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GE Engelhorns
allgemeine
Nona Bülach
.
Gräfin Polly.
von
Palle Roſenkrantz.
— — — — — — —— —
..... 2
Engelhorns Allgemeine a Ba! der
en hellen modernen
RomanbibliotheR. romane ater vörker.
Alle vierzehn Tage eriheint ein Band.
Preis jedes Bandes 50 Pf. Eleg. in leinwand geb. 75 Pf.
(26 Bände jährlich, Geiamtpreis broſchilert 13 Mark, gebunden 19 Mark 50 Pl.)
ber „Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek” ſchrelbt der „Sambur-
gilche Eorreipondent*: Das lit ein Unternehmen, das In jeder Welle gefördert zu
werden verdient! Als vor nun mehr denn 25 Jahren die eriten roten Bände erichlenen,
mag mancher Kurzlichtige und Engherzige den Kopf geichüffelt haben über das tolle
' Wagitück, wirklich gute und wertvolle gelltige Koft zu fo bifligen Prellen zu verab-
relchen. Wenn man heute auf die 1. mggpReihe von Jahren zurücblickt, wie viel ift
da nicht ſchon erreicht! Falt Kein-k Familie, wo die foliden Bände nidıt
ihren Einzug gehalten hätten alt keine, noch Pkeja angelegte Privatbibliothek möchte
die lich fo freundlich präigg : ger N aus ihrer Mitte miſſen. Und doch,
noch gibt es viel zu f och gib. s denen dle vermoricten und ver-
rotteten Sintertreppenromg Bier wäre es Pflicht jedes Nächit-
itehenden, die giftige stelle die gelunde und durch-
weg gute Koit der „Eıtgelho liothek“ zu legen. Der glüct-
lich Geheilte wird, wenn en Selfer licher Dank willen.
[3
Die bisher erich tashiöfgenden Verzeichnis aufge-
führten Romane könng Id rend # jede Buchhandlung zum Prelle
von 50 Pfennig für Jeg broihiertep And 75 Pfennig für den ge-
bundenen Band bezogen week „
Band 1.2. Ohnet, Der Hülttenbeſitzer. — 3. Conway, Aus
Eriter Jahrgang. Nag zun ef. Heard, 3610. 6.0. Grenile, woſſ⸗
Uiffa. — 7. Aide, Vornehme Seel aft. — 8. 9. Ohnet, Gräfin Sarah. — 10. Braddon,
Unter der roten Fahne. — 11. 2 vy, Abbe Conſtantin. — 12. Perga, Ihr Gatte. —
18. 14. Reade, Ein gefährliches Geheimnis. — 16. Theuriet, Gérards Heirat. —
16. Greville, Doſia. — 17. 1 Ein heroiſches Weib. — 18. 19. Norris,
Eheglück. — 20. Rielland, Schiffer Worſe. — 21. Golombi, Ein Ideal. — 22. Conway,
Dunkle Tage. — 23. Boyefen-Spielhagen, Novellen. — 24. Yincent, Die Heimkehr der
Prinzeſſin. — 25. 26. Delpit, Ein tterherz.
Band 1. 2. Ohnet, Der Steinbruch. — 8. Lindau, Helene
Zweiter Jahrgang. Jung. — 4. Bret Harte, Maruja. — 5. Die Sozlaliſten.
D . HYaltuy, Griquette. — 7. Wilbrandt, Der Wille zum Leben. Untrennbar. —
8. Valera, Die Juuſtonen des Dr. Yauftino. — 9. 10. Sarjeon, Zu fein geſponnen. —
11. Rielland, Gift. — 12. Rielland, Fortuna. — 18. 14. Ohnet, Life Fleuron. —
15. Farina, Aus des Meeres Schaum. — 16. Frey, Auf der Woge des Glücks. —
17. 18. Kroker, Die hübſche Miß Neville. — 19. Feuillet, Die Verſtorbene. — 20. Aazler.
Mein erſtes Abenteuer u. a. G. — 21. 22. Alexander, Ihr ärgſter Feind. — 23. v. mer,
Ein Fürſtenſohn. Zerline. — 24. Brei Harte, Bon der Grenze. — 25. 26. Conway,
Eine Familiengeſchichte.
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Ein einach
Der Genius 3 ein Erb. — 18 er Er
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Das beſte Teil. — 24. 25. Conway, Leben 2 tot. — 26. de Bonnier
Familie Monach.
8 1
Lahe Kenias. — . 'oß, Kinder des Südens. — 13. — ogarzaro, Daniele Cortis.
Ser be Gy erz⸗Neune. — 16. 17. Ohnet, Sie will. — 18. v. 9 2 zogen,
Si: Sind er 2 — 19. darin, Um den 9 Ruhmes. — 20—22. Daudet,
urnett, Der kleine Lord. — 24. Cheuriet, Der Prozeß Froideville.
— 8 * ee Stella.
Zn 1. 2. Jo Robert Leicht audet. Der
Fünfter Jahrgang. 7; 1 05 ir Ouita, a RR ap
5.6 . Memint, ee ken 1 5 bill Be eilige Joſeph vermag. — 8. v. Glümer,
nen. — 9. 1 4 cn zunn — 11. ae
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En Satisfaktlon. — 16, ine 1 Die Scheinheilige. — 17. 2.
ameau. — 19. Peſchkau, Sem Regine. — 20. de 9 „Ad See
— ep 22. e Mein Sohn. — 28. Greville. Doſias Tochter. —
und ſein Weib. — 25. 26. Dandet, Numa Roumeftan.
Band 1. 2. v. Woltogen, Die tolle Komteß. — 3. de Tin-
Sechlter Jahrgang. ſeau, Eine S 1 4. Ihilips, Jack und feine drei
zur — 5. 6. Gunter, Mr. Barnes, von New Pork. — 7. Chenriet, Gertruds
Heimniß. — 8. Conway, Wunderbare Gaben. — 9. 10. Ohnet, Letzte Liebe. —
11. Voß, Die Sabinerin. — 12. Memini, Mia. — 18. 14. Croker, Diana Barrington.
— 15. u, Heigel, Der reine Thor. — 16. Pontoppidan, Ein a Junge
Liebe. — 17. 18. Dandet, Die Könige im Gy. — 19. Philips, Die verhängnisvlle
25 ne. — 20. 21. Ohnet, Sergius Panin. — 22. 7 Meta 3 —
buffen, Salonidylie. — 24. 25. Gunter, Mr. Potter aus Texas. — 26. Murray,
Ein gefährliches Werkzeug.
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Slebenter nr 85 1 e
— 5. 6. Ad, en. — 7. Port *
1 Pf.
aggard, Oberſt Quaritch. —
orpoſten u. a. Geſch. — 20. 21.
de gen, —
Verhängnis.
Ban en Band 1.2. Croker, Irgend ein — — 8. 5 5
S
Daudet, Er, 28. Der ſchwarze Koffer. — 24. we Der ln. —
aſterman, Schwer geprüft.
Bandı.2. © Im Schuldbuch des e
Neunter Jahrgang. 1 et. e — 4. ee Sen —
ker, len, iolette M. Kd — 2 ay, a
ie 9. 10, ee in u: ide. = 11 * S em
arte, In N ee a
Awiſchen Lipp' is ne 25 15. Conway — erſter Klient u. 360 5
16. de Tinſeau, Auf ſteinigen ke — 17—19. Heimatlos. — 20. v. 10 50
Baronin Müller. — 21. Mairet, In guter ou: 121 9 Echte in. Das
23. 24. Warden, Das Haus am Moor. — ao, — oder den 2
Dreißig zent. — 26. Tondouze, Des S Tagebuch.
Zehnter Jahrgang. Sem . Aullbenbunth, Tas aer W — 4 .
ee Einer 2 au. See — 2 65 ubin, Schatten. — 6. 7. a
ze Opfer, — 9. ielfen, Die Möwe. — 1
. 2 a, — Heſhichen, — 13. 14. v. Bee: Margarete
nd — 15. ant, Die Herzogstochter. — 16. Daud Briefe aus
2 iner Schwiegermutter. — er b. Roberts, N
. Lie. Hof 5 5 ti, Don Cirillos * — 23. Schul,
Jean von Kerdren. — 24. Villin auern. — 25. 26. Savage, Prinz
Schamyls Brautwerbung. y
im. — 20. Piunch. uen. — 21. 22. de erkeley
el, De Sänger. — 24. Sims, re ken, ed =
Band 1. 2. Be olzogen, Die Erbſchleicherinnen. —
Zwölfter Sairgong 3. Ottolen 1. Ber AP — 4. Claretie, Die
a und 1 e — 5. 6. 55 Dodo. — 7. Zehren, Die Brüder
erts, Revanche! — 11. Serrao, infel
rage. — 13. 14. Rameau, Das Magdalenen⸗
* M0 avage, Wandelbilder. —
17. 18. z e — 19. Jerome, Noman⸗Skudien. — 20. 9 2
Croker, Eine Familienähnlichkeit. — 23. van ide Ur
botene Frucht. 2 7 Moeller, Gold und Ehre. — 25. 26. Jota, Eine ge
Band 1. 2. Vill. leonieri. —
1 Jahrgang. Die Sagt dal lege . l.
Croker, Eine dritte 4 — 7. em Flederwiſchs Heirat. f.
*
9 ot, Ein . Ehe. — 9. 10. Gerbrandt, ſelber treu. — *
fiiher. — 12. Böhlen, Natsmädel- und Altweimariſche Geſchichten. — 13. 14. u
Die weißen Felſen. — 15. v. Heigel, Der Herr Stationschef. — 16. de 8
Reiſeabenteuer. — 17. 18. Savage, Die Hexe von Harlem. — 19. — a, Königs 1
— 20. Boyefen, Selbſtbeſtimmung. — 21. 22. Mengs, Froſt im ling. — 23.
mann, Smaragda. — 24. Croker, Lady Hildegard. — 25. 26. 485 Zu jung ge it
Band 1. 2. v. Woljogen, Der Kraft-:M —
Vierzehnter Jahrgang. 8. Böhlau, Alleinerbe Liebes⸗ und Chegeſc hren
— 4. Mathers, Das Bäschen vom Lande. — 5. 6. Ohnet, Der Pfarrer von Favisres.
— 7. ubin, Die Heimkehr. — 9. de Tinſeau, Bergeſſene Pflicht. — 10. Hymne,
Gauner-Ehre. — 11. a Amicis, er und Gymnaſtik. — 12. 13. Croker, Ein
— — 14. Bra Im Joche der Liebe. — 15. Böhlau, Verſpielte Leute. —
binfon, Die he and, — 17. 18. v. Roberts, Die ſchöne Helena. —
12 3 Der Biſchof in Not. — 20. Greville, Das Geſtändnis. — 21. 22. White,
Korruption. — 23. Vincent, Künſtlerblut. — 24. Merrick, Eine perſönliche An cht. —
25. 26. Orloffsky-Golowin, Die Nihiliſtin.
* Engelborns &
Allgemeine Roman-Bibliothek.
Eine Auswahl der besten modernen Romane
aller Völker.
26. Jahrgang. 0 Band 19.
Gräfin Polly.
Baron Palle Rosenkrantz.
Autorisierte Übertragung aus dem Dänischen
von Fr. Bernh. müller.
4 3 — —
Stuttgart 1910.
Verlag von J. Engelhorn.
— ͤ2—ù— LERLEENLERERLAL ZELL SOON LOGO! EALAL LEN OO ELDEDEGD
Authorized translation of the Danish original, published October 28rd
1907. Privilege of copyright in the United States reserved under the
Act. approved March third, nineteen hundred and five, by the author
Palle Rosenkrantz.
Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart.
Ir
915
RN
4
Einleitung.
I.
Nlſo in einer Amtsſache ſind Euer Gnaden zu
mir gekommen?“
Gräfin Polly nickte ernſthaft.
„Ja — Sie, als den Amtsrichter von Edelsburg
möchte ich ſprechen. Nur den! — Lieber Skram, es
paßt wirklich vorzüglich, daß gerade Sie hier Amts⸗
richter ſind. Mit dem alten Madſen in dieſer Sache
zu reden, wäre mir ganz unmöglich. Einfach un⸗
möglich! — Sie dagegen, lieber Skram, ſind mein
Freund, nicht wahr? — Mein getreuer Freund! — —
Alſo, um es kurz herauszuſagen: Henrik und ich haben
uns entſchloſſen, von nun an jeder ſeinen eigenen Weg
zu gehen. So lautet wohl der richtige Ausdruck dafür.“
Gräfin Polly Eiſenbart war von Geburt Amerika⸗
nerin, und Amtsrichter Skram ſagte ſich im ſtillen,
daß der fremde Akzent alles Konventionelle ihrer Worte
aufhebe.
Skram war nur infolge einer Amtsvakanz — in
Vertretung — zum Richter des Edelsburger Bezirks
ernannt worden. Er, der jetzt achtunddreißig Jahre
zählte, amtierte eigentlich als Aſſiſtent beim Juſtiz⸗
miniſterium, doch als Sohn eines Departementchefs
konnte er unbedingt auf eine gute Karriere rechnen.
Von der Gräfin Polly war er ſehr eingenommen,
was allerdings alle Männer waren — aber außerdem
ſpielte er wunderbar ſchön Cello, und die Gräfin
ſchwärmte für Muſik.
Daher rührte die Freundſchaft beider, die jetzt ſchon
einen Winter, einen Frühling und einen halben Som⸗
er
mer hindurch gewährt hatte. Es kam noch hinzu, daß
die Amtsrichterwohnung mit ihrem großen, ſchattigen
Garten dem Schloß gerade gegenüberlag und von ihm
nur durch den breiten gelbgrünen Schloßgraben ge⸗
trennt war.
Über dieſen war Gräfin Polly ſoeben in ihrem
kleinen, weißen Boot gerudert. Sie wollte ja nur in
einer Amtsſache mit dem Richter ſprechen, denn ſie
und Henrik Eiſenbart hatten, wie geſagt, ſich ent⸗
ſchloſſen, jeder ſeinen eigenen Weg zu gehen. Ihm
ſollte die Grafſchaft Edelsburg nebſt allen zugehörigen
Gütern, Wäldern, Kirchen und Zehnten — und ihr —
nun ihr ſollte ſie ſelbſt gehören, weiter nichts!
Und doch ſchien es Skram, als habe der Graf das
geringere Teil erhalten.
La belle dame sans merci nannten die Nach⸗
barn Gräfin Polly, und unter dieſer Bezeichnung war
ſie auch von einem der erſten Künſtler des Landes
gemalt worden. Eine Florentinerin, die aller Hoff-
nungen erweckte, aber nichts verſprach und daher auch
keine Verſprechen zu halten brauchte. Eine Floren⸗
tinerin, eine jener Renaiſſance-Frauen, die im heutigen
Amerika wiedergeboren ſind. Ihr Haar war bräunlich,
doch wenn die Sonne darin ſpielte, von goldigem
Glanz. Sie trug es geſcheitelt und in ſchweren Locken
geordnet, die ihr feines, ovales Geſicht umrahmten.
Ihre Augen hatten eine Farbe, die niemand recht
ergründen konnte, und ihr feingezeichneter Mund war
bald ſchwellend, bald faſt grauſam feſt geſchloſſen.
Immer trug ſie, ohne auf die Mode Rückſicht zu neh⸗
men, eine ausgeſchnittene Taille, die den ſchlanken,
weißen Hals freiließ. Ihre Hände glichen denen der
Monna Liſa, die niemand vergißt, und ihre mittelhohe
Geſtalt war recht üppig — eigentlich zu ſchwellend
für das ovale Geſicht und den ſchlanken Hals.
La belle dame sans merci!
Fremd war ſie allen Leuten dieſer Gegend geweſen,
als ſie mit achtzehn Jahren ihren Einzug auf der Edels⸗
a
burg gehalten hatte, und fremd war fie ihnen noch
heute, da ſie dem Amtsrichter Skram mit ihrem eigen⸗
artigen, ſtillen Lächeln anvertraute, daß ſie und Graf
Henrik beſchloſſen hätten, jedes ſeinen eigenen Weg
zu gehen.
Skram wunderte ſich nicht darüber. Er fragte bloß:
„Und Ivar?“
„Ivar?“ wiederholte die Gräfin. „Der iſt heute
in ſein Kollegium gereiſt — nach Herlufsholm. Dort
mag er bleiben, bis er Student geworden iſt. Er iſt
jetzt ein großer Junge von elf Jahren — und wiſſen
Sie, Skram, es iſt Henriks Junge, nicht meiner. Hen⸗
rik nahm mich nur, um eine Mutter für ſeinen Jungen
zu haben, noch ehe dieſer geboren war. Der Stamm⸗
halter — das war meine erſte Pflicht, und die habe
ich erfüllt. Ich habe dem Jungen ſelbſt die Bruſt
gegeben und gut auf ihn geachtet, fo lange er klein
war, denn wir Amerikanerinnen können auch gute
Mütter fein. Aber jetzt iſt Jvar nur der Stammhalter —
Henriks Junge. Und das mag er meinetwegen auch
bleiben. — Er kümmert ſich auch gar nicht um ſeine
Mutter. Und Sie wiſſen ja, ich mache mir auch nicht
viel aus Kindern.“
Das wußte Skram.
„Ich bin jetzt dreißig Jahre alt,“ fuhr die Gräfin
fort und lächelte dabei etwas müde, — „dreißig Jahre,
das heißt, ich habe keine Zeit zu verlieren. Denn ich
will leben — wirklich leben. Henrik hat mir meine
Freiheit gegeben, und nun komme ich zu Ihnen. Sie
haben ja mit allen meinen Sachen zu tun gehabt —
wenn mir die Dienſtboten weggelaufen oder wenn
meine Hunde über die Grenze gegangen waren.“
Skram nickte.
„Ich werde eine ſogenannte weltliche Vermittlung
vornehmen und —“
Die Gräfin unterbrach ihn: „Und ein Geſuch oder,
wie es heißt, an den Miniſter ſchreiben. Der Miniſter
iſt mein Freund, er ſchlägt mir keinen Wunſch ab.
3 8
Und Sie, lieber Skram — Sie tun ja wohl auch alles,
worum ich Sie bitte.“
Skram lächelte.
„Ich werde die Vermittlung mit aller amtsmäßigen
Energie vornehmen.“
„Das iſt gar nicht einmal nötig. Henrik und ich
ſind ja einig. Wäre ich älter, dann würde ich viel⸗
leicht bleiben. Hier iſt es ja ſchön, und die Menſchen
ſind gut. Auch habe ich mich an dies Land gewöhnt und
liebe die Edelsburg. Aber das Leben ruft, Skram —
um mein Leben laß ich mich nicht betrügen. Bis jetzt
habe ich nicht einen einzigen Tag wirklich gelebt —
es hat keinen Tag für mich gegeben, an dem ich ein
richtiger Menſch ſein durfte, keinen einzigen! — — —
Doch das habe ich Ihnen gewiß ſchon hundertmal er⸗
zählt.“
„Und ich bin —“
Die Gräfin ergriff Skrams Hand und drückte ſie leicht.
„Sie, lieber Skram, ſind verliebt in mich geweſen,
als der nette, wohlerzogene Juriſt, der Sie ſind. Ohne
Sie wäre ich geſtorben im letzten Winter, als Onkel
Julius' Tod uns zwang, uns hier niederzulaſſen. Ich
bin Ihnen herzlich dankbar, lieber Skram. Ihre Ver⸗
liebtheit hat mich recht erwärmt. Ja, das hat ſie wirk⸗
lich, ich wäre ſonſt geſtorben vor Kälte. Sie ſehen,
Sie haben auf zweifache Art mein Leben gerettet.
Nun ſollen Sie mich noch einmal retten.“
Die Hand der Gräfin lag in der ſeinen; er führte
ſie an ſeine Lippen.
Sie lachte.
„Armer Skram, Sie ſind wirklich verliebt. Zürnen
Sie nicht, daß ich es ſage, aber verliebt in mich ſind
alle. Auch Henrik — der arme Henrik! Es hilft ja
alles nichts — kein bißchen.“
„La belle dame sans merci,“ ſagte Skram, dem
jetzt wirklich warm geworden war.
Die Gräfin ließ wieder ihr kurzes, klingendes Lachen
hören.
ER re
„Ich werde Ihr Cello ſehr vermiſſen,“ ſagte fie
dann. „Aber wiſſen Sie, Skram, zu Ihrem eigenen
Nutzen will ich Ihnen ſagen, daß Sie noch ein andres
Inſtrument erlernen müſſen, wenn Sie Ihr Dafein
nicht als Hageſtolz beſchließen wollen. Könnten Sie
ebenſo ſchön, wie Sie Cello ſpielen, auch Violine
ſpielen, dann, glaube ich, hätte ich mich wirklich in
Sie verliebt. Tolſtoj redet von der gefährlichen Violine
— und Tolſtoj hat recht. Denn als Duett für Klavier
und Cello konnte ſelbſt die Kreuzerſonate nicht gefähr⸗
lich werden. Nicht wahr, Skram?“
Und die Gräfin lachte wieder — leiſe, mit etwas
neckendem Beiklang.
„Doch nun genug der Dummheiten. Der Ernſt
tritt wieder in ſein Recht, und Sie ſind wieder der
ſteife Amtsrichter, der die Diebs⸗ und Mordgeſellen
verhört, wenn es ſolche Leute in dieſem ſittſamen Lande
gibt. Henrik und ich wollen, wie geſagt, geſchieden
werden, und Sie ſind derjenige, der dafür ſorgen ſoll.
So will auch Henrik es haben.“
„Werden Sie dann verreiſen, Gräfin?“
„Verreiſen? — Ja, gewiß. Nach Paris.“
„Allein?“
Die Gräfin zog die Brauen zuſammen. „Ich will
Sie darauf aufmerkſam machen, daß dieſes hier eine
Vertrauensſache iſt, aber Sie müſſen mich nicht fragen,
was ich in Zukunft zu tun gedenke; denn das ſage ich
nicht. Und fo viel wiſſen Sie ſchon von mir, Skram,
daß wenn ich etwas nicht ſagen will, ich es auch nie
und nimmer ſage, ſelbſt wenn man mich auf ein glühen⸗
des Eiſen legte.“
Das wußte Skram — Gräfin Polly war ſtärker
als alle Menſchen, die er getroffen hatte — einen viel⸗
leicht ausgenommen: Helmut Viffert.
Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf.
„Reiſt Helmut Viffert mit nach Paris?“
Die Gräfin erhob ſich haſtig.
„Sagen Sie das noch einmal, und ich reiſe auf
2.
der Stelle nach Kopenhagen und laſſe alles von dem
alten, pedantiſchen Advokaten ordnen. Über meine
Vergangenheit wiſſen Sie nichts, Skram, die Gegen⸗
wart kennen Sie — meine Zukunft aber gehört mir,
mir allein!“
„Vergebung,“ ſagte Skram. Er begriff, daß das,
was ſie ſagte, ihr ernſt war. „Ich muß nur noch der Form
wegen wiſſen, warum Sie von Ihrem Manne getrennt
zu werden wünſchen. Es iſt nur eine Formſache.“
Gräfin Polly lächelte. „Das Ganze war ja nur
eine Formſache — meine Heirat mit Henrik ſelbſt.
Ich wollte gern Gräfin ſein, und wenn der Name
Eiſenbart auch wunderlich klingt, ſo iſt er doch alt und
angeſehen. Die Edelsburg iſt auch alt und angeſehen.
Freilich — hätte ich gewußt, wie entſetzlich ſie ausſah,
ehe ich Henrik veranlaſſen konnte, ſie umzubauen, ſo
glaube ich kaum, daß ich ihn genommen hätte. Aber
ich war damals krank an jenem ... jenem . .. nun,
Sie kennen es nicht . . . und fo nahm ich Henrik ſchließ⸗
lich. Es war alles nur eine Formſache. — Henrik iſt
ſtets unendlich gut gegen mich geweſen, viel zu gut.
Und doch kann es nicht helfen. Schließlich iſt der
Stammhalter auch das Wichtigſte für ihn, und da
Henrik erſt ſechsunddreißig Jahre alt iſt, ſo kann er ſich
ja noch einmal verheiraten.“
„Ihr Herr Gemahl liebt Sie doch aber, Gräfin,“
ſagte Skram ernſt. „Und das wiſſen Sie recht gut.“
Die Gräfin zuckte die Achſeln. „Das tun Sie ja
auch, Skram, das tun ja alle zuſammen — haben es
immer getan. Nur ich — ich ſelbſt habe noch nie — —“
Sie errötete leicht und ſchwieg.
Skram wagte nicht, etwas zu ſagen. — — —
In dieſem Augenblick klopfte es an der Tür, und
ein Sekretär trat ein; er war aus dem Bureau des
Richters gekommen, das dem Gartenzimmer gegen⸗
überlag.
„Herr Kammerjunker Viffert möchte um eine Unter⸗
redung bitten,“ beſtellte er.
M
„Erſuchen Sie ihn, noch einen Augenblick zu
warten.“
„Aber ſagen Sie ihm nicht, daß ich hier bin, Holm,“
fiel die Gräfin ein.
Sekretär Holm verbeugte ſich tief und verließ das
Zimmer.
„Nun geh' ich, Skram, denſelben Weg, den ich ge⸗
kommen bin — über den See. Verſprechen Sie mir,
Helmut kein Wort von dem zu ſagen, was ich mit Ihnen
geredet habe, und erzählen Sie mir alles, was er Ihnen
ſagt. Sie kommen doch heute zu uns zum Abendeſſen,
nicht wahr? Nun gut, es wird eine Art Abſchieds⸗
ſchmaus ſein, denn ich reiſe ja bald. Mit dem Pfarrer
habe ich ſchon geſprochen; der alte Faſelhans ſagte
nichts dazu, und die weltliche Vermittlung können wir
gut nach dem Kaffee vornehmen! Ich bin ſehr aus⸗
gelaſſen, nicht wahr? Ja, das rührt daher, daß jetzt
alles vorbei iſt — vorbei!“
Und damit reichte Gräfin Polly dem Richter die
Hand, die Skram zweimal küßte.
Das war ſein Recht.
Dann ſchritt ſie leichtfüßig über den Raſen zu den
hängenden Weiden hinab, wo ihr Boot lag.
Sie löſte es los und ruderte zum Schloß hinüber,
das ſich im gelbgrünen Waſſer widerſpiegelte.
Skram hörte, wie ſie beim Rudern ſang. Es ſchien
ihm die Jubelarie aus dem Fauſt zu fein. — —
II.
Es dauerte einige Zeit, bis das Boot der Gräfin
aus dem kleinen Kanal in den breiten Teich, der vor
dem Schloſſe lag, geglitten war und hinter den hängen⸗
den Weiden verſchwand.
Skram ſtand, ans Fenſterkreuz gelehnt, und ſtarrte
zur Edelsburg hinüber.
Alſo wirklich Scheidung! Nun hatte Graf Henrik
ſeine Zuſtimmung gegeben, und nun war es vorbei —
vorbei! Auch für Skram. Nun zog ſie hinaus in die
große, weite Welt, und er — er konnte in die Haupt⸗
ſtadt zurückkehren, in ſeine Kanzlei und zu den gelben
Konzeptbogen — den ihm ſo unſäglich gleichgültigen
Akten.
Die Edelsburg war ein Traum, und der Traum
war nun zu Ende.
Warum geſchah es eigentlich gerade jetzt? Sie
erlaubte ihm nicht, danach zu fragen, und er wußte
nichts von all den Dingen. Nur für ſie hatte er Augen
gehabt — um die andern ſich nie gekümmert.
Der Kammerjunker Viffert wartete draußen? —
Nun, mochte er noch länger warten.
Sollte es am Ende Viffert ſein, um deſſen willen
die Gräfin ... aber nein, das war ja unmöglich —
Solch ein halbergrauter Cyniker! Warum ſollte es dann
auch gerade jetzt geſchehen? Die Leute erzählten ſich
doch, daß ſeine Bekanntſchaft mit ihr älter ſei als ihre
Ehe. Und dann konnte fie unmöglich ... nein, es
war unmöglich.
Oder war es vielleicht der junge Viffert, der Neffe
des Kammerjunkers, der kürzlich den Waldhof gepachtet
hatte? Der war freilich jung und ein ſchöner Mann,
aber immerhin recht unbedeutend, zum Schweigen ge⸗
neigt, ein richtiger Landjunker. Die beiden ſprachen
auch niemals miteinander. Sigismund Viffert konnte
gewiß überhaupt nicht reden; er war wie befangen
und von der ſchönen Schloßfrau geblendet. Das waren
ſie allerdings alle, auch Graf Henrik, der ſie dennoch
freigab — ſie ziehen ließ, wohin ſie wollte.
Dort lag die Edelsburg, vom Sonnenlicht über-
flutet — die Edelsburg mit den ſchweren roten Mauern
und dem grünen Kupferdach, das lehensgräfliche Schloß.
Dort war ihr Hof, an dem ſich der ganze Bezirk ver⸗
ſammelte und ihr wie einer ungekrönten Königin
huldigte — ihr, der ehemaligen Miß Bradlaugh, einer
jungen amerikaniſchen Schönheit, über deren Geſchichte
man tuſchelte, ohne ſie zu kennen — der Gräfin auf
1
der Edelsburg, die alles Gerede in den Winkel drängte
und überall an der Spitze ſtand — der Königin, die
freiwillig ihr Szepter niederlegen wollte, um ihr Leben
wirklich leben zu können. —
Die grünen, hängenden Weiden umgaben wie ein
Rahmen die roten Mauern des Schloſſes, die ſich im
gelbgrünen Schloßgraben goldfarbig widerſpiegelten.
Nach der Sage ſoll die Burg von der ſchönen Jung⸗
frau Edel Eiſenbart, der Maitreſſe des Königs Hans,
erbaut worden ſein. Edel Eiſenbart war die Jungfer
der Königin Chriſtina, bis ſie Herrn Torbe Bille hei⸗
ratete, der durch ſie ein großer Mann wurde. Herr
Torbe Bille war ſehr duldſam und mochte die Huld
ſeines Königs nicht entbehren. Daher war König Hans
oft ſein und Frau Edels Gaſt auf Vordingborg. Wie
die Sage berichtet, ſtand König Hans, als Frau Edel
auf dem Siechenbett lag, an ihrer Seite, und als ſie
mit ihm von ihren Gewiſſensqualen ſprach, ſagte der
König: „Edel warſt du im Leben, und edel biſt du
auch im Tod.“
Wie die Sage meldet, hat Frau Edel die Edelsburg
aus den Einnahmen der Güter gebaut, die ſie vom
König zum Geſchenk erhalten hatte. Ihr Geſchlecht
war freilich zum Adelsſtande nicht geeignet, denn ihre
Mutter war nur die Tochter eines Goldſchmiedes aus
Neſtved geweſen; aber zu ſpäterer Zeit wurde einer
ihrer Nachkommen in den Grafenſtand erhoben und
die Edelsburg ihm als Grafſchaft verliehen.
Das zugehörige Gut war ſehr groß, und nichts
von ihm war während der langen Zeit veräußert
worden. Außerdem gehörten noch etwa fünftauſend
Morgen Waldland und zwölf prächtige Kirchen dazu.
Graf Henriks Vater war ein großer Mann geweſen,
einer der größten des Reiches, Graf Henrik ſelbſt aber
war nur groß von Wuchs, breitſchultrig und ſtark, und
dabei ſehr ſanften Gemütes. Er war die gute Stunde
ſelbſt, wie man ſagt, aber anderſeits ſchwerfällig und un⸗
fähig, den Frauen zu gefallen. Er liebte ſeine Gattin
12
herzlich und näherte ſich ihr nur in tiefer Ergeben⸗
heit, als wäre ſie von feinerem Stoffe als er.
Und dann hatte er ſie freigegeben, damit ſie nach
zwölfjähriger Ehe ihr Leben genießen könne! — —
Skram wandte ſich raſch um und ſchritt zur Tür,
die ins Amtszimmer führte.
Der Kammerjunker erhob ſich; er hatte ſo lange
auf einem Stuhl am Pulte geſeſſen und mit dem
Sekretär über Wind und Wetter geredet.
„Treten Sie näher, Herr Kammerjunker,“ ſagte
Skram.
Und der Kammerjunker trat näher. — —
Es gibt Männer, die ein langes Leben in den
angenehmſten Verhältniſſen zubringen, die vom Reich⸗
tum bis zum Überfluß umgeben ſind und nur daran
denken, dieſes Leben für ſich allein zu genießen. Solche
Männer verheiraten ſich nie; ſie lieben viele Weiber
ein wenig und ſich ſelbſt über alle Maßen. Sie kleiden
ſich nach den letzten Forderungen der Mode, tragen
goldene Ringe und Diamanten, reiſen viel — aber
ſehen ſelten mehr als Hotels und Boudoire. Sie wiſſen
viel über einige wenige, aber nichts über die vielen,
und alles; was außerhalb ihres Intereſſenkreiſes lebt,
exiſtiert nicht für fie. Sie arbeiten nicht; wenn man
hoch rechnet, jagen ſie und ſpielen Karten oder wetten
auf Vollblutpferde. Dennoch aber ſind ſie immer ge⸗
ſchäftig, ſo geſchäftig, daß ſie einen Kammerdiener
haben müſſen, der ihnen in die Kleider hilft. Mit⸗
unter ſpielen ſie auch an der Börſe, aber nur, um
Geld zu gewinnen, und nichts von ihrem ganzen Tun
gereicht der Menſchheit zum Nutzen. Höchſtens, daß
ſie ein paar Schneider ernähren, ein paar Aufwärter
und einige leichtfertige Weiber, die auf ihre Koſten
herrlich und in Freuden leben.
Und wenn ſie ſterben, gedenkt niemand ihrer, ob⸗
wohl ſie zu Lebzeiten von jedermann gekannt wurden.
Ihre Güter fallen entfernten Verwandten zu, die
ſchon ſeit Jahren auf ihren Tag gewartet haben, auf
— 13
den Tod, den ſie ſelbſt ſeit langem fürchten und be⸗
kämpfen.
Solch ein Mann war der Kammerjunker Helmut
von Viffert. Er war Däne, hätte aber ſeiner Geſinnung
nach auch ebenſogut Ruſſe oder Franzoſe ſein können.
Er war mittelgroß, ſchlank und elegant und trug
einen ſtarken ſchwarzen Schnurrbart, der im Verhält-
nis zu dem dünnen, zierlich geordneten Haar und den
etwas gerunzelten, ſchlaffen Zügen viel zu ſchwarz
erſchien. Seine krumme Naſe beugte ſich mit feinen
Flügeln über dieſen kohlſchwarzen Schnurrbart hinab,
und ſeine braunen Augen rollten unter dichten Brauen.
Ein Eſterhazy⸗Typus, wie man ihn in Monte Carlo
ſowie — bei den Kellnern der großen Londoner Weſt⸗
endreſtaurants findet.
Viffert hatte es verſtanden, ſich ſein Leben ein⸗
zurichten. Er, der Sohn eines ziemlich armen Guts⸗
beſitzers, war in ſeiner Jugend wegen der ſchlechten
Streiche, die er verübt hatte, nach Amerika geſchickt
worden. Hier debutierte er zunächſt als Cowboy, durch⸗
forſchte dann die Silberminen und wurde ſchließlich
Abenteurer in New Pork. Er verſtand damals ſchon,
mit Frauen umzugehen, und die Frauen würdigten
ihn ihrer Aufmerkſamkeit. Eines ſchönen Tages war
er reich, und er wußte ſeinen Reichtum feſtzuhalten.
Er reiſte nach Europa und lebte eine Reihe von Jahren
hindurch in Paris. Aus Höflichkeit machte man ihn
zum Kammerjunker, und das war er bis auf den heutigen
Tag geblieben. Er hatte keinen Ehrgeiz, ſondern nur
eine gewiſſe Gemächlichkeit, grenzenloſen Egoismus
und ſchließlich eine wahre Manie für ſeine Kleidung.
Graf Henrik, der mehrere Jahre jünger war als
er, hatte ihn in Paris getroffen, und die beiden waren
Freunde geworden. Den jungen Grafen, der als neu⸗
gebackener Kandidat juris an die Geſandtſchaft in Paris
berufen worden war, hatten Vifferts Lebensweiſe und
deſſen Manieren höchlich geblendet, und Viffert hatte
ſofort den Vorſatz gefaßt, den jungen Grafen gründ⸗
a
lich zu verderben. Dies war ihm aber nur zur Hälfte
gelungen: Graf Henrik hatte ſich verheiratet, und
Viffert war Hausfreund auf Edelsburg geworden,
ja mehr als das, behaupteten böſe Zungen, und man
redete heimlich über mancherlei, ohne etwas beweiſen
zu können. Viffert hatte jedenfalls auf Edelsburg
ſeine eigenen Zimmer, in denen er ſich häuslich ein⸗
richtete, und mit jedem Jahr wurde ſein Aufenthalt
länger. Schließlich rechnete man ihn zum Hauſe mit,
und der Stammhalter nannte ihn Onkel.
Man erzählte ſich, daß Graf Henrik verdroſſen über
ihn und ſeinen ewigen Beſuch ſei; der Gräfin dagegen,
fo hieß es, diene er als maitre de plaisir. Auf Wein
und gutes Eſſen verſtand er ſich jedenfalls vortrefflich,
und einen Kotillon konnte er anführen wie keiner.
Und die Gräfin, die viel unter der Langweile zu
leiden hatte, tanzte doch für ihr Leben gern. — —
„Nehmen Sie Platz, Herr Kammerjunker,“ ſagte
Skram und ſchob Viffert einen Stuhl zu.
Der Kammerjunker rückte unruhig auf ſeinem Sitz
herum; er fand ihn verteufelt hart, denn das Möbel
ſtammte aus der Werkſtatt des Dorftiſchlers.
„Liebe Obrigkeit,“ ſagte Viffert. „Ich komme in
einer ſehr ernſten Sache zu Ihnen. Es iſt nämlich
ein ganz verteufeltes Gefühl zu wiſſen, daß man das
Spiel abbrechen muß, obwohl man noch Einſatz hat
und ſehr gut weiß, daß die andern vergnügt weiter⸗
ſpielen werden. Aber was iſt da zu machen? Enfin
c’est inévitable. Um es kurz zu ſagen: hier innen
klopft es. Der Profeſſor nennt es mit dem geſchmack⸗
vollen Namen Arterioſkleroſe, und es äußert ſich da-
durch, daß das Lebenslicht mit einem Male ausgeht,
ohne daß man recht weiß, wie! Alſo muß man jeder⸗
zeit darauf vorbereitet ſein, aus dieſem Leben abzu⸗
reiſen, was ein recht verteufeltes Gefühl iſt. Geſetzt
den Fall, es paſſiert gerade an einem — ſagen wir —
intimen Ort — — ekelhaft, was? Ich kann es nicht
laſſen, immer wieder daran zu denken, und das raubt
— 15 —
mir den ſo nötigen Appetit und die leider abſolut not⸗
wendige Andacht. Um es noch kürzer zu ſagen: ich
will mein Teſtament machen.“
„Ah,“ ſagte Skram.
„Jawohl,“ fuhr Viffert fort. „Ich möchte nach
meinem Tode gern ein Wort mitzureden haben, wenn
die Beute geteilt wird. Ich beſitze einiges Vermögen,
wovon den verhungerten Eſeln aus dem Geſchlechte
der Viffert nicht ein Groſchen zuteil werden ſoll.
Als es vor Zeiten ſchlecht mit mir ging, ſind ſie ſo
ſchofel gegen mich geweſen, wie ſie nur konnten, und
als es dann aufwärts mit mir ging, ſind ſie vor mir
gekrochen. Sie haſſen mich, und ich — ich verachte
fie. Je les méprise — voilä tout!“
„Hm, Sie können über Ihr Vermögen verfügen,
wie Sie wollen,“ ſagte Skram. „Sie haben ja weder
Frau noch Kinder.“
„Nein, wenigſtens keine ehelichen Kinder,“ ſagte
der Kammerjunker lachend. „Und die unehelichen ſind
bereits bar ausbezahlt worden — Plebejer ſämtlicher
Nationen. Die zählen nicht mit. Aber ich möchte
nun gern wiſſen, ob man in ſeinem Teſtament alles
beſtimmen kann, wozu man Luſt verſpürt.“
„Wenn es nicht gegen Geſetz und Ehrbarkeit ver⸗
ſtößt — gewiß. Und ich nehme nicht an, daß Sie,
Herr Kammerjunker, gegen Geſetz und Ehrbarkeit ver⸗
ſtoßen wollen.“
„Durchaus nicht; fällt mir gar nicht ein. — Sie
wiſſen wohl, als Seine Majeſtät der Satan alt wurde,
da ging er in ein Kloſter. Das tue ich nun nicht, oh,
nein, jamais — es müßte denn ein Nonnenkloſter ſein.
Ich bleibe vielmehr dem Geſetz und der Ehrbarkeit
treu und — — vermache der Gräfin Polly alles, was
ich beſitze! Eines Tages nämlich — das weiß ich ganz
genau — wird ſie ihrem gräflichen Gefängnis ent⸗
ſpringen, und dann, will ich, ſoll ſie die gewohnten
Bequemlichkeiten nicht zu entbehren brauchen.“
Skram fuhr zuſammen.
= 16
„Jawohl, mon cher,“ fuhr der Kammerjunker fort,
„ſie entſpringt dem Käfig, bricht einfach aus und läuft
fort — nicht allein — auch nicht etwa mit Ihnen —
o nein, ſondern mit einem ganz jungen Bürſchchen
von glattem Angeſicht und ſo weiter.“
„Wollen Sie dieſen Ausbruch als eine Klauſel mit
in das Teſtament aufnehmen laſſen. Er kommt einem
Verſtoß gegen die Ehrbarkeit doch ſehr nahe.“ Skram
verſuchte zu lächeln, aber ſein Lächeln fiel etwas bitter
aus.
„Keineswegs,“ ſagte Viffert. „Hören Sie bloß zu
und ſchlagen Sie ſich im übrigen die Gräfin aus dem
Sinn. Denn Sie, liebe Obrigkeit, ſind zu däniſch in
Ihrer Art, und Polly wird niemals däniſch werden,
wenigſtens nicht mit Ihnen. Nein, ſehen Sie, ich will
Sie bitten, für mich ein Teſtament aufzuſetzen, wonach
die Gräfin meine Univerſalerbin wird, ſelbſtredend mit
der Verpflichtung, für meine Grabſtätte und das Obſe⸗
quium, ſowie für — meine letzte kleine Eroberung zu
ſorgen. Doch eine Bedingung iſt an die Univerſal⸗
erbſchaft geknüpft: die Gräfin darf ſich niemals —
nun paſſen Sie auf, jetzt kommt's — mit Sigismund
verheiraten.“
Skram ſtutzte.
Viffert lachte. „Ja, da ſtutzen Sie, liebe Obrig⸗
keit. Mais c'est vrai. Sie beſitzen nicht ſolche Augen,
wie ich ſie habe; denn wo es ſich um Frauenzimmer
handelt, da hab' ich förmlich einen ſechſten Sinn. Ich
durchſchaue ſie ganz und gar, dieſe ſüßen Aſer. Das
habe ich ſchon immer gekonnt, weswegen ſie mich auch
niemals haben betrügen können. Keine einzige —
Polly auch nicht. Wenn ſie alſo wirklich die Dumm⸗
heit begehen ſollte, Sigismund zu heiraten, ſo erbt
ſie nichts.“
„Wer erbt denn dann?“ fragte Skram mit etwas
heiſerer Stimme.
„Dann — dann wird der Batzen geteilt. Er beträgt
etwa ſechs⸗ bis ſiebenhunderttauſend — ja, ſo viel iſt
— HT
es — und wird in drei gleich große Teile zerlegt.
Henrik bekommt einen — das wird ihn ärgern und die
Vifferts erboßen; Leonie — Sie wiſſen doch, die kleine,
flinke franzöſiſche Zofe der Gräfin bekommt den zwei⸗
ten Teil, denn ſie iſt meine letzte Eroberung. Ich weiß
allerdings ſehr gut, daß ich ſie mit Henriks Kammer⸗
diener, Herrn Jörgen Madſen, habe teilen müſſen, aber
wenn auch. Die beiden werden rein närriſch über
das viele Geld ſein. Den Reſt ſchließlich löſen wir
in eine unendliche Reihe von winzigen Legaten auf,
ſo daß er ſozuſagen ganz verſchwindet.“
„Wann ſoll das Teſtament denn fertig ſein?“ fragte
Skram geſchäftsmäßig.
„Am liebſten wäre es mir, wenn es ſchon morgen
fertig ſein könnte. Ich reiſe nämlich nächſtens nach
Aix les Bains, um meine Gicht los zu werden, und
der Teufel mag wiſſen, ob ich jemals zurückkehre. Die
Arterioſkleroſe iſt eine ſchlimme Sache, und ich jappe
mitunter ganz verwünſcht nach Luft.“
„Wohl beſonders nach Jagdanſtrengungen,“ ſagte
Skram, um überhaupt etwas zu ſagen.
„Ich gehe nicht mehr auf die Jagd,“ verſetzte Viffert
ernſt. „Wiſſen Sie, es iſt komiſch, aber ich kann geladene
Schußwaffen nicht leiden. Seit den letzten Jahren
habe ich immer ſo ein merkwürdiges Gefühl: ich fürchte,
daß ich mich noch eines Tages erſchießen, oder vom
vierten Stock zum Fenſter hinausſtürzen oder vor eine
Lokomotive werfen könnte. Wiſſen Sie, das iſt eine
ganz verteufelte Sache, dieſe beſtändige Furcht, Selbſt⸗
mord zu begehen, und es bewirkt, daß ich mich nicht
einmal mehr ſelbſt raſiere. Ich verſpüre nicht die
geringſte Neigung, mir mit einem Barbiermeſſer den
Hals abzuſchneiden, und dennoch fürchte ich, daß ich
es tun könnte. Ja, Sie lachen darüber, aber für mich
iſt es durchaus nicht ſpaßhaft, vielmehr habe ich ganz ent⸗
ſetzlich darunter zu leiden. Wenn es nicht ganz gegen
die Mode wäre, ließe ich mir einen Vollbart ſtehen
wie der nächſte Bauernknecht. Gegen Barbiermeſſer
XXVI. 19. 2
— 18
hege ich geradezu Haß. Natürlich wird man auf dieſe
Weiſe ſchließlich nichts andres als ein Idiot, und die
Arterioſkleroſe hat ſomit möglicherweiſe die höhere Be⸗
ſtimmung, einen davor zu retten, ſich ganz und gar
lächerlich zu machen. Denn das wäre in der Tat nicht
übel, wenn ich, der alles für ſeine Geſundheit tut und
ein kleines Vermögen für Badereiſen ausgibt, mir das
Leben nähme. Und doch bin ich ſo: ich fürchte für
mein eigenes koſtbares Leben und zittere gleichzeitig
vor meinen etwaigen Selbſtmordsattentaten. Darum
gehe ich auch nicht mehr auf die Jagd. Jawohl. —
C'est ridicule.“ Und der Kammerjunker lachte mit
trockener, heiſerer Stimme.
