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Full text of "Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere"

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PFLÜGER® ARCHIV 


FÜR DIE GESAMTE 


PHYSIOLOGIE 


DES MENSCHEN UND DER TIERE 


HERAUSGEGEBEN 
VON 
E. ABDERHALDEN A. BETHE R. HÖBER 
HALLE A. 8. FRANKFURT A. M. KIEL 
190. BAND 


MIT 86 TEXTABBILDUNGEN 


BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1921 


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‚Druck der Spamerse 


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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 
Rosemann, R. Beiträge zur Physiologie der Verdauung. VIII. Mitteilung. 
Die Bedeutung der Chlorverarmung des ann für .die Magensaft- 
sekretion  . . 1 
Kauffmann, Friedrich und Wilhelm Steinhausen. Über die Abhängigkeit 
der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. (Mit 7 Textabbildungen) . 12 
de Boer, S. Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus . . . 41 
Vorschütz, Joseph. Ruhestrom und Durchlässigkeit. II. Mitteilung. Unter- 
suchungen mit Alkaloidsalzen und einigen anderen organischen Elek- 
trolyten. (Mit 3 Textabbildungen) . . NER DA 
. Kries, 9. Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit 3 66 


Ser, Wilhelm. Über Atmung‘ in bewegter Luft. (Mit 2 Textabbildungen) 97 
Kreidl, A. und 8. Gatscher. Physiologisch-akustische Untersuchungen. 
II. Mitteilung. Uber das diotische a bei einem 


einseitigen Tauben (Acustieus-Tumor) . . "106 
Kolm, Riehard und Ernst P. Piek. Über inverse Herzwirkungen Dara- 
sympathischer Gifte. (Mit 6 Textabbildungen) . . 108 
Atzler, Edgar und Gunther Lehmann. Über den Einfluß. der Ware 
ionenkonzentration auf die Gefäße. (Mit 3 Textabbildungen) . . 118 
Riesser, Otto. Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kanin- 
chenmuskeln. (Mit 12 Textabbildungen) .. 17 
Kochmann, M. Wirkung des Cocains auf das Broschherz undl seine ce 
wöhnung an das Gift. (Mit 16 Textabbildungen) .. 158 


Handovsky, Hans. Quantitative Beiträge zur Frage des Zsenmeninlkems 
von Ionen und organischen Giften. I. Mitteilung. Mit 1 Textabbildung) 173 
Weigert, Fritz. Ein photochemisches. Modell der Retina. (Mit 3 Text- 


abbildungen) . . . lan 
Heesch, Karl. Umsersndhmmeen über die ee von . Zelllem, Zell- 
bestandteilen und Membranen. (Mit 1 Textabbildung) . . 198 


Basler, Adolph. Über die Blutbewegung in den Capillaren. II. Mitteilung 212 
Beziehungen zwischen Strömungsgeschwindiekeit und Druck. (Mit 
6 Textabbildungen) . 22 
Waechholder, Kurt. Haben die En mischen nontimlkanin]aremen len Ge 
fäße einen nachweisbaren Einfluß auf den Blutstrom? (Mit 3 Text- 


abbildungen) . a EG, 222 
Ebbecke, U. Die lokale llremsiseh Reale der autı (Mit 2 Textab- 

bildungen) . . 230 
Fleisch, Alfred. Die essenhoitilon en katzen lien als Regular der Alan. 

erobern. 270 


Le Heux, J. W. Cholin als ilomnen "der Demos, I. Mitteilung. 
Die Beteiligung des Cholins an der Wirkung verschiedener organi- 
scher Säuren auf den Darm. (Mit 19 Textabbildungen) . 280 
— Cholin als Hormon der Darmbewegung. IV. Mitteilung. Über dem Ein. 
fluß des Oholins auf die normale Magen-Darmbewegung. (Mit 2 Text- 


abbildungen) . . . 301 
Sehanz, Fritz. Die "physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibili- 
sation... u NE rel RS RER, ET | 
Autorenyerzeichnis EEE LA LE BEN SE ee EV ERS ZA 
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6 


Beiträge zur Physiologie der Verdauung. 


VIII. Mitteilung. 


Die Bedeutung der Chlorverarmung des Körpers für die Magensaft- 
sekretion. 


Von 
R. Rosemann. 


(Aus dem physiologischen Institut der westfälischen Wilhelms-Universität Münster.) 
(Eingegangen am 4. April 1921.) 


