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Full text of "Palle Rosenkrantz. Gräfin Polly"

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GE Engelhorns 


allgemeine 


Nona Bülach 


. 
Gräfin Polly. 


von 


Palle Roſenkrantz. 


— — — — — — —— — 


..... 2 


Engelhorns Allgemeine a Ba! der 
en hellen modernen 
RomanbibliotheR. romane ater vörker. 


Alle vierzehn Tage eriheint ein Band. 
Preis jedes Bandes 50 Pf. Eleg. in leinwand geb. 75 Pf. 


(26 Bände jährlich, Geiamtpreis broſchilert 13 Mark, gebunden 19 Mark 50 Pl.) 


ber „Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek” ſchrelbt der „Sambur- 
gilche Eorreipondent*: Das lit ein Unternehmen, das In jeder Welle gefördert zu 
werden verdient! Als vor nun mehr denn 25 Jahren die eriten roten Bände erichlenen, 
mag mancher Kurzlichtige und Engherzige den Kopf geichüffelt haben über das tolle 

' Wagitück, wirklich gute und wertvolle gelltige Koft zu fo bifligen Prellen zu verab- 
relchen. Wenn man heute auf die 1. mggpReihe von Jahren zurücblickt, wie viel ift 


da nicht ſchon erreicht! Falt Kein-k Familie, wo die foliden Bände nidıt 
ihren Einzug gehalten hätten alt keine, noch Pkeja angelegte Privatbibliothek möchte 
die lich fo freundlich präigg : ger N aus ihrer Mitte miſſen. Und doch, 
noch gibt es viel zu f och gib. s denen dle vermoricten und ver- 
rotteten Sintertreppenromg Bier wäre es Pflicht jedes Nächit- 
itehenden, die giftige stelle die gelunde und durch- 
weg gute Koit der „Eıtgelho liothek“ zu legen. Der glüct- 
lich Geheilte wird, wenn en Selfer licher Dank willen. 


[3 


Die bisher erich tashiöfgenden Verzeichnis aufge- 
führten Romane könng Id rend # jede Buchhandlung zum Prelle 
von 50 Pfennig für Jeg broihiertep And 75 Pfennig für den ge- 
bundenen Band bezogen week „ 


Band 1.2. Ohnet, Der Hülttenbeſitzer. — 3. Conway, Aus 
Eriter Jahrgang. Nag zun ef. Heard, 3610. 6.0. Grenile, woſſ⸗ 
Uiffa. — 7. Aide, Vornehme Seel aft. — 8. 9. Ohnet, Gräfin Sarah. — 10. Braddon, 
Unter der roten Fahne. — 11. 2 vy, Abbe Conſtantin. — 12. Perga, Ihr Gatte. — 
18. 14. Reade, Ein gefährliches Geheimnis. — 16. Theuriet, Gérards Heirat. — 
16. Greville, Doſia. — 17. 1 Ein heroiſches Weib. — 18. 19. Norris, 
Eheglück. — 20. Rielland, Schiffer Worſe. — 21. Golombi, Ein Ideal. — 22. Conway, 
Dunkle Tage. — 23. Boyefen-Spielhagen, Novellen. — 24. Yincent, Die Heimkehr der 
Prinzeſſin. — 25. 26. Delpit, Ein tterherz. 


Band 1. 2. Ohnet, Der Steinbruch. — 8. Lindau, Helene 
Zweiter Jahrgang. Jung. — 4. Bret Harte, Maruja. — 5. Die Sozlaliſten. 
D . HYaltuy, Griquette. — 7. Wilbrandt, Der Wille zum Leben. Untrennbar. — 
8. Valera, Die Juuſtonen des Dr. Yauftino. — 9. 10. Sarjeon, Zu fein geſponnen. — 
11. Rielland, Gift. — 12. Rielland, Fortuna. — 18. 14. Ohnet, Life Fleuron. — 
15. Farina, Aus des Meeres Schaum. — 16. Frey, Auf der Woge des Glücks. — 
17. 18. Kroker, Die hübſche Miß Neville. — 19. Feuillet, Die Verſtorbene. — 20. Aazler. 
Mein erſtes Abenteuer u. a. G. — 21. 22. Alexander, Ihr ärgſter Feind. — 23. v. mer, 
Ein Fürſtenſohn. Zerline. — 24. Brei Harte, Bon der Grenze. — 25. 26. Conway, 
Eine Familiengeſchichte. 


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Ein einach 
Der Genius 3 ein Erb. — 18 er Er 
— 21. s, Mein Freund Jim. — „an 
Das beſte Teil. — 24. 25. Conway, Leben 2 tot. — 26. de Bonnier 
Familie Monach. 


8 1 


Lahe Kenias. — . 'oß, Kinder des Südens. — 13. — ogarzaro, Daniele Cortis. 
Ser be Gy erz⸗Neune. — 16. 17. Ohnet, Sie will. — 18. v. 9 2 zogen, 
Si: Sind er 2 — 19. darin, Um den 9 Ruhmes. — 20—22. Daudet, 
urnett, Der kleine Lord. — 24. Cheuriet, Der Prozeß Froideville. 

— 8 * ee Stella. 


Zn 1. 2. Jo Robert Leicht audet. Der 
Fünfter Jahrgang. 7; 1 05 ir Ouita, a RR ap 
5.6 . Memint, ee ken 1 5 bill Be eilige Joſeph vermag. — 8. v. Glümer, 
nen. — 9. 1 4 cn zunn — 11. ae 
. CElaretie, Jean 8. aa Auf der 
En Satisfaktlon. — 16, ine 1 Die Scheinheilige. — 17. 2. 
ameau. — 19. Peſchkau, Sem Regine. — 20. de 9 „Ad See 
— ep 22. e Mein Sohn. — 28. Greville. Doſias Tochter. — 
und ſein Weib. — 25. 26. Dandet, Numa Roumeftan. 


Band 1. 2. v. Woltogen, Die tolle Komteß. — 3. de Tin- 
Sechlter Jahrgang. ſeau, Eine S 1 4. Ihilips, Jack und feine drei 
zur — 5. 6. Gunter, Mr. Barnes, von New Pork. — 7. Chenriet, Gertruds 
Heimniß. — 8. Conway, Wunderbare Gaben. — 9. 10. Ohnet, Letzte Liebe. — 
11. Voß, Die Sabinerin. — 12. Memini, Mia. — 18. 14. Croker, Diana Barrington. 

— 15. u, Heigel, Der reine Thor. — 16. Pontoppidan, Ein a Junge 
Liebe. — 17. 18. Dandet, Die Könige im Gy. — 19. Philips, Die verhängnisvlle 
25 ne. — 20. 21. Ohnet, Sergius Panin. — 22. 7 Meta 3 — 
buffen, Salonidylie. — 24. 25. Gunter, Mr. Potter aus Texas. — 26. Murray, 

Ein gefährliches Werkzeug. 


d 8 r 
Slebenter nr 85 1 e 


— 5. 6. Ad, en. — 7. Port * 
1 Pf. 
aggard, Oberſt Quaritch. — 


orpoſten u. a. Geſch. — 20. 21. 
de gen, — 


Verhängnis. 


Ban en Band 1.2. Croker, Irgend ein — — 8. 5 5 


S 
Daudet, Er, 28. Der ſchwarze Koffer. — 24. we Der ln. — 
aſterman, Schwer geprüft. 


Bandı.2. © Im Schuldbuch des e 
Neunter Jahrgang. 1 et. e — 4. ee Sen — 
ker, len, iolette M. Kd — 2 ay, a 
ie 9. 10, ee in u: ide. = 11 * S em 
arte, In N ee a 
Awiſchen Lipp' is ne 25 15. Conway — erſter Klient u. 360 5 
16. de Tinſeau, Auf ſteinigen ke — 17—19. Heimatlos. — 20. v. 10 50 
Baronin Müller. — 21. Mairet, In guter ou: 121 9 Echte in. Das 
23. 24. Warden, Das Haus am Moor. — ao, — oder den 2 
Dreißig zent. — 26. Tondouze, Des S Tagebuch. 


Zehnter Jahrgang. Sem . Aullbenbunth, Tas aer W — 4 . 


ee Einer 2 au. See — 2 65 ubin, Schatten. — 6. 7. a 
ze Opfer, — 9. ielfen, Die Möwe. — 1 
. 2 a, — Heſhichen, — 13. 14. v. Bee: Margarete 
nd — 15. ant, Die Herzogstochter. — 16. Daud Briefe aus 

2 iner Schwiegermutter. — er b. Roberts, N 

. Lie. Hof 5 5 ti, Don Cirillos * — 23. Schul, 
Jean von Kerdren. — 24. Villin auern. — 25. 26. Savage, Prinz 
Schamyls Brautwerbung. y 


im. — 20. Piunch. uen. — 21. 22. de erkeley 
el, De Sänger. — 24. Sims, re ken, ed = 


Band 1. 2. Be olzogen, Die Erbſchleicherinnen. — 
Zwölfter Sairgong 3. Ottolen 1. Ber AP — 4. Claretie, Die 
a und 1 e — 5. 6. 55 Dodo. — 7. Zehren, Die Brüder 
erts, Revanche! — 11. Serrao, infel 
rage. — 13. 14. Rameau, Das Magdalenen⸗ 
* M0 avage, Wandelbilder. — 
17. 18. z e — 19. Jerome, Noman⸗Skudien. — 20. 9 2 
Croker, Eine Familienähnlichkeit. — 23. van ide Ur 
botene Frucht. 2 7 Moeller, Gold und Ehre. — 25. 26. Jota, Eine ge 


Band 1. 2. Vill. leonieri. — 
1 Jahrgang. Die Sagt dal lege . l. 
Croker, Eine dritte 4 — 7. em Flederwiſchs Heirat. f. 


* 
9 ot, Ein . Ehe. — 9. 10. Gerbrandt, ſelber treu. — * 
fiiher. — 12. Böhlen, Natsmädel- und Altweimariſche Geſchichten. — 13. 14. u 
Die weißen Felſen. — 15. v. Heigel, Der Herr Stationschef. — 16. de 8 
Reiſeabenteuer. — 17. 18. Savage, Die Hexe von Harlem. — 19. — a, Königs 1 
— 20. Boyefen, Selbſtbeſtimmung. — 21. 22. Mengs, Froſt im ling. — 23. 
mann, Smaragda. — 24. Croker, Lady Hildegard. — 25. 26. 485 Zu jung ge it 


Band 1. 2. v. Woljogen, Der Kraft-:M — 
Vierzehnter Jahrgang. 8. Böhlau, Alleinerbe Liebes⸗ und Chegeſc hren 
— 4. Mathers, Das Bäschen vom Lande. — 5. 6. Ohnet, Der Pfarrer von Favisres. 
— 7. ubin, Die Heimkehr. — 9. de Tinſeau, Bergeſſene Pflicht. — 10. Hymne, 
Gauner-Ehre. — 11. a Amicis, er und Gymnaſtik. — 12. 13. Croker, Ein 
— — 14. Bra Im Joche der Liebe. — 15. Böhlau, Verſpielte Leute. — 
binfon, Die he and, — 17. 18. v. Roberts, Die ſchöne Helena. — 
12 3 Der Biſchof in Not. — 20. Greville, Das Geſtändnis. — 21. 22. White, 
Korruption. — 23. Vincent, Künſtlerblut. — 24. Merrick, Eine perſönliche An cht. — 
25. 26. Orloffsky-Golowin, Die Nihiliſtin. 


* Engelborns & 


Allgemeine Roman-Bibliothek. 


Eine Auswahl der besten modernen Romane 
aller Völker. 


26. Jahrgang. 0 Band 19. 
Gräfin Polly. 


Baron Palle Rosenkrantz. 


Autorisierte Übertragung aus dem Dänischen 
von Fr. Bernh. müller. 


4 3 — — 


Stuttgart 1910. 
Verlag von J. Engelhorn. 


— ͤ2—ù— LERLEENLERERLAL ZELL SOON LOGO! EALAL LEN OO ELDEDEGD 


Authorized translation of the Danish original, published October 28rd 

1907. Privilege of copyright in the United States reserved under the 

Act. approved March third, nineteen hundred and five, by the author 
Palle Rosenkrantz. 


Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart. 


Ir 
915 
RN 
4 


Einleitung. 
I. 


Nlſo in einer Amtsſache ſind Euer Gnaden zu 
mir gekommen?“ 

Gräfin Polly nickte ernſthaft. 

„Ja — Sie, als den Amtsrichter von Edelsburg 
möchte ich ſprechen. Nur den! — Lieber Skram, es 
paßt wirklich vorzüglich, daß gerade Sie hier Amts⸗ 
richter ſind. Mit dem alten Madſen in dieſer Sache 
zu reden, wäre mir ganz unmöglich. Einfach un⸗ 
möglich! — Sie dagegen, lieber Skram, ſind mein 
Freund, nicht wahr? — Mein getreuer Freund! — — 
Alſo, um es kurz herauszuſagen: Henrik und ich haben 
uns entſchloſſen, von nun an jeder ſeinen eigenen Weg 
zu gehen. So lautet wohl der richtige Ausdruck dafür.“ 

Gräfin Polly Eiſenbart war von Geburt Amerika⸗ 
nerin, und Amtsrichter Skram ſagte ſich im ſtillen, 
daß der fremde Akzent alles Konventionelle ihrer Worte 
aufhebe. 

Skram war nur infolge einer Amtsvakanz — in 
Vertretung — zum Richter des Edelsburger Bezirks 
ernannt worden. Er, der jetzt achtunddreißig Jahre 
zählte, amtierte eigentlich als Aſſiſtent beim Juſtiz⸗ 
miniſterium, doch als Sohn eines Departementchefs 
konnte er unbedingt auf eine gute Karriere rechnen. 

Von der Gräfin Polly war er ſehr eingenommen, 
was allerdings alle Männer waren — aber außerdem 
ſpielte er wunderbar ſchön Cello, und die Gräfin 
ſchwärmte für Muſik. 

Daher rührte die Freundſchaft beider, die jetzt ſchon 
einen Winter, einen Frühling und einen halben Som⸗ 


er 


mer hindurch gewährt hatte. Es kam noch hinzu, daß 
die Amtsrichterwohnung mit ihrem großen, ſchattigen 
Garten dem Schloß gerade gegenüberlag und von ihm 
nur durch den breiten gelbgrünen Schloßgraben ge⸗ 
trennt war. 

Über dieſen war Gräfin Polly ſoeben in ihrem 
kleinen, weißen Boot gerudert. Sie wollte ja nur in 
einer Amtsſache mit dem Richter ſprechen, denn ſie 
und Henrik Eiſenbart hatten, wie geſagt, ſich ent⸗ 
ſchloſſen, jeder ſeinen eigenen Weg zu gehen. Ihm 
ſollte die Grafſchaft Edelsburg nebſt allen zugehörigen 
Gütern, Wäldern, Kirchen und Zehnten — und ihr — 
nun ihr ſollte ſie ſelbſt gehören, weiter nichts! 

Und doch ſchien es Skram, als habe der Graf das 
geringere Teil erhalten. 

La belle dame sans merci nannten die Nach⸗ 
barn Gräfin Polly, und unter dieſer Bezeichnung war 
ſie auch von einem der erſten Künſtler des Landes 
gemalt worden. Eine Florentinerin, die aller Hoff- 
nungen erweckte, aber nichts verſprach und daher auch 
keine Verſprechen zu halten brauchte. Eine Floren⸗ 
tinerin, eine jener Renaiſſance-Frauen, die im heutigen 
Amerika wiedergeboren ſind. Ihr Haar war bräunlich, 
doch wenn die Sonne darin ſpielte, von goldigem 
Glanz. Sie trug es geſcheitelt und in ſchweren Locken 
geordnet, die ihr feines, ovales Geſicht umrahmten. 
Ihre Augen hatten eine Farbe, die niemand recht 
ergründen konnte, und ihr feingezeichneter Mund war 
bald ſchwellend, bald faſt grauſam feſt geſchloſſen. 
Immer trug ſie, ohne auf die Mode Rückſicht zu neh⸗ 
men, eine ausgeſchnittene Taille, die den ſchlanken, 
weißen Hals freiließ. Ihre Hände glichen denen der 
Monna Liſa, die niemand vergißt, und ihre mittelhohe 
Geſtalt war recht üppig — eigentlich zu ſchwellend 
für das ovale Geſicht und den ſchlanken Hals. 

La belle dame sans merci! 

Fremd war ſie allen Leuten dieſer Gegend geweſen, 
als ſie mit achtzehn Jahren ihren Einzug auf der Edels⸗ 


a 


burg gehalten hatte, und fremd war fie ihnen noch 
heute, da ſie dem Amtsrichter Skram mit ihrem eigen⸗ 
artigen, ſtillen Lächeln anvertraute, daß ſie und Graf 
Henrik beſchloſſen hätten, jedes ſeinen eigenen Weg 
zu gehen. 

Skram wunderte ſich nicht darüber. Er fragte bloß: 
„Und Ivar?“ 

„Ivar?“ wiederholte die Gräfin. „Der iſt heute 
in ſein Kollegium gereiſt — nach Herlufsholm. Dort 
mag er bleiben, bis er Student geworden iſt. Er iſt 
jetzt ein großer Junge von elf Jahren — und wiſſen 
Sie, Skram, es iſt Henriks Junge, nicht meiner. Hen⸗ 
rik nahm mich nur, um eine Mutter für ſeinen Jungen 
zu haben, noch ehe dieſer geboren war. Der Stamm⸗ 
halter — das war meine erſte Pflicht, und die habe 
ich erfüllt. Ich habe dem Jungen ſelbſt die Bruſt 
gegeben und gut auf ihn geachtet, fo lange er klein 
war, denn wir Amerikanerinnen können auch gute 
Mütter fein. Aber jetzt iſt Jvar nur der Stammhalter — 
Henriks Junge. Und das mag er meinetwegen auch 
bleiben. — Er kümmert ſich auch gar nicht um ſeine 
Mutter. Und Sie wiſſen ja, ich mache mir auch nicht 
viel aus Kindern.“ 

Das wußte Skram. 

„Ich bin jetzt dreißig Jahre alt,“ fuhr die Gräfin 
fort und lächelte dabei etwas müde, — „dreißig Jahre, 
das heißt, ich habe keine Zeit zu verlieren. Denn ich 
will leben — wirklich leben. Henrik hat mir meine 
Freiheit gegeben, und nun komme ich zu Ihnen. Sie 
haben ja mit allen meinen Sachen zu tun gehabt — 
wenn mir die Dienſtboten weggelaufen oder wenn 
meine Hunde über die Grenze gegangen waren.“ 

Skram nickte. 

„Ich werde eine ſogenannte weltliche Vermittlung 
vornehmen und —“ 

Die Gräfin unterbrach ihn: „Und ein Geſuch oder, 
wie es heißt, an den Miniſter ſchreiben. Der Miniſter 
iſt mein Freund, er ſchlägt mir keinen Wunſch ab. 


3 8 


Und Sie, lieber Skram — Sie tun ja wohl auch alles, 
worum ich Sie bitte.“ 

Skram lächelte. 

„Ich werde die Vermittlung mit aller amtsmäßigen 
Energie vornehmen.“ 

„Das iſt gar nicht einmal nötig. Henrik und ich 
ſind ja einig. Wäre ich älter, dann würde ich viel⸗ 
leicht bleiben. Hier iſt es ja ſchön, und die Menſchen 
ſind gut. Auch habe ich mich an dies Land gewöhnt und 
liebe die Edelsburg. Aber das Leben ruft, Skram — 
um mein Leben laß ich mich nicht betrügen. Bis jetzt 
habe ich nicht einen einzigen Tag wirklich gelebt — 
es hat keinen Tag für mich gegeben, an dem ich ein 
richtiger Menſch ſein durfte, keinen einzigen! — — — 
Doch das habe ich Ihnen gewiß ſchon hundertmal er⸗ 
zählt.“ 

„Und ich bin —“ 

Die Gräfin ergriff Skrams Hand und drückte ſie leicht. 

„Sie, lieber Skram, ſind verliebt in mich geweſen, 
als der nette, wohlerzogene Juriſt, der Sie ſind. Ohne 
Sie wäre ich geſtorben im letzten Winter, als Onkel 
Julius' Tod uns zwang, uns hier niederzulaſſen. Ich 
bin Ihnen herzlich dankbar, lieber Skram. Ihre Ver⸗ 
liebtheit hat mich recht erwärmt. Ja, das hat ſie wirk⸗ 
lich, ich wäre ſonſt geſtorben vor Kälte. Sie ſehen, 
Sie haben auf zweifache Art mein Leben gerettet. 
Nun ſollen Sie mich noch einmal retten.“ 

Die Hand der Gräfin lag in der ſeinen; er führte 
ſie an ſeine Lippen. 

Sie lachte. 

„Armer Skram, Sie ſind wirklich verliebt. Zürnen 
Sie nicht, daß ich es ſage, aber verliebt in mich ſind 
alle. Auch Henrik — der arme Henrik! Es hilft ja 
alles nichts — kein bißchen.“ 

„La belle dame sans merci,“ ſagte Skram, dem 
jetzt wirklich warm geworden war. 

Die Gräfin ließ wieder ihr kurzes, klingendes Lachen 
hören. 


ER re 


„Ich werde Ihr Cello ſehr vermiſſen,“ ſagte fie 
dann. „Aber wiſſen Sie, Skram, zu Ihrem eigenen 
Nutzen will ich Ihnen ſagen, daß Sie noch ein andres 
Inſtrument erlernen müſſen, wenn Sie Ihr Dafein 
nicht als Hageſtolz beſchließen wollen. Könnten Sie 
ebenſo ſchön, wie Sie Cello ſpielen, auch Violine 
ſpielen, dann, glaube ich, hätte ich mich wirklich in 
Sie verliebt. Tolſtoj redet von der gefährlichen Violine 
— und Tolſtoj hat recht. Denn als Duett für Klavier 
und Cello konnte ſelbſt die Kreuzerſonate nicht gefähr⸗ 
lich werden. Nicht wahr, Skram?“ 

Und die Gräfin lachte wieder — leiſe, mit etwas 
neckendem Beiklang. 

„Doch nun genug der Dummheiten. Der Ernſt 
tritt wieder in ſein Recht, und Sie ſind wieder der 
ſteife Amtsrichter, der die Diebs⸗ und Mordgeſellen 
verhört, wenn es ſolche Leute in dieſem ſittſamen Lande 
gibt. Henrik und ich wollen, wie geſagt, geſchieden 
werden, und Sie ſind derjenige, der dafür ſorgen ſoll. 
So will auch Henrik es haben.“ 

„Werden Sie dann verreiſen, Gräfin?“ 

„Verreiſen? — Ja, gewiß. Nach Paris.“ 

„Allein?“ 

Die Gräfin zog die Brauen zuſammen. „Ich will 
Sie darauf aufmerkſam machen, daß dieſes hier eine 
Vertrauensſache iſt, aber Sie müſſen mich nicht fragen, 
was ich in Zukunft zu tun gedenke; denn das ſage ich 
nicht. Und fo viel wiſſen Sie ſchon von mir, Skram, 
daß wenn ich etwas nicht ſagen will, ich es auch nie 
und nimmer ſage, ſelbſt wenn man mich auf ein glühen⸗ 
des Eiſen legte.“ 

Das wußte Skram — Gräfin Polly war ſtärker 
als alle Menſchen, die er getroffen hatte — einen viel⸗ 
leicht ausgenommen: Helmut Viffert. 

Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. 

„Reiſt Helmut Viffert mit nach Paris?“ 

Die Gräfin erhob ſich haſtig. 

„Sagen Sie das noch einmal, und ich reiſe auf 


2. 


der Stelle nach Kopenhagen und laſſe alles von dem 
alten, pedantiſchen Advokaten ordnen. Über meine 
Vergangenheit wiſſen Sie nichts, Skram, die Gegen⸗ 
wart kennen Sie — meine Zukunft aber gehört mir, 
mir allein!“ 

„Vergebung,“ ſagte Skram. Er begriff, daß das, 
was ſie ſagte, ihr ernſt war. „Ich muß nur noch der Form 
wegen wiſſen, warum Sie von Ihrem Manne getrennt 
zu werden wünſchen. Es iſt nur eine Formſache.“ 

Gräfin Polly lächelte. „Das Ganze war ja nur 
eine Formſache — meine Heirat mit Henrik ſelbſt. 
Ich wollte gern Gräfin ſein, und wenn der Name 
Eiſenbart auch wunderlich klingt, ſo iſt er doch alt und 
angeſehen. Die Edelsburg iſt auch alt und angeſehen. 
Freilich — hätte ich gewußt, wie entſetzlich ſie ausſah, 
ehe ich Henrik veranlaſſen konnte, ſie umzubauen, ſo 
glaube ich kaum, daß ich ihn genommen hätte. Aber 
ich war damals krank an jenem ... jenem . .. nun, 
Sie kennen es nicht . . . und fo nahm ich Henrik ſchließ⸗ 
lich. Es war alles nur eine Formſache. — Henrik iſt 
ſtets unendlich gut gegen mich geweſen, viel zu gut. 
Und doch kann es nicht helfen. Schließlich iſt der 
Stammhalter auch das Wichtigſte für ihn, und da 
Henrik erſt ſechsunddreißig Jahre alt iſt, ſo kann er ſich 
ja noch einmal verheiraten.“ 

„Ihr Herr Gemahl liebt Sie doch aber, Gräfin,“ 
ſagte Skram ernſt. „Und das wiſſen Sie recht gut.“ 

Die Gräfin zuckte die Achſeln. „Das tun Sie ja 
auch, Skram, das tun ja alle zuſammen — haben es 
immer getan. Nur ich — ich ſelbſt habe noch nie — —“ 
Sie errötete leicht und ſchwieg. 

Skram wagte nicht, etwas zu ſagen. — — — 

In dieſem Augenblick klopfte es an der Tür, und 
ein Sekretär trat ein; er war aus dem Bureau des 
Richters gekommen, das dem Gartenzimmer gegen⸗ 
überlag. 

„Herr Kammerjunker Viffert möchte um eine Unter⸗ 
redung bitten,“ beſtellte er. 


M 


„Erſuchen Sie ihn, noch einen Augenblick zu 
warten.“ 

„Aber ſagen Sie ihm nicht, daß ich hier bin, Holm,“ 
fiel die Gräfin ein. 

Sekretär Holm verbeugte ſich tief und verließ das 
Zimmer. 

„Nun geh' ich, Skram, denſelben Weg, den ich ge⸗ 
kommen bin — über den See. Verſprechen Sie mir, 
Helmut kein Wort von dem zu ſagen, was ich mit Ihnen 
geredet habe, und erzählen Sie mir alles, was er Ihnen 
ſagt. Sie kommen doch heute zu uns zum Abendeſſen, 
nicht wahr? Nun gut, es wird eine Art Abſchieds⸗ 
ſchmaus ſein, denn ich reiſe ja bald. Mit dem Pfarrer 
habe ich ſchon geſprochen; der alte Faſelhans ſagte 
nichts dazu, und die weltliche Vermittlung können wir 
gut nach dem Kaffee vornehmen! Ich bin ſehr aus⸗ 
gelaſſen, nicht wahr? Ja, das rührt daher, daß jetzt 
alles vorbei iſt — vorbei!“ 

Und damit reichte Gräfin Polly dem Richter die 
Hand, die Skram zweimal küßte. 

Das war ſein Recht. 

Dann ſchritt ſie leichtfüßig über den Raſen zu den 
hängenden Weiden hinab, wo ihr Boot lag. 

Sie löſte es los und ruderte zum Schloß hinüber, 
das ſich im gelbgrünen Waſſer widerſpiegelte. 

Skram hörte, wie ſie beim Rudern ſang. Es ſchien 
ihm die Jubelarie aus dem Fauſt zu fein. — — 


II. 


Es dauerte einige Zeit, bis das Boot der Gräfin 
aus dem kleinen Kanal in den breiten Teich, der vor 
dem Schloſſe lag, geglitten war und hinter den hängen⸗ 
den Weiden verſchwand. 

Skram ſtand, ans Fenſterkreuz gelehnt, und ſtarrte 
zur Edelsburg hinüber. 

Alſo wirklich Scheidung! Nun hatte Graf Henrik 
ſeine Zuſtimmung gegeben, und nun war es vorbei — 


vorbei! Auch für Skram. Nun zog ſie hinaus in die 
große, weite Welt, und er — er konnte in die Haupt⸗ 
ſtadt zurückkehren, in ſeine Kanzlei und zu den gelben 
Konzeptbogen — den ihm ſo unſäglich gleichgültigen 
Akten. 

Die Edelsburg war ein Traum, und der Traum 
war nun zu Ende. 

Warum geſchah es eigentlich gerade jetzt? Sie 
erlaubte ihm nicht, danach zu fragen, und er wußte 
nichts von all den Dingen. Nur für ſie hatte er Augen 
gehabt — um die andern ſich nie gekümmert. 

Der Kammerjunker Viffert wartete draußen? — 
Nun, mochte er noch länger warten. 

Sollte es am Ende Viffert ſein, um deſſen willen 
die Gräfin ... aber nein, das war ja unmöglich — 
Solch ein halbergrauter Cyniker! Warum ſollte es dann 
auch gerade jetzt geſchehen? Die Leute erzählten ſich 
doch, daß ſeine Bekanntſchaft mit ihr älter ſei als ihre 
Ehe. Und dann konnte fie unmöglich ... nein, es 
war unmöglich. 

Oder war es vielleicht der junge Viffert, der Neffe 
des Kammerjunkers, der kürzlich den Waldhof gepachtet 
hatte? Der war freilich jung und ein ſchöner Mann, 
aber immerhin recht unbedeutend, zum Schweigen ge⸗ 
neigt, ein richtiger Landjunker. Die beiden ſprachen 
auch niemals miteinander. Sigismund Viffert konnte 
gewiß überhaupt nicht reden; er war wie befangen 
und von der ſchönen Schloßfrau geblendet. Das waren 
ſie allerdings alle, auch Graf Henrik, der ſie dennoch 
freigab — ſie ziehen ließ, wohin ſie wollte. 

Dort lag die Edelsburg, vom Sonnenlicht über- 
flutet — die Edelsburg mit den ſchweren roten Mauern 
und dem grünen Kupferdach, das lehensgräfliche Schloß. 
Dort war ihr Hof, an dem ſich der ganze Bezirk ver⸗ 
ſammelte und ihr wie einer ungekrönten Königin 
huldigte — ihr, der ehemaligen Miß Bradlaugh, einer 
jungen amerikaniſchen Schönheit, über deren Geſchichte 
man tuſchelte, ohne ſie zu kennen — der Gräfin auf 


1 


der Edelsburg, die alles Gerede in den Winkel drängte 
und überall an der Spitze ſtand — der Königin, die 
freiwillig ihr Szepter niederlegen wollte, um ihr Leben 
wirklich leben zu können. — 

Die grünen, hängenden Weiden umgaben wie ein 
Rahmen die roten Mauern des Schloſſes, die ſich im 
gelbgrünen Schloßgraben goldfarbig widerſpiegelten. 

Nach der Sage ſoll die Burg von der ſchönen Jung⸗ 
frau Edel Eiſenbart, der Maitreſſe des Königs Hans, 
erbaut worden ſein. Edel Eiſenbart war die Jungfer 
der Königin Chriſtina, bis ſie Herrn Torbe Bille hei⸗ 
ratete, der durch ſie ein großer Mann wurde. Herr 
Torbe Bille war ſehr duldſam und mochte die Huld 
ſeines Königs nicht entbehren. Daher war König Hans 
oft ſein und Frau Edels Gaſt auf Vordingborg. Wie 
die Sage berichtet, ſtand König Hans, als Frau Edel 
auf dem Siechenbett lag, an ihrer Seite, und als ſie 
mit ihm von ihren Gewiſſensqualen ſprach, ſagte der 
König: „Edel warſt du im Leben, und edel biſt du 
auch im Tod.“ 

Wie die Sage meldet, hat Frau Edel die Edelsburg 
aus den Einnahmen der Güter gebaut, die ſie vom 
König zum Geſchenk erhalten hatte. Ihr Geſchlecht 
war freilich zum Adelsſtande nicht geeignet, denn ihre 
Mutter war nur die Tochter eines Goldſchmiedes aus 
Neſtved geweſen; aber zu ſpäterer Zeit wurde einer 
ihrer Nachkommen in den Grafenſtand erhoben und 
die Edelsburg ihm als Grafſchaft verliehen. 

Das zugehörige Gut war ſehr groß, und nichts 
von ihm war während der langen Zeit veräußert 
worden. Außerdem gehörten noch etwa fünftauſend 
Morgen Waldland und zwölf prächtige Kirchen dazu. 
Graf Henriks Vater war ein großer Mann geweſen, 
einer der größten des Reiches, Graf Henrik ſelbſt aber 
war nur groß von Wuchs, breitſchultrig und ſtark, und 
dabei ſehr ſanften Gemütes. Er war die gute Stunde 
ſelbſt, wie man ſagt, aber anderſeits ſchwerfällig und un⸗ 
fähig, den Frauen zu gefallen. Er liebte ſeine Gattin 


12 


herzlich und näherte ſich ihr nur in tiefer Ergeben⸗ 
heit, als wäre ſie von feinerem Stoffe als er. 

Und dann hatte er ſie freigegeben, damit ſie nach 
zwölfjähriger Ehe ihr Leben genießen könne! — — 

Skram wandte ſich raſch um und ſchritt zur Tür, 
die ins Amtszimmer führte. 

Der Kammerjunker erhob ſich; er hatte ſo lange 
auf einem Stuhl am Pulte geſeſſen und mit dem 
Sekretär über Wind und Wetter geredet. 

„Treten Sie näher, Herr Kammerjunker,“ ſagte 
Skram. 

Und der Kammerjunker trat näher. — — 

Es gibt Männer, die ein langes Leben in den 
angenehmſten Verhältniſſen zubringen, die vom Reich⸗ 
tum bis zum Überfluß umgeben ſind und nur daran 
denken, dieſes Leben für ſich allein zu genießen. Solche 
Männer verheiraten ſich nie; ſie lieben viele Weiber 
ein wenig und ſich ſelbſt über alle Maßen. Sie kleiden 
ſich nach den letzten Forderungen der Mode, tragen 
goldene Ringe und Diamanten, reiſen viel — aber 
ſehen ſelten mehr als Hotels und Boudoire. Sie wiſſen 
viel über einige wenige, aber nichts über die vielen, 
und alles; was außerhalb ihres Intereſſenkreiſes lebt, 
exiſtiert nicht für fie. Sie arbeiten nicht; wenn man 
hoch rechnet, jagen ſie und ſpielen Karten oder wetten 
auf Vollblutpferde. Dennoch aber ſind ſie immer ge⸗ 
ſchäftig, ſo geſchäftig, daß ſie einen Kammerdiener 
haben müſſen, der ihnen in die Kleider hilft. Mit⸗ 
unter ſpielen ſie auch an der Börſe, aber nur, um 
Geld zu gewinnen, und nichts von ihrem ganzen Tun 
gereicht der Menſchheit zum Nutzen. Höchſtens, daß 
ſie ein paar Schneider ernähren, ein paar Aufwärter 
und einige leichtfertige Weiber, die auf ihre Koſten 
herrlich und in Freuden leben. 

Und wenn ſie ſterben, gedenkt niemand ihrer, ob⸗ 
wohl ſie zu Lebzeiten von jedermann gekannt wurden. 
Ihre Güter fallen entfernten Verwandten zu, die 
ſchon ſeit Jahren auf ihren Tag gewartet haben, auf 


— 13 


den Tod, den ſie ſelbſt ſeit langem fürchten und be⸗ 
kämpfen. 

Solch ein Mann war der Kammerjunker Helmut 
von Viffert. Er war Däne, hätte aber ſeiner Geſinnung 
nach auch ebenſogut Ruſſe oder Franzoſe ſein können. 

Er war mittelgroß, ſchlank und elegant und trug 
einen ſtarken ſchwarzen Schnurrbart, der im Verhält- 
nis zu dem dünnen, zierlich geordneten Haar und den 
etwas gerunzelten, ſchlaffen Zügen viel zu ſchwarz 
erſchien. Seine krumme Naſe beugte ſich mit feinen 
Flügeln über dieſen kohlſchwarzen Schnurrbart hinab, 
und ſeine braunen Augen rollten unter dichten Brauen. 
Ein Eſterhazy⸗Typus, wie man ihn in Monte Carlo 
ſowie — bei den Kellnern der großen Londoner Weſt⸗ 
endreſtaurants findet. 

Viffert hatte es verſtanden, ſich ſein Leben ein⸗ 
zurichten. Er, der Sohn eines ziemlich armen Guts⸗ 
beſitzers, war in ſeiner Jugend wegen der ſchlechten 
Streiche, die er verübt hatte, nach Amerika geſchickt 
worden. Hier debutierte er zunächſt als Cowboy, durch⸗ 
forſchte dann die Silberminen und wurde ſchließlich 
Abenteurer in New Pork. Er verſtand damals ſchon, 
mit Frauen umzugehen, und die Frauen würdigten 
ihn ihrer Aufmerkſamkeit. Eines ſchönen Tages war 
er reich, und er wußte ſeinen Reichtum feſtzuhalten. 
Er reiſte nach Europa und lebte eine Reihe von Jahren 
hindurch in Paris. Aus Höflichkeit machte man ihn 
zum Kammerjunker, und das war er bis auf den heutigen 
Tag geblieben. Er hatte keinen Ehrgeiz, ſondern nur 
eine gewiſſe Gemächlichkeit, grenzenloſen Egoismus 
und ſchließlich eine wahre Manie für ſeine Kleidung. 

Graf Henrik, der mehrere Jahre jünger war als 
er, hatte ihn in Paris getroffen, und die beiden waren 
Freunde geworden. Den jungen Grafen, der als neu⸗ 
gebackener Kandidat juris an die Geſandtſchaft in Paris 
berufen worden war, hatten Vifferts Lebensweiſe und 
deſſen Manieren höchlich geblendet, und Viffert hatte 
ſofort den Vorſatz gefaßt, den jungen Grafen gründ⸗ 


a 


lich zu verderben. Dies war ihm aber nur zur Hälfte 

gelungen: Graf Henrik hatte ſich verheiratet, und 
Viffert war Hausfreund auf Edelsburg geworden, 

ja mehr als das, behaupteten böſe Zungen, und man 

redete heimlich über mancherlei, ohne etwas beweiſen 

zu können. Viffert hatte jedenfalls auf Edelsburg 

ſeine eigenen Zimmer, in denen er ſich häuslich ein⸗ 

richtete, und mit jedem Jahr wurde ſein Aufenthalt 

länger. Schließlich rechnete man ihn zum Hauſe mit, 

und der Stammhalter nannte ihn Onkel. 

Man erzählte ſich, daß Graf Henrik verdroſſen über 
ihn und ſeinen ewigen Beſuch ſei; der Gräfin dagegen, 
fo hieß es, diene er als maitre de plaisir. Auf Wein 
und gutes Eſſen verſtand er ſich jedenfalls vortrefflich, 
und einen Kotillon konnte er anführen wie keiner. 

Und die Gräfin, die viel unter der Langweile zu 
leiden hatte, tanzte doch für ihr Leben gern. — — 

„Nehmen Sie Platz, Herr Kammerjunker,“ ſagte 
Skram und ſchob Viffert einen Stuhl zu. 

Der Kammerjunker rückte unruhig auf ſeinem Sitz 
herum; er fand ihn verteufelt hart, denn das Möbel 
ſtammte aus der Werkſtatt des Dorftiſchlers. 

„Liebe Obrigkeit,“ ſagte Viffert. „Ich komme in 
einer ſehr ernſten Sache zu Ihnen. Es iſt nämlich 
ein ganz verteufeltes Gefühl zu wiſſen, daß man das 
Spiel abbrechen muß, obwohl man noch Einſatz hat 
und ſehr gut weiß, daß die andern vergnügt weiter⸗ 
ſpielen werden. Aber was iſt da zu machen? Enfin 
c’est inévitable. Um es kurz zu ſagen: hier innen 
klopft es. Der Profeſſor nennt es mit dem geſchmack⸗ 
vollen Namen Arterioſkleroſe, und es äußert ſich da- 
durch, daß das Lebenslicht mit einem Male ausgeht, 
ohne daß man recht weiß, wie! Alſo muß man jeder⸗ 
zeit darauf vorbereitet ſein, aus dieſem Leben abzu⸗ 
reiſen, was ein recht verteufeltes Gefühl iſt. Geſetzt 
den Fall, es paſſiert gerade an einem — ſagen wir — 
intimen Ort — — ekelhaft, was? Ich kann es nicht 
laſſen, immer wieder daran zu denken, und das raubt 


— 15 — 


mir den ſo nötigen Appetit und die leider abſolut not⸗ 
wendige Andacht. Um es noch kürzer zu ſagen: ich 
will mein Teſtament machen.“ 

„Ah,“ ſagte Skram. 

„Jawohl,“ fuhr Viffert fort. „Ich möchte nach 
meinem Tode gern ein Wort mitzureden haben, wenn 
die Beute geteilt wird. Ich beſitze einiges Vermögen, 
wovon den verhungerten Eſeln aus dem Geſchlechte 
der Viffert nicht ein Groſchen zuteil werden ſoll. 
Als es vor Zeiten ſchlecht mit mir ging, ſind ſie ſo 
ſchofel gegen mich geweſen, wie ſie nur konnten, und 
als es dann aufwärts mit mir ging, ſind ſie vor mir 
gekrochen. Sie haſſen mich, und ich — ich verachte 
fie. Je les méprise — voilä tout!“ 

„Hm, Sie können über Ihr Vermögen verfügen, 
wie Sie wollen,“ ſagte Skram. „Sie haben ja weder 
Frau noch Kinder.“ 

„Nein, wenigſtens keine ehelichen Kinder,“ ſagte 
der Kammerjunker lachend. „Und die unehelichen ſind 
bereits bar ausbezahlt worden — Plebejer ſämtlicher 
Nationen. Die zählen nicht mit. Aber ich möchte 
nun gern wiſſen, ob man in ſeinem Teſtament alles 
beſtimmen kann, wozu man Luſt verſpürt.“ 

„Wenn es nicht gegen Geſetz und Ehrbarkeit ver⸗ 
ſtößt — gewiß. Und ich nehme nicht an, daß Sie, 
Herr Kammerjunker, gegen Geſetz und Ehrbarkeit ver⸗ 
ſtoßen wollen.“ 

„Durchaus nicht; fällt mir gar nicht ein. — Sie 
wiſſen wohl, als Seine Majeſtät der Satan alt wurde, 
da ging er in ein Kloſter. Das tue ich nun nicht, oh, 
nein, jamais — es müßte denn ein Nonnenkloſter ſein. 
Ich bleibe vielmehr dem Geſetz und der Ehrbarkeit 
treu und — — vermache der Gräfin Polly alles, was 
ich beſitze! Eines Tages nämlich — das weiß ich ganz 
genau — wird ſie ihrem gräflichen Gefängnis ent⸗ 
ſpringen, und dann, will ich, ſoll ſie die gewohnten 
Bequemlichkeiten nicht zu entbehren brauchen.“ 

Skram fuhr zuſammen. 


= 16 


„Jawohl, mon cher,“ fuhr der Kammerjunker fort, 
„ſie entſpringt dem Käfig, bricht einfach aus und läuft 
fort — nicht allein — auch nicht etwa mit Ihnen — 
o nein, ſondern mit einem ganz jungen Bürſchchen 
von glattem Angeſicht und ſo weiter.“ 

„Wollen Sie dieſen Ausbruch als eine Klauſel mit 
in das Teſtament aufnehmen laſſen. Er kommt einem 
Verſtoß gegen die Ehrbarkeit doch ſehr nahe.“ Skram 
verſuchte zu lächeln, aber ſein Lächeln fiel etwas bitter 
aus. 

„Keineswegs,“ ſagte Viffert. „Hören Sie bloß zu 
und ſchlagen Sie ſich im übrigen die Gräfin aus dem 
Sinn. Denn Sie, liebe Obrigkeit, ſind zu däniſch in 
Ihrer Art, und Polly wird niemals däniſch werden, 
wenigſtens nicht mit Ihnen. Nein, ſehen Sie, ich will 
Sie bitten, für mich ein Teſtament aufzuſetzen, wonach 
die Gräfin meine Univerſalerbin wird, ſelbſtredend mit 
der Verpflichtung, für meine Grabſtätte und das Obſe⸗ 
quium, ſowie für — meine letzte kleine Eroberung zu 
ſorgen. Doch eine Bedingung iſt an die Univerſal⸗ 
erbſchaft geknüpft: die Gräfin darf ſich niemals — 
nun paſſen Sie auf, jetzt kommt's — mit Sigismund 
verheiraten.“ 

Skram ſtutzte. 

Viffert lachte. „Ja, da ſtutzen Sie, liebe Obrig⸗ 
keit. Mais c'est vrai. Sie beſitzen nicht ſolche Augen, 
wie ich ſie habe; denn wo es ſich um Frauenzimmer 
handelt, da hab' ich förmlich einen ſechſten Sinn. Ich 
durchſchaue ſie ganz und gar, dieſe ſüßen Aſer. Das 
habe ich ſchon immer gekonnt, weswegen ſie mich auch 
niemals haben betrügen können. Keine einzige — 
Polly auch nicht. Wenn ſie alſo wirklich die Dumm⸗ 
heit begehen ſollte, Sigismund zu heiraten, ſo erbt 
ſie nichts.“ 

„Wer erbt denn dann?“ fragte Skram mit etwas 
heiſerer Stimme. 

„Dann — dann wird der Batzen geteilt. Er beträgt 
etwa ſechs⸗ bis ſiebenhunderttauſend — ja, ſo viel iſt 


— HT 


es — und wird in drei gleich große Teile zerlegt. 
Henrik bekommt einen — das wird ihn ärgern und die 
Vifferts erboßen; Leonie — Sie wiſſen doch, die kleine, 
flinke franzöſiſche Zofe der Gräfin bekommt den zwei⸗ 
ten Teil, denn ſie iſt meine letzte Eroberung. Ich weiß 
allerdings ſehr gut, daß ich ſie mit Henriks Kammer⸗ 
diener, Herrn Jörgen Madſen, habe teilen müſſen, aber 
wenn auch. Die beiden werden rein närriſch über 
das viele Geld ſein. Den Reſt ſchließlich löſen wir 
in eine unendliche Reihe von winzigen Legaten auf, 
ſo daß er ſozuſagen ganz verſchwindet.“ 

„Wann ſoll das Teſtament denn fertig ſein?“ fragte 
Skram geſchäftsmäßig. 

„Am liebſten wäre es mir, wenn es ſchon morgen 
fertig ſein könnte. Ich reiſe nämlich nächſtens nach 
Aix les Bains, um meine Gicht los zu werden, und 
der Teufel mag wiſſen, ob ich jemals zurückkehre. Die 
Arterioſkleroſe iſt eine ſchlimme Sache, und ich jappe 
mitunter ganz verwünſcht nach Luft.“ 

„Wohl beſonders nach Jagdanſtrengungen,“ ſagte 
Skram, um überhaupt etwas zu ſagen. 

„Ich gehe nicht mehr auf die Jagd,“ verſetzte Viffert 
ernſt. „Wiſſen Sie, es iſt komiſch, aber ich kann geladene 
Schußwaffen nicht leiden. Seit den letzten Jahren 
habe ich immer ſo ein merkwürdiges Gefühl: ich fürchte, 
daß ich mich noch eines Tages erſchießen, oder vom 
vierten Stock zum Fenſter hinausſtürzen oder vor eine 
Lokomotive werfen könnte. Wiſſen Sie, das iſt eine 
ganz verteufelte Sache, dieſe beſtändige Furcht, Selbſt⸗ 
mord zu begehen, und es bewirkt, daß ich mich nicht 
einmal mehr ſelbſt raſiere. Ich verſpüre nicht die 
geringſte Neigung, mir mit einem Barbiermeſſer den 
Hals abzuſchneiden, und dennoch fürchte ich, daß ich 
es tun könnte. Ja, Sie lachen darüber, aber für mich 
iſt es durchaus nicht ſpaßhaft, vielmehr habe ich ganz ent⸗ 
ſetzlich darunter zu leiden. Wenn es nicht ganz gegen 
die Mode wäre, ließe ich mir einen Vollbart ſtehen 


wie der nächſte Bauernknecht. Gegen Barbiermeſſer 
XXVI. 19. 2 


— 18 


hege ich geradezu Haß. Natürlich wird man auf dieſe 
Weiſe ſchließlich nichts andres als ein Idiot, und die 
Arterioſkleroſe hat ſomit möglicherweiſe die höhere Be⸗ 
ſtimmung, einen davor zu retten, ſich ganz und gar 
lächerlich zu machen. Denn das wäre in der Tat nicht 
übel, wenn ich, der alles für ſeine Geſundheit tut und 
ein kleines Vermögen für Badereiſen ausgibt, mir das 
Leben nähme. Und doch bin ich ſo: ich fürchte für 
mein eigenes koſtbares Leben und zittere gleichzeitig 
vor meinen etwaigen Selbſtmordsattentaten. Darum 
gehe ich auch nicht mehr auf die Jagd. Jawohl. — 
C'est ridicule.“ Und der Kammerjunker lachte mit 
trockener, heiſerer Stimme. 

Skram zuckte die Achſeln. 