Skram zuckte die Achſeln.
„Sie meinen, es ſei Paralyſe im Anfangsſtadium?“
fuhr Viffert fort. „Nun, meinetwegen; jedenfalls iſt es
Zeit, an ſein Teſtament zu denken.“
Viffert erhob ſich — elegant, elaſtiſch, trotz der
ſchlaffen Züge. Nur gegen fünfzig Jahre alt und
dennoch ſchon — fertig.
Dies war Skrams Gedanke, den er aber nicht ver⸗
lauten ließ. Er verſtand wohl zu ſchweigen, und der
Kammerjunker intereſſierte ihn ſchließlich auch nur als
pſychopathiſches Phänomen.
„Herr Kammerjunker,“ ſagte er, „meinen Sie
aber nicht auch, daß man ſich arg darüber aufhalten
wird, wenn Sie Gräfin Polly zur Univerſalerbin ein⸗
ſetzen?“
„Mag man nur,“ verſetzte Viffert mit philoſophi⸗
ſcher Ruhe. „Mich geniert es nicht, denn ich bin dann
ja tot, und ſchließlich kann es auch nur meiner Eitelkeit
ſchmeicheln. O, Sie hätten ſie bloß vor dreizehn bis
vierzehn Jahren in Paris gekannt haben ſollen! Mer-
veilleuse! Eine Friſche, ein Teint; als Mädchen, ver⸗
ſtehen Sie, noch in der Blüte — einzig und allein
darum hab' ich nicht vergebens gelebt! Jetzt, lieber
Freund — kein Vergleich — und dennoch — dieſe ver⸗
wünſchte Arterioſkleroſe, die iſt ihre Schuld, verſtehen
N
Sie, nur ihre. Denn es gibt keine Mannsleute, deren
Herzklappen die excitation aushalten können.“
Skram verſpürte größte Luſt, dieſen Cyniker beim
Genick zu nehmen, doch bezwang er ſich und ſagte
kurz: „Wenn Sie die Gräfin Polly als junges Mädchen
gekannt haben, warum haben Sie ſie denn nicht ge⸗
heiratet?“
„Das will ich Ihnen erklären, lieber Freund,“ ver⸗
ſetzte Viffert ſchmunzelnd. „Es iſt von jeher mein
Prinzip geweſen, wenn ich ein ſchönes junges Mädchen
traf, es wenn möglich mit einem meiner Freunde zu
verheiraten. That is so convenient, you know, und
ſpart einem eine gewaltige Menge Schererei. Man
hat dann nichts zu tun, als die reinen Freuden zu ge⸗
nießen. Nun wiſſen Sie es. Setzen Sie demnach
hübſch das Teſtament auf. Und nun au revoir.“
Der Kammerjunker ging, und Skram riß hinter
ihm Türen und Fenſter weit auf.
Dann ſtand er lange da und ſtarrte zur Edelsburg
hinüber. Dieſer Lebemann war nicht der König Hans
der Sage — nein, das war er in Wirklichkeit, der die
Frau auf Edelsburg beſuchte. — Aber war es nicht
mehr als ein Zufall, daß jener an demſelben Tage die
Ausfertigung eines Teſtaments verlangte, an dem die
Frau ihm, als der Obrigkeit, anvertraute, daß ſie ihrer
eigenen Wege gehen wolle?
Und war am Ende noch ein Dritter dabei beteiligt?
„Verſprechen Sie mir, ihm kein Wort von dem zu
ſagen, was ich geredet habe, und ſagen Sie mir alles,
was er Ihnen ſagt.“ Das waren ihre Worte geweſen.
So lautete ihre Order.
Und Skram beſchloß, ihr zu gehorchen, ſoweit es
ſich mit ſeiner Amtspflicht vereinbaren ließ.
III.
Gräfin Polly hatte einſt begehrt, daß die Edelsburg
umgebaut werde, denn dieſe war ein pittoreskes,
a0
halbverfallenes Raubneſt geweſen, von dem nur die
Hälfte bewohnbar war. Graf Henrik hatte das
Schloß durch einen hervorragenden Architekten nach
den Angaben ſeiner Gattin umbauen laſſen und es
im vollendeten Renaiſſanceſtil wiederhergeſtellt. Auf
die Bewohnbarkeit war beſonders Rückſicht genommen
worden, und die neue Edelsburg ſtellte ſomit einen
kleinen Wunderbau dar.
Beſonders prächtig war der Speiſeſaal. Die Balken
der Decke waren mit reichem Schnitzwerk geſchmückt, das
Wappenſchilde und Figuren bildete; alles war ſchwer
vergoldet oder nach Art des Ratshauſes zu Siena
bemalt. Die Wandſtücke zwiſchen den Fenſtern beſtanden
aus altertümlichem Kirchengetäfel, das man von über⸗
all her zuſammengetragen hatte; in Mannshöhe lief
ein breites Geſims an den Wänden entlang, und ſeltene
venezianiſche Gläſer, Rheinweinkruken und ſchwere
Silberpokale ſtanden darauf. Die Tapete aus echtem
Goldleder war kaum zu ſehen, da rings an den Wänden
die Bilder der früheren Beſitzer der Edelsburg hingen —
teils Originale aus flämiſcher Schule — teils Kopieen
von Galeriebildern, ſowie echte Jens Juelſche Werke.
Zwei mächtige florentiniſche Kronleuchter hingen
von der Decke herab, die dadurch in drei Abſchnitte ge⸗
teilt wurde. Das große bunte Glasfenſter, das am
Ende des Saales gegen Süden ging, war nach der
Zeichnung eines Malers — einer Kopie des Altar⸗
bildes der Kirche zu Odenſe — in New Pork ange-
fertigt worden und ſtellte den König Hans mit der
Königin Chriſtina und ihren Kindern dar. Die blei⸗
gefaßten Scheiben mit ihren bunten Farben ließen das
Licht kirchenartig hereinfallen und verliehen dem Saal
etwas Ernſtes, Erhabenes.
Der Tiſch, der in der Mitte des Saales unter den
Kronleuchtern ſtand, war an dieſem Nachmittag zum
Sechsuhrdiner gedeckt worden. Zu den vier gegen
Weſten gehenden Fenſtern ſandte die Sonne ihre
grellen, vom Widerſchein des Grabens verſtärkten
Strahlen herein. Außer den zum Haufe gehörenden
Dienern waren nur der Graf, die Gräfin, die beiden
Vifferts, Skram und der Kreisarzt Kühn — er ſelbſt
nannte ſich Hofarzt — zur Stelle.
Der Tiſch war mit einer Unmenge von Blumen
geſchmückt, die aus hohen vergoldeten Empirevaſen
hervorſchauten und um einen Auſſatz mit ſteifen
Göttern und Göttinnen gruppiert ſtanden, die ſich in
ovalen Glasfeldern beſpiegelten. Zum Schmücken des
Tiſches brauchten zwei Gärtner unter eigner Aufſicht
der Gräfin täglich vier Stunden, und es war ihre
Aufgabe, jeden Tag eine andre Anordnung zu er⸗
ſinnen. Das Hauptaugenmerk wurde darauf ge⸗
richtet, Schutz und Deckung des einzelnen gegen
den Gegenüberſitzenden zu ſchaffen. Die Gräfin
liebte eine intime Unterhaltung, und es machte ihr
viel Freude, durch hohe Blumendekorationen in der
Mitte des Tiſches das Treiben der Ehemänner vor den
ja ſo leicht eiferſüchtigen Gattinnen auf der andren
Seite zu verbergen. Sie verſtand es meiſterhaft, die
Plätze der Tiſchgäſte zu ordnen. Immer ſorgte ſie
dafür, daß die jungen Ehemänner auch junge und leb⸗
hafte Tiſchdamen erhielten, während ſie den jungen
Frauen die älteren Honoratioren zuſchob. Sie ſelbſt
ſaß am Ende des Tiſches, von wo aus ſie — dank der
Zweckmäßigkeit, mit der die Blumen arrangiert waren —
das Ganze überſchauen konnte. Von dieſem Über⸗
blickspunkt aus fachte ſie das Feuer der Unterhaltung
durch kleine neckende Zwiſchenrufe zu beſtändigem
Glimmen an.
Intereſſe hatte ſie nur für die Herren — Damen
fand ſie langweilig, und ſie tyranniſierte ſie vermöge
ihrer Würde als Schloßherrin.
An dieſem Tage hatte ſie am einen Ende des
Tiſches einen kleinen geſchützten Winkel für ſich und
zwei Herren arrangiert — für Skram, den ſie ſelbſt
an den Tiſch zog und durch beſondere Liebenswürdig⸗
keit auszeichnete, und für Sigismund Viffert, der vor
Bewunderung, mit der er fie anſtarrte, faſt das Eſſen
vergaß.
Graf Henrik ſaß ihr gegenüber am andren Ende des
Tiſches und wurde von dem Kammerjunker und dem
Kreisarzt flankiert.
Ab und zu flogen Vifferts ſcharfe Bemerkungen
über die Blumenhecke herüber — wie Tennisbälle
über ein Netz — und die Gräfin ſandte ſie zurück, häufig
ſo kräftig und geſchickt, daß er ſie behalten mußte; aber
hin und wieder gelang es auch ihm, den Ball ſo ge⸗
ſchickt zu werfen, daß ſie ihn behalten mußte. Skram
fand im ſtillen, daß das Duell heute ſchärfer geführt
wurde als ſonſt. Schließlich aber wurde die Gräfin
verſtimmt, und der Kreisarzt übernahm die Leitung
des Geſprächs.
Kreisarzt Kühn war ein älterer, martialiſch aus⸗
ſehender Herr mit einem Henriquatre. Er hatte die über⸗
legene Ruhe des Hausarztes, die er um ſo lieber hervor⸗
kehrte, als er ſich ſeiner ehemaligen Tätigkeit in der
Hauptſtadt erinnerte; immerhin war ſein zwanzig⸗
jähriger Aufenthalt unter Bauern nicht ſpurlos an
ihm vorübergegangen, und von Eleganz war an ihm
nichts zu bemerken. Er liebte es, ein wenig dozierend
zu reden und bei ſeinen eigenen Worten länger zu
verweilen. Doch war er ein kluger Mann, und ſeine
Paraden wurden in würdiger Weiſe vollführt.
Außerdem war er ein eifriger Soziolog, und gegen
Ende der Mahlzeit pflegte er mit Vorliebe ſich über
ſeine verſchiedenen Themata auszuſprechen, die alle
das Gepräge trugen, ſoeben aus Büchern geſchöpft
zu ſein. Viffert gab ſeinen Senf dazu, ſo gut er konnte,
und er ergänzte den Doktor nicht ſchlecht, denn der
Kammerjunker hatte viele Menſchen und Städte ge⸗
ſehen und ihre Sitten kennen gelernt; nur beim
Hauptbraten hüllte er ſich in apathiſches Schweigen.
„Es iſt zweifellos ein Irrtum,“ dozierte der Kreis⸗
arzt, „anzunehmen, daß die Menſchheit ſich aus der
Urſprungsform des Jägers zum Fiſcher, Hirten, No⸗
— 28 —
maden und ſo weiter bis zum heutigen Städtebewohner
entwickelt habe. Die Menſchen haben ſich mit ihrer
Beſchäftigung immer nach ihrem Aufenthaltsort ge⸗
richtet, und alle Formen ſind zu allen Zeiten zugleich
vorhanden geweſen. So iſt es ja noch heute. —
Nehmen Sie beiſpielsweiſe den Jägertypus — alſo
den Typus, der, um zu leben, das vernichtet, wovon er
lebt, es geradezu ausrottet, ohne für Erneuerung zu
ſorgen. Den Typus finden wir heute beim Krieger⸗
ſtande — beim Lehnsadel — ja, zum Beiſpiel, bei
Ihnen, Herr Kammerjunker. Sie ſind von ausgepräg⸗
tem Jägertypus.“
Viffert lachte. „Ich ſpreche mit Papageno: Ein
Vogelfänger bin ich ja!“ — ich und unſer braver
Wirt.“
Der Kreisarzt goß ein großes Glas Bordeaux
hinter ſeinen Henriquatre. „Der Graf gehört — be⸗
achten Sie wohl — trotz ſeiner Würde entſchieden zum
Hirtentypus. Er pflegt und hegt das, wovon er lebt,
er ſorgt für die Zukunft, verteidigt und baut auf. Er
iſt der echte däniſche Bauerntypus, der Haupttypus
in dieſem Lande. Nur infolge des beharrlichen Schaf⸗
fens der Bauerngeſchlechter ſind unſere alteingeſeſſenen
Familien ſo wohlgenährt geworden.“
„Und ich?“ fragte die Gräfin, hinter der Blumen⸗
hecke hervorſehend.
„Sie, Euer Gnaden ...“
„Papagena,“ fiel Viffert ſpottend ein. „Ent⸗
ſchieden Jägertypus. Die Obrigkeit dagegen iſt eine
intereſſante Miſchung von denen, die das, wovon ſie
leben, füttern, um es beizeiten zu ſchlachten; — ähnelt
ſomit den Maſtviehzucht treibenden Bauern Jütlands
und weicht von den Milchvieh ziehenden Bewohnern
Seelands ab. Ungeheuer intereſſant.“
Der Kreisarzt hatte aufmerkſam zugehört und fuhr
nun fort: „Es iſt intereſſanter, als Sie glauben, denn
in dieſen Theorieen liegt eine Erklärung für die ganze
gegenwärtige politiſche Lage Europas.“
— 24 —
„Aha,“ unterbrach ihn Viffert, „nun wird es ver⸗
wickelt.“
„Ja, ſehen Sie,“ fuhr der Kreisarzt fort, „die
ganze Bewegung in Rußland zum Beiſpiel kann man
ſich daraus erklären, daß das Volk ein patriarchaliſches
Hirtenvolk iſt. Die ſpeziell in Oſteuropa geltende Ge⸗
ſellſchaftsordnung ſetzt den Patriarchen zum Herrn
über die Gemeinde, und ihm hat jeder zu gehorchen.
Wird er nun zum Tyrannen, erweiſt er ſich als un⸗
erträglich, ſo räumt man ihn aus dem Wege, rottet
ihn aus, bringt ihn um. Das geſchieht mit Hilfe der
Bomben. Der Weſteuropäer dagegen — der Jäger,
der ſeinem Weſen nach weit aggreſſiver iſt, hat nach und
nach ganz andere Mittel gefunden, um ſeine Tyrannen
zu zähmen. Er ſchafft Geſetze und Einrichtungen,
die den Tyrannen beſtändig in Schach halten, ihn un⸗
ſchädlich machen und zum Volke herabziehen.“
„Hm, das klingt ganz plauſibel,“ ließ ſich Viffert
vernehmen, „aber nach Ihrer Theorie, Doktor, müßte
zum Beiſpiel Henrik, der doch zum Hirtentypus ge⸗
hört und auch ganz außerordentlich patriarchaliſch aus⸗
ſieht, derjenige unter uns ſein, der zur Bombe greifen
würde, während zum Beiſpiel ich, der ich in ſoziolo⸗
giſchem Sinne Jäger bin, zum — na, ſagen wir, zum
Mundwerk greifen würde.“
„Das meine ich auch,“ beſtätigte der Kreisarzt
eifrig.
Graf Henrik lächelte; er folgte der Diskuſſion ein
wenig langſam und ließ ſich zum Denken reichlich Zeit.
„Sie meinen alſo, daß ich, um mich von einem
Tyrannen zu befreien, dieſen nach Hirtenweiſe um⸗
bringen würde?“
„Gott bewahre,“ ſagte der Doktor. „Ich meine
ſelbſtverſtändlich nicht, daß Sie, Herr Lehnsgraf, einen
Mord begehen könnten, aber Ihr Naturell würde
zweifellos, ohne daß Sie ſelbſt darauf reagieren, Ihnen
den Gedanken eingeben, jenen umzubringen. Nur als
Ausweg. Ich zweifle natürlich nicht daran, daß Sie
— 25 —
noch niemals in einer ſolchen Lage geweſen ſind,
aber“
Viffert unterbrach ihn. — „Da irren Sie ſich denn
doch, Herr Kreisarzt, denn ich kann Ihnen berichten,
daß unſer vortrefflicher Wirt, der Weichherzigſte aller
Weichherzigen, eines Tages in Paris.“
„Aber Helmut!“ rief der Graf dazwiſchen, und ſein
Geſicht wurde dunkelrot.
„Passons au dessus de ga,“ ſagte Viffert und leerte
ſein Glas.
Dann wurde es ſtill am Tiſch.
Das Deſſert war inzwiſchen herumgereicht worden,
und die drei aufwartenden Diener hatten den Saal
verlaſſen. So wünſchte die Gräfin es.
Viffert brach zuerſt das Schweigen.
„Um bei dem Hirtentypus zu bleiben, will ich be⸗
merken, daß dein getreuer Diener Jörgen — den unſer
gelehrter Doktor auch als Hirten klaſſifiziert, denn er
ähnelt dir ſo ſehr, daß ich mitunter an der ehelichen Treue
der ſeligen Exzellenz Zweifel hege — es übrigens ganz
genau ſo machen würde wie du. Wie du weißt — denn
die gnädigſte Gräfin benutzt liebenswürdigerweiſe jede
Gelegenheit, mich darauf aufmerkſam zu machen —
intereſſiere ich mich ſtark für die kleine Leonie, die mich
— ohne Prinzeſſin zu ſein — an Paris erinnert, an
den einzigen Ort, wo ein Junggeſelle ein menſchen⸗
würdiges Daſein führen kann. Dieſe Jungfrau ſoll
nun mit Jörgen feſt verlobt ſein! Seitdem ſich mein
vortrefflicher Frangois mit einem Teil meines Bar⸗
geldes aus dem Staube gemacht hat, muß ich mich
Tag für Tag vom Barbier Sörenſen unten am Markt⸗
platz mißhandeln laſſen, einfach weil ich es nicht zu⸗
laſſen kann, daß Jörgen mich barbiert. Ich habe be⸗
ſtändig das kribblige Gefühl, daß dieſer ‚Hirtentypus‘
noch auf den Gedanken verfallen könnte, mir beim
Raſieren den Hals abzuſchneiden.“
Die Gräfin lachte. „Da können Sie ſehen, Doktor,
was dabei herauskommt, wenn man gelehrt iſt. Nun
— 26 —
haben Sie unſere ganze Mittagsandacht geſtört und
ſind vielleicht Schuld daran, daß Helmut noch eines
Tages gegen alle Mode mit einem Vollbart erſcheinen
und auf dieſe Weiſe ſchließlich einem Ziegenbocke
gleichen wird.“
„Keineswegs, liebe Polly — keineswegs,“ erwiderte
Viffert. „Von jetzt an werde ich mich ſelbſt raſieren.
Ich will nämlich eine gewiſſe Nervoſität überwinden
und verſuchen, ob ich es noch nicht vergeſſen habe. Schade,
daß man in dieſem Klatſchneſt kein ordentliches Barbier⸗
meſſer bekommen kann, ich würde ſonſt gleich hier
en famille mit der Übung beginnen. Auf Nachſicht
des Publikums dürfte ich wohl rechnen, ſelbſt wenn
das Reſultat nur ein mäßiges ſein ſollte.“
Graf Henrik, der anſcheinend wieder milder ge⸗
ſtimmt war, lächelte gutmütig.
„Du weißt, Helmut, daß ich zwei Etuis mit vor⸗
trefflichen engliſchen Meſſern habe. Wenn du willſt,
kannſt du eins davon nehmen.“
„Ho, ho, ho,“ lachte Viffert. „Sie haben recht,
Doktor, nun kommt die Hirtennatur in Henrik zum
Vorſchein. Er will natürlich, daß ich die Exekution
wirklich vornehme. — Doch um von dieſen blutigen
Dingen abzukommen — zu welchem Typus, Herr
Doktor, meinen Sie, gehört eigentlich mein lieber
Neffe Sigismund hier. Er hat, während wir bei Tiſche
ſaßen, nicht ein einziges Wort geredet, ſondern ſich
darauf beſchränkt, ſeine ſchöne Tiſchdame mit ein Paar
Augen anzuſtarren, als ob er ſie verſchlingen wolle,
während ſie, die ſich offenbar für Unterhaltungen
über Barbiermeſſer nicht intereſſiert, ihm allerhand zu⸗
geflüſtert und freundliche Blicke zugeworfen hat. Iſt
das nun Hirtennatur, oder Jägernatur?“
Da ſtieß die Gräfin heftig ihren Stuhl zurück und —
hob die Tafel auf. —
Iv.
Die Sonne ſank, und die Luft war warm und ſtill.
Paarweiſe ging man im Garten unter den großen,
ſeltenen Bäumen umher — über den ſeidenweichen
Raſen, der ſich zwiſchen Kanälen mit ſeltſam verzierten
Brücken erſtreckte.
Der Kreisarzt und Viffert disputierten noch immer
über Menſchentypen, obwohl Viffert hin und wieder
ſpähende Blicke nach der Gräfin und dem jungen Mann
ausſandte, die ſich ſeiner Meinung nach viel zu weit
entfernten.
Der Graf ſtand, in tiefem Geſpräch mit Skram be⸗
griffen, auf einem Hügel an der Außenſeite des Parkes.
Er redet mit gedämpfter, ernſter Stimme wie ein ſchwer
bekümmerter Mann, deſſen Leid ſo ſtark iſt, daß er
es nicht zu verhehlen vermag.
„Sie hat alſo ſchon mit Ihnen geſprochen,“ ſagte
er. „Es muß alſo wirklich ſein? — Skram, können
Sie, der Sie doch viel klüger ſind als ich, mir nicht
ſagen, wie ich es bloß anſtellen ſoll, um ſie zum Bleiben
zu bewegen? Ich will es fo ... verſtehen Sie, ich
will es.“
Skram wurde etwas verlegen. „Wie ich die Gräfin
vorhin verſtand, war zwiſchen Ihnen ſchon die Ver⸗
abredung getroffen, daß Sie, Herr Graf, freiwillig..“
„Ja, freiwillig,“ unterbrach ihn der Graf. „Ganz
recht, denn ſie zu zwingen, iſt mir natürlich nicht mög⸗
lich. Wenn ſie nun einmal gehen will, wie ſoll ich ſie
da zwingen können? Aber ſie ſoll nicht gehen, ſie ſoll
nicht. Sie glauben vielleicht, daß ich — wie ſoll ich
ſagen? — kalt, ohne Gefühl oder dergleichen ſei. Das
bin ich nun gar nicht. — Allerdings, was man Liebe
nennt — ich ſage Liebe, um ein ſtarkes Wort zu ge⸗
brauchen — das iſt mir vielleicht fremd. Ich habe
mich nie viel um Frauen gekümmert. Es iſt, wenn
man ſo ſagen kann, nicht das Weib in ihr, das ich
liebe, ſondern der Menſch, nur der Menſch. Und
— 28 —
mein ganzes Leben bricht zuſammen, wenn ich ſie ver⸗
liere!“
Skram wurde unruhig.
„Ja, Herr Graf, da iſt es ſchwer, zwiſchen Ihnen
und der Gräfin zu vermitteln, und wenn“
Der Graf legte ſeine ſtarke, große Hand auf Skrams
Schulter und ſah ihm mit offenem Blick ins Geſicht.
„Lieber Skram, ich weiß es gut: auch Sie ſind in
meine Frau verliebt. Das ſind ja alle Männer, denn
ſie will es ſo. Und ich verſichere Ihnen, daß ich keines⸗
wegs eiferſüchtig bin. Ich will auch nicht, daß Sie mir
Ihr Vertrauen ſchenken — aber Sie haben nun ja von
Geſetzes wegen mit der Sache zu tun. Darum will
ich es rein herausſagen: Meinetwegen mag ſich meine
Frau irgend eine Schwärmerei erlauben — beim Teufel,
das iſt ehrlich geſprochen. Eine, wenn es ſein muß,
auch zwei Schwärmereien, mag ſie haben; vielleicht
ſind drei ſogar beſſer als eine. Aber bei mir bleiben
ſoll ſie, denn ich kann ſie nicht entbehren. Sie verſtehen
das vielleicht nicht. Das ganze Daſein iſt mir ſo gleich⸗
gültig; ich habe keine Triebe, habe niemals irgend-
welche gehabt; aber in dem Augenblick, da man ſie
von mir fortnimmt, ſchneidet man ein Stück aus meinem
eigenen Fleiſch. Können Sie das begreifen?“
„Wäre es da nicht möglich, alles wieder in die alte
Ordnung zu bringen?“ fragte Skram, ein wenig un⸗
ruhig. Er war im Grunde über die Vertraulichkeit
des Grafen durchaus nicht erfreut.
Dieſer ſchüttelte den Kopf. „Sie will nicht. Sie
will nicht! Ich könnte Ihnen das Ganze erzählen —
ſollte es vielleicht ſogar, aber ...“ er brach ab.
Skram trat einen Schritt vor, und der Graf folgte
ihm. Sie gingen die lange Lindenallee hinab, an
deren Ende das von der Sonne dunkelrot beleuchtete
Schloß lag.
Der Graf redete langſam, als grabe er jedes einzelne
Wort erſt hervor. „Die Schuld an allem hat nur Hel⸗
mut,“ ſagte er. „Ich haſſe Helmut, ja, ich haſſe ihn.
— 29 —
Und doch habe ich ihn ſo viele Jahre hindurch bei mir
geduldet — weil ſie es ſo wollte, weil ſie ihn nicht ent⸗
behren konnte. Nach und nach hat ſich mein Haß auch
abgekühlt. Schließlich mag ich alle Menſchen gern und
bin zum Haſſen nicht geeignet. Ich habe es zu ver⸗
ſtehen geſucht und habe mich eingerichtet. Das kann
man gut. Ich wenigſtens habe es gekonnt und bin
eigentlich immer recht glücklich geweſen. Meine An⸗
ſprüche ſind beſcheiden, habe ich doch in mancher Hin⸗
ſicht mehr als ich nur irgend brauche. Ich ſage, ich
mag alle Menſchen gern, aber alle Menſchen mögen
auch mich gern, das ſehe ich täglich — hier auf dem
Gut, in der Nachbarſchaft — überall; die Menſchen
ſind alle gut und freundlich gegen mich — auch Polly,
ja, Sie ahnen nicht, wie gut und zärtlich ſie gegen mich
iſt. Und dennoch will ſie jetzt fort. Ich begreife wirk⸗
lich nicht, warum.“
Skram begann zu verſtehen, aber er war eine zu
gerade Natur, als daß er ſich hätte teilen mögen. Wo
er ſtand, da ſtand er ganz — und er ſtand auf ihrer
Seite. Selbſtredend hielt auch er den Grafen für einen
herrlichen Mann, einen ungewöhnlichen Menſchen, der
vielleicht viel zu gut für dieſe Welt war und ſicher kein
Geſchick zum Leben in ihr hatte. Aber dennoch fand
Skram, daß dies hier über ſeine Kraft ging. Laß
fahren dahin Ochs, Eſel und alle Güter, ſteht in der
Schrift, aber das Weib, das man liebt, beſitzt man oder
verliert man.
Dagegen intereſſierte ihn des Grafen Verhältnis
zu Viffert. Er mochte nicht direkt danach fragen, ſon⸗
dern beſchränkte ſich auf eine Andeutung: „Sie glauben
alſo, daß Helmut Viffert hinter dem Ganzen ſteckt?“
ſagte er.
„Genau weiß ich ja nichts,“ lautete die Antwort,
„aber Polly ſagt, daß ſie reiſen, ihr Leben genießen —
frei ſein wolle. Und der einzige, der ſie zu dieſen Ideen
veranlaßt haben kann, iſt doch er!“
Skram war ungläubig.
2 30 —
„Glauben Sie wirklich, daß er der einzige iſt?“
Der Graf blickte verwundert auf, dann ſagte er:
„Selbſtverſtändlich; ſonſt hätte ſie es mir doch erzählt.
Sie erzählt mir ja alles. Ja, auch über Sie hat ſie mit
mir geſprochen. Sie weiß gut, daß Sie eingenommen
von ihr ſind, und ſie ſchätzt Sie auch ſehr. Nein, nie⸗
mals würde ſie etwas vor mir verbergen. Sie kennt
mich ja und weiß —“
Am Ende der Allee tauchten die Gräfin und Sigis⸗
mund Viffert auf. Die Gräfin hemmte einen Augen⸗
blick lang ihren Schritt, als ob ſie zur Seite abbiegen
wolle, doch dann ſetzte ſie ihren Weg fort und ſchritt
den beiden gerade entgegen.
Der Graf ſchritt raſcher aus.
„Da iſt zum Beiſpiel der junge Viffert,“ ſagte er,
„ein prächtiger, ſchöner Junge, den ich ſehr gern habe.
Um ihn kümmert ſich Polly nicht im geringſten, denn
ſie findet ihn dumm. Das iſt er allerdings gar nicht.
Vielmehr iſt er außerordentlich begabt, nur etwas
ſchweigſam. Schön, liebenswürdig und tüchtig iſt er
auch. Aber dennoch langweilt er ſie geradezu.“
Skram warf einen verſtohlenen Blick auf den nach⸗
ſichtigen Ehemann, der das Vertrauen ſeiner Frau
auch in ſolch ungewöhnlicher Hinſicht zu beſitzen glaubte.
Es ſchien ihm, als habe der Kammerjunker Viffert —
der Jägertypus — doch die richtige Spur gewittert.
Aber er ſchwieg und beſchloß, Augen und Verſtand
zu gebrauchen.
Inzwiſchen waren die Gräfin und Sigismund zu
ihnen herangekommen und folgten ihnen nunmehr zum
Schloß hinauf. Jetzt aber ſchritt die Gräfin mit Skram
voraus.
„Was wollte denn Viffert vorhin bei Ihnen?“
fragte ſie.
„Sein Teſtament machen,“ ſagte Skram ein wenig
ſpöttiſch. „Er glaubt, ſterben zu müſſen.“
„So?“ rief ſie und blieb einen Augenblick lang
ſtehen. „Wer ſoll ihn denn beerben?“
— 31 —
„Das darf ich doch nicht ſagen.“
„Sagen Sie es dennoch,“ rief ſie befehlend und
heftete ihren Blick auf Skram.
Dieſer überlegte einen Augenblick lang, dann ſagte
er: „Die Erben ſind: Ihr Mann und Leonie.“ — Das
war nicht die volle Wahrheit.
Die Gräfin wurde blutrot. — „Sigismund über⸗
geht er?“ rief ſie wie empört.
Einen ſolchen Ausbruch hatte Skram nicht erwartet;
aber eigentlich war er doch ganz zufrieden damit, und
er beſchloß, nichts weiter zu verraten. Er glaubte,
jetzt mitten in der Sache zu ſtehen und das Ganze
beſſer begreifen zu können als irgend ein anderer.
Es war klar, daß ſich der Knoten jetzt ſchürzte.
Die Gräfin ſchritt eilig voraus; ſie ſprach kein Wort,
und Skram erkannte wohl, daß ſie jetzt nur den einen
Wunſch hatte, mit dem Kammerjunker Viffert zu
reden. —
V.
„Nehmen Sie ſich eine recht lange Zigarre, — dieſe
hier, das iſt eine echte Garcia und hält eine Stunde
lang vor. Mich freilich würde ſie in fünf Minuten um⸗
bringen. Schenken Sie ſich nun noch einen Whisky nebſt
Soda ein. Heute abend nämlich ſoll das Teſtament
aufgeſetzt werden. — Aber entſchuldigen Sie noch einen
Augenblick.“
Der Kammerjunker verließ das Turmzimmer, in
dem Skram auf einem lederbezogenen Lehnſtuhl ſaß,
und ging in das danebenliegende Schlafgemach.
Skram ſah ſich im Zimmer um. Es war fünfeckig
und mit Fenſtern, die nach Oſten und Norden gingen,
verſehen. Die Wände waren mit Reproduktionen
franzöſiſcher Kunſtwerke, ſowie mit Bildern von Pferden
und Soldaten bedeckt. Über dem Sofa hingen „Tann⸗
häuſer im Venusberge“, ſowie eine Gruppe ſchöner
Frauenköpfe von etwas banalem Stil. Zwiſchen den
beiden Fenſtern, wo die Wand etwas ſchräg ſtand,
3
führte eine Türe auf die Turmtreppe hinaus. Sonſt
hatte das Zimmer noch zwei Türen, eine, die auf den
Korridor und eine, die in das Schlafzimmer, einen etwas
kleineren Raum, führte. Die Zimmer lagen in der
zweiten Etage, unmittelbar über den Schlafzimmern
der Herrſchaft.
Als Viffert wieder erſchien, trug er ein kurzes,
kokettes Rauchjackett mit mehrfarbigem Schnurbeſatz.
Gleich darauf klopfte es an der Tür.
„Herein,“ rief Viffert ein wenig ärgerlich und fügte
brummend hinzu: „Zu dieſer Stunde — in ſpäter
Nacht — ſollte man doch meinen, ungeſtört ſitzen und
ſchwatzen zu können.“
Es war Jörgen, der Kammerdiener des Grafen.
„Nun, was wollen Sie, Jörgen?“ fragte Viffert
und drehte ſich auf ſeinem Seſſel zu dem Diener herum.
Jörgen hielt Viffert ein kleines Käſtchen entgegen.
Viffert ergriff es. — „Ah,“ ſagte er, „das ſind die
berühmten Barbiermeſſer. Hier ſehen Sie, Obrigkeit,
dies nette Käſtchen mit ſieben feinen engliſchen Klingen.“
Skram nahm das Etui und betrachtete die Meſſer.
Viffert war aufgeſtanden und beugte ſich über ihn.
„Ah, ſehen Sie mal, da ſteht eingraviert: Sunday,
Monday, Tuesday und ſo weiter, alle engliſchen Tages⸗
namen. Das iſt raffiniert. Jeder Tag hat ſein Meſſer,
damit nicht das eine mehr abgenutzt werde als das
andere. Das iſt ein hübſches Geſchenk — und der
Graf wirklich ein netter Mann.“
Jörgen miſchte ſich nunmehr ins Geſpräch. —
„Der Herr Graf hat genau ſo eine Kaſſette wie dieſe
hier, und er benutzt die Meſſer Tag für Tag. Jeden
Abend muß ich das zum nächſten Morgen paſſende
Meſſer bereitlegen. So weiß der Herr Graf immer
gleich, welchen Tag wir gerade haben.“
Viffert lachte. „Das gleicht ſeiner ordentlichen
Seele. Nun, ſetzen Sie das Käſtchen auf den Tiſch
dort und überbringen Sie dem Grafen meinen Dank.
Grüßen Sie den Herrn und ſagen Sie ihm, daß ich
verſuchen werde, ihm zum Gedächtnis mir mit einem
dieſer vorzüglichen Meſſer den Hals abzuſchneiden.“
Jörgen verbeugte ſich ernſt wie ein Grab und nahm
das Etui weg.
„Stellen Sie es auf den Tiſch dort im Schlaf—
zimmer,“ ſagte Viffert und fügte dann nach kurzem
Nachdenken hinzu: „Hören Sie mal, ſind Sie der
einzige, der noch auf iſt?“
„Nein,“ ſagte der Diener, „der Tafeldecker iſt noch
nicht nach Hauſe gegangen.“
„Gut,“ verſetzte Viffert. „Sie ſollen beide zehn
Kronen bekommen, wenn Sie eine halbe Stunde
warten, bis ich Sie beide brauchen werde. Nicht wahr,
Herr Amtsrichter, wir können das Teſtament noch heute
abend erledigen; es ſind ja nur zwei Zeugenunter⸗
ſchriften nötig, und Sie ſelbſt ſind ja Notarius publi-
cus.“
Skram lächelte. „Wollen wir nicht lieber bis morgen
warten?“
„Nein, auf keinen Fall,“ erwiderte Viffert beſtimmt.
„Es muß noch heute gemacht werden! — Alſo Sie
warten, Jörgen?“
Dieſer verbeugte ſich und ging.
Viffert ſchwieg, bis ſich die Tür hinter Jörgen ge⸗
ſchloſſen hatte, dann ſagte er mit leiſem, bitterem
Lächeln: „Wenn ich — wie ich vorhin ſchon ſagte —
dieſem vortrefflichen Diener und ſeinem noch vor⸗
trefflicheren Herrn wirklich die Freude machen muß,
mir mit einem dieſer ſieben Meſſer die Pulsader zu
durchſchneiden, ſo dürfte es ſich doch empfehlen, bei⸗
zeiten meine Papiere in Ordnung zu bringen.“
„Wenn es nicht geſcheiter wäre, dieſe Operation
bis zum nächſten Tag zu verſchieben,“ fiel Skram ein.
„Denn ehrlich geſagt, Herr Kammerjunker — ein Ding
wiſſen wir Menſchen doch ganz genau, nämlich: daß
uns der Tod nicht wegläuft! Und zweitens,“ fügte
er hinzu, „irren Sie ſich wohl in Ihrer Annahme, daß
der Graf Ihren Tod wünſchen könnte.“ ;
XXVI. 19.
— 34 —
„Hier iſt Papier und Feder,“ ſagte Viffert. „Laßt
uns nun endlich mit dem Teſtament beginnen.“
Skram nahm die Feder, tauchte ſie ein und ſchrieb
mit ſeiner gleichmäßigen, eleganten Kanzleiſchrift nieder,
was Viffert ihm am Nachmittage angegeben hatte.
Es fiel ihm nicht einmal ein, zu fragen, ob der Text
verändert werden ſolle; nur als er zu den Legaten ge⸗
kommen war, fragte er, wer damit bedacht werden
ſolle, worauf Viffert bemerkte, daß das vom Teſta⸗
mentsvollſtrecker nach Gutdünken beſtimmt werden
könne. „Es iſt gebräuchlich, zwei Teſtamentsvoll⸗
ſtrecker einzuſetzen,“ ſagte Skram. — „Gut, nehmen
Sie noch Doktor Kühn hinzu. Der iſt ein vortreff⸗
licher, wenn auch etwas langweiliger Soziologe.“
Während Skram ſchrieb, ſaß Viffert und blätterte
in einem Roman. Schließlich las Skram das Teſtament
laut vor, und Viffert fand es ausgezeichnet. Nun wur⸗
den die beiden Diener gerufen, um als Zeugen das
Teſtament zu unterſchreiben. Der Text wurde ihnen
nicht vorgeleſen, vielmehr erklärte ihnen der Amts⸗
richter lediglich, daß er als Notarius fungiere.
Das Teſtament nahm er gleich an ſich, um es in
amtliche Verwahrung zu geben.
Nachdem ſomit die Formalitäten erledigt waren,
zog Viffert ſeine Banknotentaſche hervor und ſagte,
indem er Jörgen einen Zehnkronenſchein reichte,
lächelnd: „Nun können Sie Ihrer Liebſten erzählen,
daß ſie, wenn mir etwas Menſchliches zuſtoßen ſollte,
ein Vermögen erben wird, das Sie vielleicht noch zum
Grundbeſitzer machen kann.“
Jörgen warf dem Kammerjunker einen ſcharfen,
zornigen Blick zu, den Skram, ohne es zu wollen,
auffing.
Dann gingen die beiden Diener hinaus.
„Es beginnt ſpät zu werden,“ ſagte Viffert, „und
ich glaube, wir beide haben Ruhe nötig. Ich bin
Ihnen ſehr dankbar dafür, daß Sie außerhalb Ihrer
Bureauzeit den Amtsrichter gemacht haben. Ich
Iren
werde Sie jedenfalls nicht weiter plagen. Und nun
gute Nacht.“
Damit reichte er Skram ſeine weiße, mit Ringen
beſetzte Hand. Dieſer ergriff ſie und fühlte, daß ſie
etwas feucht war; auch fand er, daß Viffert müde
ausſah, und als er ſeine Hand losließ, faßte jener nach
dem Herzen.
„Sie ſehen müde aus,“ ſagte Skram.
Viffert zuckte die Achſeln. „Das macht das Herz.
Wenn man bloß ſeine Nachtruhe haben könnte; mit⸗
unter nämlich iſt es höchſt unbehaglich, ſtill dazuliegen
und wie ein aufs Land geworfener Karpfen nach
Luft zu jappen. Aber was ſoll man ſich beklagen!
Man hat fünfzig Jahre lang die Freuden des Lebens
genoſſen und muß daher auch die desagr&ments der
nächſten fünfzig Jahre auf ſich nehmen, ha, ha! Das
wäre in der Tat nicht übel, wenn ich nach Ihnen in
die Grube fahren ſollte. Die Energie dazu habe ich
jedenfalls. Das kann ich Ihnen verſichern!“
— — — Ekram ging.
Es war ſchon ſpät, doch der Mond ſtand am
Himmel, und als Skram an ſeinem Fenſter ſtand und
zum Schloß hinüberſah, lag es von bleichem Licht um⸗
goſſen wie in tiefem Schlaf. Von Vifferts Fenſter her
blinkte noch ein Schein über den Graben, und Skram
glaubte, auch aus dem Fenſter der Gräfin, das genau
unter dem Vifferts lag, einen ſchmalen Lichtſtreifen
hervordringen zu ſehen. —
Er war müde und ging gegen Mitternacht zur Ruhe.
Erſtes Buch.
Das Barbiermeſſer.
I.
Es war am nächſten Morgen um zehneinhalb Uhr,
als Skram, der ein Aktenſtück durchlas, plötzlich den
Kopf erhob und über den Garten hinweg nach dem
Schloßgraben ſchaute. Was er ſah, war das kleine
Boot der Gräfin, das ſich der Anlegeſtelle unter den
hängenden Weiden näherte. Skram erhob ſich und
blickte aufmerkſamer hin. Das Boot wurde von einem
Manne gerudert, — nun legte es an, der Mann ſtieg
heraus und machte es an einem der morſchen Pfähle
feſt. Es war der Tafeldecker Ole Hanſen, der er⸗
graute Haushofmeiſter von Edelsburg.
„Was mag er nur wollen?“ dachte Skram und
nahm ſeinen Platz am Schreibtiſch wieder ein, während
der alte Mann eilig über den Raſen ſchritt. Gleich
darauf ſtand er im Bureau.
„Entſchuldigen Sie, Herr Amtsrichter,“ ſagte er,
„aber heute nacht iſt ein entſetzliches Unglück ge⸗
ſchehen.“
Skram fuhr in die Höhe.
„Ja, der Herr Kammerjunker hat ſich entleibt.“
„Was ſagen Sie?! — Das iſt ja —“ Skram brach
ab; er mußte ſich eingeſtehen, daß es eigentlich gar
nicht ſo überraſchend kam, hatte er doch bereits daran
gedacht, daß etwas Derartiges geſchehen könne.
„Auf welche Weiſe denn?“ fragte er.
„Er hat ſich mit einem Barbiermeſſer den Hals
abgeſchnitten.“
FE,
„So, jo," ſagte Skram nachdenklich. — „Wie
fanden Sie ihn denn?“
„Ich habe ihn nicht gefunden, Herr Amtsrichter,“
ſagte der Tafeldecker, deſſen Stimme bebte wie bei
einem Menſchen, der ſich lange darauf vorbereitet hat,
etwas Entſetzliches zu erzählen, und es nun endlich
ausſprechen darf. „Jörgen fand ihn, als er mit Raſier⸗
waſſer zu ihm hinaufging. Es war ſchon nach zehn
Uhr, denn der Kammerjunker pflegte ſich nicht wecken
zu laſſen, und es war ja auch ſchon ſpät in der Nacht,
als der Herr Amtsrichter ihn geſtern verließen. Er
lag in ſeinem Bett, als ob er ſchliefe, aber Jörgen
ſah wohl, daß er am Halſe einen häßlichen Schnitt
hatte, und das Bett triefte vor Blut.“
„Haben Sie ihn auch geſehen?“
„Nein. Jörgen rief mir wohl zu, zu kommen, denn
ich war in der Nähe des Zimmers mit dem Silberzeug
beſchäftigt, aber ich mochte die Leiche nicht ſehen, weil
mir davor graute. Ich kam an Stelle deſſen gleich hier
herübergefahren. Jörgen meinte auch, es wäre am
beſten, wenn ich als der Alteſte das täte.“
„Na,“ ſagte Skram, „dann vermögen Sie alſo auch
nichts weiter auszuſagen. Haben Sie nach dem Kreis⸗
arzt geſchickt?“
„Jörgen hat telephoniert. Es hieß, der Doktor werde
ſofort kommen. Und Jörgen wollte ſo lange warten.“
„Hm — was ſagt denn der Graf dazu?“
„Der Herr Graf iſt ſchon früh des Morgens mit dem
Inſpektor nach der Mooshofer Ziegelei gefahren, und
die Frau Gräfin iſt um neun Uhr mit Johann, dem
zweiten Kutſcher, ausgeritten.“
„Na, dann gehen Sie nur gleich zum Kreisarzt
und ſehen Sie nach, ob er zu Hauſe iſt. Wir fahren
dann alle mit dem Boot nach dem Schloß hinüber. —
Hm, ob das Boot wohl vier Mann tragen kann?“
„O, gewiß,“ ſagte Hanſen. Dann eilte er zum
Kreisarzt, deſſen Haus der Amtsrichterwohnung gegen⸗
über lag.
— 238 —
Skram öffnete die Tür zum Bureau, in dem ſich
augenblicklich nur das Amtsperſonal befand.
„Herr Holm,“ ſagte er, „das Teſtament, das Sie
da bearbeiten, hat Kammerjunker Viffert wahrlich zur
rechten Zeit aufſetzen laſſen. Wie mir eben mit⸗
geteilt wird, hat er ſich heute nacht den Hals abge⸗
ſchnitten.“
„Was?“ Der Sekretär ſprang auf.
Skram zuckte die Achſeln. „Ja, geſchehen iſt ge⸗
ſchehen. Er iſt tot. Die Welt verliert nichts weiter an
ihm, und nur wenige werden ihn betrauern. Es iſt wohl
am beſten, wir gehen ſogleich hinüber und nehmen
die Leichenſchau vor. Der Graf und die Gräfin ſind
ausgefahren. Laſſen Sie Jenſen gleich zum Kranken⸗
haus gehen und eine Ambulanz beſtellen, wenn die
Leute eine haben. Nehmen Sie das Protokoll und
kommen Sie mit zum Boot hinab. Dort kommt auch
ſchon der Tafeldecker mit dem Kreisarzt an.“
Der Polizeibeamte Jenſen erhob ſich eilig, um die
Ambulanz zu beſtellen.
„Aber, Jenſen,“ rief ihm Skram nach, „zu keinem
ein Wort darüber reden! Die Sache muß geheim
bleiben, ſolange es möglich iſt. Ich will nicht, daß die
Blätter ſchon vor Zeiten mit ihrem Gewäſch beginnen.“
Der Kreisarzt trat ein.
Skram reichte ihm die Hand.