In Ba. 1, S. 354—366 des Tohoku Journal of experimental Medicine 
hat M. Takata eine Arbeit: ‚Relation of lack of chlorids in the animal 
body to hydrochlorie acid of the gastrie juice‘“ veröffentlicht, deren 
Ergebnisse in vollständigem Gegensatz zu denen der bisherigen Unter- 
sucher dieser Frage zu stehen scheinen. Bisher hatte sich überein- 
stimmend ergeben, daß bei Chlorverarmung des Körpers der Magensaft 
an Menge und Salzsäuregehalt deutlich abnimmt bis zu vollständiger 
Sistierung der Magensaftsekretion und Auftreten von Magenblutungen 
und daß unter deutlichen Störungen des Allgemeinbefindens der Appetit 
völlig verloren geht, so daß das Versuchstier schließlich jede Nahrung 
verweigert, auch wenn es sich in einem über mehrere Tage fortgesetzten 
Hungerzustande befindet. Ich hatte gefunden, daß diese Erscheinungen 
bereits auftreten, wenn ungefähr 20%, des ursprünglichen Chlorgehalts 
des Tieres dem Körper entzogen worden sind!). Takata kommt da- 
gegen zu dem Ergebnis, daß sogar nach einem Verlust von 26,4%, des 
anfänglichen Chlorgehalts des Körpers ein Magensaft von starker 
Acidität abgesondert werden kann und daß kein Grund vorliegt für die 
Annahme, daß Verarmung an Chloriden den Appetit herabsetzt. Die 
abweichenden Resultate der früheren Autoren führt Takata allgemein 
nicht auf die Chlorverarmung, sondern auf andere Momente zurück, 
ohne jedoch in eine nähere Erörterung dieser Versuche einzugehen. 
Um so mehr erscheint mir eine kritische Betrachtung des Takataschen 
Versuchs notwendig, um die Ursache dieser Widersprüche klarzu- 
legen. 


!) R. Rosemann, Beitr. z. Physiol. d. Verdauung. 3. Mitteil. Die Magen- 
saftsekretion bei Verminderung des Chlorvorrates des Körpers. Arch. f. d. ges. 
Physiol. 142, 208. 1911. (S. 233.) 


Pilügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 1 


2 R. Rosemann: 


Takata hat einen Hund von 18 kg Gewicht mit einem kleinen 
Magen nach Pawlow und einer Fistel der Parotis 60 Tage lang bei einer 
chlorarmen Nahrung gehalten. Die Chloraufnahme während des ganzen 
Versuchs betrug 2,27 g, die Chlorabgabe im Harn, dem Magensafte 
des kleinen Magens und dem an einem Tage Erbrochenen 7,58 g, so daß 
ein.Chlorverlust von 5,31 g vom Körper stattgefunden hat. Lest man 
den von mir gefundenen Wert für den Chlorgehalt des normalen Hunde- 
körpers von 0,112%, zugrunde!), so besaß der Hund am Anfang des 
Versuchs einen Chlorvorrat von 20,16 g, der Chlorverlust betrug also 
26,4%, des Anfangswertes. Takata schätzt den tatsächlichen Chlor- 
verlust sogar noch größer, auf ungefähr 30%, da der Chlorverlust durch 
den nach außen durch die Fistel abgesonderten Speichel, das zur Ana- 
lyse entzogene Blut und den Harn der ersten 3 Tage, der nicht unter- 
sucht wurde, hinzuzurechnen sein würde. Diese Überlegung ist, was den 
Chlorverlust im Harn während der ersten 3 Versuchstage anlangt, 
irrtümlich, denn Takata hat diesen Harn zwar nicht untersucht, 
aber doch das darin enthaltene Chlor bereits schätzungsweise in An- 
rechnung gebracht. Der Chlorverlust im Magensafte des kleinen Magens 
betrug an den ersten 3 Tagen nach der Tabelle Takatas 0,0818 — 
0,1363—0,1744 g, für den Gesamtchlorverlust dieser 3 Tage gibt er 
an 0,1303—0,1849—0,2230 g, also jedesmal pro Tag mehr 0,0485 — 
0,0486 g. Der Chlorverlust im Harn des 4. und 5. Tages betrug im 
Durchschnitt 0,0482 g, dieser Wert ist also offenbar schätzungsweise 
auch für die 3 ersten Tage tatsächlich bereits angerechnet worden. 
Es wären also zu dem Chlorverlust von 5,31 g im ganzen nur noch 
der Chlorgehalt des Speichels und des zur Analyse entnommenen Blutes 
hinzuzurechnen. Warum Takata den Chlorgehalt des Blutes, das ja 
doch untersucht worden ist, nicht mit seinem genauen Werte in Rech- 
nung setzt, ist nicht einzusehen; der Chlorverlust im Speichel bleibt 
leider unbekannt. Ob der für diese beiden Beträge von Takata ge- 
schätzte Chlorverlust von 1 g zutreffend ist, läßt sich danach nicht 
beurteilen. 