„Sie meinen, es ſei Paralyſe im Anfangsſtadium?“ 
fuhr Viffert fort. „Nun, meinetwegen; jedenfalls iſt es 
Zeit, an ſein Teſtament zu denken.“ 

Viffert erhob ſich — elegant, elaſtiſch, trotz der 
ſchlaffen Züge. Nur gegen fünfzig Jahre alt und 
dennoch ſchon — fertig. 

Dies war Skrams Gedanke, den er aber nicht ver⸗ 
lauten ließ. Er verſtand wohl zu ſchweigen, und der 
Kammerjunker intereſſierte ihn ſchließlich auch nur als 
pſychopathiſches Phänomen. 

„Herr Kammerjunker,“ ſagte er, „meinen Sie 
aber nicht auch, daß man ſich arg darüber aufhalten 
wird, wenn Sie Gräfin Polly zur Univerſalerbin ein⸗ 
ſetzen?“ 

„Mag man nur,“ verſetzte Viffert mit philoſophi⸗ 
ſcher Ruhe. „Mich geniert es nicht, denn ich bin dann 
ja tot, und ſchließlich kann es auch nur meiner Eitelkeit 
ſchmeicheln. O, Sie hätten ſie bloß vor dreizehn bis 
vierzehn Jahren in Paris gekannt haben ſollen! Mer- 
veilleuse! Eine Friſche, ein Teint; als Mädchen, ver⸗ 
ſtehen Sie, noch in der Blüte — einzig und allein 
darum hab' ich nicht vergebens gelebt! Jetzt, lieber 
Freund — kein Vergleich — und dennoch — dieſe ver⸗ 
wünſchte Arterioſkleroſe, die iſt ihre Schuld, verſtehen 


N 


Sie, nur ihre. Denn es gibt keine Mannsleute, deren 
Herzklappen die excitation aushalten können.“ 

Skram verſpürte größte Luſt, dieſen Cyniker beim 
Genick zu nehmen, doch bezwang er ſich und ſagte 
kurz: „Wenn Sie die Gräfin Polly als junges Mädchen 
gekannt haben, warum haben Sie ſie denn nicht ge⸗ 
heiratet?“ 

„Das will ich Ihnen erklären, lieber Freund,“ ver⸗ 
ſetzte Viffert ſchmunzelnd. „Es iſt von jeher mein 
Prinzip geweſen, wenn ich ein ſchönes junges Mädchen 
traf, es wenn möglich mit einem meiner Freunde zu 
verheiraten. That is so convenient, you know, und 
ſpart einem eine gewaltige Menge Schererei. Man 
hat dann nichts zu tun, als die reinen Freuden zu ge⸗ 
nießen. Nun wiſſen Sie es. Setzen Sie demnach 
hübſch das Teſtament auf. Und nun au revoir.“ 

Der Kammerjunker ging, und Skram riß hinter 
ihm Türen und Fenſter weit auf. 

Dann ſtand er lange da und ſtarrte zur Edelsburg 
hinüber. Dieſer Lebemann war nicht der König Hans 
der Sage — nein, das war er in Wirklichkeit, der die 
Frau auf Edelsburg beſuchte. — Aber war es nicht 
mehr als ein Zufall, daß jener an demſelben Tage die 
Ausfertigung eines Teſtaments verlangte, an dem die 
Frau ihm, als der Obrigkeit, anvertraute, daß ſie ihrer 
eigenen Wege gehen wolle? 

Und war am Ende noch ein Dritter dabei beteiligt? 

„Verſprechen Sie mir, ihm kein Wort von dem zu 
ſagen, was ich geredet habe, und ſagen Sie mir alles, 
was er Ihnen ſagt.“ Das waren ihre Worte geweſen. 
So lautete ihre Order. 

Und Skram beſchloß, ihr zu gehorchen, ſoweit es 
ſich mit ſeiner Amtspflicht vereinbaren ließ. 


III. 


Gräfin Polly hatte einſt begehrt, daß die Edelsburg 
umgebaut werde, denn dieſe war ein pittoreskes, 


a0 


halbverfallenes Raubneſt geweſen, von dem nur die 
Hälfte bewohnbar war. Graf Henrik hatte das 
Schloß durch einen hervorragenden Architekten nach 
den Angaben ſeiner Gattin umbauen laſſen und es 
im vollendeten Renaiſſanceſtil wiederhergeſtellt. Auf 
die Bewohnbarkeit war beſonders Rückſicht genommen 
worden, und die neue Edelsburg ſtellte ſomit einen 
kleinen Wunderbau dar. 

Beſonders prächtig war der Speiſeſaal. Die Balken 
der Decke waren mit reichem Schnitzwerk geſchmückt, das 
Wappenſchilde und Figuren bildete; alles war ſchwer 
vergoldet oder nach Art des Ratshauſes zu Siena 
bemalt. Die Wandſtücke zwiſchen den Fenſtern beſtanden 
aus altertümlichem Kirchengetäfel, das man von über⸗ 
all her zuſammengetragen hatte; in Mannshöhe lief 
ein breites Geſims an den Wänden entlang, und ſeltene 
venezianiſche Gläſer, Rheinweinkruken und ſchwere 
Silberpokale ſtanden darauf. Die Tapete aus echtem 
Goldleder war kaum zu ſehen, da rings an den Wänden 
die Bilder der früheren Beſitzer der Edelsburg hingen — 
teils Originale aus flämiſcher Schule — teils Kopieen 
von Galeriebildern, ſowie echte Jens Juelſche Werke. 

Zwei mächtige florentiniſche Kronleuchter hingen 
von der Decke herab, die dadurch in drei Abſchnitte ge⸗ 
teilt wurde. Das große bunte Glasfenſter, das am 
Ende des Saales gegen Süden ging, war nach der 
Zeichnung eines Malers — einer Kopie des Altar⸗ 
bildes der Kirche zu Odenſe — in New Pork ange- 
fertigt worden und ſtellte den König Hans mit der 
Königin Chriſtina und ihren Kindern dar. Die blei⸗ 
gefaßten Scheiben mit ihren bunten Farben ließen das 
Licht kirchenartig hereinfallen und verliehen dem Saal 
etwas Ernſtes, Erhabenes. 

Der Tiſch, der in der Mitte des Saales unter den 
Kronleuchtern ſtand, war an dieſem Nachmittag zum 
Sechsuhrdiner gedeckt worden. Zu den vier gegen 
Weſten gehenden Fenſtern ſandte die Sonne ihre 
grellen, vom Widerſchein des Grabens verſtärkten 


Strahlen herein. Außer den zum Haufe gehörenden 
Dienern waren nur der Graf, die Gräfin, die beiden 
Vifferts, Skram und der Kreisarzt Kühn — er ſelbſt 
nannte ſich Hofarzt — zur Stelle. 

Der Tiſch war mit einer Unmenge von Blumen 
geſchmückt, die aus hohen vergoldeten Empirevaſen 
hervorſchauten und um einen Auſſatz mit ſteifen 
Göttern und Göttinnen gruppiert ſtanden, die ſich in 
ovalen Glasfeldern beſpiegelten. Zum Schmücken des 
Tiſches brauchten zwei Gärtner unter eigner Aufſicht 
der Gräfin täglich vier Stunden, und es war ihre 
Aufgabe, jeden Tag eine andre Anordnung zu er⸗ 
ſinnen. Das Hauptaugenmerk wurde darauf ge⸗ 
richtet, Schutz und Deckung des einzelnen gegen 
den Gegenüberſitzenden zu ſchaffen. Die Gräfin 
liebte eine intime Unterhaltung, und es machte ihr 
viel Freude, durch hohe Blumendekorationen in der 
Mitte des Tiſches das Treiben der Ehemänner vor den 
ja ſo leicht eiferſüchtigen Gattinnen auf der andren 
Seite zu verbergen. Sie verſtand es meiſterhaft, die 
Plätze der Tiſchgäſte zu ordnen. Immer ſorgte ſie 
dafür, daß die jungen Ehemänner auch junge und leb⸗ 
hafte Tiſchdamen erhielten, während ſie den jungen 
Frauen die älteren Honoratioren zuſchob. Sie ſelbſt 
ſaß am Ende des Tiſches, von wo aus ſie — dank der 
Zweckmäßigkeit, mit der die Blumen arrangiert waren — 
das Ganze überſchauen konnte. Von dieſem Über⸗ 
blickspunkt aus fachte ſie das Feuer der Unterhaltung 
durch kleine neckende Zwiſchenrufe zu beſtändigem 
Glimmen an. 

Intereſſe hatte ſie nur für die Herren — Damen 
fand ſie langweilig, und ſie tyranniſierte ſie vermöge 
ihrer Würde als Schloßherrin. 

An dieſem Tage hatte ſie am einen Ende des 
Tiſches einen kleinen geſchützten Winkel für ſich und 
zwei Herren arrangiert — für Skram, den ſie ſelbſt 
an den Tiſch zog und durch beſondere Liebenswürdig⸗ 
keit auszeichnete, und für Sigismund Viffert, der vor 


Bewunderung, mit der er fie anſtarrte, faſt das Eſſen 
vergaß. 

Graf Henrik ſaß ihr gegenüber am andren Ende des 
Tiſches und wurde von dem Kammerjunker und dem 
Kreisarzt flankiert. 

Ab und zu flogen Vifferts ſcharfe Bemerkungen 
über die Blumenhecke herüber — wie Tennisbälle 
über ein Netz — und die Gräfin ſandte ſie zurück, häufig 
ſo kräftig und geſchickt, daß er ſie behalten mußte; aber 
hin und wieder gelang es auch ihm, den Ball ſo ge⸗ 
ſchickt zu werfen, daß ſie ihn behalten mußte. Skram 
fand im ſtillen, daß das Duell heute ſchärfer geführt 
wurde als ſonſt. Schließlich aber wurde die Gräfin 
verſtimmt, und der Kreisarzt übernahm die Leitung 
des Geſprächs. 

Kreisarzt Kühn war ein älterer, martialiſch aus⸗ 
ſehender Herr mit einem Henriquatre. Er hatte die über⸗ 
legene Ruhe des Hausarztes, die er um ſo lieber hervor⸗ 
kehrte, als er ſich ſeiner ehemaligen Tätigkeit in der 
Hauptſtadt erinnerte; immerhin war ſein zwanzig⸗ 
jähriger Aufenthalt unter Bauern nicht ſpurlos an 
ihm vorübergegangen, und von Eleganz war an ihm 
nichts zu bemerken. Er liebte es, ein wenig dozierend 
zu reden und bei ſeinen eigenen Worten länger zu 
verweilen. Doch war er ein kluger Mann, und ſeine 
Paraden wurden in würdiger Weiſe vollführt. 

Außerdem war er ein eifriger Soziolog, und gegen 
Ende der Mahlzeit pflegte er mit Vorliebe ſich über 
ſeine verſchiedenen Themata auszuſprechen, die alle 
das Gepräge trugen, ſoeben aus Büchern geſchöpft 
zu ſein. Viffert gab ſeinen Senf dazu, ſo gut er konnte, 
und er ergänzte den Doktor nicht ſchlecht, denn der 
Kammerjunker hatte viele Menſchen und Städte ge⸗ 
ſehen und ihre Sitten kennen gelernt; nur beim 
Hauptbraten hüllte er ſich in apathiſches Schweigen. 

„Es iſt zweifellos ein Irrtum,“ dozierte der Kreis⸗ 
arzt, „anzunehmen, daß die Menſchheit ſich aus der 
Urſprungsform des Jägers zum Fiſcher, Hirten, No⸗ 


— 28 — 


maden und ſo weiter bis zum heutigen Städtebewohner 
entwickelt habe. Die Menſchen haben ſich mit ihrer 
Beſchäftigung immer nach ihrem Aufenthaltsort ge⸗ 
richtet, und alle Formen ſind zu allen Zeiten zugleich 
vorhanden geweſen. So iſt es ja noch heute. — 
Nehmen Sie beiſpielsweiſe den Jägertypus — alſo 
den Typus, der, um zu leben, das vernichtet, wovon er 
lebt, es geradezu ausrottet, ohne für Erneuerung zu 
ſorgen. Den Typus finden wir heute beim Krieger⸗ 
ſtande — beim Lehnsadel — ja, zum Beiſpiel, bei 
Ihnen, Herr Kammerjunker. Sie ſind von ausgepräg⸗ 
tem Jägertypus.“ 

Viffert lachte. „Ich ſpreche mit Papageno: Ein 
Vogelfänger bin ich ja!“ — ich und unſer braver 
Wirt.“ 

Der Kreisarzt goß ein großes Glas Bordeaux 
hinter ſeinen Henriquatre. „Der Graf gehört — be⸗ 
achten Sie wohl — trotz ſeiner Würde entſchieden zum 
Hirtentypus. Er pflegt und hegt das, wovon er lebt, 
er ſorgt für die Zukunft, verteidigt und baut auf. Er 
iſt der echte däniſche Bauerntypus, der Haupttypus 
in dieſem Lande. Nur infolge des beharrlichen Schaf⸗ 
fens der Bauerngeſchlechter ſind unſere alteingeſeſſenen 
Familien ſo wohlgenährt geworden.“ 

„Und ich?“ fragte die Gräfin, hinter der Blumen⸗ 
hecke hervorſehend. 

„Sie, Euer Gnaden ...“ 

„Papagena,“ fiel Viffert ſpottend ein. „Ent⸗ 
ſchieden Jägertypus. Die Obrigkeit dagegen iſt eine 
intereſſante Miſchung von denen, die das, wovon ſie 
leben, füttern, um es beizeiten zu ſchlachten; — ähnelt 
ſomit den Maſtviehzucht treibenden Bauern Jütlands 
und weicht von den Milchvieh ziehenden Bewohnern 
Seelands ab. Ungeheuer intereſſant.“ 

Der Kreisarzt hatte aufmerkſam zugehört und fuhr 
nun fort: „Es iſt intereſſanter, als Sie glauben, denn 
in dieſen Theorieen liegt eine Erklärung für die ganze 
gegenwärtige politiſche Lage Europas.“ 


— 24 — 


„Aha,“ unterbrach ihn Viffert, „nun wird es ver⸗ 
wickelt.“ 

„Ja, ſehen Sie,“ fuhr der Kreisarzt fort, „die 
ganze Bewegung in Rußland zum Beiſpiel kann man 
ſich daraus erklären, daß das Volk ein patriarchaliſches 
Hirtenvolk iſt. Die ſpeziell in Oſteuropa geltende Ge⸗ 
ſellſchaftsordnung ſetzt den Patriarchen zum Herrn 
über die Gemeinde, und ihm hat jeder zu gehorchen. 
Wird er nun zum Tyrannen, erweiſt er ſich als un⸗ 
erträglich, ſo räumt man ihn aus dem Wege, rottet 
ihn aus, bringt ihn um. Das geſchieht mit Hilfe der 
Bomben. Der Weſteuropäer dagegen — der Jäger, 
der ſeinem Weſen nach weit aggreſſiver iſt, hat nach und 
nach ganz andere Mittel gefunden, um ſeine Tyrannen 
zu zähmen. Er ſchafft Geſetze und Einrichtungen, 
die den Tyrannen beſtändig in Schach halten, ihn un⸗ 
ſchädlich machen und zum Volke herabziehen.“ 

„Hm, das klingt ganz plauſibel,“ ließ ſich Viffert 
vernehmen, „aber nach Ihrer Theorie, Doktor, müßte 
zum Beiſpiel Henrik, der doch zum Hirtentypus ge⸗ 
hört und auch ganz außerordentlich patriarchaliſch aus⸗ 
ſieht, derjenige unter uns ſein, der zur Bombe greifen 
würde, während zum Beiſpiel ich, der ich in ſoziolo⸗ 
giſchem Sinne Jäger bin, zum — na, ſagen wir, zum 
Mundwerk greifen würde.“ 

„Das meine ich auch,“ beſtätigte der Kreisarzt 
eifrig. 

Graf Henrik lächelte; er folgte der Diskuſſion ein 
wenig langſam und ließ ſich zum Denken reichlich Zeit. 

„Sie meinen alſo, daß ich, um mich von einem 
Tyrannen zu befreien, dieſen nach Hirtenweiſe um⸗ 
bringen würde?“ 

„Gott bewahre,“ ſagte der Doktor. „Ich meine 
ſelbſtverſtändlich nicht, daß Sie, Herr Lehnsgraf, einen 
Mord begehen könnten, aber Ihr Naturell würde 
zweifellos, ohne daß Sie ſelbſt darauf reagieren, Ihnen 
den Gedanken eingeben, jenen umzubringen. Nur als 
Ausweg. Ich zweifle natürlich nicht daran, daß Sie 


— 25 — 


noch niemals in einer ſolchen Lage geweſen ſind, 
aber“ 

Viffert unterbrach ihn. — „Da irren Sie ſich denn 
doch, Herr Kreisarzt, denn ich kann Ihnen berichten, 
daß unſer vortrefflicher Wirt, der Weichherzigſte aller 
Weichherzigen, eines Tages in Paris.“ 

„Aber Helmut!“ rief der Graf dazwiſchen, und ſein 
Geſicht wurde dunkelrot. 

„Passons au dessus de ga,“ ſagte Viffert und leerte 
ſein Glas. 

Dann wurde es ſtill am Tiſch. 

Das Deſſert war inzwiſchen herumgereicht worden, 
und die drei aufwartenden Diener hatten den Saal 
verlaſſen. So wünſchte die Gräfin es. 

Viffert brach zuerſt das Schweigen. 

„Um bei dem Hirtentypus zu bleiben, will ich be⸗ 
merken, daß dein getreuer Diener Jörgen — den unſer 
gelehrter Doktor auch als Hirten klaſſifiziert, denn er 
ähnelt dir ſo ſehr, daß ich mitunter an der ehelichen Treue 
der ſeligen Exzellenz Zweifel hege — es übrigens ganz 
genau ſo machen würde wie du. Wie du weißt — denn 
die gnädigſte Gräfin benutzt liebenswürdigerweiſe jede 
Gelegenheit, mich darauf aufmerkſam zu machen — 
intereſſiere ich mich ſtark für die kleine Leonie, die mich 
— ohne Prinzeſſin zu ſein — an Paris erinnert, an 
den einzigen Ort, wo ein Junggeſelle ein menſchen⸗ 
würdiges Daſein führen kann. Dieſe Jungfrau ſoll 
nun mit Jörgen feſt verlobt ſein! Seitdem ſich mein 
vortrefflicher Frangois mit einem Teil meines Bar⸗ 
geldes aus dem Staube gemacht hat, muß ich mich 
Tag für Tag vom Barbier Sörenſen unten am Markt⸗ 
platz mißhandeln laſſen, einfach weil ich es nicht zu⸗ 
laſſen kann, daß Jörgen mich barbiert. Ich habe be⸗ 
ſtändig das kribblige Gefühl, daß dieſer ‚Hirtentypus‘ 
noch auf den Gedanken verfallen könnte, mir beim 
Raſieren den Hals abzuſchneiden.“ 

Die Gräfin lachte. „Da können Sie ſehen, Doktor, 
was dabei herauskommt, wenn man gelehrt iſt. Nun 


— 26 — 


haben Sie unſere ganze Mittagsandacht geſtört und 
ſind vielleicht Schuld daran, daß Helmut noch eines 
Tages gegen alle Mode mit einem Vollbart erſcheinen 
und auf dieſe Weiſe ſchließlich einem Ziegenbocke 
gleichen wird.“ 

„Keineswegs, liebe Polly — keineswegs,“ erwiderte 
Viffert. „Von jetzt an werde ich mich ſelbſt raſieren. 
Ich will nämlich eine gewiſſe Nervoſität überwinden 
und verſuchen, ob ich es noch nicht vergeſſen habe. Schade, 
daß man in dieſem Klatſchneſt kein ordentliches Barbier⸗ 
meſſer bekommen kann, ich würde ſonſt gleich hier 
en famille mit der Übung beginnen. Auf Nachſicht 
des Publikums dürfte ich wohl rechnen, ſelbſt wenn 
das Reſultat nur ein mäßiges ſein ſollte.“ 

Graf Henrik, der anſcheinend wieder milder ge⸗ 
ſtimmt war, lächelte gutmütig. 

„Du weißt, Helmut, daß ich zwei Etuis mit vor⸗ 
trefflichen engliſchen Meſſern habe. Wenn du willſt, 
kannſt du eins davon nehmen.“ 

„Ho, ho, ho,“ lachte Viffert. „Sie haben recht, 
Doktor, nun kommt die Hirtennatur in Henrik zum 
Vorſchein. Er will natürlich, daß ich die Exekution 
wirklich vornehme. — Doch um von dieſen blutigen 
Dingen abzukommen — zu welchem Typus, Herr 
Doktor, meinen Sie, gehört eigentlich mein lieber 
Neffe Sigismund hier. Er hat, während wir bei Tiſche 
ſaßen, nicht ein einziges Wort geredet, ſondern ſich 
darauf beſchränkt, ſeine ſchöne Tiſchdame mit ein Paar 
Augen anzuſtarren, als ob er ſie verſchlingen wolle, 
während ſie, die ſich offenbar für Unterhaltungen 
über Barbiermeſſer nicht intereſſiert, ihm allerhand zu⸗ 
geflüſtert und freundliche Blicke zugeworfen hat. Iſt 
das nun Hirtennatur, oder Jägernatur?“ 

Da ſtieß die Gräfin heftig ihren Stuhl zurück und — 
hob die Tafel auf. — 


Iv. 


Die Sonne ſank, und die Luft war warm und ſtill. 
Paarweiſe ging man im Garten unter den großen, 
ſeltenen Bäumen umher — über den ſeidenweichen 
Raſen, der ſich zwiſchen Kanälen mit ſeltſam verzierten 
Brücken erſtreckte. 

Der Kreisarzt und Viffert disputierten noch immer 
über Menſchentypen, obwohl Viffert hin und wieder 
ſpähende Blicke nach der Gräfin und dem jungen Mann 
ausſandte, die ſich ſeiner Meinung nach viel zu weit 
entfernten. 

Der Graf ſtand, in tiefem Geſpräch mit Skram be⸗ 
griffen, auf einem Hügel an der Außenſeite des Parkes. 
Er redet mit gedämpfter, ernſter Stimme wie ein ſchwer 
bekümmerter Mann, deſſen Leid ſo ſtark iſt, daß er 
es nicht zu verhehlen vermag. 

„Sie hat alſo ſchon mit Ihnen geſprochen,“ ſagte 
er. „Es muß alſo wirklich ſein? — Skram, können 
Sie, der Sie doch viel klüger ſind als ich, mir nicht 
ſagen, wie ich es bloß anſtellen ſoll, um ſie zum Bleiben 
zu bewegen? Ich will es fo ... verſtehen Sie, ich 
will es.“ 

Skram wurde etwas verlegen. „Wie ich die Gräfin 
vorhin verſtand, war zwiſchen Ihnen ſchon die Ver⸗ 
abredung getroffen, daß Sie, Herr Graf, freiwillig..“ 

„Ja, freiwillig,“ unterbrach ihn der Graf. „Ganz 
recht, denn ſie zu zwingen, iſt mir natürlich nicht mög⸗ 
lich. Wenn ſie nun einmal gehen will, wie ſoll ich ſie 
da zwingen können? Aber ſie ſoll nicht gehen, ſie ſoll 
nicht. Sie glauben vielleicht, daß ich — wie ſoll ich 
ſagen? — kalt, ohne Gefühl oder dergleichen ſei. Das 
bin ich nun gar nicht. — Allerdings, was man Liebe 
nennt — ich ſage Liebe, um ein ſtarkes Wort zu ge⸗ 
brauchen — das iſt mir vielleicht fremd. Ich habe 
mich nie viel um Frauen gekümmert. Es iſt, wenn 
man ſo ſagen kann, nicht das Weib in ihr, das ich 
liebe, ſondern der Menſch, nur der Menſch. Und 


— 28 — 


mein ganzes Leben bricht zuſammen, wenn ich ſie ver⸗ 
liere!“ 

Skram wurde unruhig. 

„Ja, Herr Graf, da iſt es ſchwer, zwiſchen Ihnen 
und der Gräfin zu vermitteln, und wenn“ 

Der Graf legte ſeine ſtarke, große Hand auf Skrams 
Schulter und ſah ihm mit offenem Blick ins Geſicht. 

„Lieber Skram, ich weiß es gut: auch Sie ſind in 
meine Frau verliebt. Das ſind ja alle Männer, denn 
ſie will es ſo. Und ich verſichere Ihnen, daß ich keines⸗ 
wegs eiferſüchtig bin. Ich will auch nicht, daß Sie mir 
Ihr Vertrauen ſchenken — aber Sie haben nun ja von 
Geſetzes wegen mit der Sache zu tun. Darum will 
ich es rein herausſagen: Meinetwegen mag ſich meine 
Frau irgend eine Schwärmerei erlauben — beim Teufel, 
das iſt ehrlich geſprochen. Eine, wenn es ſein muß, 
auch zwei Schwärmereien, mag ſie haben; vielleicht 
ſind drei ſogar beſſer als eine. Aber bei mir bleiben 
ſoll ſie, denn ich kann ſie nicht entbehren. Sie verſtehen 
das vielleicht nicht. Das ganze Daſein iſt mir ſo gleich⸗ 
gültig; ich habe keine Triebe, habe niemals irgend- 
welche gehabt; aber in dem Augenblick, da man ſie 
von mir fortnimmt, ſchneidet man ein Stück aus meinem 
eigenen Fleiſch. Können Sie das begreifen?“ 

„Wäre es da nicht möglich, alles wieder in die alte 
Ordnung zu bringen?“ fragte Skram, ein wenig un⸗ 
ruhig. Er war im Grunde über die Vertraulichkeit 
des Grafen durchaus nicht erfreut. 

Dieſer ſchüttelte den Kopf. „Sie will nicht. Sie 
will nicht! Ich könnte Ihnen das Ganze erzählen — 
ſollte es vielleicht ſogar, aber ...“ er brach ab. 

Skram trat einen Schritt vor, und der Graf folgte 
ihm. Sie gingen die lange Lindenallee hinab, an 
deren Ende das von der Sonne dunkelrot beleuchtete 
Schloß lag. 

Der Graf redete langſam, als grabe er jedes einzelne 
Wort erſt hervor. „Die Schuld an allem hat nur Hel⸗ 
mut,“ ſagte er. „Ich haſſe Helmut, ja, ich haſſe ihn. 


— 29 — 


Und doch habe ich ihn ſo viele Jahre hindurch bei mir 
geduldet — weil ſie es ſo wollte, weil ſie ihn nicht ent⸗ 
behren konnte. Nach und nach hat ſich mein Haß auch 
abgekühlt. Schließlich mag ich alle Menſchen gern und 
bin zum Haſſen nicht geeignet. Ich habe es zu ver⸗ 
ſtehen geſucht und habe mich eingerichtet. Das kann 
man gut. Ich wenigſtens habe es gekonnt und bin 
eigentlich immer recht glücklich geweſen. Meine An⸗ 
ſprüche ſind beſcheiden, habe ich doch in mancher Hin⸗ 
ſicht mehr als ich nur irgend brauche. Ich ſage, ich 
mag alle Menſchen gern, aber alle Menſchen mögen 
auch mich gern, das ſehe ich täglich — hier auf dem 
Gut, in der Nachbarſchaft — überall; die Menſchen 
ſind alle gut und freundlich gegen mich — auch Polly, 
ja, Sie ahnen nicht, wie gut und zärtlich ſie gegen mich 
iſt. Und dennoch will ſie jetzt fort. Ich begreife wirk⸗ 
lich nicht, warum.“ 

Skram begann zu verſtehen, aber er war eine zu 
gerade Natur, als daß er ſich hätte teilen mögen. Wo 
er ſtand, da ſtand er ganz — und er ſtand auf ihrer 
Seite. Selbſtredend hielt auch er den Grafen für einen 
herrlichen Mann, einen ungewöhnlichen Menſchen, der 
vielleicht viel zu gut für dieſe Welt war und ſicher kein 
Geſchick zum Leben in ihr hatte. Aber dennoch fand 
Skram, daß dies hier über ſeine Kraft ging. Laß 
fahren dahin Ochs, Eſel und alle Güter, ſteht in der 
Schrift, aber das Weib, das man liebt, beſitzt man oder 
verliert man. 

Dagegen intereſſierte ihn des Grafen Verhältnis 
zu Viffert. Er mochte nicht direkt danach fragen, ſon⸗ 
dern beſchränkte ſich auf eine Andeutung: „Sie glauben 
alſo, daß Helmut Viffert hinter dem Ganzen ſteckt?“ 
ſagte er. 

„Genau weiß ich ja nichts,“ lautete die Antwort, 
„aber Polly ſagt, daß ſie reiſen, ihr Leben genießen — 
frei ſein wolle. Und der einzige, der ſie zu dieſen Ideen 
veranlaßt haben kann, iſt doch er!“ 

Skram war ungläubig. 


2 30 — 


„Glauben Sie wirklich, daß er der einzige iſt?“ 

Der Graf blickte verwundert auf, dann ſagte er: 
„Selbſtverſtändlich; ſonſt hätte ſie es mir doch erzählt. 
Sie erzählt mir ja alles. Ja, auch über Sie hat ſie mit 
mir geſprochen. Sie weiß gut, daß Sie eingenommen 
von ihr ſind, und ſie ſchätzt Sie auch ſehr. Nein, nie⸗ 
mals würde ſie etwas vor mir verbergen. Sie kennt 
mich ja und weiß —“ 

Am Ende der Allee tauchten die Gräfin und Sigis⸗ 
mund Viffert auf. Die Gräfin hemmte einen Augen⸗ 
blick lang ihren Schritt, als ob ſie zur Seite abbiegen 
wolle, doch dann ſetzte ſie ihren Weg fort und ſchritt 
den beiden gerade entgegen. 

Der Graf ſchritt raſcher aus. 

„Da iſt zum Beiſpiel der junge Viffert,“ ſagte er, 
„ein prächtiger, ſchöner Junge, den ich ſehr gern habe. 
Um ihn kümmert ſich Polly nicht im geringſten, denn 
ſie findet ihn dumm. Das iſt er allerdings gar nicht. 
Vielmehr iſt er außerordentlich begabt, nur etwas 
ſchweigſam. Schön, liebenswürdig und tüchtig iſt er 
auch. Aber dennoch langweilt er ſie geradezu.“ 

Skram warf einen verſtohlenen Blick auf den nach⸗ 
ſichtigen Ehemann, der das Vertrauen ſeiner Frau 
auch in ſolch ungewöhnlicher Hinſicht zu beſitzen glaubte. 
Es ſchien ihm, als habe der Kammerjunker Viffert — 
der Jägertypus — doch die richtige Spur gewittert. 

Aber er ſchwieg und beſchloß, Augen und Verſtand 
zu gebrauchen. 

Inzwiſchen waren die Gräfin und Sigismund zu 
ihnen herangekommen und folgten ihnen nunmehr zum 
Schloß hinauf. Jetzt aber ſchritt die Gräfin mit Skram 
voraus. 

„Was wollte denn Viffert vorhin bei Ihnen?“ 
fragte ſie. 

„Sein Teſtament machen,“ ſagte Skram ein wenig 
ſpöttiſch. „Er glaubt, ſterben zu müſſen.“ 

„So?“ rief ſie und blieb einen Augenblick lang 
ſtehen. „Wer ſoll ihn denn beerben?“ 


— 31 — 


„Das darf ich doch nicht ſagen.“ 

„Sagen Sie es dennoch,“ rief ſie befehlend und 
heftete ihren Blick auf Skram. 

Dieſer überlegte einen Augenblick lang, dann ſagte 
er: „Die Erben ſind: Ihr Mann und Leonie.“ — Das 
war nicht die volle Wahrheit. 

Die Gräfin wurde blutrot. — „Sigismund über⸗ 
geht er?“ rief ſie wie empört. 

Einen ſolchen Ausbruch hatte Skram nicht erwartet; 
aber eigentlich war er doch ganz zufrieden damit, und 
er beſchloß, nichts weiter zu verraten. Er glaubte, 
jetzt mitten in der Sache zu ſtehen und das Ganze 
beſſer begreifen zu können als irgend ein anderer. 

Es war klar, daß ſich der Knoten jetzt ſchürzte. 

Die Gräfin ſchritt eilig voraus; ſie ſprach kein Wort, 
und Skram erkannte wohl, daß ſie jetzt nur den einen 
Wunſch hatte, mit dem Kammerjunker Viffert zu 
reden. — 


V. 


„Nehmen Sie ſich eine recht lange Zigarre, — dieſe 
hier, das iſt eine echte Garcia und hält eine Stunde 
lang vor. Mich freilich würde ſie in fünf Minuten um⸗ 
bringen. Schenken Sie ſich nun noch einen Whisky nebſt 
Soda ein. Heute abend nämlich ſoll das Teſtament 
aufgeſetzt werden. — Aber entſchuldigen Sie noch einen 
Augenblick.“ 

Der Kammerjunker verließ das Turmzimmer, in 
dem Skram auf einem lederbezogenen Lehnſtuhl ſaß, 
und ging in das danebenliegende Schlafgemach. 

Skram ſah ſich im Zimmer um. Es war fünfeckig 
und mit Fenſtern, die nach Oſten und Norden gingen, 
verſehen. Die Wände waren mit Reproduktionen 
franzöſiſcher Kunſtwerke, ſowie mit Bildern von Pferden 
und Soldaten bedeckt. Über dem Sofa hingen „Tann⸗ 
häuſer im Venusberge“, ſowie eine Gruppe ſchöner 
Frauenköpfe von etwas banalem Stil. Zwiſchen den 
beiden Fenſtern, wo die Wand etwas ſchräg ſtand, 


3 


führte eine Türe auf die Turmtreppe hinaus. Sonſt 
hatte das Zimmer noch zwei Türen, eine, die auf den 
Korridor und eine, die in das Schlafzimmer, einen etwas 
kleineren Raum, führte. Die Zimmer lagen in der 
zweiten Etage, unmittelbar über den Schlafzimmern 
der Herrſchaft. 

Als Viffert wieder erſchien, trug er ein kurzes, 
kokettes Rauchjackett mit mehrfarbigem Schnurbeſatz. 

Gleich darauf klopfte es an der Tür. 

„Herein,“ rief Viffert ein wenig ärgerlich und fügte 
brummend hinzu: „Zu dieſer Stunde — in ſpäter 
Nacht — ſollte man doch meinen, ungeſtört ſitzen und 
ſchwatzen zu können.“ 

Es war Jörgen, der Kammerdiener des Grafen. 

„Nun, was wollen Sie, Jörgen?“ fragte Viffert 
und drehte ſich auf ſeinem Seſſel zu dem Diener herum. 

Jörgen hielt Viffert ein kleines Käſtchen entgegen. 

Viffert ergriff es. — „Ah,“ ſagte er, „das ſind die 
berühmten Barbiermeſſer. Hier ſehen Sie, Obrigkeit, 
dies nette Käſtchen mit ſieben feinen engliſchen Klingen.“ 

Skram nahm das Etui und betrachtete die Meſſer. 

Viffert war aufgeſtanden und beugte ſich über ihn. 

„Ah, ſehen Sie mal, da ſteht eingraviert: Sunday, 
Monday, Tuesday und ſo weiter, alle engliſchen Tages⸗ 
namen. Das iſt raffiniert. Jeder Tag hat ſein Meſſer, 
damit nicht das eine mehr abgenutzt werde als das 
andere. Das iſt ein hübſches Geſchenk — und der 
Graf wirklich ein netter Mann.“ 

Jörgen miſchte ſich nunmehr ins Geſpräch. — 
„Der Herr Graf hat genau ſo eine Kaſſette wie dieſe 
hier, und er benutzt die Meſſer Tag für Tag. Jeden 
Abend muß ich das zum nächſten Morgen paſſende 
Meſſer bereitlegen. So weiß der Herr Graf immer 
gleich, welchen Tag wir gerade haben.“ 

Viffert lachte. „Das gleicht ſeiner ordentlichen 
Seele. Nun, ſetzen Sie das Käſtchen auf den Tiſch 
dort und überbringen Sie dem Grafen meinen Dank. 
Grüßen Sie den Herrn und ſagen Sie ihm, daß ich 


verſuchen werde, ihm zum Gedächtnis mir mit einem 
dieſer vorzüglichen Meſſer den Hals abzuſchneiden.“ 

Jörgen verbeugte ſich ernſt wie ein Grab und nahm 
das Etui weg. 

„Stellen Sie es auf den Tiſch dort im Schlaf— 
zimmer,“ ſagte Viffert und fügte dann nach kurzem 
Nachdenken hinzu: „Hören Sie mal, ſind Sie der 
einzige, der noch auf iſt?“ 

„Nein,“ ſagte der Diener, „der Tafeldecker iſt noch 
nicht nach Hauſe gegangen.“ 

„Gut,“ verſetzte Viffert. „Sie ſollen beide zehn 
Kronen bekommen, wenn Sie eine halbe Stunde 
warten, bis ich Sie beide brauchen werde. Nicht wahr, 
Herr Amtsrichter, wir können das Teſtament noch heute 
abend erledigen; es ſind ja nur zwei Zeugenunter⸗ 
ſchriften nötig, und Sie ſelbſt ſind ja Notarius publi- 
cus.“ 

Skram lächelte. „Wollen wir nicht lieber bis morgen 
warten?“ 

„Nein, auf keinen Fall,“ erwiderte Viffert beſtimmt. 
„Es muß noch heute gemacht werden! — Alſo Sie 
warten, Jörgen?“ 

Dieſer verbeugte ſich und ging. 

Viffert ſchwieg, bis ſich die Tür hinter Jörgen ge⸗ 
ſchloſſen hatte, dann ſagte er mit leiſem, bitterem 
Lächeln: „Wenn ich — wie ich vorhin ſchon ſagte — 
dieſem vortrefflichen Diener und ſeinem noch vor⸗ 
trefflicheren Herrn wirklich die Freude machen muß, 
mir mit einem dieſer ſieben Meſſer die Pulsader zu 
durchſchneiden, ſo dürfte es ſich doch empfehlen, bei⸗ 
zeiten meine Papiere in Ordnung zu bringen.“ 

„Wenn es nicht geſcheiter wäre, dieſe Operation 
bis zum nächſten Tag zu verſchieben,“ fiel Skram ein. 
„Denn ehrlich geſagt, Herr Kammerjunker — ein Ding 
wiſſen wir Menſchen doch ganz genau, nämlich: daß 
uns der Tod nicht wegläuft! Und zweitens,“ fügte 
er hinzu, „irren Sie ſich wohl in Ihrer Annahme, daß 
der Graf Ihren Tod wünſchen könnte.“ ; 

XXVI. 19. 


— 34 — 


„Hier iſt Papier und Feder,“ ſagte Viffert. „Laßt 
uns nun endlich mit dem Teſtament beginnen.“ 

Skram nahm die Feder, tauchte ſie ein und ſchrieb 
mit ſeiner gleichmäßigen, eleganten Kanzleiſchrift nieder, 
was Viffert ihm am Nachmittage angegeben hatte. 
Es fiel ihm nicht einmal ein, zu fragen, ob der Text 
verändert werden ſolle; nur als er zu den Legaten ge⸗ 
kommen war, fragte er, wer damit bedacht werden 
ſolle, worauf Viffert bemerkte, daß das vom Teſta⸗ 
mentsvollſtrecker nach Gutdünken beſtimmt werden 
könne. „Es iſt gebräuchlich, zwei Teſtamentsvoll⸗ 
ſtrecker einzuſetzen,“ ſagte Skram. — „Gut, nehmen 
Sie noch Doktor Kühn hinzu. Der iſt ein vortreff⸗ 
licher, wenn auch etwas langweiliger Soziologe.“ 

Während Skram ſchrieb, ſaß Viffert und blätterte 
in einem Roman. Schließlich las Skram das Teſtament 
laut vor, und Viffert fand es ausgezeichnet. Nun wur⸗ 
den die beiden Diener gerufen, um als Zeugen das 
Teſtament zu unterſchreiben. Der Text wurde ihnen 
nicht vorgeleſen, vielmehr erklärte ihnen der Amts⸗ 
richter lediglich, daß er als Notarius fungiere. 

Das Teſtament nahm er gleich an ſich, um es in 
amtliche Verwahrung zu geben. 

Nachdem ſomit die Formalitäten erledigt waren, 
zog Viffert ſeine Banknotentaſche hervor und ſagte, 
indem er Jörgen einen Zehnkronenſchein reichte, 
lächelnd: „Nun können Sie Ihrer Liebſten erzählen, 
daß ſie, wenn mir etwas Menſchliches zuſtoßen ſollte, 
ein Vermögen erben wird, das Sie vielleicht noch zum 
Grundbeſitzer machen kann.“ 

Jörgen warf dem Kammerjunker einen ſcharfen, 
zornigen Blick zu, den Skram, ohne es zu wollen, 
auffing. 

Dann gingen die beiden Diener hinaus. 

„Es beginnt ſpät zu werden,“ ſagte Viffert, „und 
ich glaube, wir beide haben Ruhe nötig. Ich bin 
Ihnen ſehr dankbar dafür, daß Sie außerhalb Ihrer 
Bureauzeit den Amtsrichter gemacht haben. Ich 


Iren 


werde Sie jedenfalls nicht weiter plagen. Und nun 
gute Nacht.“ 

Damit reichte er Skram ſeine weiße, mit Ringen 
beſetzte Hand. Dieſer ergriff ſie und fühlte, daß ſie 
etwas feucht war; auch fand er, daß Viffert müde 
ausſah, und als er ſeine Hand losließ, faßte jener nach 
dem Herzen. 

„Sie ſehen müde aus,“ ſagte Skram. 

Viffert zuckte die Achſeln. „Das macht das Herz. 
Wenn man bloß ſeine Nachtruhe haben könnte; mit⸗ 
unter nämlich iſt es höchſt unbehaglich, ſtill dazuliegen 
und wie ein aufs Land geworfener Karpfen nach 
Luft zu jappen. Aber was ſoll man ſich beklagen! 
Man hat fünfzig Jahre lang die Freuden des Lebens 
genoſſen und muß daher auch die desagr&ments der 
nächſten fünfzig Jahre auf ſich nehmen, ha, ha! Das 
wäre in der Tat nicht übel, wenn ich nach Ihnen in 
die Grube fahren ſollte. Die Energie dazu habe ich 
jedenfalls. Das kann ich Ihnen verſichern!“ 

— — — Ekram ging. 

Es war ſchon ſpät, doch der Mond ſtand am 
Himmel, und als Skram an ſeinem Fenſter ſtand und 
zum Schloß hinüberſah, lag es von bleichem Licht um⸗ 
goſſen wie in tiefem Schlaf. Von Vifferts Fenſter her 
blinkte noch ein Schein über den Graben, und Skram 
glaubte, auch aus dem Fenſter der Gräfin, das genau 
unter dem Vifferts lag, einen ſchmalen Lichtſtreifen 
hervordringen zu ſehen. — 

Er war müde und ging gegen Mitternacht zur Ruhe. 


Erſtes Buch. 
Das Barbiermeſſer. 
I. 


Es war am nächſten Morgen um zehneinhalb Uhr, 
als Skram, der ein Aktenſtück durchlas, plötzlich den 
Kopf erhob und über den Garten hinweg nach dem 
Schloßgraben ſchaute. Was er ſah, war das kleine 
Boot der Gräfin, das ſich der Anlegeſtelle unter den 
hängenden Weiden näherte. Skram erhob ſich und 
blickte aufmerkſamer hin. Das Boot wurde von einem 
Manne gerudert, — nun legte es an, der Mann ſtieg 
heraus und machte es an einem der morſchen Pfähle 
feſt. Es war der Tafeldecker Ole Hanſen, der er⸗ 
graute Haushofmeiſter von Edelsburg. 

„Was mag er nur wollen?“ dachte Skram und 
nahm ſeinen Platz am Schreibtiſch wieder ein, während 
der alte Mann eilig über den Raſen ſchritt. Gleich 
darauf ſtand er im Bureau. 

„Entſchuldigen Sie, Herr Amtsrichter,“ ſagte er, 
„aber heute nacht iſt ein entſetzliches Unglück ge⸗ 
ſchehen.“ 

Skram fuhr in die Höhe. 

„Ja, der Herr Kammerjunker hat ſich entleibt.“ 

„Was ſagen Sie?! — Das iſt ja —“ Skram brach 
ab; er mußte ſich eingeſtehen, daß es eigentlich gar 
nicht ſo überraſchend kam, hatte er doch bereits daran 
gedacht, daß etwas Derartiges geſchehen könne. 

„Auf welche Weiſe denn?“ fragte er. 

„Er hat ſich mit einem Barbiermeſſer den Hals 
abgeſchnitten.“ 


FE, 


„So, jo," ſagte Skram nachdenklich. — „Wie 
fanden Sie ihn denn?“ 

„Ich habe ihn nicht gefunden, Herr Amtsrichter,“ 
ſagte der Tafeldecker, deſſen Stimme bebte wie bei 
einem Menſchen, der ſich lange darauf vorbereitet hat, 
etwas Entſetzliches zu erzählen, und es nun endlich 
ausſprechen darf. „Jörgen fand ihn, als er mit Raſier⸗ 
waſſer zu ihm hinaufging. Es war ſchon nach zehn 
Uhr, denn der Kammerjunker pflegte ſich nicht wecken 
zu laſſen, und es war ja auch ſchon ſpät in der Nacht, 
als der Herr Amtsrichter ihn geſtern verließen. Er 
lag in ſeinem Bett, als ob er ſchliefe, aber Jörgen 
ſah wohl, daß er am Halſe einen häßlichen Schnitt 
hatte, und das Bett triefte vor Blut.“ 

„Haben Sie ihn auch geſehen?“ 

„Nein. Jörgen rief mir wohl zu, zu kommen, denn 
ich war in der Nähe des Zimmers mit dem Silberzeug 
beſchäftigt, aber ich mochte die Leiche nicht ſehen, weil 
mir davor graute. Ich kam an Stelle deſſen gleich hier 
herübergefahren. Jörgen meinte auch, es wäre am 
beſten, wenn ich als der Alteſte das täte.“ 

„Na,“ ſagte Skram, „dann vermögen Sie alſo auch 
nichts weiter auszuſagen. Haben Sie nach dem Kreis⸗ 
arzt geſchickt?“ 

„Jörgen hat telephoniert. Es hieß, der Doktor werde 
ſofort kommen. Und Jörgen wollte ſo lange warten.“ 

„Hm — was ſagt denn der Graf dazu?“ 

„Der Herr Graf iſt ſchon früh des Morgens mit dem 
Inſpektor nach der Mooshofer Ziegelei gefahren, und 
die Frau Gräfin iſt um neun Uhr mit Johann, dem 
zweiten Kutſcher, ausgeritten.“ 

„Na, dann gehen Sie nur gleich zum Kreisarzt 
und ſehen Sie nach, ob er zu Hauſe iſt. Wir fahren 
dann alle mit dem Boot nach dem Schloß hinüber. — 
Hm, ob das Boot wohl vier Mann tragen kann?“ 

„O, gewiß,“ ſagte Hanſen. Dann eilte er zum 
Kreisarzt, deſſen Haus der Amtsrichterwohnung gegen⸗ 
über lag. 


— 238 — 


Skram öffnete die Tür zum Bureau, in dem ſich 
augenblicklich nur das Amtsperſonal befand. 

„Herr Holm,“ ſagte er, „das Teſtament, das Sie 
da bearbeiten, hat Kammerjunker Viffert wahrlich zur 
rechten Zeit aufſetzen laſſen. Wie mir eben mit⸗ 
geteilt wird, hat er ſich heute nacht den Hals abge⸗ 
ſchnitten.“ 

„Was?“ Der Sekretär ſprang auf. 

Skram zuckte die Achſeln. „Ja, geſchehen iſt ge⸗ 
ſchehen. Er iſt tot. Die Welt verliert nichts weiter an 
ihm, und nur wenige werden ihn betrauern. Es iſt wohl 
am beſten, wir gehen ſogleich hinüber und nehmen 
die Leichenſchau vor. Der Graf und die Gräfin ſind 
ausgefahren. Laſſen Sie Jenſen gleich zum Kranken⸗ 
haus gehen und eine Ambulanz beſtellen, wenn die 
Leute eine haben. Nehmen Sie das Protokoll und 
kommen Sie mit zum Boot hinab. Dort kommt auch 
ſchon der Tafeldecker mit dem Kreisarzt an.“ 

Der Polizeibeamte Jenſen erhob ſich eilig, um die 
Ambulanz zu beſtellen. 

„Aber, Jenſen,“ rief ihm Skram nach, „zu keinem 
ein Wort darüber reden! Die Sache muß geheim 
bleiben, ſolange es möglich iſt. Ich will nicht, daß die 
Blätter ſchon vor Zeiten mit ihrem Gewäſch beginnen.“ 

Der Kreisarzt trat ein. 

Skram reichte ihm die Hand. 

„Das iſt ja entſetzlich,“ ſagte der Doktor, „und ich 
bin geſtern abend eine ganze Stunde lang mit ihm 
ſpazieren gegangen und hab' nachher noch Billard mit 
ihm geſpielt, ohne etwas an ihm zu merken!“ 

„Hm,“ ſagte Skram, „ich habe ihm geſtern abend 
ein Teſtament aufſetzen müſſen, und da ſchien es mir 
allerdings, daß er Eile habe, mit der Sache zu Streich 
zu kommen. Und wenn ich noch in Betracht ziehe, 
was er mir geſtern abend erzählte, ſo bin ich über ſeine 
Tat gar nicht ſonderlich erſtaunt. Jetzt gilt es bloß, 
den Grafen und die Gräfin gegen das Gerede der 
Leute und das Gewäſch der Zeitungen zu ſchützen.“ 


=, JG = 


Der Sekretär ſtand mit dem Protokoll in der Hand 
zum Gehen bereit, und ſo begaben ſich die drei Herren 
zum Boot hinab, das der alte Ole Hanſen ſchon los⸗ 
gebunden hatte. 