„Das iſt ja entſetzlich,“ ſagte der Doktor, „und ich
bin geſtern abend eine ganze Stunde lang mit ihm
ſpazieren gegangen und hab' nachher noch Billard mit
ihm geſpielt, ohne etwas an ihm zu merken!“
„Hm,“ ſagte Skram, „ich habe ihm geſtern abend
ein Teſtament aufſetzen müſſen, und da ſchien es mir
allerdings, daß er Eile habe, mit der Sache zu Streich
zu kommen. Und wenn ich noch in Betracht ziehe,
was er mir geſtern abend erzählte, ſo bin ich über ſeine
Tat gar nicht ſonderlich erſtaunt. Jetzt gilt es bloß,
den Grafen und die Gräfin gegen das Gerede der
Leute und das Gewäſch der Zeitungen zu ſchützen.“
=, JG =
Der Sekretär ſtand mit dem Protokoll in der Hand
zum Gehen bereit, und ſo begaben ſich die drei Herren
zum Boot hinab, das der alte Ole Hanſen ſchon los⸗
gebunden hatte.
Während ſie über den Graben ruderten, ſagte
Skram lächelnd zum Kreisarzt: „Ich kann Ihnen übri⸗
gens etwas Erfreuliches mitteilen: Sie ſind zum Voll⸗
ſtrecker der Erbmaſſe ernannt, die ſich auf ſechs⸗ bis
ſiebenhunderttauſend beläuft; das Honorar iſt alſo ſchon
ganz mitnehmenswert.“
„Ich?“ fragte der Doktor und öffnete den Mund
vor Erſtaunen.
„Ja, Sie und meine Wenigkeit. Sie haben Viffert
geſtern abend mit Ihrer Soziologie imponiert; Sie
wiſſen ja, die Wiſſenſchaft macht ſich bezahlt. Wenn
wir erſt mit der Leichenſchau fertig ſind, werden Sie
etwas Intereſſantes zu erfahren bekommen. Doch
davon ſpäter.“
Schweigend ruderten ſie weiter.
Die Leiche des Kammerjunkers lag entkleidet im
Bett — lang auf dem Rücken ausgeſtreckt wie im
Schlaf, den Kopf halb von der Wand abgekehrt. An
der linken Seite des Halſes ſaß eine klaffende Wunde,
der rechte Arm hing zur Seite hinab und ſeine Hand
hielt ein blankes, mit Blut beflecktes Barbiermeſſer
loſe zwiſchen den Fingern. Das Laken war mit Blut
benetzt und einiges davon über die Bettkante auf den
Boden getropft.
Der Arzt trat ans Bett und beugte ſich über den
Toten. Die Geſichtszüge des Kammerjunkers waren
ruhig, ſeine Augen feſt geſchloſſen, ſo daß es ausſah,
als ſchlafe er; nur die Naſe trat ſcharf hervor, und der
Bart zeichnete ſich grauſchimmernd über dem feſt ge⸗
ſchloſſenen Munde ab. Doch wenn man von der Wunde
80 abſah, hatte der Tote nichts Unheimliches
an ſich.
„Skram,“ ſagte der Doktor, nachdem er ſeine Unter-
ſuchung beendet hatte, „da ſtimmt etwas nicht.“
— 40 —
Skram trat näher und betrachtete den Leichnam.
„Sehen Sie, er hat ſich wie ein rechter Dummkopf
benommen,“ fuhr der Doktor fort, „wenn man ſich
den Hals abſchneiden will, ſo tut man es doch hier an
der Seite, wo die Pulsader liegt. Dieſer Schnitt aber
liegt ungefähr in der Mitte, von links beginnend, und
ein ſolcher Schnitt verurſacht nimmermehr den Tod.
Und dann ſehen Sie das Blut! Das iſt ja gar nichts,
kaum ein kleines Waſchbecken voll, während es nach
einem ſolchen Schnitt in Strömen gefloſſen ſein müßte.
Ich kann nicht begreifen, wie dieſer Schnitt ihn ge⸗
tötet haben ſoll. Vielleicht, daß er ſich die vena
jugularis verletzt hat, was ſeine Folgen für die Lungen
gehabt hätte; das kann ich indes erſt feſtſtellen, wenn
ich die Leiche geöffnet habe. Aber ſo ſieht die Sache
höchſt merkwürdig aus. Der Mund iſt auch ganz ge⸗
ſchloſſen. Und die Augen — na, ja, das gibt ſich wohl
noch. Das Meſſer hält er ganz regelrecht in der rechten
Hand, leicht gefaßt — ſehen Sie, es hängt bloß zwiſchen
den Fingern.“
Skram wandte ſich um. Im Zimmer ſtand außer
ihnen nur der Sekretär Holm.
„Das iſt wahr,“ ſagte Skram, „Jenſen kann noch
nicht zurück ſein; denn der Weg außen um die Stadt
herum und über den Schloßgraben iſt lang. Wo iſt
Ole Hanſen?“
„Hier,“ rief der Tafeldecker aus dem Vorzimmer.
„Dann kommen Sie herein,“ ſagte Skram.
„Kann ich nicht davon befreit werden?“ erwiderte
der Tafeldecker ängſtlich. „Ich bin ſchon ein alter Mann,
und Jörgen iſt ja auch da.“
„Jörgen,“ rief Skram — doch dann überlegte er
einen Augenblick lang. — „Nein, das geht doch nicht.
Wir müſſen warten, bis Jenſen kommt.“
„Jörgen paßt doch aber ſehr gut zum Zeugen,“
meinte der Arzt. 5
„Er iſt derjenige, der die Leiche gefunden hat,“
ſagte Skram, „und wird daher ſchon deswegen für
ae
ſich allein vernommen. Zum Zeugen können wir ihn
nicht brauchen. — Kommen Sie herein,“ rief er dann
Jörgen zu.
Dieſer trat ein.
Skram ſah ihn feſt an.
„Haben Sie den Kammerjunker tot aufgefunden?“
„Ja,“ antwortete der Diener, deſſen Antlitz un⸗
beweglich, aber ſehr ernſt war.
„Und Sie haben nichts an der Leiche verändert?“
„Nein, Herr Amtsrichter.“
Skram ſah ihn forſchend an, dann verſetzte er ruhig:
„Konnten Sie den Kammerjunker leiden, während
er noch lebte?“
Jörgen hob den Kopf hoch und erwiderte feſt:
„Nein, Herr Amtsrichter, denn er war ein ſehr ſchlechter
Menſch und hat uns alle geärgert. Mag ihm der Herr
jetzt gnädig ſein.“
Der Kreisarzt ſtutzte.
„Gut, Jörgen,“ ſagte Skram, „gehen Sie in die
andere Stube.“
Nachdem ſich die Türe hinter ihm geſchloſſen, beugte
ſich der Arzt über die Leiche. „Die Vene muß durch⸗
ſchnitten ſein,“ ſagte er, „denn bei einem Schnitt in
die Pulsader wäre das Blut bis zur Decke geſpritzt.
Ich kann die Sache nicht begreifen, aber natürlich liegt
Selbſtmord vor; es kann nur Selbſtmord ſein.“
„Davon bin ich auch überzeugt,“ ſagte Skram. „Ich
fragte Viffert ſelbſt geſtern abend, ob er daran denke,
und ich hatte allen Grund zu einer ſolchen Frage.
Über die Motive können wir ja ſpäter noch reden.
Außerdem aber hatte er ein Herzleiden. Davon wiſſen
Sie wohl?“
„Nein,“ verſetzte der Arzt — „er hat niemals dar⸗
über mit mir geſprochen. Er hielt nichts von den
Arzten, wie er ſagte. — Herzkrank ſoll er geweſen ſein?“
fügte er kopfſchüttelnd hinzu. N
Skram fuhr fort. „Der Gedanke liegt nahe, daß
er in der Nacht einen Anfall bekommen und aus
— 42 —
dieſem Grunde und den andern Motiven ſeinem
Leben ein Ende geſetzt hat.“ — —
Der Polizeibeamte meldete ſich nunmehr, und ſo
nahmen ſie ein Protokoll über den Toten und ſeine
Lage im Bett auf.
Skram nahm darauf das Barbiermeſſer betrachtend
in die Hand und drehte es ſo, daß die Sonne ſich in
der breiten Klinge ſpiegelte.
„Komiſch,“ ſagte er, „geſtern abend erzählte er mir
noch, daß er kein Barbiermeſſer in der Hand halten
könne, weil er fürchte, vielleicht Luſt zu bekommen,
ſich die Kehle abzuſchneiden, und als er geſtern dieſes
Meſſer vom Grafen zum Geſchenk erhielt, ſagte er ——“
Skram ſchwieg plötzlich, wandte ſich dann um und
ging zum Toilettentiſch, auf dem das Etui mit den
Meſſern ſtand.
„Sehen Sie mal, Herr Kreisarzt, da liegt Methode
darin; auf dem Rücken dieſes Meſſers ſteht Tuesday.
Und heute iſt auch richtig Dienstag. Er hat Ordnung
in den Dingen haben wollen. Da können Sie die
anderen Meſſer ſehen.“
Damit öffnete er das Etui und ſchaute die Meſſer
an. Doch plötzlich ergriff er den Kreisarzt beim Arm.
„Doktor,“ rief er erſtaunt, „was iſt das? — —
Sehen Sie her — geſtern abend habe ich ſelbſt die
Meſſer im Etui geſehen, und da waren ſie alle mit
den Namen der Tage von Sonntag bis Sonnabend
verſehen. Hier iſt nun das Meſſer, das wir in Vifferts
Hand gefunden haben.“
Skram hatte ſeine Stimme zum Flüſtern herab⸗
gedämpft. Der Sekretär und Jenſen ſtanden im
Vorzimmer, wo ſie das Protokoll auf dem Tiſch aus⸗
gebreitet hatten.
„Herr Kreisarzt, die Sache ſtimmt nicht,“ ſagte
Skram. „Sehen Sie ſich die Meſſer an, die hier im
Etui liegen; auf ihnen ſteht: Sonntag, Montag,
Dienstag, Mittwoch — — — Donnerstag fehlt —
Freitag und Sonnabend. Donnerstag fehlt, und auf
=, 15
dem Meſſer, das ich hier in der Hand halte, mit dem
Viffert ſich den Hals abgeſchnitten haben ſoll, ſteht
Dienstag!“
Der Kreisarzt begriff nicht.
„Ja, ſehen Sie,“ fuhr Skram in demſelben ge⸗
dämpften Tone fort, „ich habe dieſe Meſſer geſtern
abend ſelbſt im Etui geſehen; und ich weiß beſtimmt,
daß ſie alle mit dem Namen der Wochentage verſehen
waren. Hier ſind nun zwar auch ſieben Meſſer, aber
zwei davon ſind mit Dienstag gekennzeichnet, während
das Donnerstagmeſſer fehlt.“
„Ich begreife nicht,“ ſagte der Doktor, „wie das
möglich iſt.“
Skram flüſterte jetzt ganz leife. — „Unten auf dem
Toilettentiſch des Grafen ſteht genau ſolch ein Etui
mit Meſſern wie dieſes hier, und ich ſage Ihnen, in
dem werden Sie zwei Donnerstagmeſſer, aber dafür
kein Dienstagmeſſer finden. Verſtehen Sie jetzt?“
Der Arzt war bleich geworden. — „Das be⸗
deutet“
„Mord,“ vollendete Skram. „Der Mann da hat
nicht Selbſtmord begangen; ſondern iſt ermordet
worden.“
Der Kreisarzt ſchritt langſam zum Bett hin.
Skram fuhr fort. „Ich erinnere mich deutlich, daß
Viffert mir geſtern abend im Scherz vormachte, daß
er ſich den Hals abſchneiden werde; und dabei
führte er die Hand ganz richtig über die Pulsader an
der rechten Seite, nicht aber wie der Schnitt ausgeführt
iſt, über die Mitte.“
„Wer kann es aber begangen haben?“
Skram ſchwieg eine Weile lang.
„Herr Doktor Kühn,“ ſagte er dann. „Sie und ich,
wir ſind Amtsperſonen, und wir haben unſere Pflichten;
außerdem ſind wir die Vollſtrecker des Teſtaments.
Ich werde ſicher meine Pflicht tun, aber ich ſage Ihnen
ſchon jetzt — wäre ich frei und ohne amtliche Verant⸗
wortung, dann würde ich dieſe Sache als Selbſtmords⸗
ar, Ka =
ſache ſchließen. Ich weiß, was Sie fagen wollen,
Doktor Kühn, aber Sie brauchen es nicht zu ſagen.
Ich kenne meine Pflicht und werde danach handeln.
Bloß um das eine bitte ich Sie: bewahren Sie Still⸗
ſchweigen über unſere Entdeckung, denn eben nur dann
kann ich meine Pflicht tun. Wir nehmen eine geſetz⸗
mäßige Leichenſchau vor und geben Selbſtmord als
Todesurſache an. Alle Umſtände zeugen dafür. Ver⸗
ſtehen Sie mich recht, nur dann kann meine Unter⸗
ſuchung von Erfolg begleitet ſein, wenn der Täter ſich
in Sicherheit glaubt. Nur Sie und ich — und der
Täter wiſſen, daß es Mord iſt. Für alle anderen iſt es
Selbſtmord.“
Der Arzt nickte ſchweigend. —
Noch vor Rückkehr des Grafen von ſeinem Ausflug
war die Leichenſchau beendet und der Körper des
Kammerjunkers auf einer Bahre ins Krankenhaus ge⸗
bracht worden, wo der Kreisarzt die Obduktion vor⸗
nehmen wollte.
Das furchtbare Begebnis konnte nicht verborgen
bleiben, und gegen Nachmittag redete die ganze Stadt
von dem Selbſtmord des Kammerjunkers. Vom
Schloß her aber war nichts zu erfahren, und das Kreis⸗
amt verweigerte jede Auskunft.
II.
Skram war ein tüchtiger Juriſt, der ſeine Examina
glänzend beſtanden hatte. Seine Erziehung hatte in
den Händen eines Vaters gelegen, der ſelbſt ein hervor⸗
ragender Juriſt war. Von früheſter Jugend an hatte
er im Hauſe ſeines Vaters Gelegenheit gehabt, die be⸗
rühmteſten Richter des Landes zu ſehen und zu hören.
Er ſelbſt war beim Kopenhagener Amtsgericht und
darauf fünf Jahre lang beim Juſtizminiſterium tätig
geweſen. Er verſtand feine Sache gut und war außer-
dem ein gebildeter und ſehr beleſener Mann, der das
Studium von Verbrechen zu ſeinem Lebensſtudium
us 1
gemacht hatte, aber auch gleichzeitig feine Zeit zum
Studium von Menſchen benutzte.
Skram war Ariſtokrat; er gehörte einem alten
däniſchen Adelsgeſchlecht an; ſein Vater war konſer⸗
vativ, und das war er, wenigſtens in politiſcher Hin⸗
ſicht auch. — —
Was die Sache betraf, die er jetzt vornehmen wollte,
ſo fühlte er, daß dieſe das Einſetzen ſeiner ganzen Kraft
verlangte. Unter Bewahrung völligen Stillſchweigens
nach außen hin mußte ſie geführt werden. Er war
überzeugt davon, daß hier ein Mord vorlag, aber den-
noch beeilte er ſich nicht, ſeinen Verdacht gegen eine
beſtimmte Perſon zu richten, ja, er kämpfte ſogar da⸗
gegen an, um nicht eine falſche Spur zu betreten. Er
mochte mit keiner Hypotheſe beginnen, deren Wurzel
in einem Umſtand außerhalb der Situation, wie er
ſie zuerſt vorgefunden hatte, zu ſuchen war. Dadurch,
daß er jeden Verdacht zurückwies, ſchloß er von vorn⸗
herein jeden Fehlgriff aus. Auf ſchnelles Handeln kam es
hier nicht an, denn verwiſcht konnte die Spur, die er
gefunden hatte, nicht werden. Sie beſtand nur aus
einem Umſtand, der aufgeklärt werden mußte — aus
einem einfachen, beweglichen Gegenſtand — dem ge⸗
fundenen Barbiermeſſer, das auf ſeinem Rücken den
Tagesnamen Dienstag trug! Und das einzige, was
er jetzt tun konnte, war, daß er das Etui ſowie das
Meſſer, das in des Toten Hand geſteckt hatte, an ſich
nahm.
Während Jörgen bei der Tragbahre beſchäftigt
war, ging Skram haſtig die Turmtreppe hinab, die zu
den Schlafzimmern im erſten Stockwerk führte. Er
öffnete die zur Wohnung führende Tür und ſtand im
Schlafgemach der Gräfin, das unmittelbar unter
Vifferts Wohnzimmer lag.
Das Zimmer war mit reichlichem und ſtilvollem
Luxus ausgeſtattet. Niemand war zugegen, und
Skram, der die Wohnung bereits früher geſehen hatte
und ſie daher kannte, ſchritt eilig zu der gegenüber⸗
. =
liegenden weißladierten Tür, durch die er ins An⸗
kleidezimmer des Grafen trat.
Hier ſtand ein großer Toilettentiſch dem Fenſter
gegenüber. Auf dem weißen Tuch, das ihn bedeckte,
lagen Bürſten, Kämme und allerhand koſtbare Toiletten⸗
gegenſtände — mitten unter ihnen neben einem blanken
Metallſchälchen auch ein Barbiermeſſer, das genau dem
glich, das er im Zimmer des Kammerjunkers gefunden
hatte. Er nahm es betrachtend in die Hand — — auf
dem Rücken der Klinge ſtand Donnerstag!
Skram ſchaute ſich in der Stube um. Alles war in
ſtrenger Ordnung gehalten, denn dem Grafen war
jede Unordnung zuwider. Auf einer Etagere am
Fenſter erblickte Skram einen kleinen Kaſten, der genau
dem Etui glich, das er in der Hand hielt; er trat zur
Etagere hin und öffnete das Käſtchen, und wie es
ſein mußte, ſo war es: in dieſem Etuis lag noch ein
zweites Donnerstagmeſſer, während das Dienstagmeſſer
fehlte.
Skram zögerte einen Augenblick lang; es war augen⸗
ſcheinlich, daß der Graf das Raſieren bis auf ſpätere
Zeit verſchoben hatte; denn die kleine Metallſchale war
noch unbenutzt, und das Meſſer anſcheinend erſt zum
Gebrauch hervorgeholt worden. Demnach hatte der Graf
die Abſicht, nach ſeiner Rückkehr ſeine Toilette zu voll⸗
enden, und er mußte dann entdecken, daß es nicht das
richtige Meſſer war, er mußte entdecken, daß eine Um⸗
wechslung zweier Klingen ſtattgefunden hatte und
dann — — — In einem Falle würde er ſchweigen,
in einem Falle, den Skram bereits in Betracht ge⸗
zogen, doch unter die anderen Vermutungen zurück⸗
gewieſen hatte. In allen anderen Fällen würde er
reden.
Skram überlegte. Würde es ſich nicht empfehlen,
das richtige Meſſer an die Stelle des falſchen zu legen?
Sowohl er als auch der Kreisarzt hatten ja den ver⸗
dächtigen Fall konſtatiert; er gehörte bereits zu den
Akten. Inſofern alſo würde das Umwechſeln der
=
Meſſer nicht ſchaden, doch in dieſem Falle griff Skram
das Beweismaterial an und ließ einen Anhaltspunkt
fahren, der unter Umſtänden von großem Nutzen ſein
konnte.
Was ſollte er tun?
Er wandte ſich haſtig um und eilte durchs Zimmer
der Gräfin zur Wendeltreppe zurück, die nach Vifferts
Zimmer führte. Als er ins Turmzimmer eintrat,
ſtand der Kreisarzt allein vor dem Bett und unterſuchte
die blutbefleckten Bettſtücke.
„Doktor,“ ſagte Skram, „kommen Sie mit.“
Sie ſchritten nun zum Ankleidezimmer des Grafen
hinab, und während der Doktor verſtändnislos daneben⸗
ſtand, tauſchte Skram die Meſſer um, ſo daß die Klinge,
die jetzt auf dem Toilettentiſch lag, den Vermerk Diens⸗
tag trug, wie es der Ordnung entſprach.
„Doktor,“ ſagte Skram, „ich habe nicht Zeit, Ihnen
den Grund dieſes Tuns zu erklären, ich will Ihnen
jetzt bloß ſagen, daß ich meine Gründe dazu habe. Ich
deute hier mit Bleiſtift die Stelle des Tiſches an, auf
der wir das Meſſer fanden; dieſes ſtecken wir nunmehr
in Vifferts Etui, in das es ſicher hineingehört. Ich
bitte Sie, genau darauf zu achten. Warum ich dies
tue, werde ich Ihnen ſpäter erklären. Wir können ja
jetzt nach Hauſe gehen, und wenn Sie bei mir früh⸗
ſtücken wollen, werde ich mit ein paar Worten ver⸗
ſuchen, Sie in die ganze Situation hineinzuverſetzen.
Das Barbiermeſſer iſt in Wirklichkeit die einzige Grund⸗
lage meines ganzen Wiſſens in dieſer Sache. Dieſe
kann außerordentlich einfach und ſimpel ſein und bis
Sonnenuntergang ihre Erklärung gefunden haben.
Aber ebenſo gut kann ſie ſich auch ſehr verwickelt ge⸗
ſtalten und Ihnen und mir viel zu denken aufgeben,
bevor wir ſie abſchließen können. Kommen Sie, wir
wollen gehen; hier können wir ja doch nichts weiter
ausrichten.“
So gingen ſie.
III.
Der Kreisarzt frühſtückte richtig bei Skram, und
während der Mahlzeit ſprachen ſie über die Sache.
Skram gehörte nicht zu denen, die gleich allen ihr volles
Vertrauen ſchenken, aber in dieſer Sache war der
Kreisarzt ſein Mitwiſſer, der einzige, den er in ſein
Geheimnis einweihte. Dazu kam, daß Doktor Kühn,
der vertretungsweiſe auch als Gemeindephyſikus fun-
gierte, der einzige amtliche Arzt war, der mit dieſer
Sache zu tun bekam. Er war ein freiſinniger und
vorurteilsloſer Mann, ein Menſch, auf den Skram in
jeder Hinſicht rechnen konnte. Aufs höchſte intereſſiert
lauſchte er den Berechnungen des Richters und brummte
ab und zu mißbilligend oder beiſtimmend.
Als ſie im Gartenzimmer beim Kaffee ſaßen, fragte
der Doktor: „Was wollen Sie nun eigentlich tun?“
„So wenig als möglich,“ erwiderte Skram. „Am
meiſten Luſt hätte ich, mich bei der Bezeichnung ‚Selbit-
mord“ zu beruhigen. Viffert war mir immer zuwider,
und ſein Tod iſt ihm außerdem nicht unerwartet ge⸗
kommen. Schließlich gereicht ſein Ableben keinem
Menſchen zum Verdruß, ſondern im Gegenteil allen,
die davon überhaupt berührt werden, zum Nutzen und
zur Freude, Sie, lieber Doktor, und mich nicht aus⸗
genommen. Nun iſt es jedoch eine komiſche Eigen⸗
ſchaft von uns Menſchen, daß wir rein inſtinktmäßig
aus dem Selbſterhaltungstrieb der Geſellſchaft heraus
uns gegen jede Art von Verbrechen wehren. Mir
würde ſelbſt als Laien unzufrieden und unbehaglich
zumute ſein, wenn ich wüßte, daß ein Mord in aller
Stille als Selbſtmord ad acta gelegt werde. Als
Amtsperſon nun gar kann ich mich ganz und gar nicht
da hineinfinden, und als Behörde dieſes Ortes bin ich
ja geradezu gezwungen, mich weiter mit der Sache
zu befaſſen.“
„Das wollen Sie alſo auch tun?“
„Selbſtredend.“
198
„Aber wo beginnen?“
„Das will ich Ihnen ſagen,“ erwiderte Skram.
„Sehen Sie, Vifferts Zimmer liegt in der zweiten
Etage, und die Tür zum Korridor war wie immer
feſt verſchloſſen. Die Tür dagegen, die aus demſelben
Zimmer auf die Wendeltreppe führt, war nicht ver⸗
ſchloſſen. Er hat mir einmal ſelbſt erzählt, daß er es
nicht liebe, bei offenen Türen zu ſchlafen, aber ſich ander⸗
ſeits auch davor fürchte, bei einer etwaigen Feuers⸗
gefahr im Schlafe verbrannt zu werden, weil niemand
zu ihm hätte dringen können; er ſchlief nämlich auf⸗
fallend feſt. Ja, der gute Viffert war ſehr beſorgt um
ſein Leben, aber hier auf der Edelsburg — das geſtand
er ſelbſt ein — fühlte er ſich einigermaßen ſicher, denn
ſeine Tür zum Korridor konnte er verſchließen, die
Tür zur Wendeltreppe dagegen ruhig offenſtehen
laſſen. Aufwärts führt dieſe Treppe ja nur zum
Zimmer der Kammerjungfer Leonie, abwärts aber
zum Schlafzimmer der Gräfin, das nach dem Korri⸗
dor zu ebenfalls ſtets verſchloſſen iſt. In der unter⸗
ſten Etage ſchließlich liegt an der Treppe nur das
Dienerzimmer, in dem Jörgen mit dem Dienerburſchen
John wohnt. Sehen Sie, in dieſer Gruppierung haben
wir alle Perſonen bei einander, die für einen Ver⸗
dacht in Frage kommen. John will ich aus dem Spiel
laſſen.“ f
„Und die Gräfin?“ fiel der Doktor ein.
„Selbſtredend auch die Gräfin. — Es bleiben dem⸗
nach: der Graf, Jörgen und Leonie. Von dieſen iſt
vor allen Jörgen verdächtig. Freilich iſt er ein tüch⸗
tiger Menſch, über den nichts Unvorteilhaftes bekannt
iſt, aber er iſt der letzte, den ich mit Viffert zuſammen
geſehen habe, und zugleich derjenige, der den Toten ge⸗
funden hat. Außerdem hat er ſelbſt — und auch Viffert
— von dem leicht begreiflichen Haß, den er gegen den
Ermordeten hegte, geredet. Ich habe ſelbſt gehört,
wie Viffert ihm erzählte, daß er nach dem Tode des
Kammerjunkers ein wohlhabender Mann ſein b,
XXVI. 19.
22 50
und Viffert ſchlug ihm dabei ſcherzweiſe ſelbſt die
Methode vor, nach der er den Erblaſſer umbringen
ſollte, wie es jetzt ja auch geſchehen iſt. Und da Jörgen
gerade derjenige iſt, der das Meſſer des Grafen bereit
zu legen hatte und auch das Etui auf den Toiletten⸗
tiſch des Kammerjunkers geſetzt hat, ſo kann ihm ſehr
leicht die Idee gekommen ſein, die Meſſer nach dem
Morde umzutauſchen, um das Verbrechen zu verbergen.
Der einzige ſchwierige Punkt hiebei iſt, daß er bei der
Umwechslung die Tagesnamen nicht beachtet haben
ſollte. Dies Verſehen iſt jedoch inſofern erklärbar, als
die engliſchen Namen Tuesday und Thursday von
einem Manne, der wie Jörgen nicht engliſch verſteht,
leicht verwechſelt werden können. Seine Unwiſſen⸗
heit erklärt auch den ungeſchickten Schnitt. Es war
ihm leicht, ſich ins Zimmer des Kammerjunkers zu
ſchleichen, und ebenſo leicht, ſich wieder hinabzuſchleichen.
Wie Sie ſehen, liegt ein prächtiges Indizienmaterial
vor, das durchaus genügen würde, eine augenblickliche
Verhaftung vorzunehmen. Der arme Jörgen iſt im
Grunde genommen ganz wehrlos, und daher nehme
ich es auch nicht eilig mit ſeiner Verhaftung.
Was ſeine Liebſte betrifft, ſo liegt die Sache derart,
daß man ſie nicht gut von dem Verdachte der Mit⸗
wiſſenſchaft befreien kann. Die Idee zu der Tat kann
leicht in ihrem fixen, kleinen Kopf entſtanden ſein, und
ſie hat ſich in den ſchönen däniſchen Diener ſicher
ebenſo ſehr vergafft, als ihr der gräſige Kammer⸗
junker, mit dem ſie ſich nur aus finanziellen Gründen
abgab, zuwider war. Sie können mir glauben, lieber
Doktor, in neun von zehn Fällen würde es nicht nur
klug gehandelt, ſondern einfach meine Pflicht ſein, hier
mit Verhaftungen vorzugehen. Arreſt, Verhör, Auf⸗
wicklung der Indizien und des ganzen Tatbeſtandes
könnten in acht Tagen mit Glanz erledigt ſein!“
„Warum tun Sie es dann nicht?“ fragte der Doktor
aus einer mächtigen Rauchwolke heraus.
„Weil Sie es auf eine ſolche bloße Vermutung hin
a
ebenfalls nicht tun würden. Keiner von uns mag
einen Juſtizmord begehen, und außerdem haben wir
uns bisher nur mit den Leuten der Dienerſtube und
der Manſarde beſchäftigt. Die Herrſchaft im erſten
Stock haben wir ganz außer acht gelaſſen!“
„Tja!“ rief der Doktor, ſtutzig geworden.
„Wir nahmen vorhin die Gräfin aus. Schön, das
will ich auch jetzt tun. Nicht etwa, weil ſie am Tode
Vifferts kein Intereſſe hätte, denn ſie iſt ja ſeine Erbin.
Aber es iſt mir einfach unmöglich, mir die Gräfin
Polly als — Lady Macbeth vorzuſtellen. Wenn ich
ſage unmöglich, ſo meine ich damit, daß dieſer Gedanke
meine letzte Zuflucht iſt, wenn alle Stränge reißen,
und daß ich dieſen Verdacht nur auf eine mündliche
1 mit ihr, nicht auf Vermutungen begründen
will.
Mit dem Grafen dagegen iſt es eine andere Sache.
Er hat mir ſelber erzählt, daß er den Mann haſſe; er
bringt nämlich den Entſchluß der Gräfin, ihn zu verlaſſen,
mit Viffert in Verbindung. Er hat ſich — als Hirtennatur,
die er Ihrer Theorie nach iſt — ſicher oft mit dem
Gedanken beſchäftigt, Viffert aus dem Wege zu räu⸗
men, und von der Überlegung zur Handlung führt
nur ein Schritt. Um das Zimmer Vifferts nachts zu
erreichen, mußte der Graf freilich das Schlafgemach
der Gräfin paſſieren, aber dieſes iſt zweifellos nach
ſeinem Zimmer zu unverſchloſſen geweſen. Schwerer
läßt ſich der Umſtand mit den Meſſern erklären. Seiner
ganzen Natur nach zu urteilen, dürfte er ein ſolches
Verſehen kaum begangen haben. Daß er ſich, als er
zur Tat ſchritt, mit einem Meſſer bewaffnet haben
möchte, traue ich ihm ſchon zu, doch daß er ſich hinter⸗
her dadurch kompromittiert haben ſollte, daß er ein
falſches Meſſer aus dem Etui nahm, das traue ich
ihm nicht zu. Es iſt, wie geſagt, ein ſchwieriger Punkt.
Und wenn ich vorhin die Meſſer auf dem Tiſch des
Grafen umtauſchte, ſo geſchah es in der Abſicht, ihm
eine Falle zu ſtellen.“
— 52 —
„Sie halten ihn alſo wirklich für den Täter, ihn,
den edlen, rechtſinnigen Grafen Henrik?“
„Den Hirten, ja,“ ſagte Skram lächelnd. „Aber ich
ſagte Ihnen ja ſchon, daß ich einen beſtimmten Ver⸗
dacht auf niemand werfe. Ich meine bloß, daß er Grund
zu dem Mord gehabt haben kann. In dieſem Fall
muß er ſo aufgeregt geweſen ſein, daß er aus reiner
Nervoſität den Fehler begangen hat, als er das Meſſer
umtauſchen wollte. Wenn er nun nach ſeiner Rück⸗
kehr von der Ausfahrt das eigene Meſſer benutzte, ſo
würde er nicht umhin können, den Fehler zu entdecken,
und demzufolge gründlich auf ſeiner Hut ſein. Ich
weiß ganz genau, daß ich geſtern abend die ſieben
Klingen mit den Tagesnamen geſehen habe, aber was
würde einem Manne wie dem Grafen Henrik Eiſen⸗
bart gegenüber, der Lehensgraf, Kammerherr und
Danebrogritter iſt, der Verdacht eines jungen, ſoeben
ernannten Richters zu bedeuten haben, der ſich zu be⸗
haupten unterfängt, nachdem er ein Diner von acht
Gerichten nebſt den dazu gehörigen Weinen und Whis⸗
kys mit Soda eingenommen, mitten in der Nacht ein
paar mattgeſchliffene Namen auf einigen Barbier⸗
meſſern geſehen zu haben? Und anders iſt es doch
in Wirklichkeit nicht!“
„Nein,“ ſagte der Doktor, „da haben Sie recht.
Aber anderſeits ſehe ich auch gar nicht ein, inwiefern
die von Ihnen vorgenommene Umwechslung der
Meſſer die Sache verbeſſert?“
„Dadurch erreiche ich etwas ſehr Wichtiges: ich
verhindere, daß Jörgen, der ja auch der Täter ſein
kann, aber, falls der Graf die Tat begangen hat,
völlig unſchuldig iſt, in ein Geſpräch über die Meſſer
hineingezogen wird. Beide zuſammen ſind ſie wohl
kaum ſchuldig, und ſo würde es nicht zu umgehen
ſein, daß ſie über den merkwürdigen Umſtand, daß
im Etui des Grafen zwei Donnerstag⸗Meſſer ſtecken,
miteinander reden. Und das will ich verhindern; es
ſoll über dieſe Meſſer nicht eher geredet werden, als
u
bis der richtige Zeitpunkt gekommen ift. Der Schuldige,
der den Tagesnamen auf dem Meſſer nicht beachtet
haben kann — denn ſonſt hätte er das Verſehen nicht be⸗
gangen — ſoll nicht Gelegenheit haben, über die Meſſer
zu reden, und der Unſchuldige ſoll in dem Glauben
verbleiben, daß Selbſtmord vorliege — bis ich ſelbſt
über den Mord zu reden beginne!“
„Das kann ſich freilich als klug erweiſen,“ ſagte
der Doktor, „aber ich glaube dennoch, daß die Meſſer
ein vorzüglicher Anhaltspunkt ſind.“
„Für mich, für uns, ja,“ unterbrach ihn Skram.
„Sie liefern uns die nahezu abſolute Gewißheit, daß
ein Mord begangen worden iſt. Ich kann mich nicht
irren, das weiß ich beſtimmt, denn ich habe die Namen
geſtern abend deutlich geleſen. Aber es beſteht ein
Unterſchied zwiſchen den Momenten, die dem Wiſſen des
Richters zu Grunde liegen, und den Momenten, die für
Dritte einen Beweis bedeuten. Aus dieſem Grunde
erleiden zahlreiche Unterſuchungsrichter mit Unrecht
Schiffbruch in der öffentlichen Meinung, die mit Miß⸗
trauen auf die Richtervermutungen ſieht. Ich verlange
niemals, daß andre an die Beweisgründe glauben, die
ich nur mit meinen Augen ſehe. Was ich zu tun habe,
iſt: die Meſſer ſo auszuſpielen, daß die Ausſagen der
Verdächtigen ſie ſelber verraten, weil ſie meine An⸗
ſichten beſtreiten und ich kein Intereſſe habe zu lügen.“
„Wollen Sie die Meſſer denn jetzt noch nicht aus⸗
ſpielen?“ fragte Kühn.
„Nein,“ erwiderte Skram, „ich will heute — und
vielleicht auch noch morgen — Vifferts Tod für Selbſt⸗
mord gelten und keinen Verdacht durchblicken laſſen.
Ich will nicht als Richter, ſondern als Freund des
gräflichen Hauſes mit allen Bewohnern des Schloſ—
ſes reden und von dem Barbiermeſſer ganz und gar
ſchweigen. Und es müßte merkwürdig zugehen, wenn
ich nicht vermittels der ſcharfgeſchliffenen Waffe, die
ich in der Reſerve habe, bereits morgen mit aller
Gewißheit davon reden könnte, worüber wir uns jetzt
— 4 —
nur in ſchlecht fundierten Hypotheſen ergehen können.
Nehmen Sie nun die Obduktion vor; es iſt wohl am
beſten, gleich jetzt die Sache zu beſorgen, bei der ich
ja nicht zugegen ſein brauche. Dann will ich heute
mit dem Grafen und der Gräfin reden und auch
Jörgen und Leonie verhören.“
So ſchieden die beiden Herren und gingen an ihre
Arbeit.
IV.
„Der Herr Amtsrichter mögen entſchuldigen, aber
der Herr Graf iſt eben dabei, ſich umzukleiden.“
Skram ſtand in der Vorhalle des Schloſſes Jörgen
gegenüber, den er hatte rufen laſſen.
„Ganz gleich,“ ſagte Skram, „heute kann ich darauf
nicht Rückſicht nehmen. Ich muß den Grafen ſogleich
ſprechen.“
„Der Herr Graf iſt gerade dabei, ſich zu raſieren,“
ſagte Jörgen etwas unwillig; „es iſt unmöglich, ihn
zu ſtören. Aber ich werde den Herrn Amtsrichter ſofort
melden.“
„Sie bleiben hier,“ verſetzte Skram kurz und ſchob
den Diener beiſeite. Nicht um alles in der Welt
wollte er ſich dieſe Gelegenheit entgehen laſſen.
Haſtig eilte er die Treppe hinauf und ſtand gleich
darauf vor der Tür, die zum Ankleidezimmer führte.
Nach einem kurzen, kräftigen Klopfen trat er ein.
Der Graf ſtand vor dem Spiegel. Die eine Hälfte
ſeines Geſichtes war eingeſeift, und in der Rechten
hielt er ein Barbiermeſſer. Er blickte Skram etwas
verwundert an, aber er war doch ein zu wohlerzogener
Mann, als daß er ſeiner Verwunderung Ausdruck ge⸗
geben hätte.
„Entſchuldigen Sie gütigſt, Herr Graf,“ ſagte Skram,
„aber nach dem, was vorgefallen iſt, muß ich Sie
dringend ſprechen.“
Der Graf machte nicht die geringſte Andeutung
darüber, daß der Amtsrichter doch wenigſtens ſo lange
— 55 —
hätte warten können, bis er den Schaum vom Geſicht
entfernt habe, ſondern deutete auf einen Stuhl und ſagte
lächelnd: „Wenn ich hiemit bloß erſt fertig wäre! Wir
haben ja heute genug Unglück mit einem Barbier⸗
meſſer gehabt.“ Und ernſter fügte er hinzu: „Um eins
möchte ich Sie bitten, Skram, betrachten Sie alles,
was ich geſtern ſagte, als nicht geſagt. Über die Toten
nur Gutes, und am Grabe ſenkt man den Degen.“
Skram nahm Platz und betrachtete den Grafen der
jetzt anfing, das Meſſer über die linke, unbarbierte
Wange zu führen, von der Seite.
„Da haben Sie ſich ja geſchnitten, Herr Graf,“
ſagte Skram. „Das iſt doch hoffentlich nicht meine
Schuld? Sonſt bitte ich tauſendmal um Entſchuldigung.“
Der Graf ließ die Hand mit dem Meſſer ſinken.
„Nein,“ ſagte er, „das tat ich, bevor Sie kamen. Es
pflegt mir übrigens ſonſt niemals zu paſſieren, daß
ich mich ſchneide, und ſeltſamerweiſe ſteht es auch
noch mit dem armen Viffert in Verbindung.“
„Inwiefern denn?“ fragte Skram und hielt vor
Spannung den Atem an.
Der Graf wies auf den Toilettentiſch, und Skram
ſah nun, daß ein zweites Meſſer auf der Platte lag,
deſſen Klinge im Seifnäpfchen ruhte.
„Ja, ſehen Sie, geſtern ſchenkte ich Viffert die
unglückſeligen Meſſer, von denen er eines zu ſeiner
ſchrecklichen Tat benutzt hat. Ich ſandte Jörgen geſtern
abend damit hinauf, und ich erinnere mich noch, daß
ich ſie vorher betrachtete. Aber dennoch kann ich nicht
begreifen, wie das zugeht. Wir müſſen einige Meſſer
vertauſcht haben, denn das Meſſer, das Sie dort
liegen ſehen, gehört in das andre Etui hinein.“
Skram erhob ſich mit einem Ruck und griff nach
der Klinge.
Der Graf fuhr fort: „Meine eigenen Meſſer gleichen
allerdings genau denen, die ich Viffert ſchenkte; ich
hatte ſie bloß zu meinem eigenen Gebrauch noch ein⸗
mal extra abziehen laſſen. Wollen Sie ſehen, dieſe
— 56
Klinge iſt um eine Kleinigkeit — eine ganze Kleinigkeit
— ſchmäler als die andre. Daher kam es, daß ich, der
ich an dieſe Meſſer gewöhnt bin, mir mit dem andern
einen kleinen Schnitt am Kinn beigebracht habe. Es
hat abſolut nichts zu bedeuten; das Merkwürdige be⸗
ruht bloß darin, daß es gerade heute paſſiert und daß
wir die Meſſer vertauſcht haben müſſen.“
Skram lauſchte atemlos. 8
„Ich halte ſtreng darauf, daß Jörgen immer das
Meſſer bereit legt, das dem Tage entſpricht; wie Sie
ſehen, ſteht Tuesday auf der Klinge dort. Ich kann
es mir nicht anders erklären, als daß Jörgen geſtern
unter den Meſſern der beiden Etuis herumgekramt
hat; der Unterſchied iſt ja auch nicht leicht zu be⸗
merken.“
„Die Meſſer, die Viffert erhielt, ſtimmen alſo nicht
ganz mit dieſen überein?“
„Nein, das liegt am Abzug, aber ſie ſind auch gut,
und —“ fügte er ernſt hinzu, „haben ſich ja leider
als brauchbar erwieſen. Hätte ich gewußt, was Viffert
vorhatte, dann hätte ich ſie ihm nicht gegeben.“
„Sie ſind alſo ganz ſicher darin, Herr Graf, daß
dieſes Meſſer in Vifferts Etui hineingehört?“
„Ja, ohne jeden Zweifel. Das hab' ich gleich ge⸗
ſehen. Ich werde es Jörgen ſagen, denn ich mag es
nicht gern haben, daß die Meſſer vertauſcht werden.“
Skram legte die Klinge auf den Tiſch.
„Entſchuldigen Sie, Herr Graf,“ ſagte er, „aber
als Polizeiverwalter muß ich Sie bitten, hierüber nichts
zu Jörgen zu reden!“
„Was meinen Sie?“ rief der Graf erſtaunt.
Skram räuſperte ſich. „Ja,“ ſagte er, „ich habe
Ihnen zu berichten, Herr Graf, daß durch einen ganz
wunderbaren Zufall der Kammerjunker ſich gerade mit
einem Dienstag⸗Meſſer verletzt hat. Das Meſſer wie
auch das Etui muß daher vorläufig in den Händen
des Gerichts bleiben — alſo bei mir. Jörgen kann
die Umwechslung daher nicht vornehmen, und ich muß
EDER
als Polizeimeiſter verlangen oder — richtiger, Sie
bitten, niemand ein Wort darüber zu ſagen.“
Der Graf betrachtete Skram mit höchſt erſtauntem
und ganz verſtändnisloſem Blick, und dieſer glaubte
daher, ſich noch eingehender erklären zu müſſen.
„Selbſtredend liegt durchaus nicht der Verdacht vor,
Viffert habe etwa nicht Selbſtmord begangen. Im
Protokoll iſt nichts darüber bemerkt worden, aber es
dreht ſich nun einmal um den Tod eines Menſchen,
und wir müſſen alle Möglichkeiten offen laſſen. Der
Umſtand, daß der Selbſtmord nicht mit einem Meſſer
aus Vifferts Etui, ſondern mit einem, das in Ihr
Etui hineingehört, begangen wurde, iſt an ſich vielleicht
bedeutungslos, aber mir als der Polizeibehörde hat
nichts bedeutungslos zu ſein.“
Der Graf begann zu verſtehen.
„Sie glauben doch wohl nicht, daß Jörgen.
aber das iſt ja ganz ausgeſchloſſen!“
Skram unterbrach ihn. „Ich glaube durchaus nichts,
Herr Graf, ſondern möchte Sie bloß bitten, niemand ein
Wort hierüber zu ſagen, nicht einmal Ihrer Gnaden.
Es tut nichts, wenn Sie und ich es allein wiſſen; ja,
um Jörgens willen iſt es ſogar beſſer fo, denn wenn es
herauskäme, ſo könnte das ſehr gefährlich für Jörgen
werden. Sie erinnern ſich wohl ſelbſt, welche Worte
geſtern abend bei Tiſch fielen. Ich brauche nur den
Namen Leonie zu nennen.“
Nun verſtand der Graf alles.
„Sie haben recht, Skram, ſelbſtredend haben Sie.
recht. Ich werde kein Wort ſagen und das Meſſer
werde ich ſelbſt reinigen. a
Skram fiel ein: „Wenn Jörgen es ſelbſt entdecken
und mit Ihnen darüber ſprechen ſollte, ſo wäre das
der beſte Beweis, daß er unſchuldig iſt.“
„Unſchuldig?“ ſagte der Graf. — „Sie glauben alſo
dennoch —?“
„Nein,“ verſetzte Skram, „ich glaube nichts, aber
ich weiß, wenn derartiges in einem Hauſe wie dem
u 8
Ihrigen geſchieht, jo entiteht draußen immer ſehr viel
Gerede, und vom Haufe ſelbſt follte nur jo wenig
als möglich in die Öffentlichkeit gelangen. — Doch
nun will ich nicht weiter ſtören, Herr Graf — denn
aus dem Raſieren wird es doch nichts, ſolange ich hier
bin.“
Skram lächelte und erhob ſich. „Ich werde in der
Bibliothek warten.“ f
„Wie Sie wollen,“ ſagte der Graf, „ich ſehe ſchon,
daß wir hierüber noch bedeutend mehr zu reden haben
werden, als ich gedacht hatte.“ f
„Vielleicht,“ erwiderte Skram. „Auf mich können
Sie jedenfalls zählen, Herr Graf, wie ich in jeder
Hinſicht Ihnen vertraue.“
Der Graf neigte den Kopf und Skram ging.
Und während er langſam den breiten Korridor
hinabſchritt, ſprach er leiſe vor ſich hin: „Eins iſt jetzt
jedenfalls gewiß — er iſt nicht der Täter!“
Dann lenkte er ſeine Schritte den Zimmern Vif⸗
ferts zu.
V.
Skram mußte zugeben, daß der Kammerjunker ein
vorſichtiger Mann geweſen war. Die Gewißheit, daß
ſeine Krankheit ſeinem Leben ein plötzliches Ende
machen könne, ohne ihm Zeit zu Vorbereitungen zu
laſſen, hatte ihn veranlaßt, alles zu vernichten, was
nach ſeinem Tode ihn ſelbſt und andre kompromittieren
könnte.
