.  6,44  ni  manna  mag  qiman  at  mis, 
niba  atta  atpiimip  ina  (eav  \x^  ^XKÜöri).  Jh.  15,  4  swe  sa  weinatains 
ni  mag  ak7'an  hairan,  niba  ist  ana  weinatriwa,  swah  nih  jus,  niba 
in  mis  sijup  (edv  jur|  |ue(vr|  —  edv  luiq  luevr^Te).  Ebenso  nach  einer  Frage 
mit  negativem  Sinu  :  Jh.  7,  51  ibai  witöp  unsar  stöjip  mannan,  nibai 
faurpis  hauseip  fram  imma  (edv  jurj  dKOÜör)),  ohne  dass  man  ihn 
verhört  hat.  Im  Ahd.  finden  wir  dem  got.  niba  entsprechend, 
aber  mit  dem  Optativ:  nihi,  noba;  z.B.  Tat.  82,  9  nioman  mag 
queman  zi  mir,  nibi  thie  fater  ziohe  inan  (nisi  traxerit).  167,  3  s6 
tha^  winloub  ni  mac  beran  luahsmon,  nibi^  wone  in  theru  winrebun, 
s6  ir,  nibi  ir  in  mir  zvonet  (nisi  manserit  —  manseritis).  129, 10  eno 
unsar  ewa  tuomit  siu  man,  nibi  gihöre  fon  im,o  (nisi  audierit).  Und 
Otfried  bildet  die  Sätze  konjunktionslos  mit  der  gewöhnlichen, 


1)  Delbr.  29,  264.  273.  Erdm.  §  188.  Wunderlich  1,  294  f.  Blatz 
2,  761  f.  906.  1153.  1176.  Dittmar  ZfdPh.  Ergänzungsband  S.  186—234 
Schulze,  Die  negativ-exzipierenden  Sätze.     ZfdA.  39,  327  ff. 


§  143]  Exzipierende  Sätze.  285' 

dem  Verbum  proklitisch  verbundenen  Negation  ni;  z.  B.  4, 15,21 
nist  man  nihein,  ther  queme  zi  therao  fater,  ih  inan  ni  leite.  2,  12,  31 
nist  ther  in  himürichi  queme,  ther  geist  joh  loa^^ar  nan  nirbere. 
Ebenso  neben  einem  allgemein  bejahenden  Hauptsatz: 
0  1, 1,  79  joh  mennisgon  alle,  ther  se  i^  ni  untarfalle^  al  eigun  si 
iro  fordhta.  Ludw.  26  so  duan  ih,  dot  ni  rette  mir  i^,  al  tha^  thu 
gihiudist. 

3.  Im  Mhd.  ist  nihi,  noba  ganz  verschwunden;  die  Form, 
die  Otfried  braucht,  gilt  allgemein  und  ist  sehr  häufig.  Meistens 
schliessen  sich  die  Sätze  noch  an  ein  Präsens  an ;  z.  B.  Walther 
8, 27  diu  dri  enhabent  geleites  niht,  diu  zwei  emverden  ^  gesunt. 
6fj,  4  doch  fröwet  sich  liitzel  ieman,  er  enwi^^e  wes'^  oder  neben 
positivem  Hauptsatz:  Walther  45,35  sicherltche  si  verderbent, 
sine  lüellens  sich  erschamen.  32,9  dii  enwendest  m.ichs  alleine,  s6 
verkere  ich  mine  zunge7i.  Aber  auch  mit  einer  allgemeinen  in 
die  Vergangenheit  fallenden  Aussage  können  sie  verbunden 
werden ;  z  B.  Iw.  663  swa^  lebte  in  dem  walde,  ej  entrünne  danne 
balde,  da^  was  zehant  tot,  alles  lebende  musste  sterben,  es  wäre 
denn  schnell  entronnen.  Parz.  118,  14  ern  künde  niht  gesorgen,  e^n 
wcere  ob  im  der  vogelsanc,  nur  der  Vogelsang  konnte  ihm  Sorgen 
bereiten.  Weiter  erfahren  dann  im  Mhd.  diese  Sätze  einmal 
dadurch  eine  Änderung,  dass  die  Negation  ne  anfängt  zu  ver- 
schwinden, so  dass  der  positive  Nebensatz  in  demselben  Sinne 
gebraucht  wird  wie  der  negative;  z.  B.  Walther  58,29  ich 
singe  niht,  ej  zveUe  tagen.  Sodann  dadurch,  dass  der  Irrealis 
anfängt  mit  dem  Potentialis  zu  konkurrieren. 

4.  Die  Negation  kann  im  Nhd.  gar  nicht  mehr  gebraucht 
werden;  aber  in  dem  Adverbium  danne  hat  die  Sprache  ein 
neues  Mittel  gewonnen,  um  diesen  Sätzen  eine  eigentümliche 
Form  zu  geben:  Ich  singe  nicht,  es  tage  denn.  Anfangs 
wurde  diese  Partikel  neben  der  Negation  gebraucht,  im  Ahd. 
noch  sehr  selten,  häufiger  in  der  Übergangszeit  zum  Mhd. ; 
endlich  gewöhnte  man  sich  in  ihr  das  charakteristische  Merk- 
mal dieser  Sätze  zu  sehen,  neben  dem  die  Negation  überflüssige 
schien.  In  jüngeren  Handschriften  älterer  Werke  wird  sie  oft 
für  das  unverständlich  gewordene  ne  eingeschwärzt  (Dittmar 
S.  205);  jetzt  gilt  sie  allgemein. 

5.  Der  Irrealis  fand  Eingang,  indem  man  auch  Sätze, 
die  in  bewusstem  Gegensatz  zur  Wirklichkeit  stehen,  als  Ex- 


286  Gebrauch  der  Modi.  [§  143. 

zeptivsätze  gebrauchte;  z.  B.  Parz.  410,16  ich  enwolte  iucli  daiine 
triegen,  sone  mag  i'n  mht  beschcenen.  607,  18,  wo  Gramoflanz  sich  dem 
einen  Gäwän  geg-enüber  sieht  und  ihn  anredet:  ir  sit  hie  strttes 
ledec  gar,  ezn  wcer  dan  groe^er  iiver  schar,  zwene  oder  mere.     Aber 

der  Modus  wurde  dann  auch  in  anderen  Sätzen  zugelassen ; 
z.  B.  Iw.  1748  iinac  ein  man  danne  hän  guoten  tac.  der  üf  den  Itp 
gevangen  lit,  ern  wcere  danne  des  tödes  frö"?  Nie.  v.  B.  128,  17  das 
deheinen  menschen  zuo  glouhende  ist,  er  hefunde  sin  dan,  was  kein 
Mensch  glauben  kann,  er  erführe  es  denn.  Jetzt  ist  der  Irrealis, 
oft  umschrieben  mit  müsste,  überall  gestattet;  doch  ist  auch 
der  Potentialis  noch  durchaus  üblich ;  nur  wo  die  Optativformen 
des  Präsens  mit  dem  Indikativ  zusammenfallen,  meidet  man  ihn. 

Anm.  Zuweilen  g-estattet  es  der  Zusammenhang,  den  unter- 
geordneten Satz  als  Forderungssatz  aufzufassen;  z.  B.  Ludwigslied 
26  herro,  so  duan  ih,  döt  ni  rette  mir  i^,  al  tha^  thü  gibiudist. 
Nib.  906,  4  Tnan  pflege  (die  Negation  ist  nur  in  B  erhalten :  enpflcege) 
ba^  der  jegere,  ich  wil  niht  jeit geselle  sin.  Aber  mit  Unrecht  folg*ert 
Wunderlich  daraus,  dass  der  Modus  überhaupt  aus  dem  Jussiv  her- 
zuleiten sei.  Er  ist  vielmehr  ebenso  zu  erklären,  wie  in  den  andern 
Sätzen  mit  ni,  nub;  vgl.  auch  Behaghel,  Zeitfolge  S.  174.  —  danne 
kann  ursprünglich  nur  als  Zeitpartikel  in  das  Satzgefüge  getreten 
sein.  Es  weist  auf  den  positiven  Gedanken,  der  im  Hintergrund 
der  Anschauung  steht.  Die  Nürnberger  hängen  keinen,  sie  hätten 
ihn  denn.     Sie  hangen  ihn  erst  dann,  wenn  sie  ihn  haben. 

6.  Wie  jedes  andere  Verbuni  konnte  auch  das  Verb, 
subst.  in  exzipierenden  Sätzen  gebraucht  werden;  z.  B.  0. 
4,  7,  46  nist  ther  thia  [jungistun  zit]  gizeino,  ni  st  min  fater 
eino.  In  diesem  Satze  kann  min  fater  als  Subjekt  zu  si  an- 
gesehen werden ;  ob  es  aber  so,  und  nicht  vielmehr  als  prädi- 
kative Bestimmung  zu  gizeino  empfunden  wurde,  ist  zu  be- 
zweifeln. Denn  ni  si  erscheint  schon  im  Ahd.  erstarrt  zu 
einer  dem  lat.  nisi  entsprechenden  Konjunktion  und  demgemäss 
kann  diese  allgemein  gültige,  auch  im  Tatian  gebrauchte 
Verbindung  auf  einen  Plural  und  einen  Gas.  obl.  bezogen 
werden  und  ohne  Rücksicht  auf  die  Consecutio  temp.  auf  ein 
Präteritum  folgen;  z.  ß.  0.  3,  24,  94  thu  alleswio  ni  däti,  ni 
si  al  sös  ih  thih  häti.  Anderseits  aber  behauptet  die  Ver- 
bindung auch  Satzwert,  so  dass  sich  ihr  später  ej  als  Sub- 
jekt zugesellt,  z.  B.  Walther  26, 26  min  vorderunge  ist  üf 
in    Meiner    als    ein   hone,    e^    ensi    so    vil,    ob  er  der   alten 


§  144.]     Opt.  in  Nebensätzen,  die  gewöhnlich  im  Ind.  stehen.       287 

Sprüche  ivcere  (!)  frö,  und  darauf  beruht  denn  unser  nbd.  es 
sei  denn  dass,  womit  wir,  namentlich  in  der  Verkehrssprache, 
die  Exzeptivsätze  einzuleiten  pflegen. 

Später  als  ni  si  taucht  ni  loäri  auf  (Graff  1,  1054  f.), 
das  ebenso  erstarrt  und  auf  ein  Präsens  folgen  kann;  z.  B. 
Williram  44,  13  mich  nieivehtes  nelustet,  newäre  sinero  ana- 
siune  (Behaghel;  Zeitfolge  S.  34  f.).  Aus  diesem  newäre  ent- 
steht schliesslich  nhd.  nur. 

Der  Potentiale  Optativ  in  Nebensätzen,  die  gewöhnlich 
im  Indikativ  stehen. 
144.  (Der  Hauptsatz  steht  im  Indikativ.)  1.  Die  Be- 
deutung schliesst  den  potentialen  Optativ  von  keinerlei  Neben- 
sätzen aus;  aber  während  er  in  den  vorher  besprochenen 
Arten  regelmässig  oder  oft  gebraucht  wird,  erscheint  er  in 
anderen  häufiger  nur  unter  besonders  günstigen  Bedingungen, 
namentlich  dann,  wenn  auch  im  übergeordneten  Satze  ein 
Optativ  oder  ein  Imperativ  steht.  Ich  führe  zunächst  Sätze 
an,  deren  Hauptsatz  im  Indikativ  steht  ^). 

2.  In  Relativsätzen  kann  der  potentiale  Optativ  gebraucht 
werden,  wenn  sie  sich  auf  die  Zukunft  oder  auf  etwas  nicht 
individuell  bestimmtes  beziehen;  z.  B.  Mc.  14,  44  pamma  kukjau, 
sa  ist.  Tat.  183,  2  so  wenan  so  ih  cusse,  ther  ist  i^  =  quemcumque 
osculatus  fuero,  ipse  est  (vgl.  0.  4, 16, 26).  Walther  60, 38  al  171171 
ungelücke  wil  ich  schaffen  jenen,  die  sich  ha^^es  unde  ntdes  wenen,  .  . 
mtn  Unsinnen  schaffe  ich  den,  die  mit  velsche  minnen.  28,  21  Er 
schale,  in  swelhem  leben  er  st,  der  dankes  triege  unde  stnen  herren 
lire,  da^  er  liege.  22,29  Er  töre,  er  dunket  mich  niht  wise,  und 
ouch  der  stn  ire  prtse,  ich  wcen  si  beide  tören  sint.  Besonders 
finden  sich  solche  Relativsätze  im  Optativ  neben  übergeord- 
neten Sätzen,  die  selbst  eine  bestimmte,  tatsächliche  Aussage 
nicht  enthalten :  z.  B.  nach  einem  Fragesatz  Lc.  7, 49  h^as  sa  ist, 
saei  frawaurhtins  afletai,  öc;  Kai  a|uapT(a<;  dqpirjaiv.  Die  Hauptaussage 
enthält  hier  der  Nebensatz  und  in  ihm  steht  der  Optativ  in  dem- 
selben deliberativen  Sinne,  in  dem  er  auch  in  einem  selbständig^en 
Pragesatz  gebraucht  sein  könnte  (§  116):  has  afletai,  wer  möchte 
wohl  vergeben.  Ebenso  0.  1, 17, 24  ist  iaman  Mar  in  lante,  es 
iawiht  thoh  firstante?  Tat.  231, 1  häbH  ir  hiar  wa^,  tha^  man  e,^,^an 

1)  Erdm.  §  158  f.  194.  Delbr.  29,  245.  258.  270.  288.  Mourek 
§  117  f.  163.  225. 


288  Gebrauch  der  Modi.  [§  144. 

megi.  Iw.  6102  nü  w'€r  ist  hie,  der  iuwer  g'er.  —  Nach  einem  Be- 
dingungssatz O.  1,  1, 119  ist  tJier  in  iro  laute,  i^  alles  wio  ninstante  .  . 
hiar  hör  er.  Nib.  1523, 2  ob  wir  deheinen  zagen  hän,  der  uns  welle 
entrinnen.  1204,  2  swenne  ich  die  friunt  gewinne,  die  uns  füeren. 
Audi  Parz.  115,  11  swd  min  eilen  st  gespart,  swelhiu  mich  minnet 
unibe  sanc,  so  dunket  mich  ir  witze  kranc.  —  Über  Relativsätze, 
die  sich  an  al  und  einen  Superlativ  anschliessen,  s.  §  183. 

Anm.  1.  Modus  der  indirekten  Rede  ist  der  Optativ  Kudr, 
288,  1  si  hete  .  .  da^^  wa^^er  hin  getragen  ze  Hagenen  bürge,  so  wir 
hceren  sagen,  da  er  h'erre  woere.  Parz.  480, 17  ich  verswuor  fleisch, 
Win  unde  bröt  und  dar  nach  al  da^  trüege  bluot  (Erdm.  S.  177). 
Als  Modus  der  Forderung  (vgl.  §  127)  Eckart  619, 5  da^  muo^  be- 
schehen  von  einem  ivesen,  da^  selbe  wesen  st     Vgl.  Blatz  2,  902. 