Während ſie über den Graben ruderten, ſagte 
Skram lächelnd zum Kreisarzt: „Ich kann Ihnen übri⸗ 
gens etwas Erfreuliches mitteilen: Sie ſind zum Voll⸗ 
ſtrecker der Erbmaſſe ernannt, die ſich auf ſechs⸗ bis 
ſiebenhunderttauſend beläuft; das Honorar iſt alſo ſchon 
ganz mitnehmenswert.“ 

„Ich?“ fragte der Doktor und öffnete den Mund 
vor Erſtaunen. 

„Ja, Sie und meine Wenigkeit. Sie haben Viffert 
geſtern abend mit Ihrer Soziologie imponiert; Sie 
wiſſen ja, die Wiſſenſchaft macht ſich bezahlt. Wenn 
wir erſt mit der Leichenſchau fertig ſind, werden Sie 
etwas Intereſſantes zu erfahren bekommen. Doch 
davon ſpäter.“ 

Schweigend ruderten ſie weiter. 

Die Leiche des Kammerjunkers lag entkleidet im 
Bett — lang auf dem Rücken ausgeſtreckt wie im 
Schlaf, den Kopf halb von der Wand abgekehrt. An 
der linken Seite des Halſes ſaß eine klaffende Wunde, 
der rechte Arm hing zur Seite hinab und ſeine Hand 
hielt ein blankes, mit Blut beflecktes Barbiermeſſer 
loſe zwiſchen den Fingern. Das Laken war mit Blut 
benetzt und einiges davon über die Bettkante auf den 
Boden getropft. 

Der Arzt trat ans Bett und beugte ſich über den 
Toten. Die Geſichtszüge des Kammerjunkers waren 
ruhig, ſeine Augen feſt geſchloſſen, ſo daß es ausſah, 
als ſchlafe er; nur die Naſe trat ſcharf hervor, und der 
Bart zeichnete ſich grauſchimmernd über dem feſt ge⸗ 
ſchloſſenen Munde ab. Doch wenn man von der Wunde 
80 abſah, hatte der Tote nichts Unheimliches 
an ſich. 

„Skram,“ ſagte der Doktor, nachdem er ſeine Unter- 
ſuchung beendet hatte, „da ſtimmt etwas nicht.“ 


— 40 — 


Skram trat näher und betrachtete den Leichnam. 

„Sehen Sie, er hat ſich wie ein rechter Dummkopf 
benommen,“ fuhr der Doktor fort, „wenn man ſich 
den Hals abſchneiden will, ſo tut man es doch hier an 
der Seite, wo die Pulsader liegt. Dieſer Schnitt aber 
liegt ungefähr in der Mitte, von links beginnend, und 
ein ſolcher Schnitt verurſacht nimmermehr den Tod. 
Und dann ſehen Sie das Blut! Das iſt ja gar nichts, 
kaum ein kleines Waſchbecken voll, während es nach 
einem ſolchen Schnitt in Strömen gefloſſen ſein müßte. 
Ich kann nicht begreifen, wie dieſer Schnitt ihn ge⸗ 
tötet haben ſoll. Vielleicht, daß er ſich die vena 
jugularis verletzt hat, was ſeine Folgen für die Lungen 
gehabt hätte; das kann ich indes erſt feſtſtellen, wenn 
ich die Leiche geöffnet habe. Aber ſo ſieht die Sache 
höchſt merkwürdig aus. Der Mund iſt auch ganz ge⸗ 
ſchloſſen. Und die Augen — na, ja, das gibt ſich wohl 
noch. Das Meſſer hält er ganz regelrecht in der rechten 
Hand, leicht gefaßt — ſehen Sie, es hängt bloß zwiſchen 
den Fingern.“ 

Skram wandte ſich um. Im Zimmer ſtand außer 
ihnen nur der Sekretär Holm. 

„Das iſt wahr,“ ſagte Skram, „Jenſen kann noch 
nicht zurück ſein; denn der Weg außen um die Stadt 
herum und über den Schloßgraben iſt lang. Wo iſt 
Ole Hanſen?“ 

„Hier,“ rief der Tafeldecker aus dem Vorzimmer. 

„Dann kommen Sie herein,“ ſagte Skram. 

„Kann ich nicht davon befreit werden?“ erwiderte 
der Tafeldecker ängſtlich. „Ich bin ſchon ein alter Mann, 
und Jörgen iſt ja auch da.“ 

„Jörgen,“ rief Skram — doch dann überlegte er 
einen Augenblick lang. — „Nein, das geht doch nicht. 
Wir müſſen warten, bis Jenſen kommt.“ 

„Jörgen paßt doch aber ſehr gut zum Zeugen,“ 
meinte der Arzt. 5 

„Er iſt derjenige, der die Leiche gefunden hat,“ 
ſagte Skram, „und wird daher ſchon deswegen für 


ae 


ſich allein vernommen. Zum Zeugen können wir ihn 
nicht brauchen. — Kommen Sie herein,“ rief er dann 
Jörgen zu. 

Dieſer trat ein. 

Skram ſah ihn feſt an. 

„Haben Sie den Kammerjunker tot aufgefunden?“ 

„Ja,“ antwortete der Diener, deſſen Antlitz un⸗ 
beweglich, aber ſehr ernſt war. 

„Und Sie haben nichts an der Leiche verändert?“ 

„Nein, Herr Amtsrichter.“ 

Skram ſah ihn forſchend an, dann verſetzte er ruhig: 

„Konnten Sie den Kammerjunker leiden, während 
er noch lebte?“ 

Jörgen hob den Kopf hoch und erwiderte feſt: 
„Nein, Herr Amtsrichter, denn er war ein ſehr ſchlechter 
Menſch und hat uns alle geärgert. Mag ihm der Herr 
jetzt gnädig ſein.“ 

Der Kreisarzt ſtutzte. 

„Gut, Jörgen,“ ſagte Skram, „gehen Sie in die 
andere Stube.“ 

Nachdem ſich die Türe hinter ihm geſchloſſen, beugte 
ſich der Arzt über die Leiche. „Die Vene muß durch⸗ 
ſchnitten ſein,“ ſagte er, „denn bei einem Schnitt in 
die Pulsader wäre das Blut bis zur Decke geſpritzt. 
Ich kann die Sache nicht begreifen, aber natürlich liegt 
Selbſtmord vor; es kann nur Selbſtmord ſein.“ 

„Davon bin ich auch überzeugt,“ ſagte Skram. „Ich 
fragte Viffert ſelbſt geſtern abend, ob er daran denke, 
und ich hatte allen Grund zu einer ſolchen Frage. 
Über die Motive können wir ja ſpäter noch reden. 
Außerdem aber hatte er ein Herzleiden. Davon wiſſen 
Sie wohl?“ 

„Nein,“ verſetzte der Arzt — „er hat niemals dar⸗ 
über mit mir geſprochen. Er hielt nichts von den 
Arzten, wie er ſagte. — Herzkrank ſoll er geweſen ſein?“ 
fügte er kopfſchüttelnd hinzu. N 

Skram fuhr fort. „Der Gedanke liegt nahe, daß 
er in der Nacht einen Anfall bekommen und aus 


— 42 — 


dieſem Grunde und den andern Motiven ſeinem 
Leben ein Ende geſetzt hat.“ — — 

Der Polizeibeamte meldete ſich nunmehr, und ſo 
nahmen ſie ein Protokoll über den Toten und ſeine 
Lage im Bett auf. 

Skram nahm darauf das Barbiermeſſer betrachtend 
in die Hand und drehte es ſo, daß die Sonne ſich in 
der breiten Klinge ſpiegelte. 

„Komiſch,“ ſagte er, „geſtern abend erzählte er mir 
noch, daß er kein Barbiermeſſer in der Hand halten 
könne, weil er fürchte, vielleicht Luſt zu bekommen, 
ſich die Kehle abzuſchneiden, und als er geſtern dieſes 
Meſſer vom Grafen zum Geſchenk erhielt, ſagte er ——“ 

Skram ſchwieg plötzlich, wandte ſich dann um und 
ging zum Toilettentiſch, auf dem das Etui mit den 
Meſſern ſtand. 

„Sehen Sie mal, Herr Kreisarzt, da liegt Methode 
darin; auf dem Rücken dieſes Meſſers ſteht Tuesday. 
Und heute iſt auch richtig Dienstag. Er hat Ordnung 
in den Dingen haben wollen. Da können Sie die 
anderen Meſſer ſehen.“ 

Damit öffnete er das Etui und ſchaute die Meſſer 
an. Doch plötzlich ergriff er den Kreisarzt beim Arm. 

„Doktor,“ rief er erſtaunt, „was iſt das? — — 
Sehen Sie her — geſtern abend habe ich ſelbſt die 
Meſſer im Etui geſehen, und da waren ſie alle mit 
den Namen der Tage von Sonntag bis Sonnabend 
verſehen. Hier iſt nun das Meſſer, das wir in Vifferts 
Hand gefunden haben.“ 

Skram hatte ſeine Stimme zum Flüſtern herab⸗ 
gedämpft. Der Sekretär und Jenſen ſtanden im 
Vorzimmer, wo ſie das Protokoll auf dem Tiſch aus⸗ 
gebreitet hatten. 

„Herr Kreisarzt, die Sache ſtimmt nicht,“ ſagte 
Skram. „Sehen Sie ſich die Meſſer an, die hier im 
Etui liegen; auf ihnen ſteht: Sonntag, Montag, 
Dienstag, Mittwoch — — — Donnerstag fehlt — 
Freitag und Sonnabend. Donnerstag fehlt, und auf 


=, 15 


dem Meſſer, das ich hier in der Hand halte, mit dem 
Viffert ſich den Hals abgeſchnitten haben ſoll, ſteht 
Dienstag!“ 

Der Kreisarzt begriff nicht. 

„Ja, ſehen Sie,“ fuhr Skram in demſelben ge⸗ 
dämpften Tone fort, „ich habe dieſe Meſſer geſtern 
abend ſelbſt im Etui geſehen; und ich weiß beſtimmt, 
daß ſie alle mit dem Namen der Wochentage verſehen 
waren. Hier ſind nun zwar auch ſieben Meſſer, aber 
zwei davon ſind mit Dienstag gekennzeichnet, während 
das Donnerstagmeſſer fehlt.“ 

„Ich begreife nicht,“ ſagte der Doktor, „wie das 
möglich iſt.“ 

Skram flüſterte jetzt ganz leife. — „Unten auf dem 
Toilettentiſch des Grafen ſteht genau ſolch ein Etui 
mit Meſſern wie dieſes hier, und ich ſage Ihnen, in 
dem werden Sie zwei Donnerstagmeſſer, aber dafür 
kein Dienstagmeſſer finden. Verſtehen Sie jetzt?“ 

Der Arzt war bleich geworden. — „Das be⸗ 
deutet“ 

„Mord,“ vollendete Skram. „Der Mann da hat 
nicht Selbſtmord begangen; ſondern iſt ermordet 
worden.“ 

Der Kreisarzt ſchritt langſam zum Bett hin. 

Skram fuhr fort. „Ich erinnere mich deutlich, daß 
Viffert mir geſtern abend im Scherz vormachte, daß 
er ſich den Hals abſchneiden werde; und dabei 
führte er die Hand ganz richtig über die Pulsader an 
der rechten Seite, nicht aber wie der Schnitt ausgeführt 
iſt, über die Mitte.“ 

„Wer kann es aber begangen haben?“ 

Skram ſchwieg eine Weile lang. 

„Herr Doktor Kühn,“ ſagte er dann. „Sie und ich, 
wir ſind Amtsperſonen, und wir haben unſere Pflichten; 
außerdem ſind wir die Vollſtrecker des Teſtaments. 
Ich werde ſicher meine Pflicht tun, aber ich ſage Ihnen 
ſchon jetzt — wäre ich frei und ohne amtliche Verant⸗ 
wortung, dann würde ich dieſe Sache als Selbſtmords⸗ 


ar, Ka = 


ſache ſchließen. Ich weiß, was Sie fagen wollen, 
Doktor Kühn, aber Sie brauchen es nicht zu ſagen. 
Ich kenne meine Pflicht und werde danach handeln. 
Bloß um das eine bitte ich Sie: bewahren Sie Still⸗ 
ſchweigen über unſere Entdeckung, denn eben nur dann 
kann ich meine Pflicht tun. Wir nehmen eine geſetz⸗ 
mäßige Leichenſchau vor und geben Selbſtmord als 
Todesurſache an. Alle Umſtände zeugen dafür. Ver⸗ 
ſtehen Sie mich recht, nur dann kann meine Unter⸗ 
ſuchung von Erfolg begleitet ſein, wenn der Täter ſich 
in Sicherheit glaubt. Nur Sie und ich — und der 
Täter wiſſen, daß es Mord iſt. Für alle anderen iſt es 
Selbſtmord.“ 

Der Arzt nickte ſchweigend. — 

Noch vor Rückkehr des Grafen von ſeinem Ausflug 
war die Leichenſchau beendet und der Körper des 
Kammerjunkers auf einer Bahre ins Krankenhaus ge⸗ 
bracht worden, wo der Kreisarzt die Obduktion vor⸗ 
nehmen wollte. 

Das furchtbare Begebnis konnte nicht verborgen 
bleiben, und gegen Nachmittag redete die ganze Stadt 
von dem Selbſtmord des Kammerjunkers. Vom 
Schloß her aber war nichts zu erfahren, und das Kreis⸗ 
amt verweigerte jede Auskunft. 


II. 


Skram war ein tüchtiger Juriſt, der ſeine Examina 
glänzend beſtanden hatte. Seine Erziehung hatte in 
den Händen eines Vaters gelegen, der ſelbſt ein hervor⸗ 
ragender Juriſt war. Von früheſter Jugend an hatte 
er im Hauſe ſeines Vaters Gelegenheit gehabt, die be⸗ 
rühmteſten Richter des Landes zu ſehen und zu hören. 
Er ſelbſt war beim Kopenhagener Amtsgericht und 
darauf fünf Jahre lang beim Juſtizminiſterium tätig 
geweſen. Er verſtand feine Sache gut und war außer- 
dem ein gebildeter und ſehr beleſener Mann, der das 
Studium von Verbrechen zu ſeinem Lebensſtudium 


us 1 


gemacht hatte, aber auch gleichzeitig feine Zeit zum 
Studium von Menſchen benutzte. 

Skram war Ariſtokrat; er gehörte einem alten 
däniſchen Adelsgeſchlecht an; ſein Vater war konſer⸗ 
vativ, und das war er, wenigſtens in politiſcher Hin⸗ 
ſicht auch. — — 

Was die Sache betraf, die er jetzt vornehmen wollte, 
ſo fühlte er, daß dieſe das Einſetzen ſeiner ganzen Kraft 
verlangte. Unter Bewahrung völligen Stillſchweigens 
nach außen hin mußte ſie geführt werden. Er war 
überzeugt davon, daß hier ein Mord vorlag, aber den- 
noch beeilte er ſich nicht, ſeinen Verdacht gegen eine 
beſtimmte Perſon zu richten, ja, er kämpfte ſogar da⸗ 
gegen an, um nicht eine falſche Spur zu betreten. Er 
mochte mit keiner Hypotheſe beginnen, deren Wurzel 
in einem Umſtand außerhalb der Situation, wie er 
ſie zuerſt vorgefunden hatte, zu ſuchen war. Dadurch, 
daß er jeden Verdacht zurückwies, ſchloß er von vorn⸗ 
herein jeden Fehlgriff aus. Auf ſchnelles Handeln kam es 
hier nicht an, denn verwiſcht konnte die Spur, die er 
gefunden hatte, nicht werden. Sie beſtand nur aus 
einem Umſtand, der aufgeklärt werden mußte — aus 
einem einfachen, beweglichen Gegenſtand — dem ge⸗ 
fundenen Barbiermeſſer, das auf ſeinem Rücken den 
Tagesnamen Dienstag trug! Und das einzige, was 
er jetzt tun konnte, war, daß er das Etui ſowie das 
Meſſer, das in des Toten Hand geſteckt hatte, an ſich 
nahm. 

Während Jörgen bei der Tragbahre beſchäftigt 
war, ging Skram haſtig die Turmtreppe hinab, die zu 
den Schlafzimmern im erſten Stockwerk führte. Er 
öffnete die zur Wohnung führende Tür und ſtand im 
Schlafgemach der Gräfin, das unmittelbar unter 
Vifferts Wohnzimmer lag. 

Das Zimmer war mit reichlichem und ſtilvollem 
Luxus ausgeſtattet. Niemand war zugegen, und 
Skram, der die Wohnung bereits früher geſehen hatte 
und ſie daher kannte, ſchritt eilig zu der gegenüber⸗ 


. = 


liegenden weißladierten Tür, durch die er ins An⸗ 
kleidezimmer des Grafen trat. 

Hier ſtand ein großer Toilettentiſch dem Fenſter 
gegenüber. Auf dem weißen Tuch, das ihn bedeckte, 
lagen Bürſten, Kämme und allerhand koſtbare Toiletten⸗ 
gegenſtände — mitten unter ihnen neben einem blanken 
Metallſchälchen auch ein Barbiermeſſer, das genau dem 
glich, das er im Zimmer des Kammerjunkers gefunden 
hatte. Er nahm es betrachtend in die Hand — — auf 
dem Rücken der Klinge ſtand Donnerstag! 

Skram ſchaute ſich in der Stube um. Alles war in 
ſtrenger Ordnung gehalten, denn dem Grafen war 
jede Unordnung zuwider. Auf einer Etagere am 
Fenſter erblickte Skram einen kleinen Kaſten, der genau 
dem Etui glich, das er in der Hand hielt; er trat zur 
Etagere hin und öffnete das Käſtchen, und wie es 
ſein mußte, ſo war es: in dieſem Etuis lag noch ein 
zweites Donnerstagmeſſer, während das Dienstagmeſſer 
fehlte. 

Skram zögerte einen Augenblick lang; es war augen⸗ 
ſcheinlich, daß der Graf das Raſieren bis auf ſpätere 
Zeit verſchoben hatte; denn die kleine Metallſchale war 
noch unbenutzt, und das Meſſer anſcheinend erſt zum 
Gebrauch hervorgeholt worden. Demnach hatte der Graf 
die Abſicht, nach ſeiner Rückkehr ſeine Toilette zu voll⸗ 
enden, und er mußte dann entdecken, daß es nicht das 
richtige Meſſer war, er mußte entdecken, daß eine Um⸗ 
wechslung zweier Klingen ſtattgefunden hatte und 
dann — — — In einem Falle würde er ſchweigen, 
in einem Falle, den Skram bereits in Betracht ge⸗ 
zogen, doch unter die anderen Vermutungen zurück⸗ 
gewieſen hatte. In allen anderen Fällen würde er 
reden. 

Skram überlegte. Würde es ſich nicht empfehlen, 
das richtige Meſſer an die Stelle des falſchen zu legen? 
Sowohl er als auch der Kreisarzt hatten ja den ver⸗ 
dächtigen Fall konſtatiert; er gehörte bereits zu den 
Akten. Inſofern alſo würde das Umwechſeln der 


= 


Meſſer nicht ſchaden, doch in dieſem Falle griff Skram 
das Beweismaterial an und ließ einen Anhaltspunkt 
fahren, der unter Umſtänden von großem Nutzen ſein 
konnte. 

Was ſollte er tun? 

Er wandte ſich haſtig um und eilte durchs Zimmer 
der Gräfin zur Wendeltreppe zurück, die nach Vifferts 
Zimmer führte. Als er ins Turmzimmer eintrat, 
ſtand der Kreisarzt allein vor dem Bett und unterſuchte 
die blutbefleckten Bettſtücke. 

„Doktor,“ ſagte Skram, „kommen Sie mit.“ 

Sie ſchritten nun zum Ankleidezimmer des Grafen 
hinab, und während der Doktor verſtändnislos daneben⸗ 
ſtand, tauſchte Skram die Meſſer um, ſo daß die Klinge, 
die jetzt auf dem Toilettentiſch lag, den Vermerk Diens⸗ 
tag trug, wie es der Ordnung entſprach. 

„Doktor,“ ſagte Skram, „ich habe nicht Zeit, Ihnen 
den Grund dieſes Tuns zu erklären, ich will Ihnen 
jetzt bloß ſagen, daß ich meine Gründe dazu habe. Ich 
deute hier mit Bleiſtift die Stelle des Tiſches an, auf 
der wir das Meſſer fanden; dieſes ſtecken wir nunmehr 
in Vifferts Etui, in das es ſicher hineingehört. Ich 
bitte Sie, genau darauf zu achten. Warum ich dies 
tue, werde ich Ihnen ſpäter erklären. Wir können ja 
jetzt nach Hauſe gehen, und wenn Sie bei mir früh⸗ 
ſtücken wollen, werde ich mit ein paar Worten ver⸗ 
ſuchen, Sie in die ganze Situation hineinzuverſetzen. 
Das Barbiermeſſer iſt in Wirklichkeit die einzige Grund⸗ 
lage meines ganzen Wiſſens in dieſer Sache. Dieſe 
kann außerordentlich einfach und ſimpel ſein und bis 
Sonnenuntergang ihre Erklärung gefunden haben. 
Aber ebenſo gut kann ſie ſich auch ſehr verwickelt ge⸗ 
ſtalten und Ihnen und mir viel zu denken aufgeben, 
bevor wir ſie abſchließen können. Kommen Sie, wir 
wollen gehen; hier können wir ja doch nichts weiter 
ausrichten.“ 

So gingen ſie. 


III. 


Der Kreisarzt frühſtückte richtig bei Skram, und 
während der Mahlzeit ſprachen ſie über die Sache. 
Skram gehörte nicht zu denen, die gleich allen ihr volles 
Vertrauen ſchenken, aber in dieſer Sache war der 
Kreisarzt ſein Mitwiſſer, der einzige, den er in ſein 
Geheimnis einweihte. Dazu kam, daß Doktor Kühn, 
der vertretungsweiſe auch als Gemeindephyſikus fun- 
gierte, der einzige amtliche Arzt war, der mit dieſer 
Sache zu tun bekam. Er war ein freiſinniger und 
vorurteilsloſer Mann, ein Menſch, auf den Skram in 
jeder Hinſicht rechnen konnte. Aufs höchſte intereſſiert 
lauſchte er den Berechnungen des Richters und brummte 
ab und zu mißbilligend oder beiſtimmend. 

Als ſie im Gartenzimmer beim Kaffee ſaßen, fragte 
der Doktor: „Was wollen Sie nun eigentlich tun?“ 

„So wenig als möglich,“ erwiderte Skram. „Am 
meiſten Luſt hätte ich, mich bei der Bezeichnung ‚Selbit- 
mord“ zu beruhigen. Viffert war mir immer zuwider, 
und ſein Tod iſt ihm außerdem nicht unerwartet ge⸗ 
kommen. Schließlich gereicht ſein Ableben keinem 
Menſchen zum Verdruß, ſondern im Gegenteil allen, 
die davon überhaupt berührt werden, zum Nutzen und 
zur Freude, Sie, lieber Doktor, und mich nicht aus⸗ 
genommen. Nun iſt es jedoch eine komiſche Eigen⸗ 
ſchaft von uns Menſchen, daß wir rein inſtinktmäßig 
aus dem Selbſterhaltungstrieb der Geſellſchaft heraus 
uns gegen jede Art von Verbrechen wehren. Mir 
würde ſelbſt als Laien unzufrieden und unbehaglich 
zumute ſein, wenn ich wüßte, daß ein Mord in aller 
Stille als Selbſtmord ad acta gelegt werde. Als 
Amtsperſon nun gar kann ich mich ganz und gar nicht 
da hineinfinden, und als Behörde dieſes Ortes bin ich 
ja geradezu gezwungen, mich weiter mit der Sache 
zu befaſſen.“ 

„Das wollen Sie alſo auch tun?“ 

„Selbſtredend.“ 


198 


„Aber wo beginnen?“ 

„Das will ich Ihnen ſagen,“ erwiderte Skram. 
„Sehen Sie, Vifferts Zimmer liegt in der zweiten 
Etage, und die Tür zum Korridor war wie immer 
feſt verſchloſſen. Die Tür dagegen, die aus demſelben 
Zimmer auf die Wendeltreppe führt, war nicht ver⸗ 
ſchloſſen. Er hat mir einmal ſelbſt erzählt, daß er es 
nicht liebe, bei offenen Türen zu ſchlafen, aber ſich ander⸗ 
ſeits auch davor fürchte, bei einer etwaigen Feuers⸗ 
gefahr im Schlafe verbrannt zu werden, weil niemand 
zu ihm hätte dringen können; er ſchlief nämlich auf⸗ 
fallend feſt. Ja, der gute Viffert war ſehr beſorgt um 
ſein Leben, aber hier auf der Edelsburg — das geſtand 
er ſelbſt ein — fühlte er ſich einigermaßen ſicher, denn 
ſeine Tür zum Korridor konnte er verſchließen, die 
Tür zur Wendeltreppe dagegen ruhig offenſtehen 
laſſen. Aufwärts führt dieſe Treppe ja nur zum 
Zimmer der Kammerjungfer Leonie, abwärts aber 
zum Schlafzimmer der Gräfin, das nach dem Korri⸗ 
dor zu ebenfalls ſtets verſchloſſen iſt. In der unter⸗ 
ſten Etage ſchließlich liegt an der Treppe nur das 
Dienerzimmer, in dem Jörgen mit dem Dienerburſchen 
John wohnt. Sehen Sie, in dieſer Gruppierung haben 
wir alle Perſonen bei einander, die für einen Ver⸗ 
dacht in Frage kommen. John will ich aus dem Spiel 
laſſen.“ f 

„Und die Gräfin?“ fiel der Doktor ein. 

„Selbſtredend auch die Gräfin. — Es bleiben dem⸗ 
nach: der Graf, Jörgen und Leonie. Von dieſen iſt 
vor allen Jörgen verdächtig. Freilich iſt er ein tüch⸗ 
tiger Menſch, über den nichts Unvorteilhaftes bekannt 
iſt, aber er iſt der letzte, den ich mit Viffert zuſammen 
geſehen habe, und zugleich derjenige, der den Toten ge⸗ 
funden hat. Außerdem hat er ſelbſt — und auch Viffert 
— von dem leicht begreiflichen Haß, den er gegen den 
Ermordeten hegte, geredet. Ich habe ſelbſt gehört, 
wie Viffert ihm erzählte, daß er nach dem Tode des 
Kammerjunkers ein wohlhabender Mann ſein b, 

XXVI. 19. 


22 50 


und Viffert ſchlug ihm dabei ſcherzweiſe ſelbſt die 
Methode vor, nach der er den Erblaſſer umbringen 
ſollte, wie es jetzt ja auch geſchehen iſt. Und da Jörgen 
gerade derjenige iſt, der das Meſſer des Grafen bereit 
zu legen hatte und auch das Etui auf den Toiletten⸗ 
tiſch des Kammerjunkers geſetzt hat, ſo kann ihm ſehr 
leicht die Idee gekommen ſein, die Meſſer nach dem 
Morde umzutauſchen, um das Verbrechen zu verbergen. 
Der einzige ſchwierige Punkt hiebei iſt, daß er bei der 
Umwechslung die Tagesnamen nicht beachtet haben 
ſollte. Dies Verſehen iſt jedoch inſofern erklärbar, als 
die engliſchen Namen Tuesday und Thursday von 
einem Manne, der wie Jörgen nicht engliſch verſteht, 
leicht verwechſelt werden können. Seine Unwiſſen⸗ 
heit erklärt auch den ungeſchickten Schnitt. Es war 
ihm leicht, ſich ins Zimmer des Kammerjunkers zu 
ſchleichen, und ebenſo leicht, ſich wieder hinabzuſchleichen. 
Wie Sie ſehen, liegt ein prächtiges Indizienmaterial 
vor, das durchaus genügen würde, eine augenblickliche 
Verhaftung vorzunehmen. Der arme Jörgen iſt im 
Grunde genommen ganz wehrlos, und daher nehme 
ich es auch nicht eilig mit ſeiner Verhaftung. 

Was ſeine Liebſte betrifft, ſo liegt die Sache derart, 
daß man ſie nicht gut von dem Verdachte der Mit⸗ 
wiſſenſchaft befreien kann. Die Idee zu der Tat kann 
leicht in ihrem fixen, kleinen Kopf entſtanden ſein, und 
ſie hat ſich in den ſchönen däniſchen Diener ſicher 
ebenſo ſehr vergafft, als ihr der gräſige Kammer⸗ 
junker, mit dem ſie ſich nur aus finanziellen Gründen 
abgab, zuwider war. Sie können mir glauben, lieber 
Doktor, in neun von zehn Fällen würde es nicht nur 
klug gehandelt, ſondern einfach meine Pflicht ſein, hier 
mit Verhaftungen vorzugehen. Arreſt, Verhör, Auf⸗ 
wicklung der Indizien und des ganzen Tatbeſtandes 
könnten in acht Tagen mit Glanz erledigt ſein!“ 

„Warum tun Sie es dann nicht?“ fragte der Doktor 
aus einer mächtigen Rauchwolke heraus. 

„Weil Sie es auf eine ſolche bloße Vermutung hin 


a 


ebenfalls nicht tun würden. Keiner von uns mag 
einen Juſtizmord begehen, und außerdem haben wir 
uns bisher nur mit den Leuten der Dienerſtube und 
der Manſarde beſchäftigt. Die Herrſchaft im erſten 
Stock haben wir ganz außer acht gelaſſen!“ 

„Tja!“ rief der Doktor, ſtutzig geworden. 

„Wir nahmen vorhin die Gräfin aus. Schön, das 
will ich auch jetzt tun. Nicht etwa, weil ſie am Tode 
Vifferts kein Intereſſe hätte, denn ſie iſt ja ſeine Erbin. 
Aber es iſt mir einfach unmöglich, mir die Gräfin 
Polly als — Lady Macbeth vorzuſtellen. Wenn ich 
ſage unmöglich, ſo meine ich damit, daß dieſer Gedanke 
meine letzte Zuflucht iſt, wenn alle Stränge reißen, 
und daß ich dieſen Verdacht nur auf eine mündliche 
1 mit ihr, nicht auf Vermutungen begründen 
will. 

Mit dem Grafen dagegen iſt es eine andere Sache. 
Er hat mir ſelber erzählt, daß er den Mann haſſe; er 
bringt nämlich den Entſchluß der Gräfin, ihn zu verlaſſen, 
mit Viffert in Verbindung. Er hat ſich — als Hirtennatur, 
die er Ihrer Theorie nach iſt — ſicher oft mit dem 
Gedanken beſchäftigt, Viffert aus dem Wege zu räu⸗ 
men, und von der Überlegung zur Handlung führt 
nur ein Schritt. Um das Zimmer Vifferts nachts zu 
erreichen, mußte der Graf freilich das Schlafgemach 
der Gräfin paſſieren, aber dieſes iſt zweifellos nach 
ſeinem Zimmer zu unverſchloſſen geweſen. Schwerer 
läßt ſich der Umſtand mit den Meſſern erklären. Seiner 
ganzen Natur nach zu urteilen, dürfte er ein ſolches 
Verſehen kaum begangen haben. Daß er ſich, als er 
zur Tat ſchritt, mit einem Meſſer bewaffnet haben 
möchte, traue ich ihm ſchon zu, doch daß er ſich hinter⸗ 
her dadurch kompromittiert haben ſollte, daß er ein 
falſches Meſſer aus dem Etui nahm, das traue ich 
ihm nicht zu. Es iſt, wie geſagt, ein ſchwieriger Punkt. 
Und wenn ich vorhin die Meſſer auf dem Tiſch des 
Grafen umtauſchte, ſo geſchah es in der Abſicht, ihm 
eine Falle zu ſtellen.“ 


— 52 — 


„Sie halten ihn alſo wirklich für den Täter, ihn, 
den edlen, rechtſinnigen Grafen Henrik?“ 

„Den Hirten, ja,“ ſagte Skram lächelnd. „Aber ich 
ſagte Ihnen ja ſchon, daß ich einen beſtimmten Ver⸗ 
dacht auf niemand werfe. Ich meine bloß, daß er Grund 
zu dem Mord gehabt haben kann. In dieſem Fall 
muß er ſo aufgeregt geweſen ſein, daß er aus reiner 
Nervoſität den Fehler begangen hat, als er das Meſſer 
umtauſchen wollte. Wenn er nun nach ſeiner Rück⸗ 
kehr von der Ausfahrt das eigene Meſſer benutzte, ſo 
würde er nicht umhin können, den Fehler zu entdecken, 
und demzufolge gründlich auf ſeiner Hut ſein. Ich 
weiß ganz genau, daß ich geſtern abend die ſieben 
Klingen mit den Tagesnamen geſehen habe, aber was 
würde einem Manne wie dem Grafen Henrik Eiſen⸗ 
bart gegenüber, der Lehensgraf, Kammerherr und 
Danebrogritter iſt, der Verdacht eines jungen, ſoeben 
ernannten Richters zu bedeuten haben, der ſich zu be⸗ 
haupten unterfängt, nachdem er ein Diner von acht 
Gerichten nebſt den dazu gehörigen Weinen und Whis⸗ 
kys mit Soda eingenommen, mitten in der Nacht ein 
paar mattgeſchliffene Namen auf einigen Barbier⸗ 
meſſern geſehen zu haben? Und anders iſt es doch 
in Wirklichkeit nicht!“ 

„Nein,“ ſagte der Doktor, „da haben Sie recht. 
Aber anderſeits ſehe ich auch gar nicht ein, inwiefern 
die von Ihnen vorgenommene Umwechslung der 
Meſſer die Sache verbeſſert?“ 

„Dadurch erreiche ich etwas ſehr Wichtiges: ich 
verhindere, daß Jörgen, der ja auch der Täter ſein 
kann, aber, falls der Graf die Tat begangen hat, 
völlig unſchuldig iſt, in ein Geſpräch über die Meſſer 
hineingezogen wird. Beide zuſammen ſind ſie wohl 
kaum ſchuldig, und ſo würde es nicht zu umgehen 
ſein, daß ſie über den merkwürdigen Umſtand, daß 
im Etui des Grafen zwei Donnerstag⸗Meſſer ſtecken, 
miteinander reden. Und das will ich verhindern; es 
ſoll über dieſe Meſſer nicht eher geredet werden, als 


u 


bis der richtige Zeitpunkt gekommen ift. Der Schuldige, 
der den Tagesnamen auf dem Meſſer nicht beachtet 
haben kann — denn ſonſt hätte er das Verſehen nicht be⸗ 
gangen — ſoll nicht Gelegenheit haben, über die Meſſer 
zu reden, und der Unſchuldige ſoll in dem Glauben 
verbleiben, daß Selbſtmord vorliege — bis ich ſelbſt 
über den Mord zu reden beginne!“ 

„Das kann ſich freilich als klug erweiſen,“ ſagte 
der Doktor, „aber ich glaube dennoch, daß die Meſſer 
ein vorzüglicher Anhaltspunkt ſind.“ 

„Für mich, für uns, ja,“ unterbrach ihn Skram. 
„Sie liefern uns die nahezu abſolute Gewißheit, daß 
ein Mord begangen worden iſt. Ich kann mich nicht 
irren, das weiß ich beſtimmt, denn ich habe die Namen 
geſtern abend deutlich geleſen. Aber es beſteht ein 
Unterſchied zwiſchen den Momenten, die dem Wiſſen des 
Richters zu Grunde liegen, und den Momenten, die für 
Dritte einen Beweis bedeuten. Aus dieſem Grunde 
erleiden zahlreiche Unterſuchungsrichter mit Unrecht 
Schiffbruch in der öffentlichen Meinung, die mit Miß⸗ 
trauen auf die Richtervermutungen ſieht. Ich verlange 
niemals, daß andre an die Beweisgründe glauben, die 
ich nur mit meinen Augen ſehe. Was ich zu tun habe, 
iſt: die Meſſer ſo auszuſpielen, daß die Ausſagen der 
Verdächtigen ſie ſelber verraten, weil ſie meine An⸗ 
ſichten beſtreiten und ich kein Intereſſe habe zu lügen.“ 

„Wollen Sie die Meſſer denn jetzt noch nicht aus⸗ 
ſpielen?“ fragte Kühn. 

„Nein,“ erwiderte Skram, „ich will heute — und 
vielleicht auch noch morgen — Vifferts Tod für Selbſt⸗ 
mord gelten und keinen Verdacht durchblicken laſſen. 
Ich will nicht als Richter, ſondern als Freund des 
gräflichen Hauſes mit allen Bewohnern des Schloſ— 
ſes reden und von dem Barbiermeſſer ganz und gar 
ſchweigen. Und es müßte merkwürdig zugehen, wenn 
ich nicht vermittels der ſcharfgeſchliffenen Waffe, die 
ich in der Reſerve habe, bereits morgen mit aller 
Gewißheit davon reden könnte, worüber wir uns jetzt 


— 4 — 


nur in ſchlecht fundierten Hypotheſen ergehen können. 
Nehmen Sie nun die Obduktion vor; es iſt wohl am 
beſten, gleich jetzt die Sache zu beſorgen, bei der ich 
ja nicht zugegen ſein brauche. Dann will ich heute 
mit dem Grafen und der Gräfin reden und auch 
Jörgen und Leonie verhören.“ 

So ſchieden die beiden Herren und gingen an ihre 
Arbeit. 


IV. 


„Der Herr Amtsrichter mögen entſchuldigen, aber 
der Herr Graf iſt eben dabei, ſich umzukleiden.“ 

Skram ſtand in der Vorhalle des Schloſſes Jörgen 
gegenüber, den er hatte rufen laſſen. 

„Ganz gleich,“ ſagte Skram, „heute kann ich darauf 
nicht Rückſicht nehmen. Ich muß den Grafen ſogleich 
ſprechen.“ 

„Der Herr Graf iſt gerade dabei, ſich zu raſieren,“ 
ſagte Jörgen etwas unwillig; „es iſt unmöglich, ihn 
zu ſtören. Aber ich werde den Herrn Amtsrichter ſofort 
melden.“ 

„Sie bleiben hier,“ verſetzte Skram kurz und ſchob 
den Diener beiſeite. Nicht um alles in der Welt 
wollte er ſich dieſe Gelegenheit entgehen laſſen. 

Haſtig eilte er die Treppe hinauf und ſtand gleich 
darauf vor der Tür, die zum Ankleidezimmer führte. 
Nach einem kurzen, kräftigen Klopfen trat er ein. 

Der Graf ſtand vor dem Spiegel. Die eine Hälfte 
ſeines Geſichtes war eingeſeift, und in der Rechten 
hielt er ein Barbiermeſſer. Er blickte Skram etwas 
verwundert an, aber er war doch ein zu wohlerzogener 
Mann, als daß er ſeiner Verwunderung Ausdruck ge⸗ 
geben hätte. 

„Entſchuldigen Sie gütigſt, Herr Graf,“ ſagte Skram, 
„aber nach dem, was vorgefallen iſt, muß ich Sie 
dringend ſprechen.“ 

Der Graf machte nicht die geringſte Andeutung 
darüber, daß der Amtsrichter doch wenigſtens ſo lange 


— 55 — 


hätte warten können, bis er den Schaum vom Geſicht 
entfernt habe, ſondern deutete auf einen Stuhl und ſagte 
lächelnd: „Wenn ich hiemit bloß erſt fertig wäre! Wir 
haben ja heute genug Unglück mit einem Barbier⸗ 
meſſer gehabt.“ Und ernſter fügte er hinzu: „Um eins 
möchte ich Sie bitten, Skram, betrachten Sie alles, 
was ich geſtern ſagte, als nicht geſagt. Über die Toten 
nur Gutes, und am Grabe ſenkt man den Degen.“ 

Skram nahm Platz und betrachtete den Grafen der 
jetzt anfing, das Meſſer über die linke, unbarbierte 
Wange zu führen, von der Seite. 

„Da haben Sie ſich ja geſchnitten, Herr Graf,“ 
ſagte Skram. „Das iſt doch hoffentlich nicht meine 
Schuld? Sonſt bitte ich tauſendmal um Entſchuldigung.“ 

Der Graf ließ die Hand mit dem Meſſer ſinken. 
„Nein,“ ſagte er, „das tat ich, bevor Sie kamen. Es 
pflegt mir übrigens ſonſt niemals zu paſſieren, daß 
ich mich ſchneide, und ſeltſamerweiſe ſteht es auch 
noch mit dem armen Viffert in Verbindung.“ 

„Inwiefern denn?“ fragte Skram und hielt vor 
Spannung den Atem an. 

Der Graf wies auf den Toilettentiſch, und Skram 
ſah nun, daß ein zweites Meſſer auf der Platte lag, 
deſſen Klinge im Seifnäpfchen ruhte. 

„Ja, ſehen Sie, geſtern ſchenkte ich Viffert die 
unglückſeligen Meſſer, von denen er eines zu ſeiner 
ſchrecklichen Tat benutzt hat. Ich ſandte Jörgen geſtern 
abend damit hinauf, und ich erinnere mich noch, daß 
ich ſie vorher betrachtete. Aber dennoch kann ich nicht 
begreifen, wie das zugeht. Wir müſſen einige Meſſer 
vertauſcht haben, denn das Meſſer, das Sie dort 
liegen ſehen, gehört in das andre Etui hinein.“ 

Skram erhob ſich mit einem Ruck und griff nach 
der Klinge. 

Der Graf fuhr fort: „Meine eigenen Meſſer gleichen 
allerdings genau denen, die ich Viffert ſchenkte; ich 
hatte ſie bloß zu meinem eigenen Gebrauch noch ein⸗ 
mal extra abziehen laſſen. Wollen Sie ſehen, dieſe 


— 56 


Klinge iſt um eine Kleinigkeit — eine ganze Kleinigkeit 
— ſchmäler als die andre. Daher kam es, daß ich, der 
ich an dieſe Meſſer gewöhnt bin, mir mit dem andern 
einen kleinen Schnitt am Kinn beigebracht habe. Es 
hat abſolut nichts zu bedeuten; das Merkwürdige be⸗ 
ruht bloß darin, daß es gerade heute paſſiert und daß 
wir die Meſſer vertauſcht haben müſſen.“ 

Skram lauſchte atemlos. 8 

„Ich halte ſtreng darauf, daß Jörgen immer das 
Meſſer bereit legt, das dem Tage entſpricht; wie Sie 
ſehen, ſteht Tuesday auf der Klinge dort. Ich kann 
es mir nicht anders erklären, als daß Jörgen geſtern 
unter den Meſſern der beiden Etuis herumgekramt 
hat; der Unterſchied iſt ja auch nicht leicht zu be⸗ 
merken.“ 

„Die Meſſer, die Viffert erhielt, ſtimmen alſo nicht 
ganz mit dieſen überein?“ 

„Nein, das liegt am Abzug, aber ſie ſind auch gut, 
und —“ fügte er ernſt hinzu, „haben ſich ja leider 
als brauchbar erwieſen. Hätte ich gewußt, was Viffert 
vorhatte, dann hätte ich ſie ihm nicht gegeben.“ 

„Sie ſind alſo ganz ſicher darin, Herr Graf, daß 
dieſes Meſſer in Vifferts Etui hineingehört?“ 

„Ja, ohne jeden Zweifel. Das hab' ich gleich ge⸗ 
ſehen. Ich werde es Jörgen ſagen, denn ich mag es 
nicht gern haben, daß die Meſſer vertauſcht werden.“ 

Skram legte die Klinge auf den Tiſch. 

„Entſchuldigen Sie, Herr Graf,“ ſagte er, „aber 
als Polizeiverwalter muß ich Sie bitten, hierüber nichts 
zu Jörgen zu reden!“ 

„Was meinen Sie?“ rief der Graf erſtaunt. 

Skram räuſperte ſich. „Ja,“ ſagte er, „ich habe 
Ihnen zu berichten, Herr Graf, daß durch einen ganz 
wunderbaren Zufall der Kammerjunker ſich gerade mit 
einem Dienstag⸗Meſſer verletzt hat. Das Meſſer wie 
auch das Etui muß daher vorläufig in den Händen 
des Gerichts bleiben — alſo bei mir. Jörgen kann 
die Umwechslung daher nicht vornehmen, und ich muß 


EDER 


als Polizeimeiſter verlangen oder — richtiger, Sie 
bitten, niemand ein Wort darüber zu ſagen.“ 

Der Graf betrachtete Skram mit höchſt erſtauntem 
und ganz verſtändnisloſem Blick, und dieſer glaubte 
daher, ſich noch eingehender erklären zu müſſen. 

„Selbſtredend liegt durchaus nicht der Verdacht vor, 
Viffert habe etwa nicht Selbſtmord begangen. Im 
Protokoll iſt nichts darüber bemerkt worden, aber es 
dreht ſich nun einmal um den Tod eines Menſchen, 
und wir müſſen alle Möglichkeiten offen laſſen. Der 
Umſtand, daß der Selbſtmord nicht mit einem Meſſer 
aus Vifferts Etui, ſondern mit einem, das in Ihr 
Etui hineingehört, begangen wurde, iſt an ſich vielleicht 
bedeutungslos, aber mir als der Polizeibehörde hat 
nichts bedeutungslos zu ſein.“ 

Der Graf begann zu verſtehen. 

„Sie glauben doch wohl nicht, daß Jörgen. 
aber das iſt ja ganz ausgeſchloſſen!“ 

Skram unterbrach ihn. „Ich glaube durchaus nichts, 
Herr Graf, ſondern möchte Sie bloß bitten, niemand ein 
Wort hierüber zu ſagen, nicht einmal Ihrer Gnaden. 
Es tut nichts, wenn Sie und ich es allein wiſſen; ja, 
um Jörgens willen iſt es ſogar beſſer fo, denn wenn es 
herauskäme, ſo könnte das ſehr gefährlich für Jörgen 
werden. Sie erinnern ſich wohl ſelbſt, welche Worte 
geſtern abend bei Tiſch fielen. Ich brauche nur den 
Namen Leonie zu nennen.“ 

Nun verſtand der Graf alles. 

„Sie haben recht, Skram, ſelbſtredend haben Sie. 
recht. Ich werde kein Wort ſagen und das Meſſer 
werde ich ſelbſt reinigen. a 

Skram fiel ein: „Wenn Jörgen es ſelbſt entdecken 
und mit Ihnen darüber ſprechen ſollte, ſo wäre das 
der beſte Beweis, daß er unſchuldig iſt.“ 

„Unſchuldig?“ ſagte der Graf. — „Sie glauben alſo 
dennoch —?“ 

„Nein,“ verſetzte Skram, „ich glaube nichts, aber 
ich weiß, wenn derartiges in einem Hauſe wie dem 


u 8 


Ihrigen geſchieht, jo entiteht draußen immer ſehr viel 
Gerede, und vom Haufe ſelbſt follte nur jo wenig 
als möglich in die Öffentlichkeit gelangen. — Doch 
nun will ich nicht weiter ſtören, Herr Graf — denn 
aus dem Raſieren wird es doch nichts, ſolange ich hier 
bin.“ 

Skram lächelte und erhob ſich. „Ich werde in der 
Bibliothek warten.“ f 

„Wie Sie wollen,“ ſagte der Graf, „ich ſehe ſchon, 
daß wir hierüber noch bedeutend mehr zu reden haben 
werden, als ich gedacht hatte.“ f 

„Vielleicht,“ erwiderte Skram. „Auf mich können 
Sie jedenfalls zählen, Herr Graf, wie ich in jeder 
Hinſicht Ihnen vertraue.“ 

Der Graf neigte den Kopf und Skram ging. 

Und während er langſam den breiten Korridor 
hinabſchritt, ſprach er leiſe vor ſich hin: „Eins iſt jetzt 
jedenfalls gewiß — er iſt nicht der Täter!“ 

Dann lenkte er ſeine Schritte den Zimmern Vif⸗ 
ferts zu. 


V. 


Skram mußte zugeben, daß der Kammerjunker ein 
vorſichtiger Mann geweſen war. Die Gewißheit, daß 
ſeine Krankheit ſeinem Leben ein plötzliches Ende 
machen könne, ohne ihm Zeit zu Vorbereitungen zu 
laſſen, hatte ihn veranlaßt, alles zu vernichten, was 
nach ſeinem Tode ihn ſelbſt und andre kompromittieren 
könnte. 

Jedenfalls fanden ſich in ſeinen Behältern, die 
Skram ſorgfältig durchſuchte, nur alte, bedeutungsloſe 
Briefe und Rechnungen vor. Seine Wertpapiere 
waren nach ſeiner Angabe beim Credit Lyonnais in 
Paris deponiert, von dem er einen Kreditbrief über 
eine bedeutende Summe, ſowie ein Scheckbuch er⸗ 
halten hatte. 

Skram nahm das Scheckbuch zur Hand und blätterte 
darin, doch bei dem letzten abgeriſſenen Scheck hielt 


59 


er erſtaunt inne: auf dem zugehörigen Abſchnitt ſtand 
nämlich von Vifferts Handſchrift geſchrieben: Leonie 
Chaubert — zehntauſend Franken und das Datum 
des vorangegangenen Tages. 