Jedenfalls fanden ſich in ſeinen Behältern, die
Skram ſorgfältig durchſuchte, nur alte, bedeutungsloſe
Briefe und Rechnungen vor. Seine Wertpapiere
waren nach ſeiner Angabe beim Credit Lyonnais in
Paris deponiert, von dem er einen Kreditbrief über
eine bedeutende Summe, ſowie ein Scheckbuch er⸗
halten hatte.
Skram nahm das Scheckbuch zur Hand und blätterte
darin, doch bei dem letzten abgeriſſenen Scheck hielt
59
er erſtaunt inne: auf dem zugehörigen Abſchnitt ſtand
nämlich von Vifferts Handſchrift geſchrieben: Leonie
Chaubert — zehntauſend Franken und das Datum
des vorangegangenen Tages.
Alſo hatte der Kammerjunker am vorigen Tage
Leonie einen Scheck über zehntauſend Franken ge⸗
ſchenkt, was eine recht anſehnliche Belohnung für eine
Zofe iſt, ſelbſt wenn man ſich ihr verpflichtet fühlt.
Daß Viffert ihr für einen gewiſſen Fall einen weit
größeren Betrag als Erbe ausgeſetzt hatte, war ja
bedeutungslos, denn daß ihr dieſe Erbſchaft zufiel, hing
von Umſtänden ab, die vielleicht niemals eintreten
würden. Mit einer Heirat zwiſchen der Gräfin Polly
und Sigismund Viffert konnte man noch nicht rechnen,
da noch keine Schritte zur endgültigen Löſung ihrer
erſten Ehe mit Graf Henrik getan waren. Die zehn⸗
tauſend Franken dagegen bedeuteten etwas Poſitives,
ſie waren bereits gezahlt.
Dieſer Umſtand redete nun aber ſtark dagegen, daß
Leonie Mitwiſſerin des Mordes ſein könne. Denn es
hatte doch nicht der geringſte Grund für ſie vorgelegen,
den Mann, der ihr ſoeben eine ſolche Summe geſchenkt
hatte, aus dem Leben zu ſchaffen, bevor das Geld
von der Bank abgehoben war. Von der ihr unter
Umſtänden zufallenden Erbſchaft konnte ſie auch nichts
wiſſen, und jedenfalls würde ſie kaum gerade zu dieſer
Zeit einen Schritt getan haben, um den Tod des
Erblaſſers herbeizuführen. ß
Skram beſchloß gleich, mit der „Mamſell“, wie
ſie auf dem Schloß genannt wurde, zu reden, und
läutete daher nach Ole, den er bat, die Mamſelle
herunterzurufen.
Mamſell Leonie kam. Sie war eine mittelgroße,
ſchlanke Pariſerin mit lebhaften braunen Augen und
einer von den Franzoſen ſo oft geprieſenen petit nez
rétroussé. Der Ausdruck ihres Geſichts wie ihr ganzes
Weſen war einſchmeichelnd⸗frech, aber doch recht an⸗
genehm. Sie führte ſich ſchicklich und nett auf, war
660
flink, jung und hübſch. Augenblicklich ſchien ſie ſich
etwas beklommen zu fühlen, aber darauf verſtand ſich
Skram vortrefflich.
Er redete ſie auf franzöſiſch an, um ſicher zu ſein,
daß ſie ihn verſtehe, und bat ſie, Platz zu nehmen.
Die Mamſell ſetzte ſich auf die Kante eines Stuhles,
wobei ſie ängſtlich nach der Tür ſchielte, hinter der
die Leiche gefunden worden war.
„Sie haben geſtern abend einen Scheck über zehn⸗
tauſend Franken von dem verſtorbenen Herrn Viffert
bekommen?“ fragte Skram, indem er, um die Mam⸗
ſelle zur Andacht zu ſtimmen, ein Taſchenbuch her⸗
vornahm und etwas auf dem weißen Blatt notierte.
„Ja, Monsieur,“ ſagte Mamſell Leonie, ein wenig
verlegen.
„Wofür haben Sie den Betrag erhalten?“ fragte
Skram weiter.
„Monſieur Viffert mochte mich gern,“ ſagte die
Mamſell ein wenig ſchnippiſch. „Er gab mir den
Scheck als Hochzeitsgabe. Monſieur müſſen nämlich
wiſſen, daß ich im Begriff ſtehe, Jörgen, den valet
de chambre des Grafen, zu heiraten.“
„Hatte der Verſtorbene denn beſonderen Grund,
Ihnen zugetan zu ſein? Kannte er Ihre Eltern, oder
ſtand er in andrer Weiſe in Beziehung zu Ihnen?“
„Nein,“ ſagte die Mamſell etwas verlegen, „er
war mir nur zugetan
Skram hielt es zwar für richtig, hier als Unter⸗
ſuchungsrichter aufzutreten, aber er war doch niemals roh.
Rückſichtnahme, ſelbſt überführten Verbrechern gegen⸗
über, gehörte zu ſeinen feſten Prinzipien. Und die
Mamſell war doch nur von Pariſer Art und höchſtens
ein wenig unmoraliſch. — „Ich bin beauftragt, den
letzten Willen des Verſtorbenen auszuführen,“ ſagte
er, „und in dem Teſtament befinden ſich Beſtimmungen,
die ſcheinbar darauf ſchließen laſſen, daß zwiſchen Ihnen
und dem Verſtorbenen eine Art Verhältnis beſtanden
hat. Sie verſtehen mich wohl, Mamſell, ich wünſche
zart
nicht, indiskret zu fein, aber als Beamter muß ich zu⸗
weilen gewiſſe Rückſichten fallen laſſen, und es ge⸗
ſchieht daher nicht, um Sie zu verletzen, ſondern aus
rein amtsmäßigen Gründen, wenn ich Sie frage, ob
Sie Herrn Vifferts Geliebte geweſen ſind.“
Von Mamſell Leonies Lippen kam ein leiſes
zaghaftes: „Ja.“
„Wie lange hat dieſes Verhältnis ſchon beſtanden?“
fragte Skram.
„Fünf Monate,“ erwiderte ſie. „Es begann kurz
nach Herrn Vifferts Herkunft. Er war immer ſo gentil
gegen mich, und außerdem war er ja auch alt. Ich bin
arm, ſehr arm und möchte gern heiraten. Aber ich
habe kein Heiratsgut, und Madame la Comteſſe will
mir keines geben.“
„Sie brauchen ſich nicht zu entſchuldigen, Mam⸗
ſell,“ ſagte Skram gutmütig. „Ich bin ja ſelbſt Jung⸗
geſelle und vermag die Situation vollkommen zu ver⸗
ſtehen. Ich habe auch nichts gegen die zehntauſend
Franken, die Ihnen ohne Bezug auf den Todesfall
gehören, einzuwenden, aber ich muß anderſeits ein
paar Fragen ſtellen, die Sie mir doch beantworten
müſſen.“ :
„Herzlich gern,“ ſagte Mamſell. Sie war recht
froh über den leichten Ton, in der Skram die Unter⸗
haltung führte; ſie fühlte feſten Boden unter den
Füßen und begann ſogar, mit ihren lebhaften, mun⸗
teren Augen ſpähende Blicke nach ihm auszuſenden.
Sie ſah in Skram bereits nur den ſchönen Mann, der
er war. Und auf Männer verſtand ſich die kleine
Pariſerin offenbar vortrefflich.
„Wann erhielten Sie den Scheck?“ fragte Skram.
„Ich will die Wahrheit ſagen,“ begann Leonie.
„Das hoffe ich,“ verſetzte er.
„Ich erhielt den Scheck heute nacht um eins oder
zwei. Ich war bereits ſchlafen gegangen, als es an
meiner Tür klopfte und ich davon aufwachte. Ich pflege
nämlich die zur Treppe führende Tür nie zu verſchließen
— 84 —
„Wie alt ſind Sie?“ fragte Skram.
„Vierundzwanzig Jahre.“
Das war gewiß richtig.
„Sie ſagten alſo, Herr Viffert habe Sie ah ein
Uhr verlaſſen. Legten Sie ſich dann wieder ſchlafen?“
„Nein,“ ſagte die Mamſell, ein wenig verlegen,
„ich glaubte, ich müſſe dieſe erfreuliche Begebenheit
noch meinem Liebſten erzählen, und ſo nahm ich ein
peignoir um und lief die Treppe hinab. Sein Zimmer
liegt nämlich unten im Erdgeſchoß an der Wendel-
treppe. Dort ſchläft er zuſammen mit John, aber
John ſchläft wie ein Stein, und ſo konnte ich mich
gut mit Georges unterhalten.“
„Das taten Sie denn alſo auch. — Wie lange?“
fragte Skram, der nun wieder als Unterſuchungs⸗
richter höchſtes Intereſſe empfand.
Die Mamſell errötete tief.
„Sie können es mir ruhig ſagen,“ verſetzte Skram
freundlich. „Herrgott, ich bin doch ſelbſt eine Manns⸗
perſon.“
Die Mamſell, die ſich augenſcheinlich recht genierte,
zögerte mit der Antwort — „es war ſieben Uhr,“ ſagte
ſie ſchließlich langſam, doch dann fügte ſie raſch hinzu:
„aber wir ſetzten auch die Hochzeit feſt und redeten über
die Zukunft und unſer Glück.“
„Und John ſchlief?“
„Nicht während der ganzen Zeit. Ich glaube, um
halb ſieben erwachte er und ſagte etwas zu Georges.“
„Entdeckte er Sie?“
„Ich glaube, ja; denn am Morgen beim Frühſtück
lachte er ſo verſchmitzt.“
„Ja, liebe Mamſell,“ ſagte der Amtsrichter, „nun
ſind Sie ja ganz außerordentlich offenherzig gegen mich
geweſen. Das wird nicht wieder nötig ſein, und Ihre
zehntauſend Franken können Sie von der Bank ab-
heben. Wenn Sie wünſchen, werde ich Ihnen gern
dabei helfen, denn es iſt möglich, daß man Ihnen nun,
da Herr Viffert tot iſt, Schwierigkeiten machen wird.
168
Sie müſſen mir bloß noch ſagen, ob Jörgen irgend
welchen Groll gegen Herrn Viffert gehegt hat.“
„Mon dieu, nein!“ rief die Mamſell. „Er ſagte
bloß, es wäre gut, daß es jetzt vorbei ſei; denn nun,
könnten wir uns auf Grund der Zehntauſend verhei⸗
raten.“
„Sagte er das, noch ehe er wußte, daß Monſieur
Viffert tot war?“
„Mais oui — ja — er ſagte es heute nacht. Ich
habe niemals Georges einzureden verſucht, daß ich
eine Heilige ſei, und er hat alles gewußt und iſt nicht
böſe darüber geweſen.“
„Auch auf Monſieur Viffert nicht?“
„Ih, nein, Monſieur! Viffert war ja ſo gentil.“
Skram mußte zugeben, daß ſein Verdacht gegen
Jörgen und deſſen Liebſte auf einen ſehr geringen
Reſt zuſammenſchrumpfte. Die ganze Darſtellung
der Mamſell trug das Gepräge der Wahrheit. Die
leichte, faſt plaudernde Art, in der die Ereigniſſe der
letzten Nacht hier von einem jungen Mädchen erzählt
wurden, das das Leben auf ſeine Art nahm, ließ die
Erzählung glaubhaft erſcheinen. Sie hatte nichts zu
verbergen und erzählte daher vertrauensvoll alles.
Ein ſolch kleiner Zug wie der, daß ſie ſich beeilt hatte,
Jörgen ihr Glück zu erzählen, und bis zum Morgen
in ſeinem Zimmer geweſen war, wo John geſchnarcht
hatte und mit einem Witzwort erwacht war, redete
für ſie. Zwei finſtere Mörder waren dieſe nicht, nein,
er war ein ſpießig kluger däniſcher Knecht und ſie ein
praktiſches Pariſer Mädchen, das in der Lebenslotterie
einen Gewinn von zehntauſend Franken gezogen hatte.
Es war ausgeſchloſſen, daß Jörgen die Tat vor zwei
Uhr begangen hatte, wenn das Mädchen die Wahrheit
redete, und das tat ſie ſicher, dafür ſprach ſchon der
Scheck. Dem Kammerjunker mußte die Idee hierzu erſt
gekommen ſein, nachdem Skram gegangen war, denn
ſonſt hätte er darüber geredet. Leonie hatte ſich gleich,
nachdem Viffert ſie verlaſſen hatte, zu Jörgen e
XXVI. 10.
geſchlichen, jo daß für dieſen ein regelrechtes Alibi
bis ſieben Uhr vorlag. Daß ſich Jörgen dann nach
ſieben Uhr, als ſchon alles im Schloſſe hell und erwacht
war, hinaufgeſchlichen habe, um dem Kammerjunker
zum Dank für den Scheck den Hals abzuſchneiden,
erſchien vorläufig wenig glaubhaft.
Hierzu kam noch, daß Jörgen, um wirklich den
Mord zu begehen, auf einem langen Umwege in das
Ankleidezimmer hätte gehen müſſen, da er das Schlaf⸗
gemach der Gräfin doch nicht paſſieren konnte; er
hätte ſich auf demſelben langen Umweg zurückſchleichen
müſſen, um zu Viffert zu gelangen, und ſchließlich noch
einmal auf demſelben Wege zurückkehren müſſen, um
das Meſſer auf den Toilettentiſch zu legen, alles
zwiſchen ſieben und ſiebeneinhalb Uhr morgens. Da
dürfte eine Unterſuchung wohl ergeben, daß ſein Alibi
in beſter Ordnung war.
Aber konnte Skram denn überhaupt eine Unter⸗
ſuchung beginnen, die ſich jetzt nur gegen eine beſtimmte
Perſon richten konnte?
Oder hatte der Graf recht? Waren die Meſſer
wirklich von Jörgen vertauſcht worden, und lag ſomit
Selbſtmord vor? Unmöglich! Er hatte ja ſelbſt die
Meſſer in richtiger Ordnung im Etui geſehen. —
„Monſieur,“ ſagte die Mamſell etwas zögernd,
„Herr Viffert gab mir geſtern abend einen Brief an
ſeinen Neffen Sigismund Viffert, den ich beſorgen
ſoll; doch darf ich ihn nicht mit der Poſt ſchicken. Ich
habe den Brief noch bei mir, und ich möchte — es
wäre mir am liebſten, wenn Sie den Brief an ſich
nehmen wollten.“
Skram ſtutzte.
„Das wünſche ich nicht nur, ſondern es iſt ſogar
Ihre Pflicht, mir den Brief zu geben,“ ſagte er. „Das
letzte Schreiben eines Mannes, der unter ſolchen Um⸗
ſtänden geſtorben iſt, muß der Obrigkeit übergeben
werden.“
Die Mamſell zog den Brief hervor.
er Bi
Skram erhob ſich und ſchritt mit dem Brief in der
Hand haſtig in das Zimmer, in dem er den letzten Abend
mit Viffert verbracht hatte.
Dort erbrach er das Sigel und las.
VI.
Edelsburg, am letzten Abend vor meiner Abreiſe.
„Mein guter Sigismund!
Du biſt von Deinem Vater, meinem Herzensbruder,
dazu erzogen worden, mich als das mauvais sujet der
Familie zu betrachten. Und als ihr — Du ſowohl
als Deine edle Sippe — mich nicht mehr ſchinden
konntet, biſt du mir mit deiner albernen Wohlerzogen⸗
heit entgegengetreten. Wir ſind keine Freunde, und
dieſer Brief iſt daher auch kein Freundſchaftsakt. Du
erhältſt ihn unter Verhältniſſen, die Erklärungen von
meiner Seite unnötig machen. Dein Urteil über mich
iſt mir gleichgültig, aber Du magſt wiſſen, daß Du nie
und nimmer etwas von mir erben wirſt — weder Du
noch — ſie!
Lies die beifolgenden Keinen, die zur Be⸗
lehrung eines in allen Tugenden erwachſenen Jüng⸗
lings verfaßt worden ſind. Sie werden vielleicht die
eine oder andre Deiner Illuſionen zerſtören — doch
dann iſt die Abſicht dieſer Zeilen auch erreicht. Meine
Memoiren eigne ich Dir alſo zu, damit Du ſie als
Richtſchnur benutzeſt.
Alſo ſtudiere ſie eifrig!“
Dem Briefe war ein Manufkript älteren Datums
beigefügt, das die elegante Handſchrift des Kammer⸗
junkers aufwies.
„Ich ſchreibe hier meinen Lebensroman. Aller⸗
dings ſtimme ich mit der Anſicht eines bedeutenden
Kritikers, der leider nicht mehr lebt, darin überein,
daß die Ichform eines Romans zu verwerfen iſt, aber
nichtsdeſtoweniger wird man es begreiflich finden, daß
ich, um meinen perſönlichen Roman zu erzählen, die Ich⸗
3
form benutzen muß. Die Schilderung meiner Eltern und
meiner Kindheit ſchenke ich mir. Gottlob iſt es aus der
Mode gekommen, mit der Schilderung des Helden ſchon
bei der Wiege anzufangen, und es würde Dir außerdem
wenig nützen, wenn ich Dir berichtete, wie ich als Sohn
tugendſamer, aber armer Eltern von einer Amme auf⸗
gepäppelt wurde und wie ich ſehr frühzeitig von der
Frucht des Baumes der Erkenntnis koſtete. Ich bin
entſchieden überzeugt, daß in meiner Kindheitsgeſchichte
auch nicht ein einziges Moment zur Beurteilung meines
ſpäteren Schidjal3 enthalten iſt.
Laſſen wir ſie alſo ruhig weg. Als ich ein ſiebzehn⸗
jähriger Jüngling war, debütierte ich in Kopenhagen
als vaurien, doch gab es damals immerhin noch Laſter,
in denen ich nicht meinen Mann ſtellte. Wenn es Dich
intereſſiert, will ich aber bemerken, daß ich als Achtzehn⸗
jähriger einen Wechſel fälſchte, was die gute Familie
in ſo hohem Grade alterierte, daß ſie mich per Zwangs⸗
paß nach Amerika exportierte. Ich will keine Zeit
mit eingeflochtenen, moraliſierenden Betrachtungen
vergeuden, aber ich kann mich doch nicht der Bemerkung
enthalten, daß ein Mann, ſelbſt wenn er als Achtzehn⸗
jähriger einen falſchen Wechſel geſchrieben hat, immer
noch ſehr ehrbar und rechtſchaffen ſein kann. Dies iſt
mein einziges wirkliches Verbrechen, und ich darf
ruhig behaupten, daß es in der Reihe meiner übrigen
unmoraliſchen Handlungen ziemlich hoch ſteht.
Aber, wie geſagt, man zog die Hand von mir ab.
Heimkehrende Amerikafahrer werden Dir berichten
können, wie meine erſten Jahre draußen in the far west
verliefen. Ich verweile nur bei den Ereigniſſen, die
typiſch für mich ſind, und da will ich gleich ſagen, daß
ich nach einigen wirklich ehrlichen Verſuchen, mich
durchzuſchlagen, eine Entdeckung machte, die maßgebend
für mein ganzes Leben wurde. Ich machte nämlich
die Entdeckung, daß der Mann, um ſich in den Sattel
zu ſchwingen, das Weib als Steigbügel benutzen kann.
Ich verlange nicht, daß Du dieſe Entdeckung als von
— 69 —
mir gemacht hinnimmſt. Ich weiß ſehr wohl, daß
ſchon zu allen Zeiten viele Männer das Weib als Steig⸗
bügel benutzt haben. Eine gute Partie zu machen,
dazu werden die armen Männer aus guter Familie
ja geradezu abgerichtet, und ſich mit Geld zu ver⸗
heiraten, iſt ebenſo verdienſtvoll, wie ein Examen zu
machen oder die drahtloſe Telegraphie zu erfinden.
Das weiß ich alles ſehr wohl. Aber das Neue oder,
richtiger das Beſondere in meiner Methode beſtand
darin, daß ich mich überhaupt nicht verheiratete; dazu
habe ich mich niemals bequemen können, denn ich bin
geborener Soliſt und haſſe die häusliche Gemütlichkeit.
Ich habe mich aber auch niemals von Weibern unter⸗
halten laſſen, durchaus nicht, das hatte ich auch gar nicht
nötig. Ich benutzte ſie — tout simplement.
Es begann mit Verlobungen. In Amerika verlobt
man ſich ſehr leicht, und ich bin mindeſtens zwanzigmal
verlobt geweſen, immer mit netten, anſtändigen Mäd⸗
chen, die ebenſo jungfräulich in das nächſtfolgende Ver⸗
löbnis hineinſchritten, wie ſie in das vorangegangene
mit mir gekommen waren. Es währte jedesmal nicht
lange; aber ich war ſehr nett und rückſichtsvoll und
ſtehe mit meinen Verfloſſenen, die inzwiſchen wohl
Großmütter geworden ſind, noch auf dem ſchönſten
Fuße. Während vieler Jahre verſchaffte mir das
mehrere vortreffliche Anſtellungen und ehrbare Amter.
Ich wechſelte allerdings etwas häufig, aber abgeſehen
von einem einzigen Fall, hat mich meine Tätigkeit als
Verlobter eine hübſch mit lebenden Blumen geſchmückte
Treppe hinaufgeführt, mit Blumen, deren ſüßen Duft
ich einatmete, ohne ſie zu brechen.
So wurde ich älter — bis in die Dreißiger gelangte
ich hinein, und es paßte nicht mehr ſo recht für mich,
verlobt zu ſein. Kurz entſchloſſen ſprang ich daher über
die verheirateten Frauen hinweg und legte mich auf die
Witwen. Von dieſen iſt in Amerika immer eine große
Auswahl vorhanden. Ich hatte mir nach und nach einige
Geſchäftskenntniſſe erworben und war auch im Spiel
ee
immer glücklich geweſen. Selbſt im Börſenſpiel hatte
ich niemals Pech, und ſo begann ich, Geld zu verdienen.
Ich wurde der Geſchäftsführer verſchiedener junger
Witwen, und behandelte dieſe gut und gewiſſenhaft. —
Eines ſchönen Tages machte ich die Wahrnehmung, daß
ich ein wohlhabender Mann war, und wie alle Leute
von mitgebrachter Kultur begann ich mich nach Europa
zu ſehnen. Ich will keine Vergleiche über die alte und
die neue Welt anſtellen, denn das iſt nutzlos und banal,
aber ein vermögender Edelmann kann ſeinen Wohn⸗
ſitz nun einmal nur in Europa haben.
Ich machte mich alſo von meiner letzten Witwe
frei, um nach Paris zu ziehen, und erſt hier beginnt
meine Geſchichte den Gegenſtand zu berühren, mit
dem ich Dein Wiſſen, mein guter Sigismund, berei⸗
chern will.
Ich logierte mich in einem kleinen, hübſchen Hauſe
am Square de Roule ein und ſchickte meine Karte
herum. Die däniſche Geſandtſchaft kannte meine Bank⸗
verbindungen, auch war ihr meine Familie zu Hauſe
nicht unbekannt. So wurde ich denn wohlwollend
aufgenommen, und der Zufall fügte es, daß ich durch
den däniſchen Geſandten in ein exquiſit feines Haus
eingeführt wurde, wo ich mit verſchiedenen franzö⸗
ſiſchen Adelsfamilien in Berührung kam.
An meinen amerikaniſchen Verbindungen hielt ich
ebenfalls noch feſt, und nach Verlauf einer kurzen Zeit
gelang es mir, einen Verkehr zwiſchen dem feinſten
franzöſiſchen blauen Blut aus den Tagen Franz des
Erſten und der Plutokratie der neuen Welt anzubahnen.
Natürlich führte ich dieſe Vermittlung nicht umſonſt
aus, ſondern ließ die Plutokratie kräftig bluten.
Sehr intereſſant ſind zum Beiſpiel die Aufzeichnungen
der Beträge, die ein Mr. Thomſon aus Detroit und
ein Mr. Smith aus Denver mir dafür zahlten, daß
ich ihnen Eingang in die Salons der Herzogin de la
Rochefoucauld und der Madame de Saint Leger
verſchaffte. Ich war ſehr teuer, aber ich fungierte auch
1
in tadelloſer Weiſe und hatte eine feine Naſe für
Menſchen.
Im Jahre 1890 machte ich die Bekanntſchaft einer
amerikaniſchen Konzertſängerin, die in den letzten
Tagen des Kaiſerreichs eine Rolle geſpielt hatte und
dann aus Paris verſchwunden war. Der Himmel
mag wiſſen, was ſie in den dazwiſchen liegenden
zwanzig Jahren geweſen iſt. Sie ſelbſt behauptete, in
Amerika mit einem halbverrückten Doktor verheiratet
geweſen zu ſein, und niemand konnte es ihr wider⸗
legen. Sie hatte jetzt eine achtzehnjährige Tochter
bei ſich, die Polly hieß und einfach wunderbar war.
Ich kann Weiber wohl beurteilen, aber nicht beſchreiben,
und mit einem Verſuch, Dir Polly Bradlaugh zu be⸗
ſchreiben, will ich dich lieber verſchonen. Du kennſt ſie,
wie fie jetzt iſt; — damals war fie von einer fraicheur
inexprimable — ſie war einfach vollendet! Und eine
Mannsperſon wie ich darf wohl beanſpruchen, daß
man ihrem Urteil Wert beimißt.
Madame Bradlaugh war nicht ſonderlich wohl⸗
habend, auch nicht ſehr fein, und ihre Stimme natür⸗
lich längſt zum Teufel. Aber ſie machte einen impo⸗
ſanten und nicht gerade abſtoßenden Eindruck. Du kennſt
wohl jene Sorte von Müttern, die, wenn ſie ihre
ſchönen Töchter begleiten, wie ein memento mori
wirken. So war Mrs. Bradlaugh nun nicht, ſondern
leichtlebig, muſikaliſch, liebenswürdig, kurz geſagt, recht
einnehmend, ihre Tochter aber ſchön wie eine Göttin.
Über Reichtum verfügten ſie nicht, doch wurden beide,
die in Begleitung eines Stallmeiſters aus der Zeit
des Prinzen Plonpon erſchienen, überall wohl auf⸗
genommen. — Nun iſt aber eine Heirat immer eine
ernſte Sache, und in Paris, wo ſo viele wirklich prächtige
Partieen zu haben ſind, iſt Schönheit allein nicht ge⸗
nug. Mrs. Bradlaugh hätte ſich nun mit Leichtigkeit
ein ſorgenfreies Alter ſichern können, wenn ſie ihre
Tochter der Halbwelt geopfert hätte. Dreihundert⸗
tauſend Franken jährlich und ein eigenes Hotel hätte
— 72 —
Miß Bradlaugh mit Leichtigkeit erzielen können, denn
ein paar ruſſiſche Fürſten, deren Reichtum ins Un⸗
ermeßliche ging, waren mehr als bereit dazu. Aber
Polly war verſtändig und — laß mich hinzufügen —
auch willensſtark.
Ich glaube, ihr Verſtand und ihre Willenskraft
retteten ſie, wenn man hier von Rettung reden kann.
Ich für meine Perſon halte nämlich die Stellung einer
privilegierten Pariſer Liebhaberin für ebenſo be⸗
gehrenswert wie die einer Miniſterfrau. Doch das iſt
Geſchmackſache.
Von dem, was ich jetzt erzähle, hat noch niemand
etwas erfahren, doch da es von durchgreifender Be-
deutung für mich und auch für ſie iſt, ſo will ich es Dir
erzählen und bitte Dich, gut aufzupaſſen.
Schon am erſten Abend, an dem ich Polly ſah, war
ich von ihrer Schönheit geblendet; ſo ließ ich mich denn
ihrer Mama vorſtellen, und dank meiner Routine im Be⸗
handeln von Witwen gewann ich bald ihr Vertrauen.
Ich rühme mich guter Manieren, habe ein ganzes Teil
geſehen, kurz mein Auftreten war tadellos. Außerdem
ſah ich vor dreizehn Jahren noch recht gut aus, und
Geld hatte ich — natürlich nicht bei weitem ſo viel,
als Miß Polly beanſpruchen konnte, aber — enfin,
ich ſtellte doch ſchon immer etwas vor. Ich wurde der
Kavalier der Damen, leiftete ihnen verſchiedene Dienſte
und verſchaffte ihnen — natürlich gratis — Einla⸗
dungen in amerikaniſche, engliſche und franzöſiſche
Kreiſe. Nachdem ich in ihren ſehr genau abgepaßten
Hausſtand aufgenommen worden war, machte ich ſelbſt
den Vorſchlag, ihr kleines Vermögen zu verwalten, kurz
geſagt, ich wurde ihnen das, was ein in der Pariſer
Geſellſchaft erfahrener Lotſe zwei Damen, die nichts
ſind und viel ſein wollen, nur werden kann. Eine
Zeitlang beſorgte ich dies gratis, denn ich bin von
Natur recht groß veranlagt und vermag von augenblick⸗
lichen Vorteilen abzuſehen. Außerdem hatte ich zu jener
Zeit gerade beträchtliches Glück an der New Porker
— 173 —
Börſe und legte den Grund zu dem, was ich jetzt, ohne
unbeſcheiden zu ſein, mein kleines Vermögen nennen
kann. Ja, ich habe einmal ſogar über eine Million
Kronen beſeſſen, doch hat es freilich nicht lange gedauert,
war aber gerade in jenen Tagen der Fall. Ich ſtand
damals dem Entſchluß nahe, Polly zu heiraten, und
— ich will es bekennen — freite regelrecht um ſie. Eine
Benommenheit war über mich gekommen, eine tiefe Be⸗
nommenheit, die nicht das Geringſte mit Liebe zu tun
hatte, und ich muß zu meiner Schande geſtehen, daß
dieſe Benommenheit noch zu jetziger Stunde vor⸗
handen iſt und zwölf ganze Jahre hindurch gewährt
hat. Ich nenne es nicht Liebe, denn mein Gefühl
enthält keinen Tropfen von Altruismus, und das,
glaub' ich, gehört rezeptmäßig dazu. Aber ſo wie da⸗
mals bin ich noch heute in leidenſchaftlicher Weiſe von
dieſem Weibe benommen — — und mit dieſer Be⸗
nommenheit werde ich ſterben — wenn ich nicht an
ihr ſterbe.
Ich freite alſo, und ſie ſagte — Nein!
Da ich auch bloß ein Menſch bin, ſo nahm ich mir
vor, den Verkehr mit den beiden Damen abzubrechen.
Selbſtredend ſagte Polly mir allerhand von Freundſchaft
und geſchwiſterlichem Gefühl und Erkenntlichkeit, Worte,
die die Weiber immer bei ſolchen Gelegenheiten auf der
Zunge haben, und die aus einer Art von Nächſtenliebe
hervorgehen. Darauf biß ich indeſſen nicht an. Ich legte
ihr ganz ausführlich meine Gefühle klar, übertrieb nichts,
ſondern tat im Gegenteil mit meinem Egoismus groß,
aber ich verbarg auch nicht, was ich von ihr wollte,
und ſagte rein heraus: wenn ſie nicht ſo wolle wie ich,
dann habe ſie auch von mir nichts mehr zu erwarten,
dann ſei es aus und vorbei. Der Narr eines Weibes
ſei ich nie geweſen und wolle ich auch niemals ſein!
Ich glaube, ich habe eine ganz beſondere Begabung,
auf Weiber einzureden, und die Unannehmlichkeit,
meine goldenen Worte zurückzunehmen oder auch nur
einen Verſuch dazu zu machen, werde ich mir nie be⸗
3
reiten. Beachte wohl: ſelbſt die geriſſenſten Roman⸗
dichter ſind nicht imſtande, eine Verführungsſzene
überzeugend zu ſchildern, während doch in der Praxis
ſo viele Tolpatſche die Sache virtuos verſtehen. Sie
läßt ſich eben nicht durch Worte ausdrücken, ſondern
liegt im Blut, im ganzen Interieur. Auf der Szene
kann man ſie ebenfalls nicht darſtellen, ſchon allein aus
dem Grunde, weil die beiden Darſteller — mit Reſpekt
zu melden — ſich nicht zuſammen ins Bett legen
können. Durch Muſik allerdings läßt ſie ſich ausdrücken
— eine Sekunde lang vorzaubern.
Ich will nicht lang und breit berichten, was da ge⸗
ſchah und wie es geſchah, ſondern mich kurz faſſen und
erklären, daß gerade, weil mich Polly Bradlaugh nicht
liebte und ich ſie nicht liebte, und gerade, weil ſie mich
verſchmähte und meine Aſſiſtenz, die ſie für wertvoll
anſah, nicht verlieren wollte, ſie meine Geliebte wurde.
Ich haſſe phyſiologiſche Unterſuchungen der Triebe
und werde Dich mit jedwedem Verſuch, zu erklären,
wie es zuging, verſchonen. Im Intereſſe der Wahrheit
muß ich ſogar eingeſtehen, daß es mir anfangs eine
nicht geringe Enttäuſchung bereitete — aber dennoch
lag in dieſem ganzen Verhältnis eine gewiſſe Pikanterie,
die nicht anders als anſpornend wirken konnte. Polly
hatte Willenskraft, und ich hatte Willenskraft, doch ohne
zu prahlen, darf ich behaupten, daß mein Wille gleich
die Oberhand gewann und ſie auch behielt.
Meine Stellung in der Geſellſchaft war feſt genug,
daß ich die beiden Damen beſchützen konnte, und ich
darf — wieder ohne zu prahlen — behaupten, daß ich
ganz außerordentlich geſchickt manövrierte. Ich unter⸗
hielt nicht etwa die beiden Damen — o, nein, ich unter⸗
ſtützte ſie kaum und meine Gaben waren ebenſo diskret
als beſcheiden. Aber ich verwaltete ihr kleines Ver⸗
mögen mit Umſicht, lief ab und zu ein kleines Riſiko
und ſorgte dafür, daß immer genug Geld da war. So
ging es ein Jahr lang. Die Mama wurde ſelbſtverſtänd⸗
lich Mitwiſſerin; die gute Seele hoffte gewiß auf eine
— 15 —
Ehe, denn ſie kannte mich nicht, und die alte Welt war
ihr neu. Ich ſelbſt war ruhig. Meine feſte Abſicht war
jetzt die, Polly eine gute Partie machen zu laſſen, und
ihr die zu beſorgen, bildete jetzt das Ziel meiner Arbeit.
Da machte ich plötzlich eine Wahrnehmung, die
mich im höchſten Grade beunruhigte. Ich will gern
zugeben, was ich jetzt erzähle, iſt für den, der ſich mit
den kritiſchen Einzelheiten in Pollys und meinem
Leben nicht vertraut gemacht hat, ſchwer verſtändlich.
Ich ſelbſt dagegen kann es mit Leichtigkeit erfaſſen,
und wenn Du Dir rechte Mühe gibſt, wirſt Du es
vielleicht auch begreifen.
Polly machte die Bekanntſchaft eines reichen, eng⸗
liſchen Edelmannes, eines Lord Newton, der ein netter,
junger Mann war, mir freilich nicht imponierte, aber
hunderttauſend Pfund jährlich Rente und einen ſchönen
Titel beſaß. Er war von ihr ſehr eingenommen, un⸗
abhängig, ohne mütterlichen Anhang und hatte alle
Luſt, ſie zu heiraten. Mrs. Bradlaugh und ich waren
ſehr für die Partie; es wäre ja geradezu lächerlich ge⸗
weſen, nicht mit beiden Händen zuzugreifen, und Polly
war von dem jungen Manne auch ſehr eingenommen,
ich glaube gar, ſie war in ihn verliebt. Aber als wir
ſie darüber zur Rede ſtellten, erklärte ſie zu meiner
großen Verblüffung aufs Beſtimmteſte, daß ſie den Mann
nicht heiraten werde. Nun, ich redete, was man in
ſolchen Fällen zu reden pflegt, denn ich war ſehr für
die Partie. Zu einer Szene zwiſchen uns kam es wohl
nicht, aber es kann ſein, daß mein Ton etwas heftig
wurde, und da erklärte ſie rund heraus, daß ſie dieſen
Mann nicht — betrügen wolle, daß er zu gut für ſie
ſei. Dies war unbedingt ein gegen mich gerichteter
Stich, was ich ſehr wohl verſtand; aber ich bin es ja
von den Frauen gewohnt, daß ſie mir Vorwürfe machen,
weil ſie durch mich Freude und Befriedigung gefunden
haben. Das iſt ein ganz natürlicher Zug bei ihnen,
und jeder vernünftige Mann rechnet damit, obwohl
etwas ganz Ungerechtes und Inkonſequentes darin
— 168 —
liegt. Aber das ganz Merkwürdige bei der Sache be⸗
ſtand darin, daß ſie im ſchönſten Zuge war, ſich in den
Engländer zu verlieben, und ihn in ihrer erwachenden
Liebe zu ſolcher Höhe emporhob, daß ſie, wie es in der
Bibel heißt — zu der ſie doch ſonſt nicht in Beziehung
ſtand — Aſche auf ihr prächtiges braunblondes Haar
ſtreute. Und eines Tages ſagte ſie etwas, das mir
einen Augenblick lang all meine ſonſtige Überlegenheit
raubte: ‚Helmut,‘ ſagte fie — ich erinnere mich der
Worte, als wären ſie erſt heute geſprochen worden —
‚wenn du bereit biſt, durch eigene Hand zu ſterben, fo
will ich ihm mein Jawort geben.“
Das klang mir furchtbar töricht, war aber im
Grunde genommen gar nicht ſo dumm. Es lebte in
ihr etwas — etwas wirklich Urkräftiges, alles Über⸗
wältigendes, etwas rein Inſtinktives, das ich niemals
habe verſtehen können, wenn ich auch immer da⸗
mit zu rechnen wußte. Ich antwortete natürlich, daß
mir nichts ferner liege, als eine derartige ſelbſtopfernde
Handlung; ich befände mich ganz außerordentlich wohl
in d’efem Leben und wolle vom Tode durchaus nichts
wiſſen. Kurz geſagt, ich ſchlug es ihr ab. Aber noch
heute krankt ſie daran, und den jungen Engländer hat
ſie nie vergeſſen. Nun, was dieſen letzteren betrifft,
ſo brach er ein Jahr ſpäter bei einer Steeplechaſe den
Hals, und zu der Zeit war Polly bereits mit Graf
Henrik Eiſenbart vermählt.
Jetzt kommen wir nämlich zu Ihrer Gnaden hoch—
wohlgeborenem Gemahl.
Mit dem vita ante acta des Grafen Eiſenbart will
ich dich ebenfalls verſchonen, und zwar ſchon aus dem
Grunde, weil es mir ſelbſt nur unvollſtändig bekannt
iſt und ich auch nicht glaube, daß es ſonderlich inter⸗
eſſant geweſen ſein kann. Ich traf ihn zum erſten⸗
mal auf dem Ball Bullier in Paris, und wir ſchloſſen
unſere Bekanntſchaft recht nachdrücklich dadurch, daß
ich gleich am erſten Abend die Ehre hatte, ihm das
Leben zu retten. Ich habe ſeitdem oft bereut, daß ich
es getan, und mein einziger Troft beruht darin, daß ich
weiß, daß er in noch höherem Maße bedauert hat, daß
gerade ich es war, der die Tat beging. Immerhin war
es eine verteufelt fixe Leiſtung von mir, und da Du
mich auch von einer ſchmeichelhafteren Seite kennen
lernen ſollſt, ſo will ich das Ganze erzählen.
Graf Henrik war, nachdem er das juriſtiſche Staats⸗
examen überwältigt hatte, als Legationsſekretär nach
Paris geſchickt worden, und zwar allein zu dem Zweck,
unter kundiger Aufſicht verdorben zu werden. Er
war nämlich etwas zu naiv von Charakter, und ſeine
Frau Mama, ein vernünftiges Weib, ſah ſehr wohl ein,
daß es ſich für einen Mann, der im Leben vorwärts
kommen ſoll, durchaus nicht ſchickt, ſämtliche Tugenden
zu beſitzen, ſondern daß auch ein gewiſſes Quantum
Laſter dazu gehört.
In den guten alten Tagen importierte man dieſe
aus Paris. Einiges wußten ausſchließlich die höheren
Rangklaſſen, anderes wurde auch über dieſe hinaus ge⸗
bräuchlich. — Alſo rüſtete man den Stammhalter Henrik
mit einem Begleiter und einer wohlgeſpickten Börſe aus
und ſandte ihn nach Paris. Der Begleiter war ein
Kandidat Juris, der es ſpäter noch ungewöhnlich weit
gebracht hat. Er war perfekt in allen Dingen — auch
in den Laſtern — doch erlaubt mir meine Zeit nicht,
hierbei länger zu verweilen. Graf Henrik glich einem
Lohengrin, denn er trug damals einen ſehr langen,
hellen Bart, den er ſpäter, weil er ſeine Frau genierte,
auf dem ehelichen Altar geopfert hat. Hier auf dem Ball
Bullier nun genierte der Bart die Franzoſen; ſie ſahen
Henrik für einen Deutſchen an und titulierten ihn
„sale Allemand“. — Darob geriet der bärtige Kämpe
in eine Raſerei, in die ſolch große Mannsperſonen,
wenn ſie etwas betrunken ſind, mitunter geraten
können. Er gebärdete ſich wie ein Wikinger und ſchlug
ein paar franzöſiſche Studenten, die ihn ihrerſeits
genierten, zu Boden.
Natürlich entſtand — wie bei ſolchen Gelegenheiten
Zeugs. „ze
immer in Paris — große Empörung, viel Geſchrei,
ſelbſt Dolche wurden gezückt. Henrik, der wie raſend
war, wollte partout die hitzigſten ſeiner Gegner um⸗
bringen, ſtark wie ein Bär war er ja. Sein weiſer
Mentor, der augenſcheinlich glaubte, er befinde ſich
im „Figaro“ in Kopenhagen, lief ſchleunigſt nach der
Polizei, und als dieſe erſchien, ergriff ſie ſelbſtredend
gegen den ‚sale Allemand“ Partei. Darob geriet
Henrik in noch vollkommenere Wildheit und ging ſogar
gegen die Schergen los, die ihn ihrerſeits mit blanker
Waffe attackierten. Da geſchah es denn, daß ich, der
ich durch meinen ehemaligen Aufenthalt in the far
west eine gewiſſe Fähigkeit erworben habe, Luft um
mich zu machen, gerade im letzten Augenblick einigen
von den Ordnungshütern die Arme aus dem Gelenk
drehte, eine Reſervetür ſprengte und den Stammhalter
in Sicherheit brachte. Es ſteht ſomit feſt, daß ich ihm
das Leben gerettet habe, denn die Polizei hätte ihn
ſicher niedergemacht, da er ja der angreifende Teil ge⸗
weſen war und obendrein für einen Deutſchen gehalten
wurde. In jenen Tagen war alles, was Deutſch heißt,
in Paris noch mehr verhaßt als heute, wo die Politik
andre Bahnen einzuſchlagen geſtattet.
So ſaßen wir denn auf ein paar Weinfäſſern im
Hinterhof und ſchmiedeten Pläne für die Zukunft.
Henrik nannte mich ſeinen Lebensretter, drückte mich
als das große Kind, das er war, an ſein Herz und wir
ſchloſſen Bruderſchaft fürs Leben. Am nächſten Tage
klärte ich Seine Exzellenz den Geſandten über die
Affäre auf und veranlaßte, daß der weiſe Mentor, den
die Polizei auf der Walſtatt gefangen genommen hatte,
aus ſeinem Arreſt entlaſſen wurde.
Henrik und ich aber waren von nun an unzertrenn⸗
lich, und erſterer wurde ſomit auch bald bei den Damen
Bradlaugh eingeführt. Die Mama war ſofort ent⸗
zückt von ihm, denn eine ſo ſeelengute Haut wie ihn
gibt's ja nicht ſo bald wieder, und er ſtrahlte damals
geradezu von Herzensgüte. Polly intereſſierte ſich
198
auch für ihn, doch zeigte ſie ſich im übrigen ganz be⸗
herrſcht. Seit der Affäre mit dem Lord war eine ge⸗
wiſſe Kühle zwiſchen ihr und mir eingetreten, eine
Kühle, die nur ab und zu von einer unbeſchreiblichen,
faft raubtierartigen Wildheit, die zu meinen wertvollſten
Erinnerungen gehört, unterbrochen wurde. Außerdem
aber hatte ich damals Pech im Börſenſpiel und war
daher in recht mißvergnügter Stimmung, und jo kam
mir ſchließlich der unſelige Gedanke, aus Polly und
Henrik ein Paar zu machen.
Ja, daran findeſt Du freilich wenig Gefallen, mein
tugendſamer Herr Neffe, aber Du lieſeſt ja auch nicht
die Geſchichte eines Heiligen, ſondern die meinige,
und ich kann mich daher ohne Kommentar an das
Faktum halten. Die Mama war hingeriſſen, Henrik
verliebt wie ein Fiſch und Polly nach einer Kriſis
gerade ſo weit herabgekommen, daß es ihr gefiel, ſich
ſelbſt zum Opfer zu bringen. Mit derartigen Ver⸗
irrungen muß man ja ſelbſt bei den ſtärkſten Frauen
rechnen.
Aber nun kam noch etwas ganz beſonderes hinzu:
Polly verlangte aufs das Beſtimmteſte, daß Henrik ihr
Verhältnis zu mir kennen ſolle. In dieſem Falle war
nicht die Rede davon, daß ich verſchwinden müſſe,
ſterben oder dergleichen wie beim erſten Male, nein,
im Gegenteil, aber auch der gute Wikinger ſollte nicht
von ihr betrogen werden; er ſollte ſie ganz und gar
kennen und ſo weiter. Ich fand das anfangs zwar
abſurd, aber bei näherer Überlegung ſagte mir die
Idee doch zu. Sie ſchmeckte ein wenig nach ſchlechten
franzöſiſchen Romanen, denen ich ſchon von jeher ver⸗
fallen war, und außerdem wollte ich auch ungern ganz
und gar auf Polly Verzicht leiſten. Ich dachte mir,
wenn der Wikinger mit offenen Augen in den Bund
hineintritt, ſo wird meine Lage zweifellos ungenier⸗
ter ſein.
Alſo trat ich Pollys Plan bei, ja, ich tat mehr als
das: ich arrangierte das Ganze. Wir führten ein
richtiges Drama auf, wie Meiſter Ohnet es nicht beſſer
hätte erſinnen können. Die Frau Mama ermutigte
den zaghaften Wikinger, dieſer brachte ſtammelnd und
in ziemlich ſchlechtem Franzöſiſch ſeine Werbung vor,
und Polly erwiderte, daß es ihr leider unmöglich ſei,
ja zu ſagen — warum, das wiſſe ich!
Nun trat ich auf die Szene, der Duzbruder, Lebens⸗
retter und Freund des Wikingerknaben. Anfangs leug⸗
nete ich ſcheinbar, dann erzählte ich alles, und die gute
Seele wurde außerordentlich betrübt. Er lief ein paar
Tage lang auf eigene Fauſt umher, dann kam er
zurück und erzählte mir allerhand von ſeiner lieben
Mutter, ſeinem Namen und der Ehre ſeines Geſchlechts.