3.  Unter  ähnlichen  Verhältnissen  erscheint  der  Optativ 
in  Substantivsätzen  nach  ^geschehen'  und  in  Folgesätzen.  Auf 
die  Zukunft  bezüglich:  0.5,20,41  sih  sceidit  muater  fona  kiyide, 
tha^  furdir  siu  i^  ni  finde.  Luther  1  Mos.  4, 14  so  wird  mirs  gehen, 
dass  mich  tot  schlage,  wer  inich  findet.  Nach  einem  Fragesatz: 
Rom.  9, 20  pu  has  is,  ei  andwaurdjais  guda,  öu  xig  et  6  avTairo- 
Kpivö|U€voc;  t(x)  eeuj,  wer  bist  du  denn,  dass  du  mit  Gott  rechten 
willst?  Jh.  14,22  hja  varp  (xi  fefovev,  Luther:  was  ist  es),  ei  unsis 
munais  gabairhtjan  puk  silban,  öxi  fiiaiv  lueWeiq  ejuqpaviZieiv  oeauTÖv. 
Lc.  1,  43  haprö  mis  patei,  ei  qemi  (Prät.,  i'va  eXGri)  aipei  fraujins 
meinis  at  mis.  Tat.  4,  3  wanan  mir,  tha^  qu'eme  mtnes  truhttnes 
muoter  zi  mir  (Präs.  ut  veniat).  —  Nach  einem  Bedingungssatz: 
1  Kor.  13,  2  jabai  habau  alla  galaubein,  swaswi  fairgunja  mip- 
satjau  (üjöTe  öpr]  ueBiöxdvai),  ip  friapwa  ni  habau,  ni  waihts  im. 
0.  2,  12,  60  ob  is  wirdit  icanne,  tha^  ih  beginne  bredigön.  Walther 
104,  34  da^  milter  man  gar  wärhaft  st,  geschiht  da^,  da  ist  wunder  bt. 

Anm  2.  In  Sätzen  der  angeführten  Art  ist  der  Optativ  be- 
rechtigt, aber  nicht  erforderlich  und  im  allgemeinen  nicht  üblich. 
Daher  schwankt  gelegentlich  auch  die  Überlieferung;  z.  B.  Nib. 
1222, 1  wä  sint  die  friunde  min,  die  durch  mlne  liebe  wellent  eilende 
sin  {eilende  wellen  sin  DJdh).  Notwendig  ist  natürlich  der  Indi- 
kativ, wenn  der  untergeordnete  Satz  auf  eine  Tatsache  hinweist, 
wie  Jh.  9,  2  has  frawaurhta,  sa-u  pau  fadrein  is,  ei  blinds  ga- 
baurans  warp  (\'va  TuqpXöc;  Y^wriOri)?  Walther  71,  27  wie  kumt,  da^ 
ich  s6  wol  verstän  ir  rede  und  si  der  mtner  niht?  Ebenso  115,35. 
120, 34.  Daher  ist  Lc.  5,  21  hßas  ist  sa,  saei  rödeip  naiteinins  der 
Indikativ  gesetzt,  dagegen  Lc.  7,  49  has  sa  ist,  saei  frawaurhtins 
fraletai  der  Optativ.  Auch  0.  5, 21, 5  ist  der  Wechsel  des  Modus 
nicht  unbegründet:  oba  ther  scal  sin  in  beche,  th'er  arm^n  bröt  ni 
breche,  wa^  th'€r  innan  ubar  tha^  ni  lia^  haben  stna^.  Dagegen 
unberechtigt,    dem   Reim   zu  Liebe,    hat  Walther  5, 27  den  Optativ 


§  144.]     Opt.  in  Nebensätzen,  die  gewöhnlich  im  Ind.  stehen.       289 

gesetzt  da^  ü^  dem  worte  erwahsPM  .s-f,  da^  ist  von  kindes  sinnen 
fri.  Auch  Morungen  MF.  140, 38  (trotz  dem  übergeordneten  Be- 
dingungssatz) swenne  ich  gedenke  an  ir  wtpUchen  tvangen,  diu  man 
ze  fröude   so  gerne  ane  si.     Vgl.  Erdm.  S.  116.     Wunderlich  1,339. 

4.  Auch  die  Bedingungssätze  pflegen,  wenn  sie  nicht 
Exzeptivsätze  sind  oder  durch  den  Irrealis  als  der  Wirklichkeit 
widersprechend  bezeichnet  werden,  neben  eineni  indikativischen 
Hauptsatz  im  Indikativ  zu  stehen,  obwohl  es  doch  in  ihrer 
Natur  liegt,  dass  sie  immer  nur  als  Vorstellung  ausgesprochen 
werden.  Der  potentiale  Optativ  begegnet  im  Gotischen  einige- 
mal neben  einem  fragenden  Hauptsatz;  z.B.  Lc.  6,33  jah 
jahai  piup  taujaid  .  .  Iva  izwis  laune  ist.  Vereinzelt  auch 
neben  einem  Aussagesatz,  z.  B.  Jh.  12,  47  jah  jahai  has  mei- 
naim  hausjai  waurdam  jah  galaubjai,  iJc  ni  stöja  ina.  So 
auch  im  Deutschen.  Parz.  55,  28  werde  unser  Mndelin  einem 
manne  gelich,  der  icirt  ellensrich.  Berth.  2,  133,  34  und 
helfe  da^  ouch  niht,  so  wil  niht  helfen.  Auffallender,  auf 
die  Vergangenheit  bezüglich,  aber  in  einem  Satze  der  nicht  eigent- 
lich hypothetisch  ist  (eher  konzessiv):  Wolfr.  Tit.  3  oh  ich  von  höher 
minne  ie  tröst  enphienge  und  oh  der  m^innen  süe^e  ie  scelden  kraft 
an  mir  begienge,  wart  mir  ie  gimo^  von  minneclichem  tcibe,  da^  ist 
nü  veru-ildet.  Im  Nhd.  ist  dieser  Gebrauch  des  potentialen 
Optativs  aufgegeben.  Die  Konjunktionen :  falls,  für  den  Fall 
dass  können  bezeichnen,  was  früher  durch  den  Modus  aus- 
gedrückt wurde.  (Der  Modus  in  Sätzen  wie :  Angenommen, 
es  sei  so;  gesetzt  deyi  Fall,  er  widerstrebe  ist  der  Optativ 
der  indirekten  Rede.) 

Anm.  3.  Zuweilen  lässt  sich  der  Optativ  in  einem  Bedingungs- 
satze auch  als  Modus  der  Forderung  auffassen,  wie  ja  auch  der 
Imperativ  zur  Bildung  hypothetischer  Satzgefüge  benutzt  wird. 
Jedoch  werden  solche  Forderungssätze  zwar  oft  in  konzessivem, 
aber  nicht  oft  in  hypothetischem  Sinne  gebraucht  und  behalten 
dann  gewöhnlich  den  Charakter  selbständiger  Hauptsätze;  z.  B. 
Gal.  6,  2  izwarös  misso  kauripös  bairaip,  jah  swa  usfulleip  witöp 
Xristaus  =  Einer  trage  des  andern  Last,  so  werdet  ihr  das  Gesetz 
Christi  erfüllen;  (im  Griechischen  der  Imperativ,  dX\r)\uuv  xa  ßdpr) 
ßaöT(i2eTe).  Ein  loseres  Satzgefüge  bezeichnet  dieser  Optativ  auch 
Berth.  1, 130,  8  wo  zwei  verschiedene  Formen  des  Bedingungssatzes 
mit  einander  verbunden  sind:  e^  si  ein  man,  der  orden  in  einem 
klöster  hahe,  unde  lU  ein  frouwe  h%  dem  unkiuscheltchen,  diu  ist  s6 
W.  Wilmanns,  Deutsche  Grammatik  III.  19 


290  Gebrauch  der  Modi,  [§  145. 

zehant  in  dem  hoehsfen  banne.  Als  voluntativen  Optativ  in  einem 
festeren  Satzgefüge  könnte  man  ansehen  Nib,  402, 3  behabe  (A, 
behabt  B)  er  die  meister schaß,  so  wird  ich  sin  wtp,  er  zeige  sich 
als  Meister,  so  werde  ich  sein  Weib. 

Vielleicht  gehören  hierher  auch  die  ahd.  Sätze  mit  in  thiu^ 
in  denen  Otfried  stets  den  Opt.  hat.  z.  B.  2,  16,  2  sälig  birut  ir  arme, 
in  thiu  tha$  muat  i^  wolle,  in  thiu  ir  thie  armuati  githultet  io  mit 
guatt;  ebenso  1,16,19.  2,12,35.  16,21.  3,7,  78.  —  Auf  der  Grenze 
zwischen  hypothetischen  und  Absichtssätzen  stehen  Optativsätze  mit 
das  wie  Walther  115,  9  wil  mir  ieman  sine  froide  borgen,  da^  i'm 
ein  ander  wider  gebe.  Berth.  1,  86, 33  da^  er  niht  enruochet,  wer 
davon  stürbe.,  da^  cht  im  ein  kleiner  geivin  werde.  Auch  mit  so 
da^  (vgl.  129, 2)  Walther  96, 9  sich  wcenet  maneger  wol  begen,  so 
da^  er  guoten  wiben  niht  enlebe. 

5.  Id  den  Kausalsätzen  Kudr.  215,  1  ich  wil  dir  gerne 
volgen,  nü  si  so  schwne  st.  407,  1  nü  so  gefüege  din  lieber 
herre  si,  ich  wil  gen  im  niemer  des  willen  werden  fri  ist  der 
Optativ  wohl  in  demselben  Sinne  gebraucht  wie  in  der  in- 
direkten Rede;  an  beiden  Stellen  beruht  der  kausale  Neben- 
satz auf  einer  Aussage  des  Angeredeten.  Ebenso  Nib.  1484,  1 
ßi  sprach  'sit  du  der  verte  niht  wellest  haben  rät,  swä  oben 
M  dem  wa^^er  ein  herherge  stäty  dar  inne  ist  ein  verge. 
Wenn  aber  bei  Notker  nach  wanda,  sid,  danne  in  kausalen 
Nebensätzen  oft  der  Optativ  erscheint,  so  ist  da  Einfluss  des 
Lateinischen  anzunehmen  (vgl.  §  66.  §  146,  2  und  OS.  1  §  155). 

145.  (Der  Hauptsatz  steht  im  Imperativ  oder  Optativ.) 
1.  Viel  weitere  Verbreitung  als  neben  indikativischem  Hauptsatz 
hat  der  Optativ  in  den  Sätzen,  die  einem  Imperativ  oder 
Optativ  untergeordnet  sind.  Zwar  Sätzen,  die  für  den  Reden- 
den eine  tatsächliche  Bedeutung  haben,  gebührt  auch  in  diesem 
Falle  der  Indikativ.  So  wenn  Walther  18,  23  dem  Herzog  Ludwig 
für  eine  ihm  erwiesene  Ehre  mit  dem  Wunsche  dankt:  der  mir  s6 
höher  ire?i  gan,  got  müe^e  im  ere  m.^ren\  oder  47,  23  in  der  Auf- 
forderung an  die  Minne :  unde  rihte  grö^  unbilde,  da^  ein  scelic  wtp 
mich  verderbet;  oder  49, 34,  wo  er  die  Verächter  des  Minnesangs 
verwünscht:  da^  si  niht  versinnent  sich,  wa^  liebe  .st,  des  haben  un- 
danc.  In  solchen  Sätzen  tritt  der  Optativ  nur  ausuahmsweise 
ein  (§  146).  Berechtigt  dagegen  und  sehr  häufig  ist  er  in 
Sätzen,  die  eine  tatsächliche,  bestimmt  umgrenzte  Bedeutung 
für  den  Redenden  nicht  haben. 


§  145.]     Optativ  neben  einem  Opt.  oder  Imp.  im  Hauptsatz.  291 

2.  Folgende  Beispiele  mögen  die  Mannigfaltigkeit  der 
vSätze,  die  auf  diese  Weise  den  potentialen  Optativ  empfangen, 
ans  Licht  stellen^).  —  Relativsätze,  deren  Pronomen  auf  eine 
Gattung  von  Gegenständen,  oder  auf  einen  beliebigen  Vertreter, 
auf  eine  unbestimmte  Masse  oder  Menge,  oder  auch  auf  einen  all- 
gemeinen, durch  den  ganzen  Satz  bezeichneten  Begriff  hinweist;  z.  B. 
Lc.  9,  4  in  pana  gard  gaggaip,  par  saljip  (ob  die  Jünger  in  ein 
Haus    kommen    und    in    welches,    wird    erst    die    Zukunft    zeigen). 

1  Tim.  5,  9  widuwö  gawaljaidau  ni  mins  saihs  tigum  jer^,  sei  wesi 
mnis  abins  qens  (yeTCvuia).  Eph.  4,28  saei  hlefi  (ö  KXeTiTwv),  paiia- 
seips  ni  hlifai.  Jh.  13,29  hugei,  pizei  paurbeima  du  dulpai  (Ouv 
XpGiav  €xo|uev).  Lc.  3, 13  ni  waiht  ufar  pata  garaid  sijai  izwis, 
lausjaip,  fordert  nicht  mehr,  denn  gesetzt  ist.  0.  1, 18,  36  s%  ther^r 
üitu  in  manne,  ther  thärana  gange.  Trist.  9926  minne^  da^  dich 
7mnne\  ivelle,  da^  dich  welle.  Mit  wohlbegründetem  Wechsel  des 
Modus:  Schönbach,  Predigten  2,  170,  22  den  pfenninch,  de?'  des 
■chaisers  pild  hat  und  sein  schrift  hat,  den  gebet  dem  chaiser,  und 
gebet  dem^  almächtigen  got,  da^  sein  st.  —  Verallgemeinernde, 
mit  swa  —  swe  etc.  gebildete  Relativsätze:  1  Tim.  6, 1  swa 
manag ai  swi  sijaina  uf  jukuzjai  piwös,  seinans  fraujans  —  wair- 
pans  rahnjaina,  öaoi  eiöiv  uirö  Zv^bv  öoOXoi,  tovc,  ibiovc,  öeairÖTac;  — 
d5iou(;  r^Yeicföwaav.  Tat.  45,  3  so  wa^  so  er  iu  quede,  so  tuot  ir,  quod- 
cumque  dixerit  vobis  facite.  Walther  11, 13  swer  dich  segene,  ,st 
gesegenet,  swer  dir  fluoche,  der  si  verfluochet.  Nib.  984  sivelcher  st 
unschuldic,    der   lä^e    da^    besehen.  —  Konditionalsätze,    z.  B. 

2  Kor.  12,  6  appan  jabai  wiljau  Tuöpan,  ni  sijau  unwita,  edv  fäp 
GeXriduu  KauxricraaOai,  ouk  eao|uai  äqppujv.  Jh.  10, 24  jabai  pu  sijais 
Xristus  (el  ob  ei),  qip  uns  andaugiba.  Tat.  15,  3  oba  thu  gotes  sun 
sts,  quid.  0.  4,  30, 17  oba  thu  sts  gotes  sun,  sttg  nu  nidar.  4,  30,  32 
nu  helfe  er  m,o,  oba  er  wolle.  Walther  69, 7  ob  ich  rehte  raten  künne, 
wa^  diu  minne  st,  s6  sprechet  denne  ja.  103,  21  st  bcese  unc^^üt 
darunder,  da^  breche  er  üq  besunder.  Im  Präteritum:  0.  Hartm,  1 
ob  ih  —  iawiht  missikirti,  —  bimtde  ih  hiar  tha^  wizi.  Walther 
116, 1  habe  ir  ieman  iht  von  mir  gelogen,  s6  beschouwe  mich.  Mit 
beachtenswertem  Wechsel,  dem  Modus  der  Hauptsätze  entsprechend: 
Jh.  12,26  jabai  mis  Jvas  andbahtjai,  mik  laistjai;  j ah  jabai  has 
mis  andbahteip,  sweraip  ina  atta  (im  Griechischen  beidemal  ^ctv  — 


1)  Bernhardt  ZfdPh.  8,  32  f.  28,  130  f.  Erdmann  §  187.  196.  197. 
Dagegen  Mourek,  Über  den  Einfluss  des  Hauptsatzes  auf  den  Modus 
des  Nebensatzes  im  Gotischen  (Litbl.  d.  k.  böhmischen  Gesellschaft 
der  Wiss.  1892).  Nochmals  über  den  Einfluss  etc.  (Sitzungsb.  der 
kgl.  böhm.  Ges.  d.  W.  1895) ;  vgl.  ferner  Delbrück,  PBb.  29,  257.  261. 
Bock  S.  44  f.     Wunderlich  1,  298.     Rötteken  S.  26  f.  etc. 