Alſo hatte der Kammerjunker am vorigen Tage 
Leonie einen Scheck über zehntauſend Franken ge⸗ 
ſchenkt, was eine recht anſehnliche Belohnung für eine 
Zofe iſt, ſelbſt wenn man ſich ihr verpflichtet fühlt. 

Daß Viffert ihr für einen gewiſſen Fall einen weit 
größeren Betrag als Erbe ausgeſetzt hatte, war ja 
bedeutungslos, denn daß ihr dieſe Erbſchaft zufiel, hing 
von Umſtänden ab, die vielleicht niemals eintreten 
würden. Mit einer Heirat zwiſchen der Gräfin Polly 
und Sigismund Viffert konnte man noch nicht rechnen, 
da noch keine Schritte zur endgültigen Löſung ihrer 
erſten Ehe mit Graf Henrik getan waren. Die zehn⸗ 
tauſend Franken dagegen bedeuteten etwas Poſitives, 
ſie waren bereits gezahlt. 

Dieſer Umſtand redete nun aber ſtark dagegen, daß 
Leonie Mitwiſſerin des Mordes ſein könne. Denn es 
hatte doch nicht der geringſte Grund für ſie vorgelegen, 
den Mann, der ihr ſoeben eine ſolche Summe geſchenkt 
hatte, aus dem Leben zu ſchaffen, bevor das Geld 
von der Bank abgehoben war. Von der ihr unter 
Umſtänden zufallenden Erbſchaft konnte ſie auch nichts 
wiſſen, und jedenfalls würde ſie kaum gerade zu dieſer 
Zeit einen Schritt getan haben, um den Tod des 
Erblaſſers herbeizuführen. ß 

Skram beſchloß gleich, mit der „Mamſell“, wie 
ſie auf dem Schloß genannt wurde, zu reden, und 
läutete daher nach Ole, den er bat, die Mamſelle 
herunterzurufen. 

Mamſell Leonie kam. Sie war eine mittelgroße, 
ſchlanke Pariſerin mit lebhaften braunen Augen und 
einer von den Franzoſen ſo oft geprieſenen petit nez 
rétroussé. Der Ausdruck ihres Geſichts wie ihr ganzes 
Weſen war einſchmeichelnd⸗frech, aber doch recht an⸗ 
genehm. Sie führte ſich ſchicklich und nett auf, war 


660 


flink, jung und hübſch. Augenblicklich ſchien ſie ſich 
etwas beklommen zu fühlen, aber darauf verſtand ſich 
Skram vortrefflich. 

Er redete ſie auf franzöſiſch an, um ſicher zu ſein, 
daß ſie ihn verſtehe, und bat ſie, Platz zu nehmen. 

Die Mamſell ſetzte ſich auf die Kante eines Stuhles, 
wobei ſie ängſtlich nach der Tür ſchielte, hinter der 
die Leiche gefunden worden war. 

„Sie haben geſtern abend einen Scheck über zehn⸗ 
tauſend Franken von dem verſtorbenen Herrn Viffert 
bekommen?“ fragte Skram, indem er, um die Mam⸗ 
ſelle zur Andacht zu ſtimmen, ein Taſchenbuch her⸗ 
vornahm und etwas auf dem weißen Blatt notierte. 

„Ja, Monsieur,“ ſagte Mamſell Leonie, ein wenig 
verlegen. 

„Wofür haben Sie den Betrag erhalten?“ fragte 
Skram weiter. 

„Monſieur Viffert mochte mich gern,“ ſagte die 
Mamſell ein wenig ſchnippiſch. „Er gab mir den 
Scheck als Hochzeitsgabe. Monſieur müſſen nämlich 
wiſſen, daß ich im Begriff ſtehe, Jörgen, den valet 
de chambre des Grafen, zu heiraten.“ 

„Hatte der Verſtorbene denn beſonderen Grund, 
Ihnen zugetan zu ſein? Kannte er Ihre Eltern, oder 
ſtand er in andrer Weiſe in Beziehung zu Ihnen?“ 

„Nein,“ ſagte die Mamſell etwas verlegen, „er 
war mir nur zugetan 

Skram hielt es zwar für richtig, hier als Unter⸗ 
ſuchungsrichter aufzutreten, aber er war doch niemals roh. 
Rückſichtnahme, ſelbſt überführten Verbrechern gegen⸗ 
über, gehörte zu ſeinen feſten Prinzipien. Und die 
Mamſell war doch nur von Pariſer Art und höchſtens 
ein wenig unmoraliſch. — „Ich bin beauftragt, den 
letzten Willen des Verſtorbenen auszuführen,“ ſagte 
er, „und in dem Teſtament befinden ſich Beſtimmungen, 
die ſcheinbar darauf ſchließen laſſen, daß zwiſchen Ihnen 
und dem Verſtorbenen eine Art Verhältnis beſtanden 
hat. Sie verſtehen mich wohl, Mamſell, ich wünſche 


zart 


nicht, indiskret zu fein, aber als Beamter muß ich zu⸗ 
weilen gewiſſe Rückſichten fallen laſſen, und es ge⸗ 
ſchieht daher nicht, um Sie zu verletzen, ſondern aus 
rein amtsmäßigen Gründen, wenn ich Sie frage, ob 
Sie Herrn Vifferts Geliebte geweſen ſind.“ 

Von Mamſell Leonies Lippen kam ein leiſes 
zaghaftes: „Ja.“ 

„Wie lange hat dieſes Verhältnis ſchon beſtanden?“ 
fragte Skram. 

„Fünf Monate,“ erwiderte ſie. „Es begann kurz 
nach Herrn Vifferts Herkunft. Er war immer ſo gentil 
gegen mich, und außerdem war er ja auch alt. Ich bin 
arm, ſehr arm und möchte gern heiraten. Aber ich 
habe kein Heiratsgut, und Madame la Comteſſe will 
mir keines geben.“ 

„Sie brauchen ſich nicht zu entſchuldigen, Mam⸗ 
ſell,“ ſagte Skram gutmütig. „Ich bin ja ſelbſt Jung⸗ 
geſelle und vermag die Situation vollkommen zu ver⸗ 
ſtehen. Ich habe auch nichts gegen die zehntauſend 
Franken, die Ihnen ohne Bezug auf den Todesfall 
gehören, einzuwenden, aber ich muß anderſeits ein 
paar Fragen ſtellen, die Sie mir doch beantworten 
müſſen.“ : 

„Herzlich gern,“ ſagte Mamſell. Sie war recht 
froh über den leichten Ton, in der Skram die Unter⸗ 
haltung führte; ſie fühlte feſten Boden unter den 
Füßen und begann ſogar, mit ihren lebhaften, mun⸗ 
teren Augen ſpähende Blicke nach ihm auszuſenden. 
Sie ſah in Skram bereits nur den ſchönen Mann, der 
er war. Und auf Männer verſtand ſich die kleine 
Pariſerin offenbar vortrefflich. 

„Wann erhielten Sie den Scheck?“ fragte Skram. 

„Ich will die Wahrheit ſagen,“ begann Leonie. 

„Das hoffe ich,“ verſetzte er. 

„Ich erhielt den Scheck heute nacht um eins oder 
zwei. Ich war bereits ſchlafen gegangen, als es an 
meiner Tür klopfte und ich davon aufwachte. Ich pflege 
nämlich die zur Treppe führende Tür nie zu verſchließen 


— 84 — 


„Wie alt ſind Sie?“ fragte Skram. 

„Vierundzwanzig Jahre.“ 

Das war gewiß richtig. 

„Sie ſagten alſo, Herr Viffert habe Sie ah ein 
Uhr verlaſſen. Legten Sie ſich dann wieder ſchlafen?“ 

„Nein,“ ſagte die Mamſell, ein wenig verlegen, 
„ich glaubte, ich müſſe dieſe erfreuliche Begebenheit 
noch meinem Liebſten erzählen, und ſo nahm ich ein 
peignoir um und lief die Treppe hinab. Sein Zimmer 
liegt nämlich unten im Erdgeſchoß an der Wendel- 
treppe. Dort ſchläft er zuſammen mit John, aber 
John ſchläft wie ein Stein, und ſo konnte ich mich 
gut mit Georges unterhalten.“ 

„Das taten Sie denn alſo auch. — Wie lange?“ 
fragte Skram, der nun wieder als Unterſuchungs⸗ 
richter höchſtes Intereſſe empfand. 

Die Mamſell errötete tief. 

„Sie können es mir ruhig ſagen,“ verſetzte Skram 
freundlich. „Herrgott, ich bin doch ſelbſt eine Manns⸗ 
perſon.“ 

Die Mamſell, die ſich augenſcheinlich recht genierte, 
zögerte mit der Antwort — „es war ſieben Uhr,“ ſagte 
ſie ſchließlich langſam, doch dann fügte ſie raſch hinzu: 
„aber wir ſetzten auch die Hochzeit feſt und redeten über 
die Zukunft und unſer Glück.“ 

„Und John ſchlief?“ 

„Nicht während der ganzen Zeit. Ich glaube, um 
halb ſieben erwachte er und ſagte etwas zu Georges.“ 

„Entdeckte er Sie?“ 

„Ich glaube, ja; denn am Morgen beim Frühſtück 
lachte er ſo verſchmitzt.“ 

„Ja, liebe Mamſell,“ ſagte der Amtsrichter, „nun 
ſind Sie ja ganz außerordentlich offenherzig gegen mich 
geweſen. Das wird nicht wieder nötig ſein, und Ihre 
zehntauſend Franken können Sie von der Bank ab- 
heben. Wenn Sie wünſchen, werde ich Ihnen gern 
dabei helfen, denn es iſt möglich, daß man Ihnen nun, 
da Herr Viffert tot iſt, Schwierigkeiten machen wird. 


168 


Sie müſſen mir bloß noch ſagen, ob Jörgen irgend 
welchen Groll gegen Herrn Viffert gehegt hat.“ 

„Mon dieu, nein!“ rief die Mamſell. „Er ſagte 
bloß, es wäre gut, daß es jetzt vorbei ſei; denn nun, 
könnten wir uns auf Grund der Zehntauſend verhei⸗ 
raten.“ 

„Sagte er das, noch ehe er wußte, daß Monſieur 
Viffert tot war?“ 

„Mais oui — ja — er ſagte es heute nacht. Ich 
habe niemals Georges einzureden verſucht, daß ich 
eine Heilige ſei, und er hat alles gewußt und iſt nicht 
böſe darüber geweſen.“ 

„Auch auf Monſieur Viffert nicht?“ 

„Ih, nein, Monſieur! Viffert war ja ſo gentil.“ 

Skram mußte zugeben, daß ſein Verdacht gegen 
Jörgen und deſſen Liebſte auf einen ſehr geringen 
Reſt zuſammenſchrumpfte. Die ganze Darſtellung 
der Mamſell trug das Gepräge der Wahrheit. Die 
leichte, faſt plaudernde Art, in der die Ereigniſſe der 
letzten Nacht hier von einem jungen Mädchen erzählt 
wurden, das das Leben auf ſeine Art nahm, ließ die 
Erzählung glaubhaft erſcheinen. Sie hatte nichts zu 
verbergen und erzählte daher vertrauensvoll alles. 
Ein ſolch kleiner Zug wie der, daß ſie ſich beeilt hatte, 
Jörgen ihr Glück zu erzählen, und bis zum Morgen 
in ſeinem Zimmer geweſen war, wo John geſchnarcht 
hatte und mit einem Witzwort erwacht war, redete 
für ſie. Zwei finſtere Mörder waren dieſe nicht, nein, 
er war ein ſpießig kluger däniſcher Knecht und ſie ein 
praktiſches Pariſer Mädchen, das in der Lebenslotterie 
einen Gewinn von zehntauſend Franken gezogen hatte. 
Es war ausgeſchloſſen, daß Jörgen die Tat vor zwei 
Uhr begangen hatte, wenn das Mädchen die Wahrheit 
redete, und das tat ſie ſicher, dafür ſprach ſchon der 
Scheck. Dem Kammerjunker mußte die Idee hierzu erſt 
gekommen ſein, nachdem Skram gegangen war, denn 
ſonſt hätte er darüber geredet. Leonie hatte ſich gleich, 
nachdem Viffert ſie verlaſſen hatte, zu Jörgen e 

XXVI. 10. 


geſchlichen, jo daß für dieſen ein regelrechtes Alibi 
bis ſieben Uhr vorlag. Daß ſich Jörgen dann nach 
ſieben Uhr, als ſchon alles im Schloſſe hell und erwacht 
war, hinaufgeſchlichen habe, um dem Kammerjunker 
zum Dank für den Scheck den Hals abzuſchneiden, 
erſchien vorläufig wenig glaubhaft. 

Hierzu kam noch, daß Jörgen, um wirklich den 
Mord zu begehen, auf einem langen Umwege in das 
Ankleidezimmer hätte gehen müſſen, da er das Schlaf⸗ 
gemach der Gräfin doch nicht paſſieren konnte; er 
hätte ſich auf demſelben langen Umweg zurückſchleichen 
müſſen, um zu Viffert zu gelangen, und ſchließlich noch 
einmal auf demſelben Wege zurückkehren müſſen, um 
das Meſſer auf den Toilettentiſch zu legen, alles 
zwiſchen ſieben und ſiebeneinhalb Uhr morgens. Da 
dürfte eine Unterſuchung wohl ergeben, daß ſein Alibi 
in beſter Ordnung war. 

Aber konnte Skram denn überhaupt eine Unter⸗ 
ſuchung beginnen, die ſich jetzt nur gegen eine beſtimmte 
Perſon richten konnte? 

Oder hatte der Graf recht? Waren die Meſſer 
wirklich von Jörgen vertauſcht worden, und lag ſomit 
Selbſtmord vor? Unmöglich! Er hatte ja ſelbſt die 
Meſſer in richtiger Ordnung im Etui geſehen. — 

„Monſieur,“ ſagte die Mamſell etwas zögernd, 
„Herr Viffert gab mir geſtern abend einen Brief an 
ſeinen Neffen Sigismund Viffert, den ich beſorgen 
ſoll; doch darf ich ihn nicht mit der Poſt ſchicken. Ich 
habe den Brief noch bei mir, und ich möchte — es 
wäre mir am liebſten, wenn Sie den Brief an ſich 
nehmen wollten.“ 

Skram ſtutzte. 

„Das wünſche ich nicht nur, ſondern es iſt ſogar 
Ihre Pflicht, mir den Brief zu geben,“ ſagte er. „Das 
letzte Schreiben eines Mannes, der unter ſolchen Um⸗ 
ſtänden geſtorben iſt, muß der Obrigkeit übergeben 
werden.“ 

Die Mamſell zog den Brief hervor. 


er Bi 


Skram erhob ſich und ſchritt mit dem Brief in der 
Hand haſtig in das Zimmer, in dem er den letzten Abend 
mit Viffert verbracht hatte. 

Dort erbrach er das Sigel und las. 


VI. 


Edelsburg, am letzten Abend vor meiner Abreiſe. 
„Mein guter Sigismund! 

Du biſt von Deinem Vater, meinem Herzensbruder, 
dazu erzogen worden, mich als das mauvais sujet der 
Familie zu betrachten. Und als ihr — Du ſowohl 
als Deine edle Sippe — mich nicht mehr ſchinden 
konntet, biſt du mir mit deiner albernen Wohlerzogen⸗ 
heit entgegengetreten. Wir ſind keine Freunde, und 
dieſer Brief iſt daher auch kein Freundſchaftsakt. Du 
erhältſt ihn unter Verhältniſſen, die Erklärungen von 
meiner Seite unnötig machen. Dein Urteil über mich 
iſt mir gleichgültig, aber Du magſt wiſſen, daß Du nie 
und nimmer etwas von mir erben wirſt — weder Du 
noch — ſie! 

Lies die beifolgenden Keinen, die zur Be⸗ 
lehrung eines in allen Tugenden erwachſenen Jüng⸗ 
lings verfaßt worden ſind. Sie werden vielleicht die 
eine oder andre Deiner Illuſionen zerſtören — doch 
dann iſt die Abſicht dieſer Zeilen auch erreicht. Meine 
Memoiren eigne ich Dir alſo zu, damit Du ſie als 
Richtſchnur benutzeſt. 

Alſo ſtudiere ſie eifrig!“ 

Dem Briefe war ein Manufkript älteren Datums 
beigefügt, das die elegante Handſchrift des Kammer⸗ 
junkers aufwies. 

„Ich ſchreibe hier meinen Lebensroman. Aller⸗ 
dings ſtimme ich mit der Anſicht eines bedeutenden 
Kritikers, der leider nicht mehr lebt, darin überein, 
daß die Ichform eines Romans zu verwerfen iſt, aber 
nichtsdeſtoweniger wird man es begreiflich finden, daß 
ich, um meinen perſönlichen Roman zu erzählen, die Ich⸗ 


3 


form benutzen muß. Die Schilderung meiner Eltern und 
meiner Kindheit ſchenke ich mir. Gottlob iſt es aus der 
Mode gekommen, mit der Schilderung des Helden ſchon 
bei der Wiege anzufangen, und es würde Dir außerdem 
wenig nützen, wenn ich Dir berichtete, wie ich als Sohn 
tugendſamer, aber armer Eltern von einer Amme auf⸗ 
gepäppelt wurde und wie ich ſehr frühzeitig von der 
Frucht des Baumes der Erkenntnis koſtete. Ich bin 
entſchieden überzeugt, daß in meiner Kindheitsgeſchichte 
auch nicht ein einziges Moment zur Beurteilung meines 
ſpäteren Schidjal3 enthalten iſt. 

Laſſen wir ſie alſo ruhig weg. Als ich ein ſiebzehn⸗ 
jähriger Jüngling war, debütierte ich in Kopenhagen 
als vaurien, doch gab es damals immerhin noch Laſter, 
in denen ich nicht meinen Mann ſtellte. Wenn es Dich 
intereſſiert, will ich aber bemerken, daß ich als Achtzehn⸗ 
jähriger einen Wechſel fälſchte, was die gute Familie 
in ſo hohem Grade alterierte, daß ſie mich per Zwangs⸗ 
paß nach Amerika exportierte. Ich will keine Zeit 
mit eingeflochtenen, moraliſierenden Betrachtungen 
vergeuden, aber ich kann mich doch nicht der Bemerkung 
enthalten, daß ein Mann, ſelbſt wenn er als Achtzehn⸗ 
jähriger einen falſchen Wechſel geſchrieben hat, immer 
noch ſehr ehrbar und rechtſchaffen ſein kann. Dies iſt 
mein einziges wirkliches Verbrechen, und ich darf 
ruhig behaupten, daß es in der Reihe meiner übrigen 
unmoraliſchen Handlungen ziemlich hoch ſteht. 

Aber, wie geſagt, man zog die Hand von mir ab. 
Heimkehrende Amerikafahrer werden Dir berichten 
können, wie meine erſten Jahre draußen in the far west 
verliefen. Ich verweile nur bei den Ereigniſſen, die 
typiſch für mich ſind, und da will ich gleich ſagen, daß 
ich nach einigen wirklich ehrlichen Verſuchen, mich 
durchzuſchlagen, eine Entdeckung machte, die maßgebend 
für mein ganzes Leben wurde. Ich machte nämlich 
die Entdeckung, daß der Mann, um ſich in den Sattel 
zu ſchwingen, das Weib als Steigbügel benutzen kann. 
Ich verlange nicht, daß Du dieſe Entdeckung als von 


— 69 — 


mir gemacht hinnimmſt. Ich weiß ſehr wohl, daß 
ſchon zu allen Zeiten viele Männer das Weib als Steig⸗ 
bügel benutzt haben. Eine gute Partie zu machen, 
dazu werden die armen Männer aus guter Familie 
ja geradezu abgerichtet, und ſich mit Geld zu ver⸗ 
heiraten, iſt ebenſo verdienſtvoll, wie ein Examen zu 
machen oder die drahtloſe Telegraphie zu erfinden. 
Das weiß ich alles ſehr wohl. Aber das Neue oder, 
richtiger das Beſondere in meiner Methode beſtand 
darin, daß ich mich überhaupt nicht verheiratete; dazu 
habe ich mich niemals bequemen können, denn ich bin 
geborener Soliſt und haſſe die häusliche Gemütlichkeit. 
Ich habe mich aber auch niemals von Weibern unter⸗ 
halten laſſen, durchaus nicht, das hatte ich auch gar nicht 
nötig. Ich benutzte ſie — tout simplement. 

Es begann mit Verlobungen. In Amerika verlobt 
man ſich ſehr leicht, und ich bin mindeſtens zwanzigmal 
verlobt geweſen, immer mit netten, anſtändigen Mäd⸗ 
chen, die ebenſo jungfräulich in das nächſtfolgende Ver⸗ 
löbnis hineinſchritten, wie ſie in das vorangegangene 
mit mir gekommen waren. Es währte jedesmal nicht 
lange; aber ich war ſehr nett und rückſichtsvoll und 
ſtehe mit meinen Verfloſſenen, die inzwiſchen wohl 
Großmütter geworden ſind, noch auf dem ſchönſten 
Fuße. Während vieler Jahre verſchaffte mir das 
mehrere vortreffliche Anſtellungen und ehrbare Amter. 
Ich wechſelte allerdings etwas häufig, aber abgeſehen 
von einem einzigen Fall, hat mich meine Tätigkeit als 
Verlobter eine hübſch mit lebenden Blumen geſchmückte 
Treppe hinaufgeführt, mit Blumen, deren ſüßen Duft 
ich einatmete, ohne ſie zu brechen. 

So wurde ich älter — bis in die Dreißiger gelangte 
ich hinein, und es paßte nicht mehr ſo recht für mich, 
verlobt zu ſein. Kurz entſchloſſen ſprang ich daher über 
die verheirateten Frauen hinweg und legte mich auf die 
Witwen. Von dieſen iſt in Amerika immer eine große 
Auswahl vorhanden. Ich hatte mir nach und nach einige 
Geſchäftskenntniſſe erworben und war auch im Spiel 


ee 


immer glücklich geweſen. Selbſt im Börſenſpiel hatte 
ich niemals Pech, und ſo begann ich, Geld zu verdienen. 
Ich wurde der Geſchäftsführer verſchiedener junger 
Witwen, und behandelte dieſe gut und gewiſſenhaft. — 
Eines ſchönen Tages machte ich die Wahrnehmung, daß 
ich ein wohlhabender Mann war, und wie alle Leute 
von mitgebrachter Kultur begann ich mich nach Europa 
zu ſehnen. Ich will keine Vergleiche über die alte und 
die neue Welt anſtellen, denn das iſt nutzlos und banal, 
aber ein vermögender Edelmann kann ſeinen Wohn⸗ 
ſitz nun einmal nur in Europa haben. 

Ich machte mich alſo von meiner letzten Witwe 
frei, um nach Paris zu ziehen, und erſt hier beginnt 
meine Geſchichte den Gegenſtand zu berühren, mit 
dem ich Dein Wiſſen, mein guter Sigismund, berei⸗ 
chern will. 

Ich logierte mich in einem kleinen, hübſchen Hauſe 
am Square de Roule ein und ſchickte meine Karte 
herum. Die däniſche Geſandtſchaft kannte meine Bank⸗ 
verbindungen, auch war ihr meine Familie zu Hauſe 
nicht unbekannt. So wurde ich denn wohlwollend 
aufgenommen, und der Zufall fügte es, daß ich durch 
den däniſchen Geſandten in ein exquiſit feines Haus 
eingeführt wurde, wo ich mit verſchiedenen franzö⸗ 
ſiſchen Adelsfamilien in Berührung kam. 

An meinen amerikaniſchen Verbindungen hielt ich 
ebenfalls noch feſt, und nach Verlauf einer kurzen Zeit 
gelang es mir, einen Verkehr zwiſchen dem feinſten 
franzöſiſchen blauen Blut aus den Tagen Franz des 
Erſten und der Plutokratie der neuen Welt anzubahnen. 
Natürlich führte ich dieſe Vermittlung nicht umſonſt 
aus, ſondern ließ die Plutokratie kräftig bluten. 
Sehr intereſſant ſind zum Beiſpiel die Aufzeichnungen 
der Beträge, die ein Mr. Thomſon aus Detroit und 
ein Mr. Smith aus Denver mir dafür zahlten, daß 
ich ihnen Eingang in die Salons der Herzogin de la 
Rochefoucauld und der Madame de Saint Leger 
verſchaffte. Ich war ſehr teuer, aber ich fungierte auch 


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in tadelloſer Weiſe und hatte eine feine Naſe für 
Menſchen. 

Im Jahre 1890 machte ich die Bekanntſchaft einer 
amerikaniſchen Konzertſängerin, die in den letzten 
Tagen des Kaiſerreichs eine Rolle geſpielt hatte und 
dann aus Paris verſchwunden war. Der Himmel 
mag wiſſen, was ſie in den dazwiſchen liegenden 
zwanzig Jahren geweſen iſt. Sie ſelbſt behauptete, in 
Amerika mit einem halbverrückten Doktor verheiratet 
geweſen zu ſein, und niemand konnte es ihr wider⸗ 
legen. Sie hatte jetzt eine achtzehnjährige Tochter 
bei ſich, die Polly hieß und einfach wunderbar war. 
Ich kann Weiber wohl beurteilen, aber nicht beſchreiben, 
und mit einem Verſuch, Dir Polly Bradlaugh zu be⸗ 
ſchreiben, will ich dich lieber verſchonen. Du kennſt ſie, 
wie fie jetzt iſt; — damals war fie von einer fraicheur 
inexprimable — ſie war einfach vollendet! Und eine 
Mannsperſon wie ich darf wohl beanſpruchen, daß 
man ihrem Urteil Wert beimißt. 

Madame Bradlaugh war nicht ſonderlich wohl⸗ 
habend, auch nicht ſehr fein, und ihre Stimme natür⸗ 
lich längſt zum Teufel. Aber ſie machte einen impo⸗ 
ſanten und nicht gerade abſtoßenden Eindruck. Du kennſt 
wohl jene Sorte von Müttern, die, wenn ſie ihre 
ſchönen Töchter begleiten, wie ein memento mori 
wirken. So war Mrs. Bradlaugh nun nicht, ſondern 
leichtlebig, muſikaliſch, liebenswürdig, kurz geſagt, recht 
einnehmend, ihre Tochter aber ſchön wie eine Göttin. 
Über Reichtum verfügten ſie nicht, doch wurden beide, 
die in Begleitung eines Stallmeiſters aus der Zeit 
des Prinzen Plonpon erſchienen, überall wohl auf⸗ 
genommen. — Nun iſt aber eine Heirat immer eine 
ernſte Sache, und in Paris, wo ſo viele wirklich prächtige 
Partieen zu haben ſind, iſt Schönheit allein nicht ge⸗ 
nug. Mrs. Bradlaugh hätte ſich nun mit Leichtigkeit 
ein ſorgenfreies Alter ſichern können, wenn ſie ihre 
Tochter der Halbwelt geopfert hätte. Dreihundert⸗ 
tauſend Franken jährlich und ein eigenes Hotel hätte 


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Miß Bradlaugh mit Leichtigkeit erzielen können, denn 
ein paar ruſſiſche Fürſten, deren Reichtum ins Un⸗ 
ermeßliche ging, waren mehr als bereit dazu. Aber 
Polly war verſtändig und — laß mich hinzufügen — 
auch willensſtark. 

Ich glaube, ihr Verſtand und ihre Willenskraft 
retteten ſie, wenn man hier von Rettung reden kann. 
Ich für meine Perſon halte nämlich die Stellung einer 
privilegierten Pariſer Liebhaberin für ebenſo be⸗ 
gehrenswert wie die einer Miniſterfrau. Doch das iſt 
Geſchmackſache. 

Von dem, was ich jetzt erzähle, hat noch niemand 
etwas erfahren, doch da es von durchgreifender Be- 
deutung für mich und auch für ſie iſt, ſo will ich es Dir 
erzählen und bitte Dich, gut aufzupaſſen. 

Schon am erſten Abend, an dem ich Polly ſah, war 
ich von ihrer Schönheit geblendet; ſo ließ ich mich denn 
ihrer Mama vorſtellen, und dank meiner Routine im Be⸗ 
handeln von Witwen gewann ich bald ihr Vertrauen. 
Ich rühme mich guter Manieren, habe ein ganzes Teil 
geſehen, kurz mein Auftreten war tadellos. Außerdem 
ſah ich vor dreizehn Jahren noch recht gut aus, und 
Geld hatte ich — natürlich nicht bei weitem ſo viel, 
als Miß Polly beanſpruchen konnte, aber — enfin, 
ich ſtellte doch ſchon immer etwas vor. Ich wurde der 
Kavalier der Damen, leiftete ihnen verſchiedene Dienſte 
und verſchaffte ihnen — natürlich gratis — Einla⸗ 
dungen in amerikaniſche, engliſche und franzöſiſche 
Kreiſe. Nachdem ich in ihren ſehr genau abgepaßten 
Hausſtand aufgenommen worden war, machte ich ſelbſt 
den Vorſchlag, ihr kleines Vermögen zu verwalten, kurz 
geſagt, ich wurde ihnen das, was ein in der Pariſer 
Geſellſchaft erfahrener Lotſe zwei Damen, die nichts 
ſind und viel ſein wollen, nur werden kann. Eine 
Zeitlang beſorgte ich dies gratis, denn ich bin von 
Natur recht groß veranlagt und vermag von augenblick⸗ 
lichen Vorteilen abzuſehen. Außerdem hatte ich zu jener 
Zeit gerade beträchtliches Glück an der New Porker 


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Börſe und legte den Grund zu dem, was ich jetzt, ohne 
unbeſcheiden zu ſein, mein kleines Vermögen nennen 
kann. Ja, ich habe einmal ſogar über eine Million 
Kronen beſeſſen, doch hat es freilich nicht lange gedauert, 
war aber gerade in jenen Tagen der Fall. Ich ſtand 
damals dem Entſchluß nahe, Polly zu heiraten, und 
— ich will es bekennen — freite regelrecht um ſie. Eine 
Benommenheit war über mich gekommen, eine tiefe Be⸗ 
nommenheit, die nicht das Geringſte mit Liebe zu tun 
hatte, und ich muß zu meiner Schande geſtehen, daß 
dieſe Benommenheit noch zu jetziger Stunde vor⸗ 
handen iſt und zwölf ganze Jahre hindurch gewährt 
hat. Ich nenne es nicht Liebe, denn mein Gefühl 
enthält keinen Tropfen von Altruismus, und das, 
glaub' ich, gehört rezeptmäßig dazu. Aber ſo wie da⸗ 
mals bin ich noch heute in leidenſchaftlicher Weiſe von 
dieſem Weibe benommen — — und mit dieſer Be⸗ 
nommenheit werde ich ſterben — wenn ich nicht an 
ihr ſterbe. 

Ich freite alſo, und ſie ſagte — Nein! 

Da ich auch bloß ein Menſch bin, ſo nahm ich mir 
vor, den Verkehr mit den beiden Damen abzubrechen. 
Selbſtredend ſagte Polly mir allerhand von Freundſchaft 
und geſchwiſterlichem Gefühl und Erkenntlichkeit, Worte, 
die die Weiber immer bei ſolchen Gelegenheiten auf der 
Zunge haben, und die aus einer Art von Nächſtenliebe 
hervorgehen. Darauf biß ich indeſſen nicht an. Ich legte 
ihr ganz ausführlich meine Gefühle klar, übertrieb nichts, 
ſondern tat im Gegenteil mit meinem Egoismus groß, 
aber ich verbarg auch nicht, was ich von ihr wollte, 
und ſagte rein heraus: wenn ſie nicht ſo wolle wie ich, 
dann habe ſie auch von mir nichts mehr zu erwarten, 
dann ſei es aus und vorbei. Der Narr eines Weibes 
ſei ich nie geweſen und wolle ich auch niemals ſein! 

Ich glaube, ich habe eine ganz beſondere Begabung, 
auf Weiber einzureden, und die Unannehmlichkeit, 
meine goldenen Worte zurückzunehmen oder auch nur 
einen Verſuch dazu zu machen, werde ich mir nie be⸗ 


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reiten. Beachte wohl: ſelbſt die geriſſenſten Roman⸗ 
dichter ſind nicht imſtande, eine Verführungsſzene 

überzeugend zu ſchildern, während doch in der Praxis 
ſo viele Tolpatſche die Sache virtuos verſtehen. Sie 
läßt ſich eben nicht durch Worte ausdrücken, ſondern 
liegt im Blut, im ganzen Interieur. Auf der Szene 
kann man ſie ebenfalls nicht darſtellen, ſchon allein aus 
dem Grunde, weil die beiden Darſteller — mit Reſpekt 
zu melden — ſich nicht zuſammen ins Bett legen 
können. Durch Muſik allerdings läßt ſie ſich ausdrücken 
— eine Sekunde lang vorzaubern. 

Ich will nicht lang und breit berichten, was da ge⸗ 
ſchah und wie es geſchah, ſondern mich kurz faſſen und 
erklären, daß gerade, weil mich Polly Bradlaugh nicht 
liebte und ich ſie nicht liebte, und gerade, weil ſie mich 
verſchmähte und meine Aſſiſtenz, die ſie für wertvoll 
anſah, nicht verlieren wollte, ſie meine Geliebte wurde. 

Ich haſſe phyſiologiſche Unterſuchungen der Triebe 
und werde Dich mit jedwedem Verſuch, zu erklären, 
wie es zuging, verſchonen. Im Intereſſe der Wahrheit 
muß ich ſogar eingeſtehen, daß es mir anfangs eine 
nicht geringe Enttäuſchung bereitete — aber dennoch 
lag in dieſem ganzen Verhältnis eine gewiſſe Pikanterie, 
die nicht anders als anſpornend wirken konnte. Polly 
hatte Willenskraft, und ich hatte Willenskraft, doch ohne 
zu prahlen, darf ich behaupten, daß mein Wille gleich 
die Oberhand gewann und ſie auch behielt. 

Meine Stellung in der Geſellſchaft war feſt genug, 
daß ich die beiden Damen beſchützen konnte, und ich 
darf — wieder ohne zu prahlen — behaupten, daß ich 
ganz außerordentlich geſchickt manövrierte. Ich unter⸗ 
hielt nicht etwa die beiden Damen — o, nein, ich unter⸗ 
ſtützte ſie kaum und meine Gaben waren ebenſo diskret 
als beſcheiden. Aber ich verwaltete ihr kleines Ver⸗ 
mögen mit Umſicht, lief ab und zu ein kleines Riſiko 
und ſorgte dafür, daß immer genug Geld da war. So 
ging es ein Jahr lang. Die Mama wurde ſelbſtverſtänd⸗ 
lich Mitwiſſerin; die gute Seele hoffte gewiß auf eine 


— 15 — 


Ehe, denn ſie kannte mich nicht, und die alte Welt war 
ihr neu. Ich ſelbſt war ruhig. Meine feſte Abſicht war 
jetzt die, Polly eine gute Partie machen zu laſſen, und 
ihr die zu beſorgen, bildete jetzt das Ziel meiner Arbeit. 

Da machte ich plötzlich eine Wahrnehmung, die 
mich im höchſten Grade beunruhigte. Ich will gern 
zugeben, was ich jetzt erzähle, iſt für den, der ſich mit 
den kritiſchen Einzelheiten in Pollys und meinem 
Leben nicht vertraut gemacht hat, ſchwer verſtändlich. 
Ich ſelbſt dagegen kann es mit Leichtigkeit erfaſſen, 
und wenn Du Dir rechte Mühe gibſt, wirſt Du es 
vielleicht auch begreifen. 

Polly machte die Bekanntſchaft eines reichen, eng⸗ 
liſchen Edelmannes, eines Lord Newton, der ein netter, 
junger Mann war, mir freilich nicht imponierte, aber 
hunderttauſend Pfund jährlich Rente und einen ſchönen 
Titel beſaß. Er war von ihr ſehr eingenommen, un⸗ 
abhängig, ohne mütterlichen Anhang und hatte alle 
Luſt, ſie zu heiraten. Mrs. Bradlaugh und ich waren 
ſehr für die Partie; es wäre ja geradezu lächerlich ge⸗ 
weſen, nicht mit beiden Händen zuzugreifen, und Polly 
war von dem jungen Manne auch ſehr eingenommen, 
ich glaube gar, ſie war in ihn verliebt. Aber als wir 
ſie darüber zur Rede ſtellten, erklärte ſie zu meiner 
großen Verblüffung aufs Beſtimmteſte, daß ſie den Mann 
nicht heiraten werde. Nun, ich redete, was man in 
ſolchen Fällen zu reden pflegt, denn ich war ſehr für 
die Partie. Zu einer Szene zwiſchen uns kam es wohl 
nicht, aber es kann ſein, daß mein Ton etwas heftig 
wurde, und da erklärte ſie rund heraus, daß ſie dieſen 
Mann nicht — betrügen wolle, daß er zu gut für ſie 
ſei. Dies war unbedingt ein gegen mich gerichteter 
Stich, was ich ſehr wohl verſtand; aber ich bin es ja 
von den Frauen gewohnt, daß ſie mir Vorwürfe machen, 
weil ſie durch mich Freude und Befriedigung gefunden 
haben. Das iſt ein ganz natürlicher Zug bei ihnen, 
und jeder vernünftige Mann rechnet damit, obwohl 
etwas ganz Ungerechtes und Inkonſequentes darin 


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liegt. Aber das ganz Merkwürdige bei der Sache be⸗ 
ſtand darin, daß ſie im ſchönſten Zuge war, ſich in den 
Engländer zu verlieben, und ihn in ihrer erwachenden 
Liebe zu ſolcher Höhe emporhob, daß ſie, wie es in der 
Bibel heißt — zu der ſie doch ſonſt nicht in Beziehung 
ſtand — Aſche auf ihr prächtiges braunblondes Haar 
ſtreute. Und eines Tages ſagte ſie etwas, das mir 
einen Augenblick lang all meine ſonſtige Überlegenheit 
raubte: ‚Helmut,‘ ſagte fie — ich erinnere mich der 
Worte, als wären ſie erſt heute geſprochen worden — 
‚wenn du bereit biſt, durch eigene Hand zu ſterben, fo 
will ich ihm mein Jawort geben.“ 

Das klang mir furchtbar töricht, war aber im 
Grunde genommen gar nicht ſo dumm. Es lebte in 
ihr etwas — etwas wirklich Urkräftiges, alles Über⸗ 
wältigendes, etwas rein Inſtinktives, das ich niemals 
habe verſtehen können, wenn ich auch immer da⸗ 
mit zu rechnen wußte. Ich antwortete natürlich, daß 
mir nichts ferner liege, als eine derartige ſelbſtopfernde 
Handlung; ich befände mich ganz außerordentlich wohl 
in d’efem Leben und wolle vom Tode durchaus nichts 
wiſſen. Kurz geſagt, ich ſchlug es ihr ab. Aber noch 
heute krankt ſie daran, und den jungen Engländer hat 
ſie nie vergeſſen. Nun, was dieſen letzteren betrifft, 
ſo brach er ein Jahr ſpäter bei einer Steeplechaſe den 
Hals, und zu der Zeit war Polly bereits mit Graf 
Henrik Eiſenbart vermählt. 

Jetzt kommen wir nämlich zu Ihrer Gnaden hoch— 
wohlgeborenem Gemahl. 

Mit dem vita ante acta des Grafen Eiſenbart will 
ich dich ebenfalls verſchonen, und zwar ſchon aus dem 
Grunde, weil es mir ſelbſt nur unvollſtändig bekannt 
iſt und ich auch nicht glaube, daß es ſonderlich inter⸗ 
eſſant geweſen ſein kann. Ich traf ihn zum erſten⸗ 
mal auf dem Ball Bullier in Paris, und wir ſchloſſen 
unſere Bekanntſchaft recht nachdrücklich dadurch, daß 
ich gleich am erſten Abend die Ehre hatte, ihm das 
Leben zu retten. Ich habe ſeitdem oft bereut, daß ich 


es getan, und mein einziger Troft beruht darin, daß ich 
weiß, daß er in noch höherem Maße bedauert hat, daß 
gerade ich es war, der die Tat beging. Immerhin war 
es eine verteufelt fixe Leiſtung von mir, und da Du 
mich auch von einer ſchmeichelhafteren Seite kennen 
lernen ſollſt, ſo will ich das Ganze erzählen. 

Graf Henrik war, nachdem er das juriſtiſche Staats⸗ 
examen überwältigt hatte, als Legationsſekretär nach 
Paris geſchickt worden, und zwar allein zu dem Zweck, 
unter kundiger Aufſicht verdorben zu werden. Er 
war nämlich etwas zu naiv von Charakter, und ſeine 
Frau Mama, ein vernünftiges Weib, ſah ſehr wohl ein, 
daß es ſich für einen Mann, der im Leben vorwärts 
kommen ſoll, durchaus nicht ſchickt, ſämtliche Tugenden 
zu beſitzen, ſondern daß auch ein gewiſſes Quantum 
Laſter dazu gehört. 

In den guten alten Tagen importierte man dieſe 
aus Paris. Einiges wußten ausſchließlich die höheren 
Rangklaſſen, anderes wurde auch über dieſe hinaus ge⸗ 
bräuchlich. — Alſo rüſtete man den Stammhalter Henrik 
mit einem Begleiter und einer wohlgeſpickten Börſe aus 
und ſandte ihn nach Paris. Der Begleiter war ein 
Kandidat Juris, der es ſpäter noch ungewöhnlich weit 
gebracht hat. Er war perfekt in allen Dingen — auch 
in den Laſtern — doch erlaubt mir meine Zeit nicht, 
hierbei länger zu verweilen. Graf Henrik glich einem 
Lohengrin, denn er trug damals einen ſehr langen, 
hellen Bart, den er ſpäter, weil er ſeine Frau genierte, 
auf dem ehelichen Altar geopfert hat. Hier auf dem Ball 
Bullier nun genierte der Bart die Franzoſen; ſie ſahen 
Henrik für einen Deutſchen an und titulierten ihn 
„sale Allemand“. — Darob geriet der bärtige Kämpe 
in eine Raſerei, in die ſolch große Mannsperſonen, 
wenn ſie etwas betrunken ſind, mitunter geraten 
können. Er gebärdete ſich wie ein Wikinger und ſchlug 
ein paar franzöſiſche Studenten, die ihn ihrerſeits 
genierten, zu Boden. 

Natürlich entſtand — wie bei ſolchen Gelegenheiten 


Zeugs. „ze 


immer in Paris — große Empörung, viel Geſchrei, 
ſelbſt Dolche wurden gezückt. Henrik, der wie raſend 
war, wollte partout die hitzigſten ſeiner Gegner um⸗ 
bringen, ſtark wie ein Bär war er ja. Sein weiſer 
Mentor, der augenſcheinlich glaubte, er befinde ſich 
im „Figaro“ in Kopenhagen, lief ſchleunigſt nach der 
Polizei, und als dieſe erſchien, ergriff ſie ſelbſtredend 
gegen den ‚sale Allemand“ Partei. Darob geriet 
Henrik in noch vollkommenere Wildheit und ging ſogar 
gegen die Schergen los, die ihn ihrerſeits mit blanker 
Waffe attackierten. Da geſchah es denn, daß ich, der 
ich durch meinen ehemaligen Aufenthalt in the far 
west eine gewiſſe Fähigkeit erworben habe, Luft um 
mich zu machen, gerade im letzten Augenblick einigen 
von den Ordnungshütern die Arme aus dem Gelenk 
drehte, eine Reſervetür ſprengte und den Stammhalter 
in Sicherheit brachte. Es ſteht ſomit feſt, daß ich ihm 
das Leben gerettet habe, denn die Polizei hätte ihn 
ſicher niedergemacht, da er ja der angreifende Teil ge⸗ 
weſen war und obendrein für einen Deutſchen gehalten 
wurde. In jenen Tagen war alles, was Deutſch heißt, 
in Paris noch mehr verhaßt als heute, wo die Politik 
andre Bahnen einzuſchlagen geſtattet. 

So ſaßen wir denn auf ein paar Weinfäſſern im 
Hinterhof und ſchmiedeten Pläne für die Zukunft. 
Henrik nannte mich ſeinen Lebensretter, drückte mich 
als das große Kind, das er war, an ſein Herz und wir 
ſchloſſen Bruderſchaft fürs Leben. Am nächſten Tage 
klärte ich Seine Exzellenz den Geſandten über die 
Affäre auf und veranlaßte, daß der weiſe Mentor, den 
die Polizei auf der Walſtatt gefangen genommen hatte, 
aus ſeinem Arreſt entlaſſen wurde. 

Henrik und ich aber waren von nun an unzertrenn⸗ 
lich, und erſterer wurde ſomit auch bald bei den Damen 
Bradlaugh eingeführt. Die Mama war ſofort ent⸗ 
zückt von ihm, denn eine ſo ſeelengute Haut wie ihn 
gibt's ja nicht ſo bald wieder, und er ſtrahlte damals 
geradezu von Herzensgüte. Polly intereſſierte ſich 


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auch für ihn, doch zeigte ſie ſich im übrigen ganz be⸗ 
herrſcht. Seit der Affäre mit dem Lord war eine ge⸗ 
wiſſe Kühle zwiſchen ihr und mir eingetreten, eine 
Kühle, die nur ab und zu von einer unbeſchreiblichen, 
faft raubtierartigen Wildheit, die zu meinen wertvollſten 
Erinnerungen gehört, unterbrochen wurde. Außerdem 
aber hatte ich damals Pech im Börſenſpiel und war 
daher in recht mißvergnügter Stimmung, und jo kam 
mir ſchließlich der unſelige Gedanke, aus Polly und 
Henrik ein Paar zu machen. 

Ja, daran findeſt Du freilich wenig Gefallen, mein 
tugendſamer Herr Neffe, aber Du lieſeſt ja auch nicht 
die Geſchichte eines Heiligen, ſondern die meinige, 
und ich kann mich daher ohne Kommentar an das 
Faktum halten. Die Mama war hingeriſſen, Henrik 
verliebt wie ein Fiſch und Polly nach einer Kriſis 
gerade ſo weit herabgekommen, daß es ihr gefiel, ſich 
ſelbſt zum Opfer zu bringen. Mit derartigen Ver⸗ 
irrungen muß man ja ſelbſt bei den ſtärkſten Frauen 
rechnen. 

Aber nun kam noch etwas ganz beſonderes hinzu: 
Polly verlangte aufs das Beſtimmteſte, daß Henrik ihr 
Verhältnis zu mir kennen ſolle. In dieſem Falle war 
nicht die Rede davon, daß ich verſchwinden müſſe, 
ſterben oder dergleichen wie beim erſten Male, nein, 
im Gegenteil, aber auch der gute Wikinger ſollte nicht 
von ihr betrogen werden; er ſollte ſie ganz und gar 
kennen und ſo weiter. Ich fand das anfangs zwar 
abſurd, aber bei näherer Überlegung ſagte mir die 
Idee doch zu. Sie ſchmeckte ein wenig nach ſchlechten 
franzöſiſchen Romanen, denen ich ſchon von jeher ver⸗ 
fallen war, und außerdem wollte ich auch ungern ganz 
und gar auf Polly Verzicht leiſten. Ich dachte mir, 
wenn der Wikinger mit offenen Augen in den Bund 
hineintritt, ſo wird meine Lage zweifellos ungenier⸗ 
ter ſein. 

Alſo trat ich Pollys Plan bei, ja, ich tat mehr als 
das: ich arrangierte das Ganze. Wir führten ein 


richtiges Drama auf, wie Meiſter Ohnet es nicht beſſer 
hätte erſinnen können. Die Frau Mama ermutigte 
den zaghaften Wikinger, dieſer brachte ſtammelnd und 
in ziemlich ſchlechtem Franzöſiſch ſeine Werbung vor, 
und Polly erwiderte, daß es ihr leider unmöglich ſei, 
ja zu ſagen — warum, das wiſſe ich! 

Nun trat ich auf die Szene, der Duzbruder, Lebens⸗ 
retter und Freund des Wikingerknaben. Anfangs leug⸗ 
nete ich ſcheinbar, dann erzählte ich alles, und die gute 
Seele wurde außerordentlich betrübt. Er lief ein paar 
Tage lang auf eigene Fauſt umher, dann kam er 
zurück und erzählte mir allerhand von ſeiner lieben 
Mutter, ſeinem Namen und der Ehre ſeines Geſchlechts. 
Ich bemerkte hierauf ſehr kühl, daß er in allen Stücken 
recht habe, aber ich meinerſeits wolle mich niemals 
verheiraten, betrachte mein Abenteuer mit Polly als 
beendet und dächte daran, mich von den Damen zurück⸗ 
zuziehen. 