Ich bemerkte hierauf ſehr kühl, daß er in allen Stücken
recht habe, aber ich meinerſeits wolle mich niemals
verheiraten, betrachte mein Abenteuer mit Polly als
beendet und dächte daran, mich von den Damen zurück⸗
zuziehen.
Dir, mein Herr Neveu, wird nun dieſe ganze Sache
natürlich höchſt widerwärtig erſcheinen; mich freilich
wirſt Du ohne weiteres verſtehen und darum über mein
Verhalten nicht erſtaunt ſein, aber daß auch ſie, der Engel,
den du anbeteſt, ſo handeln konnte, das vermagſt du
natürlich nicht zu begreifen. Darum will ich den Ver⸗
ſuch nicht ſcheuen, es Dir zu erklären: Weißt Du, was
beſtändig — drohend wie ein Schreckensgeſpenſt —
vor ihren Augen ſtand? — le demimonde! In Paris
iſt der Schritt dorthin nicht lang und wird öfter ge⸗
macht, als man glaubt. Er wird ſelten auf einmal
gemacht — der Weg dorthin iſt genau derſelbe, den
Polly bereits betreten hatte. Eine Chance hatte ſie
ſich bereits entgehen laſſen; nach einer tiefen inneren
Anſchauung hatte ſie gehandelt, wobei ihr Gelegen⸗
heit genug geblieben war, zu überdenken, ob ſie klug
oder dumm handle. Der Lord war über alle Berge,
ihre Lage unſicher, und nun kam dieſe große däniſche
Dogge an und wollte reinen Tiſch machen. In den
Kreiſen, in denen ſie verkehrte, hatte Polly genug kon⸗
— 81 =
ventionelle Ehen geſehen, und durch mich hatte ſie
eine Seite des Lebens kennen gelernt, die die Frauen
der Geſellſchaft ſonſt erſt in der Ehe kennen lernen.
Sie wußte, was dieſe war. In jenem Augenblick,
als der Mann, den ſie nicht liebte, um ſie anhielt, war
ſie nichts als ein Mädchen, das zu Schaden gekommen
war und eine Reparatur nötig hatte, voild tout! Ganz
ſo närriſch nämlich iſt die Theorie der guten Sozial⸗
demokraten von der Gleichheit der Menſchen nicht.
Und da der biedere Wikinger verliebt war wie ein
Märzhaſe, ſo wurden die beiden unter meinem und
Mamas Segen vermählt. Ich vermag dafür zu garan⸗
tieren, daß wir alle vier bei der Gelegenheit als die
Ladies und Gentlemen auftraten, die wir waren.
Das iſt einem eben ſchon angeboren — trotz der Sozial⸗
demokraten.
Während des erſten Ehejahres hielt ich mich in einem
gewiſſen Abſtand von ihnen, dann kam das übliche
Ereignis, das programmmüßig eintraf, und da Henrik
der älteſte Sohn des Lehnsgrafen war und er nun ſelbſt
Vater eines Sohnes war, ſo erhielt er Papas und
Mamas Abſolution. Der Herr Papa ſegnete bald darauf
das Zeitliche, und Henrik erbte die Grafſchaft.
Inzwiſchen hatte ich der Mama Bradlaugh in Riva
am Gardaſee die Augen zugedrückt, und da ich dieſer
lieben Frau noch in letzter Stunde feierlich gelobt hatte,
auf Polly ein wachſames Auge zu haben, ſo näherte
ich mich vorſichtig dem Taubenſchlag. Ich fand die
beiden Turteltauben, jede auf ihrer Stange; Polly
langweilte ſich, indes Henr'k ſich als Trockenamme be⸗
tätigte. Sofort war mir klar, daß Polly ſich weder
aus dem Kind etwas machte, noch ihren Mann liebte.
Dem Verſprechen, das ich ihrer ſeligen Mutter ge⸗
geben, eingedenk, machte ich einige ſchwache Verſuche,
das Ganze wieder einzurenken, doch kam ich mir da⸗
bei recht lächerlich vor. Polly war herrlich, und die
Erinnerungen regten ſich, und zwar nicht allein bei mir.
Eines Tages kam Henrik entſetzt in mein Sue
XXVI. 19.
AR
geſprungen und erzählte mir, feine Frau habe ihm
ſoeben geſagt, daß ſie mich noch liebe. Er baute auf
mich wie auf einen Ehrenmann, und da er weder
aus noch ein wußte, fragte er mich ganz naiv um Rat.
Nun muß ich geſtehen, daß ich für dieſen Menſchen
niemals viel übrig gehabt habe. Ich habe ihm zwar
des Leben gerettet, doch das hätte ich im gleichen
Augenblick auch jeder andern Perſon gegenüber getan.
Dafür hab ich ſein Eſſen gegeſſen, ſeinen Wein ge⸗
trunken, ſeine Pferde geritten und auf ſein Wild
geſchoſſen. Seine Heirat arrangierte ich nur um Pollys
willen, er ſelbſt war mir in dieſer Hinſicht völlig gleich⸗
gültig. Folglich verſpürte ich betreffs ſeiner Perſon auch
keine Gewiſſensbiſſe.
Ich ſagte ihm rund heraus, daß es meinem Lebens⸗
plan durchaus zuwiderlaufe, ein ſo ſchönes Weib wie
Polly zu bitten, von ihrer Liebe zu mir abzuſtehen —
daß ich indes ſelbſtredend bereit ſei, ſofort abzureiſen,
aber nicht für die Folgen einſtehen könne, wenn ſie mit⸗
reiſte. Was die beiden darauf miteinander geredet haben,
weiß ich nicht, aber er bat mich ſelbſt, bei ihm zu bleiben,
und ſeitdem haben wir beide immer von Polly wie
von einer lieben gemeinſamen Freundin, die wir beide
hochſchätzten, geredet. Ich brachte die alte Welt in
das neue Heim, und daran hat ſie nur Freude gehabt.
Wir beide haben uns durchaus korrekt aufgeführt, und
was vor zehn Jahren unſer Blut noch zum Sieden
bringen konnte, das wirkt jetzt nicht mehr exploſiv!“
Am Fuße des Manufkripts war hinzugefügt: „Dies
iſt die Geſchichte, die ich Dir erzählen wollte. Aller⸗
dings habe ich ſie nicht um Deinetwillen geſchrieben,
denn ich weiß, daß Du Dich vielleicht über das Ganze
hinwegſetzeſt. Aber ich habe ihr geſagt, daß Du alles
wiſſen ſollſt, worauf ſie, um es zu verhindern, mir
gedroht, mich angefleht und ſchließlich geweint hat.
Vielleicht wirſt Du zu philoſophieren beginnen (obwohl
Du zu dieſer Tätigkeit nicht beſonders geeignet erſcheinſt):
Sie hat nicht einen Mann gehabt, ſie hat zwei Männer
gehabt. — Eine vortreffliche Philoſophie, mein tugend⸗
ſamer Herr Neveu, aber lies dieſen Bericht noch ein⸗
mal durch: als ſie damals dem Lord Newton den Lauf⸗
paß gab, verſtand ſie noch nicht zu lügen — jetzt aber
— Dir gegenüber — hat ſie's ſchon gelernt!
Willſt Du ſie trotz meines väterlichen Rates bei Dir
aufnehmen, gut, tue es — doch dann nimmſt Du auch
mich in den Kauf, denn mein war ſie und iſt ſie, und
ich werde das Idyll arrondieren. Darauf kannſt Du
Dich verlaſſen.
Lies ihr dieſes laut vor und höre dann, was ſie Dir
über einen abweſenden Mann vorflunkern wird. Ich
habe ihr geſagt, daß Du alles erfahren ſollſt, und ſie
wird ſicher danach handeln.
Dein Onkel Helmut von Piffert.“
Skram faltete die Papiere zuſammen und verließ
das Zimmer. Nun galt es, auf neuem Wiſſen einen
neuen Plan aufzubauen.
VII.
Lady Macbeth!
Skram ſaß in der Bibliothek und blätterte in einem
illuſtrierten Shakeſpeare⸗Bande. Das Bild, das er⸗
aufſchlug, war keine hervorragende Leiſtung des Zeich⸗
ners, namentlich der Geſichtsausdruck der Lady Mac⸗
beth war recht nichtsſagend oder gar einfältig, aber die
Szene hatte der Zeichner richtig erfaßt: in ein falten⸗
reiches, mehr griechiſches als ſchottiſches Gewand ge⸗
kleidet, ſtand die ſchlanke Lady mit aufgelöſtem Haar
unter einem mächtigen Steingewölbe. Neben ihr —
auf einem breiten Säulenkopf brannte ein qualmendes
Licht. Sie preßte ihre linke Hand gegen die rechte,
als wolle ſie ein Merkmal wegwiſchen.
Vet here's a spot.
Im Hintergrunde ſieht man den Arzt und die
Geſellſchaftsdame.
Out, damned spot — out, I say!
zrgi
Und die Lady Macbeth des Bildes nahm die Züge
an, die Skram ſo gut kannte, die Züge der belle dame
sans merci. Sie würde nicht reden, nicht einmal zu
ſich ſelbſt. Ihr Mund würde geſchloſſen ſein, feſt und
grauſam, wie er es ſein konnte, wenn ihre Lippen
ſich nach einem ſpitzen Sarkasmus zuſammenpreßten.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob ſich
Skram und eilte zum Telephon, das an der Wand des
Bibliothekzimmers angebracht war.
Nachdem er einen Augenblick lang gezögert,
läutete er.
Es verging eine Weile, ohne daß Antwort kam.
Da läutete er wieder.
„Ich möchte Verbindung mit Waldhof,“ ſagte er.
„Dann müſſen Sie erſt mit Xdorf verbunden
werden,“ lautete die Antwort.
„Wird das noch lange dauern?“ fragte er, ſchon im
Begriff, ſeinen Vorſatz fallen zu laſſen. Aber der Zufall
wollte, daß Xdorf gerade zu haben war und er Ver⸗
bindung mit Waldhof erhielt.
„Iſt Herr Pächter Viffert zu Hauſe?“ rief er in
den Apparat. — Der Pächter ſei zu Hauſe, hieß es;
ob etwas Wichtiges vorliege?
„Ja, hier iſt Amtsrichter Skram. Es iſt etwas ſehr
Wichtiges.“
Ein paar Minuten vergingen. — Dann kam Sigis⸗
mund Viffert ans Telephon.
„Sind Sie da, Herr Viffert? — Ja, alſo ich habe
Ihnen die betrübende Mitteilung zu machen, daß Ihr
Onkel, der Herr Kammerjunker, letzte Nacht geſtor⸗
ben iſt.“
„Geſtorben?“
„Ja, er hat ſich mit einem Barbiermeſſer den Hals
abgeſchnitten.“
Es kam keine Antwort.
„Sind Sie noch da?“
„Ja, wünſchen Sie, daß ich noch heute nach der
Edelsburg hinüberkomme, Herr Amtsrichter?“
885
„Nein, das iſt nicht erforderlich. Wir haben die
Leichenſchau bereits abgehalten und die Leiche nach dem
Krankenhaus gebracht. Aber wenn es Ihnen morgen
paßt — — oder ſchließlich — — ich bin der Vollſtrecker
des Teſtaments, und ſo kann ich noch heute abend zu
Ihnen hinüberkommen.“
„Weiß der Graf ſchon von der Sache?“
„Der Graf weiß davon. — Die Gräfin iſt am
Morgen ausgeritten und noch nicht zurückgekehrt, doch
erwarten wir fie jeden Augenblick. Ich telephoniere von
der Edelsburg aus, wo ich mit dem Grafen eine Unter⸗
redung haben werde. — Sind Sie noch da?“
Es vergingen ein paar Augenblicke. Skram ſtand
mit dem Hörrohr in der Hand da und wartete ruhig.
Dann erklang eine andere Stimme im Telephon —
die der Gräfin. Skram nickte ruhig vor ſich hin. Das
hatte er gerade erwartet.
„Sind Sie dort, Skram?“
„Ja, ich höre, Euer Gnaden.“
„Viffert erzählt mir, Helmut habe Hand an ſich
gelegt!“
„Das ſtimmt.“
„Und Henrik?“
„Der Graf nimmt es ſehr ruhig auf; alle nehmen
es ruhig auf. Ich werde mit Euer Gnaden noch wegen
des Teſtaments reden müſſen; das iſt nämlich höchſt
ſonderbar — na, darüber ſpäter.“
Die Stimme der Gräfin klang etwas unſicher, als
ſie ſagte: „Sigismund Viffert erzählt mir eben, daß
Sie auch mit ihm reden wollen.“
„Ja, mit ihm auch,“ verſetzte Skram.
„So bitten Sie Henrik, daß er das neue Auto
mit dem Chauffeur herüberſchickt; ich bin hier auf
Waldhof und möchte Sie gleich, und zwar hier
ſprechen.“
„Soll ich dem Grafen dieſen Beſcheid geben?“
fragte Skram.
„Ja,“ lautete die Antwort.
u RE:
„Und wenn der Graf unter ſolchen Umſtänden mit-
kommen will?“ fragte er wieder.
„So ſagen Sie ihm, daß ich mit Ihnen allein zu
ſprechen wünſche, und bitten Sie ihn zu warten, bis
wir nach Hauſe kommen. Ich ſchicke Johann mit den
Reitpferden nach Hauſe.“
„Wie Sie wollen. Alſo auf Wiederſehen.“
Er läutete ab.
Dann nahm er auf einem der niedrigen Lehnſtühle
der Bibliothek Platz und ſchlug die Beine übereinander,
wie er zu tun pflegte, wenn er allein mit ſeinen Ge⸗
danken war. —
Viffert hatte alſo recht gehabt — die Gräfin war
auf Waldhof, und der Selbſtmord würde keinen Ein⸗
fluß auf ihre Pläne ausüben, wenn nicht — wenn
nicht — —
Die Tür ging auf, und der Graf trat ein.
Er ſah aufgeräumt und heiter aus.
„Ich habe Sie wohl etwas lange warten laſſen,“
ſagte er, „aber um nicht Jörgens Mißtrauen zu er⸗
wecken, habe ich das weniger gute Meſſer benutzt.
Das nahm längere Zeit in Anſpruch und erforderte
auch Vorſicht. Nun iſt es überſtanden, und wir
können in aller Ruhe über das Ereignis reden. Neh⸗
men Sie eine Zigarre?“
Skram nahm dankend eine, und die Zigarren wurden
angezündet.
„Ich habe inzwiſchen über Ihre Mitteilungen ge⸗
hörig nachgedacht,“ fuhr der Graf fort. „Sie haben
recht, es darf unter den Leuten nicht das geringſte
Geſchwätz entſtehen. Was wollen Sie aber als Motiv
zu dem Selbſtmord angeben?“
Skram erhob den Kopf. „Es iſt natürlich niemals
leicht zu ermitteln, aus welchem Grunde ein Selbſt⸗
mörder ſeine Tat begangen hat. Nahrungsſorgen ſind
hier ausgeſchloſſen, denn Viffert war ja ein ſehr ver⸗
mögender Mann; Liebeskummer iſt auch kaum die
Urſache geweſen, denn dazu war er ein viel zu einge⸗
EI Re
fleiſchter Egoiſt. Ich glaube, feine Herzkrankheit hat zu⸗
ſammen mit einer krankhaften Zwangsvorſtellung, die
er mir übrigens geſtern in ſehr intereſſanter Weiſe
beſchrieb, auf ihn eingewirkt. Er ſagte geſtern, er liebe
das Leben, befürchte aber dennoch, daß er eines Tags
Selbſtmord begehen könne. Daher gehe er auch nicht
auf Jagd, könne weder Berge noch Türme beſteigen
und raſiere ſich ungern ſelbſt. Die Furcht iſt ihm
zum richtigen Zwangsgedanken geworden, ſein Gehirn
muß nicht ganz normal funktioniert haben. Ich glaube,
es liegt ein Fall vor, den die engliſche Coroner Jury
‚momental insanity‘ nennt. Aber ſchließlich will ich
ſeinen Motiven nicht nachjagen, ſondern das Doktor
Kühn überlaſſen.“
Der Graf nickte. „Gut,“ ſagte er, „das iſt alles
ſehr klug erdacht. Aber ich bitte Sie, Skram, ver⸗
geſſen Sie, was ich geſtern ſagte; ich war etwas erregt,
und ich hege keinen Zweifel, daß meine Frau nun,
nachdem Biffert tot iſt, viele Dinge mit andern Augen
anſehen wird; ja, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß
dieſer Todesfall mir nicht ſolchen Kummer bereitet,
wie es doch eigentlich ſein müßte.“
Skram lächelte. „Es gibt ſicher niemand, der Viffert
eine Träne nachweint! Das iſt das Los aller Egoiſten.
Ein ſtilvolles Begräbnis — voild tout! würde Viffert
ſelbſt geſagt haben.“
„Ich bin dem Manne ſehr zugetan geweſen,“ ſagte
der Graf ernſt, „allerdings vor vielen Jahren. — Na,
über die Toten nur Gutes! Er war ein begabter und
in mancher Hinſicht auch tüchtiger Mann. Liebens⸗
würdig war er ja nicht und ſein Charakter war nicht
gut. Na, wollen lieber nicht mehr davon reden. Wer
beerbt ihn denn?“
Skram zuckte die Achſeln. „Das darf ich jetzt
noch nicht ſagen. Das Teſtament ſetzte ich erſt geſtern
abend auf, nachdem die Herrſchaft zur Ruhe gegangen
war. Es iſt ſeinem Inhalt nach recht wunderlich und
wird ſicher noch genug Zwiſt und Arger erregen.
— 88 — 5
Aber es iſt vollkommen geſetzmäßig und unanfecht⸗
bar.“
„Sie meinen, ſeine Verwandtſchaft werde einen
Prozeß anſtrengen?“
„Zweifellos. Man wird behaupten, Viffert ſei
unzurechnungsfähig geweſen, als er es machte. Wer
die geſetzmäßigen Erben ſind, habe ich noch nicht unter⸗
ſucht, aber die werden ſich ſchon von ſelbſt melden.
Jeder Tag hat ſeine Plage!“
Der Graf ſchwieg eine Weile lang, dann erhob er den
Kopf.
„Und Sie ſind ſicher, daß hier Selbſtmord vorliegt?“
„Warum fragen Sie danach, Herr Graf?“
„Sie haben ja ſelbſt geſagt, daß auf Jörgen ein
Verdacht fallen könnte, denn Leonie iſt wohl die
Erbin, das würde wenigſtens Helmut gleichſehen — —
und dann iſt es ja jedenfalls Ihre Pflicht, eine Unter⸗
ſuchung anzuſtellen. Für Jörgen ſtehe ich ein — er iſt
kreuzbrav und treu wie Gold, aber die Unterſuchung
würde in höchſt unerwünſchter Weiſe die Aufmerk⸗
ſamkeit der Zeitungen auf die Affäre lenken. Sie
verſtehen mich wohl.“
Skram erhob ſich.
„Ich verſtehe es ſehr gut, Herr Graf, aber ſo weit
kennen Sie mich wohl ſchon, um überzeugt zu ſein,
daß ich nur im äußerſten Notfall einen Schritt unter⸗
nehmen werde, der dieſem Hauſe, in dem ich ſo viel
Liebenswürdigkeit und Gaſtfreundſchaft genoſſen, Un⸗
friede und Ungemach ſchaffen müßte. Meine Pflicht
als Beamter muß ich freilich tun, aber ich werde ſie
zu vereinigen ſuchen mit dem, was ich Ihnen als Ihr
Freund ſchulde.“
Der Graf drückte ihm die Hand.
„Ich vertraue Ihnen, Skram. Aber ſagen Sie,
kann das wirklich möglich ſein?“
„Es iſt noch ſehr unwahrſcheinlich,“ ſagte Skram,
„in jedem Falle hängt es von dem Ergebnis der Ob⸗
duktion ab, die der Kreisarzt vornimmt. Bevor ich
— 89
irgend einen Schritt in dieſer 8 tue, werde
ich Ihnen Bericht erſtatten.“
„Hm,“ meinte der Graf nach einer Weile nach⸗
denklich. „Polly iſt noch immer nicht zu Hauſe. Sie
iſt am Morgen ausgeritten und hat den Beſcheid zurück⸗
gelaſſen, daß ſie zum Frühſtück wieder da ſein werde.
Ich vermute, daß ſie bei Ahrenfelds oder vielleicht auch
in Taarnborg iſt, aber — Sie verſtehen wohl — unter
dieſen Umſtänden kann ich nicht rings herum nach ihr
telephonieren. Das Gerücht geht natürlich draußen
ſchon um. Ich ſelbſt hörte die Nachricht zuerſt von
einem Landbriefträger, als ich von der Ziegelei zurück⸗
kehrte. Ich wünſche auch nicht, daß Sie nach der
Gräfin telephonieren. Sie bekommt es noch früh genug
zu wiſſen.“
„Selbſtredend,“ ſagte Skram. „Übrigens weiß ich,
wo ſich Ihre Gnaden befindet. Sie iſt nach Waldhof
hinüber .. . wahrſcheinlich hat fie ſich mit dem jungen
Viffert geſtern abend verabredet. Ich muß wegen
des Teſtaments zu ihm hinüberfahren, und die Frau
Gräfin, mit der ich per Telephon redete, erſuchte
mich, Sie zu bitten, mir das Auto zur Verfügung
zu ſtellen.“
Der Graf ſtutzte.
„Auf Waldhof?“ ſagte er langſam. „Und ſie weiß
es? — Wie nahm ſie es auf?“
„Sehr ruhig,“ verſetzte Skram. „Die Frau Gräfin
hat ja eine ſeltene Charakterſtärke. Sie ſagte noch,
ſie möchte gern gleich mit mir reden.“
„Dann fahren wir beide zuſammen hinüber,“ ſagte
der Graf und erhob ſich, um nach dem Stall zu klingeln.
„Einen Augenblick noch!“ rief Skram. „Wollen Sie
mich nicht lieber allein fahren laſſen, Herr Graf? Im
Anſchluß an unſer Geſpräch von geſtern abend glaube
ich, gerade heute etwas ausrichten zu können, und
Sie wiſſen, daß niemand ſehnlicher den Wunſch hegen
kann, daß die Verhältniſſe hier dieſelben bleiben, als
gerade ich, beſonders nach dieſem Ereignis. Ich habe
— 90 —
einigen Takt und einige Menſchenkenntnis. Wirklich,
Herr Graf, Sie ſollten meinem Vorſchlag folgen.“
„Nun, meinetwegen,“ ſagte dieſer.
„Dann warte ich alſo auf den Wagen,“ fuhr Skram
fort, „und Sie ſorgen wohl dafür, Herr Graf, daß die
Zimmer geſchloſſen werden und niemand Zutritt er⸗
ält.“
„Wie Sie wünſchen. Brauchen Sie mich ſonſt
noch?“
„Nein, danke.“
„Dann will ich zuſehen, ein wenig Eſſen zu be⸗
kommen, und auch ein paar Briefe ſchreiben. Im
übrigen ſtehe ich zu Ihrer Verfügung.“
Skram verbeugte ſich.
Der Graf klingelte. — „Wollen Sie etwas zu eſſen
haben?“ fragte er noch.
„Nein, danke,“ ſagte Skram, „ich habe ſchon ge⸗
geſſen. — Was ich noch zu beſtellen habe — und das
iſt ein ganzes Teil — muß noch bis heute abend er⸗
ledigt ſein.“
So ſchieden ſie.
Zweites Buch.
Gräfin Polly.
I.
Das Automobil des Grafen war ein großer, roter
Wagen von dreißig Pferdekräften; die beiden offenen
Sitze des Inneren waren mit braunem Leder bezogen,
und die mächtige Laterne blitzte in der Sonne um die
Wette mit den ſchweren, blanken Beſchlägen. Skram
ſaß, in einen Staubmantel gehüllt, auf dem Hinterſitz
und überließ den Wagen der Führung des Chauffeurs.
Er wollte nachdenken.
Waldhof lag drei Meilen Wegs entfernt, und die
Landſtraße lief durch ein ſtark kupiertes Terrain. Es
war, als ſtünde der Wagen ſtill, und als werde die
Landſchaft unter ihm hinweggezogen. Der Weg ſchien
einem breiten gelbweißen Bande gleich auf mächtigen
Rollen zu laufen, während die Gegend auf beiden
Seiten mit Feldern, Gehöften und Kirchen langſamer
als der Weg vorüberzugleiten ſchien; nur der Wald
am Horizont, der ſcheinbar eine feſte Umrahmung des
Ganzen bildete, ſtand ſtill; er lag anſcheinend außer⸗
halb der Maſchinerie.
Der Chauffeur hatte Ordre erhalten, die Fahrt über
das erlaubte Maß zu beſchleunigen, denn Skram hatte
Eile, und mit heiſerem Tuten fuhr der große, rote
Wagen an den niedrigen Hütten, den Ententeichen und
den Wirtsgärten vorbei, am Zaune des Kirchhofes
herum, dann vorwärts, auf- und niedergleitend und
mit wiegender Bewegung die Hinderniſſe nehmend.
Skram dachte über die Sache nach. Er liebte es,
— 92 —
Verantwortung zu tragen, niemals war er froher, als
wenn er einer Tatſache gegenüberſtand, die eine neue,
von ihm — ſeiner Perſönlichkeit und Kraft — geſchaffene
Situation hervorrief. Hätte es ſich hier um eine ein⸗
fache bürgerliche Familie gehandelt — hätte ſich dieſes
Schauſpiel in einem einfachen bürgerlichen Hauſe ab⸗
geſpielt — dann hätte kein Diener des Rechts gezögert,
auf der Stelle einzuſchreiten. Daß wirklich ein Mord
vorlag, betrachtete Skram als feſtſtehend, denn mit
einem Meſſer, das abends um acht Uhr auf dem
Toilettentiſch des Grafen gelegen hatte, konnte der
Kammerjunker ſich nicht um zwei Uhr nachts den Hals
abſchneiden, ohne ſich das Meſſer zu holen, und daß er
zwiſchen zwölf und zwei Uhr nachts eins der ihm ge-
ſchenkten Meſſer umgetauſcht haben konnte, war ganz un⸗
denkbar. Er hätte dann das Schlafzimmer der Gräfin
paſſieren oder auf einem weiten Umweg über ver⸗
ſchiedene Treppen durch das Schlafzimmer des Grafen
gehen müſſen, denn die nach dem Korridor führende
Tür des Ankleidezimmers war in der Nacht verſchloſſen.
Das hatte Skram konſtatiert. Nach allem, was vor⸗
lag, mußte ſich eine Perſon nach zwei Uhr nachts, als
der Kammerjunker von ſeinem nächtlichen Beſuch bei
Mamſell Leonie zurückgekehrt war, Zugang zu ſeinen
Zimmern verſchafft haben. Da nun ſicher noch einige
Zeit verſtrichen war, bis der Kammerjunker zur Ruhe
gegangen und eingeſchlafen war, ſo konnte die Tat
nicht gut vor drei Uhr geſchehen ſein. Und für dieſen
Zeitpunkt mußte ſich Jörgens und Leonies Alibi feſt⸗
ſtellen laſſen. Graf Henrik konnte dieſe Perſon eben⸗
falls nicht ſein, denn er hätte Skram ſicher nicht auf
die Verſchiedenheit der Meſſer aufmerkſam gemacht,
wenn er ſelbſt als der Täter die Meſſer umgetauſcht
hätte, um die Spur des Verbrechens zu verwiſchen.
Natürlich lag der Gedanke nahe, daß ein ſehr raffi⸗
nierter Verbrecher auf einen ſolchen Plan verfallen
könnte, jedoch ſolch ein raffinierter Verbrecher war
Graf Henrik auf keinen Fall. Er, ein Mann von ge⸗
.
rader Denkweiſe, war wohl ein wenig ſchwerfällig,
hatte keinen ſonderlich hellen Kopf, aber er war ehr⸗
lich und treuherzig. Ein ſolcher Mann konnte in ſeinem
Leben allenfalls wirklich ein Verbrechen begehen und
auch Schritte tun, es zu verbergen — das bewirkt ja
einfach der Selbſterhaltungstrieb — aber immer mußten
ſich in ſeiner Verteidigungstaktik Züge finden, die ſeiner
Natur entſprachen. Wenn er den Umtauſch bewirkt
hätte, dann hätte er ſicher nicht den Tagesnamen über⸗
ſehen, er, der doch ganz pedantiſch daran feſthielt, daß
jeder Tag ſein beſtimmtes Meſſer habe — für den
dieſe Tagesnamen täglich eine Rolle ſpielten. Und
wenn er es wirklich überſehen hätte — infolge der
Aufregung, infolge jener unverſtändlichen Blindheit,
von der Verbrechen oft begleitet ſind — ſo würde
ſeine Reflexion doch wieder erwacht ſein, als er das
Meſſer in der Hand hielt. Er würde dann niemals
den Mann, der ihm gefährlich werden konnte, auf
eine Spur leiten, die ganz unnötig war, da dieſer
Mann ja noch gar keinen Verdacht geäußert hatte.
Auch beim Geſpräch über Jörgen hatte der Graf keinen
Augenblick lang den Eindruck des Schuldigen gemacht.
Skram fühlte ſich völlig überzeugt, daß er hier kein
Recht zum Einſchreiten habe und daß jeder Angriffs⸗
punkt mangle.
Aber der Kammerjunker war ermordet worden,
und es war ſo gut wie ausgeſchloſſen, daß der Täter
von außen her gekommen war. Es mußte jemand
von den Bewohnern des Schloſſes geweſen ſein, und
nach allen Erwägungen blieb nur noch eine Perſon
übrig: die Gräfin Polly!
Und ſie hatte Beweggründe für die Tat gehabt.
Es war klar, daß ihrem Wunſch, ihr Leben zu
leben, nichts andres als eine Spätſommerverliebtheit
in Sigismund Viffert zu Grunde lag, den ſie noch
vor Erkaltung ihres Opfers aufgeſucht hatte. Viffert
hatte ihr gedroht, das ſtand ja deutlich in dem Briefe;
er hatte geſagt, daß er ſeinem jungen Neffen alles
— 94 —
erzählen werde. Den Heiligenſchein, der von ihr aus⸗
ſtrahlte, hatte er ihr nehmen und den jungen Mann
hatte er ſehend machen wollen — ſo ſehend, daß der
Zauber brechen mußte. Und damit dieſes nicht geſchehe,
mußte er ſterben. Das war klar. Gräfin Polly hatte
ſchon einmal eine ähnliche leidenſchaftliche Liebe gehabt
— damals, als ſie zu Viffert geſagt hatte: „Wenn du
bereit biſt, durch eigene Hand zu ſterben.“ Nun trat
wieder eine ſolche Leidenſchaft in ihr Leben, jetzt aber
kannte ſie die Menſchen, ſie kannte das Leben, und
ſie kannte Viffert, und nun fragte ſie nicht, ob er
ſterben wolle, ſondern nahm ihm das Leben, während
er ſchlief, weil es das Sicherſte war und weil ſie ſeinen
Tod wollte.
Sie hatte nichts von den Meſſern gewußt und die
Bemerkung bei Tiſch vielleicht überhört. Daher nahm
fie das ſcharfgeſchliffene Meſſer, das — wie fie wußte —
auf dem Tiſch des Grafen lag, als Waffe an ſich; es
galt für ſie vor allem, Viffert aus dem Leben zu
ſchaffen, und weniger, die Spur des Verbrechens zu
verwiſchen. Er mußte ſterben, bevor es Tag wurde,
denn am nächſten Tage wollte er reden, das hatte er
ſelbſt geſagt, und ſie wußte, daß er Wort halten würde.
Sie hatte nicht überlegt, wie ſie ihre Tat verbergen
ſolle, denn dazu fanden ſich wohl immer noch Mittel
im Hauſe. Und ſie ſchreckte wohl auch kaum davor
zurück, den Verdacht auf Jörgen oder gar Henrik zu
lenken. Sie konnte nicht ahnen, daß Viffert einen
Brief geſchrieben und dieſen Leonie zur Beſorgung
übergeben hatte, und wie ſollte wohl jemand, ohne
den Inhalt des Briefes zu kennen, auf einen Ver⸗
dacht gegen ſie verfallen? So war ſie denn, nachdem
ſie gelauſcht und ſeine Tritte über den Fußboden und
die Treppe mit atemloſer Spannung verfolgt hatte,
hinaufgeſchlichen — hatte gewartet, bis ſie annehmen
konnte, daß er ſchlafe, und ihn dann umgebracht. Dann
hatte ſie ſich wohl umgeſehen und die Meſſer entdeckt,
und ſofort war ihr der Gedanke gekommen, daß ſie
— 9
auf leichte Weiſe den Verdacht gegen jedermann aus⸗
ſchließen könne. Sie kannte die Meſſer wohl, doch
beachtete ſie die Tagesnamen nicht; als Frau inter⸗
eſſierte ſie ſich nicht für Barbiermeſſer und bekümmerte
ſich nicht um die Toilettenfineſſen ihres Mannes. Sie
griff blind darauf zu, nahm das Donnerstag⸗Meſſer
und ſchlich damit in ihr Schlafzimmer hinab, nicht ah⸗
nend, daß ein Zufall ihr die Kammerzofe in den Weg
führen könnte, die nicht, wie die Gräfin glauben mußte,
ruhig ſchlafend in ihrer Manſarde lag.
Und dann — früh des Morgens — war ſie aus⸗
geritten, um fern von aller Unruhe und aller Pein,
die die Entdeckung des Todesfalls mit ſich bringen mußte,
zu fein — — um ihn zu treffen und Pläne für ihr
künftiges Leben zu ſchmieden. —
Dies waren die Gedanken, die Skrams Gehirn
durchjagten, während der gelbweiße Weg unter ihm
fortgeriſſen wurde. So war es zugegangen, und
daraufhin war er berechtigt, Gräfin Polly Eiſenbart
zu jeder Stunde zu verhaften und ſie des Mordes zu
bezichtigen, des Verbrechens, deſſen Strafe — der Tod iſt.
Aber wollte er das wirklich tun?
Skram war ein heftiger Widerſacher der in der
Rechtsordnung feſtgeſetzten Todesſtrafe, aber ebenſo
heftige Abneigung hegte er gegen die Veranlaſſung dieſer
Strafe — gegen den Mord. Er betrachtete das Leben als
ein Recht aller. Nur im Notwehrfalle, wo Leben gegen
Leben ſtand, erſchien ihm das Töten eines Menſchen
ſtatthaft, obwohl er ſelbſt bier verlangte, daß es tunlich
vermieden werde. In dieſem Punkt war er Fanatiker,
und jung war er ja auch. Hier Schonung zu üben,
wie das Herz es verlangte, ging gegen die Erfahrung
ſeines Lebens und den Grundzug ſeines Charakters.
Nicht, daß es ihn getrieben hätte, das Wehe der Ver⸗
geltung über ihr Haupt zu bringen, aber ihm deuchte
es unumgänglich, daß ſie, die die erſte Forderung
der Geſellſchaft, Achtung vor dem Leben des andern
zu empfinden, verletzt hatte, auch die Wiedervergel⸗
u Br
tung derſelben Geſellſchaft — die Strafe auf ſich
nähme.
So ſicher war er ſeiner Sache, daß er in Gedanken
die Gräfin bereits ihrer Strafe gegenüberſtellte und
von allen andern Möglichkeiten abjah.
Aber wenn es auch für ihn in dieſer Hinſicht kein
Zweifeln und Zögern mehr gab, wie ſtand es denn
mit den andern, die nicht ſo wiſſend und ſehend waren
wie er?
Viffert war tot; dieſe Tatſache ſtand feſt; aber es
konnte ſich um Selbſtmord handeln; im Edelsburger
Polizeiprotokoll ſtand vorläufig geſchrieben, daß Selbſt⸗
mord vorliege, und es gab nur einen, der mit Sicher⸗
heit wußte, daß es nicht ſo zuſammenhing. Die Beweg⸗
gründe zu der Tat kannten nur ſie und er. Sie hatte
ihre treibende Kraft gefühlt, und er hatte ſie aus den
Worten des Toten herausgeleſen, die, ohne von dieſer
Kraft zu reden, ihn doch vermuten ließen, zu welcher
Stärke ſie bei ihr anwachſen könnte. Aber nicht einmal
ihr Mann, der doch behauptete, daß ſie nichts vor ihm
verberge, ahnte, daß ſie Sigismund Viffert liebte, und
Skrams einziger Zeuge war der Brief, der ebenfalls
nichts Poſitives beſagte. Die Enthüllungen, die im
Briefe Vifferts ſtanden, hatten ihm wohl Gewißheit
verſchafft, allein nur, weil ſie ſich auf ſein Wiſſen von
dem gefundenen Meſſer ſtützten. Die Erzählung allein
war nicht hinreichend, dieſe Gewißheit zu ſchaffen; ſie
bildete nur ein Beweismoment, einen Anlaß für
Glauben oder Nichtglauben — für eine richterliche
Vermutung. Der Brief ſelbſt beſagte nichts; ihm wie
auch dem Teſtament konnte Skram jede beliebige Aus⸗
legung unterſchieben. Und die Gräfin würde ſicher
ihre Schuld verneinen. Er erinnerte ſich noch ihrer
Worte: Was ich nicht ſagen will, das ſage ich nicht,
und wenn man mich auf ein glühendes Eiſen legte.
Sie würde wie der Inkakönig mit den Worten auf
den Lippen ſterben: Auch ich hab' nicht auf Roſen
gelegen; aber eingeſtehen würde ſie nichts.
— 7
Und was die Meſſer betraf — freilich der Kreis⸗
arzt war vorhin Zeuge geweſen, aber dieſer hatte nicht
die im Etui liegenden Klingen am Abend vorher ge⸗
ſehen, und die Worte des Grafen klangen noch in
Skrams Ohren: „Es muß eine Vertauſchung vor⸗
gekommen ſein; das iſt zwar merkwürdig, aber immer⸗
hin möglich; es muß eine Vertauſchung vorliegen.“
Und ſchließlich gedachte Skram auch ſeiner eigenen
Worte: „Tuesday kann leicht für Thursday geleſen
werden.“ Und zwei Buchſtaben von wenigen Milli⸗
metern Höhe ſollten die Grundlage dazu bilden, die
Gräfin Polly Eiſenbart auf Edelsburg des Mordes zu
bezichtigen?
Die Sozialdemokraten vielleicht würden es glauben,
aber der wohlgeſinntere Mittelſtand und gar die Großen
im Lande — — —?
Niemals! Auf das Zeugnis eines einzigen Beamten
hin wird keiner zum Tode verurteilt. Nein, jeder würde
es für Selbſtmord halten; daß hier Selbſtmord vorlag,
konnte man doch ſchon daran erkennen, daß der Kammer⸗
junker es ſo eilig mit ſeinem Teſtament gehabt hatte.
Der junge Richter, würde es heißen, befindet ſich auf
einer falſchen Spur; es iſt ja ganz ſchön, eine wach⸗
ſame Behörde zu haben, aber beſſer iſt es immerhin,
das Schwert des Rechts einem alten, ruhigen Manne
anzuvertrauen, und nicht einem Brauſekopf, der —
um ſich einen Namen zu machen — darauf losſtürmt
und Menſchenleben vernichtet!
Ein Brauſekopf, der vorwärts ſtürmt, von ſeinem
Ehrgeiz getrieben? — Nun, er, der die Wahrheit kannte,
war jedenfalls bereit, auch die Verantwortung auf ſich
zu nehmen.
Und eins nahm er ſich vor: hier ſollte kein Fehler
begangen werden. So iſt es ſchon ein Fehler, das
Schwert zu ziehen, wenn man es nicht ſchwingen darf;
denn ſo oft das Schwert des Rechts gegen den Willen
des Volkes geſchwungen wird — ſo oft es geſchwungen
wird, ohne daß das Volk einſieht, warum — erhält
XXVI. 19. 7
— 98.
die Schneide eine Scharte, und die blanke Klinge wird
bei ſolchem Mißbrauch zur ſtumpfen Säge.
Nein, tauſendmal lieber Verbrechen ohne Strafe —
als Strafe ohne Verbrechen, und das Verbrechen muß,
um ein ſolches zu ſein, von allen erkannt werden.
Denn die Allgemeinheit ſtraft — nicht ein einzi⸗
ger. — —
Nun zeichneten ſich die roten Dächer von Waldhof
zwiſchen dem Grün der Bäume ab. Skram ſchaute
auf. Hic Rhodus hic salta!
II.
Gräfin Polly wartete an der Treppe, als das Auto-
mobil heranrollte und vor dem ausgehauenen Stein⸗
portal hielt. Sigismund Viffert ſtand neben ihr. Beide
grüßten freundlich und ernſt, wie die Lage der Dinge
es gebot, und bald darauf ſaß Skram in dem großen,
altmodiſch möblierten Gartenzimmer, vor deſſen ſchma⸗
len Fenſtern dichtſtehende Obſtbäume eine ſchützende
Wehr gegen die Sonnenſtrahlen bildeten.
Klipp und klar berichtete Skram, was geſchehen war;
den Hauptnachdruck legte er auf die Abfaſſung des
Teſtaments und die ſonderbare Eile, die Viffert dabei
gezeigt hatte. Er redete von der Herzkrankheit und
den Zwangsvorſtellungen, verweilte lange bei dem
ſonderbaren Vorfall mit den Barbiermeſſern, die Viffert
mitten in der Nacht gebracht wurden, und ſchloß mit
einigen gewöhnlichen Worten über den Verſtorbenen,
deſſen trauriges Ende kein eigentlicher Verluſt war,
ſondern ein Ereignis, das bald in Vergeſſenheit geraten
würde.
Die beiden hörten ihm ſchweigend zu, Viffert be⸗
nommen, ernſt und ruhig, Gräfin Polly mit weib⸗
licher Teilnahme, etwas unbehaglich berührt, vielleicht
ſogar ein wenig bekümmert.
„Und die Leiche?“ fragte ſie.
„Die iſt ſchon nach dem Krankenhaus gebracht
— 9 —
worden, wo die Obduktion vorgenommen werden ſoll.
Alsdann iſt die Sache erledigt.“
Sie redeten über den Verſtorbenen, und Außerungen
wurden getan, wie ſie Skram nur erwartet hatte. Hel⸗
mut Viffert war tot, und fein Nachruf entſprach feinem
Verdienſt.
Gräfin Polly ſuchte ihn zu entſchuldigen, indem ſie
ſein einſames Leben hervorhob, die harten Kämpfe, die
er in der Jugend durchgemacht hatte, das von ſeiner
Verwandtſchaft an ihm begangene Unrecht, ſeine eigen⸗
artige Begabung und große Begabung auf einzelnen
Gebieten.
Eine nette Leichenrede, dachte Skram. Sie war
genau ſo, wie er ſie erwartet hatte.
Und dabei merkte er deutlich, daß Gräfin Polly
ſich ſehr für den Grund intereſſierte, der ihn nach
Waldhof geführt hatte.
Skrams Abſicht war in Wirklichkeit nur, ſie zu
treffen, der erſte zu ſein, der ihr Nachricht brachte,
und die Vermutung, daß Sigismund der Mann ihrer
Wahl ſei, beſtätigt zu ſehen. Sodann wünſchte er, mit
ihr unter vier Augen zu ſprechen, noch ehe ſie mit
einem andern geredet hätte und die Möglichkeiten, die
ihr die Zukunft bot, überſchauen könnte.
Er wollte — mit andern Worten — ſie für ſein
erſtes Verhör iſolieren.
Dies freilich konnte er nicht gut als den Grund
ſeines Kommens angeben. Und darum ſagte er: „Ich
wollte mit Ihnen, Herr Viffert, als dem nächſten Ver⸗
wandten des Verſtorbenen gern reden, bevor ich das
Amt übernehme, das mir der Verſtorbene zugedacht
hat. Das Teſtament iſt ein Glied in der Kette von
Umſtänden, die ſich um den Selbſtmord ſchließt, und
ich möchte Ihren Namen nicht gern in die Sache hinein⸗
ziehen, bevor ich mit Ihnen geredet habe. Wenn die
Frau Gräfin mir alſo ein paar Minuten zu einem
Geſpräch mit Herrn Viffert laſſen wollte — —“
Sigismund unterbrach ihn. „Iſt nicht nötig, lieber
— 100 —
Herr Amtsrichter. Gräfin Polly und ich haben keine
Geheimniſſe voreinander.“
„Ja,“ fügte die Gräfin ruhig hinzu, „nach dieſem
ungewöhnlichen Ereignis habe ich nichts dagegen ein⸗
zuwenden, daß Sie erfahren, daß Sigismund Viffert
die Urſache zu meinem Schritt bildet, über den ich
geſtern mit Ihnen ſprach. Ich brauche wohl nicht
mehr zu ſagen.“
Skram verbeugte ſich — der erſte Teil feiner Miſſion
war beendet. Viffert hatte mit ſeiner Vermutung
recht gehabt.
„Sie wollen uns alſo mitteilen,“ fuhr die Gräfin
fort, „welche Beſtimmungen Helmuts Teſtament ent⸗
hält — mit Bezug auf Sigismund und — mich.“
Skram begriff ſofort, daß dieſes „und mich“ deut⸗
lich verriet, daß die Gräfin ſchon am vorigen Abend
mit Viffert über das Teſtament unterhandelt hatte.
Wußte ſie alſo ſchon alles? Das mußte er ſofort er⸗
proben.
„Der Kammerjunker erzählte mir geſtern abend,
daß er Euer Gnaden bereits den Inhalt des Teſtaments
mitgeteilt habe. Da es von mir als Amtsperſon nicht
korrekt gehandelt ſein würde, den Inhalt einem andern
als Herrn Viffert allein anzuvertrauen, ſo möchte ich
gern wiſſen, ob Euer Gnaden den Inhalt wirklich ſchon
kennen oder nicht.“
„Ja,“ ſagte die Gräfin, „ich weiß, daß ich ſeine
Erbin unter gewiſſen Bedingungen bin — aber,“ fügte
ſie hinzu, als bereue ſie, ſich ſoweit vorgewagt zu haben,
„ſomit iſt es ja ſinnlos, daß Sie es mir nicht ſagen
wollen. Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet,
Skram. Oder iſt das Teſtament etwa abgeändert
worden?“
Skram ſchien es, als habe er jetzt bereits einen
Fehler begangen. In einem ſo unweſentlichen Punkte
hätte er nicht Schwierigkeiten machen dürfen, zumal,
da die Gräfin bedingungslos Beſcheid wußte.