292  Gebrauch  der  Modi.  [§  145. 

biaKovr)).  —  Adverbiale  Nebensätze  der  Zeit;  nanientlich  zeit- 
bedingende: Mt.  6,  2  pan  nu  taujai.s-  armaiön,  ni  hournjais  faura 
pus.  1  Kor.  ll.i:5  ßata  ivaurkjaip,  swa  ufta  swe  drigkaip,  du 
meinai  gamundai.  Notker  Ps.  80, 4  (2,  334, 14)  pläsent  mit  hörne, 
s6  niuwer  mäno  st,  canite  initio  mensis  tuba.  Biterolf  7581  als  €3 
erste  beginne  tagen^  so  sult  ir  alle  sin  bereit.  —  Andere:  Parz.  220,  17 
die  wile  ich  hie  gevangen  st,  lä^  mich  solches  ha^^es  vrt.  0.  1,  4,  66 
nu  wird  thu  stummer  sär,  unz  thu  i^  gisehis  alaicär.  Walther  23,  38 
beitet,  unz  iuicer  jugent  zergi  (vgl.  §  127).  —  Lokale  Nebensätze: 
Mc.  14, 14  padei  inngaleipai,  qipaits pamma  heiwafraujin.  0.  3,  23,  55 
faram^s,  pär  er  st.  Nib.  874,  2  so  kere  iesltcher,  da  er  gerne  var. 
Notker  Ps.  58,  12  (2, 223,  30)  zerwirf  sie  in  dtnero  chrefte,  so  wtt 
Romanum  Imperium,  si.  —  Vergleichende  Nebensätze:  Nib. 
1091,  1  wirb  eg  BüedegSr,  als  liep  ich  dir  st.  Trist.  3657  {sage  mir) 
rehte  alse  liep  ich  dir  st.  —  Dazu  kommen  dann  noch  zahlreiche  Sätze, 
in  denen  schon  neben  indikativischem  Hauptsatz  der  Optativ  stehen 
kann,  ein  Imperativ  oder  Optativ  im  Hauptsatz  aber  den  Gebrauch 
des  Optativs  im  Nebensatz  fördert:  Forderungs-  und  Absichtssätze» 
indirekte  Aussage-  und  Fragesätze  und  Konzessivsätze. 

3.  Alle  diese  Beispiele  sind  Nebensätze  ersten  Grades^ 
d.  h.  Nebensätze,  die  von  einem  Hauptsatze  abhängen.  Ebenso 
kann  natürlich  der  Optativ  in  Nebensätzen  zweiten  Grades 
eintreten,  also  in  Nebensätzen,  die  von  einem  Nebensatz  im 
Optativ  abhängen;  z.B.  von  einemForderungs- oder  Absichts- 
satz Mt.  5,  31  qipanuh pan  ist.,  patei  hazuh  saei  afletai  qen,  gibai 
izai  afstassais  bökös.  1  Thess.  5,  10  saei  gaswalt  faur  uns,  ei,jappe 
slSpaima  jappe  wakaima,  samana  mip  imma  libaima.  Walther 
11,  27  dö  riet  er  den  unwtsen,  da^  si  den  keiser  liefen  haben  stn 
küneges  reht,  und  got,  swa^  gotes  wcere.  61,  8  m,ir  ist  liep,  da^  si 
mich  klage  ze  m,ä^e,  als  e^  ir  schöne  ste.  Wigalois  106,38  allen  ir 
vrouwen  si  gebot,  da^  si  sich  rtche  kleiten  und  sich  darzuo  bereifen, 
als  er  tn  gienge,  da^  m,an  in  so  enphienge,  da^  er  davon  würde 
vrö.  —  Von  einem  indirekten  Aussage-  oder  Fragesatze: 
W^alther  23,29  der  sprichet,  .Hwer  den  besmen  spar,  da^  der  den 
sun  versüme  gar.  0.  2, 12,  37  ni  wuntorö  thuh  thih  friunt  mtn,  nubi^ 
werde  wanne,  tha^  sih  es  worolt  mende.  2,4,17  wio  i^  io  mohti 
werdan,  tha^  wolta  er  gerno  irßndan,  tha^  man  io  so  gizämi  hi 
th'esa  worolt  quämi,  er  wollte  erforschen,  wie  es  möglich  wäre, 
dass  ein  so  trefflicher  Mensch  in  die  Welt  käme.  Nib.  941,  2  ir  sult 
geltche  jehen,  in  slüegen  .^cächcere,  da  er  füere  durch  den  tan.  — 
Von  einem  Exzeptivsatz  Iw.  6032  e^n  ste  dan  an  ir  heile,  da^  si 
den  kempfen  bringe  dar,  der  si  gewaltes  beivar. 

4.  Aus  dem  Einfluss,  den  der  Modus  eines  benachbarten 


§  146,]     Optativ  neben  einem  Opt.  oder  Imp,  im  Hauptsatz.  293 

Satzes  übt,  erklärt  sich  auch  der  Optativ  in  Sätzen,  die  zu 
einem  durch  die  Negation  des  Hauptsatzes  negierten  Nebensatz 
g-ehören;  z.  B.  Mc.  10,  29  ni  Jvashun  ist,  saei  aflailöti  gard 
(bc,  dcpi^Kev  okiav)  .  .  .,  saei  ni  andnimai  -r-  falp  (edv  |ufi 
Xdßr]  eKaioviaiiXacriova).  Nur  der  zweite  Satz  wird  durch  die 
Negation  des  Hauptsatzes  negiert  und  hat  dadurch  Anspruch 
auf  den  Optativ  (§  141);  es  soll  nicht  gesagt  werden,  dass 
niemand  sein  Haus  verlässt,  sondern  dass  niemand,  wenn  er 
sein  Haus  verlässt,  nicht  empfängt  (Luther:  e^  ist  niemand, 
so  er  verlässt  .  .  der  nicht  empfange).  Doch  pflegen  in 
solchen  Satzgefügen  beide  Sätze  im  Optativ  zu  stehen.  0.  5, 19, 7 
nist  th^r  von  wtbe  quämi,  nub  er  thdr  sculi  sin.  O.  5,  20,  23.  Gregor 
522  ichn  wei^  nü  nieman,  der  min  lant  ze  disen  ztten  büwe,  dem 
ich  so  wol  getrüwe.  Mit  richtiger  Unterscheidung:  Mc.  9,39  ni  man- 
nahun  ist,  saei  taujip  mäht  in  namin  m,eina7nma  jah  magi  sprautö 
uhilwaurdjan  mis  (im  Griechischen  beidemal  der  Indikativ:  oc; 
iToii'lö€i  —  Kai  buvTiaexai).  Waither  100,  4  in  gesprach  nie  wol  von 
guoten  wiben,  was  mir  leit,  ich  wurde  frö. 

146.  1.  Öfters  begegnet  aber  der  Optativ  auch  in  Sätzen, 
deren  Aussage  an  sich  der  Bestimmtheit  nicht  ermangelt. 
Zuweilen  lassen  sie  sich,  wie  schon  viele  der  angeführten 
Beispiele,  als  Gegenstand  der  Erwägung  für  das  Subjekt  des 
regierenden  Satzes  ansehen,  also  als  Gegenstand  subjektiver 
Vorstellung  (deliberativ  §  116,3);  z.B.  Lc.  15,12  atta,  gif  mis, 
sei  undrinnai  mik  dail  aiginis  (xö  eirißdWov  luoi  |Li^po(;).  Tat.  97,  1 
gib  mir  teil  dero  ehti,  thiii  mir  gibure  (quae  me  contingit,  Luther: 
das  mir  gehört).  0.  4, 16, 26  tha^  ir  ni  missefähet,  sehet,  den  ih 
küsse.  0.  Hartm.  48  theih  Mar  thir  zelle,  tha^  firnim.  Nib.  938, 1 
lät  si  des  genießen,  da^  si  iuwer  swester  st.  Auch  Sätze  im  Prä- 
teritum :  Notker  Ps.  4,  2  (2,  9,  12)  tuo,  so  du  tätist.  133,  2  (2,  566,  22) 
lobönt  in,  also  Job  täte.  Kehr.  12546  verkius  die  missetät,  die  er 
wider  dich  getcete.  Greg.  244  7iu  ivis  gemant,  da^  du  behalte.^t  mire 
die  Jungesten  Ure,  die  dir  dtn  vater  tcete.  Walther  24,  24  pßg  min 
wol,  als  ir  der  heilic  enget  pßoege. 

2.  Doch  gibt  es  auch  Fälle,  die  diese  subjektive  Be- 
deutung nicht  haben;  z.B.  MSH.  3, 44Ha  der  al  der  werlt  ein 
meister  .st,  der  gebe  der  lieben  guoten  tac.  Eng-elh.  496  der  alliu 
harzen  krcene,  der  grüe^e  dich.  Iw.  594  giu3  üf  dän  stein,  der  da 
sti.  Iw.  185  bitet  in  sin  mcere,  des  i  begunnen  wcere,  volsageyi.  Vgl. 
ferner  kausale  Nebensätze:  Notker  Ps.  145,2  (2,595,21)  mannoliches 


294  Gebrauch  der  Modi.  [§  147. 

sela  lohöe  Got,  std  der  propheta  da^  rate.  34, 24  (2, 122, 10)  irteile 
du  mir  after  minemo  rehte,  std  sie  mir  unrehto  irfeiltin.  Walther 
70,  37  Sit  ab  er  da  gerne  si,  so  st  ouch  da.  Auch  Nib.  1484,  1  stt  du 
der  verte  niht  wellest  haben  rät ;  swä  obene  bi  dem  iva^er  ein 
Herberge  stät,  da  inne  ist  ein  verge,  wo  ein  Imperativ  "so  höre'  zu 
ergänzen  ist  (vgl.  §  144, 5).  Nib.  423,  3  nu  er  dunke  (C,  diinket  A) 
sich  so  biderbe,  s6  tragt  in  ir  gewant.  Predigten  (Schönbach  2, 173, 18) 
nu  da^  so  gewis  st,  da^  dehein  Christen  mensch  daran  zwtfel,  da^ 
müe^  also  ergän,  nu  sech  unser  ieglicher  zuo  im  selber.  —  Endlich 
Satzgefüge,  deren  Hauptsatz  überhaupt  kein  persönliches  denkendes 
Subjekt  hat:  0.  1,11,39  wola  wart  thio  brusti,  thio  krist  io  gikusti. 
RoI.  190, 5  so  wol  d&r  wtle  und  ouch  der  stunde,  da^  Roland  ie 
wurde  geborn.  Erinnerung  770  verfluochet  st  der  tac,  der  mich 
gebcBre.  Walther  95,3  da^  alle  krä  gedten,  als  ich  in  des  günne. 
Neidh.  67,  3  nü  gelinge  in  allen,  als  ich  in  von  hm^zen  günne.  In 
solchen  Sätzen  greift  der  Optativ  unter  dem  Einfluss  des^ 
Hauptsatzes  in  das  Gebiet  des  Indikativs  hinüber. 

Anm.  Zuweilen  haben  auch  Hauptsätze,  die  zwar  nicht  im 
Imperativ  und  Optativ  stehen,  aber  doch  ähnliche  Bedeutung  haben 
(Sätze  mit  sollen,  mögen,  wünschen  u.  ä.),  den  Gebrauch  des  Optativs 
im  untergeordneten  Satze  gefördert.  Berechtigt  ist  der  Modus: 
Walther  28,  24  st  abe  er  s6  hire,  da^  er  da  zuo  sitze,  s6  wünsche 
ich,  da^  stn  ungetriuwe  zunge  müe^e  erlamen.  89, 15  du  solt  mich 
schiere  sehen,  ob  du  mir  stst  mit  triuwen  stcete.  Nib.  874, 3  der 
danne  jage  beste,  der  sol  des  haben  danc.  1410, 4  der  dar  niht 
gerne  welle,  der  mac  hie  heime  bestän.  Nach  einem  Hauptsatz  ohne 
Verb.  fin. :  Walther  83,  34  wol  im,  d'^r  si  Mre.  85, 10  s6  wi  im,  der 
den  werden  fürsten  habe  erslagen.  Unberechtigt,  weil  der  Neben- 
satz etwas  Tatsächliches  bezeichnet,  bei  Berth.  1,254,32  Wan  er 
(Christus)  ie  Sünden  und  Untugenden  vtnt  ist  gewesen,  s6  was  da^ 
wol  mügelich,  da^  er  sine  edele  menscheit  davor  behuote  unde  fri 
W(zre  vor  allem  zädel. 

147.  (Nebensatz  im  Indikativ  nach  einem  Hauptsatz  im 
Optativ.)  1.  So  unverkennbar  die  Neigung  ist,  neben  einem 
Hauptsatz  im  Imperativ  oder  Optativ,  auch  im  Nebensatz  den 
Optativ  zu  setzen,  so  war  der  Gebrauch  doch  zu  keiner  Zeit 
allgemein.  Von  jeher  konnte  auch  in  Sätzen,  die  wegen  ihrer 
Unbestimmtheit  an  und  für  sich  wohl  geeignet  gewesen  wären 
im  Optativ  zu  stehen,  der  Indikativ  gebraucht  werden;  z.  B. 
1  Kor.  7,  13  q^ns,  söei  aig  aban  ungalaubjandan,  jah  sa  gawilja 
ist  bauan mip  izai,  ni  afletai  pana  aban.    Mc.  IQ,'^^  laisari,  icileima 