Dir, mein Herr Neveu, wird nun dieſe ganze Sache 
natürlich höchſt widerwärtig erſcheinen; mich freilich 
wirſt Du ohne weiteres verſtehen und darum über mein 
Verhalten nicht erſtaunt ſein, aber daß auch ſie, der Engel, 
den du anbeteſt, ſo handeln konnte, das vermagſt du 
natürlich nicht zu begreifen. Darum will ich den Ver⸗ 
ſuch nicht ſcheuen, es Dir zu erklären: Weißt Du, was 
beſtändig — drohend wie ein Schreckensgeſpenſt — 
vor ihren Augen ſtand? — le demimonde! In Paris 
iſt der Schritt dorthin nicht lang und wird öfter ge⸗ 
macht, als man glaubt. Er wird ſelten auf einmal 
gemacht — der Weg dorthin iſt genau derſelbe, den 
Polly bereits betreten hatte. Eine Chance hatte ſie 
ſich bereits entgehen laſſen; nach einer tiefen inneren 
Anſchauung hatte ſie gehandelt, wobei ihr Gelegen⸗ 
heit genug geblieben war, zu überdenken, ob ſie klug 
oder dumm handle. Der Lord war über alle Berge, 
ihre Lage unſicher, und nun kam dieſe große däniſche 
Dogge an und wollte reinen Tiſch machen. In den 
Kreiſen, in denen ſie verkehrte, hatte Polly genug kon⸗ 


— 81 = 


ventionelle Ehen geſehen, und durch mich hatte ſie 
eine Seite des Lebens kennen gelernt, die die Frauen 
der Geſellſchaft ſonſt erſt in der Ehe kennen lernen. 
Sie wußte, was dieſe war. In jenem Augenblick, 
als der Mann, den ſie nicht liebte, um ſie anhielt, war 
ſie nichts als ein Mädchen, das zu Schaden gekommen 
war und eine Reparatur nötig hatte, voild tout! Ganz 
ſo närriſch nämlich iſt die Theorie der guten Sozial⸗ 
demokraten von der Gleichheit der Menſchen nicht. 

Und da der biedere Wikinger verliebt war wie ein 
Märzhaſe, ſo wurden die beiden unter meinem und 
Mamas Segen vermählt. Ich vermag dafür zu garan⸗ 
tieren, daß wir alle vier bei der Gelegenheit als die 
Ladies und Gentlemen auftraten, die wir waren. 
Das iſt einem eben ſchon angeboren — trotz der Sozial⸗ 
demokraten. 

Während des erſten Ehejahres hielt ich mich in einem 
gewiſſen Abſtand von ihnen, dann kam das übliche 
Ereignis, das programmmüßig eintraf, und da Henrik 
der älteſte Sohn des Lehnsgrafen war und er nun ſelbſt 
Vater eines Sohnes war, ſo erhielt er Papas und 
Mamas Abſolution. Der Herr Papa ſegnete bald darauf 
das Zeitliche, und Henrik erbte die Grafſchaft. 

Inzwiſchen hatte ich der Mama Bradlaugh in Riva 
am Gardaſee die Augen zugedrückt, und da ich dieſer 
lieben Frau noch in letzter Stunde feierlich gelobt hatte, 
auf Polly ein wachſames Auge zu haben, ſo näherte 
ich mich vorſichtig dem Taubenſchlag. Ich fand die 
beiden Turteltauben, jede auf ihrer Stange; Polly 
langweilte ſich, indes Henr'k ſich als Trockenamme be⸗ 
tätigte. Sofort war mir klar, daß Polly ſich weder 
aus dem Kind etwas machte, noch ihren Mann liebte. 
Dem Verſprechen, das ich ihrer ſeligen Mutter ge⸗ 
geben, eingedenk, machte ich einige ſchwache Verſuche, 
das Ganze wieder einzurenken, doch kam ich mir da⸗ 
bei recht lächerlich vor. Polly war herrlich, und die 
Erinnerungen regten ſich, und zwar nicht allein bei mir. 
Eines Tages kam Henrik entſetzt in mein Sue 

XXVI. 19. 


AR 


geſprungen und erzählte mir, feine Frau habe ihm 
ſoeben geſagt, daß ſie mich noch liebe. Er baute auf 
mich wie auf einen Ehrenmann, und da er weder 
aus noch ein wußte, fragte er mich ganz naiv um Rat. 
Nun muß ich geſtehen, daß ich für dieſen Menſchen 
niemals viel übrig gehabt habe. Ich habe ihm zwar 
des Leben gerettet, doch das hätte ich im gleichen 
Augenblick auch jeder andern Perſon gegenüber getan. 
Dafür hab ich ſein Eſſen gegeſſen, ſeinen Wein ge⸗ 
trunken, ſeine Pferde geritten und auf ſein Wild 
geſchoſſen. Seine Heirat arrangierte ich nur um Pollys 
willen, er ſelbſt war mir in dieſer Hinſicht völlig gleich⸗ 
gültig. Folglich verſpürte ich betreffs ſeiner Perſon auch 
keine Gewiſſensbiſſe. 

Ich ſagte ihm rund heraus, daß es meinem Lebens⸗ 
plan durchaus zuwiderlaufe, ein ſo ſchönes Weib wie 
Polly zu bitten, von ihrer Liebe zu mir abzuſtehen — 
daß ich indes ſelbſtredend bereit ſei, ſofort abzureiſen, 
aber nicht für die Folgen einſtehen könne, wenn ſie mit⸗ 
reiſte. Was die beiden darauf miteinander geredet haben, 
weiß ich nicht, aber er bat mich ſelbſt, bei ihm zu bleiben, 
und ſeitdem haben wir beide immer von Polly wie 
von einer lieben gemeinſamen Freundin, die wir beide 
hochſchätzten, geredet. Ich brachte die alte Welt in 
das neue Heim, und daran hat ſie nur Freude gehabt. 
Wir beide haben uns durchaus korrekt aufgeführt, und 
was vor zehn Jahren unſer Blut noch zum Sieden 
bringen konnte, das wirkt jetzt nicht mehr exploſiv!“ 

Am Fuße des Manufkripts war hinzugefügt: „Dies 
iſt die Geſchichte, die ich Dir erzählen wollte. Aller⸗ 
dings habe ich ſie nicht um Deinetwillen geſchrieben, 
denn ich weiß, daß Du Dich vielleicht über das Ganze 
hinwegſetzeſt. Aber ich habe ihr geſagt, daß Du alles 
wiſſen ſollſt, worauf ſie, um es zu verhindern, mir 
gedroht, mich angefleht und ſchließlich geweint hat. 
Vielleicht wirſt Du zu philoſophieren beginnen (obwohl 
Du zu dieſer Tätigkeit nicht beſonders geeignet erſcheinſt): 
Sie hat nicht einen Mann gehabt, ſie hat zwei Männer 


gehabt. — Eine vortreffliche Philoſophie, mein tugend⸗ 
ſamer Herr Neveu, aber lies dieſen Bericht noch ein⸗ 
mal durch: als ſie damals dem Lord Newton den Lauf⸗ 
paß gab, verſtand ſie noch nicht zu lügen — jetzt aber 
— Dir gegenüber — hat ſie's ſchon gelernt! 

Willſt Du ſie trotz meines väterlichen Rates bei Dir 
aufnehmen, gut, tue es — doch dann nimmſt Du auch 
mich in den Kauf, denn mein war ſie und iſt ſie, und 
ich werde das Idyll arrondieren. Darauf kannſt Du 
Dich verlaſſen. 

Lies ihr dieſes laut vor und höre dann, was ſie Dir 
über einen abweſenden Mann vorflunkern wird. Ich 
habe ihr geſagt, daß Du alles erfahren ſollſt, und ſie 
wird ſicher danach handeln. 

Dein Onkel Helmut von Piffert.“ 

Skram faltete die Papiere zuſammen und verließ 
das Zimmer. Nun galt es, auf neuem Wiſſen einen 
neuen Plan aufzubauen. 


VII. 

Lady Macbeth! 

Skram ſaß in der Bibliothek und blätterte in einem 
illuſtrierten Shakeſpeare⸗Bande. Das Bild, das er⸗ 
aufſchlug, war keine hervorragende Leiſtung des Zeich⸗ 
ners, namentlich der Geſichtsausdruck der Lady Mac⸗ 
beth war recht nichtsſagend oder gar einfältig, aber die 
Szene hatte der Zeichner richtig erfaßt: in ein falten⸗ 
reiches, mehr griechiſches als ſchottiſches Gewand ge⸗ 
kleidet, ſtand die ſchlanke Lady mit aufgelöſtem Haar 
unter einem mächtigen Steingewölbe. Neben ihr — 
auf einem breiten Säulenkopf brannte ein qualmendes 
Licht. Sie preßte ihre linke Hand gegen die rechte, 
als wolle ſie ein Merkmal wegwiſchen. 

Vet here's a spot. 

Im Hintergrunde ſieht man den Arzt und die 
Geſellſchaftsdame. 

Out, damned spot — out, I say! 


zrgi 


Und die Lady Macbeth des Bildes nahm die Züge 
an, die Skram ſo gut kannte, die Züge der belle dame 
sans merci. Sie würde nicht reden, nicht einmal zu 
ſich ſelbſt. Ihr Mund würde geſchloſſen ſein, feſt und 
grauſam, wie er es ſein konnte, wenn ihre Lippen 
ſich nach einem ſpitzen Sarkasmus zuſammenpreßten. 

Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob ſich 
Skram und eilte zum Telephon, das an der Wand des 
Bibliothekzimmers angebracht war. 

Nachdem er einen Augenblick lang gezögert, 
läutete er. 

Es verging eine Weile, ohne daß Antwort kam. 

Da läutete er wieder. 

„Ich möchte Verbindung mit Waldhof,“ ſagte er. 

„Dann müſſen Sie erſt mit Xdorf verbunden 
werden,“ lautete die Antwort. 

„Wird das noch lange dauern?“ fragte er, ſchon im 
Begriff, ſeinen Vorſatz fallen zu laſſen. Aber der Zufall 
wollte, daß Xdorf gerade zu haben war und er Ver⸗ 
bindung mit Waldhof erhielt. 

„Iſt Herr Pächter Viffert zu Hauſe?“ rief er in 
den Apparat. — Der Pächter ſei zu Hauſe, hieß es; 
ob etwas Wichtiges vorliege? 

„Ja, hier iſt Amtsrichter Skram. Es iſt etwas ſehr 
Wichtiges.“ 

Ein paar Minuten vergingen. — Dann kam Sigis⸗ 
mund Viffert ans Telephon. 

„Sind Sie da, Herr Viffert? — Ja, alſo ich habe 
Ihnen die betrübende Mitteilung zu machen, daß Ihr 
Onkel, der Herr Kammerjunker, letzte Nacht geſtor⸗ 
ben iſt.“ 

„Geſtorben?“ 

„Ja, er hat ſich mit einem Barbiermeſſer den Hals 
abgeſchnitten.“ 

Es kam keine Antwort. 

„Sind Sie noch da?“ 

„Ja, wünſchen Sie, daß ich noch heute nach der 
Edelsburg hinüberkomme, Herr Amtsrichter?“ 


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„Nein, das iſt nicht erforderlich. Wir haben die 
Leichenſchau bereits abgehalten und die Leiche nach dem 
Krankenhaus gebracht. Aber wenn es Ihnen morgen 
paßt — — oder ſchließlich — — ich bin der Vollſtrecker 
des Teſtaments, und ſo kann ich noch heute abend zu 
Ihnen hinüberkommen.“ 

„Weiß der Graf ſchon von der Sache?“ 

„Der Graf weiß davon. — Die Gräfin iſt am 
Morgen ausgeritten und noch nicht zurückgekehrt, doch 
erwarten wir fie jeden Augenblick. Ich telephoniere von 
der Edelsburg aus, wo ich mit dem Grafen eine Unter⸗ 
redung haben werde. — Sind Sie noch da?“ 

Es vergingen ein paar Augenblicke. Skram ſtand 
mit dem Hörrohr in der Hand da und wartete ruhig. 

Dann erklang eine andere Stimme im Telephon — 
die der Gräfin. Skram nickte ruhig vor ſich hin. Das 
hatte er gerade erwartet. 

„Sind Sie dort, Skram?“ 

„Ja, ich höre, Euer Gnaden.“ 

„Viffert erzählt mir, Helmut habe Hand an ſich 
gelegt!“ 

„Das ſtimmt.“ 

„Und Henrik?“ 

„Der Graf nimmt es ſehr ruhig auf; alle nehmen 
es ruhig auf. Ich werde mit Euer Gnaden noch wegen 
des Teſtaments reden müſſen; das iſt nämlich höchſt 
ſonderbar — na, darüber ſpäter.“ 

Die Stimme der Gräfin klang etwas unſicher, als 
ſie ſagte: „Sigismund Viffert erzählt mir eben, daß 
Sie auch mit ihm reden wollen.“ 

„Ja, mit ihm auch,“ verſetzte Skram. 

„So bitten Sie Henrik, daß er das neue Auto 
mit dem Chauffeur herüberſchickt; ich bin hier auf 
Waldhof und möchte Sie gleich, und zwar hier 
ſprechen.“ 

„Soll ich dem Grafen dieſen Beſcheid geben?“ 
fragte Skram. 

„Ja,“ lautete die Antwort. 


u RE: 


„Und wenn der Graf unter ſolchen Umſtänden mit- 
kommen will?“ fragte er wieder. 

„So ſagen Sie ihm, daß ich mit Ihnen allein zu 
ſprechen wünſche, und bitten Sie ihn zu warten, bis 
wir nach Hauſe kommen. Ich ſchicke Johann mit den 
Reitpferden nach Hauſe.“ 

„Wie Sie wollen. Alſo auf Wiederſehen.“ 

Er läutete ab. 

Dann nahm er auf einem der niedrigen Lehnſtühle 
der Bibliothek Platz und ſchlug die Beine übereinander, 
wie er zu tun pflegte, wenn er allein mit ſeinen Ge⸗ 
danken war. — 

Viffert hatte alſo recht gehabt — die Gräfin war 
auf Waldhof, und der Selbſtmord würde keinen Ein⸗ 
fluß auf ihre Pläne ausüben, wenn nicht — wenn 
nicht — — 

Die Tür ging auf, und der Graf trat ein. 

Er ſah aufgeräumt und heiter aus. 

„Ich habe Sie wohl etwas lange warten laſſen,“ 
ſagte er, „aber um nicht Jörgens Mißtrauen zu er⸗ 
wecken, habe ich das weniger gute Meſſer benutzt. 
Das nahm längere Zeit in Anſpruch und erforderte 
auch Vorſicht. Nun iſt es überſtanden, und wir 
können in aller Ruhe über das Ereignis reden. Neh⸗ 
men Sie eine Zigarre?“ 

Skram nahm dankend eine, und die Zigarren wurden 
angezündet. 

„Ich habe inzwiſchen über Ihre Mitteilungen ge⸗ 
hörig nachgedacht,“ fuhr der Graf fort. „Sie haben 
recht, es darf unter den Leuten nicht das geringſte 
Geſchwätz entſtehen. Was wollen Sie aber als Motiv 
zu dem Selbſtmord angeben?“ 

Skram erhob den Kopf. „Es iſt natürlich niemals 
leicht zu ermitteln, aus welchem Grunde ein Selbſt⸗ 
mörder ſeine Tat begangen hat. Nahrungsſorgen ſind 
hier ausgeſchloſſen, denn Viffert war ja ein ſehr ver⸗ 
mögender Mann; Liebeskummer iſt auch kaum die 
Urſache geweſen, denn dazu war er ein viel zu einge⸗ 


EI Re 


fleiſchter Egoiſt. Ich glaube, feine Herzkrankheit hat zu⸗ 
ſammen mit einer krankhaften Zwangsvorſtellung, die 
er mir übrigens geſtern in ſehr intereſſanter Weiſe 
beſchrieb, auf ihn eingewirkt. Er ſagte geſtern, er liebe 
das Leben, befürchte aber dennoch, daß er eines Tags 
Selbſtmord begehen könne. Daher gehe er auch nicht 
auf Jagd, könne weder Berge noch Türme beſteigen 
und raſiere ſich ungern ſelbſt. Die Furcht iſt ihm 
zum richtigen Zwangsgedanken geworden, ſein Gehirn 
muß nicht ganz normal funktioniert haben. Ich glaube, 
es liegt ein Fall vor, den die engliſche Coroner Jury 
‚momental insanity‘ nennt. Aber ſchließlich will ich 
ſeinen Motiven nicht nachjagen, ſondern das Doktor 
Kühn überlaſſen.“ 

Der Graf nickte. „Gut,“ ſagte er, „das iſt alles 
ſehr klug erdacht. Aber ich bitte Sie, Skram, ver⸗ 
geſſen Sie, was ich geſtern ſagte; ich war etwas erregt, 
und ich hege keinen Zweifel, daß meine Frau nun, 
nachdem Biffert tot iſt, viele Dinge mit andern Augen 
anſehen wird; ja, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß 
dieſer Todesfall mir nicht ſolchen Kummer bereitet, 
wie es doch eigentlich ſein müßte.“ 

Skram lächelte. „Es gibt ſicher niemand, der Viffert 
eine Träne nachweint! Das iſt das Los aller Egoiſten. 
Ein ſtilvolles Begräbnis — voild tout! würde Viffert 
ſelbſt geſagt haben.“ 

„Ich bin dem Manne ſehr zugetan geweſen,“ ſagte 
der Graf ernſt, „allerdings vor vielen Jahren. — Na, 
über die Toten nur Gutes! Er war ein begabter und 
in mancher Hinſicht auch tüchtiger Mann. Liebens⸗ 
würdig war er ja nicht und ſein Charakter war nicht 
gut. Na, wollen lieber nicht mehr davon reden. Wer 
beerbt ihn denn?“ 

Skram zuckte die Achſeln. „Das darf ich jetzt 
noch nicht ſagen. Das Teſtament ſetzte ich erſt geſtern 
abend auf, nachdem die Herrſchaft zur Ruhe gegangen 
war. Es iſt ſeinem Inhalt nach recht wunderlich und 
wird ſicher noch genug Zwiſt und Arger erregen. 


— 88 — 5 


Aber es iſt vollkommen geſetzmäßig und unanfecht⸗ 
bar.“ 

„Sie meinen, ſeine Verwandtſchaft werde einen 
Prozeß anſtrengen?“ 

„Zweifellos. Man wird behaupten, Viffert ſei 
unzurechnungsfähig geweſen, als er es machte. Wer 
die geſetzmäßigen Erben ſind, habe ich noch nicht unter⸗ 
ſucht, aber die werden ſich ſchon von ſelbſt melden. 
Jeder Tag hat ſeine Plage!“ 

Der Graf ſchwieg eine Weile lang, dann erhob er den 
Kopf. 

„Und Sie ſind ſicher, daß hier Selbſtmord vorliegt?“ 
„Warum fragen Sie danach, Herr Graf?“ 

„Sie haben ja ſelbſt geſagt, daß auf Jörgen ein 
Verdacht fallen könnte, denn Leonie iſt wohl die 
Erbin, das würde wenigſtens Helmut gleichſehen — — 
und dann iſt es ja jedenfalls Ihre Pflicht, eine Unter⸗ 
ſuchung anzuſtellen. Für Jörgen ſtehe ich ein — er iſt 
kreuzbrav und treu wie Gold, aber die Unterſuchung 
würde in höchſt unerwünſchter Weiſe die Aufmerk⸗ 
ſamkeit der Zeitungen auf die Affäre lenken. Sie 
verſtehen mich wohl.“ 

Skram erhob ſich. 

„Ich verſtehe es ſehr gut, Herr Graf, aber ſo weit 
kennen Sie mich wohl ſchon, um überzeugt zu ſein, 
daß ich nur im äußerſten Notfall einen Schritt unter⸗ 
nehmen werde, der dieſem Hauſe, in dem ich ſo viel 
Liebenswürdigkeit und Gaſtfreundſchaft genoſſen, Un⸗ 
friede und Ungemach ſchaffen müßte. Meine Pflicht 
als Beamter muß ich freilich tun, aber ich werde ſie 
zu vereinigen ſuchen mit dem, was ich Ihnen als Ihr 
Freund ſchulde.“ 

Der Graf drückte ihm die Hand. 

„Ich vertraue Ihnen, Skram. Aber ſagen Sie, 
kann das wirklich möglich ſein?“ 

„Es iſt noch ſehr unwahrſcheinlich,“ ſagte Skram, 
„in jedem Falle hängt es von dem Ergebnis der Ob⸗ 
duktion ab, die der Kreisarzt vornimmt. Bevor ich 


— 89 


irgend einen Schritt in dieſer 8 tue, werde 
ich Ihnen Bericht erſtatten.“ 

„Hm,“ meinte der Graf nach einer Weile nach⸗ 
denklich. „Polly iſt noch immer nicht zu Hauſe. Sie 
iſt am Morgen ausgeritten und hat den Beſcheid zurück⸗ 
gelaſſen, daß ſie zum Frühſtück wieder da ſein werde. 
Ich vermute, daß ſie bei Ahrenfelds oder vielleicht auch 
in Taarnborg iſt, aber — Sie verſtehen wohl — unter 
dieſen Umſtänden kann ich nicht rings herum nach ihr 
telephonieren. Das Gerücht geht natürlich draußen 
ſchon um. Ich ſelbſt hörte die Nachricht zuerſt von 
einem Landbriefträger, als ich von der Ziegelei zurück⸗ 
kehrte. Ich wünſche auch nicht, daß Sie nach der 
Gräfin telephonieren. Sie bekommt es noch früh genug 
zu wiſſen.“ 

„Selbſtredend,“ ſagte Skram. „Übrigens weiß ich, 
wo ſich Ihre Gnaden befindet. Sie iſt nach Waldhof 
hinüber .. . wahrſcheinlich hat fie ſich mit dem jungen 
Viffert geſtern abend verabredet. Ich muß wegen 
des Teſtaments zu ihm hinüberfahren, und die Frau 
Gräfin, mit der ich per Telephon redete, erſuchte 
mich, Sie zu bitten, mir das Auto zur Verfügung 
zu ſtellen.“ 

Der Graf ſtutzte. 

„Auf Waldhof?“ ſagte er langſam. „Und ſie weiß 
es? — Wie nahm ſie es auf?“ 

„Sehr ruhig,“ verſetzte Skram. „Die Frau Gräfin 
hat ja eine ſeltene Charakterſtärke. Sie ſagte noch, 
ſie möchte gern gleich mit mir reden.“ 

„Dann fahren wir beide zuſammen hinüber,“ ſagte 
der Graf und erhob ſich, um nach dem Stall zu klingeln. 

„Einen Augenblick noch!“ rief Skram. „Wollen Sie 
mich nicht lieber allein fahren laſſen, Herr Graf? Im 
Anſchluß an unſer Geſpräch von geſtern abend glaube 
ich, gerade heute etwas ausrichten zu können, und 
Sie wiſſen, daß niemand ſehnlicher den Wunſch hegen 
kann, daß die Verhältniſſe hier dieſelben bleiben, als 
gerade ich, beſonders nach dieſem Ereignis. Ich habe 


— 90 — 


einigen Takt und einige Menſchenkenntnis. Wirklich, 
Herr Graf, Sie ſollten meinem Vorſchlag folgen.“ 

„Nun, meinetwegen,“ ſagte dieſer. 

„Dann warte ich alſo auf den Wagen,“ fuhr Skram 
fort, „und Sie ſorgen wohl dafür, Herr Graf, daß die 
Zimmer geſchloſſen werden und niemand Zutritt er⸗ 

ält.“ 


„Wie Sie wünſchen. Brauchen Sie mich ſonſt 
noch?“ 

„Nein, danke.“ 

„Dann will ich zuſehen, ein wenig Eſſen zu be⸗ 
kommen, und auch ein paar Briefe ſchreiben. Im 
übrigen ſtehe ich zu Ihrer Verfügung.“ 

Skram verbeugte ſich. 

Der Graf klingelte. — „Wollen Sie etwas zu eſſen 
haben?“ fragte er noch. 

„Nein, danke,“ ſagte Skram, „ich habe ſchon ge⸗ 
geſſen. — Was ich noch zu beſtellen habe — und das 
iſt ein ganzes Teil — muß noch bis heute abend er⸗ 
ledigt ſein.“ 

So ſchieden ſie. 


Zweites Buch. 
Gräfin Polly. 
I. 


Das Automobil des Grafen war ein großer, roter 
Wagen von dreißig Pferdekräften; die beiden offenen 
Sitze des Inneren waren mit braunem Leder bezogen, 
und die mächtige Laterne blitzte in der Sonne um die 
Wette mit den ſchweren, blanken Beſchlägen. Skram 
ſaß, in einen Staubmantel gehüllt, auf dem Hinterſitz 
und überließ den Wagen der Führung des Chauffeurs. 
Er wollte nachdenken. 

Waldhof lag drei Meilen Wegs entfernt, und die 
Landſtraße lief durch ein ſtark kupiertes Terrain. Es 
war, als ſtünde der Wagen ſtill, und als werde die 
Landſchaft unter ihm hinweggezogen. Der Weg ſchien 
einem breiten gelbweißen Bande gleich auf mächtigen 
Rollen zu laufen, während die Gegend auf beiden 
Seiten mit Feldern, Gehöften und Kirchen langſamer 
als der Weg vorüberzugleiten ſchien; nur der Wald 
am Horizont, der ſcheinbar eine feſte Umrahmung des 
Ganzen bildete, ſtand ſtill; er lag anſcheinend außer⸗ 
halb der Maſchinerie. 

Der Chauffeur hatte Ordre erhalten, die Fahrt über 
das erlaubte Maß zu beſchleunigen, denn Skram hatte 
Eile, und mit heiſerem Tuten fuhr der große, rote 
Wagen an den niedrigen Hütten, den Ententeichen und 
den Wirtsgärten vorbei, am Zaune des Kirchhofes 
herum, dann vorwärts, auf- und niedergleitend und 
mit wiegender Bewegung die Hinderniſſe nehmend. 

Skram dachte über die Sache nach. Er liebte es, 


— 92 — 


Verantwortung zu tragen, niemals war er froher, als 
wenn er einer Tatſache gegenüberſtand, die eine neue, 
von ihm — ſeiner Perſönlichkeit und Kraft — geſchaffene 
Situation hervorrief. Hätte es ſich hier um eine ein⸗ 
fache bürgerliche Familie gehandelt — hätte ſich dieſes 
Schauſpiel in einem einfachen bürgerlichen Hauſe ab⸗ 
geſpielt — dann hätte kein Diener des Rechts gezögert, 
auf der Stelle einzuſchreiten. Daß wirklich ein Mord 
vorlag, betrachtete Skram als feſtſtehend, denn mit 
einem Meſſer, das abends um acht Uhr auf dem 
Toilettentiſch des Grafen gelegen hatte, konnte der 
Kammerjunker ſich nicht um zwei Uhr nachts den Hals 
abſchneiden, ohne ſich das Meſſer zu holen, und daß er 
zwiſchen zwölf und zwei Uhr nachts eins der ihm ge- 
ſchenkten Meſſer umgetauſcht haben konnte, war ganz un⸗ 
denkbar. Er hätte dann das Schlafzimmer der Gräfin 
paſſieren oder auf einem weiten Umweg über ver⸗ 
ſchiedene Treppen durch das Schlafzimmer des Grafen 
gehen müſſen, denn die nach dem Korridor führende 
Tür des Ankleidezimmers war in der Nacht verſchloſſen. 
Das hatte Skram konſtatiert. Nach allem, was vor⸗ 
lag, mußte ſich eine Perſon nach zwei Uhr nachts, als 
der Kammerjunker von ſeinem nächtlichen Beſuch bei 
Mamſell Leonie zurückgekehrt war, Zugang zu ſeinen 
Zimmern verſchafft haben. Da nun ſicher noch einige 
Zeit verſtrichen war, bis der Kammerjunker zur Ruhe 
gegangen und eingeſchlafen war, ſo konnte die Tat 
nicht gut vor drei Uhr geſchehen ſein. Und für dieſen 
Zeitpunkt mußte ſich Jörgens und Leonies Alibi feſt⸗ 
ſtellen laſſen. Graf Henrik konnte dieſe Perſon eben⸗ 
falls nicht ſein, denn er hätte Skram ſicher nicht auf 
die Verſchiedenheit der Meſſer aufmerkſam gemacht, 
wenn er ſelbſt als der Täter die Meſſer umgetauſcht 
hätte, um die Spur des Verbrechens zu verwiſchen. 
Natürlich lag der Gedanke nahe, daß ein ſehr raffi⸗ 
nierter Verbrecher auf einen ſolchen Plan verfallen 
könnte, jedoch ſolch ein raffinierter Verbrecher war 
Graf Henrik auf keinen Fall. Er, ein Mann von ge⸗ 


. 


rader Denkweiſe, war wohl ein wenig ſchwerfällig, 
hatte keinen ſonderlich hellen Kopf, aber er war ehr⸗ 
lich und treuherzig. Ein ſolcher Mann konnte in ſeinem 
Leben allenfalls wirklich ein Verbrechen begehen und 
auch Schritte tun, es zu verbergen — das bewirkt ja 
einfach der Selbſterhaltungstrieb — aber immer mußten 
ſich in ſeiner Verteidigungstaktik Züge finden, die ſeiner 
Natur entſprachen. Wenn er den Umtauſch bewirkt 
hätte, dann hätte er ſicher nicht den Tagesnamen über⸗ 
ſehen, er, der doch ganz pedantiſch daran feſthielt, daß 
jeder Tag ſein beſtimmtes Meſſer habe — für den 
dieſe Tagesnamen täglich eine Rolle ſpielten. Und 
wenn er es wirklich überſehen hätte — infolge der 
Aufregung, infolge jener unverſtändlichen Blindheit, 
von der Verbrechen oft begleitet ſind — ſo würde 
ſeine Reflexion doch wieder erwacht ſein, als er das 
Meſſer in der Hand hielt. Er würde dann niemals 
den Mann, der ihm gefährlich werden konnte, auf 
eine Spur leiten, die ganz unnötig war, da dieſer 
Mann ja noch gar keinen Verdacht geäußert hatte. 
Auch beim Geſpräch über Jörgen hatte der Graf keinen 
Augenblick lang den Eindruck des Schuldigen gemacht. 
Skram fühlte ſich völlig überzeugt, daß er hier kein 
Recht zum Einſchreiten habe und daß jeder Angriffs⸗ 
punkt mangle. 

Aber der Kammerjunker war ermordet worden, 
und es war ſo gut wie ausgeſchloſſen, daß der Täter 
von außen her gekommen war. Es mußte jemand 
von den Bewohnern des Schloſſes geweſen ſein, und 
nach allen Erwägungen blieb nur noch eine Perſon 
übrig: die Gräfin Polly! 

Und ſie hatte Beweggründe für die Tat gehabt. 
Es war klar, daß ihrem Wunſch, ihr Leben zu 
leben, nichts andres als eine Spätſommerverliebtheit 
in Sigismund Viffert zu Grunde lag, den ſie noch 
vor Erkaltung ihres Opfers aufgeſucht hatte. Viffert 
hatte ihr gedroht, das ſtand ja deutlich in dem Briefe; 
er hatte geſagt, daß er ſeinem jungen Neffen alles 


— 94 — 


erzählen werde. Den Heiligenſchein, der von ihr aus⸗ 
ſtrahlte, hatte er ihr nehmen und den jungen Mann 
hatte er ſehend machen wollen — ſo ſehend, daß der 
Zauber brechen mußte. Und damit dieſes nicht geſchehe, 
mußte er ſterben. Das war klar. Gräfin Polly hatte 
ſchon einmal eine ähnliche leidenſchaftliche Liebe gehabt 
— damals, als ſie zu Viffert geſagt hatte: „Wenn du 
bereit biſt, durch eigene Hand zu ſterben.“ Nun trat 
wieder eine ſolche Leidenſchaft in ihr Leben, jetzt aber 
kannte ſie die Menſchen, ſie kannte das Leben, und 
ſie kannte Viffert, und nun fragte ſie nicht, ob er 
ſterben wolle, ſondern nahm ihm das Leben, während 
er ſchlief, weil es das Sicherſte war und weil ſie ſeinen 
Tod wollte. 

Sie hatte nichts von den Meſſern gewußt und die 
Bemerkung bei Tiſch vielleicht überhört. Daher nahm 
fie das ſcharfgeſchliffene Meſſer, das — wie fie wußte — 
auf dem Tiſch des Grafen lag, als Waffe an ſich; es 
galt für ſie vor allem, Viffert aus dem Leben zu 
ſchaffen, und weniger, die Spur des Verbrechens zu 
verwiſchen. Er mußte ſterben, bevor es Tag wurde, 
denn am nächſten Tage wollte er reden, das hatte er 
ſelbſt geſagt, und ſie wußte, daß er Wort halten würde. 
Sie hatte nicht überlegt, wie ſie ihre Tat verbergen 
ſolle, denn dazu fanden ſich wohl immer noch Mittel 
im Hauſe. Und ſie ſchreckte wohl auch kaum davor 
zurück, den Verdacht auf Jörgen oder gar Henrik zu 
lenken. Sie konnte nicht ahnen, daß Viffert einen 
Brief geſchrieben und dieſen Leonie zur Beſorgung 
übergeben hatte, und wie ſollte wohl jemand, ohne 
den Inhalt des Briefes zu kennen, auf einen Ver⸗ 
dacht gegen ſie verfallen? So war ſie denn, nachdem 
ſie gelauſcht und ſeine Tritte über den Fußboden und 
die Treppe mit atemloſer Spannung verfolgt hatte, 
hinaufgeſchlichen — hatte gewartet, bis ſie annehmen 
konnte, daß er ſchlafe, und ihn dann umgebracht. Dann 
hatte ſie ſich wohl umgeſehen und die Meſſer entdeckt, 
und ſofort war ihr der Gedanke gekommen, daß ſie 


— 9 


auf leichte Weiſe den Verdacht gegen jedermann aus⸗ 
ſchließen könne. Sie kannte die Meſſer wohl, doch 
beachtete ſie die Tagesnamen nicht; als Frau inter⸗ 
eſſierte ſie ſich nicht für Barbiermeſſer und bekümmerte 
ſich nicht um die Toilettenfineſſen ihres Mannes. Sie 
griff blind darauf zu, nahm das Donnerstag⸗Meſſer 
und ſchlich damit in ihr Schlafzimmer hinab, nicht ah⸗ 
nend, daß ein Zufall ihr die Kammerzofe in den Weg 
führen könnte, die nicht, wie die Gräfin glauben mußte, 
ruhig ſchlafend in ihrer Manſarde lag. 

Und dann — früh des Morgens — war ſie aus⸗ 
geritten, um fern von aller Unruhe und aller Pein, 
die die Entdeckung des Todesfalls mit ſich bringen mußte, 
zu fein — — um ihn zu treffen und Pläne für ihr 
künftiges Leben zu ſchmieden. — 

Dies waren die Gedanken, die Skrams Gehirn 
durchjagten, während der gelbweiße Weg unter ihm 
fortgeriſſen wurde. So war es zugegangen, und 
daraufhin war er berechtigt, Gräfin Polly Eiſenbart 
zu jeder Stunde zu verhaften und ſie des Mordes zu 
bezichtigen, des Verbrechens, deſſen Strafe — der Tod iſt. 

Aber wollte er das wirklich tun? 

Skram war ein heftiger Widerſacher der in der 
Rechtsordnung feſtgeſetzten Todesſtrafe, aber ebenſo 
heftige Abneigung hegte er gegen die Veranlaſſung dieſer 
Strafe — gegen den Mord. Er betrachtete das Leben als 
ein Recht aller. Nur im Notwehrfalle, wo Leben gegen 
Leben ſtand, erſchien ihm das Töten eines Menſchen 
ſtatthaft, obwohl er ſelbſt bier verlangte, daß es tunlich 
vermieden werde. In dieſem Punkt war er Fanatiker, 
und jung war er ja auch. Hier Schonung zu üben, 
wie das Herz es verlangte, ging gegen die Erfahrung 
ſeines Lebens und den Grundzug ſeines Charakters. 
Nicht, daß es ihn getrieben hätte, das Wehe der Ver⸗ 
geltung über ihr Haupt zu bringen, aber ihm deuchte 
es unumgänglich, daß ſie, die die erſte Forderung 
der Geſellſchaft, Achtung vor dem Leben des andern 
zu empfinden, verletzt hatte, auch die Wiedervergel⸗ 


u Br 


tung derſelben Geſellſchaft — die Strafe auf ſich 
nähme. 

So ſicher war er ſeiner Sache, daß er in Gedanken 
die Gräfin bereits ihrer Strafe gegenüberſtellte und 
von allen andern Möglichkeiten abjah. 

Aber wenn es auch für ihn in dieſer Hinſicht kein 
Zweifeln und Zögern mehr gab, wie ſtand es denn 
mit den andern, die nicht ſo wiſſend und ſehend waren 
wie er? 

Viffert war tot; dieſe Tatſache ſtand feſt; aber es 
konnte ſich um Selbſtmord handeln; im Edelsburger 
Polizeiprotokoll ſtand vorläufig geſchrieben, daß Selbſt⸗ 
mord vorliege, und es gab nur einen, der mit Sicher⸗ 
heit wußte, daß es nicht ſo zuſammenhing. Die Beweg⸗ 
gründe zu der Tat kannten nur ſie und er. Sie hatte 
ihre treibende Kraft gefühlt, und er hatte ſie aus den 
Worten des Toten herausgeleſen, die, ohne von dieſer 
Kraft zu reden, ihn doch vermuten ließen, zu welcher 
Stärke ſie bei ihr anwachſen könnte. Aber nicht einmal 
ihr Mann, der doch behauptete, daß ſie nichts vor ihm 
verberge, ahnte, daß ſie Sigismund Viffert liebte, und 
Skrams einziger Zeuge war der Brief, der ebenfalls 
nichts Poſitives beſagte. Die Enthüllungen, die im 
Briefe Vifferts ſtanden, hatten ihm wohl Gewißheit 
verſchafft, allein nur, weil ſie ſich auf ſein Wiſſen von 
dem gefundenen Meſſer ſtützten. Die Erzählung allein 
war nicht hinreichend, dieſe Gewißheit zu ſchaffen; ſie 
bildete nur ein Beweismoment, einen Anlaß für 
Glauben oder Nichtglauben — für eine richterliche 
Vermutung. Der Brief ſelbſt beſagte nichts; ihm wie 
auch dem Teſtament konnte Skram jede beliebige Aus⸗ 
legung unterſchieben. Und die Gräfin würde ſicher 
ihre Schuld verneinen. Er erinnerte ſich noch ihrer 
Worte: Was ich nicht ſagen will, das ſage ich nicht, 
und wenn man mich auf ein glühendes Eiſen legte. 
Sie würde wie der Inkakönig mit den Worten auf 
den Lippen ſterben: Auch ich hab' nicht auf Roſen 
gelegen; aber eingeſtehen würde ſie nichts. 


— 7 


Und was die Meſſer betraf — freilich der Kreis⸗ 
arzt war vorhin Zeuge geweſen, aber dieſer hatte nicht 
die im Etui liegenden Klingen am Abend vorher ge⸗ 
ſehen, und die Worte des Grafen klangen noch in 
Skrams Ohren: „Es muß eine Vertauſchung vor⸗ 
gekommen ſein; das iſt zwar merkwürdig, aber immer⸗ 
hin möglich; es muß eine Vertauſchung vorliegen.“ 
Und ſchließlich gedachte Skram auch ſeiner eigenen 
Worte: „Tuesday kann leicht für Thursday geleſen 
werden.“ Und zwei Buchſtaben von wenigen Milli⸗ 
metern Höhe ſollten die Grundlage dazu bilden, die 
Gräfin Polly Eiſenbart auf Edelsburg des Mordes zu 
bezichtigen? 

Die Sozialdemokraten vielleicht würden es glauben, 
aber der wohlgeſinntere Mittelſtand und gar die Großen 
im Lande — — —? 

Niemals! Auf das Zeugnis eines einzigen Beamten 
hin wird keiner zum Tode verurteilt. Nein, jeder würde 
es für Selbſtmord halten; daß hier Selbſtmord vorlag, 
konnte man doch ſchon daran erkennen, daß der Kammer⸗ 
junker es ſo eilig mit ſeinem Teſtament gehabt hatte. 
Der junge Richter, würde es heißen, befindet ſich auf 
einer falſchen Spur; es iſt ja ganz ſchön, eine wach⸗ 
ſame Behörde zu haben, aber beſſer iſt es immerhin, 
das Schwert des Rechts einem alten, ruhigen Manne 
anzuvertrauen, und nicht einem Brauſekopf, der — 
um ſich einen Namen zu machen — darauf losſtürmt 
und Menſchenleben vernichtet! 

Ein Brauſekopf, der vorwärts ſtürmt, von ſeinem 
Ehrgeiz getrieben? — Nun, er, der die Wahrheit kannte, 
war jedenfalls bereit, auch die Verantwortung auf ſich 
zu nehmen. 

Und eins nahm er ſich vor: hier ſollte kein Fehler 
begangen werden. So iſt es ſchon ein Fehler, das 
Schwert zu ziehen, wenn man es nicht ſchwingen darf; 
denn ſo oft das Schwert des Rechts gegen den Willen 
des Volkes geſchwungen wird — ſo oft es geſchwungen 
wird, ohne daß das Volk einſieht, warum — erhält 

XXVI. 19. 7 


— 98. 


die Schneide eine Scharte, und die blanke Klinge wird 
bei ſolchem Mißbrauch zur ſtumpfen Säge. 

Nein, tauſendmal lieber Verbrechen ohne Strafe — 
als Strafe ohne Verbrechen, und das Verbrechen muß, 
um ein ſolches zu ſein, von allen erkannt werden. 

Denn die Allgemeinheit ſtraft — nicht ein einzi⸗ 
ger. — — 

Nun zeichneten ſich die roten Dächer von Waldhof 
zwiſchen dem Grün der Bäume ab. Skram ſchaute 
auf. Hic Rhodus hic salta! 


II. 


Gräfin Polly wartete an der Treppe, als das Auto- 
mobil heranrollte und vor dem ausgehauenen Stein⸗ 
portal hielt. Sigismund Viffert ſtand neben ihr. Beide 
grüßten freundlich und ernſt, wie die Lage der Dinge 
es gebot, und bald darauf ſaß Skram in dem großen, 
altmodiſch möblierten Gartenzimmer, vor deſſen ſchma⸗ 
len Fenſtern dichtſtehende Obſtbäume eine ſchützende 
Wehr gegen die Sonnenſtrahlen bildeten. 

Klipp und klar berichtete Skram, was geſchehen war; 
den Hauptnachdruck legte er auf die Abfaſſung des 
Teſtaments und die ſonderbare Eile, die Viffert dabei 
gezeigt hatte. Er redete von der Herzkrankheit und 
den Zwangsvorſtellungen, verweilte lange bei dem 
ſonderbaren Vorfall mit den Barbiermeſſern, die Viffert 
mitten in der Nacht gebracht wurden, und ſchloß mit 
einigen gewöhnlichen Worten über den Verſtorbenen, 
deſſen trauriges Ende kein eigentlicher Verluſt war, 
ſondern ein Ereignis, das bald in Vergeſſenheit geraten 
würde. 

Die beiden hörten ihm ſchweigend zu, Viffert be⸗ 
nommen, ernſt und ruhig, Gräfin Polly mit weib⸗ 
licher Teilnahme, etwas unbehaglich berührt, vielleicht 
ſogar ein wenig bekümmert. 

„Und die Leiche?“ fragte ſie. 

„Die iſt ſchon nach dem Krankenhaus gebracht 


— 9 — 


worden, wo die Obduktion vorgenommen werden ſoll. 
Alsdann iſt die Sache erledigt.“ 

Sie redeten über den Verſtorbenen, und Außerungen 
wurden getan, wie ſie Skram nur erwartet hatte. Hel⸗ 
mut Viffert war tot, und fein Nachruf entſprach feinem 
Verdienſt. 

Gräfin Polly ſuchte ihn zu entſchuldigen, indem ſie 
ſein einſames Leben hervorhob, die harten Kämpfe, die 
er in der Jugend durchgemacht hatte, das von ſeiner 
Verwandtſchaft an ihm begangene Unrecht, ſeine eigen⸗ 
artige Begabung und große Begabung auf einzelnen 
Gebieten. 

Eine nette Leichenrede, dachte Skram. Sie war 
genau ſo, wie er ſie erwartet hatte. 

Und dabei merkte er deutlich, daß Gräfin Polly 
ſich ſehr für den Grund intereſſierte, der ihn nach 
Waldhof geführt hatte. 

Skrams Abſicht war in Wirklichkeit nur, ſie zu 
treffen, der erſte zu ſein, der ihr Nachricht brachte, 
und die Vermutung, daß Sigismund der Mann ihrer 
Wahl ſei, beſtätigt zu ſehen. Sodann wünſchte er, mit 
ihr unter vier Augen zu ſprechen, noch ehe ſie mit 
einem andern geredet hätte und die Möglichkeiten, die 
ihr die Zukunft bot, überſchauen könnte. 

Er wollte — mit andern Worten — ſie für ſein 
erſtes Verhör iſolieren. 

Dies freilich konnte er nicht gut als den Grund 
ſeines Kommens angeben. Und darum ſagte er: „Ich 
wollte mit Ihnen, Herr Viffert, als dem nächſten Ver⸗ 
wandten des Verſtorbenen gern reden, bevor ich das 
Amt übernehme, das mir der Verſtorbene zugedacht 
hat. Das Teſtament iſt ein Glied in der Kette von 
Umſtänden, die ſich um den Selbſtmord ſchließt, und 
ich möchte Ihren Namen nicht gern in die Sache hinein⸗ 
ziehen, bevor ich mit Ihnen geredet habe. Wenn die 
Frau Gräfin mir alſo ein paar Minuten zu einem 
Geſpräch mit Herrn Viffert laſſen wollte — —“ 

Sigismund unterbrach ihn. „Iſt nicht nötig, lieber 


— 100 — 


Herr Amtsrichter. Gräfin Polly und ich haben keine 
Geheimniſſe voreinander.“ 

„Ja,“ fügte die Gräfin ruhig hinzu, „nach dieſem 
ungewöhnlichen Ereignis habe ich nichts dagegen ein⸗ 
zuwenden, daß Sie erfahren, daß Sigismund Viffert 
die Urſache zu meinem Schritt bildet, über den ich 
geſtern mit Ihnen ſprach. Ich brauche wohl nicht 
mehr zu ſagen.“ 

Skram verbeugte ſich — der erſte Teil feiner Miſſion 
war beendet. Viffert hatte mit ſeiner Vermutung 
recht gehabt. 

„Sie wollen uns alſo mitteilen,“ fuhr die Gräfin 
fort, „welche Beſtimmungen Helmuts Teſtament ent⸗ 
hält — mit Bezug auf Sigismund und — mich.“ 

Skram begriff ſofort, daß dieſes „und mich“ deut⸗ 
lich verriet, daß die Gräfin ſchon am vorigen Abend 
mit Viffert über das Teſtament unterhandelt hatte. 
Wußte ſie alſo ſchon alles? Das mußte er ſofort er⸗ 
proben. 

„Der Kammerjunker erzählte mir geſtern abend, 
daß er Euer Gnaden bereits den Inhalt des Teſtaments 
mitgeteilt habe. Da es von mir als Amtsperſon nicht 
korrekt gehandelt ſein würde, den Inhalt einem andern 
als Herrn Viffert allein anzuvertrauen, ſo möchte ich 
gern wiſſen, ob Euer Gnaden den Inhalt wirklich ſchon 
kennen oder nicht.“ 

„Ja,“ ſagte die Gräfin, „ich weiß, daß ich ſeine 
Erbin unter gewiſſen Bedingungen bin — aber,“ fügte 
ſie hinzu, als bereue ſie, ſich ſoweit vorgewagt zu haben, 
„ſomit iſt es ja ſinnlos, daß Sie es mir nicht ſagen 
wollen. Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, 
Skram. Oder iſt das Teſtament etwa abgeändert 
worden?“ 

Skram ſchien es, als habe er jetzt bereits einen 
Fehler begangen. In einem ſo unweſentlichen Punkte 
hätte er nicht Schwierigkeiten machen dürfen, zumal, 
da die Gräfin bedingungslos Beſcheid wußte. 

Er verbeſſerte ſich daher ſchnell und ſagte lächelnd: 


— 11 — 


„Euer Gnaden müſſen ſchon meine Beamtenpedan⸗ 
terie entſchuldigen; die wahre Urſache aber iſt, daß ich 
mich geniert fühle, über dieſe Bedingungen zu dreien 
zu diskutieren. Wie Euer Gnaden wohl wiſſen, ver⸗ 
langt der Verſtorbene von Ihnen, daß Sie die Er⸗ 
klärung abgeben, niemals mit Herrn Viffert die Ehe 
einzugehen, nachdem Ihre gegenwärtige Ehe, wie der 
Verſtorbene es erwartete, gelöſt iſt. — — Darf ich 
fortfahren?“ 

Die Gräfin war glühend rot geworden. Skram 
ſtutzte. Wußte ſie es etwa nicht? Aber nun war es 
einmal geſagt, und ſo fuhr er fort: „Dieſe Bedingung, 
die den nächſten Erben in zweifacher Weiſe von der 
Erbſchaft ausſchließt, iſt an und für ſich anſtößig. Man 
kann ſie nicht gut veröffentlichen, und leider läßt ſie 
ſich auch nicht beiſeiteſchieben. Was ich nun wünſche, 
iſt eine Erklärung des Herrn Viffert, die zuſammen 
mit der offiziellen Bekanntmachung des Teſtaments 
den Erben vorgelegt werden und der abſonderlichen Ver⸗ 
mutung, die das Teſtament ausſpricht, den Stachel 
nehmen könnte.“ 

Die Gräfin ſah Skram bewundernd an, und dieſer 
fand im Stillen ihre Bewunderung ganz berechtigt; 
denn dieſe Wendung war wirklich wohlgeglückt, um 
ſo mehr, als er ſie — was die Gräfin nicht wußte — 
ganz impulſiv, einer Eingebung des Augenblicks folgend, 
vorgeſchlagen hatte. 