Er verbeſſerte ſich daher ſchnell und ſagte lächelnd:
— 11 —
„Euer Gnaden müſſen ſchon meine Beamtenpedan⸗
terie entſchuldigen; die wahre Urſache aber iſt, daß ich
mich geniert fühle, über dieſe Bedingungen zu dreien
zu diskutieren. Wie Euer Gnaden wohl wiſſen, ver⸗
langt der Verſtorbene von Ihnen, daß Sie die Er⸗
klärung abgeben, niemals mit Herrn Viffert die Ehe
einzugehen, nachdem Ihre gegenwärtige Ehe, wie der
Verſtorbene es erwartete, gelöſt iſt. — — Darf ich
fortfahren?“
Die Gräfin war glühend rot geworden. Skram
ſtutzte. Wußte ſie es etwa nicht? Aber nun war es
einmal geſagt, und ſo fuhr er fort: „Dieſe Bedingung,
die den nächſten Erben in zweifacher Weiſe von der
Erbſchaft ausſchließt, iſt an und für ſich anſtößig. Man
kann ſie nicht gut veröffentlichen, und leider läßt ſie
ſich auch nicht beiſeiteſchieben. Was ich nun wünſche,
iſt eine Erklärung des Herrn Viffert, die zuſammen
mit der offiziellen Bekanntmachung des Teſtaments
den Erben vorgelegt werden und der abſonderlichen Ver⸗
mutung, die das Teſtament ausſpricht, den Stachel
nehmen könnte.“
Die Gräfin ſah Skram bewundernd an, und dieſer
fand im Stillen ihre Bewunderung ganz berechtigt;
denn dieſe Wendung war wirklich wohlgeglückt, um
ſo mehr, als er ſie — was die Gräfin nicht wußte —
ganz impulſiv, einer Eingebung des Augenblicks folgend,
vorgeſchlagen hatte.
Skram fuhr fort: „Wenn ich eine ſolche Erklärung
vorlegen könnte, würde jedermann ſich ſagen, der Ver⸗
ſtorbene habe einen ganz ſonderbaren Irrtum be⸗
gangen. Ich hatte zuerſt gedacht, daß Euer Gnaden
ſelbſt eine ſolche Erklärung abgeben könnten, wenn
Sie, was ich allerdings vorhin nicht wußte, keine Be⸗
denken dagegen trügen. Es ließe ſich jedenfalls machen,
ohne auch nur den Schimmer eines Argwohns auf
Sie zu werfen. Es dreht ſich ja nur um die wunder⸗
lichen Ideen eines Selbſtmörders.“
„Was meinen Sie aber jetzt, da Sie mehr wiſſen?“
— 102 —
fragte die Gräfin. Sie verließ ſich offenbar ganz auf
Skrams Scharfſinn und ſeine juriſtiſche Tüchtigkeit.
„Ja,“ ſagte Skram, „wenn es wirklich Ihre Ab⸗
ſicht iſt, in drei Jahren mit Herrn Viffert die Ehe
einzugehen, dann wird es freilich ſchwer fallen, eine
Erklärung abzugeben, daß Sie das nicht tun wollen.
In dieſem Falle möchte ich Ihnen raten, zu erklären,
daß Sie unter keinen Umſtänden ein Erbe annehmen
wollen, das ſich als eine gewiſſe Anſpielung auffaſſen
läßt, die gegenwärtig, da Sie Graf Henriks Gattin ſind,
nur beleidigend für Sie ſein kann. Eine ſolche Er⸗
klärung würde ich mit Vergnügen für Sie abfaſſen,
und damit fielen alle Zweifel fort.“
„Zuſammen mit der Erbſchaft,“ ſagte die Gräfin,
kurz auflachend.
„Zuſammen mit der Erbſchaft,“ wiederholte Skram
und blickte ſie forſchend an. „Aber Euer Gnaden können
ſelbſtverſtändlich auch anders handeln. Sie könnten
wenigſtens vorläufig Ihre Pläne fallen laſſen, eine
Erklärung wie die erſtgenannte abgeben und das Erbe
in Empfang nehmen. Sollten Sie ſpäter Ihre An⸗
ſicht ändern und die Ehe einzugehen wünſchen, ſo
müßten Sie ſelbſtredend den vollen Betrag an die
berechtigten Erben zurückerſtatten. Aber ich möchte doch
bemerken, daß ich nach dem, was geſchehen iſt, eine
ſolche Erklärung nur ungern abfaſſen würde.“
„Das alles will ſagen: er verfolgt mich über das
Grab hinaus,“ ſagte die Gräfin bitter und biß die
Zähne zuſammen.
Skram blickte ſie an. — Der grauſame Mund!
dachte er.
Doch ſie bereute ihren Ausruf ſofort und fuhr eilig
fort: „Wer find denn die ſonſtigen Erben?“
„Graf Henrik — Mamſell Leonie — und der Reſt
iſt für das Allgemeinwohl beſtimmt nach Kühns und
meinem Gutdünken.“
„Mir dies zu verraten, dazu halten Sie ſich wohl ohne
weiteres für berechtigt, nicht?“ ſagte die Gräfin ſcharf.
— 103 —
„Ja,“ verſetzte Skram. „Sie wußten es ja ſchon.“
„Nein,“ ſagte ſie, „mir das zu erzählen, iſt ihm
doch zu ſchwer gefallen.“
„Es iſt indeſſen ſo,“ ſagte Skram. „Ich ſehe
Schwierigkeiten voraus, aber ich, der als Notar das
Teſtament atteſtiert hat, muß hervorheben, daß der
Kammerjunker bei voller Vernunft geweſen iſt, als er
ſeine Beſtimmungen traf, und dieſe müſſen ſomit von
jedermann reſpektiert werden.“
„Ich muß mit dir darüber reden, Sigismund,“
ſagte die Gräfin.
Das Wort „du“ wird in jener Gegend gewöhnlich
zwiſchen Nachbarn gebraucht, und hat ſomit nichts
weiter zu bedeuten. Skram hatte die Gräfin aller⸗
dings noch nie ſo zu Viffert reden hören und er hatte
ja auch erſt ſoeben ihr gegenſeitiges Verhältnis erfahren,
aber dennoch war er überzeugt, daß dieſes „Du“ an
und für ſich nichts zu bedeuten hatte.
„Dazu iſt auch reichlich Zeit,“ ſagte er. „Nur ſcheint
mir, als hätte ich Herrn Viffert gar nicht aufzuſuchen
brauchen. Ich vermag wohl zu verſtehen, daß Ihnen
die Erörterungen, die an dieſes ſonderbare Teſtament
geknüpft werden können, nicht ſympathiſch ſind und
daß Sie Ihre Entſcheidung gerne auf ſpäter verſchieben
möchten. In dieſem Falle iſt mein Auftrag erledigt.
Ich ſelbſt habe nur die Beſtimmungen des Teſtaments
zu erfüllen und das Barvermögen zu verwalten, das
nach der Ausſage des Verſtorbenen gegen ſechs⸗ bis
ſiebenhunderttauſend Kronen beträgt, mithin recht be⸗
deutend iſt.“
Die beiden ſaßen ſchweigend da.
„Und einen andern Auftrag haben Sie nicht?“
fragte die Gräfin nach einer Weile.
„Doch,“ ſagte Skram, „im Grunde genommen, habe
ich noch einen zweiten Auftrag, und ich kann ihn auch
gleich nennen. Es hat dem Kammerjunker offenbar
daran gelegen, einen Bruch zwiſchen Euer Gnaden und
ſeinem Neffen herbeizuführen. Er hat ſchärfere Augen
— 104 —
gehabt als wir andern, ja, als Graf Henrik ſelbſt; das
darf ich nun, da Sie mir Ihr Vertrauen geſchenkt haben,
wohl ſagen. Und er hat ſich in den Kopf geſetzt,
dieſe — laſſen Sie mich ſagen — Partie zu verhindern.
Er hat einen Brief an Herrn Viffert hinterlaſſen, in
dem er ſeinem Neffen eindringliche Vorhaltungen
macht, wie unrecht es gehandelt ſei, zwiſchen zwei
Ehegatten zu treten. Dieſer Brief befindet ſich in
meinem Verwahrſam und darf wohl dem Adreſſaten
übergeben werden.“
Skram hatte ſich ausſchließlich an die Gräfin ge⸗
wendet, und er merkte, daß ſie ihn verſtand; ſie er⸗
glühte und bewegte ſich unruhig auf ihrem Stuhl.
Sie unterbrach ihn: „Und den Brief haben Sie
bei ſich?“
„Ja,“ ſagte Skram.
„Haben Sie ihn geleſen?“ fragte ſie kurz.
Skram glaubte ihr Herz ſchlagen zu hören. — Sie
wußte, was in dem Briefe ſtand. „Ja,“ ſagte er,
„es war von Amts wegen meine Pflicht.“
„Ihre Pflicht, einen Brief zu leſen, der nicht an
Sie gerichtet iſt?“
„Mit den unabgeſandten Briefen eines Selbſt⸗
mörders muß ſich die Behörde bekannt machen. Es
iſt bloß noch mein Amt, Herrn Viffert zu ſagen, daß
ihm der Brief nicht vor Abſchluß der Sache ausgeliefert
werden kann.“
Sigismund Viffert verſtand offenbar die Erregung
der Gräfin nicht. Er ſaß wie gewöhnlich da und ſtarrte
ſie an. Sie war jetzt etwas blaß, aber äußerlich ruhig,
und ihr geſchloſſener Mund verriet wieder rückſichts⸗
loſe Entſchloſſenheit.
Skram begriff, daß die Vergangenheit, die er mit
ihr verlebt hatte, jetzt unwiderruflich vorbei war. Er
war nicht ihr Freund mehr, er hatte ihr geſagt, daß
Vifferts Geheimnis nicht mit deſſen Tod ins Grab
gehen werde, ſondern in ihm weiterlebe. Und wenn
es zum Kampfe kam, mußte er das Geheimnis offen⸗
— 105 —
baren. Doch unter der Maske der Freundſchaft zu
kämpfen, war ſeiner Natur zuwider. Hier ſtand hart
gegen hart. Sollte er fie beſiegen, dann mußte der
Sieg durch ſein größere Stärke und die gute Sache,
die er verfocht, gewonnen werden; überliſten ließ ſie
ſich gewiß nicht. Und nun hatte er ſich ihr ſo weit
genähert, daß ſie die Gefahr ahnte: das Geheimnis
des Toten lebte noch und wurde von einem Manne
bewahrt, der die Macht hatte, es zu benutzen — von
einem Manne, mit dem ſie nicht brechen konnte, weil
er die Seele des Ganzen war.
Die Gräfin erhob ſich.
„Ich muß jetzt nach Hauſe,“ ſagte ſie. „Wir können
ja noch morgen darüber ſprechen, Sigismund. Heute
abend noch will ich mit Henrik reden. Ich wünſche
in den nächſten Tagen nicht zu Hauſe zu ſein. Mögen
die Leute reden ſo viel ſie wollen. Wir können auch
morgen darüber ſprechen, Skram. Haben Sie Herrn
Viffert noch etwas zu ſagen, oder kommen Sie mit mir
nach der Edelsburg, wie unſre Verabredung lautete?“
Skram verbeugte ſich. „Nach dem, was ich erfahren
habe, bleibt nichts für mich zu tun übrig. Ich begreife
recht wohl, daß Euer Gnaden darüber nachdenken wollen,
und ich werde das Teſtament ſo lange zurückhalten,
bis Sie und Herr Viffert ſich über Ihren Entſchluß
geeinigt haben; ich bin ja auch bereit, Ihnen jederzeit
bei dieſem nicht leichten Schritt zu helfen. Der Brief
ſteht, wie geſagt, Herrn Viffert zur Verfügung, ſobald
die Sache abgeſchloſſen iſt, was in den nächſten Tagen
der Fall ſein wird.“
Viffert fragte Skram, ob er eine Erfriſchung wünſche,
was Skram bejahte, und ſo wurden Wein und Speiſen
gebracht. Sie tranken ſchweigend, und Skram bemerkte
dabei, wie Gräfin Pollys Blick forſchend auf ihn ge⸗
richtet war.
Dies war erſt ein Vorpoſtengefecht geweſen. Der
Weg, der zum Ziel führte, war lang, und Skram war
noch weit vom Ziel entfernt.
— 106 —
III.
Eine kleine Meile von Waldhof entfernt liegt am
Waldſaum ein altes Hünengrab, über das ſich hohe
Buchen neigen. Es iſt eine runde Erhöhung, auf deren
Spitze ein Dolmen von ſchweren, moosbewachſenen
Steinen ſteht. Die Erhöhung liegt nicht weit von der
Landſtraße entfernt, und ein Fußpfad führt über die
Feldſteinmauer, die den Wald vom Ackerlande trennt.
Von dieſer Höhe aus hat man nach Südweſten eine
weite Ausſicht über das Land, das ſich wellenförmig
zum Meere hinabſenkt. Weit draußen am Horizont,
hinter grünen Hügeln hervorſchimmernd, liegt eine
kleine Stadt mit ſpitzen Türmen, ſowie auch die Edels⸗
burg mit ihrem grünen Kupferdach, während hinter
beiden das Meer als ſchmaler blauer Streifen glänzt.
Der Wind kam von Südweſt und ſchlug den Fahren⸗
den kühl und ſcharf ins Geſicht. Eine Unterhaltung
war darum nur ſchwer zu führen, und die Gräfin rief
daher dem Chauffeur zu, daß er anhalten ſolle.
„Skram,“ ſagte ſie, „wir haben ſchon früher an dieſer
Stelle geplaudert. Ich möchte nun mit Ihnen reden.
Kommen Sie, wir wollen zum Hügel hinaufgehen und
uns Zeit zur Ausſprache laſſen. Später können wir
ſchweigen und einholen, was wir an Zeit verloren
haben.“
Skram neigte den Kopf und ſtieg aus dem Wagen.
Dann reichte er der Gräfin die Hand, und dieſe ſprang
leicht auf den grauen, ſtaubbedeckten Weg. Der Chauf⸗
feur drehte den Wagen zur Seite und ſetzte ſich hin,
um zu warten wie einer, der über ſeine Zeit nicht ſelbſt
verfügt.
Die Gräfin ſchritt mit Skram nun zur Steinkammer
hinauf. Einen Augenblick lang blieb ſie ſtehen und
ſtarrte über die gelblichen Felder hin, dann ſagte ſie
mit traurigem Lächeln: „Skram, alles dieſes iſt mein,
und doch verlaſſe ich es gern — um ihm zu folgen.“
Skram ſagte nichts.
— 107 —
Sie fuhr fort: „Es gab eine Zeit, da war ich wirk-
lich ſtolz und froh, alles dieſes zu beſitzen, und doch
lernte ich bald verſtehen, daß ich in Wirklichkeit nichts
beſaß, weil es nur in der Geſamtheit, als das Ganze
mein eigen war — weil es zu groß iſt, um es im Kleinen
zu verteilen. Nun, da ich im Begriffe ſtehe, dieſes
Land zu verlaſſen, bin ich ihm noch fremder, als da
ich kam. Wer hier an ſeinem Beſitz Freude haben
ſoll, muß ſein Eigentumsrecht mit andern teilen können;
hier ſind es die Kleinen, die über die Großen herr⸗
ſchen, und dieſe Kleinen beſitzen hier das Land.
Und mit ihnen habe ich es niemals teilen mögen;
fie trauen mir auch nicht, und ich habe fie nie ge—
winnen können.“
Skram betrachtete ſie, wie ſie dort im Sonnen⸗
ſchein ſtand. Seine Feindin — ſie, mit der er kämpfte —
ſie, die er beſiegen wollte. — Ihr Antlitz war nicht ſo,
wie er es von früher her kannte; ſie war nicht mehr
die lächelnde Königin — nicht mehr la belle dame
sans merci, ſondern eine betrübte, bereuende Frau. —
Haſtig wandte ſie ſich zu ihm um.
„Skram,“ ſagte ſie, „ſind Sie eigentlich mein Freund,
oder mein Feind?“ dabei blickte ſie ihn ſcharf an, als
verlange ſie eine Antwort.
„Ich habe keinen Anſpruch auf die Vertraulichkeit
Euer Gnaden,“ ſagte Skram ruhig. „Ich habe bisher
immer geglaubt, daß ich Ihr Freund ſei, aber es gibt
doch Handlungen, durch die Menſchen — und ſelbſt
eine Frau wie Sie — meine Freundſchaft verlieren
können.“
„Bedeutet das, daß Sie mein Feind ſind?“ fragte
ſie in demſelben traurigen Ton.
„Mir gefällt die Art nicht, in der Sie dieſe Sache
nehmen,“ ſagte Skram. „Ich ſage Ihnen rund heraus:
Lieben Sie Sigismund Viffert, jo haben weder ich,
noch ein andrer das Recht, zwiſchen Sie und Ihre
Liebe zu treten. Doch dann gebietet das Geſetz der
Ehre, daß Sie alle Folgen dieſer Liebe tragen.“
— 108 —
Dies ſagte Skram, um ſie von dem Weg, den ſie
betreten hatte, fortzuleiten.
„Sie denken wohl an das Teſtament?“ fragte ſie.
„Glauben Sie wirklich, daß dieſes jetzt eine Rolle für
mich ſpielt? — Oder ſollte es möglich ſein, daß Viffert
mich in ſeinem Brief an Sigismund — um uns von⸗
einander zu trennen — verleumdet hat? — Skram,
nun müſſen Sie mir ſagen, warum Sie mit Sigis⸗
mund zu reden wünſchten. Wollten Sie — mein Freund
— mich verraten ihm gegenüber, den ich liebe?“
Skram ſchüttelte den Kopf.
„Nein, ich wollte nur ſehen, ob er es iſt, den Sie
lieben, denn das hatten Sie mir ja noch nicht geſagt.
Sie hatten mir ja ſogar verboten, danach zu fragen.“
„Geſtern,“ ſagte ſie leiſe, „aber heute iſt nicht geſtern,
und viel hat ſich inzwiſchen geändert. Nun bedarf
ich Ihrer Vertraulichkeit, Ihrer Freundſchaft, und nun
ſpreche ich das aus, was ich geſtern nicht ausſprechen
wollte: Ja, ich liebe ihn, er iſt für mich das Leben,
das ich in allen vergangenen Jahren nicht leben durfte.
Ich klammere mich an dies Leben, ich will es, ich will
es! Und Sie müſſen mir helfen, nun, da ich in Not bin.“
Sie ergriff ſeine Hand.
„Skram, ich frage Sie bei unſrer Freundſchaft —
wollen Sie mir wirklich Ihre Hilfe abſchlagen? — —
Geben Sie mir den Brief, Skram! Ja? — Geben
Sie mir den Brief.“
Hat ſie Viffert ermordet? fragte Skram ſich ſelbſt,
und ſein Blick wurde ruhiger und feſter bei dieſer
Frage.
„Euer Gnaden müſſen mir klarlegen, wozu Sie
meine Freundſchaft wünſchen; denn erſt, wenn ich das
weiß, kann ich antworten. Ich muß wiſſen, wobei
ich helfen ſoll, und ob ich die Hilfe, die Sie verlangen,
auch leiſten kann. Ihnen den Brief zu übergeben,
dazu habe ich nicht das Recht.“
Ihr Blick war nur betrübt. Sie ſah ihn an und ſagte
leiſe: „Männer ſind Egoiſten — alle!“
— 109 —
Dann ſetzte fie ſich auf einen der großen Steine
an dem Grab; ihre Hand ſpielte mit den Blumen im
Mooſe, und ihr Fuß bewegte ſich ganz leiſe — wie
in Ungeduld. Und ſie redete auch zuerſt.
Den Kopf erhebend, ſagte ſie: „Wann verließen
Sie Viffert geſtern abend, Skram?“
„Gegen Mitternacht,“ erwiderte er.
„Wiſſen Sie, daß er gleich, nachdem Sie ihn verlaſſen
hatten, an meine Tür klopfte?“
Skram ſtutzte. — „An Ihre Tür? — Waren Sie
denn da noch nicht zur Ruhe gegangen?“
„Doch,“ erwiderte ſie, „aber ich ſchlafe oft ſchlecht.
Ich lag noch wach im Bett und las. Ich liege oft und
leſe bis in den hellen Morgen hinein. Es iſt eine An⸗
gewohnheit von mir, die er kannte. Helmut Viffert
und ich ſtanden auf ſehr vertrautem Fuß miteinander,
und er hat oft in der Nacht, wenn alles ſchlief, an
meinem Bett geſeſſen.“
Sie ſagte das in ganz natürlichem Ton, ohne es
näher zu erklären.
Skram ſchwieg.
Die Gräfin fuhr fort: „Er klopfte an meine Tür,
die unverſchloſſen war. Leonie pflegt ſonſt dieſen Ein⸗
gang zu benutzen — denn ſie ſchläft oben, das heißt,
noch über ſeinen Zimmern.“
Das wußte Skram; er wunderte ſich bloß darüber,
daß Viffert dem Anſchein nach ſeinen Beſuch bei der
Gräfin, noch bevor er ſich zur Manſarde hinaufbemüht,
abgeſtattet hatte. Aber er verriet nichts von dieſen
Gedanken.
„Ich glaubte auch, es ſei Leonie,“ fuhr die Gräfin
fort, „denn dieſe kommt nachts zuweilen zu mir. Ich
glaubte es um ſo mehr, als er und ich am letzten Abend
im Zorn voneinander gegangen waren, und ich ihm
das geſagt hatte, was ich ihm ſchon lange hatte ſagen
wollen.
„Aber er war es doch. 8
„Er redete nicht viel, ſondern bat mich nur, zu
— 10 —
vergeſſen, daß er zornig geweſen, denn er wolle nicht
in Unfrieden von mir ſcheiden. Er beabſichtige, in der
Frühe des nächſten Morgens abzureiſen, um mir nicht
eher wieder zu begegnen, als bis ich ſelbſt es wünſchte.
Er benahm ſich ſehr demütig und redete mit weicher
Stimme. Ich weiß, daß er in allen Tonarten reden
kann; ich kenne ſeine Redeweiſe und laſſe mich von
ihr nicht mehr beeinfluſſen.
„„Ich bin zu alt, ſagte er — und das Alter hat
kein Recht mehr. Verſprich mir nur, daß er — du
weißt ſchon, wen ich meine — dir niemals mehr ſein
wird, als ich dir geweſen bin.“
„Ich antwortete nicht, denn ich mochte hierüber
kein Wort zu ihm ſagen.
„Dann redete er von den alten Tagen, von Dingen,
die nur er und ich kennen und über die ich mit andern
nicht ſprechen kann.
„Doch ich antwortete ihm nicht.
„Da fragte er mich, ob ich zürnen würde, wenn
er jetzt mit Henrik redete. — Henrik ſchläft, ſagte ich.
Ich weiß, daß mein Mann immer bis Sonnenaufgang
feſt ſchläft. Im übrigen weißt du ja, fügte ich hinzu,
‚va du Henrik nichts ſagen kannſt, wenn ich dir verbiete,
es ihm zu fagen‘.
„Hm — Sigismund, ſchaltete er ein.
„Und ich erwiderte: Einmal erfährt er es doch,
und ſo iſt es gleich, ob er es durch dich oder durch
mich erfährt.“ ü
„Er ging nun zur Tür, die nach Henriks Toiletten-
zimmer führt, öffnete ſie und trat in das Zimmer ein. Ich
ſah, daß er Licht machte, und hörte gleich darauf etwas
klirren, als krame er am Toilettentiſch herum. Ich
horchte auf, dann kam er zurück. Vor meinem Bett
blieb er ſtehen und ſah mich mit ſtarrem Blick an.
Ich erſchauderte einen Augenblick lang, denn der Ge⸗
danke drängte ſich mir auf, daß er ſoeben Henriks Bar⸗
biermeſſer genommen haben könne, um mich damit —
„Er muß mir den Gedanken vom Geſicht geleſen
— 11 —
haben — der Schein meiner Leſelampe fiel ja ſcharf
auf mich herab — denn er ſagte lächelnd: ‚Nein, Polly —
du ſollſt leben. — Lebe wohl.“ Und dann ging er. — —“
Skram hatte, nach vorne gebeugt, dieſer ſeltſamen
Erzählung gelauſcht. Warum erzählte ſie ihm das?
Warum nahm ſie ſeinem Glauben den einzigen feſten
Anhaltspunkt fort? Sie, die ja gar nicht wiſſen konnte,
was er glaubte und warum er es glaubte. Was ſie
ihm da erzählt hatte, bedeutete nichts Geringeres, als
daß Viffert ſelbſt die Meſſer umgetauſcht habe. Erzählte
ſie das, ohne etwas von dem Umtauſch zu wiſſen?
Durch andere konnte ſie nichts davon erfahren haben,
und er ſelbſt, der einzige, der es wußte, hatte kein
Wort darüber geſprochen.
Warum erzählte ſie ihm das?
Etwa, weil es Wahrheit war? Von ſeiner Ver⸗
mutung, daß ſie die Perſon ſei, die Viffert ermordet
hatte, konnte ſie ja gar nichts ahnen. Oder ahnte
ſie es doch? Aber wie konnte ſie dann wiſſen, daß es
gerade auf eine Erklärung für den Umtauſch der Meſſer
ankam? Sie hatte ja — falls ſie die Täterin war —
beim Umtauſch einen Fehler begangen, und ſie war
nicht auf Edelsburg geweſen, als Jörgen die Leiche
gefunden hatte. Sie hätte ihren Fehler am nächſten
Morgen, noch ehe das Haus erwacht war, entdecken
können, doch dann hätte ſie ihn berichtigt.
Skram fühlte, daß der Grund unter ihm wich.
War ihre Erzählung wahr, dann war Viffert nicht
ermordet worden, ſondern von eigener Hand geſtorben.
Sie ſtand noch vor ihm und ſchaute ihn mit dem⸗
ſelben traurigen Blick an.
„Sie verſtehen wohl, Skram, was ich Ihnen ſoeben
erzählt habe, das vermag ich nicht ſo zu geſtalten, daß
auch Sigismund es erfahren darf. Ich weiß, daß ich
ihn verliere, wenn er etwas davon erfährt, was nun —
da Helmut tot iſt — der Vergangenheit angehört. Und
Sie verſtehen nun auch wohl, Skram, daß ich bei dem
Gedanken zittere, daß Sie nicht mehr mein Freund
— 12 —
fein könnten — Sie, der mein Geſchick in den Händen
hat und alles ans Licht ziehen kann, was auf Edels⸗
burg in der letzten Nacht geſchehen iſt. Ihnen darf
ich alles erzählen, aber dann — müſſen Sie mich auch
ſchonen. Das iſt es, worum ich Sie bitte. Und darum
müſſen Sie mir den Brief geben.“
Skram erhob den Kopf. „Meinen Sie damit, daß
ich kein Verhör über Sie abhalten und nicht ſuchen
ſoll, den Motiven zu Vifferts Selbſtmord auf den
Grund zu kommen? Das vermag ich gut zu verſtehen.
Und Sie brauchen ſich nicht zu fürchten, denn nie
werde ich alles dies unnötigerweiſe einer gaffenden
Pöbelmenge bloßlegen. Aber warum erzählten Sie mir
das eigentlich unaufgefordert?“
„Weil ich fühle, daß ich zum Reden gezwungen
werden könnte. Als Sie mir erzählten, daß Viffert
Hand an ſich gelegt habe, begriff ich ſofort, daß es mit
dem Meſſer, das auf meines Mannes Tiſch gelegen
hatte, geſchehen ſein müſſe. Viffert ſelbſt hatte ja keine
Barbiermeſſer; ein närriſcher Zwangsgedanke ließ ihn
beſtändig befürchten, daß er ſich den Hals durch⸗
ſchneiden könne. Das hat er mir erſt kürzlich erzählt. Er
konnte keine geladenen Waffen bei ſich tragen, weder
Türme noch hohe Berge beſteigen, ja, kaum auf dem
Bahnſteig ſtehen, wenn ein Zug einlief, alles aus Furcht
vor Selbſtmord. Er, der doch vor dem Tode ſolche Angſt
hatte. Darum war er jetzt genötigt, das Meſſer aus
meines Mannes Zimmer zu holen. Und da dieſes
nach dem Korridor zu verſchloſſen iſt, mußte er mein
Schlafzimmer paſſieren. Verſtehen Sie nun, warum
ich glaubte, es Ihnen erzählen zu müſſen?“
Skram verſtand es. — Als Graf Henrik ihm den
Unterſchied der beiden Meſſer gezeigt hatte, war er
ſofort überzeugt geweſen, daß der Graf nicht der Mörder
ſei. Als Leonie ihm berichtet hatte, was in der Nacht
auf Edelsburg geſchehen war, hatte er ſofort ein⸗
geräumt, daß weder ſie noch Jörgen an der Tat be⸗
teiligt ſein könnten. Aber in keinem von beiden Be⸗
— 13 —
richten hatte die überzeugende Kraft gelegen wie in
den traurigen Worten der Gräfin, die alles erklärten,
auch das, was nur er wußte.
Und doch war ſein erſter Gedanke nicht der: ſie iſt
unſchuldig. Nein, der Gedanke, der ihm wie ein Blitz
durch den Kopf fuhr, lautete: ſie hat telephoniſch mit
dem Kreisarzt Kühn verkehrt, und er hat ihr alles er⸗
zählt. Und nun lügt ſie, um mich auf eine falſche Spur
zu bringen! — Skram fühlte, daß der Verdacht da
war, dem kein Richter, und wenn er noch ſo ſtark iſt,
widerſtehen kann.
„Haben Euer Gnaden mit dem Kreisarzt Kühn
geſprochen?“ fragte er.
„Mit Kühn? — Heute? — Nein! Warum fragen
Sie?“ Sie ſah verwundert auf.
„Weil ich nicht allein damit zu ſchaffen habe,“ ſagte
Skram ruhig. „Bei der Leichenſchau wirken Richter
und Arzt zuſammen, und es wird notwendig ſein,
Kühn dasſelbe Vertrauen zu ſchenken, das Sie mir er⸗
wieſen haben.“
„Kühn iſt ſeit vielen Jahren mein Arzt,“ ſagte ſie.
„Ihm kann ich wohl vertrauen, und was ich Ihnen
ſage, kann ich auch ihm ſagen. — Vielleicht ſogar
beſſer, weil er älter iſt als Sie. — Aber bedeutete
Ihre Außerung vorhin, daß Sie meine Vertraulichkeit
dennoch nicht wünſchen?“
„Nein,“ ſagte Skram, „das bedeutete ſie nicht. Sie
bedeutete nur, daß ich nicht verſprechen kann, Kühn
gegenüber in jeder Hinſicht zu ſchweigen.“ — —
Sie hatte alſo nicht mit dem Kreisarzt ge⸗
ſprochen.
„Kann es umgangen werden, daß ich im Verhör
nach den Dingen gefragt werde, die Sie nun ohne⸗
hin ſchon wiſſen?“
„Das ſollte ich meinen,“ verſetzte Skram. „Be⸗
ſonders wenn Sie — kurz entſchloſſen — auf Vifferts
Erbe Verzicht leiſteten.“
„Wieſo dann?“ fragte ſie und blickte ihn e an.
XXVI. 10.
— 114 —
„Euer Gnaden müſſen bedenken, daß die Ereigniſſe
von heute nacht keine Zeugen gehabt haben. Bei einem
ſo geheimnisvollen Todesfall wie dieſem löſen ſich
Zungen, die ſonſt gebunden ſind. Gegen giftiges Ge⸗
ſchwätz kann ſich niemand wehren und...“
Die Gräfin erhob ſich haſtig.
„Meinen Sie, daß irgend ein Menſch wagen könne
zu glauben, daß ich — ich Helmut Viffert ermordet
hätte, um ſein lumpiges Geld zu erben?“
„Ja,“ ſagte Skram ruhig.
Die Gräfin erglühte.
„Das glauben Sie vielleicht gar ſelbſt?“
„Ja,“ ſagte Skram. „Ich glaubte freilich nicht, daß
Sie Viffert ermordet hätten, um ihn zu beerben, aber
bis zu dem Augenblick, da Sie mir dieſes erzählten,
glaubte ich, daß Sie Viffert ermordet hätten, um ihn
zu hindern, ſeinem Neffen alles zu erzählen, wie er
es ja angedroht hatte, und der Umſtand, daß Sie mich
um den Brief baten, hat mich in meinen Glauben
beſtärkt. Nun wiſſen Sie es.“
Die Gräfin war jetzt ganz blaß; ſie ſtand, an einen
der großen Steine gelehnt, die Hände geballt und die
Zähne feſt zuſammengebiſſen.
„Viffert ſchreibt gewiß in dem Brief an Sigis⸗
mund, den Sie geleſen haben, daß ich ſeine Geliebte
geweſen ſei, vielleicht ſogar, ſeine bezahlte Geliebte,
eine Abenteurerin, die er gefunden habe! Und daher
bieten Sie mir ſolchen Hohn!“
„Ich bitte Euer Gnaden, mich nur als Richter zu
betrachten,“ ſagte Skram. „Das bin ich jetzt lediglich.
Mein Beruf zwingt mich mitunter dazu, die Rückſicht,
die ſich Männer ſonſt Damen gegenüber auferlegen,
beiſeite zu ſetzen. Darum allein konnte ich nicht ant⸗
worten, als Sie mich fragten, ob ich Ihr Freund ſei.
Ich kann es nicht ſein, ſolange mein Richteramt mir
gebietet, da Gewißheit zu ſuchen, wo andre ſich mit
Vermutungen begnügen können. Ich habe Urſache
gehabt zu glauben, daß Sie es ſeien, der ihn ermordet
a
hat, und ich habe es für richtig gehalten, es Ihnen
zu ſagen. Nun wiſſen Sie es alſo.“ —
Es war, als ob der Wald ſich über ihnen ſchlöſſe,
die gelblichen Felder und die weißen Gehöfte ver⸗
bergend, das Meer verbergend, das hinter den roten
Dächern der Stadt und den blanken Türmen der
Edelsburg blinkte. Es war, als ſtünde Skram in der
kleinen dumpfen Stube des Rathauſes, ein Verhör
abhaltend, und als werde der grünbemooſte Grabhügel
zu einem grünbezogenen Tiſch.
Skrams Herz klopfte, ſein Puls ſchlug heftig, und
doch ſtand er nur vor der Entſcheidung über eine
Sache, in die ihn ſein Beruf verwickelt hatte; es war
dieſelbe Erregung, die er zum erſten Male geſpürt, als
er im Beginn ſeiner Laufbahn das von bebenden Lip⸗
pen geſprochene Geſtändnis einer Kindesmörderin an⸗
gehört hatte.
Und ſie, die dort vor ihm ſtand — ſchien vor der
Schranke zu ſtehen, der Schranke, hinter der er als
Richter ſicher auf ſeinem Stuhl ſaß.
Seine Worte waren nur Taktik, nicht die Worte
eines Menſchen zum andern geweſen.
Die Gräfin machte einen Schritt vorwärts, dann
ſagte ſie mit traurigem Tonfall: „Kommen Sie, Herr
Amtsrichter, wir wollen gehen. Mich friert. Ich will
nach Hauſe.“
Er folgte ihr, und ſie winkte dem Chauffeur, der den
Wagen auf den Weg brachte.
„Wollen Sie an meiner Seite Platz nehmen, Herr
Amtsrichter?“ fragte ſie. „Ich werde ſelbſt die Füh⸗
rung übernehmen; das wird meinen Nerven gut tun.“
„Wie Euer Gnaden wollen,“ ſagte Skram.
Sie lächelte ſchmerzlich. „Sie fürchten ſich doch
nicht etwa, mit mir zu fahren, jetzt, nachdem — — —“
„Ich fürchte mich nie,“ ſagte Skram ruhig.
Dann nahmen ſie Platz, und die Gräfin ſetzte den
großen, roten Wagen in Bewegung.
— 16 —
IV.
Es ging gegen den Wind den Hügel hinab. Die
Gräfin redete nicht, ſie ſaß, leicht nach vorn gebeugt,
die Hände auf das Rad gelegt, während der Wind in
ihren Haaren ſpielte. Die weite, faltige Automobil⸗
kleidung verlieh ihr etwas Unförmiges und ließ ſie
mit dem Rad, dem ganzen Wagen verwachſen er⸗
ſcheinen.
Und die Luft war ſchneidend trotz des Sonnen⸗
ſcheins.
Auch Skram redete nicht. Seine Gedanken drehten
ſich beſtändig um dieſelbe Frage. Hat ſie gewußt oder
auch nur geahnt, daß die beiden Meſſer vertauſcht
waren? Wer kann es ihr geſagt haben? Oder iſt ſie
wirklich unſchuldig? Liegt Selbſtmord vor? Hat Vif⸗
fert ſich noch im Tode rächen und einen verdächtigen
Schein auf das Haus werfen wollen, das er haßte
und das ihn haßte?
Viffert war wohl imſtande dazu geweſen. Er war
imſtande geweſen, mit kalter, hämiſcher Berechnung
ſeine Pläne auszuführen. Selbſt ſein Beſuch bei
Leonie und ſein Scheck ließen ſich im Anſchluß hieran
erklären. Der Brief war offenbar ein Glied in ſeinem
Plan; der Verdacht ſollte ſich nicht gegen die Gleich⸗
gültigen, gegen die Dienerſchaft, ſondern höher hinauf,
gegen den Grafen oder gegen die Gräfin richten.
Hatte Viffert nun dieſe Abſicht erreicht?
Oder log ſie?
Vom erſten Augenblick an war Skram einem ruhigen
wohlüberlegten Plan gefolgt. Er fand ſelbſt, daß das
Glück ihn dabei begünſtigt habe — zu ſehr begünſtigt
habe. Nun hemmten die neidiſchen Götter ſeinen
Schritt und ſtürzten ihn ins Dunkel der Ungewiß⸗
heit hinaus. Nun wußte er nichts. Und die Gewiß⸗
heit, die er ſich erzwungen hatte, war nun zum Zweifel
geworden. Er zweifelte an allem. Er ſtand allein;
er, der Richter, der gegen die Miſſetat kämpfen wollte,
— 117 —
hatte ſein Schwert gerade gegen die erhoben, die er
davor beſchützen ſollte.
Viffert hatte ſicher Hand an ſich gelegt. Skram
ſtand das bleiche Antlitz des Toten mit dem zyniſchen
Lächeln vor Augen: So narre ich Sie, liebe Obrigkeit;
ein bißchen Spannung — ein bißchen Erſchlaffung —
voilà tout!
Und warum hatte er der Gräfin vorhin ſeine Ver⸗
mutung verraten? Wie töricht war es von ihm ge⸗
weſen, ihren Zorn zu erregen, und wie roh, ſie ſo zu
kränken! War ſie unſchuldig, ſo hatte er gehandelt, wie
ein kluger Mann nicht handeln darf. Und er war doch
nicht allein Richter, ſondern auch ein Mann.
Das hatte er vergeſſen. —
Vorwärts ging es gegen den ſchneidenden Wind
über das wellige, hügelige Land.
Eine halbe Meile von Edelsburg entfernt läuft der
Weg einen Hügel hinab und führt dann quer über
einen Eiſenbahndamm. Die Bahnanlage gehört einer
Privatgeſellſchaft, und am Übergang ſind keine Schlag⸗
bäume angebracht, nur in kurzer Entfernung von den
Schienen ſteht auf jeder Seite ein Pfahl mit der
Warnungstafel: „Auf den Zug achten!“ Und es iſt
nicht ſchwer, auf den Zug zu achten, denn die Bahn⸗
linie ſchneidet den Weg im rechten Winkel und führt
von der Stadt an aufwärts. Auf beiden Seiten kann
man die Bahnlinie ſchon von weitem ſehen, und über⸗
dies verkehren nur wenig Züge auf ihr. — —
Es war gegen fünf Uhr, und der von der Stadt
herkommende Zug arbeitete ſich ſchwerfällig den langen
Hügel hinauf.
„Werden wir noch hinüberkommen?“ fragte Skram.
„Wollen's verſuchen,“ erwiderte die Genie „Sie
haben ja Eile.“ N
„Wie Euer Gnaden wünſchen.“
Sie fuhren jetzt mit einer Geſchwindigkeit von zehn
Meilen in der Stunde, was weit über das erlaubte
Maß hinausging, und die auf der Landſtraße Befind-
— 18 —
lichen blickten kopfſchüttelnd dem Wagen nach, der mit
kurzen, heiſeren Tutenſtößen dahinjagte und den Staub
aufwirbelte, daß er wie eine Mauer hinter ihm ſtand.
Nun näherten ſie ſich der Bahnlinie.
„Es geht nicht,“ ſagte Skram.
„Es muß gehen,“ lautete die Antwort.
Die Gräfin preßte den Mund zuſammen und voll⸗
führte einen Griff am Regulator. Die Steine der
Straße flogen jetzt weit von den Rädern ab und
ſchlugen gegen die Stämme der Chauſſeebäume.
„Haben Sie Angſt, Skram?“ fragte ſie neckend.
„Ich habe geſagt, daß ich niemals Angſt habe,“
erwiderte er und lehnte ſich zurück, die Füße gegen
den Boden ſtemmend.
Es war alſo ihre Abſicht, den Wagen in den heran⸗
brauſenden Zug hineinfahren zu laſſen. Es konnte nur
noch einige Sekunden dauern, dann mußte es ge⸗
ſchehen — — nur ein Schlag — ein Krachen, und das
Ganze würde vorbei ſein.
Jetzt war es ſchon zu ſpät.
Die Lokomotive pfiff warnend — ein, zwei, drei,
viermal — und zum fünften Mal — das Gefahr⸗
ſignal.
Der Chauffeur im Hinterſitz ſprang auf und ſchrie:
„Bremſen — Bremſen!“
Doch die Gräfin biß die Zähne zuſammen.
Nun mußte es geſchehen. Die Lokomotive ſtieß
dichten, weißen Dampf aus; ſie bremſte mit aller
Kraft, während ihre Pfeife die Luft durchſchnitt. Und
die Fahrt verlangſamte ſich. Wohl war es unmöglich,
den Zug zum Stehen zu bringen, er mußte über den
Weg, doch Skram erkannte, daß der lautlos vorwärts
ſchießende Wagen den Vorſprung eines Augenblicks
hatte und die Bahnlinie überqueren konnte, wenn er
dieſe Fahrt beibehielt.
Da beugte ſich die Gräfin ſchnell herab und Skram
ſah, wie ihr Fuß die Bremſe ſuchte. Er ſelbſt war ein
geübter Chauffeur und erkannte ihr Vorhaben.
— 119 —
Vom Zuge her erſcholl das heiſere Rufen des
Lokomotivführers, während der Dampf, vom Winde
getrieben, ihnen warm und feucht ins Geſicht ſchlug.
Wurde jetzt die Fahrt verlangſamt, ſo war ein
Zuſammenſtoß unvermeidlich.
Und energiſch beugte ſich Skram zur Gräfin hin und
ſchlug ihren Fuß von der Bremſe weg. Ihre linke
Hand ruhte auf dem Rad, die rechte führte ſie jetzt
zur Bremſe hinab, die über dem Trittbrett angebracht
war. Sie wollte den Wagen mit einem Ruck mitten
vor dem Zuge zum Stehen bringen. Skram, der alle
Muskeln anſpannte, taſtete mit der Linken nach dem
Regulator und ſtellte ihn ſo ein, daß die Maſchine mit
äußerſter Kraft arbeitete. Dann erfaßte er das Rad
und hielt es feſt, um ein Abbiegen und Umſtürzen
des Wagens zu verhindern. Faſt auf dem Boden
knieend, beugte er ſich über die Gräfin, hinderte ſie, die
Kuppelung der Maſchine mit dem Wagenrad zu löſen,
und ſchlug mit der Linken ihre rechte Hand von der
Bremſe weg.
Es ſauſte um ſeinen Kopf, während der Wagen
vorwärts fuhr. Einen Augenblick lang erblickte er dicht
neben ſich die große grüngeſtrichene Lokomotive mit
ihren Lampen und den blanken Beſchlägen und nahm
die ihr entſtrömende glühende Hitze wahr.
Den Bruchteil einer Sekunde lang nur; dann war
es vorbei — und der Wagen jagte den Hügel hinunter,
während hinter ihnen der Zug mit angezogenen Brem⸗
ſen und kreiſchenden Rädern vorüberglitt.
Skram ſtieß die Gräfin zur Seite, ſtieß ſie ganz
gegen die Seitenlehne; ſie leiſtete nicht den geringſten
Widerſtand. Er ergriff nun ſelbſt das Rad, ſchlug die
Kuppelung vom Triebrade und preßte langſam die
Bremſe hinab, daß die Fahrt ſich zuſehends verlang⸗
ſamte und der Wagen mit ſtillſtehenden Rädern den
Weg hinunterglitt.
Dann hielt er ſtill — noch zitternd wie ein Renner
nach wildem, wahnwitzigem Lauf.
— 120 —
Skram wandte ſich zu der Gräfin um — ſie war
bleich, aber ihre Augen glühten.
Der Chauffeur ſtand zitternd auf dem Weg, und
hinter ihnen klang das kurze Fauchen des Zuges, der
ſich wieder in ſchnellere Fahrt ſetzte.
Leute kamen herbei; ſie wollten reden, doch als
ſie den Amtsrichter erkannten, ſchwiegen ſie.
Skram erhob ſich.
„Wir wollen unſre Plätze tauſchen,“ ſagte er kurz
und beſtimmt. „Denn nun ſind Sie nervös, Gräfin!“
Und er bat den Chauffeur, wieder im Wagen Platz
zu nehmen.
Dann ging es mit Skram am Rade in mäßig
ſchneller Fahrt vorwärts. Und als ſich der Staub
wieder hinter ihnen hob und die ihnen nachſtarrenden
Leute weit zurückgeblieben waren, wandte ſich Skram
mit leiſem Lächeln zu der Gräfin um und ſagte:
„Warum taten Sie das? Jetzt hege ich ja keinen
Verdacht mehr gegen Sie.“
Gräfin Polly ſchwieg.
Aber ſie war totenbleich im Geſicht.
V.
Das zum Amtskreiſe gehörende Krankenhaus war
ein großes rotes Gebäude, das auf einem ſteil ab⸗
fallenden Hügel am Schloßſee gelegen und von einem
großen ſchattigen Garten umgeben war. In einer
Ecke des Gartens, verborgen hinter hohen Bäumen,
lag das Leichenhaus, ein kleines, mit einem Kreuz
verziertes Gebäude. Man hatte es ſo im Verborgenen
angelegt, um es den Augen der Kranken, die die Nähe
des Todes nicht merken ſollten, möglichſt zu entziehen.
Sein Inneres war ein kleiner Raum mit breiten, hoch⸗
liegenden Fenſtern und zur Zeit gänzlich leer, nur in
der Mitte des Zimmers ſtand ein Seziertiſch, an dem
jetzt der Kreisarzt mit zwei Gehilfen arbeitete.
Der Kreisarzt trug einen weißen Leinenkittel, deſſen
— 121 —
Armel er aufgekrempelt hatte; ſeine Arme waren mit
Blut beſpritzt.
Auf dem Tiſche lag die Leiche Helmut Vifferts,
entkleidet und willenlos dem Meſſer des Arztes ver⸗
fallen.
Skram ſtand, an die Mauer gelehnt, dabei und
rauchte eine Zigarre. Er war nun, nach dem Auf⸗
tritt am Hünengrab, ganz ruhig. Die Obduktion inter⸗
eſſierte ihn nicht, und er war nur gekommen, weil
der Kreisarzt nach ihm geſchickt hatte.