§  147.]     Indikativ  neben  einem  Opt.  oder  Imp.  im  Hauptsatz.       295 

ei,  patei  puk  hidjös,  taujais  uggkis,  GeXoiuev  iva  ö  käv  öe  airrjaouev 
TToirjorjc;.  Jh.  6, 40  ist  wilja  pis  sandjandins  mik,  ei  Tvazuh  saei 
saiJvip  pana  sunu  jah  g  alauheip  du  imma^  aigi  libain  aiwei- 
nön.  Walther  23,  21  die  sich  selben  s6  verswachent  und  ir  bösen 
öceser  machent,  an  erben  müe^en  si  vervarn.  96,  7  ein  scelic  wip, 
diu  sich  verstit,  diu  sende  ouch  guoten  willen  dar.  48,21  wol  im, 
ders  erbeiten  mac.  103,  5  w€  im,  des  sin  geselle  unere  hat.  13, 25 
wol  im,,  der  ie  nach  stceten  fröuden  ranc.  70, 3  ich  tvil,  da^  wol 
zürnen  m^üe^e  liep  mit  liebe,  swa  e^  von  friundes  herzen  gät.  30, 17 
swes  munt  mich  triegen  wil,  der  habe  sin  lachen  da:,  ebenso  wil 
im  Nebensatz  96,15.  111,86.  kan  96,22.  getar  110,22.  10,20  ob  in 
guotes  unde  Hute  ieman  erbeiten  lät,  so  var  er  balde.  95,  9  dem  ej 
sin  scelde  flieget  so,  da^  i^n  sin  herzeliep  wol  guotes  gan,  hat  ouch 
derselbe  fröuderlchen  sin,  son  spotte  er  niht  darumbe  mtn.  Selbst 
in  indirekten  Fragen :  Walther  124,  24  nü  Tuerket,  wie  den  frouweii 
ir  gebende  stät  (vgl.  43,  33  nü  merket,  wie  der  linden  ste  der  vögele 
singen).  33, 2  seht,  wie  iuch  der  bäbest  mit  des  tiuvels  stricken 
beitet  (vgl.  83,  26  nü  sehet,  wie  diu  kröne  lige  und  wie  diu  kirche 
sti).  69,  4  der  berihte  mich,  durch  wa^  si  {diu  Minne)  tuot  ituo  EF) 
so  ive.  Indikativ  und  Optativ  sind  nicht  gleichbedeutend,  aber 
die  Sprache  liess  die  Wahl  frei;  von  dem  Redenden  hing  es 
ab,  ob  er  durch  den  Optativ  den  Inhalt  des  Nebensatzes  als 
Gegenstand  der  Vorstellung  charakterisieren  wollte.  Wo  beide 
Modi  neben  einander  stehen,  tritt  der  unterschied  zuweilen 
deutlich  hervor;  z.  B.  0.  3,  20,  43  sage  uns  nu  giwärOy  wio 
sihist  thu  so  ziorOj  Joh  wer  tliir  däti  thia  mäht,  tha^  thu 
so  scöno  sehan  mäht.  Auch  1  Kor.  10,  31  jappe  nu  matjaip,  jappe 
drigkaip,  jappe  ha  taujip,  allata  du  wulpau  gudis  taujaip  d.  h. 
möget  ihr  nun  essen  oder  trinken,  kurz  was  immer  ihr  tut,  tut  alles 
zum  Lobe  Gottes  (Mourek,  Noch  einmal  etc.  S.  9).  —  Willkürhch 
dagegen  ist  der  Wechsel  bei  0.  an  Hartm.  27  nim  gouma  in  ala- 
thräti,  wio  Abel  däti,  wior  hugu  rihta  slnan  in  selb  druhtlnan. 
Durch  das  Reimbedürfnis  veranlasst:  Walther  29,34  nu  habe  er 
danc,  ders  ebene  me^je  und  der  si  ebene  treit. 

2.  Wie  weit  etwa  gewisse  Satzformen  oder  individuelle 
Gewohnheit  den  einen  oder  andern  Modus  begünstigen,  ist 
hier  nicht  zu  verfolgen.  Der  Optativ  Präteriti  ist  jederzeit 
seltner  als  der  Opt.  Präsentis,  und  seit  der  mhd.  Zeit  weicht 
auch  dieser  zurück.  Jetzt  ist  er  so  gut  wie  aufgegeben.  Nur 
wo  sich  der  Optativ  als  Ausdruck  der  indirekten  Eede  (im 
weitesten  Sinne)    auffassen   lässt,    wie   in   den   meisten  der  in 


296  Gebrauch  der  Modi.  [§  148. 

§  145,  3  als  Nebensätze  zweiten  Grades  angeführten  Beispiele, 
ist  er  üblich  geblieben,  z.  B.  Es  ist  auch  gesagt,  dass,  wer 
sich  von  seinem  Weibe  scheiden  wollen  ihr  einen  Sche'idehrief 
gehen  solle.  Sie  gebot  ihren  Frauen^  dass  sie  sich  schmückten, 
damit  sie  ihn.  wenn  er  einträte,  so  emjj fingen,  dass  er  sich 
darüber  freute. 

3.  Aber  auch  in  solchen  indirekten  Sätzen  wird  zum 
Teil  neben  dem  Optativ  der  Indikativ  gebraucht,  gemäss  den 
für  die  Absichtssätze  und  abhängigen  Aussagesätze  überhaupt 
geltenden  Regeln  (§  122,4.  126,3.  130,  1).  In  dem  zweiten 
Beispiel,  in  dem  die  Nebensätze  einem  von  einem  Präteritum 
abhängigen  Absichtssatze  untergeordnet  sind,  ist  uns  der  Optativ 
unentbehrlich;  in  dem  ersten  dagegen  könnten  wir  auch  den 
Indikativ  brauchen:  wer  sich  scheiden  will.  Und  so  sehr  oft; 
z.  B.  Voll  /Staunen  erzählt  ein  römischer  Schriftsteller  von  den  Wohfi- 
sitzen  der  Chauken,  ivie  die  Meeresflut  das  Land  dort  weithin  über- 
schivemme,  die  Hütten  der  Me^ischen  auf  Erdhügeln  ständen,  wo 
sie  ihr  Leben  dahin  brächten  Seefahrern  gleich,  ive7in  die  Flut  ein- 
tritt, und  Schiff biHlchigen  gleich,  wenn  sie  zurückweicht.  Da 
wir  in  den  übergeordneten  Nebensätzen  den  Optativ  als  Aus- 
druck der  indirekten  Rede  empfinden,  erscheint  der  Indikativ 
dieser  untergeordneten  als  Ausdruck  der  Moduslosigkeit.  Ob- 
schon  sie  notwendige  Bestandteile  der  indirekten  Rede  sind, 
sprechen  sie  doch  nicht  das  aus,  worauf  es  in  erster  Linie 
ankommt,  und  entbehren  deshalb  den  charakteristischen  Modus; 
sie  sind  zu  blossen  Satzgliedern  herabgesunken. 

Der  Irrealis  in  Nebensätzen,  die  einem  Irrealis 
untergeordnet  sind. 
148.  1.  Einen  ähnlichen  Einfluss  wie  Imperativ  und 
Optativ  übt  der  Irrealis  auf  den  Modus  des  untergeordneten 
Satzes.  An  und  für  sich  ist  von  solchen  Nebensätzen  der 
Indikativ  ebensowenig  ausgeschlossen  wie  von  anderen;  z.  B. 
Walther  98,  12  hei  sollen  si  zesa7nene  komen,  min  lip,  min  herze,  ir 
beider  sinne,  da$  .si  de.s-  wol  wui^den  inne,  die  7nir  dicke  fröude 
hänt  benonien.  Hier  steht  der  Relativsatz  mit  Recht  im  Indikativ; 
denn  die  Freudenstörer  sind  wirklich  da.  Ebenso  ist  er  berechtigt 
Walther  57,  ö  .se7n  mir  got,  so  sivüere  ich  tcol,  da^  hie  diu  wip  be^^er 
sint  danne  ander  frouifen;   denn   auch   im  indirekten  Aussagesatz 


§  148.]  Irrealis  neben  einem  Irrealis  im  Hnuptsatz.  297 

konnte  von  jeher  neben  dem  Optativ  auch  der  Indikativ  gebraucht 
werden  (§  122).  Aber  wenn  in  dem  untergeordneten  Satz  der 
Optativ  gebraucht  ist,  pflegt  es  in  der  älteren  Sprache  der 
Opt.  Prät.  zu  sein.  Also  Indikativ  und  Opt.  Prät.  sind  die 
Modi,  die  in  diesen  Sätzen  im  allgemeinen  vorkommen. 

2.  Selbstverständlich  gilt  der  Opt.  Prät.  in  den  Sätzen, 
denen  er  als  Modus  Irrealis  an  sich  schon  zukommt;  z.  B.  in 
einem  Absichtssatz  Walther  119,  6  da^  enkunde  nieman  mir  geraten, 
da^  ich  schiede  von  dem  iväne\  in  einem  Folgesatz  und  einem 
Temporalsatz  mit  er  Wig.  110,26  ivceren  nitn  elliu  rtche,  s6  da^  ich 
keiser  lucere,  der  ire7i  ich  enbcere^  €  ich  verliefe  iutver  gebot. 
Wir  finden  ihn  aber  auch  in  anderen  Sätzen,  deren  Aussage 
nicht  im  Gegensatz  zur  Wirklichkeit  steht;  z.B.  Walther  10,30 
het  er  gewest,  da^  davon  übel  künftic  ivcere,  so  het  er  wol  under- 
komen  des  riches  sivcere.  73,  34  wess  ich,  obe  si^  noch  gerüioe,  ich 
wolde  mich  dur  got  erbarmen.  117,  33  icjes^  ich,  laa^  in  würre,  so 
hulf  ich  in  ir  schaden  klagen.  45,  11  torste  ich  vor  den  wandel- 
bceren,  so  lobt  ich,  die  ze  lobenne  wceren.  Iw.  1278  ej  sehent  wol 
alle  die  hinne  sint :  ejn  w  ce  r  dan  deine  als  ein  müs,  u?iz  dag  be- 
sloggen  ivcer  ditz  hüs,  sone  möht  niht  lebendes  drüg  komen  u.  a. 
In  allen  Nebensätzen,  die  zu  einem  irrealen  Hauptsatz  gehören, 
erscheint  der  Opt.  Prät.  als  der  regelrechte  Vertreter  des 
Optativs  überhaupt;  nur  Sätzen,  denen  von  rechtswegen  über- 
haupt kein  Optativ  zukommt,  bleibt  er  fern.  Wenn  in  dem  Ge- 
dicht von  Christus  und  der  Samariterin  (MSD  X,  9)  Christus  sagt: 
ivt'p,  obe  thu  wissis,  ivielih  gotes  gift  ist,  unte  —  den  irkantts,  mit 
demo  du  kösötis,  so  ist  das  eine  durch  den  Reimzwang  veranlasste 
Unregelmässigkeit. 

3.  Ausnahmen  kommen  vor.  Wie  in  Bedingungssätzen 
neben  einem  Hauptsatz  im  Irrealis  der  Nebensatz  im  Indikativ 
stehen  kann  (§  134,  4),  so  kommt  auch  zuweilen  ein  Nebensatz 
im  Potentialis  vor;  z.  B. :  Kudr,  402,  1  und  melde  uns  nieman, 
so  sagete  ich  iu  gerne.  Berth.  1,  51,  6  ob  des  aller  minnesten  sternen 
gebreste,  der  iender  an  dem  himel  i.'st,  so  möhte  alliu  diu  werlt 
deste  wirs  sin.  In  einem  Exzeptivsatz:  Grimm  Reinh.  S.  321,  v.  821 
so  er  vil  schänden  wirbet  und  in  den  schänden  stirbet,  man  welleg 
dan  verkeren,  er  Icege  bag  mit  eren.  Namentlich  macht  sich  in 
indirekten  Sätzen  schon  im  Mhd.,  besonders  in  der  Prosa,  ein 
Wandel  bemerkbar.  Gar  nicht  selten  begegnet  hier  auch  nach 
einem  Hauptsatz  im  Irrealis  ein  Opt.  Präs  (Behaghel  a.  0.  S.  32), 


298  Gebrauch  der  Modi.  [§  149. 

z.  B.  Erec  3735  herre^  wo&re  e^  iu  iiiht  leit,  so  soldet  ir  mich  wi^^en 
län,  warumbe  ditz  st  getan.  MF.  215,  5  c7?/,  soH  im  minen  dienest 
sagen:  swa^  itne  ze  liebe  müge  geschehen,  da^  möhte  niem^en  ba^ 
behagen,  der  in  s6  selten  habe  geseheji.  Und  im  Nhd.,  wo  der 
Opt.  Präs.  überhaupt  zum  indirekten  Modus  geworden  ist,  ist 
er  uns  ganz  geläufig;  z.  B.  Er  würde  doch  wissen,  wohin  sie 
sich  gewandt  habe.  Sonst  dächtest  du,  auch  das  sei  eine 
Vorspiegelung.  Ich  würde  es  ihm  mitteilen,  damit  er  es 
nicht  entstellt  von  anderer  Seite  erfahre.  —  Auffallend  ist, 
dass  wie  Behaghel  (a.  0.  S.  71  f.)  bemerkt,  der  präsentische  Optativ 
besonders  gern  nach  einem  Plusquamperfektum  gebraucht  wird: 
Er  hätte  dann  doch  gewusst,  wohin  sie  sich  gewa^idt  habe.  Sonst 
hättest  du  gedacht,  auch  das  sei  eine  Vorspiegelung  etc.  Der  Grund 
liegt  wohl  darin,  dass  wir  im  indirekten  Satz  nach  einem  auf  die 
Gegenwart  oder  Zukunft  bezüglichen  Tempus  viel  öfter  als  nach 
einem  Tempus  der  Vergangenheit  (§  122, 4)  auch  den  Indikativ 
brauchen.  Dementsprechend  steht  auch  in  diesen  von  einem  auf 
Gegenwart  oder  Zukunft  bezüglichen  irrealen  Prät.  sehr  oft  der 
Indikativ;  z.B.:  Er  würde  doch  wissen,  tvohin  sie  sich  gewandt  hat 
od.  habe  {hätte);  seltner  nach  dem  auf  die  Vergangenheit  bezüg- 
lichen Plq.  Die  Neigung  nach  diesem  den  Indikativ  zu  meiden, 
förderte  den  Gebrauch  der  präsentischen  Optativformen;  sie  sind 
nicht  als  ein  Ersatz  des  Opt.  Prät.,  sondern  als  ein  Ersatz  des  Indi- 
kativs anzusehen. 

Anm.  Regelmässig  wird  auch  in  der  jetzigen  Sprache  der 
Opt.  Prät.  nach  Ausdrücken  wie  ich  wünschte,  möchte,  wollte,  es 
wäre  Recht  etc.,  dass  gebraucht,  also  nach  Ausdrücken^  deren  Modus 
eben  in  der  Irrealität  des  abhängigen  Satzes  begründet  ist  (§  114,  5). 
Ebenso  nach  den  in  §  116,3  besprochenen  Sätzen  im  'vorsichtigen 
Konjunktiv',  wo  die  Verhältnisse  ähnlich  liegen. 

Moduswechsel  in  koordinierten  Sätzen^). 

149.  1.  Im  Gotischen  tritt  in  koordinierten  Sätzen,  in 
Haupt-  und  Nebensätzen,  nicht  selten  an  Stelle  des  zuerst 
gebrauchten  Modus  nachher  der  Optativ  ein.  So  folgt  er  in 
einem  zweiten  Hauptsatz  auf  den  Imperativ  z.  B.  Lc.  9,4  in 
panei  gard  gaggaip,  par  saljip  (|u^v€T6)  jah  paprö  usgaggaip  (esep- 
XeoGe).     Mc.  7, 14  hauseip  mis  allai  jah  frapjaip,  dKouer^  |uou  -rrävTec; 


1)  Erdmann  ZfdPh.  5,  213  f.  OS.  1  §  133  f.  Bernhardt  ZfdPb. 
8,8.25.32.  Mourek,  Got.  Syntax  S.  88  ff.  (301  f.).  Delbrück,  PBb. 
29,  259. 