Die Ernährung des Hundes bestand während der ersten 15 Tage 
in mehrfach ausgekochtem Fleisch. Takata überzeugte sich jedoch 
— worauf ich bereits bei meiner Besprechung der Cahnschen Versuche 
hingewiesen hatte?) — davon, daß auf diese Weise nur eine ungenügende 
Verarmung des Fleisches an Chlor zu erzielen ist. Selbst nach 17 mal 
wiederholtem Auskochen des Fleisches mit Wasser sank der Chlorgehalt 
nur von 0,07 auf 0,012%,: außerdem nahm der Hund dieses ausgekochte 


ı) R. Rosemann, Beitr. z. Physiol. d. Verdauung. 2. Mitteil. Über den 
Gesamtchlorgehalt des tierischen Körpers. Arch. f. d. ges. Physiol. 135, 177. 1910. 
(S. 192.) 

2) R. Rosemann, Arch. f.-d. ges. Physiol. 142, 212. 1911. 


Beiträge zur Physiologie der Verdauung. VII. 3 


Fleisch nur mit immer mehr steigendem Widerwillen und verweigerte 
schließlich die Aufnahme überhaupt. Takata verwandte daher während 
der letzten 45 Tage seines Versuchs gehacktes Fleisch, das einfach bei 
Zimmertemperatur mit Wasser Y/;—1l Stunde geschüttelt worden war. 
Schon nach nur 3maligem Ausschütteln enthielt das Fleisch nur noch 
0,006—0,009% Cl; es wurde außerdem von dem Hunde bis zum 
Schluß des Versuchs mit gutem Appetit gefressen. Ich habe mich durch 
einen eigenen Versuch davon überzeugt, daß in der Tat auf diese Weise 
eine sehr weitgehende Entziehung des Chlors zu erreichen ist; ich teile 
meine Resultate hier kurz mit. 

1400 g gehacktes Rindfleisch wurden bei Zimmertemperatur mit 2800 ccm 
destillierten Wassers 3/, Stunde lang mit der Schüttelmaschine energisch geschüttelt; 
sie enthielten ursprünglich 0,0890% Cl = 1,2460 gim ganzen. Der abcolierte Ex- 
trakt betrug 2300 cem und enthielt 0,7188 Cl, in den 1853 g Rückstand (einmal 
extr. Fleisch) blieben also 0,5272 Cl = 0,0285%, (direkt bestimmt 0,0270%). Von 
diesem Rückstande wurden 1500 g mit 0,4275 g Cl ein zweites Mal mit 3000 ccm 
Wasser 1 Stunde lang ausgeschüttelt, der Extrakt (2800 ccm) enthielt. 0,2870 g Cl, 
also blieben in den 1643 g Rückstand (zweimal extr. Fleisch) 0,1405 g Cl = 0,0086%, 
(direkt bestimmt 0,0085). 1300 g des Rückstandes wurden schließlich ein drittes 
Mal mit 2600 cem Wasser 1 Stunde lang ausgeschüttelt; sie enthielten 0,1148 g Cl 
und gaben in den Extrakt (2180 ccm) noch 0,0684 g Cl, es blieben also im Rück- 
stande, der 1643 g betrug (dreimal extr. Fleisch) 0,0464 g Cl = 0,0028%, (direkt 
bestimmt 0,0031). Es ist also in diesem Versuch durch dreimaliges Ausschütteln 
bei Zimmertemperatur dem Fleisch das Chlor in der Tat bis auf Spuren entzogen 
worden. 