Eigentlich entſprach es ſeiner Abſicht nicht, daß eine
geſetzliche Obduktion vorgenommen wurde. Er war
jetzt feſt entſchloſſen, der Gräfin zu glauben.
Der Kreisarzt arbeitete haſtig.
„Nun, ſind Sie bald fertig?“ fragte Skram. „Und
haben Sie geſehen, was zu ſehen war?“
Skrams Blick ſtreifte den zerfetzten Körper ohne
Scheu. Er war gewohnt, dergleichen Dinge zu ſehen;
ihn berührte das nicht. Er ſehnte ſich nur, nach Hauſe
und zur Ruhe zu kommen, denn nun war er wirklich
müde.
„Ja,“ verſetzte der Kreisarzt, „nun bin ich fertig.“
Er gab den Gehilfen ein Zeichen, daß ſie zurücktreten
ſollten, und näherte ſich Skram.
„Skram,“ ſagte er flüſternd, „wir haben mit unſrer
Annahme recht gehabt, bloß liegt die Sache ganz
anders, als wir gedacht haben. Der Mann da hat
tatſächlich — wie Sie heute morgen erwähnten —
an einer ſehr vorgeſchrittenen Arterioſkleroſe gelitten,
an einer durchgreifenden Verkalkung der Herzarterien,
und das allein hat ſeinen Tod verurſacht. Er iſt plötz⸗
lich geſtorben, als er im Bett lag. Die Schnittwunde
dagegen iſt nicht lebensgefährlich, die iſt ihm bei⸗
gebracht worden, nachdem er ſchon geſtorben war.
Das will ſagen: von Selbſtmord kann keine Rede
ſein — und ſelbſtredend iſt er auch nicht ermordet
worden. Er iſt an Verkalkung des Herzens, wie man
es in der populären Sprache nennt, geſtorben.“
Das Blut braufte Skram in den Ohren. — Alſo
doch!
Er antwortete nicht, ſondern blickte aufmerkſam den
Kreisarzt an.
Dieſer fuhr fort: „Es liegt, wie Sie ſehen, ein ſehr
intereſſanter Fall vor. Ich glaubte einen Augenblick
lang trotz Ihrer ſcharfſinnigen Hypotheſe mit den
Meſſern, daß vielleicht Selbſtmord in Verbindung mit
Herzſchlag vorliege. Aber das Ergebnis meiner Unter⸗
ſuchung läßt das als höchſt unwahrſcheinlich, um nicht
zu ſagen, ganz ausgeſchloſſen, erſcheinen.“
„Und Sie ſind ſicher, Doktor,“ fragte Skram, „daß
nicht etwa meine Hypotheſe mit den Meſſern Ihnen
eine vorgefaßte Meinung erweckt? Ich will Ihnen ſagen,
daß mir von dieſen vorgefaßten Meinungen Angſt ge⸗
worden iſt. Ich muß Ihnen geſtehen, daß ſie heute
alle fehlgeſchlagen haben. Sogar die Hypotheſe mit
den Meſſern! Ich werde Ihnen ſpäter erklären, warum
und beſchränke ich mich vorläufig bloß darauf, zu ſagen,
daß die Hypotheſe hinfällig iſt. Von ihr müſſen Sie
alſo ganz abſehen.“
Der Kreisarzt ſchüttelte den Kopf.
„Die Herren Juriſten können ſich natürlich bei den
ſogenannten phyſiſchen Tatſachen irren, ſie können ſich
auch bei den Kombinationen der realen Tatſachen irren.
Wir Arzte aber arbeiten ſtreng empiriſch, und in
unſern Spezialfächern, da, wo das Meſſer das Wort
führt, irren wir uns ſelten. Hier iſt jeder Fehler ſo
gut wie ausgeſchloſſen. Jeder Arzt wird zugeben, daß
meine Schlußfolgerung nicht nur richtig, ſondern über⸗
haupt die einzig mögliche iſt. Ich muß ſomit kon⸗
ſtatieren, daß hier ein plötzlicher Tod infolge des
chroniſchen Leidens des Mannes eingetreten iſt. Als
Begleitumſtand — aber erſt nachdem der Tod ein⸗
getreten war — kommt dieſer recht ungefährliche Schnitt
hinzu, der an und für ſich nicht den Tod verurſacht
haben kann. Ja, ich muß ſogar ſagen — doch betone
ich hierbei, daß ich mich auf das Gebiet der Hypotheſen
— 13 —
begebe — daß der Mörder beim Schneiden innegehalten
oder jedenfalls den Schnitt mit geringerer Kraft aus⸗
geführt hat, weil er ſehen mußte, daß er in einen toten
Körper ſchnitt. Hier kann überhaupt nicht von eigent⸗
licher Blutung die Rede ſein, ſondern, da bloß eine
Vene durchſchnitten iſt, von einem Ausſickern des
Blutes, das vielleicht kurz nach dem Tode, als die
Blutkörper noch in Bewegung waren, vor ſich ging.“
„Es war recht viel Blut,“ ſagte Skram.
„Ja, es war vielleicht zu viel,“ verſetzte der Arzt.
„Wie ich ſagte, iſt das letztere nur Mutmaßung, aber
über die Hauptſache herrſcht kein Zweifel, und ich für
meine Perſon trage kein Bedenken, mein Gutachten
über den Fund in voller Übereinſtimmung hiermit ab⸗
zugeben.“
„So ſind Sie fertig mit dem Geſchäft?“ fragte
Skram.
„Vollſtändig,“ erwiderte jener. „Jetzt können Sie
ihn meinetwegen begraben laſſen. Wenn Sie nicht
etwa meinen, daß wir noch einen andern Arzt hinzu⸗
ziehen ſollen.“
„Jetzt noch nicht,“ ſagte Skram ſchnell. „Laßt uns
gehen.“
„Ich will bloß noch Toilette machen,“ verſetzte der
Arzt, „dann ſtehe ich wieder zu Dienſten. Ich möchte
übrigens auch gern mit Ihnen reden.“
„Haben Sie den Leuten da etwas über das Re⸗
ſultat Ihrer Unterſuchung geſagt?“
„Nichts — über derartige Dinge ſpreche ich nie mit
dem Perſonal.“
— — — Ekram ſtand draußen im Garten des Kran⸗
kenhauſes und ſtarrte zum Schloß hinüber. Alſo war
der Kampf aufs neue eröffnet!
„Warum taten Sie das? Ich hege ja keinen Ver⸗
dacht mehr gegen Sie.“
Es war alſo ihr feſter Vorſatz geweſen, den Wagen
gegen den Zug zu ſteuern — mit ſeinem und ihrem
Leben va banque zu ſpielen, ſie beide von der Erde
— 14 —
zu vertilgen, um der Sache ein Ende zu machen. Sie
hatte ja nicht gewußt, daß der Kreisarzt die verdächtigen
Umſtände kannte, und daß durch ihren Tod die Sache
gerade aufgerührt werden würde. Sie glaubte, daß
er der einzige ſei, der es wußte, und darum hatte
er mit ihr ſterben ſollen.
Er hatte geglaubt, es ſei Erregung, gekränkter
Stolz, wahnwitziger Zorn über ſeinen Verdacht ge⸗
weſen. Nun begann er zu verſtehen, daß die Urſache
tiefer lag, wenn er auch nicht verſtand, zu welchem
Zweck ſie von einem nächtlichen Beſuch Vifferts ge⸗
ſprochen hatte. Ihre Erzählung war wohl eine Lüge
geweſen, obgleich er nicht begreifen konnte, warum
fie gerade in dieſer Weiſe gelogen hatte. — Nun
galt es zunächſt für ihn, in Erfahrung zu bringen, zu
welcher Zeit ſie zuerſt vom Tode Vifferts gehört
hatte.
Es war eine Gerichtsſache, und es wurde eine.
„Sagen Sie mir, Skram,“ ſprach der Kreisarzt,
an ſeine Seite tretend, „iſt es ſtrafbar, einem toten
Menſchen den Hals abzuſchneiden?“
„Nach unſerm Geſetz, ja,“ erwiderte Skram, indem
er mit dem Doktor die breite Hauptallee des Gartens
hinabſchritt. „Man nennt das ein putatives Ver⸗
brechen, einen Verſuch mit untauglichen Mitteln. Als
ſtändiges Beiſpiel für dieſes Syſtem gilt, daß ein
Menſch in dem Glauben, man könne an Zucker ſterben,
den Verſuch macht, einen andern durch ein Stück
Zucker zu vergiften. Das wird hierzulande beſtraft,
allerdings mit verhältnismäßig geringerer Strafe. Doch
gibt es Länder, in denen ſolche Handlungen ſtraffrei
ſind, und ich perſönlich bin nicht Anhänger einer ſolchen
Beſtrafung. Man kann keinen toten Menſchen noch
einmal töten. Nichtsdeſtoweniger bleibt die Frage über
putative und imaginäre Verbrechen höchſt intereſſant.
Ein imaginäres Verbrechen würde es ſein, wenn ein
Menſch, obwohl er glaubte, etwas Strafbares zu tun,
eine Leiche verletzte, wohl wiſſend, daß es eine Leiche
— 125 —
iſt. Hier iſt der Irrtum bezüglich der rechtlichen Wir⸗
kungen der Tat das entſcheidende Moment.
Um bei unſerm Fall zu bleiben: wenn der betreffende
gewußt hat, daß Viffert tot war, und ihm aus irgend
einem Grunde den Schnitt in den Hals beigebracht
hat, ſo iſt dieſe Handlung nicht ſtrafbar, weil der Be⸗
treffende vielleicht ſelbſt nicht geglaubt hat, daß er
etwas Strafbares begehe. Iſt er dagegen im Glauben
geweſen, daß Viffert lebe und nur ſchlafe, ſo iſt ſeine
Handlung ſtrafbar, weil ſein Irrtum ſich auf das Tat⸗
ſächliche, nicht auf das Rechtliche bezieht.
Dieſer Fall iſt alſo recht kompliziert, wenn er für
uns auch nicht das Intereſſe hat, das wir von ihm
vermuteten, bevor Sie durch Ihre Unterſuchung feſt⸗
ſtellten, daß ſeine Herzkrankheit den Tod Vifferts verur⸗
ſacht hat. Während ich von dem Standpunkt aus, den
wir heute morgen einnahmen, auf eine Ermittlung der
Täterſchaft unmöglich verzichten konnte, möchte ich mich
jetzt — ehrlich geſagt — am liebſten mit Ihnen darüber
einigen, daß wir als Todesurſache Herzlähmung, die
während eines Selbſtmordverſuches eingetreten iſt, an⸗
geben.“
„Das kann ich nicht,“ ſagte der Doktor, „denn das
glaub' ich nicht — ich meine — —“
„Wohl möglich,“ unterbrach ihn Skram, „aber die
Herren Arzte ſind ihrer Sache immer ſo verteufelt
ſicher, während wir Juriſten uns häufig auf recht
unſicherem Grunde bewegen. Wenn ſich nun einmal
die Gelegenheit bietet, von der Sicherheit ein wenig
abzulaſſen, dann ſollten ſich die Herren nicht ſo ſehr
auf ihre Unfehlbarkeit verſteifen.“
Sie ſtanden nunmehr am Markte, der Wohnung
des Richters gegenüber.
„Ich habe Eile, Herr Doktor,“ ſagte Skram, „aber
ſpäter möchte ich gern mit Ihnen darüber reden; ich
werde Ihnen Beſcheid ſenden.“
f „Wie Sie wollen,“ ſagte der Arzt, und ſo ſchieden
ie. —
— 126 —
Das Bureau war noch offen.
„Etwas Neues?“ fragte Skram.
„Nichts von Bedeutung,“ ſagte der Sekretär. „Nur
Pächter Viffert telephonierte vor kurzem von Wald⸗
hof, daß er heute abend herkommen werde.“
Skram überlegte einen Augenblick lang, dann ſagte
er: „Hören Sie, Holm, erſuchen Sie Jörgen Madſen
und Mamſell Leonie telephoniſch, noch heute abend
herüberzukommen und John mitzubringen. Ich muß
mit ihnen reden. Und Sie, Jenſen, machen Sie ſich
bereit, zum Schloß hinüberzugehen und bei der Gräfin
einen Brief abzugeben, den ich jetzt ſchreiben werde.“
Stkram ſchrieb den Brief, und der Polizeibeamte
ging.
„Was iſt denn bei der Obduktion herausgekommen?“
fragte der Sekretär.
Skram zuckte die Achſeln. „Nichts Neues,“ ſagte
er. „Es liegt gewöhnlicher Selbſtmord vor, den wir
aber diskret behandeln müſſen. Das ſchulden wir
denen dort oben.“
Und damit ging er in ſein eigenes Bureau.
VI.
Sollte ſie doch etwas über den Umſtand mit den
vertauſchten Meſſern erfahren haben?
Alle dieſe Vermutungen, die er aufgeſtellt hatte,
ſo wie ſie in ſeinem Gehirn entſtanden waren, hatten
gewiß ihr Gutes an ſich, und manche von ihnen traf
vielleicht das Richtige — aber ebenſogut konnten ſie
auch alleſamt irrig ſein. Wenn Skram das Ganze
überdachte, ſo geſtalteten ſich die nächtlichen Begeben⸗
heiten zu einem richtigen Romankapitel. Die Szene
bildete der Seitenflügel des Schloſſes, deſſen vier
Etagen bewohnt waren: Im Erdgeſchoß wohnte der
Diener, im erſten Stock die Gräfin, im zweiten der
ermordete Viffert und ganz oben unter dem Dach die
Kammerjungfer Leonie. Die vier Etagen waren durch
— 127 —
eine Wendeltreppe verbunden, die durch den Turm
aufwärts führte. Auf dieſer Wendeltreppe nun hatte
ſich in der Nacht ein Verkehr entwickelt, der an und
für ſich wohl ganz berechtigt ſein mochte, aber doch
recht unwahrſcheinlich erſchien.
Die Gräfin behauptete, daß Viffert auf dieſer
Treppe um halb ein Uhr zu ihr herabgeſtiegen und
nach etwa zehn Minuten wieder hinaufgegangen ſei.
Zu etwa derſelben Zeit mußte er, wenn Leonie die
Wahrheit redete, wieder die Treppe paſſiert haben,
um der Mamſell den Brief und den Scheck zu geben.
Dies war nicht unwahrſcheinlich, da die Mamſell ja
Scheck und Brief gezeigt hatte. Und da man Viffert
in ſeinem Bett im zweiten Stock gefunden hatte, ſo
mußte er die Treppe zu ſeinem Zimmer wieder hinab⸗
geſtiegen ſein. Daß Leonie darauf dieſelbe Treppe
hinabgeſchlichen war, ließ ſich wohl durch Zeugen be⸗
weiſen, ebenſo daß ſie — ſicher erſt gegen ſieben Uhr
— wieder in ihre Kammer zurückgekehrt war. Aber
noch blieb die wichtigſte Benutzung der Treppe zu
erklären übrig. War es die Gräfin geweſen, die ſich
um zwei Uhr in den zweiten Stock begeben hatte,
und war dann wirklich geſchehen, was Skrams Ver⸗
mutungen zu Grund lag?
Skram mußte ſich — mit einem Lächeln — ein⸗
geſtehen, daß auf dieſer Treppe in dieſer Nacht ein
Verkehr ſtattgefunden hatte, wie ihn ein franzöſiſcher
Luſtſpieldichter nur ſchwerlich ſeinem Publikum bieten
dürfte. Als Inhalt eines Theaterſtückes wäre das
Ganze unwahrſcheinlich und unnatürlich erſchienen, als
Glied in einer Kette von Tatſachen aber ſtellte es
Möglichkeiten vor, mit denen man rechnen mußte.
Man hätte einige Glieder ausſchalten und dadurch das
Ganze wahrſcheinlicher geſtalten können, doch dann
war man wieder ohne Erklärung für die Ereigniſſe,
die das zuverläſſige Gepräge des wirklichen Lebens
trugen.
Skram ſaß in ſeinem Bureau und machte auf einem
— 128 —
Foliobogen Notizen. Bis jetzt hatte er ſich noch zu
keinem poſitiven Schritt entſchloſſen. Allerdings hatte
er Leonie verhört und aus dem Geſpräch mit der
Gräfin entnommen, daß Viffert in ihrem Zimmer ge⸗
weſen war und ſelbſt die Meſſer umgetauſcht hatte.
Aber direkt geſagt hatte ſie ihm dieſes letztere nicht; ſie
wußte ja gar nichts von den beiden Etuis, ſondern glaubte
nur, daß Viffert das Meſſer des Grafen, mit dem die
Tat geſchehen war, an ſich genommen habe. Sie
mußte alſo noch ein Geſtändnis ablegen — daß ſie
an dem nächtlichen Verkehr auf der Treppe teil⸗
genommen und Vifferts Zimmer nach ſeinem Tode
betreten hatte.
Und um dieſes Geſtändnis zu erlangen, hatte Skram
ſie gebeten, noch an demſelben Abend zu ihm zu
kommen.
Ob ſie nun kommen würde?
Daß ſie den mißglückten Selbſtmordverſuch noch
einmal wiederholte, war wohl ausgeſchloſſen, denn
Skram hatte ihr ja geſagt, daß er keinen Verdacht
mehr gegen ſie hege, und außerdem in ſeinem Schrei⸗
ben bemerkt, daß er unter gewiſſen Umſtänden Vifferts
Brief vernichten wolle.
Würde ſie nun alles eingeſtehen?
Das zu erreichen, war ſeine Aufgabe. Noch hatte
er ſich nichts vorgenommen. Die verſchiedenſten Ver⸗
mutungen hatten ſein Gehirn durchkreuzt, er hatte ſie
auf ihre Richtigkeit geprüft und war zu einem Re⸗
ſultat gekommen, über das er lächeln mußte, zu einer
Theaterſzene, die einem kritiſchen Publikum ſchwer auf
die Bruſt fallen dürfte! N
Es klopfte, und Mamſell Leonie und Jörgen traten
ein. Skram empfing ſie freundlich und bat ſie, Platz
zu nehmen; dann ſchrieb er, indem er Leonie aus⸗
fragte, dieſelbe Erklärung, die ſie ſchon einmal ab⸗
gegeben hatte, nieder, und Leonie wiederholte ſie ohne
die geringſte Abweichung. Jörgen ſaß während dieſes
Verhörs, das auf franzöſiſch geführt wurde, ſtill⸗
— 122 —
ſchweigend auf ſeinem Stuhl. Nun bat Skram die
Mamſell, das Zimmer zu verlaſſen, und verhörte
darauf Jörgen, der mit knappen Worten, aber in
glaubhafter Weiſe eine Erklärung abgab, die mit der
der Mamſell übereinſtimmte. Schließlich wurde noch
John vernommen, der jo lange im Vorzimmer ge⸗
wartet hatte, und Skram gewann die Überzeugung,
daß alle dieſe Menſchen die Wahrheit redeten. Der
zweite Teil des Verhörs beſtand darin, daß Skram
konſtatierte, die Mamſell habe um halb neun Uhr bei
der Gräfin angeklopft und ihr beim Ankleiden ge⸗
holfen, worauf dieſe ſogleich durch John die Reit⸗
pferde habe beſtellen laſſen. Nachdem dann die
Gräfin gefrühſtückt, war ſie ausgeritten. Sie hatte
vorher noch mit dem Grafen geredet, der ebenſo wie
ſie im Begriff geweſen war auszufahren, doch ſonſt
hatte ſie nur mit Leonie, John und dem Tafeldecker,
der zuſammen mit Jörgen den Frühſtückstiſch beſorgte,
geſprochen. Unterwegs konnte ſie ſicher nichts er⸗
fahren haben, was ſie auf den Gedanken hätte bringen
können, die Erzählung von dem nächtlichen Beſuch
Vifferts zu erfinden. Und was ſie auf Waldhof er⸗
fahren hatte, das mußte Sigismund Viffert bezeugen.
Skram ſtellte ſomit feſt, daß weder Jörgen noch
Leonie verdächtigt werden konnten, ſondern daß die
Gräfin im Zimmer Vifferts geweſen ſein mußte, wenn
ſie ſchon bei ihrem Beſuch auf Waldhof vom Tode
Vifferts gewußt hatte. Skram entließ daher die Diener⸗
ſchaft mit einigen freundlichen Worten und bereitete
ſich vor, den vierten Zeugen, Sigismund Viffert, zu
empfangen.
Der junge Mann kam. Er kam von ſelbſt und
mußte alſo etwas auf dem Herzen haben. Skram
ſagte ſich, daß allein auf dieſem Wege das Geſtändnis
zu erreichen ſei, nach dem er trachtete. Aber während
er vorhin, als das Automobil ihn nach Waldhof führte,
ſie, die einem Menſchen das Leben genommen, fällen
wollte, war ſein Ziel jetzt ein andres. Er wollte ihr
XXVI. 10. 9
— 130 —
die Sache ganz ebnen und zurechtlegen, ſie vielleicht
ſogar ſchonen. Und dennoch — das Geſchehene aus
ihrem Leben tilgen wollte er nicht. Hatte ſie das
Meſſer gegen den ſchlafenden Menſchen erhoben —
war er alſo noch ihr Feind, ſo ſollte ſie ihm auch nicht
an der Seite des jungen Mannes entſchlüpfen, um
ihr Leben zu genießen, als ob nichts geſchehen wäre.
Das war eine Forderung der Gerechtigkeit, und ſie
mußte erfüllt werden — nicht wie gewöhnlich vor der
Schranke des Richters, ſondern zwiſchen Menſch und
Menſch. —
„Herr Viffert,“ ſagte Skram, „darf ich Sie bitten,
Platz zu nehmen und mir zu ſagen, was mir die Ehre
Ihres Beſuchs verſchafft?“
Der junge Mann brachte ſeine Antwort etwas
ſtammelnd hervor. „Ich glaubte, mit Ihnen reden
zu müſſen. Die Sache iſt nämlich die, daß Gräfin
Polly und ich verabredet haben — — ſie hat es ja
ſelbſt geſagt und ſo wiſſen Sie ja, daß wir — daß ſie
und ich ein neues Leben beginnen wollen ...“
Skram nickte. „Ja, das kam mir recht überraſchend.“
„Mir auch!“ bekannte Viffert offen und wurde blut⸗
rot. „Sie iſt ja eine Königin, eine Madonna, ſo rein,
fo ſtolz ...“
„Sie hatten wohl bloß an eine Bewunderung auf
Abſtand gedacht,“ ſagte Skram. „Und heute nun hat
ſie Sie mit einem Male überraſcht! Sind Sie wirk⸗
lich nie auf den Gedanken gekommen, daß fie —“
Skram zögerte, dann fügte er lächelnd hinzu: „Sie
ebenfalls liebe?“
„Nie,“ ſagte Viffert. „Ich wußte freilich, daß ſie
nicht glücklich war, das konnte ich ja ſehen, aber mit
ihr über Liebe reden, wie hätte ich das können? Und
außerdem war ſie ja mit Henrik vermählt.“
„So iſt es alſo erſt heute geſchehen, daß die Gräfin
Ihnen ihre Pläne verriet und Sie vor Glück wie aus
den Wolken fielen?“
„Das tat ich allerdings! Ich traute ja meinen
— 131 —
Ohren kaum. Es überwältigte mich. — — Doch was
ich Ihnen ſagen wollte, iſt etwas ganz andres. Gräſin
Polly will ſich nun alſo von ihrem Manne trennen.
Aber dann muß ich auch das Pachtgut verlaſſen, denn
ich kann doch nicht länger Henriks Pächter ſein. Ich
ſelbſt beſitze rein nichts; im Gegenteil, ich müßte noch
Schulden machen, da ich Beſitz und Inventar nach
Joachimſen, der vor mir den Waldhof hatte, über⸗
nommen habe. Ich hätte gewiß Onkel Helmut be⸗
wegen können, mir zu helfen, denn er war ja ſehr
reich; das glaubte ich wenigſtens, aber nun verſtehe
ich nicht einen Muck von der ganzen Sache.“
„Na,“ verſetzte Skram, „der Zuſammenhang iſt an
ſich nicht ſo ſchwer zu verſtehen. Ihr Onkel hat ge⸗
ahnt, worauf weder Sie noch ſonſt jemand gekommen
iſt. Er war wohl der Freund der Gräfin, aber auch
der des Grafen. Und aus letzterem Umſtand erklärt
ſich ſein Wunſch zu verhindern, daß die Gräfin aus
der Bahn breche. Das kann ihm keiner verdenken.“
„Aber wie iſt es dann möglich, daß Gräfin Polly
mir heute morgen ſagen konnte, ſie ſei reich und un⸗
abhängig; nun ſei endlich die Stunde gekommen, da
ſie dem Drange ihres Herzens folgen könne?“
Skram zuckte die Achſeln, aber er ſpitzte aufmerkſam
die Ohren. „Damit hat ſie wohl gemeint, daß der
Graf ihr eine große Apanage geben werde.“
„Nein,“ ſagte Viffert, „das kann ſie nicht gemeint
haben, denn ſie ſagt ausdrücklich, daß ſie von Henrik
keinen Pfennig nehmen wolle.“
„Dann hat ſie vielleicht ſchon gewußt, daß Ihr
Herr Onkel tot iſt, und es iſt ja möglich, daß er ihr
vorher geſagt hat, daß ſie ſeine Erbin ſei, ohne aber
hinzuzufügen, welch fatale Bedingung er daran knüpfe.“
Skram ſah den jungen Mann ſcharf an.
„Unmöglich,“ ſagte dieſer arglos. „Sie wußte ja
nicht, daß Onkel Helmut geſtorben war.“
„Hm, ich glaube aber doch, daß ſie es wußte,“
unterbrach ihn Skram. „Und wenn Sie recht nach⸗
— 132 —
denken, jo wird Ihnen vielleicht auffallen, daß die
Gräfin bei der Todesnachricht gar keine Überraſchung
zeigte.“
Viffert ſah ihn verdutzt an. „Nein,“ ſtammelte er —
„nein. Sie haben recht — ſie war gar nicht über⸗
raſcht — ſie faßte es ganz ruhig auf. — — Ja, Sie
haben recht! Sie muß es gewußt haben!“
„Sind Sie darin ſicher?“
„Ja, beinahe — oder richtiger, ich bin ganz ſicher
darin. Denn als ich ihr ſagte, ich wolle Onkel Helmut
gleich mitteilen, was wir beide verabredet hätten, da
lächelte ſie ſo ſonderbar. Und als ich ſie fragte, warum
ſie lächle, antwortete ſie bloß: „Denk nicht an Onkel
Helmut. Der ſteht ganz außerhalb der Sache.“ —
Erſt jetzt fällt es mir ein, aber das waren ihre Worte.“
Skram rieb ſich die Hände.
„Alſo hat die Gräfin gewußt, was geſchehen war,“
ſagte er, „und ſich bloß hinſichtlich der Erbſchaft ver⸗
rechnet. Schade, daß Sie keine Frau wie ſie ernähren
können. Sie ſind ſicher zu ſtolz, um vom Grafen Geld
zu nehmen, und ſelbſt haben Sie nur Schulden. Und
ich ſage Ihnen mit Beſtimmtheit — deswegen ſind
Sie wohl auch nur gekommen — weder Sie noch die
Gräfin werden vom Kammerjunker Viffert einen
Pfennig erben.“
Der junge Mann wurde rot vor Arger.
„Herr Amtsrichter,“ ſagte er. „Sie haben kein
Recht, mich zu beleidigen. Für mich handelt es ſich
hier nicht um Geld — ich bin gewohnt zu arbeiten.
Ich bin wohl arm — in Armut geboren, aber ich
habe gelernt, meine Hände zu gebrauchen, und bin
ſogar bereit, wieder als Verwalter zu gehen.“
„Ein gutes Wort!“ ſagte Skram freundlich. „Sie
werden ſchon mit dem Leben fertig werden — wie
aber ſi e? Können Sie es verantworten, fie aus all
dem, was ſie jetzt beſitzt, herauszureißen — aus der
Gräfin Eiſenbart eine Verwaltersfrau zu machen?
Sie ſind doch ein nüchterner und ruhiger Mann, Vif⸗
— 133 —
fert. Denken Sie doch ein bißchen nach. Das iſt ja
nichts als eine Grille von ihr! Sie iſt ſechs Jahre
älter als Sie. Sie beten ſie mehr an, als daß Sie
ſie lieben. Wie, wenn es ſich herausſtellen ſollte, daß
ſie ſich an ſich ſelbſt geirrt hat, daß alles nur eine
Laune von ihr iſt, eine Grille, die Langweile und
Überdruß ihr eingegeben haben? Wenn es ſich zeigen
ſollte, daß ſie eine ganz andre iſt, als Sie jetzt glauben?
Wie wollen Sie dann dem Unglück begegnen, das Sie
durch Ihre Unbeſonnenheit angerichtet haben?“
In Viffert gärte es.
„Sie reden von Irren? An ihr kann ſich niemand
irren. Sie vermag nicht zu lügen. Sie hat wie ein
unerfahrenes Kind Graf Henrik geheiratet, ſie tat es
nur um ihrer Mutter willen, damit dieſe im Alter
keine Not leide. Sie hat nie eine niedrige Handlung
begangen, nie jemand belogen oder betrogen. Und
das wagen Sie auch nicht zu behaupten!“
„Herr Viffert,“ ſagte Skram, „Sie ereifern ſich!
Ohne Grund. Ich behaupte gar nichts. Es iſt durch⸗
aus nicht meine Gewohnheit, Menſchen zu verleumden,
die mir Freundſchaft erwieſen haben. Aber wenn Sie
ſich nun irrten, wenn die Gräfin doch eine ganz andre
wäre, als Sie glauben? Wenn Sie nicht der erſte
Mann wären, den ſie liebt? Verſtehen Sie mich wohl,
das iſt bloß ein Gedankenexperiment von mir. Aber
würden Sie es dann — trotz alledem — verantworten
können, ſie aus der Herrlichkeit, in der ſie lebt, heraus⸗
zuführen und ihr dafür zu bieten, was ein armer Land⸗
mann zu bieten vermag?“
„Ich verſtehe mich nicht auf ſolche Dinge,“ ſagte
Viffert kurz. „Ich ſelbſt bin ein ehrlicher Mann, und
Ihre Gedankenexperimente gehen mich nichts an. Ich
habe tief in ihre Augen geſehen, und die lügen nicht.
Das Weib, das ich mein nennen ſoll, muß ohne Flecken
und Makel ſein, ſo wie ſie es iſt. Und wenn ihre Ehe
mit Graf Henrik erſt gelöſt iſt, wird das Einzige, was
mich jetzt noch von ihr trennt, ganz aus ihrem Leben
— 134 —
getilgt ſein. Ich nehme nicht die Frau eines andern
Mannes, aber wenn ſie freiwillig zu mir kommt —
mit ihrer Liebe — —“ Viffert ſchwieg.
„Und wenn ſie Ihnen nun doch nicht die Wahrheit
geſagt hätte?“ fragte Skram ruhig.
Viffert erhob ſich haſtig, um zu gehen.
Doch Skram hielt ihn auf und ſagte beſtimmt: „Herr
Viffert, jetzt iſt es acht Uhr. Um zehn Uhr werde ich
hier anläßlich des Todes Ihres Onkels Verhör ab⸗
halten. Wollen Sie ſo freundlich ſein und ſich dann
hier in meinem Bureau einfinden. Es liegt eine Sache
von großer Wichtigkeit vor.“
Viffert blickte ihn verſtändnislos an, dann neigte
er als Antwort den Kopf und ging.
Skram folgte ihm bis zur Tür und — in ſein Zim⸗
mer zurückgekehrt — flüſterte er vor ſich hin: „Sie
hat gewußt, daß er tot war.“
Hatte ſie alſo die Unwahrheit geredet, als ſie er⸗
zählte, daß Viffert ſich das Meſſer ſelbſt aus dem
Ankleidezimmer des Grafen geholt habe? Es konnte
immerhin wahr ſein, denn die Vermutung, es liege
Mord vor — auf die Skram ja nur dadurch gekommen
war, daß er das Meſſer des Grafen in der Hand des
Toten gefunden hatte — konnte von Liffert ſelbſt
beabſichtigt worden ſein, und allein zu dieſem Zweck
konnte er ſich das Meſſer geholt haben.
Doch wie war es nun mit der Todesurſache be⸗
ſtellt? War es Mord, Selbſtmord oder nur Herz-
lähmung?
VII.
Für Skram bedeutete Muſik Ruhe. Wenn er am
Tage ſchwer gearbeitet hatte und das Durcheinander
der Gedanken ihm einen leichten Druck im Hinterhaupt
verurſachte, konnte er plötzlich aufſpringen, die Arbeit
zur Seite ſchieben und nach ſeinem Cello greifen.
Stundenlang pflegte er dann, den Rücken den Fenſtern
zugekehrt, über ſein Inſtrument gebeugt dazuſitzen —
— 135 —
es abzuſetzen, um zu ruhen, ohne zu denken — und
es wieder an ſich zu ziehen, um ſich in das große Nichts
hinauszuſpielen. Beethovens Celloſonaten ſpielte er
am liebſten, allein er ſpielte ſie nicht nur, ſondern er
durchlebte die Gedanken des Meiſters — ohne mit dem
Gehirn zu arbeiten, nur den Tönen folgend — ihnen
nachblickend, wie ſie auftauchten und wieder ver⸗
ſchwanden.
Und an dieſem Abend war Skram müde, er wollte
alles zuſammen durch ſein Spiel verſcheuchen, alle
dieſe ſich kreuzenden Gedanken und Kombinationen auf⸗
heben, um nur den einen Gedanken, der wirklich Wert
hatte, zurückzubehalten. Er wollte ihn von allen Fehl⸗
ſchlüſſen iſolieren, um ihn ein Gewebe aus Beethovens
Sonaten legen, das jede Beeinfluſſung durch andre
Vorſtellungen verhindern müßte.
Er merkte nicht, daß die Gartentür aufging, er
ſpielte in den Tönen verſunken, ohne zu ahnen, daß
ſie hinter ihm ſtand, leiſe und lauſchend und ängſtlich
jede Bewegung vermeidend, um den Zauber der Töne
nicht zu brechen.
Als er ſich erhob, wurde er ihrer gewahr. Er neigte
den Kopf, wie man einen Freund begrüßt, und ſetzte
das Cello in eine Ecke. Dann trat er zu ihr hin und
ergriff ihre Hand.
„Dank, daß Sie gekommen ſind,“ ſagte er.
„Und Dank, daß Sie geſpielt haben,“ erwiderte ſie,
ihm gerade in die Augen ſchauend. Ihr Blick war
feucht wie von Tränen verſchleiert, dabei ſah ſie blaß
und abgeſpannt aus.
Sie nahm auf einem Lehnſtuhl neben der Tür
Platz und er ſtellte ſich ihr gegenüber an den Tür⸗
pfoſten. Es war gegen Sonnenuntergang, und die
Glockenſchläge von der Kirche drangen über den Schloß-
ſee und durch den Park.
„Kommen Sie, um zu reden, oder um zu ſchwei⸗
gen?“ fragte Skram.
Sie lächelte. „Ich muß wohl reden, nun nachdem
186 —
Sie in der Sprache zu mir geredet haben, die ich
höher ſchätze als jede andre. Ich nehme meine leicht⸗
ſinnigen Worte zurück, Skram. Sie ſollen kein andres
Inſtrument als das Cello ſpielen. Das Cello iſt das
Inſtrument des Mannes, und Sie, Skram, ſind ein
Mann.“
„Da denken Sie wohl an das kleine Intermezzo
vor dem Zuge?“ fragte er. „Nun, das machte bloß
der Selbſterhaltungstrieb, ſonſt nichts. Ich habe noch
einige Dinge in dieſer Welt auszurichten! Nachher
mögen wir meinetwegen dorthin abreiſen, von wo
man niemals wiederkehrt. Aber nicht früher. — Sie
ſind alſo gekommen, um zu reden. Gut, ſo will ich
ſchweigen.“
„Ich ſchulde Ihnen eine Erklärung für dieſen Ein⸗
fall von mir,“ ſagte ſie. „In jenem Augenblick war
ich nicht Herr über mich. Wenn das Entſetzen mich
packt, bin ich imſtande, inſtinktmäßig, ohne widerſtehen
zu können, Taten zu verüben, die mir in ruhigen
Augenblicken nie in den Sinn kommen würden, und
als ich den Wagen dem heranbrauſenden Zug ent⸗
gegenſteuerte, da war nicht ich es, die das wollte,
ſondern ſtärkere Mächte in mir, denen ich gehorchen
mußte. Na, es wurde ja nichts daraus, und nicht wahr,
hier in der Welt, wo ſo vieles zum Ziele führt, iſt es
recht zwecklos, bei Dingen, aus denen nichts wurde,
zu verweilen!“
„Ganz gewiß,“ ſagte Skram. „— und darum
wollen wir auch nicht weiter davon reden.“
Sie fuhr fort, indem ſie mit ihrem gewöhnlichen
feſten Blick zu ihm aufſchaute. „Als Sie mir ſagten,
Sie ſeien überzeugt, ich hätte Viffert ermordet, war es
mir, als ſchlügen Sie mir mit einer Peitſche ins Geſicht.
Es biß und brannte, wie Hohn nur brennen und beißen
kann. Ich kenne Sie ja nur als den ſtillen, etwas
wehmütigen, ſchweigſamen Mann, der an langen
Winterabenden bei mir ſaß, wenig redete und viel
lauſchte, wenn wir nicht die Töne reden ließen und
— 137 —
beide ſchwiegen. Ich konnte nicht faſſen, daß Sie jo
roh ſein konnten. Männer können wohl alle roh ſein,
aber die beſten doch nur gegen die Frauen, die ſie lieben,
und Sie, Skram, haben ja immer nur in der kühlen
Entfernung der Freundſchaft zu mir geſtanden. Ich
glaubte einen Augenblick lang, es ſei der Richter,
der aus Ihnen redete, der rückſichtsloſe Richter, den
ich nicht kannte, von dem ich nur früher gehört hatte.
Aber es war nicht der Richter, es war der Mann,
der aus Ihnen redete. Und darum verſtand ich Sie
nicht. Heute abend habe ich darüber nachgedacht —
und nun verſteh' ich es beſſer. Helmut Viffert hat
mit Ihnen geredet, er hat meinen Namen genannt
und vielleicht davon geſprochen, was ihn und mich
zuſammenknüpfte — von den Leiden vieler Jahre für
die Schwäche eines Abends. Und das Bild, das Sie
ſich von mir geſchaffen hatten, wurde verwiſcht und
durch ein ganz andres erſetzt — nicht wahr?“
Skram ſchwieg.
„Ich verſtehe Sie, Skram,“ ſagte ſie, „und ich
zürne Ihnen nicht mehr. Wir reden miteinander
wie zwei Menſchen, die ein Geheimnis zuſammen
haben. Ich bin in Not, in bitterer Not. Heute morgen
glaubte ich, die Sonne gehe für mich auf, um
meinen ganzen Lebenstag zu beſcheinen, und jetzt des
Abends, Skram, des Abends geht ſie unter für immer,
wenn Sie ihr nicht gebieten, aufs neue für mich auf⸗
zugehen. Ich will — ich kann mir das Glück nicht
entreißen laſſen.“
Skram lächelte. „Das Glück! Wer würde glauben,
daß Sie, ſo ruhig wie Sie ſind — und bei dem Vielen,
das Sie geſehen und erlebt haben — das Glück im
Ungewiſſen ſuchen wollten. Ich verſtehe ſehr wohl:
Sie wollen nicht haben, daß der junge Mann, in deſſen
Perſon Sie zu finden glauben, was Sie das Leben
nennen, etwas zu wiſſen bekommt. Sie haben früher
verſucht, ehrlich zu ſein, aber Sie glauben jetzt, daß
dieſe Ihre Ehrlichkeit Ihnen das Glück verſchleiert habe.
— 18 —
Jetzt wollen Sie aufs neue geboren werden mit dem
Nichts der Geburt hinter ſich, und ſo, glauben Sie,
können Sie das Glück umfaſſen.“
Sie bog den Kopf vor, um zu antworten.
„Aber Sie gehen fehl, Gräfin Polly — es gibt
wohl Menſchen, für die das Glück aus ſeinem Garten,
deſſen Tiefen niemand kennt und erforſchen kann,
emporſteigt. Für die allermeiſten von uns jedoch,
und dann auch nur für die Sehenden, iſt das Glück
nichts als die Harmonie des Augenblicks, ein Drei⸗
klang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Wir ſind gezwungen, die Vergangenheit in die Gegen⸗
wart hineinzuziehen, und aus dem Zuſammenſpiel
beider ſchaffen wir die Zukunft. Das iſt der Drei⸗
klang des Glücks. Den Grundton darin erſticken können
Sie nicht; der klingt durch das Glück des ganzen Lebens
hindurch. Und Sie mögen wiſſen, daß es zu den
Geheimniſſen des Lebens gehört, daß Kummer und
Schmerz der Grundton eines tiefen, wahren Glücks
zu werden vermögen. Wir Menſchen, die ins Leben
geſchaut haben, können nicht der Vergangenheit be⸗
raubt werden, ſie ſei ſo bitter und dunkel, als ſie will.“
„Es handelt ſich hier nicht um mich,“ ſagte ſie,
ſondern um ihn. Ich will, daß er mich als die zu
ſich nimmt, die ich bin — ohne zu wiſſen, was ich
war!“
Skram zuckte die Achſeln. „Es fällt mir ſchwer,
an ihn zu denken. Aber gut, ich will ihn einmal wirk⸗
lich ſo ſehen, wie Sie ihn ſehen, nicht anders. Doch
nun muß ich Ihnen gleich ſagen: Sie ſehen ihn falſch,
Sie kennen ihn nicht, Sie kennen ihn nicht, wie Sie
auch nicht wollen, daß er Sie kenne. Glauben Sie,
daß das der Weg iſt, der dem Tag entgegenführt, nach
dem es Sie verlangt? Nein, das iſt ein Weg, der in
die Nacht hinausführt — in eine Nacht, die nicht wie
die hellen Sommernächte voller Wohlgefühl und Wohl-
klang, ſondern eine graue, ſchwere Winternacht iſt,
in der das Gemüt erdrückt wird und die Jugend dahin⸗
— 139 —
ſiecht. Sie leben Ihr Leben nicht in dem, was außer
Ihnen liegt, ſo wie wir es tun, die des Tages Arbeit
zu leiſten haben — Sie leben Ihr Leben, wie es
ſich in Ihren eigenen Gedanken widerſpiegelt. Es gibt
wohl Frauen, die ſtark und tief für einen Mann emp⸗
finden, die ihr Leben in dem täglichen Schaffen für
Haus und Kind erblicken — die Betten machen und die
Diele fegen, das Haus beſtellen und das Leinenzeug
flicken — die nur in ihrer einfachen tiefen Liebe zu
Mann und Kindern groß ſind, ſelbſt wenn ſie klein
erſcheinen. Und ſolche Frauen können wohl einen
Mann ganz gewinnen, ſo daß er nach nichts anderm
fragt als dem Glimmen ihrer tiefen Liebe, das er
täglich ſieht — ihrer Liebe, die der einzige und ganze
Inhalt ihres Geiſteslebens iſt. Wären Sie derart, ſo
könnten Sie verſuchen, in Zukunft allein zu leben.
Doch ſo ſind Sie nicht! Sie ſind kein Gretchen mit
blonden Flechten und einem gebenden Herzen. Sie
ſind nicht imſtande, das Vergangene zu vergeſſen,
und können auch nicht allein für ſich in der Gegen⸗
wart leben. Denn könnten Sie das, dann hätten Sie
ſchon längſt mit Helmut Viffert gebrochen, Sie hätten
ihn aus dem Leben geſchafft, um allein zu bleiben!“
Sie ſah auf.
„Aus dem Leben geſchafft!“ wiederholte Skram feſt.
Sie ſah ſtarr vor ſich hin, während Skram redete.
Er wandte ſich um und ging ſchweigend auf und ab,
als warte er auf eine Antwort von ihr — jedoch ſie
ſchwieg.
„Sie müſſen nicht denken, Gräfin Polly, dies ſei
ein Verhör; nein, es iſt kein Verhör, ich bin nicht
Ihr Richter, ich wünſche nicht zu wiſſen, was oben
in der Nacht geſchehen iſt — und Viffert iſt nun ein⸗
mal tot. Aber ich bitte Sie, mir, der ich Ihr Freund
bin, zu ſagen, warum Sie ſich an einen Mann fort⸗
ſchenken wollen, der Ihrer nicht wert iſt — warum
Sie handeln wollen wie jener Geiſtesheld, der ein
Bauernmädchen zu ſeiner Gattin erhob, bloß weil ſie
— 140 —
jung, friſch und hübſch war, der auf dieſe Weiſe ſein
Leben verſpielte und ſchließlich ſeine Torheit beweinte,
was ihm auch keinen Nutzen brachte? Das möchte ich
wiſſen.“
Jetzt ſtand er wieder vor ihr, an den Türpfoſten
gelehnt, und ſah auf ſie herab.
Sie redete langſam, bei jedem Wort verweilend:
„Ich habe einmal irgendwo geleſen, daß die Natur
uns rufen kann; es kommt die Stunde, da der
Menſch ſich danach ſehnt, zur Natur zurückzukehren,
aus der er hervorgegangen iſt. Dieſe Stunde iſt zu
unſrer Zeit ſchon für manchen gekommen — für mich
iſt ſie jetzt gekommen. Das Einfache — das Unzu⸗
ſammengeſetzte — das Wahre — das nur will, was
der Menſch durch eigene Kraft erreichen kann, und es
ſo will, daß es im Einklang mit der Natur ſteht —
das zieht mich zu ſich hin, mich, die ihr Leben bisher
nur in künſtlichem Lichte zugebracht hat — in einer
prächtigen Halle, aus der die Sonne verbannt war
und in der an ihrer Stelle vom Morgen bis zum Abend
Kronleuchter brannten. Ich habe ſo vieles gehört —
nun ſehne ich mich nach Schweigen. Ich habe ſo
viele Farben in ihrem Zuſammenſpiel geſehen — nun
ſehne ich mich nach wenigen, die aber rein und ſtreng
voneinander gehalten ſind. Ich habe immer jenſeits
von Gut und Böſe geſtanden — nun ſehne ich mich
nach einigen wenigen, feſten Anforderungen; aus den
vielen wechſelnden Neuheiten, die mich bisher um⸗
gaben, ſehne ich mich nach wenigen, einfachen Freu⸗
den, nach einem einzigen tiefen Gefühl — dem
Gefühl Gretchens, wenn Sie ſo wollen. Ich habe
geherrſcht — nun will ich gehorchen; alle haben meine
Wünſche zu erraten geſucht, haben nach meinem Wink
geſpäht — nun will ich ſelbſt danach ſpähen und ſuchen,
mich einem harten Willen unterzubeugen. Und alles,
was ich ſuche, kann er mir geben. Ich bin müde,
doch ich gehe nicht in ein Kloſter, wie es andre täten,
denn dort würde ich allein mit meinen Gedanken bleiben
— 141 —
und daher auch keine Ruhe finden. Ich wähle mir einen
Gefolgsmann, der alles will, wonach ich mich ſehne.“
„Das heißt alſo, Sie gehen doch in ein Kloſter,
allerdings nicht allein, ſondern mit ihm ins Kloſter.