§  149.]  Moduswechsel  in  koordinierten  Sätzen.  299^ 

Kai  öuviexe.  Lc.  11,3  jabai  frawaurkjai  hr 6p ar  peius,  gasak  imma 
{tTinilir\aov),  jah  pan  jabai  idreigö  sik,  fraUtais  imma  (öqpcc;).  Auf 
den  Dubitativ:  Mt.  6,31  ni  m,aurnaip  nu  qipandans  :Jva  matjam 
(qpdYUJMGv),  aippau  ha  drigkam  (Triuu^iev),  aippau  fve  wasjaima  (trepi- 
ßaX\iJÜ|U€0a).  Auf  den  Indikativ  in  deliberativen  Fragen:  1  Kor.  9,  7 
?vas  satjip  weinatriiva  (qpuxeuei)  jah  akran  pize  ni  matjai  (^aGiei)? 
fvas  haldip  aw^pi  (iToiiuaivei)  jah  m,iluks  pis  awepjis  ni  Tnatjai 
(^aGiei).  1  Kor.  1,  13  ibai  Pavlus  ushramips  warp  in  izwara  (eOTau- 
piüer]),  aippau  in  namin  Pavlaus  daupidai  wiseip  (^ßauTiaGnTe)? 
Jh.  3,4.  Rom.  11,  35.  In  Aussagesätzen:  Lc.  1.  13  qins peina  gabairid 
sunu  (Yevviia€i)  jah  haitais  namö  is  Johannen  (KaXeaeiq).  Lc.  17, 8 
manwei,  ha  du  naht  matjau,  jah  bipS  gamatjis  jah  gadrigkais 
pu  (cpdYeaai  Kai  -rrieaai).  2  Kor.  9, 10  hlaiba  du  m,ata  andstaldip 
(XopriYnöei),  jah  managjai  fraiw  izwar  (irXriGuvei),  jah  wahsjan  gatau- 
jai  akrana  (auErjaei). 

2.  Ebenso  in  einem  zweiten  lioordinierten  Nebensatz. 
In  Bedingungssätzen:  Job.  6,53  nibai  Tnatjip  leik  pis  sunaus 
mans  jah  driggkaip  is  blöp  (eäv  \xi\  cpäYrixe  .  .  koI  TririT€),  ni  habaip 
libain  in  izwis  silbam.  1  Kor.  14,  24  ip  jabai  allai  praufetjand,  ip 
innatgaggai  has  ungalaubjands  (edv  hk  irävTCc;  upoqpriTGijuuaiv,  eia€\6r| 
hi^xc^a-aiGToc^,  gasakada.  2  Thess.  2,  3.  Mc.  3,  27.  In  Relativsätzen: 
Mt.  5, 13  ip  saei  nu  gatairip  aina  anabusni  pizö  minnistönö  jah 
laisjai  stva  mans  {Xvoy]  Kai  6iöd?ri),  miymista  haitada  in  piudangard- 
jai  himine;  ip  saei  taujip  jah  laisjai  siva  (Tioiriari  Kai  biödErj),  sah 
mikils  haitada.  Mt.  10,38  saei  ni  nimip  galgan  seinana  jah  laistjai 
afar  mis  (Xa|ußdvei  Kai  dKoXouGeT),  nist  meina  wairps.  Lc.  14,  27  jah 
saei  ni  bairip  galgan  seinana  jah  gaggai  afar  mis  (ßaaxdSei  Kai 
^pxexai),  ni  tnag  wisan  meins  siponeis.     1  Kor.  11,27. 

3.  In  allen  diesen  Sätzen  steht  der  Optativ  in  einer 
Funktion,  die  er  auch  im  eingliederigen  Satze  haben  kann, 
aber  nirgends  scheint  der  Wechsel  des  Modus  geboten  und 
nirgends  findet  er  sich  im  Original.  Der  Gote  muss  also  den 
Anlass  in  seiner  Sprache  gefunden  haben.  Ähnlich  wie  ihm 
der  Optativ  dazu  dient  das  Futurum  auszudrücken  (§  113,2), 
scheint  er  ihn  in  diesen  koordinierten  Sätzen  gebraucht  zu 
haben,  um  das  zeitlich  ferner  stehende  zu  bezeichnen.  Der 
Optativ  weist  auf  das  spätere,  der  vorangehende  Indikativ  auf 
das  frühere. 

4.  Zuweilen  lässl  sich  der  Iiidikativsatz  sogar  als  be- 
dingende Voraussetzung  der  optativischen  Aussage  auffassen: 
1  Kor.  9,  7  has  satjip  weinatriwa  jah  akran  pize  ni  matjai,  wer 
setzt  einen  Weinstock  und   ässe  dann  nicht  seine  Frucht.     14,  24  ip 


300  Gehrm^cb  der  Modi.  (i^   149. 

jabai  allai  praufetjand^  ip  innatagaggai  Jvas  ungalaubjands^  wenn 
alle  prophezeien  und  es  käme  dann  ein  Ungläubig'er  hinein.  Mt. 
25,  44  han  puk  sefcum  gredagana  (6ibo|uev)  Jan  ni  andbahtidedeima 
pus  (kqi  QU  öir|Kovf]aa|U6v  aoi),  wann  haben  wir  dich  hungrig  gesehen 
und  hätten  dir  nicht  gedient.  Jh.  12,5  duJve  pata  balsan  ni  fra- 
bauht  ivas  (^TrpdGri)  jah  f7mdailip  w^si  parbam  (Kai  eööOri  tttuuxoiO' 
In  solchen  Sätzen  widerstreitet  der  Moduswechsel  auch  unserm 
Sprachgefühl  nicht,  nur  dass  wir  statt  des  Potentialis  den 
Irrealis  setzen.  Die  Sätze  sind,  obschon  sie  dieselbe  Form 
haben,  nicht  eigentlich  koordiniert,  sondern  der  Satz  mit  dem 
farblosen  Indikativ  ordnet  sich  dem  andern  unter:  ^Wer,  der 
einen  Weinstock  setzt,  ässe  nicht  etc.  Käme,  wenn  alle 
prophezeien,  ein  üngläubig-er'  usw. 

5.  In  wirklich  koordinierten  Sätzen  hält  sich  im  Hoch- 
deutschen der  Moduswechsel  in  engeren  Grenzen  als  im  Gotischen. 
Wo  nach  einem  Indikativ  der  Optativ  eintritt,  ist  in  der 
Regel  ein  deutlicher  Modusunterschied  wahrnehmbar.  Der  In- 
dikativ bezeichnet  eine  Aussage,  der  Optativ  eine  Forderung:  0. 
2,11,21  IQ  scolta  icesan  betahüs  joh  man  druhttn  thanne  loböti 
thärinne.  Der  Ind.  weist  aut  Tatsächliches,  der  Optativ  auf  Un- 
gewisses: 0.1,17,19  sagetu7i^  tha^  si  gähün  sterroji  einan  sähu7i, 
joh  dätun  filu  muri,  tha^  er  sin  wäri  (§  123,  2).  3,  20,  43  (§  147, 1). 
Oder  der  Indikativ  weist  auf  Gegenwärtiges,  der  Optativ  auf  Zu- 
künftiges; 0.  1,  10,  21  tha^  tvi^^in  these  liuti,  tha^  er  ist  heil  gebenti, 
inti  se  ouh  irwente  fo7i  diufeles  gibente.  1,23,45  ni  dröstet  iuih  in 
thiu  thing,  tha^  iagilth  ist  ediling,  odo  fordoröno  guati  biscirmen 
thiwö  däti.  An  andern  Stellen  mag  das  Reimbedürfnis  gewirkt 
haben,  z.  B.  2,  4,  7  f. 

6.  Dagegen  hat  man  einen  dem  gotischen  Gebrauch  ent- 
sprechenden Moduswechsel  zwischen  dem  Imperativ  oder 
Adhortativund  dem  Optativ  auch  wohl  im  Ahd.  anzuerkennen  ^); 
z.  B.  0.  4,30,  17  stig  nü  nidar  herasun,  thes  selben  ouh  gi- 
fli^es,  thih  loses  thesses  wi^^es.  5,  12,  77  simes  io  zi  gote 
funs  joh  inan  harto  minnön  u.  a.  Selbst  im  Mhd.  begegnen 
noch    solche   Beispiele:    MSH.    1,298^    darmi    gedenke    unde 

wi^^est. 

7.  Ja  vielleicht  lebt  der  alte  Moduswechsel  noch  in  einem 
mhd.   Gebrauch  fort,    dass   nämlich,    wenn   zwei    Forderungen 


1)  Gr.  4,85.  938    OS.  l  §  31.  33.     Mhd.  Wb.  2,2,  180b. 


§  14y.]  Modusweclisel  in  koordiiiierleii  Sätzen.  301 

neben  einander  stehen,  zuerst  die  Umschreibung  nkit  suln, 
dann  das  einfache  Verbum  gesetzt  wird;  z.  B.  Walther  86,  19 
einte  sult  ir  iuwern  Itp  geben  für  eigen,  nemet  den  stnen.  l'i,  21 
die  sult  ir  nerrien  an  arebeit,  und  süenet  al  die  k7'istenheit.  Biterolf 
5012  ir  sult  nach  fürsten  senden  U7id  ladet  die  zeiner  Wirtschaft. 
In  der  dritten  Person:  Walther  105,  9  mit  icitzen  sol  er^  alle^  ivegen 
und  lä^e  got  der  scelden  pflegen.  Und  demgemäss  indirekt:  Biterolf 
5278  f.  dö  bevalch  der  künec  here  dem,  markgräven  Rüedeg&re  stn 
ge.sinde  und  stne  man,  da^  er  si  solde  fiteren  dan  und  ouch  ir 
leitoire  in  der  herverte  wcere.  Wenn  dieser  Gebrauch  auf  dem 
alten  Wechsel  von  Imperativ  und  Optativ  beruht,  so  würde 
die  Umschreibung  für  den  Imperativ  eingetreten  sein,  das 
zweite  Verbum  dagegen,  das  wir  als  Imperativ  empfinden, 
eigentlich  eine  Optativform  sein  •,  doch  kommt  auch  die  2  Sg. 
vor,  die  sich  als  Optativ  nicht  erklären  lässt;  z.  B.  Meier 
Helmbrecht  v.  298  du  solt  mir  volgen  unde  erwint.  Andere 
Beispiele  bei  Kraus,  Deutsche  Gedichte  S.  85.  Seltner  steht 
die  Umschreibung  im  letzten  Gliede. 

Anm,     Mourek  lehnt  die  von  mir  anerkannte  Bedeutung*  des 
Optativs  ab.     Er   will   auch   im  Gotischen   den  Modus   nur    aus   der 
Natur  der  einzelnen  Sätze   erklären  und  stützt  sich  unter  anderem 
S.  92  darauf,  dass  auch  umgekehrt  in  einigen  koordinierten  Sätzen 
erst   der  Optativ,    dann   der  Indikativ   gebraucht  sei.     Aber   dieser 
Wechsel  ist  in   einem  Teil  der  Belege  wirklich  in  der  Art  der  ein- 
zelnen Sätze  begründet,  so  Joh.  7, 17.  1  Kor.  10,  31,  in  einem  anderen 
darin,    dass  die  Sätze  nicht  als  koordiniert  anzusehen  sind,     Wenn 
es  1  Kor.  7,  12  heisst :  jabai  has  bröpar  q^n  aigi  ungalaubjandein, 
jas  so  gawilja  ist  bauan  mip  imma^  ni  afletai  p6  qen,  so  hat  der 
Satz  so  gawilja  ist   den  Wert    einer    attributiven  Bestimmung    zu 
q^n:    'falls   ein  Bruder   ein  Weib   hat,    die  Willens   ist,    mit  ihm  zu 
hausen'.    Ebenso  sind  nicht  koordiniert  die  beiden  Bedingungssätze 
bei  Walther  71,  9  der  mtn  ze  friunde  ger  und  wil  er  mich  gewinnen, 
der  lä^e  alsolhe  unstcetekeity  wer  mich  zum  Freunde  wünscht,    der 
lasse,    wenn    er   mich    gewinnen    will,    solche    Unbeständigkeit.     In 
anderen  Fällen  ist  der  Indikativ  daraus  zu  erklären,  dass  die  Rede 
in  ihrem  Verlauf  in  die  'syntaktische  Ruhelage'  übergeht  (Behaghel 
IF.  14,443),  also  durch  Anakoluth;   z.  B.  Mt.  5,25  sijais  waila  hug- 
jands  andastauin  peinamma,    ibai  hnan   atgibai  puk  sa  andastaua 
stauin.,  jah  sa  staua  puk  atgibai  andbahta,  jah  in  karkara  galag- 
jaza.     Ebenso  Mt.  27,  64.  Mc.  2,  21  f.  Lc.  14, 12.  Tat.  c.  62,  6  wuo  mag 
einig  gigangan  in   hüs  strenges^  nibi  her  i,r  gibinte  then  strengen 
inti  thanne  sin  hüs  imo  binimit.     Tat.  c  74,  6. 


302  Gebrauch  der  Passivformen.  f§  150. 


Gebrauch  der  Passivformeii '). 

150.  1.  Im  Indogermanischen  gab  es  Verba,  die  je 
nach  dem  Verhältnis  des  Subjekts  zur  Handlung  in  aktiver 
oder  in  medialer  oder  in  beiden  Formen  ausgeprägt  waren 
(Delbr.  4,417 — 432).  Mit  den  medialen  Verben  konkurrierten 
Verbindungen  der  aktiven  mit  dem  Pron.  reflexivum  und  diese 
haben  jene  in  den  germanischen  Sprachen  früh  verdrängt. 
Sogenannte  Deponentia  gibt  es  gar  nicht  mehr.  Nur  wo  die 
medialen  Formen  neben  den  aktiven  die  Bedeutung  des  Passivs 
angenommen  hatten,  erhielten  sie  sich,  erscheinen  aber  auch  in 
diesem  Sinn  nur  noch  im  gotischen  Präsens.  In  den  anderen 
germanischen  Sprachen  sind  zusammengesetzte  Formen  an  ihre 
Stelle  getreten  (§  73-76.  §  87). 

2.  Viele  Verba  sind  auf  die  aktiven  Formen  beschränkt. 
Passive  Formen  bilden  wir  im  allgemeinen  nur,  wenn  wir  für 
ein  Verbum  ein  wirkendes  Subjekt  voraussetzen,  die  Aussage 
aber  nicht  als  Handlung,  sondern  nur  als  Vorgang  bezeichnen 
wollen.  Das  wirkende  Subjekt  wird  neben  dem  Passivum 
meistens  gar  nicht  erwähnt,  wenn  es  aber  geschieht,  tritt  es 
nicht  als  Träger  der  Handlung  in  der  Form  des  grammatischen 
Subjekts  auf,  sondern  als  adverbiale  Bestimmung,  die  gewöhn- 
lich als  Ausgangspunkt  des  Vorganges  angesehen  und  im 
Gotischen  durch  fram,  im  Hochdeutschen  durch  von  mit 
dem  Verbum  verbunden  wird;  oder  auch,  aber  seltener,  als 
Mittel  durch  got.  pairh,  ahd.  duruh,  z.  B.  Mt.  8,  17  pata  ga- 
melidö  pairh  Esaiam  praufetu.  Tat.  50,  2  tha^  giquetan  was 
thuruh  Esaiam  then  wi^agon.  0.  2,  2,  19  thei^  thuruh  inan 
ist  gidän. 

3.  Am  häufigsten  ist  das  Passiv  transitiver  Verba,  aber 
auch  von  intransitiven  wurde  es  von  jeher  gebildet;  z.  B.  0. 
2, 12,  84  themo  ist  irdeilit.  1,  9, 1  thes  ^r  ju  ward  giwahinit.  4,  29,  20 
thes  wurti  gifti^;^an.  Greg.  516  hesunder  wart  gegangen  in  eine 
keTuendten.  Nib.  816  im,  sol  von  Hagenen  iemer  w'esen  widerseit 
etc.     Selbst  von  solchen,  die  keine  Tätigkeit  bezeichnen,  wie  rasten 


1)  Erdm.  §  135. 