Skram fuhr fort: „Wenn ich eine ſolche Erklärung 
vorlegen könnte, würde jedermann ſich ſagen, der Ver⸗ 
ſtorbene habe einen ganz ſonderbaren Irrtum be⸗ 
gangen. Ich hatte zuerſt gedacht, daß Euer Gnaden 
ſelbſt eine ſolche Erklärung abgeben könnten, wenn 
Sie, was ich allerdings vorhin nicht wußte, keine Be⸗ 
denken dagegen trügen. Es ließe ſich jedenfalls machen, 
ohne auch nur den Schimmer eines Argwohns auf 
Sie zu werfen. Es dreht ſich ja nur um die wunder⸗ 
lichen Ideen eines Selbſtmörders.“ 

„Was meinen Sie aber jetzt, da Sie mehr wiſſen?“ 


— 102 — 


fragte die Gräfin. Sie verließ ſich offenbar ganz auf 
Skrams Scharfſinn und ſeine juriſtiſche Tüchtigkeit. 

„Ja,“ ſagte Skram, „wenn es wirklich Ihre Ab⸗ 
ſicht iſt, in drei Jahren mit Herrn Viffert die Ehe 
einzugehen, dann wird es freilich ſchwer fallen, eine 
Erklärung abzugeben, daß Sie das nicht tun wollen. 
In dieſem Falle möchte ich Ihnen raten, zu erklären, 
daß Sie unter keinen Umſtänden ein Erbe annehmen 
wollen, das ſich als eine gewiſſe Anſpielung auffaſſen 
läßt, die gegenwärtig, da Sie Graf Henriks Gattin ſind, 
nur beleidigend für Sie ſein kann. Eine ſolche Er⸗ 
klärung würde ich mit Vergnügen für Sie abfaſſen, 
und damit fielen alle Zweifel fort.“ 

„Zuſammen mit der Erbſchaft,“ ſagte die Gräfin, 
kurz auflachend. 

„Zuſammen mit der Erbſchaft,“ wiederholte Skram 
und blickte ſie forſchend an. „Aber Euer Gnaden können 
ſelbſtverſtändlich auch anders handeln. Sie könnten 
wenigſtens vorläufig Ihre Pläne fallen laſſen, eine 
Erklärung wie die erſtgenannte abgeben und das Erbe 
in Empfang nehmen. Sollten Sie ſpäter Ihre An⸗ 
ſicht ändern und die Ehe einzugehen wünſchen, ſo 
müßten Sie ſelbſtredend den vollen Betrag an die 
berechtigten Erben zurückerſtatten. Aber ich möchte doch 
bemerken, daß ich nach dem, was geſchehen iſt, eine 
ſolche Erklärung nur ungern abfaſſen würde.“ 

„Das alles will ſagen: er verfolgt mich über das 
Grab hinaus,“ ſagte die Gräfin bitter und biß die 
Zähne zuſammen. 

Skram blickte ſie an. — Der grauſame Mund! 
dachte er. 

Doch ſie bereute ihren Ausruf ſofort und fuhr eilig 
fort: „Wer find denn die ſonſtigen Erben?“ 

„Graf Henrik — Mamſell Leonie — und der Reſt 
iſt für das Allgemeinwohl beſtimmt nach Kühns und 
meinem Gutdünken.“ 

„Mir dies zu verraten, dazu halten Sie ſich wohl ohne 
weiteres für berechtigt, nicht?“ ſagte die Gräfin ſcharf. 


— 103 — 


„Ja,“ verſetzte Skram. „Sie wußten es ja ſchon.“ 

„Nein,“ ſagte ſie, „mir das zu erzählen, iſt ihm 
doch zu ſchwer gefallen.“ 

„Es iſt indeſſen ſo,“ ſagte Skram. „Ich ſehe 
Schwierigkeiten voraus, aber ich, der als Notar das 
Teſtament atteſtiert hat, muß hervorheben, daß der 
Kammerjunker bei voller Vernunft geweſen iſt, als er 
ſeine Beſtimmungen traf, und dieſe müſſen ſomit von 
jedermann reſpektiert werden.“ 

„Ich muß mit dir darüber reden, Sigismund,“ 
ſagte die Gräfin. 

Das Wort „du“ wird in jener Gegend gewöhnlich 
zwiſchen Nachbarn gebraucht, und hat ſomit nichts 
weiter zu bedeuten. Skram hatte die Gräfin aller⸗ 
dings noch nie ſo zu Viffert reden hören und er hatte 
ja auch erſt ſoeben ihr gegenſeitiges Verhältnis erfahren, 
aber dennoch war er überzeugt, daß dieſes „Du“ an 
und für ſich nichts zu bedeuten hatte. 

„Dazu iſt auch reichlich Zeit,“ ſagte er. „Nur ſcheint 
mir, als hätte ich Herrn Viffert gar nicht aufzuſuchen 
brauchen. Ich vermag wohl zu verſtehen, daß Ihnen 
die Erörterungen, die an dieſes ſonderbare Teſtament 
geknüpft werden können, nicht ſympathiſch ſind und 
daß Sie Ihre Entſcheidung gerne auf ſpäter verſchieben 
möchten. In dieſem Falle iſt mein Auftrag erledigt. 
Ich ſelbſt habe nur die Beſtimmungen des Teſtaments 
zu erfüllen und das Barvermögen zu verwalten, das 
nach der Ausſage des Verſtorbenen gegen ſechs⸗ bis 
ſiebenhunderttauſend Kronen beträgt, mithin recht be⸗ 
deutend iſt.“ 

Die beiden ſaßen ſchweigend da. 

„Und einen andern Auftrag haben Sie nicht?“ 
fragte die Gräfin nach einer Weile. 

„Doch,“ ſagte Skram, „im Grunde genommen, habe 
ich noch einen zweiten Auftrag, und ich kann ihn auch 
gleich nennen. Es hat dem Kammerjunker offenbar 
daran gelegen, einen Bruch zwiſchen Euer Gnaden und 
ſeinem Neffen herbeizuführen. Er hat ſchärfere Augen 


— 104 — 


gehabt als wir andern, ja, als Graf Henrik ſelbſt; das 
darf ich nun, da Sie mir Ihr Vertrauen geſchenkt haben, 
wohl ſagen. Und er hat ſich in den Kopf geſetzt, 
dieſe — laſſen Sie mich ſagen — Partie zu verhindern. 
Er hat einen Brief an Herrn Viffert hinterlaſſen, in 
dem er ſeinem Neffen eindringliche Vorhaltungen 
macht, wie unrecht es gehandelt ſei, zwiſchen zwei 
Ehegatten zu treten. Dieſer Brief befindet ſich in 
meinem Verwahrſam und darf wohl dem Adreſſaten 
übergeben werden.“ 

Skram hatte ſich ausſchließlich an die Gräfin ge⸗ 
wendet, und er merkte, daß ſie ihn verſtand; ſie er⸗ 
glühte und bewegte ſich unruhig auf ihrem Stuhl. 

Sie unterbrach ihn: „Und den Brief haben Sie 
bei ſich?“ 

„Ja,“ ſagte Skram. 

„Haben Sie ihn geleſen?“ fragte ſie kurz. 

Skram glaubte ihr Herz ſchlagen zu hören. — Sie 
wußte, was in dem Briefe ſtand. „Ja,“ ſagte er, 
„es war von Amts wegen meine Pflicht.“ 

„Ihre Pflicht, einen Brief zu leſen, der nicht an 
Sie gerichtet iſt?“ 

„Mit den unabgeſandten Briefen eines Selbſt⸗ 
mörders muß ſich die Behörde bekannt machen. Es 
iſt bloß noch mein Amt, Herrn Viffert zu ſagen, daß 
ihm der Brief nicht vor Abſchluß der Sache ausgeliefert 
werden kann.“ 

Sigismund Viffert verſtand offenbar die Erregung 
der Gräfin nicht. Er ſaß wie gewöhnlich da und ſtarrte 
ſie an. Sie war jetzt etwas blaß, aber äußerlich ruhig, 
und ihr geſchloſſener Mund verriet wieder rückſichts⸗ 
loſe Entſchloſſenheit. 

Skram begriff, daß die Vergangenheit, die er mit 
ihr verlebt hatte, jetzt unwiderruflich vorbei war. Er 
war nicht ihr Freund mehr, er hatte ihr geſagt, daß 
Vifferts Geheimnis nicht mit deſſen Tod ins Grab 
gehen werde, ſondern in ihm weiterlebe. Und wenn 
es zum Kampfe kam, mußte er das Geheimnis offen⸗ 


— 105 — 


baren. Doch unter der Maske der Freundſchaft zu 
kämpfen, war ſeiner Natur zuwider. Hier ſtand hart 
gegen hart. Sollte er fie beſiegen, dann mußte der 
Sieg durch ſein größere Stärke und die gute Sache, 
die er verfocht, gewonnen werden; überliſten ließ ſie 
ſich gewiß nicht. Und nun hatte er ſich ihr ſo weit 
genähert, daß ſie die Gefahr ahnte: das Geheimnis 
des Toten lebte noch und wurde von einem Manne 
bewahrt, der die Macht hatte, es zu benutzen — von 
einem Manne, mit dem ſie nicht brechen konnte, weil 
er die Seele des Ganzen war. 

Die Gräfin erhob ſich. 

„Ich muß jetzt nach Hauſe,“ ſagte ſie. „Wir können 
ja noch morgen darüber ſprechen, Sigismund. Heute 
abend noch will ich mit Henrik reden. Ich wünſche 
in den nächſten Tagen nicht zu Hauſe zu ſein. Mögen 
die Leute reden ſo viel ſie wollen. Wir können auch 
morgen darüber ſprechen, Skram. Haben Sie Herrn 
Viffert noch etwas zu ſagen, oder kommen Sie mit mir 
nach der Edelsburg, wie unſre Verabredung lautete?“ 

Skram verbeugte ſich. „Nach dem, was ich erfahren 
habe, bleibt nichts für mich zu tun übrig. Ich begreife 
recht wohl, daß Euer Gnaden darüber nachdenken wollen, 
und ich werde das Teſtament ſo lange zurückhalten, 
bis Sie und Herr Viffert ſich über Ihren Entſchluß 
geeinigt haben; ich bin ja auch bereit, Ihnen jederzeit 
bei dieſem nicht leichten Schritt zu helfen. Der Brief 
ſteht, wie geſagt, Herrn Viffert zur Verfügung, ſobald 
die Sache abgeſchloſſen iſt, was in den nächſten Tagen 
der Fall ſein wird.“ 

Viffert fragte Skram, ob er eine Erfriſchung wünſche, 
was Skram bejahte, und ſo wurden Wein und Speiſen 
gebracht. Sie tranken ſchweigend, und Skram bemerkte 
dabei, wie Gräfin Pollys Blick forſchend auf ihn ge⸗ 
richtet war. 

Dies war erſt ein Vorpoſtengefecht geweſen. Der 
Weg, der zum Ziel führte, war lang, und Skram war 
noch weit vom Ziel entfernt. 


— 106 — 


III. 


Eine kleine Meile von Waldhof entfernt liegt am 
Waldſaum ein altes Hünengrab, über das ſich hohe 
Buchen neigen. Es iſt eine runde Erhöhung, auf deren 
Spitze ein Dolmen von ſchweren, moosbewachſenen 
Steinen ſteht. Die Erhöhung liegt nicht weit von der 
Landſtraße entfernt, und ein Fußpfad führt über die 
Feldſteinmauer, die den Wald vom Ackerlande trennt. 
Von dieſer Höhe aus hat man nach Südweſten eine 
weite Ausſicht über das Land, das ſich wellenförmig 
zum Meere hinabſenkt. Weit draußen am Horizont, 
hinter grünen Hügeln hervorſchimmernd, liegt eine 
kleine Stadt mit ſpitzen Türmen, ſowie auch die Edels⸗ 
burg mit ihrem grünen Kupferdach, während hinter 
beiden das Meer als ſchmaler blauer Streifen glänzt. 

Der Wind kam von Südweſt und ſchlug den Fahren⸗ 
den kühl und ſcharf ins Geſicht. Eine Unterhaltung 
war darum nur ſchwer zu führen, und die Gräfin rief 
daher dem Chauffeur zu, daß er anhalten ſolle. 
„Skram,“ ſagte ſie, „wir haben ſchon früher an dieſer 
Stelle geplaudert. Ich möchte nun mit Ihnen reden. 
Kommen Sie, wir wollen zum Hügel hinaufgehen und 
uns Zeit zur Ausſprache laſſen. Später können wir 
ſchweigen und einholen, was wir an Zeit verloren 
haben.“ 

Skram neigte den Kopf und ſtieg aus dem Wagen. 
Dann reichte er der Gräfin die Hand, und dieſe ſprang 
leicht auf den grauen, ſtaubbedeckten Weg. Der Chauf⸗ 
feur drehte den Wagen zur Seite und ſetzte ſich hin, 
um zu warten wie einer, der über ſeine Zeit nicht ſelbſt 
verfügt. 

Die Gräfin ſchritt mit Skram nun zur Steinkammer 
hinauf. Einen Augenblick lang blieb ſie ſtehen und 
ſtarrte über die gelblichen Felder hin, dann ſagte ſie 
mit traurigem Lächeln: „Skram, alles dieſes iſt mein, 
und doch verlaſſe ich es gern — um ihm zu folgen.“ 

Skram ſagte nichts. 


— 107 — 


Sie fuhr fort: „Es gab eine Zeit, da war ich wirk- 
lich ſtolz und froh, alles dieſes zu beſitzen, und doch 
lernte ich bald verſtehen, daß ich in Wirklichkeit nichts 
beſaß, weil es nur in der Geſamtheit, als das Ganze 
mein eigen war — weil es zu groß iſt, um es im Kleinen 
zu verteilen. Nun, da ich im Begriffe ſtehe, dieſes 
Land zu verlaſſen, bin ich ihm noch fremder, als da 
ich kam. Wer hier an ſeinem Beſitz Freude haben 
ſoll, muß ſein Eigentumsrecht mit andern teilen können; 
hier ſind es die Kleinen, die über die Großen herr⸗ 
ſchen, und dieſe Kleinen beſitzen hier das Land. 
Und mit ihnen habe ich es niemals teilen mögen; 
fie trauen mir auch nicht, und ich habe fie nie ge— 
winnen können.“ 

Skram betrachtete ſie, wie ſie dort im Sonnen⸗ 
ſchein ſtand. Seine Feindin — ſie, mit der er kämpfte — 
ſie, die er beſiegen wollte. — Ihr Antlitz war nicht ſo, 
wie er es von früher her kannte; ſie war nicht mehr 
die lächelnde Königin — nicht mehr la belle dame 
sans merci, ſondern eine betrübte, bereuende Frau. — 

Haſtig wandte ſie ſich zu ihm um. 

„Skram,“ ſagte ſie, „ſind Sie eigentlich mein Freund, 
oder mein Feind?“ dabei blickte ſie ihn ſcharf an, als 
verlange ſie eine Antwort. 

„Ich habe keinen Anſpruch auf die Vertraulichkeit 
Euer Gnaden,“ ſagte Skram ruhig. „Ich habe bisher 
immer geglaubt, daß ich Ihr Freund ſei, aber es gibt 
doch Handlungen, durch die Menſchen — und ſelbſt 
eine Frau wie Sie — meine Freundſchaft verlieren 
können.“ 

„Bedeutet das, daß Sie mein Feind ſind?“ fragte 
ſie in demſelben traurigen Ton. 

„Mir gefällt die Art nicht, in der Sie dieſe Sache 
nehmen,“ ſagte Skram. „Ich ſage Ihnen rund heraus: 
Lieben Sie Sigismund Viffert, jo haben weder ich, 
noch ein andrer das Recht, zwiſchen Sie und Ihre 
Liebe zu treten. Doch dann gebietet das Geſetz der 
Ehre, daß Sie alle Folgen dieſer Liebe tragen.“ 


— 108 — 


Dies ſagte Skram, um ſie von dem Weg, den ſie 
betreten hatte, fortzuleiten. 

„Sie denken wohl an das Teſtament?“ fragte ſie. 
„Glauben Sie wirklich, daß dieſes jetzt eine Rolle für 
mich ſpielt? — Oder ſollte es möglich ſein, daß Viffert 
mich in ſeinem Brief an Sigismund — um uns von⸗ 
einander zu trennen — verleumdet hat? — Skram, 
nun müſſen Sie mir ſagen, warum Sie mit Sigis⸗ 
mund zu reden wünſchten. Wollten Sie — mein Freund 
— mich verraten ihm gegenüber, den ich liebe?“ 

Skram ſchüttelte den Kopf. 

„Nein, ich wollte nur ſehen, ob er es iſt, den Sie 
lieben, denn das hatten Sie mir ja noch nicht geſagt. 
Sie hatten mir ja ſogar verboten, danach zu fragen.“ 

„Geſtern,“ ſagte ſie leiſe, „aber heute iſt nicht geſtern, 
und viel hat ſich inzwiſchen geändert. Nun bedarf 
ich Ihrer Vertraulichkeit, Ihrer Freundſchaft, und nun 
ſpreche ich das aus, was ich geſtern nicht ausſprechen 
wollte: Ja, ich liebe ihn, er iſt für mich das Leben, 
das ich in allen vergangenen Jahren nicht leben durfte. 
Ich klammere mich an dies Leben, ich will es, ich will 
es! Und Sie müſſen mir helfen, nun, da ich in Not bin.“ 

Sie ergriff ſeine Hand. 

„Skram, ich frage Sie bei unſrer Freundſchaft — 
wollen Sie mir wirklich Ihre Hilfe abſchlagen? — — 
Geben Sie mir den Brief, Skram! Ja? — Geben 
Sie mir den Brief.“ 

Hat ſie Viffert ermordet? fragte Skram ſich ſelbſt, 
und ſein Blick wurde ruhiger und feſter bei dieſer 
Frage. 

„Euer Gnaden müſſen mir klarlegen, wozu Sie 
meine Freundſchaft wünſchen; denn erſt, wenn ich das 
weiß, kann ich antworten. Ich muß wiſſen, wobei 
ich helfen ſoll, und ob ich die Hilfe, die Sie verlangen, 
auch leiſten kann. Ihnen den Brief zu übergeben, 
dazu habe ich nicht das Recht.“ 

Ihr Blick war nur betrübt. Sie ſah ihn an und ſagte 
leiſe: „Männer ſind Egoiſten — alle!“ 


— 109 — 


Dann ſetzte fie ſich auf einen der großen Steine 
an dem Grab; ihre Hand ſpielte mit den Blumen im 
Mooſe, und ihr Fuß bewegte ſich ganz leiſe — wie 
in Ungeduld. Und ſie redete auch zuerſt. 

Den Kopf erhebend, ſagte ſie: „Wann verließen 
Sie Viffert geſtern abend, Skram?“ 

„Gegen Mitternacht,“ erwiderte er. 

„Wiſſen Sie, daß er gleich, nachdem Sie ihn verlaſſen 
hatten, an meine Tür klopfte?“ 

Skram ſtutzte. — „An Ihre Tür? — Waren Sie 
denn da noch nicht zur Ruhe gegangen?“ 

„Doch,“ erwiderte ſie, „aber ich ſchlafe oft ſchlecht. 
Ich lag noch wach im Bett und las. Ich liege oft und 
leſe bis in den hellen Morgen hinein. Es iſt eine An⸗ 
gewohnheit von mir, die er kannte. Helmut Viffert 
und ich ſtanden auf ſehr vertrautem Fuß miteinander, 
und er hat oft in der Nacht, wenn alles ſchlief, an 
meinem Bett geſeſſen.“ 

Sie ſagte das in ganz natürlichem Ton, ohne es 
näher zu erklären. 

Skram ſchwieg. 

Die Gräfin fuhr fort: „Er klopfte an meine Tür, 
die unverſchloſſen war. Leonie pflegt ſonſt dieſen Ein⸗ 
gang zu benutzen — denn ſie ſchläft oben, das heißt, 
noch über ſeinen Zimmern.“ 

Das wußte Skram; er wunderte ſich bloß darüber, 
daß Viffert dem Anſchein nach ſeinen Beſuch bei der 
Gräfin, noch bevor er ſich zur Manſarde hinaufbemüht, 
abgeſtattet hatte. Aber er verriet nichts von dieſen 
Gedanken. 

„Ich glaubte auch, es ſei Leonie,“ fuhr die Gräfin 
fort, „denn dieſe kommt nachts zuweilen zu mir. Ich 
glaubte es um ſo mehr, als er und ich am letzten Abend 
im Zorn voneinander gegangen waren, und ich ihm 
das geſagt hatte, was ich ihm ſchon lange hatte ſagen 
wollen. 

„Aber er war es doch. 8 

„Er redete nicht viel, ſondern bat mich nur, zu 


— 10 — 


vergeſſen, daß er zornig geweſen, denn er wolle nicht 
in Unfrieden von mir ſcheiden. Er beabſichtige, in der 
Frühe des nächſten Morgens abzureiſen, um mir nicht 
eher wieder zu begegnen, als bis ich ſelbſt es wünſchte. 
Er benahm ſich ſehr demütig und redete mit weicher 
Stimme. Ich weiß, daß er in allen Tonarten reden 
kann; ich kenne ſeine Redeweiſe und laſſe mich von 
ihr nicht mehr beeinfluſſen. 

„„Ich bin zu alt, ſagte er — und das Alter hat 
kein Recht mehr. Verſprich mir nur, daß er — du 
weißt ſchon, wen ich meine — dir niemals mehr ſein 
wird, als ich dir geweſen bin.“ 

„Ich antwortete nicht, denn ich mochte hierüber 
kein Wort zu ihm ſagen. 

„Dann redete er von den alten Tagen, von Dingen, 
die nur er und ich kennen und über die ich mit andern 
nicht ſprechen kann. 

„Doch ich antwortete ihm nicht. 

„Da fragte er mich, ob ich zürnen würde, wenn 
er jetzt mit Henrik redete. — Henrik ſchläft, ſagte ich. 
Ich weiß, daß mein Mann immer bis Sonnenaufgang 
feſt ſchläft. Im übrigen weißt du ja, fügte ich hinzu, 
‚va du Henrik nichts ſagen kannſt, wenn ich dir verbiete, 
es ihm zu fagen‘. 

„Hm — Sigismund, ſchaltete er ein. 

„Und ich erwiderte: Einmal erfährt er es doch, 
und ſo iſt es gleich, ob er es durch dich oder durch 
mich erfährt.“ ü 

„Er ging nun zur Tür, die nach Henriks Toiletten- 
zimmer führt, öffnete ſie und trat in das Zimmer ein. Ich 
ſah, daß er Licht machte, und hörte gleich darauf etwas 
klirren, als krame er am Toilettentiſch herum. Ich 
horchte auf, dann kam er zurück. Vor meinem Bett 
blieb er ſtehen und ſah mich mit ſtarrem Blick an. 
Ich erſchauderte einen Augenblick lang, denn der Ge⸗ 
danke drängte ſich mir auf, daß er ſoeben Henriks Bar⸗ 
biermeſſer genommen haben könne, um mich damit — 

„Er muß mir den Gedanken vom Geſicht geleſen 


— 11 — 


haben — der Schein meiner Leſelampe fiel ja ſcharf 
auf mich herab — denn er ſagte lächelnd: ‚Nein, Polly — 
du ſollſt leben. — Lebe wohl.“ Und dann ging er. — —“ 

Skram hatte, nach vorne gebeugt, dieſer ſeltſamen 
Erzählung gelauſcht. Warum erzählte ſie ihm das? 
Warum nahm ſie ſeinem Glauben den einzigen feſten 
Anhaltspunkt fort? Sie, die ja gar nicht wiſſen konnte, 
was er glaubte und warum er es glaubte. Was ſie 
ihm da erzählt hatte, bedeutete nichts Geringeres, als 
daß Viffert ſelbſt die Meſſer umgetauſcht habe. Erzählte 
ſie das, ohne etwas von dem Umtauſch zu wiſſen? 
Durch andere konnte ſie nichts davon erfahren haben, 
und er ſelbſt, der einzige, der es wußte, hatte kein 
Wort darüber geſprochen. 

Warum erzählte ſie ihm das? 

Etwa, weil es Wahrheit war? Von ſeiner Ver⸗ 
mutung, daß ſie die Perſon ſei, die Viffert ermordet 
hatte, konnte ſie ja gar nichts ahnen. Oder ahnte 
ſie es doch? Aber wie konnte ſie dann wiſſen, daß es 
gerade auf eine Erklärung für den Umtauſch der Meſſer 
ankam? Sie hatte ja — falls ſie die Täterin war — 
beim Umtauſch einen Fehler begangen, und ſie war 
nicht auf Edelsburg geweſen, als Jörgen die Leiche 
gefunden hatte. Sie hätte ihren Fehler am nächſten 
Morgen, noch ehe das Haus erwacht war, entdecken 
können, doch dann hätte ſie ihn berichtigt. 

Skram fühlte, daß der Grund unter ihm wich. 
War ihre Erzählung wahr, dann war Viffert nicht 
ermordet worden, ſondern von eigener Hand geſtorben. 

Sie ſtand noch vor ihm und ſchaute ihn mit dem⸗ 
ſelben traurigen Blick an. 

„Sie verſtehen wohl, Skram, was ich Ihnen ſoeben 
erzählt habe, das vermag ich nicht ſo zu geſtalten, daß 
auch Sigismund es erfahren darf. Ich weiß, daß ich 
ihn verliere, wenn er etwas davon erfährt, was nun — 
da Helmut tot iſt — der Vergangenheit angehört. Und 
Sie verſtehen nun auch wohl, Skram, daß ich bei dem 
Gedanken zittere, daß Sie nicht mehr mein Freund 


— 12 — 


fein könnten — Sie, der mein Geſchick in den Händen 
hat und alles ans Licht ziehen kann, was auf Edels⸗ 
burg in der letzten Nacht geſchehen iſt. Ihnen darf 
ich alles erzählen, aber dann — müſſen Sie mich auch 
ſchonen. Das iſt es, worum ich Sie bitte. Und darum 
müſſen Sie mir den Brief geben.“ 

Skram erhob den Kopf. „Meinen Sie damit, daß 
ich kein Verhör über Sie abhalten und nicht ſuchen 
ſoll, den Motiven zu Vifferts Selbſtmord auf den 
Grund zu kommen? Das vermag ich gut zu verſtehen. 
Und Sie brauchen ſich nicht zu fürchten, denn nie 
werde ich alles dies unnötigerweiſe einer gaffenden 
Pöbelmenge bloßlegen. Aber warum erzählten Sie mir 
das eigentlich unaufgefordert?“ 

„Weil ich fühle, daß ich zum Reden gezwungen 
werden könnte. Als Sie mir erzählten, daß Viffert 
Hand an ſich gelegt habe, begriff ich ſofort, daß es mit 
dem Meſſer, das auf meines Mannes Tiſch gelegen 
hatte, geſchehen ſein müſſe. Viffert ſelbſt hatte ja keine 
Barbiermeſſer; ein närriſcher Zwangsgedanke ließ ihn 
beſtändig befürchten, daß er ſich den Hals durch⸗ 
ſchneiden könne. Das hat er mir erſt kürzlich erzählt. Er 
konnte keine geladenen Waffen bei ſich tragen, weder 
Türme noch hohe Berge beſteigen, ja, kaum auf dem 
Bahnſteig ſtehen, wenn ein Zug einlief, alles aus Furcht 
vor Selbſtmord. Er, der doch vor dem Tode ſolche Angſt 
hatte. Darum war er jetzt genötigt, das Meſſer aus 
meines Mannes Zimmer zu holen. Und da dieſes 
nach dem Korridor zu verſchloſſen iſt, mußte er mein 
Schlafzimmer paſſieren. Verſtehen Sie nun, warum 
ich glaubte, es Ihnen erzählen zu müſſen?“ 

Skram verſtand es. — Als Graf Henrik ihm den 
Unterſchied der beiden Meſſer gezeigt hatte, war er 
ſofort überzeugt geweſen, daß der Graf nicht der Mörder 
ſei. Als Leonie ihm berichtet hatte, was in der Nacht 
auf Edelsburg geſchehen war, hatte er ſofort ein⸗ 
geräumt, daß weder ſie noch Jörgen an der Tat be⸗ 
teiligt ſein könnten. Aber in keinem von beiden Be⸗ 


— 13 — 


richten hatte die überzeugende Kraft gelegen wie in 
den traurigen Worten der Gräfin, die alles erklärten, 
auch das, was nur er wußte. 

Und doch war ſein erſter Gedanke nicht der: ſie iſt 
unſchuldig. Nein, der Gedanke, der ihm wie ein Blitz 
durch den Kopf fuhr, lautete: ſie hat telephoniſch mit 
dem Kreisarzt Kühn verkehrt, und er hat ihr alles er⸗ 
zählt. Und nun lügt ſie, um mich auf eine falſche Spur 
zu bringen! — Skram fühlte, daß der Verdacht da 
war, dem kein Richter, und wenn er noch ſo ſtark iſt, 
widerſtehen kann. 

„Haben Euer Gnaden mit dem Kreisarzt Kühn 
geſprochen?“ fragte er. 

„Mit Kühn? — Heute? — Nein! Warum fragen 
Sie?“ Sie ſah verwundert auf. 

„Weil ich nicht allein damit zu ſchaffen habe,“ ſagte 
Skram ruhig. „Bei der Leichenſchau wirken Richter 
und Arzt zuſammen, und es wird notwendig ſein, 
Kühn dasſelbe Vertrauen zu ſchenken, das Sie mir er⸗ 
wieſen haben.“ 

„Kühn iſt ſeit vielen Jahren mein Arzt,“ ſagte ſie. 
„Ihm kann ich wohl vertrauen, und was ich Ihnen 
ſage, kann ich auch ihm ſagen. — Vielleicht ſogar 
beſſer, weil er älter iſt als Sie. — Aber bedeutete 
Ihre Außerung vorhin, daß Sie meine Vertraulichkeit 
dennoch nicht wünſchen?“ 

„Nein,“ ſagte Skram, „das bedeutete ſie nicht. Sie 
bedeutete nur, daß ich nicht verſprechen kann, Kühn 
gegenüber in jeder Hinſicht zu ſchweigen.“ — — 

Sie hatte alſo nicht mit dem Kreisarzt ge⸗ 
ſprochen. 

„Kann es umgangen werden, daß ich im Verhör 
nach den Dingen gefragt werde, die Sie nun ohne⸗ 
hin ſchon wiſſen?“ 

„Das ſollte ich meinen,“ verſetzte Skram. „Be⸗ 
ſonders wenn Sie — kurz entſchloſſen — auf Vifferts 
Erbe Verzicht leiſteten.“ 

„Wieſo dann?“ fragte ſie und blickte ihn e an. 

XXVI. 10. 


— 114 — 


„Euer Gnaden müſſen bedenken, daß die Ereigniſſe 
von heute nacht keine Zeugen gehabt haben. Bei einem 
ſo geheimnisvollen Todesfall wie dieſem löſen ſich 
Zungen, die ſonſt gebunden ſind. Gegen giftiges Ge⸗ 
ſchwätz kann ſich niemand wehren und...“ 

Die Gräfin erhob ſich haſtig. 

„Meinen Sie, daß irgend ein Menſch wagen könne 
zu glauben, daß ich — ich Helmut Viffert ermordet 
hätte, um ſein lumpiges Geld zu erben?“ 

„Ja,“ ſagte Skram ruhig. 

Die Gräfin erglühte. 

„Das glauben Sie vielleicht gar ſelbſt?“ 

„Ja,“ ſagte Skram. „Ich glaubte freilich nicht, daß 
Sie Viffert ermordet hätten, um ihn zu beerben, aber 
bis zu dem Augenblick, da Sie mir dieſes erzählten, 
glaubte ich, daß Sie Viffert ermordet hätten, um ihn 
zu hindern, ſeinem Neffen alles zu erzählen, wie er 
es ja angedroht hatte, und der Umſtand, daß Sie mich 
um den Brief baten, hat mich in meinen Glauben 
beſtärkt. Nun wiſſen Sie es.“ 

Die Gräfin war jetzt ganz blaß; ſie ſtand, an einen 
der großen Steine gelehnt, die Hände geballt und die 
Zähne feſt zuſammengebiſſen. 

„Viffert ſchreibt gewiß in dem Brief an Sigis⸗ 
mund, den Sie geleſen haben, daß ich ſeine Geliebte 
geweſen ſei, vielleicht ſogar, ſeine bezahlte Geliebte, 
eine Abenteurerin, die er gefunden habe! Und daher 
bieten Sie mir ſolchen Hohn!“ 

„Ich bitte Euer Gnaden, mich nur als Richter zu 
betrachten,“ ſagte Skram. „Das bin ich jetzt lediglich. 
Mein Beruf zwingt mich mitunter dazu, die Rückſicht, 
die ſich Männer ſonſt Damen gegenüber auferlegen, 
beiſeite zu ſetzen. Darum allein konnte ich nicht ant⸗ 
worten, als Sie mich fragten, ob ich Ihr Freund ſei. 
Ich kann es nicht ſein, ſolange mein Richteramt mir 
gebietet, da Gewißheit zu ſuchen, wo andre ſich mit 
Vermutungen begnügen können. Ich habe Urſache 
gehabt zu glauben, daß Sie es ſeien, der ihn ermordet 


a 


hat, und ich habe es für richtig gehalten, es Ihnen 
zu ſagen. Nun wiſſen Sie es alſo.“ — 

Es war, als ob der Wald ſich über ihnen ſchlöſſe, 
die gelblichen Felder und die weißen Gehöfte ver⸗ 
bergend, das Meer verbergend, das hinter den roten 
Dächern der Stadt und den blanken Türmen der 
Edelsburg blinkte. Es war, als ſtünde Skram in der 
kleinen dumpfen Stube des Rathauſes, ein Verhör 
abhaltend, und als werde der grünbemooſte Grabhügel 
zu einem grünbezogenen Tiſch. 

Skrams Herz klopfte, ſein Puls ſchlug heftig, und 
doch ſtand er nur vor der Entſcheidung über eine 
Sache, in die ihn ſein Beruf verwickelt hatte; es war 
dieſelbe Erregung, die er zum erſten Male geſpürt, als 
er im Beginn ſeiner Laufbahn das von bebenden Lip⸗ 
pen geſprochene Geſtändnis einer Kindesmörderin an⸗ 
gehört hatte. 

Und ſie, die dort vor ihm ſtand — ſchien vor der 
Schranke zu ſtehen, der Schranke, hinter der er als 
Richter ſicher auf ſeinem Stuhl ſaß. 

Seine Worte waren nur Taktik, nicht die Worte 
eines Menſchen zum andern geweſen. 

Die Gräfin machte einen Schritt vorwärts, dann 
ſagte ſie mit traurigem Tonfall: „Kommen Sie, Herr 
Amtsrichter, wir wollen gehen. Mich friert. Ich will 
nach Hauſe.“ 

Er folgte ihr, und ſie winkte dem Chauffeur, der den 
Wagen auf den Weg brachte. 

„Wollen Sie an meiner Seite Platz nehmen, Herr 
Amtsrichter?“ fragte ſie. „Ich werde ſelbſt die Füh⸗ 
rung übernehmen; das wird meinen Nerven gut tun.“ 

„Wie Euer Gnaden wollen,“ ſagte Skram. 

Sie lächelte ſchmerzlich. „Sie fürchten ſich doch 
nicht etwa, mit mir zu fahren, jetzt, nachdem — — —“ 

„Ich fürchte mich nie,“ ſagte Skram ruhig. 

Dann nahmen ſie Platz, und die Gräfin ſetzte den 
großen, roten Wagen in Bewegung. 


— 16 — 


IV. 


Es ging gegen den Wind den Hügel hinab. Die 
Gräfin redete nicht, ſie ſaß, leicht nach vorn gebeugt, 
die Hände auf das Rad gelegt, während der Wind in 
ihren Haaren ſpielte. Die weite, faltige Automobil⸗ 
kleidung verlieh ihr etwas Unförmiges und ließ ſie 
mit dem Rad, dem ganzen Wagen verwachſen er⸗ 
ſcheinen. 

Und die Luft war ſchneidend trotz des Sonnen⸗ 
ſcheins. 

Auch Skram redete nicht. Seine Gedanken drehten 
ſich beſtändig um dieſelbe Frage. Hat ſie gewußt oder 
auch nur geahnt, daß die beiden Meſſer vertauſcht 
waren? Wer kann es ihr geſagt haben? Oder iſt ſie 
wirklich unſchuldig? Liegt Selbſtmord vor? Hat Vif⸗ 
fert ſich noch im Tode rächen und einen verdächtigen 
Schein auf das Haus werfen wollen, das er haßte 
und das ihn haßte? 

Viffert war wohl imſtande dazu geweſen. Er war 
imſtande geweſen, mit kalter, hämiſcher Berechnung 
ſeine Pläne auszuführen. Selbſt ſein Beſuch bei 
Leonie und ſein Scheck ließen ſich im Anſchluß hieran 
erklären. Der Brief war offenbar ein Glied in ſeinem 
Plan; der Verdacht ſollte ſich nicht gegen die Gleich⸗ 
gültigen, gegen die Dienerſchaft, ſondern höher hinauf, 
gegen den Grafen oder gegen die Gräfin richten. 

Hatte Viffert nun dieſe Abſicht erreicht? 

Oder log ſie? 

Vom erſten Augenblick an war Skram einem ruhigen 
wohlüberlegten Plan gefolgt. Er fand ſelbſt, daß das 
Glück ihn dabei begünſtigt habe — zu ſehr begünſtigt 
habe. Nun hemmten die neidiſchen Götter ſeinen 
Schritt und ſtürzten ihn ins Dunkel der Ungewiß⸗ 
heit hinaus. Nun wußte er nichts. Und die Gewiß⸗ 
heit, die er ſich erzwungen hatte, war nun zum Zweifel 
geworden. Er zweifelte an allem. Er ſtand allein; 
er, der Richter, der gegen die Miſſetat kämpfen wollte, 


— 117 — 


hatte ſein Schwert gerade gegen die erhoben, die er 
davor beſchützen ſollte. 

Viffert hatte ſicher Hand an ſich gelegt. Skram 
ſtand das bleiche Antlitz des Toten mit dem zyniſchen 
Lächeln vor Augen: So narre ich Sie, liebe Obrigkeit; 
ein bißchen Spannung — ein bißchen Erſchlaffung — 
voilà tout! 

Und warum hatte er der Gräfin vorhin ſeine Ver⸗ 
mutung verraten? Wie töricht war es von ihm ge⸗ 
weſen, ihren Zorn zu erregen, und wie roh, ſie ſo zu 
kränken! War ſie unſchuldig, ſo hatte er gehandelt, wie 
ein kluger Mann nicht handeln darf. Und er war doch 
nicht allein Richter, ſondern auch ein Mann. 

Das hatte er vergeſſen. — 

Vorwärts ging es gegen den ſchneidenden Wind 
über das wellige, hügelige Land. 

Eine halbe Meile von Edelsburg entfernt läuft der 
Weg einen Hügel hinab und führt dann quer über 
einen Eiſenbahndamm. Die Bahnanlage gehört einer 
Privatgeſellſchaft, und am Übergang ſind keine Schlag⸗ 
bäume angebracht, nur in kurzer Entfernung von den 
Schienen ſteht auf jeder Seite ein Pfahl mit der 
Warnungstafel: „Auf den Zug achten!“ Und es iſt 
nicht ſchwer, auf den Zug zu achten, denn die Bahn⸗ 
linie ſchneidet den Weg im rechten Winkel und führt 
von der Stadt an aufwärts. Auf beiden Seiten kann 
man die Bahnlinie ſchon von weitem ſehen, und über⸗ 
dies verkehren nur wenig Züge auf ihr. — — 

Es war gegen fünf Uhr, und der von der Stadt 
herkommende Zug arbeitete ſich ſchwerfällig den langen 
Hügel hinauf. 

„Werden wir noch hinüberkommen?“ fragte Skram. 

„Wollen's verſuchen,“ erwiderte die Genie „Sie 
haben ja Eile.“ N 

„Wie Euer Gnaden wünſchen.“ 

Sie fuhren jetzt mit einer Geſchwindigkeit von zehn 
Meilen in der Stunde, was weit über das erlaubte 
Maß hinausging, und die auf der Landſtraße Befind- 


— 18 — 


lichen blickten kopfſchüttelnd dem Wagen nach, der mit 
kurzen, heiſeren Tutenſtößen dahinjagte und den Staub 
aufwirbelte, daß er wie eine Mauer hinter ihm ſtand. 

Nun näherten ſie ſich der Bahnlinie. 

„Es geht nicht,“ ſagte Skram. 

„Es muß gehen,“ lautete die Antwort. 

Die Gräfin preßte den Mund zuſammen und voll⸗ 
führte einen Griff am Regulator. Die Steine der 
Straße flogen jetzt weit von den Rädern ab und 
ſchlugen gegen die Stämme der Chauſſeebäume. 

„Haben Sie Angſt, Skram?“ fragte ſie neckend. 

„Ich habe geſagt, daß ich niemals Angſt habe,“ 
erwiderte er und lehnte ſich zurück, die Füße gegen 
den Boden ſtemmend. 

Es war alſo ihre Abſicht, den Wagen in den heran⸗ 
brauſenden Zug hineinfahren zu laſſen. Es konnte nur 
noch einige Sekunden dauern, dann mußte es ge⸗ 
ſchehen — — nur ein Schlag — ein Krachen, und das 
Ganze würde vorbei ſein. 

Jetzt war es ſchon zu ſpät. 

Die Lokomotive pfiff warnend — ein, zwei, drei, 
viermal — und zum fünften Mal — das Gefahr⸗ 
ſignal. 

Der Chauffeur im Hinterſitz ſprang auf und ſchrie: 
„Bremſen — Bremſen!“ 

Doch die Gräfin biß die Zähne zuſammen. 

Nun mußte es geſchehen. Die Lokomotive ſtieß 
dichten, weißen Dampf aus; ſie bremſte mit aller 
Kraft, während ihre Pfeife die Luft durchſchnitt. Und 
die Fahrt verlangſamte ſich. Wohl war es unmöglich, 
den Zug zum Stehen zu bringen, er mußte über den 
Weg, doch Skram erkannte, daß der lautlos vorwärts 
ſchießende Wagen den Vorſprung eines Augenblicks 
hatte und die Bahnlinie überqueren konnte, wenn er 
dieſe Fahrt beibehielt. 

Da beugte ſich die Gräfin ſchnell herab und Skram 
ſah, wie ihr Fuß die Bremſe ſuchte. Er ſelbſt war ein 
geübter Chauffeur und erkannte ihr Vorhaben. 


— 119 — 


Vom Zuge her erſcholl das heiſere Rufen des 
Lokomotivführers, während der Dampf, vom Winde 
getrieben, ihnen warm und feucht ins Geſicht ſchlug. 

Wurde jetzt die Fahrt verlangſamt, ſo war ein 
Zuſammenſtoß unvermeidlich. 

Und energiſch beugte ſich Skram zur Gräfin hin und 
ſchlug ihren Fuß von der Bremſe weg. Ihre linke 
Hand ruhte auf dem Rad, die rechte führte ſie jetzt 
zur Bremſe hinab, die über dem Trittbrett angebracht 
war. Sie wollte den Wagen mit einem Ruck mitten 
vor dem Zuge zum Stehen bringen. Skram, der alle 
Muskeln anſpannte, taſtete mit der Linken nach dem 
Regulator und ſtellte ihn ſo ein, daß die Maſchine mit 
äußerſter Kraft arbeitete. Dann erfaßte er das Rad 
und hielt es feſt, um ein Abbiegen und Umſtürzen 
des Wagens zu verhindern. Faſt auf dem Boden 
knieend, beugte er ſich über die Gräfin, hinderte ſie, die 
Kuppelung der Maſchine mit dem Wagenrad zu löſen, 
und ſchlug mit der Linken ihre rechte Hand von der 
Bremſe weg. 

Es ſauſte um ſeinen Kopf, während der Wagen 
vorwärts fuhr. Einen Augenblick lang erblickte er dicht 
neben ſich die große grüngeſtrichene Lokomotive mit 
ihren Lampen und den blanken Beſchlägen und nahm 
die ihr entſtrömende glühende Hitze wahr. 

Den Bruchteil einer Sekunde lang nur; dann war 
es vorbei — und der Wagen jagte den Hügel hinunter, 
während hinter ihnen der Zug mit angezogenen Brem⸗ 
ſen und kreiſchenden Rädern vorüberglitt. 

Skram ſtieß die Gräfin zur Seite, ſtieß ſie ganz 
gegen die Seitenlehne; ſie leiſtete nicht den geringſten 
Widerſtand. Er ergriff nun ſelbſt das Rad, ſchlug die 
Kuppelung vom Triebrade und preßte langſam die 
Bremſe hinab, daß die Fahrt ſich zuſehends verlang⸗ 
ſamte und der Wagen mit ſtillſtehenden Rädern den 
Weg hinunterglitt. 

Dann hielt er ſtill — noch zitternd wie ein Renner 
nach wildem, wahnwitzigem Lauf. 


— 120 — 


Skram wandte ſich zu der Gräfin um — ſie war 
bleich, aber ihre Augen glühten. 

Der Chauffeur ſtand zitternd auf dem Weg, und 
hinter ihnen klang das kurze Fauchen des Zuges, der 
ſich wieder in ſchnellere Fahrt ſetzte. 

Leute kamen herbei; ſie wollten reden, doch als 
ſie den Amtsrichter erkannten, ſchwiegen ſie. 

Skram erhob ſich. 

„Wir wollen unſre Plätze tauſchen,“ ſagte er kurz 
und beſtimmt. „Denn nun ſind Sie nervös, Gräfin!“ 
Und er bat den Chauffeur, wieder im Wagen Platz 
zu nehmen. 

Dann ging es mit Skram am Rade in mäßig 
ſchneller Fahrt vorwärts. Und als ſich der Staub 
wieder hinter ihnen hob und die ihnen nachſtarrenden 
Leute weit zurückgeblieben waren, wandte ſich Skram 
mit leiſem Lächeln zu der Gräfin um und ſagte: 
„Warum taten Sie das? Jetzt hege ich ja keinen 
Verdacht mehr gegen Sie.“ 

Gräfin Polly ſchwieg. 

Aber ſie war totenbleich im Geſicht. 


V. 


Das zum Amtskreiſe gehörende Krankenhaus war 
ein großes rotes Gebäude, das auf einem ſteil ab⸗ 
fallenden Hügel am Schloßſee gelegen und von einem 
großen ſchattigen Garten umgeben war. In einer 
Ecke des Gartens, verborgen hinter hohen Bäumen, 
lag das Leichenhaus, ein kleines, mit einem Kreuz 
verziertes Gebäude. Man hatte es ſo im Verborgenen 
angelegt, um es den Augen der Kranken, die die Nähe 
des Todes nicht merken ſollten, möglichſt zu entziehen. 
Sein Inneres war ein kleiner Raum mit breiten, hoch⸗ 
liegenden Fenſtern und zur Zeit gänzlich leer, nur in 
der Mitte des Zimmers ſtand ein Seziertiſch, an dem 
jetzt der Kreisarzt mit zwei Gehilfen arbeitete. 

Der Kreisarzt trug einen weißen Leinenkittel, deſſen 


— 121 — 


Armel er aufgekrempelt hatte; ſeine Arme waren mit 
Blut beſpritzt. 

Auf dem Tiſche lag die Leiche Helmut Vifferts, 
entkleidet und willenlos dem Meſſer des Arztes ver⸗ 
fallen. 

Skram ſtand, an die Mauer gelehnt, dabei und 
rauchte eine Zigarre. Er war nun, nach dem Auf⸗ 
tritt am Hünengrab, ganz ruhig. Die Obduktion inter⸗ 
eſſierte ihn nicht, und er war nur gekommen, weil 
der Kreisarzt nach ihm geſchickt hatte. 

Eigentlich entſprach es ſeiner Abſicht nicht, daß eine 
geſetzliche Obduktion vorgenommen wurde. Er war 
jetzt feſt entſchloſſen, der Gräfin zu glauben. 

Der Kreisarzt arbeitete haſtig. 

„Nun, ſind Sie bald fertig?“ fragte Skram. „Und 
haben Sie geſehen, was zu ſehen war?“ 

Skrams Blick ſtreifte den zerfetzten Körper ohne 
Scheu. Er war gewohnt, dergleichen Dinge zu ſehen; 
ihn berührte das nicht. Er ſehnte ſich nur, nach Hauſe 
und zur Ruhe zu kommen, denn nun war er wirklich 
müde. 

„Ja,“ verſetzte der Kreisarzt, „nun bin ich fertig.“ 
Er gab den Gehilfen ein Zeichen, daß ſie zurücktreten 
ſollten, und näherte ſich Skram. 

„Skram,“ ſagte er flüſternd, „wir haben mit unſrer 
Annahme recht gehabt, bloß liegt die Sache ganz 
anders, als wir gedacht haben. Der Mann da hat 
tatſächlich — wie Sie heute morgen erwähnten — 
an einer ſehr vorgeſchrittenen Arterioſkleroſe gelitten, 
an einer durchgreifenden Verkalkung der Herzarterien, 
und das allein hat ſeinen Tod verurſacht. Er iſt plötz⸗ 
lich geſtorben, als er im Bett lag. Die Schnittwunde 
dagegen iſt nicht lebensgefährlich, die iſt ihm bei⸗ 
gebracht worden, nachdem er ſchon geſtorben war. 
Das will ſagen: von Selbſtmord kann keine Rede 
ſein — und ſelbſtredend iſt er auch nicht ermordet 
worden. Er iſt an Verkalkung des Herzens, wie man 
es in der populären Sprache nennt, geſtorben.“ 


Das Blut braufte Skram in den Ohren. — Alſo 
doch! 
Er antwortete nicht, ſondern blickte aufmerkſam den 
Kreisarzt an. 