Sie redeten alſo nicht die Wahrheit, als Sie mir geſtern
ſagten, Sie wollten ihr Leben genießen, ſolange Sie
noch jung ſeien. Das wollen Sie ja gar nicht! —
Nun, ich werde Sie nicht zurückhalten von dieſer neuen
Form von Entſagung, aber eins verlange ich von
Ihnen — nicht um meinet⸗, ſondern um Ihretwillen:
Mit geſchloſſenen Augen dürfen Sie nicht hinein⸗
gehen in dieſes neue Stadium. Sie müſſen ihn kennen,
denn jetzt kennen Sie ihn noch nicht. Ich verlange
nicht, daß Sie ihm demütig beichten und ihn bitten,
Sie in Gnaden aufzunehmen, aber ich verlange, daß
Sie ihm alles ſagen, was in der Nacht geſchehen iſt.
Sagen Sie ihm alles — alles, dann werden Sie ihn
kennen lernen.“
Sie blickte ſpähend auf.
Er fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Ich bin
durchaus kein Pedant; ich könnte mir die Welt ganz wohl
ohne Wiedervergeltung denken, und ich fühle mich nicht
berufen, aus eigener Macht zu richten. Ich richte nur,
wo mein Beruf mich dazu zwingt. Aber ich glaube,
daß Sie heute nacht von Angeſicht zu Angeſicht Ihrem
toten Feinde gegenübergeſtanden haben — in ſtarrem
Entſetzen. Und was da geſchehen iſt, ſoll er erfahren.
Verſteht er es nicht, ſo iſt er auch Ihrer nicht wert.
Er ſoll es nicht etwa mit ſeinem Verſtande verſtehen,
nein — das Unzuſammengeſetzte ſoll er begreifen, ſo
wie jede menſchliche Handlung auf alle Menſchen wirkt.
Wir faſſen alles nur mit den Mitteln auf, über die
wir verfügen. Verſteht er es — gut, dann dürfen
Sie ihm folgen. Aber ich ſage Ihnen, er wird es
nicht verſtehen und von Ihnen ablaſſen. Und dann
ſollen Sie ihn gehen laſſen, wohin er will. Es iſt
beſſer, man iſt allein einſam, als mit einem andern
einſam.“ —
— 142 —
Sie antwortete nicht, ſondern ſtarrte vor ſich hin.
„Er iſt jetzt hier,“ ſagte Skram, „er wartet draußen;
ich hörte ihn vorhin kommen. Reden Sie nun mit
ihm. Ich ſagte Ihnen ſchon: ich bin nicht Ihr Rich⸗
ter — ſondern Ihr Freund. Sagen Sie ihm, was
Sie wollen und wie Sie es wollen, aber Sie mögen
wiſſen, daß Sie, wenn Sie nicht jetzt reden, ſicher noch
ſpäter einmal reden werden — und dann wird es zu
ſpät ſein. Oder aber Sie werden zu allen Zeiten
ſchweigen und dann in derſelben Halle ſitzen, in der
Sie, wie Sie ſagen, bisher geſeſſen haben, und das
Licht der Sonne wird daraus verbannt ſein wie bisher.“
Sie antwortete nicht, und Skram ſchritt eilig zur
Tür.
Auch ſie erhob ſich wie um zu gehen, doch an der
Tür hemmte ſie den Schritt und ſtarrte über das grün⸗
gelbe Waſſer zur Edelsburg hinüber.
So ſtand ſie noch ſchweigend an den Türpfoſten
gelehnt, als Sigismund Viffert eintrat.
Er war allein. —
VIII.
Skram ließ ſich reichlich Zeit. Er ſetzte ſich an ein
im Vorzimmer ſtehendes Pult und ſchrieb gemächlich
einige Briefe; dann nahm er ſeinen Hut und ging aus.
Er ſchritt auf gut Glück zum Fjord hinüber, der im
Abendſcheine glänzend dalag — verfolgte den Weg,
bis er die Spitze erreicht hatte, an der der Fjord ins
Meer übergeht. Er dachte an nichts, ſondern ſchritt nur
vorwärts und ſaugte die friſche Abendbriſe in vollen
Zügen ein.
Es war eine Viertelſtunde Wegs bis zur Spitze
und eine Viertelſtunde zurück. Es verging im ganzen
alſo eine halbe Stunde, und Skram wollte den beiden
eine ganze Stunde laſſen. Er wußte gut, wie leicht
und häufig menſchliche Macht verſagt. Er hatte als
Richter oft jener hartnäckigen Schweigſamkeit gegen⸗
übergeſtanden, die in entſchwundenen Zeiten die Rich⸗
— 143 —
ter zur Anwendung der Folterinſtrumente gezwungen
hat. Er wußte, wie hilflos man einem, der nicht reden
will, gegenüberſtehen kann. Aber Skram war auch
geduldig, und ſeine Stärke beſtand darin, daß er immer
reichlich Zeit ließ. Wer mit der Zeit rechnet, als ob
alle Zeit ihm gehörte, der iſt Herr über die Ewigkeit,
und nur aus Schwachheit glauben die Menſchen, daß
die Zeit ihnen davonlaufe. So ſagt der Herzog von
Wien in ſeinem „Measure for Measure“ zu dem ge⸗
fangenen Claudius: „Du eilſt dem Tod entgegen, wenn
du glaubſt, ihn zu fliehen. Alle Haſt führt zum Tode.
Das Leben kommt nur dem Wartenden.“ —
Skram lenkte feine Schritte dem Haufe des Kreis-
arztes zu. Der Doktor, der ihn bereits erwartete, führte
ihn in ſein Studierzimmer und bat ihn, Platz zu nehmen.
„Doktor,“ ſagte Skram, „ich will Ihnen geſtehen,
daß ich jetzt in einer ernſten Klemme ſitze. Ich habe
mir nach und nach eine Theorie über die Ermittlung
und Konſtatierung von Miſſetaten gebildet, die von
der gewöhnlichen entſchieden abweicht. An Indizien
als Richtſchnur für das Urteil glaube ich nicht; ſie
ſtellen den menſchlichen Wiſſensdrang durchaus nicht
zufrieden, ſondern laſſen eine niederträchtige Ungewiß⸗
heit zurück, die draußen im Volke böſes Blut macht.
Der Zeugenbeweis iſt der ſchlechteſte von allen Be⸗
weiſen; er tritt mit einer vom Geſetz beſtärkten, alt⸗
hergebrachten Autorität auf, die ihm im voraus ein
gewaltiges Übergewicht verleiht. Aber zu unſrer Zeit
mit ihren tauſendfachen Eindrücken, mit ihrem ganzen
zuſammengeſetzten Geſellſchafts⸗ und Gefühlsleben hat
es ſich erwieſen, daß die Menſchen — buchſtäblich ge⸗
nommen — überhaupt nicht imſtande ſind, zu zeugen.
Die Zeugenausſagen ſind gar nicht mehr Berichte aus
erſter Hand über Geſehenes und Gehörtes, ſondern ſie
ſind gefällte Urteile nicht kompetenter Richter. Das
einzige Beweismittel, dem ich mich beuge, iſt das
eigene Geſtändnis. Wenn ein Mann ſagt, daß er ein
Verbrechen begangen habe, ſo bin ich unter gewöhn⸗
— 14 —
lichen Umſtänden geneigt, ihm Glauben zu ſchenken.
Und ich glaube nicht, daß ich je, ohne ein Geſtändnis
erlangt zu haben, eine Verurteilung ausſprechen könnte.
Es kommt bloß darauf an, auf welche Weiſe man ein
Geſtändnis erzwingt. Es iſt lange Zeit hindurch ge⸗
bräuchlich geweſen, von den Bezichtigten ein Geſtändnis
zu erpreſſen; das iſt allerdings ausführbar, aber es
können dabei Mißbräuche vorkommen, die die Sicher⸗
heit des Reſultats erſchüttern. Meine Methode da⸗
gegen iſt die, mit Vermutungen zu arbeiten, mir eine
Anſicht über das Geſchehene zu ſchaffen und meine
Vermutungen nach Möglichkeit zu bekräftigen. Das iſt
allerdings ſchon die gebräuchliche Methode, doch wird
hierbei die Gefahr außer acht gelaſſen, von vornherein
Partei zu ergreifen. Im allgemeinen wird es für
ſchwächlich gehalten, hinterher ſeine Anſicht zu ändern,
bei meiner Methode dagegen iſt dieſes notwendig. Ich
laſſe die Vermutungen aus den Tatſachen, die ich in
Betracht ziehe, entſtehen, laſſe ſie verſchwinden und
ſich gegenſeitig bekämpfen. Mein Ziel iſt, ſchließlich
zu einer Anſicht zu gelangen, die allein richtig erſcheint,
und ſie dem Betreffenden, den ich für ſchuldig halte,
vorzulegen und auseinanderzuſetzen. Wenn meine
Vermutung richtig iſt, wenn ich alle Wege, auf denen
ich zu ihr gelangt bin, nachweiſen kann, ſo iſt es wahr⸗
ſcheinlich, daß ich das Geſtändnis erlange; das will
ſagen: ich ſiege im logiſchen Zweikampf.“
Der Doktor nickte. „Das ſind allgemein gültige
Bemerkungen, Skram — ich bin nun unbändig neu⸗
gierig, die ſpeziellen zu hören. Wen haben Sie in
Verdacht?“
„Die Gräfin,“ ſagte Skram kurz.
„Die Gräfin?“ wiederholte der Doktor und öffnete
den Mund vor Erſtaunen, „das iſt ja ganz was Neues!“
„Für Sie — nicht für mich. Nun, da es ſich nicht
um Mord handelt, ſondern um einen leichteren Fall,
trage ich kein Bedenken mehr, Sie an meinem Ge⸗
heimnis teilnehmen zu laſſen. Einen Augenblick lang
— 145 —
bin ich im Zweifel geweſen, denn ſie erzählte mir mit
klaren Worten, daß Viffert ſelbſt im Ankleidezimmer
des Grafen geweſen ſei, nachdem er ihr Schlafzimmer
paſſiert habe, und daß er ſelbſt das Meſſer, auf dem
ſich unſre Theorie aufbaut, an ſich genommen habe.
Da ſie unmöglich gewußt haben kann, daß mit den
Meſſern etwas vorlag, ſo wäre das Ganze durch
Vifferts Niedertracht, die mich keineswegs in Er⸗
ſtaunen ſetzt, erklärt. Nun dagegen ſtellt ſich die Sache
wieder anders. Viffert hat nicht Selbſtmord begangen,
ſchon aus dem Grunde, weil er bereits tot war, ehe
ihm der Schnitt zugefügt wurde. Nicht wahr?“
„Die Wunde iſt entſchieden poſtmortal.“
„Gut, wir ſtehen alſo einem neuen Rätſel gegen⸗
über, das ſich indeſſen löſen läßt. Viffert hat das
Meſſer tatſächlich in der Abſicht geholt, es zu benutzen;
er wollte ſich den Hals abſchneiden, und nur fein
plötzlicher Tod hat ihn daran gehindert. Nun bieten
ſich zwei Möglichkeiten. Die erſte iſt folgende: er hat
tot im Bett gelegen, ohne das Barbiermeſſer in der
Hand zu halten — ſei es, daß er ſeinen Selbſtmords⸗
plan hat fallen laſſen, ſei es, daß er zu den Vorberei⸗
tungen noch nicht geſchritten war. Das Meſſer hat
jedenfalls auf dem Tiſch am Bett oder vielleicht auch
auf dem Bett ſelbſt gelegen. — Dann kam ſie herein —
nicht um ihn zu ermorden, ſondern aus andern Grün⸗
den, um mit ihm zu reden. Sie hat ihn liegen ſehen
und geglaubt, er ſchlafe. Ein plötzlicher Einfall,
das Blitzen des Meſſers oder, was weiß ich, hat ſie
mit ſich fortgeriſſen. Sie hat das Meſſer ergriffen und
zugeſchnitten, um dann, wie Sie es für wahrſcheinlich
halten, zu entdecken, daß ſie in eine Leiche ſchnitt.
Wenn dies richtig iſt, ſo liegt ein Mordverſuch vor,
der in Anbetracht der obwaltenden Umſtände mit ein
paar Jahren Zuchthaus beſtraft werden würde. Es
würde hart für mich ſein, hier einzuſchreiten, denn
teils bin ich prinzipmäßig Widerſacher der Beſtrafung
putativer Verbrechen, die in großen eee
XXVI. 19.
— 146 —
ſtraffrei find und es auch fein müſſen, teils bin ich ſehr
dafür, über dieſe Handlung, die doch kaum mit voller
Zurechnungsfähigkeit ausgeführt ſein kann, den Schleier
fallen zu laſſen. Doch ein Konflikt liegt hier immer⸗
hin vor, und es iſt von Amtswegen meine Pflicht, hier
einzuſchreiten.“
„Das wäre alſo die erſte Möglichkeit,“ ſagte der
Doktor, „und nun die zweite?“
„Die zweite,“ verſetzte Skram, „iſt noch ſonder⸗
barer als die erſte, aber dennoch neige ich zu ihrer
Annahme am meiſten. Viffert hatte beſchloſſen, ſich
unter ſolchen Umſtänden zu entleiben, daß ein Mord⸗
verdacht auf andre fallen mußte. Die verſchiedenen
Andeutungen, die er mir gegenüber geſtern abend
machte, beſtärken mich in dieſem Glauben. Die Gräfin
hat ſicher die Wahrheit geſprochen, als ſie von ſeinem
nächtlichen Beſuche erzählte. Doch Viffert hat mehr
getan; er hat ſich mit dem Meſſer bewaffnet, ſich im
Bett zurecht gelegt und iſt dann, ganz unerwartet, ge⸗
ſtorben. Dann iſt ſie hinzugekommen, an ſein Bett
getreten und hat geſehen, daß er bereits tot war.
Beachten Sie wohl, das iſt durchaus nicht undenkbar,
denn es muß gegen zwei Uhr geweſen ſein, und es war
ſomit ſchon hell. — Doch das Unheimliche der ganzen Si⸗
tuation, ſein Geſichtsausdruck, der feſtgeſchloſſene Mund,
die Leichenſtarre und das Meſſer haben ihren Schritt
gehemmt und ſie mit Entſetzen erfüllt. Und unter
dem Einfluß dieſes Entſetzens hat ſie wie ein Schlaf⸗
wandler gehandelt, faſt mechaniſch das Meſſer ergriffen
und zugeſchnitten, in den Kadaver hinein, der vor ihr
lag. Es klingt recht wunderlich, aber es kann doch
ſo geweſen ſein, und ich bin zu dem Glauben geneigt,
daß es wirklich ſo gegangen iſt. Dieſe ihre Handlung
würde abſolut ſtraffrei ſein, und auf dieſer Grundlage
kann ihr kein Prozeß gemacht werden.“
Der Doktor ſchüttelte den Kopf. „Es klingt ſehr
wunderlich — aber möglich iſt es ja.“
„Jawohl,“ ſagte Skram, „es erſcheint mir weit ver⸗
— 147 —
ſtändlicher, daß eine Frau wie ſie einem nervöſen,
krankhaften Zwange nachgegeben hätte, als daß ſie einen
Mord oder einen Verſuch dazu hätte vollbringen können.
Eine Frau mit ihrem Naturell muß zu einer ſolchen
Handlung angereizt werden; der paſſive Schlaf reicht
nicht hin, aber der Tod ſelbſt, der Tod iſt ihr ent⸗
gegengetreten und hat ihren Handlungsdrang in dieſer
wahnwitzigen Tat ausgelöſt.“
„Das iſt gar nicht ſo undenkbar,“ ſagte der Doktor,
„— pſychologiſch erklärlich iſt es jedenfalls. Aber was
wollen Sie nun machen?“
„Das will ich Ihnen ſagen,“ lautete die Antwort.
„Ich benutze dieſe beiden — wollen ſagen — Richter⸗
vermutungen derart gegen ſie, daß ſie mir ſagen muß,
welches die richtige iſt.“
„Und dann?“
„Einſtweilen will ich mir meine Stellungnahme
noch vorbehalten, wenn ich auf Sie rechnen kann.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte der Doktor.
„Ich möchte Sie fragen, Doktor, ob Sie, wenn ich
es mit meiner Amtsverantwortung in Einklang bringen
kann, die Sache ad acta zu legen, es als möglich dahin⸗
geſtellt ſein laſſen wollen, daß die Herzlähmung wäh⸗
rend eines Selbſtmordverſuches eingetreten iſt.“
„Das würde mir als Gerichtsarzt peinlich ſein,“
ſagte der Doktor, „denn, ehrlich geſagt, halte ich das
für ausgeſchloſſen. Der Blutaustritt müßte dann viel
größer geweſen ſein und die Wunde würde auch ganz
anders ausgeſehen haben. Wie geſagt, iſt es eine
poſtmortale, keine intravitale Verletzung.“
„Die Herren Arzte ſind verteufelt ſicher in ihren
Urteilen,“ ſagte Skram. „Ich will in dieſem Falle ſo
beſcheiden als möglich ſein: es kann doch möglich
ſein, daß Sie ſich irren!“
„Dann können Sie ja ein Obergutachten einholen,“
ſagte der Kreisarzt, ein wenig verdroſſen. Es ärgerte
ihn, daß man an ſeinem visum et repertum zweifelte.
„Auch ein gutes Wort,“ ſagte Skram. „Dieſe Sache
— 148 —
ſoll entweder zu einem Fall werden, der das ganze Land
in Aufregung verſetzt, oder ſie ſoll in aller Stille bei⸗
gelegt werden. Ein Drittes gibt es nicht. Und würden
Sie mit dem letzteren einverſtanden ſein, wenn ich es
täte?“
„Ja,“ ſagte der Doktor.
„So werde ich Ihnen morgen Beſcheid ſenden.
Ich rechne auf Sie.“
Damit ſchieden ſie.
IX.
Als Skram zurückgekehrt war, traf er die Gräfin
allein im Gartenzimmer an. Sie ſaß in der Tür⸗
öffnung und ſtarrte zum Schloß hinüber.
Als ſie Skrams Schritte hörte, erhob ſie ſich ſchnell
und trat ihm entgegen.
„Wünſchen Euer Gnaden, daß ich Licht anzünde?“
fragte Skram.
„Nein,“ erwiderte fie ſchnell, „das würde Sünde
ſein. Die Nacht iſt ſo herrlich, und ich liebe die Däm⸗
merung.“
„Und die Einſamkeit,“ fügte er hinzu. „Euer
Gnaden, nun iſt es dahin gekommen, wohin es kommen
mußte. Ich hatte erwartet, Sie allein zu treffen,
und nun müſſen Sie mit mir reden. Ich bin nicht
Ihr Feind, aber ich bin in dieſem Augenblick Ihr
Richter. Ich habe gewartet und geſchehen laſſen, was
geſchehen iſt. Sie ſind nicht gewohnt, vor jemand zu
zittern, und doch haben Sie heute vor mir gezittert.
Ich will ehrlich ſein: ich habe ein Doppelſpiel mit
Ihnen getrieben. Doch nun kann dieſem Spiel ein
Ende gemacht werden, wenn Sie es nur wollen.“
Sie trat einen Schritt zurück.
„Wollen Sie mir drohen, Skram?“
„Nein,“ ſagte er, „drohen nicht, aber Gewißheit
will ich haben. Ich bezichtige Sie nicht, Viffert er⸗
mordet zu haben, weil ich jetzt weiß, daß dieſer Mann
— 149 —
an einem Herzſchlag geſtorben iſt. Aber ich weiß auch,
daß Sie, Gräfin, heute nacht an ſeinem Bett geſtanden
haben, und ich frage Sie bloß das eine: Wußten Sie
da, daß dieſer Mann tot war?“
Skram konnte ihr Geſicht nicht ſehen, aber die
Umriſſe ihrer Erſcheinung waren — wenn auch nur
undeutlich — erkennbar, und er ſah, daß ſie bebte.
Dann ſagte ſie mit heiſerer Stimme: „Wollen Sie
mich etwa der gaffenden Pöbelmenge ausliefern?“
„Nein,“ verſetzte Skram, „ich habe Ihnen geſagt,
was ich will. Ich will Ihr Geſtändnis.“
Sie machte einen Schritt zur Tür, doch Skram
ergriff ſie beim Handgelenk.
„Ich weiche nicht von Ihnen, Gräfin. Sie ſind
in meiner Gewalt.“
„So —! Alſo an ſich gelockt haben Sie mich —
in einen ganz erbärmlichen Hinterhalt gelockt!“
Sie ſuchte ihre Hand freizumachen.
Skram ſprach kurz und beſtimmt.
„Sie haben die Wahl, Euer Gnaden. Entweder
reden Sie mit mir wie mit einem Freunde, oder ich
klingle und rufe mein Perſonal herbei; dann iſt die
Brücke hinter uns abgebrochen, das Verhör beginnt
und niemand kann den Verlauf der Dinge mehr auf⸗
halten.“
„Wollen Sie meine Hand loslaſſen?“
Skram tat es. 5
„Warum fagten Sie das nicht früher — bevor
Sigismund kam?“
„Weil ich Ihnen eine Chance laſſen wollte. Ich
gebe jedem, mit dem ich kämpfe, eine faire Chance.
Hätten Sie ſich ihm gegenüber ausgeſprochen und wäre
er derjenige, für den Sie ihn hielten, dann hätte er
Sie in Sicherheit gebracht und einen Vorſprung er⸗
zielt, den ich jetzt nur ſchwer würde einholen können —
jedenfalls nicht, ohne einen gefährlichen Schritt zu tun,
der mich große Anſtrengung koſten würde. Ich traf
Sie aber hier allein und es wurde mir klar, daß Sie
— 150 —
entweder nicht zu ihm geredet hatten, oder daß er
nicht derjenige iſt, für den Sie ihn hielten. Was ge⸗
ſchehen iſt, bleibt ſich gleich. Ich nehme an, daß es
vorbei iſt.“
Sie beugte den Kopf. „Sie haben recht. Ich redete
nicht, ich brachte es nicht übers Herz; er iſt ja nur ein
Kind. Ich habe mich nicht an ihm, ſondern an mir
ſelber geirrt. Es iſt vorbei, wie Sie ſagen, ganz vor⸗
bei. Und nun bitte ich Sie, laſſen Sie mich gehen.“
„Euer Gnaden,“ ſagte Skram. „Sie haben Ihr
Leben heute ſchon einmal aufs Spiel geſetzt, und da
waren Sie ſo wenig rückſichtsvoll, auch mit dem mei⸗
nigen nicht zu rechnen. Laſſen Sie's bei dem einen
Mal genug ſein. Sprechen Sie ſich aus, ſagen Sie
mir alles. Ich bin kein Kind; Sie ſelbſt haben mir
die Ehre erwieſen, mich einen Mann zu nennen. Gut,
ich bin ein Mann, und ich kann Sie, wenn Sie wollen
von dieſem ganzen Handel los und ledig machen.“
„Was wollen Sie wiſſen?“ fragte ſie heiſer.
„Das habe ich Ihnen ſchon geſagt. Ich weiß, daß
Helmut Viffert an einem Herzſchlag geſtorben iſt, aber
ich weiß auch, daß ein andrer ſeinen Hals mit einem
Barbiermeſſer durchſchnitten hat. Dieſer andre ſind
Sie. Und ich frage Sie nun bloß, ob Sie mit der
Abſicht zu ihm gekommen ſind, ihm das Leben zu
nehmen.“
„Nein, nein, nein!“ ſagte ſie.
„Gut, Sie kamen alſo nicht mit dieſer Abſicht.
Aber als Sie in ſein Schlafzimmer traten, ſahen Sie
ihn im Bett liegen, als ob er ſchlafe. Das Meſſer
hielt er in ſeiner rechten Hand.“ j
„Ja,“ flüſterte fie kaum hörbar.
„Und Sie traten an das Bett in dem Glauben,
daß er Hand an ſich gelegt habe. Sie mußten hin⸗
treten, nicht wahr? Sie konnten das Zimmer nicht
Wee ohne ſich vergewiſſert zu haben, daß er tot
war?“
„Er hatte mir ja geſagt, daß er ſterben wolle,“ ſagte
— 151 —
ſie langſam. Es war, als ob ſie unter Skrams Worten
zum Bewußtſein gelange.
„Sie beugten ſich über ihn und ſahen, daß er tot
war
„Ja, und da kam es, daß ich, ohne mir darüber
klar zu ſein, was ich tat, das Meſſer nahm und zu⸗
ſchnitt. Ich wollte, er ſolle von dem Tod betroffen
zu ſein ſcheinen, mit dem er gedroht hatte. Ich haßte
den Mann, Skram, ich haßte ihn noch im Tod.“
Skram ergriff ihre Hand. „Das Verhör iſt zu
Ende, Euer Gnaden. Ich ſage Ihnen bei meiner Ehre,
keine Behörde der Welt hat das Recht, Sie mit einem
Wort über das Geſchehene zur Verantwortung zu
ziehen. Und keine Seele — mit Ausnahme des Dok⸗
tors — ſoll etwas darüber erfahren. Das Verhör iſt
beendet, und die Sache damit auch. Sie ſind frei
Euer Gnaden, verſtehen Sie, frei, und haben nichts
mehr zu fürchten.“
Sie zögerte.
„Aber wünſchen Sie, noch mehr zu ſagen, ſo bin
ich bereit, alles anzuzuhören, was Sie zu ſagen haben.
Ich ſelbſt glaube, daß Sie ſich nun leicht werden aus⸗
ſprechen können.“
Sie nickte bloß.
„Es iſt unten kühler,“ ſagte er — und ſie ſchritten
über den kiesbelegten Weg des Gartens zu den grünen,
über das ſtille Waſſer hängenden Weiden hinab. Der
Nachtwind ſauſte in ihren Alten und kräuſelte die
Fläche des Grabens, der im Dunkel tiefgrün erſchien
und mit ſeinen kleinen Wellen ſchluchzend gegen die
Landungsbrücke und den Steinbelag der Raſenein⸗
faſſung ſchlug.
Sie redete zuerſt.
„Er hat wohl viel Häßliches über mich geſchrieben?“
fragte ſie.
„Nein,“ ſagte Skram, „er hat viel Häßliches über
ſich ſelbſt geſchrieben, ſo viel, daß ich zu der Annahme
neigte, Sie hätten den Entſchluß gefaßt, ihn aus der
— 12 —
Welt zu ſchaffen, um den Mund zu ſchließen, der Sie
jahrelang verhöhnt und verletzt hatte.“
„Mir,“ ſagte ſie, „erzählte er heute nacht, daß er
ſterben wolle, aber, ſo fügte er hinzu, noch im Tode
werde er bei mir bleiben, und Sigismund ſolle alles
erfahren. Darum ſuchte ich ihn nochmals auf. Nicht,
um ihn zu töten. Ich hätte meine Hand nicht gegen
ihn erheben können. Ich war in ſeiner Gewalt und
wollte frei ſein. Aber er ſollte mir ſelbſt die Freiheit
ſchenken. Doch es kam ganz anders. Ich glaubte heute
morgen, daß nun alles vorbei ſei, denn ich ahnte ja
nicht, daß Sie mich verfolgen würden. Ich glaubte,
Sie ſeien mein Freund, Skram.“
„Das bin ich auch,“ verſetzte Skram ernſt. „Ich
habe Ihnen meine Freundſchaft in höherem Maße
bezeugt, als Ihnen vielleicht klar geworden iſt. Und
doch hätte ich Sie, wenn Sie den Mord begangen
hätten, in die Hand der Obrigkeit geben müſſen. So
aber habe ich meine Pflicht nicht verletzt.“
Sie lächelte trübe. „Und das waren Sie, Skram,
der einſtmals mich zu lieben glaubte?“
„Gräfin Polly,“ ſagte Skram, „Sie haben mir
heute abend Ihr Vertrauen geſchenkt. Wenn Sie es
mir auch fernerhin zuwenden, ſo werden Sie vielleicht
noch einmal erfahren, was Liebe iſt.“
Sie ſah ihn an und ergriff ſeine Hand.
„Heute beſiegeln wir alſo bloß unſre Freundſchaft!“
Skram redete mit leiſer, aber feſter Stimme, wie
er zu tun pflegte, wenn er ſeinen Worten Nachdruck
verleihen wollte.
„Und als Sigismund Sie verließ, begriff er da,
daß es vorbei für ihn iſt?“
„Ja,“ ſagte ſie.
„Aber wie konnten Sie Ihren Gefühlen für ihn
ein ſolches Gewicht beilegen, daß Sie bereit waren,
mit allem zu brechen, um aufs neue zu leben, wie
Sie es nannten? Und wie konnten Sie in mir eine
ſolche Überzeugung von der Tiefe Ihres Gefühls wach⸗
— 153 —
rufen, daß ich zu glauben vermochte, Sie könnten aus
reiner Liebe zu dem jungen Manne — — einen Mord
begehen? Denn daß ich das glaubte, wiſſen Sie ja.“
„Es war der Selbſterhaltungstrieb, der Kampf ums
Glück, ums Leben. Ich war in Helmuts Gewalt. Er
ſagte, er liebe mich, aber ſeine Liebe zu mir war nur
ein Teil ſeiner Liebe zu ſich ſelbſt, der einzigen wah⸗
ren Liebe, die er zu empfinden vermag. Ich habe
früher verſucht, mich von ſeiner Gewalt freizumachen;
doch er ſtellte ſich gegen mich, und ich fiel ihm zu
Füßen, um es aufs neue zu verſuchen und — um mich
wieder bezwingen zu laſſen. Ich war ſein Sklave und
konnte ſeine Macht nicht brechen. Ich richtete alle meine
Gedanken auf Sigismund Viffert, um mit ſeiner Hilfe,
ohne daß er etwas ahnte, der Knechtſchaft, die mich
gefangen hielt, zu entrinnen. Ich fühlte, daß das nur
durch Liebe geſchehen könnte. Ich erdichtete mir
Sigismund größer als er war, ebenſo wie ich meine
Liebe zu ihm größer erdichtete, als ſie war. Und als
Helmut das ſah und mir den Weg zu verſperren ſuchte,
da bat ich, daß er ſterben möge, und ich frohlockte, als
er mir ſagte, daß er ſterben wolle. Doch als ich ein⸗
ſah, daß er mich ſelbſt übers Grab hinaus noch ver⸗
folgen wolle, da wurde ich von Entſetzen erfaßt. Und
dann geſchah alles, wie Sie es herausgebracht haben,
ohne daß ich zu ſagen wüßte, wie.“
„Ich aber verſtehe alles,“ ſagte Skram. „Bloß das
eine iſt mir nicht klar, inwiefern Sie der tote Mann
ſollte verfolgen können. Wodurch ſollte der Ihnen
ſchaden? Er konnte den jungen Viffert wiſſen laſſen,
was zwiſchen Ihnen und ihm vorgefallen war, aber
Sie konnten ja ſelbſt ſeinem Wort den Stachel nehmen.
Sigismund weiß, daß Sie des Grafen Gattin ſind,
und wenn er Sie liebte, müßte er Ihnen auch ver⸗
geben können, daß Sie — die Geliebte ſeines Onkels
geweſen ſind.“
„Das eben ſollte er nicht erfahren. Noch heute
abend war alle meine Hoffnung auf ihn gerichtet,
— 154 —
und ich weiß, hätte er es erfahren, dann würde ich ihn
verloren haben.“
„Und nun — heute abend — baten Sie ihn ſelbſt
zu gehen?“
„Es iſt heute viel geſchehen, Skram,“ ſagte ſie. —
„Und ich habe den Mann kennen gelernt, der mich
ſchützen kann. Auch gegen mich ſelbſt.“
„So überantworte ich Vifferts Brief dem Feuer
und laſſe jede Erinnerung an ihn in Vergeſſenheit
ſinken,“ ſagte Skram.
Sie reichte ihm die Hand, indem ſie ſich erhob —
und dann ſchieden ſie. Skram aber ſtand noch geraume
Zeit an der Brücke und ſah dem Boot nach, das über
das dunkelgrüne Waſſer glitt, dem Schloß mit ſeinen
ſtarken Mauern zu.
Die ſtanden jetzt nicht mehr trennend zwiſchen ihm
und ihr!
Schluß,
„So iſt denn die Sache abgetan, Doktor,“ ſagte
Skram, „und damit iſt dieſer Tag gut eingeleitet; es
bleibt übrigens noch ein gut Teil zu tun übrig, und
als Teſtamentsvollſtrecker haben wir auch noch einiges
zu leiſten.“ a
Es war nun Morgen, und der Kreisarzt ſaß in
der Gartenſtube des Richters an dem großen grün⸗
bezogenen Tiſch, den Skram als Arbeitstiſch benutzte.
Der Kreisarzt war ernſt geſtimmt; es hatte ihn
doch einige Überwindung gekoſtet, hier von Grund⸗
ſätzen, die ihm über jeden Zweifel erhaben erſchienen,
abzuweichen. Doch Skram unterſtützte ſeinen Entſchluß
mit guter Begründung. Viffert war ja nicht ermordet
worden, ſondern an einem Herzſchlag geſtorben, und
die Gräfin hatte Skram eingeſtanden, in einer Art
plötzlichen Wahnſinns einer unwiderſtehlichen Eingebung
gefolgt zu ſein.
Der Kreisarzt brummte zwar: „Hätte ſich dieſes
Drama oben beim verſoffenen Böttcher an der Ecke
abgeſpielt, dann ſäßen die Leute jetzt alle Mann hoch
hinter Schloß und Riegel und warteten auf ihre Ver⸗
urteilung.“
„Doktor,“ ſagte Skram, „merken Sie auf dies Wort:
ich will Gleichheit für alle, aber ich will nicht, daß
man dieſe Gleichheit dadurch zuwege bringt, daß man
an denen unrecht handelt, gegen die man gegenwärtig,
weil ſie hoch in der Geſellſchaft ſtehen, kein Unrecht
verübt. Die wahre Gerechtigkeit beſteht darin, daß
man gegen die Kleinen ebenſo gerecht iſt wie gegen
die Großen, und nicht etwa, daß man gegen die Großen
ebenſo ungerecht iſt wie gegen die Kleinen. Mag der
— 156 —
Himmel geben, daß dieſe leicht verſtändlichen Prin⸗
zipien allen — ſowohl den Kleinen als auch den Großen
— einleuchten. Ich bin gerecht geweſen. Ich habe
nichts andres tun können, als was ich getan habe.“
Der Doktor lächelte. „Sie haben ja gar nichts
getan, Skram!“
„Eben, lieber Doktor, und das iſt in neun von zehn
Fällen gerade das, was ein Richter tun ſoll. Aber
das werden die guten Leute gewiß erſt ſehr ſpät be⸗
greifen. Ich habe Zoll für Zoll die Sache zu ver⸗
ſtehen geſucht, und ich habe ſie verſtanden. Wenn man
dagegen, wie die meiſten es tun, bei einer falſchen
Vermutung ſtehen bleibt, ſo iſt damit freilich nicht
geſagt, daß man nicht dennoch zur richtigen gelangen
könne, aber man erreicht ſie nur auf einem weiten
Umweg, und während deſſen wird über viele Unglück
und Elend gebracht. Und daß ich das nicht getan,
erfüllt mich mit dem Bewußtſein, daß ich recht habe.
Sie ſollten bloß ahnen, wie viele wahnwitzige Fehl⸗
ſchlüſſe geſtern mein Gehirn durchkreuzt haben. Die
richtige Vermutung kam erſt, als ich einen Blick in des
toten Mannes Herz und — in mein eigenes geworfen
hatte. Schließlich war mein Fehler der, daß ich glaubte,
ein Weib könne einen Mann ermorden, der ſich zwiſchen
ſie und den von ihr Geliebten ſtellt. Ein Weib kann
aus dieſem Grunde wohl ein andres Weib umbringen
— doch ſchwerlich einen Mann. Es war eine Vermutung
ohne rechte pſychologiſche Grundlage, und davor müſſen
wir uns in acht nehmen, Doktor. Im Grunde ge⸗
nommen, gibt es nur ein Moment, das nicht ganz
aufgeklärt iſt, nämlich, wie es möglich ſein ſoll, daß
ſie das Meſſer aus des Toten Hand genommen und
ihm die Schneide auf die Kehle geſetzt hat. Sie ſelbſt
ſagt, daß ein unwiderſtehlicher Drang ſie dazu getrieben
habe, es muß alſo eine Art Wahnſinn geweſen ſein,
und dergleichen iſt ja natürlich denkbar, aber ein der⸗
artiger Ausbruch von Wahnſinn bei geiſtig ganz ge⸗
ſunden Perſonen kann doch kaum auf Verſtändnis
— 157 —
rechnen. Wahr iſt es indeſſen, daran hege ich keinen
Zweifel. Aber es bedarf hier nicht allein der ob⸗
jektiven Wahrheit, ſondern auch einer plauſiblen Be⸗
gründung. Und hier, glaube ich, ſollte der Arzt ein
Wort mitreden können.“
„Ich finde es auch gar nicht ſo ſchwer verſtändlich,“
ſagte der Doktor. „Gehen wir davon aus, daß eine
ſeeliſche Abſpannung vorlag, daß ſie alles auf eine
Karte ſetzte, alle Geiſteskräfte auf ein Ziel gerichtet
hielt, und fügen wir dann zu dieſer Sammlung aller
Kräfte die plötzliche Erſchlaffung, die über ſie kam,
als ſie bemerkte, daß ſie gegen nichts mehr zu kämpfen
hatte, ſo erſcheint es mir durchaus nicht ſo ſchwer, die
Ideenverbindung zu verſtehen. Viffert hat mit dem
Meſſer in der Hand ausgeſtreckt im Bett gelegen; alle
ihre Gedanken waren auf dieſen Selbſtmord gerichtet,
und die Luſt, ſeinen Selbſtmord vorzutäuſchen, iſt ihr
zum Zwangsgedanken geworden. Sie hat ſich ſchon
immer mit dem Gedanken beſchäftigt, daß dieſer Mann
von eigener Hand ſterben müſſe. Der Zwangsgedanke
wurde geboren, und die Hemmung, die ſeiner Aus⸗
führung entgegenwirkte, wurde dadurch abgeſchwächt,
daß die kräftigſte Gegenvorſtellung: Du ſollſt nicht töten,
nicht eintrat. Die Gräfin folgte alſo willenlos dem
Zwange und griff nach dem Meſſer, deſſen Schärfe
ſie als Frau nicht kannte und nicht beurteilen konnte.
Der Schnitt wurde ſomit tiefer als ſie gedacht hatte;
es floß Blut — ſie hielt inne und wurde wieder Herr
über ſich. Das Übrige erklärt ſich aus dem Selbſt⸗
erhaltungstrieb. Ich darf ſagen, daß ich recht wohl
verſtehe und es auch nicht für allzu ſchwer halte,
andre zum Verſtändnis zu bringen. Einem Arzt
gegenüber wird Ihnen das jedenfalls mit Leichtigkeit
gelingen. — Aber Sie haben recht, es iſt am beſten,
dieſe Sache fallen zu laſſen, wie Sie vorſchlugen.“
„Das meine ich auch,“ ſagte Skram. „Alſo iſt
die Sache nunmehr tatſächlich abgetan. Wir haben
jetzt bloß noch als Vollſtrecker des Teſtaments zu handeln.
— 158
Das wird nicht weiter ſchwer ſein, da nur eine Erbin
vorhanden iſt — die Gräfin Polly. Das Allgemein⸗
wohl iſt ſomit um ſein Erbteil gebracht, und auch
Leonie und ihr praktiſcher Geliebter müſſen ſich mit
den Zehntauſend begnügen. Sie dagegen, lieber Dok⸗
tor, erhalten das ganze Exekutorhonorar, das Sie in
den Stand ſetzen wird, umfaſſende ſoziologiſche Studien
zu treiben.“
„Wollen Sie denn gratis fungieren?“ fragte der
Doktor erſtaunt. „Und warum, wenn ich fragen darf?“
Skram lachte.
„Nein, lieber Doktor, vielmehr wünſche ich gar nicht,
die Erbmaſſe des Kammerjunkers zu bearbeiten.“
„Warum nicht?“ fragte der Doktor erſtaunt.
„Weil die Zeit es vielleicht mit ſich bringen wird,
daß ich die Gräfin noch lehre, was es heißt: zu leben!“ —
Ende.
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von jungen Mädchen, jungen Frauen und jungen
Müttern iſt die Derfafferin dadurch eine Lehrerin und
Führerin, geradezu eine Wohltäterin geworden, und
gar mancher junge Ehemann hatte, ohne es zu wiſſen,
vollauf Urſache, der Marie Suſanne Kübler‘ dank⸗
bar zu ſein.“
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Mit dieſem Roman, einem Beitroman in des
Wortes vollſter Bedeutung, bat der Altmeiſter
Obnet wieder einmal einen großen Wurf getan.
Heiß und ſtark pulſiert das Blut in dieſer neueſten
Schöpfung des allbeliebten Erzählers, der uns in
das modernſte Frankreich führt, wo die ſozialen
Gegenfäge beute mit elementarer Gewalt aufein⸗
ander platzen. Haß und Liebe b in der dra⸗
matiſch bewegten Geſchichte ihr buntſchillerndes
Spiel, und mit atemloſer Spannung folgt der
Leſer den dramatiſchen Vorgängen eines Romans,
in dem der Verfaſſer feinen Landsleuten einen
Spiegel rorbält und das politiſche Strebertum
ſchonungslos geißelt.
Der alte Timm und ſeine Nachbarn.
Von Marie Diers.
Das Gemeinſame dieſer trefflichen Novellen
iſt, daß aus der Gebundenbeit dörflicher Vorurteile
und Verbältniſſe die Lebenskraft in irgend einer
Form nach Befreiung ringt. Jede der drei Ge⸗
ſchichten iſt in ibrer Art ein Kabinettſtück poetiſcher
Geſtaltungskraft.
Hugo. Von Arnold Bennett. Aus
dem Engliſchen. \
Das „Athenäum“ ſchreibt: Diefe in einem
rieſigen Warenbauspalaſt ſpielende Geſchichte iſt
fo voll von ſpannenden und abenteuerlichen Vor-
gängen wie ein Weibnachtspudding von Roſinen
oder eine Protzenvilla von Verzierungen.
Armer Henner .. Von Richard Skow⸗
ronnek. 2 Bände.
rei von jeder einſeitigen Tendenz ſchildert
der Roman das zus eines begabten jungen
Offiziers, der an einer beißen Leidenſchaft innerlich
zu Grunde gebt. Hinreißende . eng; ein
dringliche Charakteriſtik der get und Neben⸗
rerſonen und lebenswabre Schilderung des Zu⸗
ſtändlichen bilden die Vorzüge dieſes Skowron⸗
netfchen Werkes. >
Der unreine Geift. Von Semene Zem—
lak. Aus dem Franzöſiſchen.
Ein durch und durch origineller Roman, der
am Faden einer reichbewegten erſchütternden Hand⸗
ung Hefe Einblicke in die ruſſiſche Volksſeele ge⸗
währt.
Naturgewalten. Von Helene Raff.
In die Hochalpen und ihre Vorberge hinein ver⸗
fest uns dieſer Geſchichtenkand. Anſchaulich wer⸗
en uns die äußeren und inneren Mächte geſchildert,
die das Ge chick der handelnden Perſonen beſtim⸗
men — die Naturmächte, die alt und ewig ſind wie
Geburt und Tod. in Hauch freier Lite webt
aus dieſem trefflichen Buche, der auf des Leſers
Gefühl und Sinn erfriſchend wirft.
Die jüngſte Miß Mowbray. Von B. M.
Croker. Aus dem Engliſchen. 2 Bände.
Auch in dieſem Roman finden ſich alle die
Vorzüge vereinigt, denen die Verfaſſerin ihre große,
er
noch immer wachſende Beliebtheit verdankt. Sie
e darin aufs anmutigſte die rührenden
chickſale eines unterdrückten Mädchens, denen
der Leſer mit ſteigender Teilnahme folgt.
Liebe Mädchen. Drei Novellen von Kaͤthe
Sturmfels.
Die durch ihre aufrüttelnden ©: t n
die „ 0 lo a merken
befannt gewordene Verfasse in zeigt fü
Novellen „Liebe Mädchen“ als Darftell
Harer Frauengeſtalten, die ſich in geſellſchaftlich
exponierten Stellungen, wie ſie das moderne Leben
ſchafft, mit dem ſicheren Takt und der Unverletz⸗
lichleit echter Weiblichkeit zurechtzufinden wiſſen.
Meeresgold. Von George Bronſon⸗
Howard. Aus dem Enßliſchen.
Dieſe phantaſievolle Abenteuergeſchichte erhebt
keinen andern Anſpruch, als den Leſer durch flott
erzählte ſpannende Vorgänge zu feſſeln und zu
unterhalten. Das gelingt ihr aber auch aufs beſte.
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einer jungen Studentin; — lebenſprühend, voll
ſeinſter Pſychologie und ſtarkem Spannungsreiz.
Was ſich in dem Gaſthaus begab. Von
Kate Douglas Wiggin u. a. Aus
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Eine ganz allerliebfte Geſchichte voll Geiſt und
Humor. Der Verſuch, jeden der vorkommenden
Charaktere einem andern Autor zuzuweiſen, iſt
geradezu glänzend gelungen.
Das goldene Schiff. Von Paul Oskar
Hocker.
Der heiße Atem des modernen Sportfiebers
geht durch dieſen ſpannenden, figurenreichen Ro-
man, der Höckers volle Meiſterſchaft ü, das
nee Geſell N und eine eindring⸗
liche pſychologiſche Kunſt verrät.
Daphne. Die Geſchichte einer modernen
Ehe. Von Mrs. Zumphry Ward.
Aus dem Engliſchen. 2 Bände.
Dieſem geift- und lebenfprübenden Roman
der berühmten Verſaſſerin von „Robert Elsmere“
liegt das Ebeſcheidungsproblem zu Grunde, das
die Engländer und Amerikaner gegenwärtig ſo
ſebr in Atem hält. In einer Keibe von bunten
Bildern aus dem Geſellſchaſtsleben vermittelt uns
das intereſſante, ſeſſelnde Buch tiefe Einblicke in
die angelſächſiſche Kulturwelt.
Gräfin Polly. Von Palle Roſenkrantz.
Aus dem Däniſchen.
Man würde dieſen Roman des auch als Drama:
tiker rühmlich bekannten Verfaſſers unterſchätzen,
wenn man ihn nur nach der ſpannenden Handlung
beurteilen wollte. Roſenkrantz verſteht es meifter-
baft, uns die handelnden Perſonen, die offenbar
nach dem Modell Kanaan ſind, durch ſeine her⸗
e Darſtellungskunſt menſchlich näher zu
ringen.
in den
in feiner,
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