§  150.]  Gebrauch  der  Passivformen.  303 

und  schlafen-^  z.  B.  Endlich  wurde  gerastet]  hier  soll  geschlafen 
iüerden\  denn  auch  diese  Verba  setzen  wirkende  Personen  voraus, 
die  sich  der  Ruhe  hingeben.  Doch  braucht  man  von  intransi- 
tiven Verben  das  Passiv  kaum  anders  als  in  Beziehung'  auf 
ein  persönliches  Subjekt.  Sätze  wie:  Die  Woge  rauscht,  der 
Sturm  heult,  das  Wasser  spritzte  hoch  auf  lassen  sich  nicht 
ins  Passiv  verwandeln.  Man  sagt  wohl:  von  der  Jugend 
wurde  getanzt,  aber  schwerlich:  von  den  Mücken.  Dagegen 
von  transitiven  Verben:  Wir  wurden  vom  Sturme  verschlagen, 
von  der  Nacht  überrascht  etc. 

4.  Zu  Verben,  die  schon  in  ihrer  aktiven  Form  einen 
Vorgang  bezeichnen,  bildet  man  das  Passiv  nicht.  Also  nicht 
/A\  subjektlosen  Verben  wie  es  regnet,  es  schneit,  mich  friert, 
reut.  Nicht  zu  Verben  des  Geschehens  und  Werdens;  z.  B. 
die  Blume  welkt'.,  die  Bäume  wachsen-^  es  geschehen  Zeichen 
und  Wunder;  neue  Ereignisse  traten  ein-.,  auch  nicht,  wenn 
sie  ein  persönliches  Subjekt  haben:  z.  B.  Der  Mensch  stirbt-, 
das  Kind  gedeiht.  Ein  Satz  wie  Mart.  137,  100  unde  wart 
üf  in  gehagelt  mit  schimpflichem  spot  widerspricht  der  Regel 
nicht;  denn  wenn  auch  hagelt  zunächst  ein  subjektloses  Verbum 
ist,  so  setzt  es  hier  in  der  übertragenen  Bedeutung  doch  ein 
persönliches,  wirkendes  Subjekt  voraus. 

5.  Auch  reflexive  Verba  widerstreben  der  Bildung  eines 
Passivs  (vgl.  §  151,  2),  nicht  nur  die  echten,  wie  er  schämt 
.sich,  freut,  irrt  sich,  sondern  auch  solche  wie  er  Meidet  sich 
an,  lüäscht  sich,  tötet  sich,  bei  denen  das  reflexive  Pronomen 
Objekt  eines  gewöhnlichen  Transitivums  ist.  Denn  wenn  diese 
Verba  ins  Passiv  umgesetzt  werden  {er  wurde  angekleidet  etc.), 
verlieren  sie  ihren  reflexiven  Charakter;  stets  wird  dann  eine 
andere  Person  als  Träger  der  Handlung  vorausgesetzt.  So 
unterscheiden  wir  auch:  Die  Tür  öffnete  sich  und  Die  Tür 
lourde  geöffnet.  In  beiden  Sätzen  ist  das  Objekt  der  Hand- 
lung grammatisches  Subjekt;  aber  für  die  passive  Form  setzt 
man  ein  handelndes  Subjekt  voraus,  während  man  beim 
Reflexivum  davon  abstrahiert.  Wo  ein  handelndes  Subjekt 
gar  nicht  vorhanden  ist,  kann  man  also  nur  die  reflexive  Form 
brauchen;  z.  B.  Die  Erde  bewegt  sich  um  ihre  Achse. 


304  Gebrauch  der  Passivformen.  [ij  151. 

151.  1.  Subjekt  des  passiven  Satzes  ist,  wenn  die 
Handlung-  auf  ein  Objekt  bezogen  wird,  in  der  Regel  dies 
Objekt;  andernfalls  bleiben  die  Sätze  subjektlos.  (Über  Aus- 
nahmen S.  Kasuslehre.)  In  Sätzen  mit  zusammengesetzten  Passiv- 
formen wurde  ursprüng-lieli  mögliclierweise  das  Partizipium  als  Sub- 
jekt empfunden:  Hier  ist  gepfiügt  =  Gepflügtes  ist  hier.  Aber  jeden- 
falls hat  man  sieh  früh  daran  gewöhnt  auch  in  solchen  Sätzen  das 
Partizipium  als  Prädikat,  die  Sätze  also  als  subjektlos  aufzufassen. 

2.  Das  reflexive  Objekt  kann  nicht  Subjekt  eines  passiven 
Satzes  werden.  Aber  die  enge  Verbindung,  die  zwischen  dem 
Verbum  und  dem  Pron.  refl.  besteht,  gestattet  unter  Bei- 
behaltung des  reflexiven  Akkusativs  subjektlose  Sätze  in  passiver 
Form  zu  bilden;  z.  B.  JEs  wurde  sich  moJciert,  nicht  darum 
bekümmert.  Jetzt  wird  sich  gewaschen  l,  Konstruktionen,  die 
man  in  der  Schriftsprache  doch  gern  meidet.  Hin  und  wieder 
begegnen  sie  schon  im  Mhd.;  z.  B.  Lanz.  5396  des  wart  sich 
von  im  angenomen.  8880  gereite,  diu  dar  zuo  tohten,  des 
was  sich  wol  gevU^^en,  man  hatte  für  zweckmässiges  Reitzeug* 
gesorgt. 

Anm.  1.  Reflexiver  Akkusativ  neben  persönlichem  Passivum 
begegnet  in  gewissen  Verbindungen  im  Mhd.:  der  was  sich  Moroli 
genant.    Ein  buoch  da^  wart  sich  funden.     Gr.  4,  36. 

3.  Auch  den  Akkusativ,  der  neben  einem  Infinitiv  von 
den  Verben  heissen,  sehen,  hören  abhängt,  machen  wir  nicht 
zum  Subjekt  eines  passiven  Satzes:  Alan  hiess  ihn  eintreten, 
hörte  od.  sah  ihn  kommen  können  nicht  ins  Passiv  gewandelt 
werden.  Dasselbe  gilt  für  lassen  —  bewirken,  z.  B.  Man  Hess 
ihn  warten.  Erträglicher  ist:  Die  Sache  wurde  fallen  ge- 
lassen =  Man  Hess  die  Sache  fallen^). 

Anm.  2.  Unkorrekt  ist  es,  den  von  einem  Infinitiv  abhängigen 
Akkusativ  zum  Subjekt  des  regierenden  Satzes  zu  machen;  z.B. 
das  Ziel  wurde  zu  treffen  versucht  =  Man  versuchte  das  Ziel  zu 
treffen.  Doch  ist  zu  beachten,  dass  in  manchen  Verbindungen  ein 
Substantivum  sich  ebenso  wohl  als  Objekt  des  Infinitivs  wie  als 
Subjekt  des  Verbum  finitum  auffassen  lässt;  z.  B.  Wohnung  zu 
mieten  gesucht.  Seine  Stücke  sind  verboten  aufzuführen  u.  ä.  Blatz 
2,  575  A.  3.  580  A.  14.  589  A.  31. 


1)  Gr.  4,  123  f.     Erdm.  S.  90. 


§  152 -Ino]  Gebrauch  des  Numerus.  305 

152.  (Konkurrierende  Konstruktionen.)  Das  Passiv  ist 
ein  beliebtes  Mittel,  Tätigkeiten  auszusagen,  ohne  sie  auf  ein 
bestimmtes  persönliches  Subjekt  zu  beziehen.  In  ähnlichem 
Sinn  aber  konnte  und  kann  die  3  PI.  des  aktiven  Verbums  und 
später  (11  §  425,  3)  das  zum  unbestimmten  Pronomen  gewordene 
Substantivum  man  gebraucht  werden.  Schon  im  Gotischen 
findet  sich  nicht  selten  das  Passiv,  wo  der  griechische  Text  die 
3  PI.  hat;  z.  B.  Mt.  7,  16  ihai  lisanda  af  paurnum  weina- 
hasja,  \ir\Ti  cTuXXeTOucTiv  dtTTÖ  tüjv  dtKavGOuv  (TiacpuXriv,  kann  man 
auch  Trauben  lesen  von  den  Dornen?  Luc.  6,38  mitads 
göda  .  .  .  gibada  (bujcrouaiv)  m  barm  izwarana,  ein  voll  Mass 
wird  man  in  euren  Schoss  geben.  Und  umgekehrt  brauchen 
ahd.  Übersetzer  die  3  PL  oder  man,  wo  im  Lateinischen  das 
Passiv  steht;  z.  B.  Is.  1,  18  Dhazs  suohhant  avur  nu  ithnimveSy 
hweo  dher  selbo  si  chiboran,  illud  denuo  quaeritur,  quomodo 
idem  sit  genitus.  Tat.  40,  3  bitet  inti  iu  gibit  man,  suohet 
inti  ir  findet,  clophöt  inti  iu  intuot  man,  petitur  et  dabitur 
vobis  etc.,  Luther:  Bittet,  so  wird  euch  gegeben  etc.  Geboten 
ist  das  Passiv  überall,  wo  eine  einzelne  Person  als  Subjekt 
der  Handlung  vorausgesetzt  wird.  Über  das  Verhältnis  des 
Passivs  zu  den  gotischen  Verben  auf  -7inn  s.  II  §  55. 

Gebrauch  des  Numerus'). 

153.  (Kongruenz  von  Subjekt  und  Prädikat.)  1.  Wie 
beim  Nomen  so  unterscheiden  die  germanischen  Sprachen  auch 
beim  Verbum  im  allgemeinen  nur  zwei  Numeri,  Singular  und 
Plural.  Nur  im  Gotischen  erscheinen  noch  besondere  Dual- 
formen, wenigstens  für  die  1  und  2  Person;  doch  tritt  auch 
für  diese  zuweilen  schon  der  Plural  ein,  der  für  die  dritte 
allein  zur  Verfügung  steht.  —  Je  nachdem  das  Subjekt  eine 
Einheit  oder  Vielheit  von  Gegenständen  bezeichnet,  steht  das 
Verbum  im  Singular  oder  Plural.  Es  ist  daher  natürlich,  dass 
das  nominale  Subjekt  und  das  verbale  Prädikat  in  der  Regel 


1)  Gr.4,191ff.  Paul  §  233.  234.  238.  Blatz  2,63-87.  Schachinger, 
Die  Kongruenz  in  der  mhd.  Sprache.    Wien  1889. 

W.  Wilmanns,  Deutsche   Grammatik.  HI.  20 


306  Gebrauch  des  Numerus.  [§  153. 

im  Numerus  übereinstimmen.  Doch  begegnen  in  der  älteren 
Sprache  nicht  ganz  selten  Sätze,  in  denen  diese  Kongruenz  fehlt. 

Neben  einem  Subjekt  im  Singular  kann  das  Verbum 
im  Plural  stehen,  wenn  man  mit  dem  Subjekt  trotz  seiner 
singularischen  Form  die  Vorstellung  einer  Vielheit  verbindet, 
eine  Auffassung,  die  bald  durch  die  kollektive  Bedeutung  des 
Wortes  selbst  ermöglicht  wird,  bald  durch  seine  auf  eine  Viel- 
heit hinweisenden  Attribute  (Adjektiv  oder  abhängigen  Genitiv). 
So  steht  im  Got.  oft,  auch  abweichend  vom  Griechischen,  der  Plural 
neben  managei,  z.  B.  Mc.  3,32  setun  biina  managei,  iKäQr]To  ö^Koc, 
irepi  auTÖv.  Lc.  6,  19  alla  managei  sökidedun  attekan  irriina,  ttöc;  ö 
öx^oc;  elr^Tei  äirTeöOai  aÜToO,  Ebenso  beg-egnet  er  neben  hairda: 
Mt.  8,  32  run  gawaurhtedun  sis  alla  s6  hairda^  üupfiriae  rräöa  \\  äYeXr); 
im  Mhd.  neben  /zer,  diet.  gesinde:  Parz,  200,17  hin  von  den 
zinnen  vielen  und  gähten  ziw  den  kielen  da^  huiigerc  her.  Parz. 
676,26  diu  iverde  diet  manegen  rmc  zierten.  Nib.  414,  1  dö  koni  ir 
gesiyide  und  truogen  dar.  —  Neben  einem  Subjekt  mit  adjektivischem 
Attribut:  Parz.  75,4  da  liefen  unde  giengen  nianec  werder  man. 
797, 14  ma7iic  rtter  kurteis  die  kü7iigtn  hänt  mit  zühten  braht.  — 
Nach  einem  Subjekt  mit  abhängigem  Genitiv:  Mc.  2,  13  all  mana- 
geins  iddjedun  du  imma,  Ttäc;  öxXoc;  ripxGTO  irpöc;  auxöv.  Mc.  4, 1  ga- 
lesun  sik  du  imma  manageins  filu  ö\)vi\\Qr[  irpöc;  auTÖv  öxAoq  ttoXüc;. 
Nib.  75,  4  dö  liefen  in  enkegene  vil  der  Guntheres  man.  Parz.  761, 18 
swa^  hie  werder  Hute  sint.  Mai  77,  38  sica^  herren  an  dem,  ringe 
stuonden.  Parz.  101,5  lät  ,si  rtten.,  .swer  da  geste  sin.  K.  v.  W. 
der  werlte  Ion  221  fliegen  und  äm,ei^en  ein  tvunder  drinne  sä^en. 
Nib.  943, 4  ja  m,uosten  sin  enkelten  vil  guoter  ivigande  Itp.  uns 
klingen  solche  Konstruktionen  mehr  oder  weniger  fremd.  Nur 
wenn  mehrere  koordinierte  Prädikate  auf  ein  Kollektivum  be- 
zogen werden,  gehen  auch  wir  noch  leicht  aus  dem  Singular 
in  den  Plural  über;  a.  B.  Mt.  8,  32  Die  ganze  Herde  Säue 
stürzte  sich  mit  einem  Sturm,  ins  Meer  und  ersoffen  im 
Wasser.     Blatz  2,  66  Anm.  6. 

Anm.  1.  Erleichtert  wurde  die  Inkongruenz  dadurch,  dass 
ursprünglich  die  Verbalform  allein,  Subjekt  und  Prädikat  in  sich 
vereinend,  einen  vollständigen  Satz  bilden  konnte,  so  dass  das  Sub- 
stantivum  neben  dem  latenten  Subjekt  gewissermassen  eine  apposi- 
tive  Stellung"  einnehmen  kann,  eine  Auffassung,  die  in  der  allite- 
rierenden Dichtung  oft  anzuerkennen  ist;  z.  B.  Hei.  4963  werod 
Judeono  gripun  thö  an  thene  godes  sun,  gri^nma  thioda,  hatandiero 
höp,  huurbun  ina  umbi  m,ödag  manno  folc,  das  grimme  Volk,  der 
Verfolger  Haute,  (sie)  umringten  ihn,  das  erreg'te  Volk  etc. 


i 


§  153.]  Kongruenz  von  Subjekt  und  Prädikat.  307 

Anm.  2.  Anders  zu  beurteilen  sind  Verbindungen  wie:  es 
waren  viel  Me7ischen  da,  wohl  hundert  Menschen,  ein  paar  Menschen, 
eine  Me7ige  Menschen.  Hier  ist  das  Nomen,  das  ursprünglich  den 
Genitiv  regierte,  zum  Attribut,  der  Genitiv  zum  Subjekt  geworden, 
so  dass  die  Kongruenz  tatsächlich  gewahrt  ist.  Blatz  2,  65  f.  67  (s. 
Kasuslehre).  —  Ebenso  ist  der  Plural  gerechtfertigt  in  Sätzen  wie: 
An  die  hundert  Menschen  {gegen,  bis,  über  h.  M.)  waren  versammelt 
(Blatz  2,70  Anm.  13);  hier  ist  die  präpositionale  Verbindung  zum 
Subjekt  geworden. 