Dieſer fuhr fort: „Es liegt, wie Sie ſehen, ein ſehr 
intereſſanter Fall vor. Ich glaubte einen Augenblick 
lang trotz Ihrer ſcharfſinnigen Hypotheſe mit den 
Meſſern, daß vielleicht Selbſtmord in Verbindung mit 
Herzſchlag vorliege. Aber das Ergebnis meiner Unter⸗ 
ſuchung läßt das als höchſt unwahrſcheinlich, um nicht 
zu ſagen, ganz ausgeſchloſſen, erſcheinen.“ 

„Und Sie ſind ſicher, Doktor,“ fragte Skram, „daß 
nicht etwa meine Hypotheſe mit den Meſſern Ihnen 
eine vorgefaßte Meinung erweckt? Ich will Ihnen ſagen, 
daß mir von dieſen vorgefaßten Meinungen Angſt ge⸗ 
worden iſt. Ich muß Ihnen geſtehen, daß ſie heute 
alle fehlgeſchlagen haben. Sogar die Hypotheſe mit 
den Meſſern! Ich werde Ihnen ſpäter erklären, warum 
und beſchränke ich mich vorläufig bloß darauf, zu ſagen, 
daß die Hypotheſe hinfällig iſt. Von ihr müſſen Sie 
alſo ganz abſehen.“ 

Der Kreisarzt ſchüttelte den Kopf. 

„Die Herren Juriſten können ſich natürlich bei den 
ſogenannten phyſiſchen Tatſachen irren, ſie können ſich 
auch bei den Kombinationen der realen Tatſachen irren. 
Wir Arzte aber arbeiten ſtreng empiriſch, und in 
unſern Spezialfächern, da, wo das Meſſer das Wort 
führt, irren wir uns ſelten. Hier iſt jeder Fehler ſo 
gut wie ausgeſchloſſen. Jeder Arzt wird zugeben, daß 
meine Schlußfolgerung nicht nur richtig, ſondern über⸗ 
haupt die einzig mögliche iſt. Ich muß ſomit kon⸗ 
ſtatieren, daß hier ein plötzlicher Tod infolge des 
chroniſchen Leidens des Mannes eingetreten iſt. Als 
Begleitumſtand — aber erſt nachdem der Tod ein⸗ 
getreten war — kommt dieſer recht ungefährliche Schnitt 
hinzu, der an und für ſich nicht den Tod verurſacht 
haben kann. Ja, ich muß ſogar ſagen — doch betone 
ich hierbei, daß ich mich auf das Gebiet der Hypotheſen 


— 13 — 


begebe — daß der Mörder beim Schneiden innegehalten 
oder jedenfalls den Schnitt mit geringerer Kraft aus⸗ 
geführt hat, weil er ſehen mußte, daß er in einen toten 
Körper ſchnitt. Hier kann überhaupt nicht von eigent⸗ 
licher Blutung die Rede ſein, ſondern, da bloß eine 
Vene durchſchnitten iſt, von einem Ausſickern des 
Blutes, das vielleicht kurz nach dem Tode, als die 
Blutkörper noch in Bewegung waren, vor ſich ging.“ 

„Es war recht viel Blut,“ ſagte Skram. 

„Ja, es war vielleicht zu viel,“ verſetzte der Arzt. 
„Wie ich ſagte, iſt das letztere nur Mutmaßung, aber 
über die Hauptſache herrſcht kein Zweifel, und ich für 
meine Perſon trage kein Bedenken, mein Gutachten 
über den Fund in voller Übereinſtimmung hiermit ab⸗ 
zugeben.“ 

„So ſind Sie fertig mit dem Geſchäft?“ fragte 
Skram. 

„Vollſtändig,“ erwiderte jener. „Jetzt können Sie 
ihn meinetwegen begraben laſſen. Wenn Sie nicht 
etwa meinen, daß wir noch einen andern Arzt hinzu⸗ 
ziehen ſollen.“ 

„Jetzt noch nicht,“ ſagte Skram ſchnell. „Laßt uns 
gehen.“ 

„Ich will bloß noch Toilette machen,“ verſetzte der 
Arzt, „dann ſtehe ich wieder zu Dienſten. Ich möchte 
übrigens auch gern mit Ihnen reden.“ 

„Haben Sie den Leuten da etwas über das Re⸗ 
ſultat Ihrer Unterſuchung geſagt?“ 

„Nichts — über derartige Dinge ſpreche ich nie mit 
dem Perſonal.“ 

— — — Ekram ſtand draußen im Garten des Kran⸗ 
kenhauſes und ſtarrte zum Schloß hinüber. Alſo war 
der Kampf aufs neue eröffnet! 

„Warum taten Sie das? Ich hege ja keinen Ver⸗ 
dacht mehr gegen Sie.“ 

Es war alſo ihr feſter Vorſatz geweſen, den Wagen 
gegen den Zug zu ſteuern — mit ſeinem und ihrem 
Leben va banque zu ſpielen, ſie beide von der Erde 


— 14 — 


zu vertilgen, um der Sache ein Ende zu machen. Sie 
hatte ja nicht gewußt, daß der Kreisarzt die verdächtigen 
Umſtände kannte, und daß durch ihren Tod die Sache 
gerade aufgerührt werden würde. Sie glaubte, daß 
er der einzige ſei, der es wußte, und darum hatte 
er mit ihr ſterben ſollen. 

Er hatte geglaubt, es ſei Erregung, gekränkter 
Stolz, wahnwitziger Zorn über ſeinen Verdacht ge⸗ 
weſen. Nun begann er zu verſtehen, daß die Urſache 
tiefer lag, wenn er auch nicht verſtand, zu welchem 
Zweck ſie von einem nächtlichen Beſuch Vifferts ge⸗ 
ſprochen hatte. Ihre Erzählung war wohl eine Lüge 
geweſen, obgleich er nicht begreifen konnte, warum 
fie gerade in dieſer Weiſe gelogen hatte. — Nun 
galt es zunächſt für ihn, in Erfahrung zu bringen, zu 
welcher Zeit ſie zuerſt vom Tode Vifferts gehört 
hatte. 

Es war eine Gerichtsſache, und es wurde eine. 

„Sagen Sie mir, Skram,“ ſprach der Kreisarzt, 
an ſeine Seite tretend, „iſt es ſtrafbar, einem toten 
Menſchen den Hals abzuſchneiden?“ 

„Nach unſerm Geſetz, ja,“ erwiderte Skram, indem 
er mit dem Doktor die breite Hauptallee des Gartens 
hinabſchritt. „Man nennt das ein putatives Ver⸗ 
brechen, einen Verſuch mit untauglichen Mitteln. Als 
ſtändiges Beiſpiel für dieſes Syſtem gilt, daß ein 
Menſch in dem Glauben, man könne an Zucker ſterben, 
den Verſuch macht, einen andern durch ein Stück 
Zucker zu vergiften. Das wird hierzulande beſtraft, 
allerdings mit verhältnismäßig geringerer Strafe. Doch 
gibt es Länder, in denen ſolche Handlungen ſtraffrei 
ſind, und ich perſönlich bin nicht Anhänger einer ſolchen 
Beſtrafung. Man kann keinen toten Menſchen noch 
einmal töten. Nichtsdeſtoweniger bleibt die Frage über 
putative und imaginäre Verbrechen höchſt intereſſant. 
Ein imaginäres Verbrechen würde es ſein, wenn ein 
Menſch, obwohl er glaubte, etwas Strafbares zu tun, 
eine Leiche verletzte, wohl wiſſend, daß es eine Leiche 


— 125 — 


iſt. Hier iſt der Irrtum bezüglich der rechtlichen Wir⸗ 
kungen der Tat das entſcheidende Moment. 

Um bei unſerm Fall zu bleiben: wenn der betreffende 
gewußt hat, daß Viffert tot war, und ihm aus irgend 
einem Grunde den Schnitt in den Hals beigebracht 
hat, ſo iſt dieſe Handlung nicht ſtrafbar, weil der Be⸗ 
treffende vielleicht ſelbſt nicht geglaubt hat, daß er 
etwas Strafbares begehe. Iſt er dagegen im Glauben 
geweſen, daß Viffert lebe und nur ſchlafe, ſo iſt ſeine 
Handlung ſtrafbar, weil ſein Irrtum ſich auf das Tat⸗ 
ſächliche, nicht auf das Rechtliche bezieht. 

Dieſer Fall iſt alſo recht kompliziert, wenn er für 
uns auch nicht das Intereſſe hat, das wir von ihm 
vermuteten, bevor Sie durch Ihre Unterſuchung feſt⸗ 
ſtellten, daß ſeine Herzkrankheit den Tod Vifferts verur⸗ 
ſacht hat. Während ich von dem Standpunkt aus, den 
wir heute morgen einnahmen, auf eine Ermittlung der 
Täterſchaft unmöglich verzichten konnte, möchte ich mich 
jetzt — ehrlich geſagt — am liebſten mit Ihnen darüber 
einigen, daß wir als Todesurſache Herzlähmung, die 
während eines Selbſtmordverſuches eingetreten iſt, an⸗ 
geben.“ 

„Das kann ich nicht,“ ſagte der Doktor, „denn das 
glaub' ich nicht — ich meine — —“ 

„Wohl möglich,“ unterbrach ihn Skram, „aber die 
Herren Arzte ſind ihrer Sache immer ſo verteufelt 
ſicher, während wir Juriſten uns häufig auf recht 
unſicherem Grunde bewegen. Wenn ſich nun einmal 
die Gelegenheit bietet, von der Sicherheit ein wenig 
abzulaſſen, dann ſollten ſich die Herren nicht ſo ſehr 
auf ihre Unfehlbarkeit verſteifen.“ 

Sie ſtanden nunmehr am Markte, der Wohnung 
des Richters gegenüber. 

„Ich habe Eile, Herr Doktor,“ ſagte Skram, „aber 
ſpäter möchte ich gern mit Ihnen darüber reden; ich 
werde Ihnen Beſcheid ſenden.“ 

f „Wie Sie wollen,“ ſagte der Arzt, und ſo ſchieden 
ie. — 


— 126 — 


Das Bureau war noch offen. 

„Etwas Neues?“ fragte Skram. 

„Nichts von Bedeutung,“ ſagte der Sekretär. „Nur 
Pächter Viffert telephonierte vor kurzem von Wald⸗ 
hof, daß er heute abend herkommen werde.“ 

Skram überlegte einen Augenblick lang, dann ſagte 
er: „Hören Sie, Holm, erſuchen Sie Jörgen Madſen 
und Mamſell Leonie telephoniſch, noch heute abend 
herüberzukommen und John mitzubringen. Ich muß 
mit ihnen reden. Und Sie, Jenſen, machen Sie ſich 
bereit, zum Schloß hinüberzugehen und bei der Gräfin 
einen Brief abzugeben, den ich jetzt ſchreiben werde.“ 

Stkram ſchrieb den Brief, und der Polizeibeamte 
ging. 
„Was iſt denn bei der Obduktion herausgekommen?“ 
fragte der Sekretär. 

Skram zuckte die Achſeln. „Nichts Neues,“ ſagte 
er. „Es liegt gewöhnlicher Selbſtmord vor, den wir 
aber diskret behandeln müſſen. Das ſchulden wir 
denen dort oben.“ 

Und damit ging er in ſein eigenes Bureau. 


VI. 


Sollte ſie doch etwas über den Umſtand mit den 
vertauſchten Meſſern erfahren haben? 

Alle dieſe Vermutungen, die er aufgeſtellt hatte, 
ſo wie ſie in ſeinem Gehirn entſtanden waren, hatten 
gewiß ihr Gutes an ſich, und manche von ihnen traf 
vielleicht das Richtige — aber ebenſogut konnten ſie 
auch alleſamt irrig ſein. Wenn Skram das Ganze 
überdachte, ſo geſtalteten ſich die nächtlichen Begeben⸗ 
heiten zu einem richtigen Romankapitel. Die Szene 
bildete der Seitenflügel des Schloſſes, deſſen vier 
Etagen bewohnt waren: Im Erdgeſchoß wohnte der 
Diener, im erſten Stock die Gräfin, im zweiten der 
ermordete Viffert und ganz oben unter dem Dach die 
Kammerjungfer Leonie. Die vier Etagen waren durch 


— 127 — 


eine Wendeltreppe verbunden, die durch den Turm 
aufwärts führte. Auf dieſer Wendeltreppe nun hatte 
ſich in der Nacht ein Verkehr entwickelt, der an und 
für ſich wohl ganz berechtigt ſein mochte, aber doch 
recht unwahrſcheinlich erſchien. 

Die Gräfin behauptete, daß Viffert auf dieſer 
Treppe um halb ein Uhr zu ihr herabgeſtiegen und 
nach etwa zehn Minuten wieder hinaufgegangen ſei. 
Zu etwa derſelben Zeit mußte er, wenn Leonie die 
Wahrheit redete, wieder die Treppe paſſiert haben, 
um der Mamſell den Brief und den Scheck zu geben. 
Dies war nicht unwahrſcheinlich, da die Mamſell ja 
Scheck und Brief gezeigt hatte. Und da man Viffert 
in ſeinem Bett im zweiten Stock gefunden hatte, ſo 
mußte er die Treppe zu ſeinem Zimmer wieder hinab⸗ 
geſtiegen ſein. Daß Leonie darauf dieſelbe Treppe 
hinabgeſchlichen war, ließ ſich wohl durch Zeugen be⸗ 
weiſen, ebenſo daß ſie — ſicher erſt gegen ſieben Uhr 
— wieder in ihre Kammer zurückgekehrt war. Aber 
noch blieb die wichtigſte Benutzung der Treppe zu 
erklären übrig. War es die Gräfin geweſen, die ſich 
um zwei Uhr in den zweiten Stock begeben hatte, 
und war dann wirklich geſchehen, was Skrams Ver⸗ 
mutungen zu Grund lag? 

Skram mußte ſich — mit einem Lächeln — ein⸗ 
geſtehen, daß auf dieſer Treppe in dieſer Nacht ein 
Verkehr ſtattgefunden hatte, wie ihn ein franzöſiſcher 
Luſtſpieldichter nur ſchwerlich ſeinem Publikum bieten 
dürfte. Als Inhalt eines Theaterſtückes wäre das 
Ganze unwahrſcheinlich und unnatürlich erſchienen, als 
Glied in einer Kette von Tatſachen aber ſtellte es 
Möglichkeiten vor, mit denen man rechnen mußte. 
Man hätte einige Glieder ausſchalten und dadurch das 
Ganze wahrſcheinlicher geſtalten können, doch dann 
war man wieder ohne Erklärung für die Ereigniſſe, 
die das zuverläſſige Gepräge des wirklichen Lebens 
trugen. 

Skram ſaß in ſeinem Bureau und machte auf einem 


— 128 — 


Foliobogen Notizen. Bis jetzt hatte er ſich noch zu 
keinem poſitiven Schritt entſchloſſen. Allerdings hatte 
er Leonie verhört und aus dem Geſpräch mit der 
Gräfin entnommen, daß Viffert in ihrem Zimmer ge⸗ 
weſen war und ſelbſt die Meſſer umgetauſcht hatte. 
Aber direkt geſagt hatte ſie ihm dieſes letztere nicht; ſie 
wußte ja gar nichts von den beiden Etuis, ſondern glaubte 
nur, daß Viffert das Meſſer des Grafen, mit dem die 
Tat geſchehen war, an ſich genommen habe. Sie 
mußte alſo noch ein Geſtändnis ablegen — daß ſie 
an dem nächtlichen Verkehr auf der Treppe teil⸗ 
genommen und Vifferts Zimmer nach ſeinem Tode 
betreten hatte. 

Und um dieſes Geſtändnis zu erlangen, hatte Skram 
ſie gebeten, noch an demſelben Abend zu ihm zu 
kommen. 

Ob ſie nun kommen würde? 

Daß ſie den mißglückten Selbſtmordverſuch noch 
einmal wiederholte, war wohl ausgeſchloſſen, denn 
Skram hatte ihr ja geſagt, daß er keinen Verdacht 
mehr gegen ſie hege, und außerdem in ſeinem Schrei⸗ 
ben bemerkt, daß er unter gewiſſen Umſtänden Vifferts 
Brief vernichten wolle. 

Würde ſie nun alles eingeſtehen? 

Das zu erreichen, war ſeine Aufgabe. Noch hatte 
er ſich nichts vorgenommen. Die verſchiedenſten Ver⸗ 
mutungen hatten ſein Gehirn durchkreuzt, er hatte ſie 
auf ihre Richtigkeit geprüft und war zu einem Re⸗ 
ſultat gekommen, über das er lächeln mußte, zu einer 
Theaterſzene, die einem kritiſchen Publikum ſchwer auf 
die Bruſt fallen dürfte! N 

Es klopfte, und Mamſell Leonie und Jörgen traten 
ein. Skram empfing ſie freundlich und bat ſie, Platz 
zu nehmen; dann ſchrieb er, indem er Leonie aus⸗ 
fragte, dieſelbe Erklärung, die ſie ſchon einmal ab⸗ 
gegeben hatte, nieder, und Leonie wiederholte ſie ohne 
die geringſte Abweichung. Jörgen ſaß während dieſes 
Verhörs, das auf franzöſiſch geführt wurde, ſtill⸗ 


— 122 — 


ſchweigend auf ſeinem Stuhl. Nun bat Skram die 
Mamſell, das Zimmer zu verlaſſen, und verhörte 
darauf Jörgen, der mit knappen Worten, aber in 
glaubhafter Weiſe eine Erklärung abgab, die mit der 
der Mamſell übereinſtimmte. Schließlich wurde noch 
John vernommen, der jo lange im Vorzimmer ge⸗ 
wartet hatte, und Skram gewann die Überzeugung, 
daß alle dieſe Menſchen die Wahrheit redeten. Der 
zweite Teil des Verhörs beſtand darin, daß Skram 
konſtatierte, die Mamſell habe um halb neun Uhr bei 
der Gräfin angeklopft und ihr beim Ankleiden ge⸗ 
holfen, worauf dieſe ſogleich durch John die Reit⸗ 
pferde habe beſtellen laſſen. Nachdem dann die 
Gräfin gefrühſtückt, war ſie ausgeritten. Sie hatte 
vorher noch mit dem Grafen geredet, der ebenſo wie 
ſie im Begriff geweſen war auszufahren, doch ſonſt 
hatte ſie nur mit Leonie, John und dem Tafeldecker, 
der zuſammen mit Jörgen den Frühſtückstiſch beſorgte, 
geſprochen. Unterwegs konnte ſie ſicher nichts er⸗ 
fahren haben, was ſie auf den Gedanken hätte bringen 
können, die Erzählung von dem nächtlichen Beſuch 
Vifferts zu erfinden. Und was ſie auf Waldhof er⸗ 
fahren hatte, das mußte Sigismund Viffert bezeugen. 

Skram ſtellte ſomit feſt, daß weder Jörgen noch 
Leonie verdächtigt werden konnten, ſondern daß die 
Gräfin im Zimmer Vifferts geweſen ſein mußte, wenn 
ſie ſchon bei ihrem Beſuch auf Waldhof vom Tode 
Vifferts gewußt hatte. Skram entließ daher die Diener⸗ 
ſchaft mit einigen freundlichen Worten und bereitete 
ſich vor, den vierten Zeugen, Sigismund Viffert, zu 
empfangen. 

Der junge Mann kam. Er kam von ſelbſt und 
mußte alſo etwas auf dem Herzen haben. Skram 
ſagte ſich, daß allein auf dieſem Wege das Geſtändnis 
zu erreichen ſei, nach dem er trachtete. Aber während 
er vorhin, als das Automobil ihn nach Waldhof führte, 
ſie, die einem Menſchen das Leben genommen, fällen 
wollte, war ſein Ziel jetzt ein andres. Er wollte ihr 

XXVI. 10. 9 


— 130 — 


die Sache ganz ebnen und zurechtlegen, ſie vielleicht 
ſogar ſchonen. Und dennoch — das Geſchehene aus 
ihrem Leben tilgen wollte er nicht. Hatte ſie das 
Meſſer gegen den ſchlafenden Menſchen erhoben — 
war er alſo noch ihr Feind, ſo ſollte ſie ihm auch nicht 
an der Seite des jungen Mannes entſchlüpfen, um 
ihr Leben zu genießen, als ob nichts geſchehen wäre. 
Das war eine Forderung der Gerechtigkeit, und ſie 
mußte erfüllt werden — nicht wie gewöhnlich vor der 
Schranke des Richters, ſondern zwiſchen Menſch und 
Menſch. — 

„Herr Viffert,“ ſagte Skram, „darf ich Sie bitten, 
Platz zu nehmen und mir zu ſagen, was mir die Ehre 
Ihres Beſuchs verſchafft?“ 

Der junge Mann brachte ſeine Antwort etwas 
ſtammelnd hervor. „Ich glaubte, mit Ihnen reden 
zu müſſen. Die Sache iſt nämlich die, daß Gräfin 
Polly und ich verabredet haben — — ſie hat es ja 
ſelbſt geſagt und ſo wiſſen Sie ja, daß wir — daß ſie 
und ich ein neues Leben beginnen wollen ...“ 

Skram nickte. „Ja, das kam mir recht überraſchend.“ 

„Mir auch!“ bekannte Viffert offen und wurde blut⸗ 
rot. „Sie iſt ja eine Königin, eine Madonna, ſo rein, 
fo ſtolz ...“ 

„Sie hatten wohl bloß an eine Bewunderung auf 
Abſtand gedacht,“ ſagte Skram. „Und heute nun hat 
ſie Sie mit einem Male überraſcht! Sind Sie wirk⸗ 
lich nie auf den Gedanken gekommen, daß fie —“ 
Skram zögerte, dann fügte er lächelnd hinzu: „Sie 
ebenfalls liebe?“ 

„Nie,“ ſagte Viffert. „Ich wußte freilich, daß ſie 
nicht glücklich war, das konnte ich ja ſehen, aber mit 
ihr über Liebe reden, wie hätte ich das können? Und 
außerdem war ſie ja mit Henrik vermählt.“ 

„So iſt es alſo erſt heute geſchehen, daß die Gräfin 
Ihnen ihre Pläne verriet und Sie vor Glück wie aus 
den Wolken fielen?“ 

„Das tat ich allerdings! Ich traute ja meinen 


— 131 — 


Ohren kaum. Es überwältigte mich. — — Doch was 
ich Ihnen ſagen wollte, iſt etwas ganz andres. Gräſin 
Polly will ſich nun alſo von ihrem Manne trennen. 
Aber dann muß ich auch das Pachtgut verlaſſen, denn 
ich kann doch nicht länger Henriks Pächter ſein. Ich 
ſelbſt beſitze rein nichts; im Gegenteil, ich müßte noch 
Schulden machen, da ich Beſitz und Inventar nach 
Joachimſen, der vor mir den Waldhof hatte, über⸗ 
nommen habe. Ich hätte gewiß Onkel Helmut be⸗ 
wegen können, mir zu helfen, denn er war ja ſehr 
reich; das glaubte ich wenigſtens, aber nun verſtehe 
ich nicht einen Muck von der ganzen Sache.“ 

„Na,“ verſetzte Skram, „der Zuſammenhang iſt an 
ſich nicht ſo ſchwer zu verſtehen. Ihr Onkel hat ge⸗ 
ahnt, worauf weder Sie noch ſonſt jemand gekommen 
iſt. Er war wohl der Freund der Gräfin, aber auch 
der des Grafen. Und aus letzterem Umſtand erklärt 
ſich ſein Wunſch zu verhindern, daß die Gräfin aus 
der Bahn breche. Das kann ihm keiner verdenken.“ 

„Aber wie iſt es dann möglich, daß Gräfin Polly 
mir heute morgen ſagen konnte, ſie ſei reich und un⸗ 
abhängig; nun ſei endlich die Stunde gekommen, da 
ſie dem Drange ihres Herzens folgen könne?“ 

Skram zuckte die Achſeln, aber er ſpitzte aufmerkſam 
die Ohren. „Damit hat ſie wohl gemeint, daß der 
Graf ihr eine große Apanage geben werde.“ 

„Nein,“ ſagte Viffert, „das kann ſie nicht gemeint 
haben, denn ſie ſagt ausdrücklich, daß ſie von Henrik 
keinen Pfennig nehmen wolle.“ 

„Dann hat ſie vielleicht ſchon gewußt, daß Ihr 
Herr Onkel tot iſt, und es iſt ja möglich, daß er ihr 
vorher geſagt hat, daß ſie ſeine Erbin ſei, ohne aber 
hinzuzufügen, welch fatale Bedingung er daran knüpfe.“ 

Skram ſah den jungen Mann ſcharf an. 

„Unmöglich,“ ſagte dieſer arglos. „Sie wußte ja 
nicht, daß Onkel Helmut geſtorben war.“ 

„Hm, ich glaube aber doch, daß ſie es wußte,“ 
unterbrach ihn Skram. „Und wenn Sie recht nach⸗ 


— 132 — 


denken, jo wird Ihnen vielleicht auffallen, daß die 
Gräfin bei der Todesnachricht gar keine Überraſchung 
zeigte.“ 

Viffert ſah ihn verdutzt an. „Nein,“ ſtammelte er — 
„nein. Sie haben recht — ſie war gar nicht über⸗ 
raſcht — ſie faßte es ganz ruhig auf. — — Ja, Sie 
haben recht! Sie muß es gewußt haben!“ 

„Sind Sie darin ſicher?“ 

„Ja, beinahe — oder richtiger, ich bin ganz ſicher 
darin. Denn als ich ihr ſagte, ich wolle Onkel Helmut 
gleich mitteilen, was wir beide verabredet hätten, da 
lächelte ſie ſo ſonderbar. Und als ich ſie fragte, warum 
ſie lächle, antwortete ſie bloß: „Denk nicht an Onkel 
Helmut. Der ſteht ganz außerhalb der Sache.“ — 
Erſt jetzt fällt es mir ein, aber das waren ihre Worte.“ 

Skram rieb ſich die Hände. 

„Alſo hat die Gräfin gewußt, was geſchehen war,“ 
ſagte er, „und ſich bloß hinſichtlich der Erbſchaft ver⸗ 
rechnet. Schade, daß Sie keine Frau wie ſie ernähren 
können. Sie ſind ſicher zu ſtolz, um vom Grafen Geld 
zu nehmen, und ſelbſt haben Sie nur Schulden. Und 
ich ſage Ihnen mit Beſtimmtheit — deswegen ſind 
Sie wohl auch nur gekommen — weder Sie noch die 
Gräfin werden vom Kammerjunker Viffert einen 
Pfennig erben.“ 

Der junge Mann wurde rot vor Arger. 

„Herr Amtsrichter,“ ſagte er. „Sie haben kein 
Recht, mich zu beleidigen. Für mich handelt es ſich 
hier nicht um Geld — ich bin gewohnt zu arbeiten. 
Ich bin wohl arm — in Armut geboren, aber ich 
habe gelernt, meine Hände zu gebrauchen, und bin 
ſogar bereit, wieder als Verwalter zu gehen.“ 

„Ein gutes Wort!“ ſagte Skram freundlich. „Sie 
werden ſchon mit dem Leben fertig werden — wie 
aber ſi e? Können Sie es verantworten, fie aus all 
dem, was ſie jetzt beſitzt, herauszureißen — aus der 
Gräfin Eiſenbart eine Verwaltersfrau zu machen? 
Sie ſind doch ein nüchterner und ruhiger Mann, Vif⸗ 


— 133 — 


fert. Denken Sie doch ein bißchen nach. Das iſt ja 
nichts als eine Grille von ihr! Sie iſt ſechs Jahre 
älter als Sie. Sie beten ſie mehr an, als daß Sie 
ſie lieben. Wie, wenn es ſich herausſtellen ſollte, daß 
ſie ſich an ſich ſelbſt geirrt hat, daß alles nur eine 
Laune von ihr iſt, eine Grille, die Langweile und 
Überdruß ihr eingegeben haben? Wenn es ſich zeigen 
ſollte, daß ſie eine ganz andre iſt, als Sie jetzt glauben? 
Wie wollen Sie dann dem Unglück begegnen, das Sie 
durch Ihre Unbeſonnenheit angerichtet haben?“ 

In Viffert gärte es. 

„Sie reden von Irren? An ihr kann ſich niemand 
irren. Sie vermag nicht zu lügen. Sie hat wie ein 
unerfahrenes Kind Graf Henrik geheiratet, ſie tat es 
nur um ihrer Mutter willen, damit dieſe im Alter 
keine Not leide. Sie hat nie eine niedrige Handlung 
begangen, nie jemand belogen oder betrogen. Und 
das wagen Sie auch nicht zu behaupten!“ 

„Herr Viffert,“ ſagte Skram, „Sie ereifern ſich! 
Ohne Grund. Ich behaupte gar nichts. Es iſt durch⸗ 
aus nicht meine Gewohnheit, Menſchen zu verleumden, 
die mir Freundſchaft erwieſen haben. Aber wenn Sie 
ſich nun irrten, wenn die Gräfin doch eine ganz andre 
wäre, als Sie glauben? Wenn Sie nicht der erſte 
Mann wären, den ſie liebt? Verſtehen Sie mich wohl, 
das iſt bloß ein Gedankenexperiment von mir. Aber 
würden Sie es dann — trotz alledem — verantworten 
können, ſie aus der Herrlichkeit, in der ſie lebt, heraus⸗ 
zuführen und ihr dafür zu bieten, was ein armer Land⸗ 
mann zu bieten vermag?“ 

„Ich verſtehe mich nicht auf ſolche Dinge,“ ſagte 
Viffert kurz. „Ich ſelbſt bin ein ehrlicher Mann, und 
Ihre Gedankenexperimente gehen mich nichts an. Ich 
habe tief in ihre Augen geſehen, und die lügen nicht. 
Das Weib, das ich mein nennen ſoll, muß ohne Flecken 
und Makel ſein, ſo wie ſie es iſt. Und wenn ihre Ehe 
mit Graf Henrik erſt gelöſt iſt, wird das Einzige, was 
mich jetzt noch von ihr trennt, ganz aus ihrem Leben 


— 134 — 


getilgt ſein. Ich nehme nicht die Frau eines andern 
Mannes, aber wenn ſie freiwillig zu mir kommt — 
mit ihrer Liebe — —“ Viffert ſchwieg. 

„Und wenn ſie Ihnen nun doch nicht die Wahrheit 
geſagt hätte?“ fragte Skram ruhig. 

Viffert erhob ſich haſtig, um zu gehen. 

Doch Skram hielt ihn auf und ſagte beſtimmt: „Herr 
Viffert, jetzt iſt es acht Uhr. Um zehn Uhr werde ich 
hier anläßlich des Todes Ihres Onkels Verhör ab⸗ 
halten. Wollen Sie ſo freundlich ſein und ſich dann 
hier in meinem Bureau einfinden. Es liegt eine Sache 
von großer Wichtigkeit vor.“ 

Viffert blickte ihn verſtändnislos an, dann neigte 
er als Antwort den Kopf und ging. 

Skram folgte ihm bis zur Tür und — in ſein Zim⸗ 
mer zurückgekehrt — flüſterte er vor ſich hin: „Sie 
hat gewußt, daß er tot war.“ 

Hatte ſie alſo die Unwahrheit geredet, als ſie er⸗ 
zählte, daß Viffert ſich das Meſſer ſelbſt aus dem 
Ankleidezimmer des Grafen geholt habe? Es konnte 
immerhin wahr ſein, denn die Vermutung, es liege 
Mord vor — auf die Skram ja nur dadurch gekommen 
war, daß er das Meſſer des Grafen in der Hand des 
Toten gefunden hatte — konnte von Liffert ſelbſt 
beabſichtigt worden ſein, und allein zu dieſem Zweck 
konnte er ſich das Meſſer geholt haben. 

Doch wie war es nun mit der Todesurſache be⸗ 
ſtellt? War es Mord, Selbſtmord oder nur Herz- 
lähmung? 


VII. 


Für Skram bedeutete Muſik Ruhe. Wenn er am 
Tage ſchwer gearbeitet hatte und das Durcheinander 
der Gedanken ihm einen leichten Druck im Hinterhaupt 
verurſachte, konnte er plötzlich aufſpringen, die Arbeit 
zur Seite ſchieben und nach ſeinem Cello greifen. 
Stundenlang pflegte er dann, den Rücken den Fenſtern 
zugekehrt, über ſein Inſtrument gebeugt dazuſitzen — 


— 135 — 


es abzuſetzen, um zu ruhen, ohne zu denken — und 
es wieder an ſich zu ziehen, um ſich in das große Nichts 
hinauszuſpielen. Beethovens Celloſonaten ſpielte er 
am liebſten, allein er ſpielte ſie nicht nur, ſondern er 
durchlebte die Gedanken des Meiſters — ohne mit dem 
Gehirn zu arbeiten, nur den Tönen folgend — ihnen 
nachblickend, wie ſie auftauchten und wieder ver⸗ 
ſchwanden. 

Und an dieſem Abend war Skram müde, er wollte 
alles zuſammen durch ſein Spiel verſcheuchen, alle 
dieſe ſich kreuzenden Gedanken und Kombinationen auf⸗ 
heben, um nur den einen Gedanken, der wirklich Wert 
hatte, zurückzubehalten. Er wollte ihn von allen Fehl⸗ 
ſchlüſſen iſolieren, um ihn ein Gewebe aus Beethovens 
Sonaten legen, das jede Beeinfluſſung durch andre 
Vorſtellungen verhindern müßte. 

Er merkte nicht, daß die Gartentür aufging, er 
ſpielte in den Tönen verſunken, ohne zu ahnen, daß 
ſie hinter ihm ſtand, leiſe und lauſchend und ängſtlich 
jede Bewegung vermeidend, um den Zauber der Töne 
nicht zu brechen. 

Als er ſich erhob, wurde er ihrer gewahr. Er neigte 
den Kopf, wie man einen Freund begrüßt, und ſetzte 
das Cello in eine Ecke. Dann trat er zu ihr hin und 
ergriff ihre Hand. 

„Dank, daß Sie gekommen ſind,“ ſagte er. 

„Und Dank, daß Sie geſpielt haben,“ erwiderte ſie, 
ihm gerade in die Augen ſchauend. Ihr Blick war 
feucht wie von Tränen verſchleiert, dabei ſah ſie blaß 
und abgeſpannt aus. 

Sie nahm auf einem Lehnſtuhl neben der Tür 
Platz und er ſtellte ſich ihr gegenüber an den Tür⸗ 
pfoſten. Es war gegen Sonnenuntergang, und die 
Glockenſchläge von der Kirche drangen über den Schloß- 
ſee und durch den Park. 

„Kommen Sie, um zu reden, oder um zu ſchwei⸗ 
gen?“ fragte Skram. 

Sie lächelte. „Ich muß wohl reden, nun nachdem 


186 — 


Sie in der Sprache zu mir geredet haben, die ich 
höher ſchätze als jede andre. Ich nehme meine leicht⸗ 
ſinnigen Worte zurück, Skram. Sie ſollen kein andres 
Inſtrument als das Cello ſpielen. Das Cello iſt das 
Inſtrument des Mannes, und Sie, Skram, ſind ein 
Mann.“ 

„Da denken Sie wohl an das kleine Intermezzo 
vor dem Zuge?“ fragte er. „Nun, das machte bloß 
der Selbſterhaltungstrieb, ſonſt nichts. Ich habe noch 
einige Dinge in dieſer Welt auszurichten! Nachher 
mögen wir meinetwegen dorthin abreiſen, von wo 
man niemals wiederkehrt. Aber nicht früher. — Sie 
ſind alſo gekommen, um zu reden. Gut, ſo will ich 
ſchweigen.“ 

„Ich ſchulde Ihnen eine Erklärung für dieſen Ein⸗ 
fall von mir,“ ſagte ſie. „In jenem Augenblick war 
ich nicht Herr über mich. Wenn das Entſetzen mich 
packt, bin ich imſtande, inſtinktmäßig, ohne widerſtehen 
zu können, Taten zu verüben, die mir in ruhigen 
Augenblicken nie in den Sinn kommen würden, und 
als ich den Wagen dem heranbrauſenden Zug ent⸗ 
gegenſteuerte, da war nicht ich es, die das wollte, 
ſondern ſtärkere Mächte in mir, denen ich gehorchen 
mußte. Na, es wurde ja nichts daraus, und nicht wahr, 
hier in der Welt, wo ſo vieles zum Ziele führt, iſt es 
recht zwecklos, bei Dingen, aus denen nichts wurde, 
zu verweilen!“ 

„Ganz gewiß,“ ſagte Skram. „— und darum 
wollen wir auch nicht weiter davon reden.“ 

Sie fuhr fort, indem ſie mit ihrem gewöhnlichen 
feſten Blick zu ihm aufſchaute. „Als Sie mir ſagten, 
Sie ſeien überzeugt, ich hätte Viffert ermordet, war es 
mir, als ſchlügen Sie mir mit einer Peitſche ins Geſicht. 
Es biß und brannte, wie Hohn nur brennen und beißen 
kann. Ich kenne Sie ja nur als den ſtillen, etwas 
wehmütigen, ſchweigſamen Mann, der an langen 
Winterabenden bei mir ſaß, wenig redete und viel 
lauſchte, wenn wir nicht die Töne reden ließen und 


— 137 — 


beide ſchwiegen. Ich konnte nicht faſſen, daß Sie jo 
roh ſein konnten. Männer können wohl alle roh ſein, 
aber die beſten doch nur gegen die Frauen, die ſie lieben, 
und Sie, Skram, haben ja immer nur in der kühlen 
Entfernung der Freundſchaft zu mir geſtanden. Ich 
glaubte einen Augenblick lang, es ſei der Richter, 
der aus Ihnen redete, der rückſichtsloſe Richter, den 
ich nicht kannte, von dem ich nur früher gehört hatte. 
Aber es war nicht der Richter, es war der Mann, 
der aus Ihnen redete. Und darum verſtand ich Sie 
nicht. Heute abend habe ich darüber nachgedacht — 
und nun verſteh' ich es beſſer. Helmut Viffert hat 
mit Ihnen geredet, er hat meinen Namen genannt 
und vielleicht davon geſprochen, was ihn und mich 
zuſammenknüpfte — von den Leiden vieler Jahre für 
die Schwäche eines Abends. Und das Bild, das Sie 
ſich von mir geſchaffen hatten, wurde verwiſcht und 
durch ein ganz andres erſetzt — nicht wahr?“ 

Skram ſchwieg. 

„Ich verſtehe Sie, Skram,“ ſagte ſie, „und ich 
zürne Ihnen nicht mehr. Wir reden miteinander 
wie zwei Menſchen, die ein Geheimnis zuſammen 
haben. Ich bin in Not, in bitterer Not. Heute morgen 
glaubte ich, die Sonne gehe für mich auf, um 
meinen ganzen Lebenstag zu beſcheinen, und jetzt des 
Abends, Skram, des Abends geht ſie unter für immer, 
wenn Sie ihr nicht gebieten, aufs neue für mich auf⸗ 
zugehen. Ich will — ich kann mir das Glück nicht 
entreißen laſſen.“ 

Skram lächelte. „Das Glück! Wer würde glauben, 
daß Sie, ſo ruhig wie Sie ſind — und bei dem Vielen, 
das Sie geſehen und erlebt haben — das Glück im 
Ungewiſſen ſuchen wollten. Ich verſtehe ſehr wohl: 
Sie wollen nicht haben, daß der junge Mann, in deſſen 
Perſon Sie zu finden glauben, was Sie das Leben 
nennen, etwas zu wiſſen bekommt. Sie haben früher 
verſucht, ehrlich zu ſein, aber Sie glauben jetzt, daß 
dieſe Ihre Ehrlichkeit Ihnen das Glück verſchleiert habe. 


— 18 — 


Jetzt wollen Sie aufs neue geboren werden mit dem 
Nichts der Geburt hinter ſich, und ſo, glauben Sie, 
können Sie das Glück umfaſſen.“ 

Sie bog den Kopf vor, um zu antworten. 

„Aber Sie gehen fehl, Gräfin Polly — es gibt 
wohl Menſchen, für die das Glück aus ſeinem Garten, 
deſſen Tiefen niemand kennt und erforſchen kann, 
emporſteigt. Für die allermeiſten von uns jedoch, 
und dann auch nur für die Sehenden, iſt das Glück 
nichts als die Harmonie des Augenblicks, ein Drei⸗ 
klang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 
Wir ſind gezwungen, die Vergangenheit in die Gegen⸗ 
wart hineinzuziehen, und aus dem Zuſammenſpiel 
beider ſchaffen wir die Zukunft. Das iſt der Drei⸗ 
klang des Glücks. Den Grundton darin erſticken können 
Sie nicht; der klingt durch das Glück des ganzen Lebens 
hindurch. Und Sie mögen wiſſen, daß es zu den 
Geheimniſſen des Lebens gehört, daß Kummer und 
Schmerz der Grundton eines tiefen, wahren Glücks 
zu werden vermögen. Wir Menſchen, die ins Leben 
geſchaut haben, können nicht der Vergangenheit be⸗ 
raubt werden, ſie ſei ſo bitter und dunkel, als ſie will.“ 

„Es handelt ſich hier nicht um mich,“ ſagte ſie, 
ſondern um ihn. Ich will, daß er mich als die zu 
ſich nimmt, die ich bin — ohne zu wiſſen, was ich 
war!“ 

Skram zuckte die Achſeln. „Es fällt mir ſchwer, 
an ihn zu denken. Aber gut, ich will ihn einmal wirk⸗ 
lich ſo ſehen, wie Sie ihn ſehen, nicht anders. Doch 
nun muß ich Ihnen gleich ſagen: Sie ſehen ihn falſch, 
Sie kennen ihn nicht, Sie kennen ihn nicht, wie Sie 
auch nicht wollen, daß er Sie kenne. Glauben Sie, 
daß das der Weg iſt, der dem Tag entgegenführt, nach 
dem es Sie verlangt? Nein, das iſt ein Weg, der in 
die Nacht hinausführt — in eine Nacht, die nicht wie 
die hellen Sommernächte voller Wohlgefühl und Wohl- 
klang, ſondern eine graue, ſchwere Winternacht iſt, 
in der das Gemüt erdrückt wird und die Jugend dahin⸗ 


— 139 — 


ſiecht. Sie leben Ihr Leben nicht in dem, was außer 
Ihnen liegt, ſo wie wir es tun, die des Tages Arbeit 
zu leiſten haben — Sie leben Ihr Leben, wie es 
ſich in Ihren eigenen Gedanken widerſpiegelt. Es gibt 
wohl Frauen, die ſtark und tief für einen Mann emp⸗ 
finden, die ihr Leben in dem täglichen Schaffen für 
Haus und Kind erblicken — die Betten machen und die 
Diele fegen, das Haus beſtellen und das Leinenzeug 
flicken — die nur in ihrer einfachen tiefen Liebe zu 
Mann und Kindern groß ſind, ſelbſt wenn ſie klein 
erſcheinen. Und ſolche Frauen können wohl einen 
Mann ganz gewinnen, ſo daß er nach nichts anderm 
fragt als dem Glimmen ihrer tiefen Liebe, das er 
täglich ſieht — ihrer Liebe, die der einzige und ganze 
Inhalt ihres Geiſteslebens iſt. Wären Sie derart, ſo 
könnten Sie verſuchen, in Zukunft allein zu leben. 
Doch ſo ſind Sie nicht! Sie ſind kein Gretchen mit 
blonden Flechten und einem gebenden Herzen. Sie 
ſind nicht imſtande, das Vergangene zu vergeſſen, 
und können auch nicht allein für ſich in der Gegen⸗ 
wart leben. Denn könnten Sie das, dann hätten Sie 
ſchon längſt mit Helmut Viffert gebrochen, Sie hätten 
ihn aus dem Leben geſchafft, um allein zu bleiben!“ 

Sie ſah auf. 

„Aus dem Leben geſchafft!“ wiederholte Skram feſt. 

Sie ſah ſtarr vor ſich hin, während Skram redete. 
Er wandte ſich um und ging ſchweigend auf und ab, 
als warte er auf eine Antwort von ihr — jedoch ſie 
ſchwieg. 

„Sie müſſen nicht denken, Gräfin Polly, dies ſei 
ein Verhör; nein, es iſt kein Verhör, ich bin nicht 
Ihr Richter, ich wünſche nicht zu wiſſen, was oben 
in der Nacht geſchehen iſt — und Viffert iſt nun ein⸗ 
mal tot. Aber ich bitte Sie, mir, der ich Ihr Freund 
bin, zu ſagen, warum Sie ſich an einen Mann fort⸗ 
ſchenken wollen, der Ihrer nicht wert iſt — warum 
Sie handeln wollen wie jener Geiſtesheld, der ein 
Bauernmädchen zu ſeiner Gattin erhob, bloß weil ſie 


— 140 — 


jung, friſch und hübſch war, der auf dieſe Weiſe ſein 
Leben verſpielte und ſchließlich ſeine Torheit beweinte, 
was ihm auch keinen Nutzen brachte? Das möchte ich 
wiſſen.“ 

Jetzt ſtand er wieder vor ihr, an den Türpfoſten 
gelehnt, und ſah auf ſie herab. 

Sie redete langſam, bei jedem Wort verweilend: 

„Ich habe einmal irgendwo geleſen, daß die Natur 
uns rufen kann; es kommt die Stunde, da der 
Menſch ſich danach ſehnt, zur Natur zurückzukehren, 
aus der er hervorgegangen iſt. Dieſe Stunde iſt zu 
unſrer Zeit ſchon für manchen gekommen — für mich 
iſt ſie jetzt gekommen. Das Einfache — das Unzu⸗ 
ſammengeſetzte — das Wahre — das nur will, was 
der Menſch durch eigene Kraft erreichen kann, und es 
ſo will, daß es im Einklang mit der Natur ſteht — 
das zieht mich zu ſich hin, mich, die ihr Leben bisher 
nur in künſtlichem Lichte zugebracht hat — in einer 
prächtigen Halle, aus der die Sonne verbannt war 
und in der an ihrer Stelle vom Morgen bis zum Abend 
Kronleuchter brannten. Ich habe ſo vieles gehört — 
nun ſehne ich mich nach Schweigen. Ich habe ſo 
viele Farben in ihrem Zuſammenſpiel geſehen — nun 
ſehne ich mich nach wenigen, die aber rein und ſtreng 
voneinander gehalten ſind. Ich habe immer jenſeits 
von Gut und Böſe geſtanden — nun ſehne ich mich 
nach einigen wenigen, feſten Anforderungen; aus den 
vielen wechſelnden Neuheiten, die mich bisher um⸗ 
gaben, ſehne ich mich nach wenigen, einfachen Freu⸗ 
den, nach einem einzigen tiefen Gefühl — dem 
Gefühl Gretchens, wenn Sie ſo wollen. Ich habe 
geherrſcht — nun will ich gehorchen; alle haben meine 
Wünſche zu erraten geſucht, haben nach meinem Wink 
geſpäht — nun will ich ſelbſt danach ſpähen und ſuchen, 
mich einem harten Willen unterzubeugen. Und alles, 
was ich ſuche, kann er mir geben. Ich bin müde, 
doch ich gehe nicht in ein Kloſter, wie es andre täten, 
denn dort würde ich allein mit meinen Gedanken bleiben 


— 141 — 


und daher auch keine Ruhe finden. Ich wähle mir einen 
Gefolgsmann, der alles will, wonach ich mich ſehne.“ 

„Das heißt alſo, Sie gehen doch in ein Kloſter, 
allerdings nicht allein, ſondern mit ihm ins Kloſter. 
Sie redeten alſo nicht die Wahrheit, als Sie mir geſtern 
ſagten, Sie wollten ihr Leben genießen, ſolange Sie 
noch jung ſeien. Das wollen Sie ja gar nicht! — 
Nun, ich werde Sie nicht zurückhalten von dieſer neuen 
Form von Entſagung, aber eins verlange ich von 
Ihnen — nicht um meinet⸗, ſondern um Ihretwillen: 
Mit geſchloſſenen Augen dürfen Sie nicht hinein⸗ 
gehen in dieſes neue Stadium. Sie müſſen ihn kennen, 
denn jetzt kennen Sie ihn noch nicht. Ich verlange 
nicht, daß Sie ihm demütig beichten und ihn bitten, 
Sie in Gnaden aufzunehmen, aber ich verlange, daß 
Sie ihm alles ſagen, was in der Nacht geſchehen iſt. 
Sagen Sie ihm alles — alles, dann werden Sie ihn 
kennen lernen.“ 

Sie blickte ſpähend auf. 

Er fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Ich bin 
durchaus kein Pedant; ich könnte mir die Welt ganz wohl 
ohne Wiedervergeltung denken, und ich fühle mich nicht 
berufen, aus eigener Macht zu richten. Ich richte nur, 
wo mein Beruf mich dazu zwingt. Aber ich glaube, 
daß Sie heute nacht von Angeſicht zu Angeſicht Ihrem 
toten Feinde gegenübergeſtanden haben — in ſtarrem 
Entſetzen. Und was da geſchehen iſt, ſoll er erfahren. 
Verſteht er es nicht, ſo iſt er auch Ihrer nicht wert. 
Er ſoll es nicht etwa mit ſeinem Verſtande verſtehen, 
nein — das Unzuſammengeſetzte ſoll er begreifen, ſo 
wie jede menſchliche Handlung auf alle Menſchen wirkt. 
Wir faſſen alles nur mit den Mitteln auf, über die 
wir verfügen. Verſteht er es — gut, dann dürfen 
Sie ihm folgen. Aber ich ſage Ihnen, er wird es 
nicht verſtehen und von Ihnen ablaſſen. Und dann 
ſollen Sie ihn gehen laſſen, wohin er will. Es iſt 
beſſer, man iſt allein einſam, als mit einem andern 
einſam.“ — 


— 142 — 


Sie antwortete nicht, ſondern ſtarrte vor ſich hin. 