2.  Eigentümlicher  berührt  es  uns,  wenn  neben  dem  Sub- 
jekt im  Plural  das  Verbum  im  Singular  steht.  Im  Gotischen 
fehlen  solche  Beispiele.  Bei  Otfried  zeigt  sich  die  Unregel- 
mässigkeit einige  Mal,  wo  das  pluralische  Subjekt  durch  ein 
Zahlwort  zur  Einheit  zusammengefasst  ist  (OS.  2,29):  3,6,55 
ward  thero  äleibo  .  .  sibun  korbi.  2,11,37  thero  järo  was  .  .  . 
fiarzug  inti  sehsw,  sonst  merkwürdiger  Weise  nur  bei  Substan- 
tiven, deren  Plural  auf  i  ausgeht,  bei  den  Fem.  däti,  dohti, 
ktinfti,  angusti,  henti,  guati,  armuati  und  dem  Neutr.  wihti 
und  immer  im  Reim;  z.  B.  4,12,3.  2,16,17.  —  Auch  im 
Mhd.  finden  sich  Beispiele,  besonders  bei  Wolfram:  Nib.  185,2 
dö  stoup  Ü3  dem  helme  die  vitverröte  vanken.  2149,  3  des  reis  ir 
schiltsteine  (A,  schiltg esteine  B  u.  a.)  7iider  in  da^  bluot.  Parz.  447,  6 
dem  ungeltch  icas  jeniu  kleit.  234, 3  an  disen  aht  frouwen  was 
rocke  grüener  denne  ein  gras.  28, 30  dö  verjach  ir  ougen  dem 
herzen  sän.  695,  2  dö  sprach  von  d.isem  einem  man  in  beden  hern 
die  wtsen.  Meist  geht  das  Verbum  voran,  es  kann  aber  auch 
folgen,  und  dann  ist  die  Inkongruenz  fühlbarer:  Nib.  1806,  4 
wol  siben  tüsent  degene  bi  der  kuneginne  reit.  Frauend.  11,22  fünf 
tüsent  ritter  der  fürsten  bröt  da  a^.  Parz.  305, 15  ir  snüere  unz  an 
die  sine  gienc.  —  Verhältnismässig  oft  begegnet  die  Konstruktion 
beim  Passiv  transitiver  Verba;  z.B.  F^irz.  221,  ib  .selten  frosltchiu 
werc  was  da  gefrümt.  Klage  656  vil  manege  wunden  wit  ivart  ge- 
houwen.  Man  könnte  also  daran  denken,  dass  hier  das  Substan- 
tivum  gar  nicht  als  Subjekt,  sondern  als  ein  in  der  passiven  Kon- 
struktion fest  gehaltenes  Objekt  aufzufassen  sei  (OS.  2,  31).  Doch 
ist  die  Vermutung  abzuweisen,  weil  in  solchen  Sätzen  nie  ein  be- 
stimmt^  ausgeprägter  Akkusativ  begegnet. 

Anm.  3.  Selbst  wenn  ein  einzelnes  Werk  der  Literatur  oder 
Kunst  durch  einen  pluralen  Titel  bezeichnet  wird,  meidet  man  den 
Singular;  z.  B.  Heute  werden  Schillers  Räuber  gegeben.  Nur  wenn 
das  Subjekt  ausdrücklich  als  Titel  bezeichnet  wird,  gilt  der  Singular: 


308  Gebrauch  des  Numerus.  [t?  153. 

Die  Itäuher  ist  der  Titel  von  Schillers  erstem  Drama.  Freilich 
widerstrebt  uns  zuweilen  auch  der  Plural,  nämlich  dann,  wenn  das 
Prädikat  es  nahe  legt,  das  Subjekt  nicht  als  Titel  aufzufassen. 
Schillers  Rauher  wurden  aufgeführt,  ist  unbedenklich;  nicht  so: 
Heute  gingen  Schillers  Räuber  über  die  Bretter ;  vgi.  Blatz  2, 72 
Anm.  19. 

Anm.  4,  Abstrakt  aufg-efasste  Zahlen  werden  in  der  Regel 
mit  dem  Sing'ular  verbunden;  z.  B.  Drei  und  vier  ist  sieben.  Oft 
auch  mit  Zahlwörtern  verbundene  Substantiva,  die  als  einheitliche 
Massbestimmungen  aufgefasst  werden;  z.  B.  Drei  Meter  Tuch  reicht 
nicht  hin.  —  Ebenso  ist  der  Singular  gerechtfertigt  in  Sätzen  wie: 
Einige  Schurken  weniger  im  La7id  würde  der  Welt  nichts  schaden, 
wo  das  Subjekt  den  Wert  eines  Satzes  hat:  Wenn  einige  Schurken 
weniger  ivären,  so  ivürde  das  etc.  und  in  Verbindungen  wie:  Stühle 
ist  der  Plural  von  Stuhl,  wo  Stühle  gar  nicht  eine  Mehrheit  von 
Gegenständen,  sondern  eine  grammatische  Form  bezeichnet;  s.  Blatz 
2,70  Anm.  15—18. 

3.  Im  allgemeinen  ist  die  Kongruenz  zwischen  dem 
Numerus  des  Subjekts  und  des  Verbums  immer  entschiedener 
zur  Geltung  gekommen;  nur  in  einem  Falle  sträubt  sich  die 
Sprache  dagegen.  Wenn  ein  substantivisches  Prädikat  im 
Plural  zu  einem  Subjekt  im  Singular  gehört,  steht  das  Verbum 
wie  das  Prädikat  im  Plural;  z.  B.  Der  Lohn  dieser  Welt  sind 
vergängliche  Freuden.  Wh.  158,  18  ej  enmugen  niht  alle^ 
hünege  sin.  Doch  kommt  in  der  älteren  Sprache  wie  neben 
dem  pluralischen  Subjekt  auch  der  Singular  vor;  z.  B.  Rab. 
413,  6  ir  harnasch  was  sumerMeider\  vgl.  Gr.  4,  197.  Paul 
§  238;  vgl.  auch  Blatz  2,  78  A.  2. 

4.  W^enn  in  Sätzen,  die  sich  als  eine  einheitliche  Aus- 
sage darstellen,  das  Verbum  sich  auf  mehrere  Subjekte  bezieht, 
steht  es  bald  im  Singular,  bald  im  Plural.  Der  Plural  war 
jeder  Zeit  überall  gestattet,  die  Grenzen  für  den  Singular 
sind  allmählich  enger  geworden.  Am  besten  behauptet  er  sich, 
wenn  die  Subjekte  im  Singular  stehen;  doch  ist  er  auch  dann 
nicht  überall  erlaubt.  Folgt  das  Verbum  den  Subjekten,  so 
pflegen  wir  ihn  nur  zuzulassen,  wenn  die  Subjekte  sich  zu 
einheitlicher  Auffassung  eignen ;  z.  B.  Hab  und  Gut  ist  verloren. 
Haus  und  Hof  ist  verkauft.  Wald  und  Anger  prangt  im,  Früh- 
lingsschmuck. Dagegen  widerstrebt  uns  der  Singular  in  Sätzen 
wie    Mt.    6,  ly    parei    malö  jah    nidtva    frawardeip,    öttou    ar]<;    Kai 


§  153.]  Kongruenz  von  Subjekt  und  Prädikat.  309 

ßpujaic;  äcpaviZei.  Nib.  2314,  o  Dietrich  undc.  Etzel  weinen  dö  heyayi, 
Oudr.  866,  1  Hartmuot  unde  Irolt  zuo  einander  spranc.  Etwas 
grössere  Freiheit  gewährt  das  vorangehende  Prädikat  dem 
Singular,  doch  meiden  wir  ihn  auch  hier,  wenn  er  auf  eine 
gemeinsame  Tätigkeit  der  Subjekte  hinweist,  wie  Parz.  17, 15 
dö  sprach  üq  einem  inunde  der  sieche  und  der  gesunde.  Nib.  26,  2 
in  hie^  mit  kleidern  ziereri  Sigmunt  und  Sigelint. 

Anni.  5.  Notwendig  ist  uns  der  Singular,  M^enn  die  Subjekte 
den  Titel  eines  Werkes  bezeichnen  (vgl.  Anm.  3):  Heute  wird  Erivin 
und  Ehnire  gegeben. 

ö.  Steht  ein  Teil  der  Subjekte  im  Plural,  so  pflegen  wir 
den  Singular  nur  zu  gestatten,  wenn  das  Verbum  vorangeht 
und  ihm  zunächst  ein  singularisches  Subjekt  folgt,  also  nicht  in 
Sätzen  wie  Nib.  1087,  1  iceme  ist  nü  hekant  under  iu  hl  RiJie  die 
Hute  und  ouch  da^  lant  {Hute  unde  lant  C).  1534, 3  dem  ist  ivol 
bekant  stige  unde  strafe,  und  noch  weniger  in  solchen  wie  Parz. 
352,  58  ein  linde  und  ölboume  unden  hl  der  müre  stuont.  Nib.  788, 1 
Prünhilt  und  ir  vroutcen  (A,  mit  ir  fr.  B)  gie.  2172,2  da^  palas 
unde  turne  erdÖQ.  2296, 2  palas  unde  turne  von  ir  siegen  dö^. 
In  der  Nachbarschaft  eines  pluralischen  Subjekts  verlangen 
wir  auch  pluralisches  Prädikat  (vgl.   Blatz  2,  78 — 85). 

Anm.  6.  Nicht  immer  erscheinen  Sätze,  deren  Verbum  sich 
auf  mehrere  Subjekte  bezieht,  als  einheitliche  Aussage  mit  mehreren 
Subjektsworten,  sondern  als  Verbindung  mehrerer  Aussagen  mit  dem- 
selben Prädikatswort.  Dies  ist  namentlich  dann  der  Fall,  wenn  das 
Verbum  zwischen  die  Subjekte  tritt;  z.  B.  Da,  wo  der  Wirt  sass 
und  die  Gäste,  oder:  Da,  wo  die  Gäste  sassen  und  der  Wirt-,  aber 
auch  sonst,  z.  B.  im  Schlusssatz  des  Vaterunsers:  Denn  dein  ist  das 
Reich,  und  die  Kraft  und  die  Herrlichkeit.  In  Sätzen,  die  so  auf- 
gefasst  werden,  richtet  sich  das  Prädikat  natürlich  nach  dem  zu- 
nächst stehenden  Subjekt.  So  auch  in  Sätzen,  deren  Subjekte  durch 
nicht  nur  —  sondern  auch,  entweder  —  oder,  teils  —  teils  verbunden 
sind.  Doch  kann  nach  ihnen,  namentlich  nach  Verbindungen  mit 
sowohl  —  als  auch,  weder  —  noch  ein  Verbum  im  Plural  folgen, 
auch  wenn  das  unmittelbar  vorhergehende  Subjekt  ein  Singular 
ist:  Weder  mein  Bruder  noch  sein  Freund  haben  das  gesagt.  Blatz 
2, 85  Anm.  15  f. 

Anm.  7.  Auch  neben  präpositionalen  Verbindungen,  die  in 
ähnlichem  Sinne  wie  zwei  koordinierte  Subjekte  gebraucht  werden, 
kann  das  Prädikat  im  Plural  stehen;  z.  B.  Iw.  6215  ej  wären  hl  ir 
fiure  under  wilen  tiure  vleisch  mit  den  vischen.  Schiller:  Und 
Scherz  mit  Huld  in  anmutsvollem  Bunde  entquollen  dem  beseelten 
Munde.     Paul  §  233  A. 


310  Gebrauch  des  Numerus.  [§  154. 

154.  (Bezeichnung  einer  Person  durch  den  Plural.)  l.Ohne 
Einfluss  auf  die  Kongruenz  des  Subjekts  und  des  Verbums 
sind  die  Änderungen,  die  der  Numerus  dadurch  erfahren  hat, 
dass  die  pluralischen  Pronomina  pers.  und  poss.  wir  und 
unser,  ihr  und  euer,  später  auch  sie  und  ihr,  zur  Bezeichnung 
einzelner  Personen  gebraucht  wurden.  Der  Dichter  des  Anno- 
liedes erzählt  v.  465,  dass  die  Römer  den  Caesar  nach  dem 
Siege  über  Pompejus  durch  die  pluralische  Anrede  geehrt 
hätten,  und  fügt  mit  Stolz  hinzu,  dass  Caesar  den  Deutschen 
das  Recht  sich  zu  ihrzen  als  ein  Zeichen  seiner  Anerkennung 
gewährt  habe.  In  der  Tat  haben  die  Deutschen  den  Gebrauch 
von  den  Römern  übernommen  und  wenn  auch  nicht  von  C. 
Julius  Caesar,  so  doch  von  den  späteren  Caesaren.  Doch  ehe 
dieser  Plural  der  2  Pers.,  der  pl.  reverentiae,  behandelt  wird, 
scheint  es  zweckmässig,  einen  Blick  auf  die  Numerusverschiebung 
in  der  1  Pers.  zu  werfen.  Hier  sind  zwei  Fälle  zu  unter- 
scheiden: der  pl.  auctoris  und  der  pl.  maiestatis. 

2.  Schon  die  lateinischen  Schriftsteller  der  klassischen 
Zeit  reden  in  ihren  Büchern  und  Briefen  von  sich  selbst  oft 
im  Plural,  und  dieser  Gebrauch  hat  sich,  wenn  auch  in  engeren 
Grenzen,  bis  auf  unsere  Tage  erhalten.  Grammatisch  berech- 
tigt ist  er  überall,  wo  der  Autor  in  seiner  Aussage  sich  als 
Glied  einer  Gemeinschaft  ansehen  kann,  besonders  auch  da, 
wo  in  die  1  PI.  der  Leser  mit  einbegriffen  werden  kann ; 
z.  B.  Nib.  1  Uns  ist  in  alten  mceren  Wunders  vil  geseit. 
Aber  von  jeher  finden  wir  den  Plural  auch  in  Sätzen,  die  nur 
für  den  Redenden  Geltung  haben.  Beispiele  in  deutscher 
Sprache  bietet  schon  die  alte  Isidorübersetzung,  nicht  nur 
solche,  die  sich  an  die  lateinische  Vorlage  anschliessen,  wie 
suohhe7nes  quaeramus,  chioffanodöm  wir  probavimus,  sondern 
auch  unabhängige:  chichundemes  demonstretur,  wir  chichun- 
didöm  demonstrata  est.     Ebenso  Otfried:  5,  8,  7  so  wir  zelten-^ 


1)  Gr.  4,  298  ff.  Kl.  Schriften  3.  247  ff.  DWb.  2,  1475  ff.  3,  688  ff. 
Ehrismaun,  ZfdW.  1,117—149.  2,118-159.  4,210-248.  5,126-220. 
Denecke,  Zur  Geschichte  des  Grusses  und  der  Anrede  in  Deutsch- 
land. ZfdU.  6,  317—345.  Andere  Literatur  verzeichnet  Mensing  S.  31; 
vgl.  auch  Anm.  zu  §  155. 


§  154.]  Bezeichnung"  einer  Person  durch  den  Plural.  311 

5,  5,  12  so  loir  Mar  fora  zelitun-^  5,  23,  151  thes  giwuagun 
wir  er  etc.  Gesteigertes  Selbstgefühl  macht  sich  in  diesem 
Gebrauch  nicht  geltend;  eher  kann  man  ihn  als  Ausfluss  der 
Bescheidenheit  ansehen,  die  das  eigne  Ich  zurücktreten  lassen 
will  und  sich  mit  dem  Ausdruck  tiefster  Demut  verbinden 
kann;  so  wenn  0.  in  dem  Lobgedicht  auf  König  Ludwig  sich 
als  unsu  smähu  iiidiri  (vgl.  mea  parva  humilitas  in  dem 
Schreiben  an  Liudbert)  bezeichnet. 

3.  Jünger  ist  der  pl.  majestatis;  der  Grund  zu  ihm 
wurde  gelegt,  als  mehrere  Kaiser  sich  in  die  Herrschaft  über 
das  römische  Reich  teilten.  Indem  die  Pluralform,  die  sich 
für  ihre  gemeinsamen  Erlasse  von  selbst  ergab,  auch  in  den 
offiziellen  Kundgebungen  einzelner  festgehalten  wurde,  wan- 
delte sich  der  natürliche  pl.  societatis  in  den  pl.  maiestatis, 
der  Plural  wurde  zum  Ausdruck  der  viele  Machtbefugnisse  um- 
fassenden Herrschgewalt.  Von  den  Römern  vererbte  sich  der 
Gebrauch  auf  die  Germanen;  sie  mochten  ihn  um  so  leichter 
annehmen,  als  die  enge  Verbindung,  die  in  Rat  und  Tat 
zwischen  dem  Fürsten  und  seinem  Gefolge  bestand,  oft  den 
Plural  als  natürliche  Ausdrucksweise  erscheinen  Hess.  Wir 
finden  ihn  von  Anfang  an  bei  Goten  und  Franken  und  nicht 
nur  in  den  Erlassen  und  Briefen  der  Könige,  sondern  auch  in 
den  Kundgebungen  anderer  Personen,  die  sich  als  Machthaber 
fühlten;  so  bei  den  merowingischen  Hausmeiern.  Dem  leben- 
digen Verkehr  aber  blieb  der  offizielle  Kanzleigebrauch  fremd. 
In  der  Dichtung  des  12.  und  13.  Jh.  wird  das  majestätische 
Wirzen  überall  noch  gemieden;  Belege  in  der  deutschen  Sprache 
finden  sich  erst,  als  sie  auch  in  den  Urkunden  das  Lateinische 
ablöste  (Gr.  4,  303.  300  Anm.). 

4,  Weitere  Verbreitung  und  grössere  Wichtigkeit  gewann 
der  Plural  der  zweiten  Person.  Er  wurzelt  in  demselben 
Boden  wie  der  pl.  maiestatis ;  dieselben  Personen,  die  von  sich 
selbst  im  Plural  sprachen,  empfingen  auch  einen  Plural  als 
ehrende  Anrede.  Und  dieser  pl.  reverentiae  blieb  nicht 
auf  den  Kanzleigebrauch  beschränkt,  er  griff  auf  weitere 
Kreise  über  und  muss  früh  zu  einer  gewöhnlichen  Form  des 
geselligen  Verkehrs  geworden  sein.     Um  den  Verlauf  der  Be- 


312  Gebrauch  des  Numerus.  [i?  154. 

wegiujg  zu  verfolgen,  fehlt  es  an  geeigneten  Denkmälern,  doch 
ist  manches  auch  aus  den  lateinischen  Quellen  zu  schliessen. 
In  deutscher  Sprache  begegnet  die  Anrede  mit  Ihr  zuerst  in 
dem  Gedichte,  mit  dem  Otfrid  sein  Werk  dem  Bischof  Salomo 
von  Konstanz  widmete;  in  den  Gedichten  des  12.  und  13.  Jhs. 
finden  wir  Ihr  nicht  nur  in  der  Anrede  an  Respektspersonen 
und  höher  Gestellte  —  gelegentlich  auch  an  Gott  —  sondern 
auch  zwischen  vornehmen  Personen  gleichen  Ranges  und  selbst 
anter  Leuten  niederen  Standes.  Wenn  daneben  manche  Ge- 
dichte das  Ihr  ganz  oder  fast  ganz  meiden,  z.  B.  im  12.  Jh» 
das  Rolandslied  oder  die  Fortsetzung  des  Lamprechtschen 
Alexanderliedes  in  der  Strassburger  Hs.  (ZfdW.  2,  143)  und 
noch  später  religiöse  Gedichte,  so  beruht  das  auf  Stiltradition. 
Zu  aller  Zeit  haben  Dichter  die  konventionelle  Form  nicht 
durchgeführt-,  und  wie  noch  jetzt  die  kaiserliche  Majestät  sich 
in  Versen  die  Anrede  mit  Du  gefallen  lässt,  so  herrscht  Du 
auch  in  den  Panegyriken  des  früheren  Mittelalters  (ZfdW.  1,  121). 
Im  gesellschaftlichen  Verkehr  galt  Ihr;  Du  war  der  Ausdruck 
vertraulicher  Verhältnisse  oder  erregter  Stimmung,  die  die 
konventionellen  Schranken  durchbrach.  Mit  zierlicher  Wendung 
sagt  der  Schenk  von  Limburg  in  einem  Minneliede  (MSH. 
1,133^):  einer  fraget  Uhte  nü,  warumbe  ich  dich  hei^e  dü'^ 
dast  von  rehter  Hebe.  Frouwe,  sprich,  hab  ich  daran  iender 
missesprochen'?  da^  Id^  ungerochen,  wan  ich  mac  des  lä^en 
niht.  —  Auch  Wechsel  zwischen  Du  und  Ihr  fand  im  Verkehr 
nicht  so  oft  statt,  wie  in  den  mhd.  Gedichten,  obschon  an- 
zunehmen ist,  dass  er  leichter  eintrat  als  jetzt,  wo  man  ihn 
nur  noch  in  den  untersten  Ständen  zu  beobachten  Gelegenheit 
hat  —  und  bei  Dichtern.  Näher  gehe  ich  auf  diese  Fragen, 
die  weniger  die  Grammatik  als  die  Kultur-  und  Literaturgeschichte 
berühren,  nicht  ein.  In  ihren  Hauptzügen  hat  schon  Grimm  die 
Bewegung  gezeichnet,  eingehender  hat  sie  Ehrismann  in  seinen 
an  feinen  Beobachtungen  reichen  Untersuchungen  behandelt. 
Über  den  Plural  der  3  Pcrs.  zur  Bezeichnung  einer  ein- 
zelnen Person  s.  §  155. 

Anm.     Über  das  Pron.   poss.   in   der  Anrede,  wenn  mehrere 
sprechen  s.  Gr.  4,  299  Anm. 


§  155.]  Gebrauch  der  Personalformen.  313 

Gebrauch  der  Personalformen '). 

156.  1.  Neben  einem  Verbum  in  der  1  und  2  Pers.  er- 
scheint nie  ein  Siibstantivum  als  Subjekt^  sondern  höchstens 
als  appositive  Bestimmung-  des  pronominalen  Subjekts;  z.  B, 
Was  hast  du  ärmster  gelitten !  Wir  Deutsche,  Ihr  Kauf  leute 
etc.  Und  umgekehrt:  wo  ein  Substantivum  oder  ein  unper- 
sönliches Pronomen  Subjekt  ist,  muss  das  Verbum  in  der 
3  Person  stehen,  auch  dann,  wenn  die  Person  des  Redenden 
oder  des  Angeredeten  durch  ein  Substantivum  bezeichnet  wird; 
z.  B.  Nib.  1213,  4  wo  Hagen  von  sich  selbst  sagt:  in  wil  be- 
halten Hage7ie,  da^  sol  man  Kriemhilte  sagen.  So  pflegt 
auch  in  Relativsätzen,  die  sich  an  ein  Pron.  der  1  oder  2 
Person  anschliessen,  die  3  Pers.  zu  stehen  (Paul  §239,3); 
z.  B.  du  sniterin,  diu  da^  körn  ab  dem  velde  snidet.  Walther 
29,  15  Ir  fürsten,  die  des  küneges  gerne  wceren  äne\  obschon, 
nach  lateinischem  Muster,  auch  die  1  und  2  Person  vorkommen. 
Wir  meiden  jetzt  das  eine  und  das  andere,  indem  wir  hinter 
dem  Relativum  das  persönliche  Pronomen  einschieben :  Ihr 
Fürsten,  die  ihr;  du  Schnitterin,  die  du. 

Anm.  Appositive  Bestimmungen  sind  neben  dem  Singular 
nicht  in  gleicher  Weise  gebräuchlich  wie  neben  dem  Plural.  Man 
kann  wohl  sagen:  Wir  Bürger,  Ihr  Beamte,  aber  nicht  leicht  Ich 
Bürger,  Du  Beamter. 

2.  Substantiv  zur  Umschreibung  auch  der  angeredeten 
oder  der  redenden  Person  begegnen  häufig.  Im  Mhd.  wiid 
oft  lip  so  gebraucht,  wie  im  Französischen  corps\  z.  B.  Iw. 
2348  mir  riet  ej  niuwan  min  selbes  lip.  Ahnlich  aber  jeder 
Zeit  auch  andere :  Daran  hat  mein  Herz  nicht  gedacht.  Mein 
Fuss  kommt  nicht  über  seine  Schwelle  etc.  Besonders  wichtig 
aber  werden  abstrakte  Substantiva,  die  die  Person  nach  Art, 
Rang  und  Stand  bezeichnen,  ein  Gebrauch,  der  ebenso  wie- 
der Plural  zur  Bezeichnung  einer  einzelnen  Person,  von  den 
Römern  übernommen  wairde.  In  seiner  lateinischen  Vorrede 
bezeichnet  Otfried  sich  selbst  als  vilitas  mea,  mea  parvitas, 
mea  parva  humilitas,  und  dementsprechend  in  dem  Widmungs- 

1)  Gr.  4,  293  f.  Blatz  2,  250  f.  87  f.  ZfdU.  12,  753  f.;  vgl.  Anm. 
zu  §  154. 


314  Gebrauch  der  Personalformen.  [§  155. 

gedieht  an  Ludwig-  v.  26  unsu  smähi  nidiri,  an  Hartmuot 
V.  155  thiu  mines  selbes  nidiri  (vgl.  aueh  3,  10,  15  thiu  druh- 
tines  mutz.  4,  19,41  thiu  sin  milü  ete.).  Derartige  Abstracta 
wurden  dann  auch  in  der  Anrede  gebraucht.  So  betitelt  schon 
Dietrich  bei  Jord.  c.  57  den  Kaiser  Zeno  mit  pietas  vestra; 
anderwärts  begegnen  majestas,  celsitudo,  excellentia  etc.,  im 
Deutschen:  Majestät,  Hoheit,  Heiligkeit,  Excellenz,  Emi^ienz 
etc.  und  pluralisch  Gnaden,  Liehden  etc. 

3.  In  derselben,  direkte  Anrede  vermeidenden  Form  wurden 
seit  dem  Anfang  des  17.  Jh.  nach  französischem  Beispiel  Herr 
und  Frau  als  höfliche  Bezeichnung  der  angeredeten  Person 
gebraucht,  und  indem  dann  die  Rede  mit  dem  Pronomen  fort- 
gesetzt wurde,  ergaben  sich  Er  und  Sie  (Sing.)  als  Formen 
der  Anrede,  die  nun  für  höflicher  galten  als  das  ältere  Ihr  und 
dieses  verdrängten.  In  den  Kreisen,  die  sich  der  Schriftsprache 
bedienen,  wird  Hir  nicht  mehr  als  Anrede  einer  einzelnen 
Person  gebraucht.  Aber  auch  Er  und  Sie  haben  sich  nicht 
gehalten.  Diese  grammatisch  korrekten  singularischen  Formen 
wurden  schon  gegen  Ende  des  17.  Jh.  durch  das  pluralische 
Sie  überboten.  Grammatisch  gerechtfertigt  war  diese  Form 
nur  im  Anschluss  an  pluralische  Titel  wie  excellentiae,  stre- 
nuitates.  Strengen,  Hochwürden,  Gnaden,  Liehde?i,  wurde 
dann  aber  allgemein  üblich  und  bewirkte,  dass  bald  auch 
nominale  singularische  Subjekte,  mit  denen  Ehrerbietung  oder 
Höflichkeit  eine  Person  bezeichnet,  mit  dem  Plural  verbunden 
werden:  Se.  Majestät  haben  befohlen,  der  Herr  Doktor  sind 
ausgegangen,  gnädige  Frau  belieben  zu  scherzen.  Die  singu- 
larischen Er  und  Sie  werden  höchstens  noch  zum  Ausdruck  un- 
williger Erregung  von  einem  gebraucht,  der  sich  als  Gebieter  fühlt. 

Anm.  Folgerichtig  wurde  auch  das  Pron.  poss.  in  der  dritten 
Person  auf  den  Angeredeten  bezogen:  Ich  habe  Ihre  freundliche 
Einladung  erhalten.  Doch  ist  dieser  Gebrauch  neben  Titeln  nicht 
durchgedrung'en:  Eure  Majestät  gilt  statt  Ihr'e  {Ihro,  Dero)  Majestät. 
Blatz  2,  64, 

4.  Wenn  sich  das  Verbum  auf  mehrere  Subjekte  bezieht, 
so  kann  es  sich  nach  §  153, 5  und  Anm.  6  einem  einzelnen 
anschliessen  und  richtet  sich  dann  natürlich  nach  diesem  sowohl 


§  155.]  Kongruenz  von  Subjekt  und  Prädikat.  315 

im  Numerus  als  in  der  Person.  Fasst  man  mehrere  Subjekte 
in  einer  Pluralform  zusammen,  so  gebührt  in  der  Entscheidung 
über  die  Personalendung  der  1  Person  der  Vorrang  vor  der 
2  und  3,  der  2  vor  der  dritten;  z.  B.  Mai  79,  14  ich  und  ir 
sin  ein  lip.  Nib.  1092,  2  so  hei^  ich  dir  gehen,  da^  du  und 
dine  gesellen  vrmliche  müget  leben.  2126,  1  swenn  ir  und 
iuwer  recken  mit  strite  mich  hestät. 

Nicht  selten  aber  werden  schon  in  der  älteren  Sprache 
solche  Verbindungen  dadurch  gemieden,  dass  man  durch  Ein- 
schiebung  eines  zusammenfassenden  Pronomens  die  Kongruenz 
herstellt;  z.13.  Nib.  873,3  da  hi  wir  mügen  bekennen,  ich 
und  die  herren  min,  wer  die  besten  jegere  an  dirre  waltreise 
sin.  2030, 4  da^  lant  habt  ir  verioeiset,  du  und  ouch  die 
brüeder  diu.  Besonders  empfinden  wir  es  als  hart,  wenn  die  zweite 
Person  zugleich  auf  die  dritte  bezogen  wird,  und  fast  lieber  wird 
in  diesem  Falle  die  dritte  gebraucht,  vermutlich  deshalb,  weil  die 
Form  auf  -en,  in  der  die  1  und  3  P.  zusammengefallen  sind,  unbe- 
stimmtere Bedeutung  hat  als  die  auf  -et,  die  nur  der  2  P.  zukommt. 
Man  meidet  die  Beziehung  dieser  charakteristischen  Endung  auf 
verschiedene   Personen      Gr.  4, 199   A.     Paul  §  239, 1.     Blatz  2,  87  f. 


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1899 

3pt.1 

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Wilmanns,  Wilhelm,  1842-1911 
Deutsche  Grammatik  : 


PONTiFiCAL-    «iNiSriTUTF 

OF     MEDIAEVAL    STUOIES 

59     OUEEN'S     PARK 

Toronto   5,   Canaoa 


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