„Er iſt jetzt hier,“ ſagte Skram, „er wartet draußen; 
ich hörte ihn vorhin kommen. Reden Sie nun mit 
ihm. Ich ſagte Ihnen ſchon: ich bin nicht Ihr Rich⸗ 
ter — ſondern Ihr Freund. Sagen Sie ihm, was 
Sie wollen und wie Sie es wollen, aber Sie mögen 
wiſſen, daß Sie, wenn Sie nicht jetzt reden, ſicher noch 
ſpäter einmal reden werden — und dann wird es zu 
ſpät ſein. Oder aber Sie werden zu allen Zeiten 
ſchweigen und dann in derſelben Halle ſitzen, in der 
Sie, wie Sie ſagen, bisher geſeſſen haben, und das 
Licht der Sonne wird daraus verbannt ſein wie bisher.“ 

Sie antwortete nicht, und Skram ſchritt eilig zur 
Tür. 

Auch ſie erhob ſich wie um zu gehen, doch an der 
Tür hemmte ſie den Schritt und ſtarrte über das grün⸗ 
gelbe Waſſer zur Edelsburg hinüber. 

So ſtand ſie noch ſchweigend an den Türpfoſten 
gelehnt, als Sigismund Viffert eintrat. 

Er war allein. — 


VIII. 


Skram ließ ſich reichlich Zeit. Er ſetzte ſich an ein 
im Vorzimmer ſtehendes Pult und ſchrieb gemächlich 
einige Briefe; dann nahm er ſeinen Hut und ging aus. 
Er ſchritt auf gut Glück zum Fjord hinüber, der im 
Abendſcheine glänzend dalag — verfolgte den Weg, 
bis er die Spitze erreicht hatte, an der der Fjord ins 
Meer übergeht. Er dachte an nichts, ſondern ſchritt nur 
vorwärts und ſaugte die friſche Abendbriſe in vollen 
Zügen ein. 

Es war eine Viertelſtunde Wegs bis zur Spitze 
und eine Viertelſtunde zurück. Es verging im ganzen 
alſo eine halbe Stunde, und Skram wollte den beiden 
eine ganze Stunde laſſen. Er wußte gut, wie leicht 
und häufig menſchliche Macht verſagt. Er hatte als 
Richter oft jener hartnäckigen Schweigſamkeit gegen⸗ 
übergeſtanden, die in entſchwundenen Zeiten die Rich⸗ 


— 143 — 


ter zur Anwendung der Folterinſtrumente gezwungen 
hat. Er wußte, wie hilflos man einem, der nicht reden 
will, gegenüberſtehen kann. Aber Skram war auch 
geduldig, und ſeine Stärke beſtand darin, daß er immer 
reichlich Zeit ließ. Wer mit der Zeit rechnet, als ob 
alle Zeit ihm gehörte, der iſt Herr über die Ewigkeit, 
und nur aus Schwachheit glauben die Menſchen, daß 
die Zeit ihnen davonlaufe. So ſagt der Herzog von 
Wien in ſeinem „Measure for Measure“ zu dem ge⸗ 
fangenen Claudius: „Du eilſt dem Tod entgegen, wenn 
du glaubſt, ihn zu fliehen. Alle Haſt führt zum Tode. 
Das Leben kommt nur dem Wartenden.“ — 

Skram lenkte feine Schritte dem Haufe des Kreis- 
arztes zu. Der Doktor, der ihn bereits erwartete, führte 
ihn in ſein Studierzimmer und bat ihn, Platz zu nehmen. 

„Doktor,“ ſagte Skram, „ich will Ihnen geſtehen, 
daß ich jetzt in einer ernſten Klemme ſitze. Ich habe 
mir nach und nach eine Theorie über die Ermittlung 
und Konſtatierung von Miſſetaten gebildet, die von 
der gewöhnlichen entſchieden abweicht. An Indizien 
als Richtſchnur für das Urteil glaube ich nicht; ſie 
ſtellen den menſchlichen Wiſſensdrang durchaus nicht 
zufrieden, ſondern laſſen eine niederträchtige Ungewiß⸗ 
heit zurück, die draußen im Volke böſes Blut macht. 
Der Zeugenbeweis iſt der ſchlechteſte von allen Be⸗ 
weiſen; er tritt mit einer vom Geſetz beſtärkten, alt⸗ 
hergebrachten Autorität auf, die ihm im voraus ein 
gewaltiges Übergewicht verleiht. Aber zu unſrer Zeit 
mit ihren tauſendfachen Eindrücken, mit ihrem ganzen 
zuſammengeſetzten Geſellſchafts⸗ und Gefühlsleben hat 
es ſich erwieſen, daß die Menſchen — buchſtäblich ge⸗ 
nommen — überhaupt nicht imſtande ſind, zu zeugen. 
Die Zeugenausſagen ſind gar nicht mehr Berichte aus 
erſter Hand über Geſehenes und Gehörtes, ſondern ſie 
ſind gefällte Urteile nicht kompetenter Richter. Das 
einzige Beweismittel, dem ich mich beuge, iſt das 
eigene Geſtändnis. Wenn ein Mann ſagt, daß er ein 
Verbrechen begangen habe, ſo bin ich unter gewöhn⸗ 


— 14 — 


lichen Umſtänden geneigt, ihm Glauben zu ſchenken. 
Und ich glaube nicht, daß ich je, ohne ein Geſtändnis 
erlangt zu haben, eine Verurteilung ausſprechen könnte. 
Es kommt bloß darauf an, auf welche Weiſe man ein 
Geſtändnis erzwingt. Es iſt lange Zeit hindurch ge⸗ 
bräuchlich geweſen, von den Bezichtigten ein Geſtändnis 
zu erpreſſen; das iſt allerdings ausführbar, aber es 
können dabei Mißbräuche vorkommen, die die Sicher⸗ 
heit des Reſultats erſchüttern. Meine Methode da⸗ 
gegen iſt die, mit Vermutungen zu arbeiten, mir eine 
Anſicht über das Geſchehene zu ſchaffen und meine 
Vermutungen nach Möglichkeit zu bekräftigen. Das iſt 
allerdings ſchon die gebräuchliche Methode, doch wird 
hierbei die Gefahr außer acht gelaſſen, von vornherein 
Partei zu ergreifen. Im allgemeinen wird es für 
ſchwächlich gehalten, hinterher ſeine Anſicht zu ändern, 
bei meiner Methode dagegen iſt dieſes notwendig. Ich 
laſſe die Vermutungen aus den Tatſachen, die ich in 
Betracht ziehe, entſtehen, laſſe ſie verſchwinden und 
ſich gegenſeitig bekämpfen. Mein Ziel iſt, ſchließlich 
zu einer Anſicht zu gelangen, die allein richtig erſcheint, 
und ſie dem Betreffenden, den ich für ſchuldig halte, 
vorzulegen und auseinanderzuſetzen. Wenn meine 
Vermutung richtig iſt, wenn ich alle Wege, auf denen 
ich zu ihr gelangt bin, nachweiſen kann, ſo iſt es wahr⸗ 
ſcheinlich, daß ich das Geſtändnis erlange; das will 
ſagen: ich ſiege im logiſchen Zweikampf.“ 

Der Doktor nickte. „Das ſind allgemein gültige 
Bemerkungen, Skram — ich bin nun unbändig neu⸗ 
gierig, die ſpeziellen zu hören. Wen haben Sie in 
Verdacht?“ 

„Die Gräfin,“ ſagte Skram kurz. 

„Die Gräfin?“ wiederholte der Doktor und öffnete 
den Mund vor Erſtaunen, „das iſt ja ganz was Neues!“ 

„Für Sie — nicht für mich. Nun, da es ſich nicht 
um Mord handelt, ſondern um einen leichteren Fall, 
trage ich kein Bedenken mehr, Sie an meinem Ge⸗ 
heimnis teilnehmen zu laſſen. Einen Augenblick lang 


— 145 — 


bin ich im Zweifel geweſen, denn ſie erzählte mir mit 
klaren Worten, daß Viffert ſelbſt im Ankleidezimmer 
des Grafen geweſen ſei, nachdem er ihr Schlafzimmer 
paſſiert habe, und daß er ſelbſt das Meſſer, auf dem 
ſich unſre Theorie aufbaut, an ſich genommen habe. 
Da ſie unmöglich gewußt haben kann, daß mit den 
Meſſern etwas vorlag, ſo wäre das Ganze durch 
Vifferts Niedertracht, die mich keineswegs in Er⸗ 
ſtaunen ſetzt, erklärt. Nun dagegen ſtellt ſich die Sache 
wieder anders. Viffert hat nicht Selbſtmord begangen, 
ſchon aus dem Grunde, weil er bereits tot war, ehe 
ihm der Schnitt zugefügt wurde. Nicht wahr?“ 

„Die Wunde iſt entſchieden poſtmortal.“ 

„Gut, wir ſtehen alſo einem neuen Rätſel gegen⸗ 
über, das ſich indeſſen löſen läßt. Viffert hat das 
Meſſer tatſächlich in der Abſicht geholt, es zu benutzen; 
er wollte ſich den Hals abſchneiden, und nur fein 
plötzlicher Tod hat ihn daran gehindert. Nun bieten 
ſich zwei Möglichkeiten. Die erſte iſt folgende: er hat 
tot im Bett gelegen, ohne das Barbiermeſſer in der 
Hand zu halten — ſei es, daß er ſeinen Selbſtmords⸗ 
plan hat fallen laſſen, ſei es, daß er zu den Vorberei⸗ 
tungen noch nicht geſchritten war. Das Meſſer hat 
jedenfalls auf dem Tiſch am Bett oder vielleicht auch 
auf dem Bett ſelbſt gelegen. — Dann kam ſie herein — 
nicht um ihn zu ermorden, ſondern aus andern Grün⸗ 
den, um mit ihm zu reden. Sie hat ihn liegen ſehen 
und geglaubt, er ſchlafe. Ein plötzlicher Einfall, 
das Blitzen des Meſſers oder, was weiß ich, hat ſie 
mit ſich fortgeriſſen. Sie hat das Meſſer ergriffen und 
zugeſchnitten, um dann, wie Sie es für wahrſcheinlich 
halten, zu entdecken, daß ſie in eine Leiche ſchnitt. 
Wenn dies richtig iſt, ſo liegt ein Mordverſuch vor, 
der in Anbetracht der obwaltenden Umſtände mit ein 
paar Jahren Zuchthaus beſtraft werden würde. Es 
würde hart für mich ſein, hier einzuſchreiten, denn 
teils bin ich prinzipmäßig Widerſacher der Beſtrafung 


putativer Verbrechen, die in großen eee 
XXVI. 19. 


— 146 — 


ſtraffrei find und es auch fein müſſen, teils bin ich ſehr 
dafür, über dieſe Handlung, die doch kaum mit voller 
Zurechnungsfähigkeit ausgeführt ſein kann, den Schleier 
fallen zu laſſen. Doch ein Konflikt liegt hier immer⸗ 
hin vor, und es iſt von Amtswegen meine Pflicht, hier 
einzuſchreiten.“ 

„Das wäre alſo die erſte Möglichkeit,“ ſagte der 
Doktor, „und nun die zweite?“ 

„Die zweite,“ verſetzte Skram, „iſt noch ſonder⸗ 
barer als die erſte, aber dennoch neige ich zu ihrer 
Annahme am meiſten. Viffert hatte beſchloſſen, ſich 
unter ſolchen Umſtänden zu entleiben, daß ein Mord⸗ 
verdacht auf andre fallen mußte. Die verſchiedenen 
Andeutungen, die er mir gegenüber geſtern abend 
machte, beſtärken mich in dieſem Glauben. Die Gräfin 
hat ſicher die Wahrheit geſprochen, als ſie von ſeinem 
nächtlichen Beſuche erzählte. Doch Viffert hat mehr 
getan; er hat ſich mit dem Meſſer bewaffnet, ſich im 
Bett zurecht gelegt und iſt dann, ganz unerwartet, ge⸗ 
ſtorben. Dann iſt ſie hinzugekommen, an ſein Bett 
getreten und hat geſehen, daß er bereits tot war. 
Beachten Sie wohl, das iſt durchaus nicht undenkbar, 
denn es muß gegen zwei Uhr geweſen ſein, und es war 
ſomit ſchon hell. — Doch das Unheimliche der ganzen Si⸗ 
tuation, ſein Geſichtsausdruck, der feſtgeſchloſſene Mund, 
die Leichenſtarre und das Meſſer haben ihren Schritt 
gehemmt und ſie mit Entſetzen erfüllt. Und unter 
dem Einfluß dieſes Entſetzens hat ſie wie ein Schlaf⸗ 
wandler gehandelt, faſt mechaniſch das Meſſer ergriffen 
und zugeſchnitten, in den Kadaver hinein, der vor ihr 
lag. Es klingt recht wunderlich, aber es kann doch 
ſo geweſen ſein, und ich bin zu dem Glauben geneigt, 
daß es wirklich ſo gegangen iſt. Dieſe ihre Handlung 
würde abſolut ſtraffrei ſein, und auf dieſer Grundlage 
kann ihr kein Prozeß gemacht werden.“ 

Der Doktor ſchüttelte den Kopf. „Es klingt ſehr 
wunderlich — aber möglich iſt es ja.“ 

„Jawohl,“ ſagte Skram, „es erſcheint mir weit ver⸗ 


— 147 — 


ſtändlicher, daß eine Frau wie ſie einem nervöſen, 
krankhaften Zwange nachgegeben hätte, als daß ſie einen 
Mord oder einen Verſuch dazu hätte vollbringen können. 
Eine Frau mit ihrem Naturell muß zu einer ſolchen 
Handlung angereizt werden; der paſſive Schlaf reicht 
nicht hin, aber der Tod ſelbſt, der Tod iſt ihr ent⸗ 
gegengetreten und hat ihren Handlungsdrang in dieſer 
wahnwitzigen Tat ausgelöſt.“ 

„Das iſt gar nicht ſo undenkbar,“ ſagte der Doktor, 
„— pſychologiſch erklärlich iſt es jedenfalls. Aber was 
wollen Sie nun machen?“ 

„Das will ich Ihnen ſagen,“ lautete die Antwort. 
„Ich benutze dieſe beiden — wollen ſagen — Richter⸗ 
vermutungen derart gegen ſie, daß ſie mir ſagen muß, 
welches die richtige iſt.“ 

„Und dann?“ 

„Einſtweilen will ich mir meine Stellungnahme 
noch vorbehalten, wenn ich auf Sie rechnen kann.“ 

„Was meinen Sie damit?“ fragte der Doktor. 

„Ich möchte Sie fragen, Doktor, ob Sie, wenn ich 
es mit meiner Amtsverantwortung in Einklang bringen 
kann, die Sache ad acta zu legen, es als möglich dahin⸗ 
geſtellt ſein laſſen wollen, daß die Herzlähmung wäh⸗ 
rend eines Selbſtmordverſuches eingetreten iſt.“ 

„Das würde mir als Gerichtsarzt peinlich ſein,“ 
ſagte der Doktor, „denn, ehrlich geſagt, halte ich das 
für ausgeſchloſſen. Der Blutaustritt müßte dann viel 
größer geweſen ſein und die Wunde würde auch ganz 
anders ausgeſehen haben. Wie geſagt, iſt es eine 
poſtmortale, keine intravitale Verletzung.“ 

„Die Herren Arzte ſind verteufelt ſicher in ihren 
Urteilen,“ ſagte Skram. „Ich will in dieſem Falle ſo 
beſcheiden als möglich ſein: es kann doch möglich 
ſein, daß Sie ſich irren!“ 

„Dann können Sie ja ein Obergutachten einholen,“ 
ſagte der Kreisarzt, ein wenig verdroſſen. Es ärgerte 
ihn, daß man an ſeinem visum et repertum zweifelte. 

„Auch ein gutes Wort,“ ſagte Skram. „Dieſe Sache 


— 148 — 


ſoll entweder zu einem Fall werden, der das ganze Land 
in Aufregung verſetzt, oder ſie ſoll in aller Stille bei⸗ 
gelegt werden. Ein Drittes gibt es nicht. Und würden 
Sie mit dem letzteren einverſtanden ſein, wenn ich es 
täte?“ 

„Ja,“ ſagte der Doktor. 

„So werde ich Ihnen morgen Beſcheid ſenden. 
Ich rechne auf Sie.“ 

Damit ſchieden ſie. 


IX. 


Als Skram zurückgekehrt war, traf er die Gräfin 
allein im Gartenzimmer an. Sie ſaß in der Tür⸗ 
öffnung und ſtarrte zum Schloß hinüber. 

Als ſie Skrams Schritte hörte, erhob ſie ſich ſchnell 
und trat ihm entgegen. 

„Wünſchen Euer Gnaden, daß ich Licht anzünde?“ 
fragte Skram. 

„Nein,“ erwiderte fie ſchnell, „das würde Sünde 
ſein. Die Nacht iſt ſo herrlich, und ich liebe die Däm⸗ 
merung.“ 

„Und die Einſamkeit,“ fügte er hinzu. „Euer 
Gnaden, nun iſt es dahin gekommen, wohin es kommen 
mußte. Ich hatte erwartet, Sie allein zu treffen, 
und nun müſſen Sie mit mir reden. Ich bin nicht 
Ihr Feind, aber ich bin in dieſem Augenblick Ihr 
Richter. Ich habe gewartet und geſchehen laſſen, was 
geſchehen iſt. Sie ſind nicht gewohnt, vor jemand zu 
zittern, und doch haben Sie heute vor mir gezittert. 
Ich will ehrlich ſein: ich habe ein Doppelſpiel mit 
Ihnen getrieben. Doch nun kann dieſem Spiel ein 
Ende gemacht werden, wenn Sie es nur wollen.“ 

Sie trat einen Schritt zurück. 

„Wollen Sie mir drohen, Skram?“ 

„Nein,“ ſagte er, „drohen nicht, aber Gewißheit 
will ich haben. Ich bezichtige Sie nicht, Viffert er⸗ 
mordet zu haben, weil ich jetzt weiß, daß dieſer Mann 


— 149 — 


an einem Herzſchlag geſtorben iſt. Aber ich weiß auch, 
daß Sie, Gräfin, heute nacht an ſeinem Bett geſtanden 
haben, und ich frage Sie bloß das eine: Wußten Sie 
da, daß dieſer Mann tot war?“ 

Skram konnte ihr Geſicht nicht ſehen, aber die 
Umriſſe ihrer Erſcheinung waren — wenn auch nur 
undeutlich — erkennbar, und er ſah, daß ſie bebte. 

Dann ſagte ſie mit heiſerer Stimme: „Wollen Sie 
mich etwa der gaffenden Pöbelmenge ausliefern?“ 

„Nein,“ verſetzte Skram, „ich habe Ihnen geſagt, 
was ich will. Ich will Ihr Geſtändnis.“ 

Sie machte einen Schritt zur Tür, doch Skram 
ergriff ſie beim Handgelenk. 

„Ich weiche nicht von Ihnen, Gräfin. Sie ſind 
in meiner Gewalt.“ 

„So —! Alſo an ſich gelockt haben Sie mich — 
in einen ganz erbärmlichen Hinterhalt gelockt!“ 

Sie ſuchte ihre Hand freizumachen. 

Skram ſprach kurz und beſtimmt. 

„Sie haben die Wahl, Euer Gnaden. Entweder 
reden Sie mit mir wie mit einem Freunde, oder ich 
klingle und rufe mein Perſonal herbei; dann iſt die 
Brücke hinter uns abgebrochen, das Verhör beginnt 
und niemand kann den Verlauf der Dinge mehr auf⸗ 
halten.“ 

„Wollen Sie meine Hand loslaſſen?“ 

Skram tat es. 5 

„Warum fagten Sie das nicht früher — bevor 
Sigismund kam?“ 

„Weil ich Ihnen eine Chance laſſen wollte. Ich 
gebe jedem, mit dem ich kämpfe, eine faire Chance. 
Hätten Sie ſich ihm gegenüber ausgeſprochen und wäre 
er derjenige, für den Sie ihn hielten, dann hätte er 
Sie in Sicherheit gebracht und einen Vorſprung er⸗ 
zielt, den ich jetzt nur ſchwer würde einholen können — 
jedenfalls nicht, ohne einen gefährlichen Schritt zu tun, 
der mich große Anſtrengung koſten würde. Ich traf 
Sie aber hier allein und es wurde mir klar, daß Sie 


— 150 — 


entweder nicht zu ihm geredet hatten, oder daß er 
nicht derjenige iſt, für den Sie ihn hielten. Was ge⸗ 
ſchehen iſt, bleibt ſich gleich. Ich nehme an, daß es 
vorbei iſt.“ 

Sie beugte den Kopf. „Sie haben recht. Ich redete 
nicht, ich brachte es nicht übers Herz; er iſt ja nur ein 
Kind. Ich habe mich nicht an ihm, ſondern an mir 
ſelber geirrt. Es iſt vorbei, wie Sie ſagen, ganz vor⸗ 
bei. Und nun bitte ich Sie, laſſen Sie mich gehen.“ 

„Euer Gnaden,“ ſagte Skram. „Sie haben Ihr 
Leben heute ſchon einmal aufs Spiel geſetzt, und da 
waren Sie ſo wenig rückſichtsvoll, auch mit dem mei⸗ 
nigen nicht zu rechnen. Laſſen Sie's bei dem einen 
Mal genug ſein. Sprechen Sie ſich aus, ſagen Sie 
mir alles. Ich bin kein Kind; Sie ſelbſt haben mir 
die Ehre erwieſen, mich einen Mann zu nennen. Gut, 
ich bin ein Mann, und ich kann Sie, wenn Sie wollen 
von dieſem ganzen Handel los und ledig machen.“ 

„Was wollen Sie wiſſen?“ fragte ſie heiſer. 

„Das habe ich Ihnen ſchon geſagt. Ich weiß, daß 
Helmut Viffert an einem Herzſchlag geſtorben iſt, aber 
ich weiß auch, daß ein andrer ſeinen Hals mit einem 
Barbiermeſſer durchſchnitten hat. Dieſer andre ſind 
Sie. Und ich frage Sie nun bloß, ob Sie mit der 
Abſicht zu ihm gekommen ſind, ihm das Leben zu 
nehmen.“ 

„Nein, nein, nein!“ ſagte ſie. 

„Gut, Sie kamen alſo nicht mit dieſer Abſicht. 
Aber als Sie in ſein Schlafzimmer traten, ſahen Sie 
ihn im Bett liegen, als ob er ſchlafe. Das Meſſer 
hielt er in ſeiner rechten Hand.“ j 

„Ja,“ flüſterte fie kaum hörbar. 

„Und Sie traten an das Bett in dem Glauben, 
daß er Hand an ſich gelegt habe. Sie mußten hin⸗ 
treten, nicht wahr? Sie konnten das Zimmer nicht 
Wee ohne ſich vergewiſſert zu haben, daß er tot 
war?“ 

„Er hatte mir ja geſagt, daß er ſterben wolle,“ ſagte 


— 151 — 


ſie langſam. Es war, als ob ſie unter Skrams Worten 
zum Bewußtſein gelange. 

„Sie beugten ſich über ihn und ſahen, daß er tot 
war 

„Ja, und da kam es, daß ich, ohne mir darüber 
klar zu ſein, was ich tat, das Meſſer nahm und zu⸗ 
ſchnitt. Ich wollte, er ſolle von dem Tod betroffen 
zu ſein ſcheinen, mit dem er gedroht hatte. Ich haßte 
den Mann, Skram, ich haßte ihn noch im Tod.“ 

Skram ergriff ihre Hand. „Das Verhör iſt zu 
Ende, Euer Gnaden. Ich ſage Ihnen bei meiner Ehre, 
keine Behörde der Welt hat das Recht, Sie mit einem 
Wort über das Geſchehene zur Verantwortung zu 
ziehen. Und keine Seele — mit Ausnahme des Dok⸗ 
tors — ſoll etwas darüber erfahren. Das Verhör iſt 
beendet, und die Sache damit auch. Sie ſind frei 
Euer Gnaden, verſtehen Sie, frei, und haben nichts 
mehr zu fürchten.“ 

Sie zögerte. 

„Aber wünſchen Sie, noch mehr zu ſagen, ſo bin 
ich bereit, alles anzuzuhören, was Sie zu ſagen haben. 
Ich ſelbſt glaube, daß Sie ſich nun leicht werden aus⸗ 
ſprechen können.“ 

Sie nickte bloß. 

„Es iſt unten kühler,“ ſagte er — und ſie ſchritten 
über den kiesbelegten Weg des Gartens zu den grünen, 
über das ſtille Waſſer hängenden Weiden hinab. Der 
Nachtwind ſauſte in ihren Alten und kräuſelte die 
Fläche des Grabens, der im Dunkel tiefgrün erſchien 
und mit ſeinen kleinen Wellen ſchluchzend gegen die 
Landungsbrücke und den Steinbelag der Raſenein⸗ 
faſſung ſchlug. 

Sie redete zuerſt. 

„Er hat wohl viel Häßliches über mich geſchrieben?“ 
fragte ſie. 

„Nein,“ ſagte Skram, „er hat viel Häßliches über 
ſich ſelbſt geſchrieben, ſo viel, daß ich zu der Annahme 
neigte, Sie hätten den Entſchluß gefaßt, ihn aus der 


— 12 — 


Welt zu ſchaffen, um den Mund zu ſchließen, der Sie 
jahrelang verhöhnt und verletzt hatte.“ 

„Mir,“ ſagte ſie, „erzählte er heute nacht, daß er 
ſterben wolle, aber, ſo fügte er hinzu, noch im Tode 
werde er bei mir bleiben, und Sigismund ſolle alles 
erfahren. Darum ſuchte ich ihn nochmals auf. Nicht, 
um ihn zu töten. Ich hätte meine Hand nicht gegen 
ihn erheben können. Ich war in ſeiner Gewalt und 
wollte frei ſein. Aber er ſollte mir ſelbſt die Freiheit 
ſchenken. Doch es kam ganz anders. Ich glaubte heute 
morgen, daß nun alles vorbei ſei, denn ich ahnte ja 
nicht, daß Sie mich verfolgen würden. Ich glaubte, 
Sie ſeien mein Freund, Skram.“ 

„Das bin ich auch,“ verſetzte Skram ernſt. „Ich 
habe Ihnen meine Freundſchaft in höherem Maße 
bezeugt, als Ihnen vielleicht klar geworden iſt. Und 
doch hätte ich Sie, wenn Sie den Mord begangen 
hätten, in die Hand der Obrigkeit geben müſſen. So 
aber habe ich meine Pflicht nicht verletzt.“ 

Sie lächelte trübe. „Und das waren Sie, Skram, 
der einſtmals mich zu lieben glaubte?“ 

„Gräfin Polly,“ ſagte Skram, „Sie haben mir 
heute abend Ihr Vertrauen geſchenkt. Wenn Sie es 
mir auch fernerhin zuwenden, ſo werden Sie vielleicht 
noch einmal erfahren, was Liebe iſt.“ 

Sie ſah ihn an und ergriff ſeine Hand. 

„Heute beſiegeln wir alſo bloß unſre Freundſchaft!“ 

Skram redete mit leiſer, aber feſter Stimme, wie 
er zu tun pflegte, wenn er ſeinen Worten Nachdruck 
verleihen wollte. 

„Und als Sigismund Sie verließ, begriff er da, 
daß es vorbei für ihn iſt?“ 

„Ja,“ ſagte ſie. 

„Aber wie konnten Sie Ihren Gefühlen für ihn 
ein ſolches Gewicht beilegen, daß Sie bereit waren, 
mit allem zu brechen, um aufs neue zu leben, wie 
Sie es nannten? Und wie konnten Sie in mir eine 
ſolche Überzeugung von der Tiefe Ihres Gefühls wach⸗ 


— 153 — 


rufen, daß ich zu glauben vermochte, Sie könnten aus 
reiner Liebe zu dem jungen Manne — — einen Mord 
begehen? Denn daß ich das glaubte, wiſſen Sie ja.“ 

„Es war der Selbſterhaltungstrieb, der Kampf ums 
Glück, ums Leben. Ich war in Helmuts Gewalt. Er 
ſagte, er liebe mich, aber ſeine Liebe zu mir war nur 
ein Teil ſeiner Liebe zu ſich ſelbſt, der einzigen wah⸗ 
ren Liebe, die er zu empfinden vermag. Ich habe 
früher verſucht, mich von ſeiner Gewalt freizumachen; 
doch er ſtellte ſich gegen mich, und ich fiel ihm zu 
Füßen, um es aufs neue zu verſuchen und — um mich 
wieder bezwingen zu laſſen. Ich war ſein Sklave und 
konnte ſeine Macht nicht brechen. Ich richtete alle meine 
Gedanken auf Sigismund Viffert, um mit ſeiner Hilfe, 
ohne daß er etwas ahnte, der Knechtſchaft, die mich 
gefangen hielt, zu entrinnen. Ich fühlte, daß das nur 
durch Liebe geſchehen könnte. Ich erdichtete mir 
Sigismund größer als er war, ebenſo wie ich meine 
Liebe zu ihm größer erdichtete, als ſie war. Und als 
Helmut das ſah und mir den Weg zu verſperren ſuchte, 
da bat ich, daß er ſterben möge, und ich frohlockte, als 
er mir ſagte, daß er ſterben wolle. Doch als ich ein⸗ 
ſah, daß er mich ſelbſt übers Grab hinaus noch ver⸗ 
folgen wolle, da wurde ich von Entſetzen erfaßt. Und 
dann geſchah alles, wie Sie es herausgebracht haben, 
ohne daß ich zu ſagen wüßte, wie.“ 

„Ich aber verſtehe alles,“ ſagte Skram. „Bloß das 
eine iſt mir nicht klar, inwiefern Sie der tote Mann 
ſollte verfolgen können. Wodurch ſollte der Ihnen 
ſchaden? Er konnte den jungen Viffert wiſſen laſſen, 
was zwiſchen Ihnen und ihm vorgefallen war, aber 
Sie konnten ja ſelbſt ſeinem Wort den Stachel nehmen. 
Sigismund weiß, daß Sie des Grafen Gattin ſind, 
und wenn er Sie liebte, müßte er Ihnen auch ver⸗ 
geben können, daß Sie — die Geliebte ſeines Onkels 
geweſen ſind.“ 

„Das eben ſollte er nicht erfahren. Noch heute 
abend war alle meine Hoffnung auf ihn gerichtet, 


— 154 — 


und ich weiß, hätte er es erfahren, dann würde ich ihn 
verloren haben.“ 

„Und nun — heute abend — baten Sie ihn ſelbſt 
zu gehen?“ 

„Es iſt heute viel geſchehen, Skram,“ ſagte ſie. — 
„Und ich habe den Mann kennen gelernt, der mich 
ſchützen kann. Auch gegen mich ſelbſt.“ 

„So überantworte ich Vifferts Brief dem Feuer 
und laſſe jede Erinnerung an ihn in Vergeſſenheit 
ſinken,“ ſagte Skram. 

Sie reichte ihm die Hand, indem ſie ſich erhob — 
und dann ſchieden ſie. Skram aber ſtand noch geraume 
Zeit an der Brücke und ſah dem Boot nach, das über 
das dunkelgrüne Waſſer glitt, dem Schloß mit ſeinen 
ſtarken Mauern zu. 

Die ſtanden jetzt nicht mehr trennend zwiſchen ihm 
und ihr! 


Schluß, 


„So iſt denn die Sache abgetan, Doktor,“ ſagte 
Skram, „und damit iſt dieſer Tag gut eingeleitet; es 
bleibt übrigens noch ein gut Teil zu tun übrig, und 
als Teſtamentsvollſtrecker haben wir auch noch einiges 
zu leiſten.“ a 

Es war nun Morgen, und der Kreisarzt ſaß in 
der Gartenſtube des Richters an dem großen grün⸗ 
bezogenen Tiſch, den Skram als Arbeitstiſch benutzte. 

Der Kreisarzt war ernſt geſtimmt; es hatte ihn 
doch einige Überwindung gekoſtet, hier von Grund⸗ 
ſätzen, die ihm über jeden Zweifel erhaben erſchienen, 
abzuweichen. Doch Skram unterſtützte ſeinen Entſchluß 
mit guter Begründung. Viffert war ja nicht ermordet 
worden, ſondern an einem Herzſchlag geſtorben, und 
die Gräfin hatte Skram eingeſtanden, in einer Art 
plötzlichen Wahnſinns einer unwiderſtehlichen Eingebung 
gefolgt zu ſein. 

Der Kreisarzt brummte zwar: „Hätte ſich dieſes 
Drama oben beim verſoffenen Böttcher an der Ecke 
abgeſpielt, dann ſäßen die Leute jetzt alle Mann hoch 
hinter Schloß und Riegel und warteten auf ihre Ver⸗ 
urteilung.“ 

„Doktor,“ ſagte Skram, „merken Sie auf dies Wort: 
ich will Gleichheit für alle, aber ich will nicht, daß 
man dieſe Gleichheit dadurch zuwege bringt, daß man 
an denen unrecht handelt, gegen die man gegenwärtig, 
weil ſie hoch in der Geſellſchaft ſtehen, kein Unrecht 
verübt. Die wahre Gerechtigkeit beſteht darin, daß 
man gegen die Kleinen ebenſo gerecht iſt wie gegen 
die Großen, und nicht etwa, daß man gegen die Großen 
ebenſo ungerecht iſt wie gegen die Kleinen. Mag der 


— 156 — 


Himmel geben, daß dieſe leicht verſtändlichen Prin⸗ 
zipien allen — ſowohl den Kleinen als auch den Großen 
— einleuchten. Ich bin gerecht geweſen. Ich habe 
nichts andres tun können, als was ich getan habe.“ 

Der Doktor lächelte. „Sie haben ja gar nichts 
getan, Skram!“ 

„Eben, lieber Doktor, und das iſt in neun von zehn 
Fällen gerade das, was ein Richter tun ſoll. Aber 
das werden die guten Leute gewiß erſt ſehr ſpät be⸗ 
greifen. Ich habe Zoll für Zoll die Sache zu ver⸗ 
ſtehen geſucht, und ich habe ſie verſtanden. Wenn man 
dagegen, wie die meiſten es tun, bei einer falſchen 
Vermutung ſtehen bleibt, ſo iſt damit freilich nicht 
geſagt, daß man nicht dennoch zur richtigen gelangen 
könne, aber man erreicht ſie nur auf einem weiten 
Umweg, und während deſſen wird über viele Unglück 
und Elend gebracht. Und daß ich das nicht getan, 
erfüllt mich mit dem Bewußtſein, daß ich recht habe. 
Sie ſollten bloß ahnen, wie viele wahnwitzige Fehl⸗ 
ſchlüſſe geſtern mein Gehirn durchkreuzt haben. Die 
richtige Vermutung kam erſt, als ich einen Blick in des 
toten Mannes Herz und — in mein eigenes geworfen 
hatte. Schließlich war mein Fehler der, daß ich glaubte, 
ein Weib könne einen Mann ermorden, der ſich zwiſchen 
ſie und den von ihr Geliebten ſtellt. Ein Weib kann 
aus dieſem Grunde wohl ein andres Weib umbringen 
— doch ſchwerlich einen Mann. Es war eine Vermutung 
ohne rechte pſychologiſche Grundlage, und davor müſſen 
wir uns in acht nehmen, Doktor. Im Grunde ge⸗ 
nommen, gibt es nur ein Moment, das nicht ganz 
aufgeklärt iſt, nämlich, wie es möglich ſein ſoll, daß 
ſie das Meſſer aus des Toten Hand genommen und 
ihm die Schneide auf die Kehle geſetzt hat. Sie ſelbſt 
ſagt, daß ein unwiderſtehlicher Drang ſie dazu getrieben 
habe, es muß alſo eine Art Wahnſinn geweſen ſein, 
und dergleichen iſt ja natürlich denkbar, aber ein der⸗ 
artiger Ausbruch von Wahnſinn bei geiſtig ganz ge⸗ 
ſunden Perſonen kann doch kaum auf Verſtändnis 


— 157 — 


rechnen. Wahr iſt es indeſſen, daran hege ich keinen 
Zweifel. Aber es bedarf hier nicht allein der ob⸗ 
jektiven Wahrheit, ſondern auch einer plauſiblen Be⸗ 
gründung. Und hier, glaube ich, ſollte der Arzt ein 
Wort mitreden können.“ 

„Ich finde es auch gar nicht ſo ſchwer verſtändlich,“ 
ſagte der Doktor. „Gehen wir davon aus, daß eine 
ſeeliſche Abſpannung vorlag, daß ſie alles auf eine 
Karte ſetzte, alle Geiſteskräfte auf ein Ziel gerichtet 
hielt, und fügen wir dann zu dieſer Sammlung aller 
Kräfte die plötzliche Erſchlaffung, die über ſie kam, 
als ſie bemerkte, daß ſie gegen nichts mehr zu kämpfen 
hatte, ſo erſcheint es mir durchaus nicht ſo ſchwer, die 
Ideenverbindung zu verſtehen. Viffert hat mit dem 
Meſſer in der Hand ausgeſtreckt im Bett gelegen; alle 
ihre Gedanken waren auf dieſen Selbſtmord gerichtet, 
und die Luſt, ſeinen Selbſtmord vorzutäuſchen, iſt ihr 
zum Zwangsgedanken geworden. Sie hat ſich ſchon 
immer mit dem Gedanken beſchäftigt, daß dieſer Mann 
von eigener Hand ſterben müſſe. Der Zwangsgedanke 
wurde geboren, und die Hemmung, die ſeiner Aus⸗ 
führung entgegenwirkte, wurde dadurch abgeſchwächt, 
daß die kräftigſte Gegenvorſtellung: Du ſollſt nicht töten, 
nicht eintrat. Die Gräfin folgte alſo willenlos dem 
Zwange und griff nach dem Meſſer, deſſen Schärfe 
ſie als Frau nicht kannte und nicht beurteilen konnte. 
Der Schnitt wurde ſomit tiefer als ſie gedacht hatte; 
es floß Blut — ſie hielt inne und wurde wieder Herr 
über ſich. Das Übrige erklärt ſich aus dem Selbſt⸗ 
erhaltungstrieb. Ich darf ſagen, daß ich recht wohl 
verſtehe und es auch nicht für allzu ſchwer halte, 
andre zum Verſtändnis zu bringen. Einem Arzt 
gegenüber wird Ihnen das jedenfalls mit Leichtigkeit 
gelingen. — Aber Sie haben recht, es iſt am beſten, 
dieſe Sache fallen zu laſſen, wie Sie vorſchlugen.“ 

„Das meine ich auch,“ ſagte Skram. „Alſo iſt 
die Sache nunmehr tatſächlich abgetan. Wir haben 
jetzt bloß noch als Vollſtrecker des Teſtaments zu handeln. 


— 158 


Das wird nicht weiter ſchwer ſein, da nur eine Erbin 
vorhanden iſt — die Gräfin Polly. Das Allgemein⸗ 
wohl iſt ſomit um ſein Erbteil gebracht, und auch 
Leonie und ihr praktiſcher Geliebter müſſen ſich mit 
den Zehntauſend begnügen. Sie dagegen, lieber Dok⸗ 
tor, erhalten das ganze Exekutorhonorar, das Sie in 
den Stand ſetzen wird, umfaſſende ſoziologiſche Studien 
zu treiben.“ 

„Wollen Sie denn gratis fungieren?“ fragte der 
Doktor erſtaunt. „Und warum, wenn ich fragen darf?“ 

Skram lachte. 

„Nein, lieber Doktor, vielmehr wünſche ich gar nicht, 
die Erbmaſſe des Kammerjunkers zu bearbeiten.“ 

„Warum nicht?“ fragte der Doktor erſtaunt. 

„Weil die Zeit es vielleicht mit ſich bringen wird, 
daß ich die Gräfin noch lehre, was es heißt: zu leben!“ — 


Ende. 


Empfehlenswerte Werke 
aus dem Verlage von 


J. Engel horn in Stuttgart. 


Die Elektrizität 
und ihre Anwendungen. 
don Wr. E. Graetz, 


Profeflor an der Univerfität Muͤnchen. 


Mit 627 Abbildungen. 
— 15. Auflage (57. bis 66. Cauſend ö). 


Preis elegant gebunden 9 Mark. 


an 


Prof. Dr. Rübler⸗ Dresden 
ſchreibt über das Buch in Berg: u. uͤttenmaͤnn. tg. 1902, Ur. 23: 
enn mich jemand fragte, welches Buch ich ihm 
7 für müheloſe, d. h. leichtverftändliche Einführung 
in das weite Gebiet der phyſikaliſchen Grundlagen der 
Elektrotechnik, das iſt der Anwendungen der Elektrizität, 
empfehlen könnte, fo würde ich, ohne mich einen Augen- 
blick zu beſinnen, aus vollſter Überzeugung ſagen: 
Den Graetz. 
Es gibt nur ‚einen Graetz“, es gibt auf dem 
Gebiete nichts Beſſeres und es dürfte auch nicht ganz 
leicht fein, etwas Beſſeres zu ſchaffen“ 


* * . Praktiſches Sausbuch. wa 


Nuͤtzliches Seſtgeſchenk für Frauen und Mädchen. 


Das Hausweſen 


nach ſeinem ganzen Umfange dar⸗ 
geſtellt in Briefen an eine Sreundin 


mit Beigabe eines vollſtändigen Rochbuches 


von 


Marie Suſanne Kübler. 


Suͤnfzehnte, weſentlich vermehrte und verbeſſerte Auflage, 
bearbeitet von Pauline Klaiber. 


Mit zahlreichen Abbildungen. 
= Preis in Leinwand gebunden M. 5.50. 


Johannes Scherr ſagt von dieſem Buche in der 
„Gartenlaube“: „Tauſenden und wieder Tauſenden 
von jungen Mädchen, jungen Frauen und jungen 
Müttern iſt die Derfafferin dadurch eine Lehrerin und 
Führerin, geradezu eine Wohltäterin geworden, und 
gar mancher junge Ehemann hatte, ohne es zu wiſſen, 
vollauf Urſache, der Marie Suſanne Kübler‘ dank⸗ 
bar zu ſein.“ 


Kein anderes werk bietet einen ſo 
reichen Inhalt zu ſo billigem Preis. 


Sedsundzwanzigiter Jahrgang. 


Der rote Kurs. Von Georges Ohnet. 
Aus dem Franzöſiſchen. 2 Bände. 

Mit dieſem Roman, einem Beitroman in des 
Wortes vollſter Bedeutung, bat der Altmeiſter 
Obnet wieder einmal einen großen Wurf getan. 
Heiß und ſtark pulſiert das Blut in dieſer neueſten 
Schöpfung des allbeliebten Erzählers, der uns in 
das modernſte Frankreich führt, wo die ſozialen 
Gegenfäge beute mit elementarer Gewalt aufein⸗ 
ander platzen. Haß und Liebe b in der dra⸗ 
matiſch bewegten Geſchichte ihr buntſchillerndes 
Spiel, und mit atemloſer Spannung folgt der 
Leſer den dramatiſchen Vorgängen eines Romans, 
in dem der Verfaſſer feinen Landsleuten einen 
Spiegel rorbält und das politiſche Strebertum 
ſchonungslos geißelt. 

Der alte Timm und ſeine Nachbarn. 
Von Marie Diers. 

Das Gemeinſame dieſer trefflichen Novellen 
iſt, daß aus der Gebundenbeit dörflicher Vorurteile 
und Verbältniſſe die Lebenskraft in irgend einer 
Form nach Befreiung ringt. Jede der drei Ge⸗ 
ſchichten iſt in ibrer Art ein Kabinettſtück poetiſcher 


Geſtaltungskraft. 
Hugo. Von Arnold Bennett. Aus 


dem Engliſchen. \ 

Das „Athenäum“ ſchreibt: Diefe in einem 
rieſigen Warenbauspalaſt ſpielende Geſchichte iſt 
fo voll von ſpannenden und abenteuerlichen Vor- 
gängen wie ein Weibnachtspudding von Roſinen 
oder eine Protzenvilla von Verzierungen. 


Armer Henner .. Von Richard Skow⸗ 
ronnek. 2 Bände. 

rei von jeder einſeitigen Tendenz ſchildert 
der Roman das zus eines begabten jungen 
Offiziers, der an einer beißen Leidenſchaft innerlich 
zu Grunde gebt. Hinreißende . eng; ein 
dringliche Charakteriſtik der get und Neben⸗ 
rerſonen und lebenswabre Schilderung des Zu⸗ 
ſtändlichen bilden die Vorzüge dieſes Skowron⸗ 
netfchen Werkes. > 


Der unreine Geift. Von Semene Zem— 
lak. Aus dem Franzöſiſchen. 

Ein durch und durch origineller Roman, der 
am Faden einer reichbewegten erſchütternden Hand⸗ 
ung Hefe Einblicke in die ruſſiſche Volksſeele ge⸗ 
währt. 


Naturgewalten. Von Helene Raff. 
In die Hochalpen und ihre Vorberge hinein ver⸗ 
fest uns dieſer Geſchichtenkand. Anſchaulich wer⸗ 
en uns die äußeren und inneren Mächte geſchildert, 
die das Ge chick der handelnden Perſonen beſtim⸗ 
men — die Naturmächte, die alt und ewig ſind wie 
Geburt und Tod. in Hauch freier Lite webt 
aus dieſem trefflichen Buche, der auf des Leſers 
Gefühl und Sinn erfriſchend wirft. 


Die jüngſte Miß Mowbray. Von B. M. 


Croker. Aus dem Engliſchen. 2 Bände. 
Auch in dieſem Roman finden ſich alle die 
Vorzüge vereinigt, denen die Verfaſſerin ihre große, 


er 


noch immer wachſende Beliebtheit verdankt. Sie 

e darin aufs anmutigſte die rührenden 
chickſale eines unterdrückten Mädchens, denen 

der Leſer mit ſteigender Teilnahme folgt. 

Liebe Mädchen. Drei Novellen von Kaͤthe 
Sturmfels. 

Die durch ihre aufrüttelnden ©: t n 
die „ 0 lo a merken 
befannt gewordene Verfasse in zeigt fü 
Novellen „Liebe Mädchen“ als Darftell 
Harer Frauengeſtalten, die ſich in geſellſchaftlich 
exponierten Stellungen, wie ſie das moderne Leben 
ſchafft, mit dem ſicheren Takt und der Unverletz⸗ 
lichleit echter Weiblichkeit zurechtzufinden wiſſen. 
Meeresgold. Von George Bronſon⸗ 

Howard. Aus dem Enßliſchen. 

Dieſe phantaſievolle Abenteuergeſchichte erhebt 
keinen andern Anſpruch, als den Leſer durch flott 
erzählte ſpannende Vorgänge zu feſſeln und zu 
unterhalten. Das gelingt ihr aber auch aufs beſte. 
Eva, wo biſt du? Von Sedor von 

Zobeltitz. 2 Bände. 

Der mit prachtvollem Humor erzählte Roman 
einer jungen Studentin; — lebenſprühend, voll 
ſeinſter Pſychologie und ſtarkem Spannungsreiz. 
Was ſich in dem Gaſthaus begab. Von 

Kate Douglas Wiggin u. a. Aus 

dem Engliſchen. 

Eine ganz allerliebfte Geſchichte voll Geiſt und 
Humor. Der Verſuch, jeden der vorkommenden 
Charaktere einem andern Autor zuzuweiſen, iſt 
geradezu glänzend gelungen. 

Das goldene Schiff. Von Paul Oskar 


Hocker. 

Der heiße Atem des modernen Sportfiebers 
geht durch dieſen ſpannenden, figurenreichen Ro- 
man, der Höckers volle Meiſterſchaft ü, das 
nee Geſell N und eine eindring⸗ 
liche pſychologiſche Kunſt verrät. 

Daphne. Die Geſchichte einer modernen 
Ehe. Von Mrs. Zumphry Ward. 
Aus dem Engliſchen. 2 Bände. 

Dieſem geift- und lebenfprübenden Roman 
der berühmten Verſaſſerin von „Robert Elsmere“ 
liegt das Ebeſcheidungsproblem zu Grunde, das 
die Engländer und Amerikaner gegenwärtig ſo 
ſebr in Atem hält. In einer Keibe von bunten 
Bildern aus dem Geſellſchaſtsleben vermittelt uns 
das intereſſante, ſeſſelnde Buch tiefe Einblicke in 
die angelſächſiſche Kulturwelt. 

Gräfin Polly. Von Palle Roſenkrantz. 
Aus dem Däniſchen. 

Man würde dieſen Roman des auch als Drama: 
tiker rühmlich bekannten Verfaſſers unterſchätzen, 
wenn man ihn nur nach der ſpannenden Handlung 
beurteilen wollte. Roſenkrantz verſteht es meifter- 
baft, uns die handelnden Perſonen, die offenbar 
nach dem Modell Kanaan ſind, durch ſeine her⸗ 
e Darſtellungskunſt menſchlich näher zu 
ringen. 


in den 
in feiner, 


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