Zu der chlorarmen Ernährung fügte Takata als weiteres Hilfs- 
mittel der Chlorentziehung die Verabreichung von KNO,; an 15 Ver- 
suchstagen wurden dem Tiere je 3—6 & KNO, pro Tag verabfolgt, 
was jedesmal ein Steigen der Chlorausscheidung im Harne zur Folge 
hatte. Takata betont besonders, daß seine Methode der Chlorentzie- 
hung im Gegensatze zu der von mir angewandten Scheinfütterung be- 
standen habe in ‚„‚diminishing chlorids by means of a fixed allowance 
‚of food and repeated administration of potassium nitrate“. Daß auch 
in seinem Versuche die Chlorentziehung durch den nach außen abgelei- 
teten Magensaft des kleinen Magens eine Rolle gespielt hat, erwähnt 
er an dieser Stelle gar nicht, scheint also darauf wenig Gewicht zu legen. 
Und doch zeigt ein Blick auf seine Resultate, daß auch bei ihm die 
erreichte Chlorentziehung sogar einzig und allein durch die Absonderung 
des Magensaftes erzielt worden ist Die gesamte Chlorzufuhr betrug 
in Takatas Versuch 2,27 g, die Chlorausscheidung im Harn (einschließ- 
lich der ersten 3 Tage und der Tage mit KNO,-Zufuhr) 2,16 g. Trotz 
der chlorarmen Ernährung und der Zufuhr von KNO, verlor das Tier 
also im Harn nicht einmal soviel Chlor als es in der Nahrung aufnahm. 
Dagegen betrug die Chlorausscheidung im.Magensaft des kleinen Magens 
im ganzen 4,95 g, dazu kommt noch die Chlorausscheidung in dem 


1% 


4 R. Rosemann: 


Erbrochenen mit 0,49 g, zusammen 5,44 gs; der gesamte Chlorverlust 
betrug 5,31 g, also ungefähr ebensoviel als eben mit dem Magensafte 
und dem Erbrochenen an Chlor nach außen entleert wurde. Hätte 
Takata sich auf die Chlorentziehung beschränkt, die allein durch die 
chlorarme Ernährung und die Verabreichung von KNO, zu erreichen 
war, so hätte er überhaupt keine Chlorverarmung bei seinem Tiere er- 
zielt, die tatsächlich beobachtete Chlorentziehung ist einzig und allein 
durch die Entleerung des Magensaftes und des Erbrochenen nach außen 
bewirkt worden. Der Versuch Takatas bestätigt also nur die von mir 
in meiner früheren Arbeit!) bereits betonte Tatsache, daß bei einer 
noch so chlorarmen Nahrung eine irgendwie in Betracht kommende 
Chlorentziehung vom Körper nicht zu erreichen ist, daß das einzige uns 
hierfür zur Verfügung stehende wirklich brauchbare Mittel die Ent- 
leerung des Magensaftes nach außen ist. Der einzige Unterschied in der 
Versuchsanordnung bei Takata und in meinen Versuchen ist also der, 
daß ich die Chlörentziehung durch die Scheinfütterung in ein bis zwei 
Versuchen erreicht habe, während sie sich bei Takata infolge der ge- 
ringeren Absonderung des kleinen Magens auf sehr viel längere Zeit 
erstreckte. Ob das ein Vorteil für die Beurteilung des Takataschen 
Versuchs ist, wird sich weiter unten zeigen. 

Der tatsächlich erreichte Chlorverlust vom Körper des Tieres er- 
gibt sich aus einem Vergleich der Chlorzufuhr und der Chlorausscheidung. 
Voraussetzung für die Richtigkeit des Resultats ist daher selbstverständ- 
lich, daß die Chlorbestimmung in den Einnahmen und Ausgaben so 
genau wie immer möglich ausgeführt ist. Ich habe mich davon über- 
zeugt und in meiner früheren Arbeit?) die Belege dafür angeführt, wie 
außerordentlich schwer es ist, bei der Chlorbestimmung in organischem 
Material wie Fleisch Chlorverluste zu vermeiden; ich fand, daß nur bei 
Zusatz von Soda und sehr vorsichtigem Arbeiten, vor allem bei Ver- 
meidung hoher Temperaturen bei der Veraschung, sich größere Fehler 
vermeiden lassen. Takata hat leider über die von ihm bei der Chlor- 
bestimmung verwandte Methode nur ganz unzureichende Angaben 
gemacht. Er sagt einfach: ‚‚The estimation of chlorine was made by 
the Volhards method, after ineineration with a mixture of soda and 
lime (4 :1).“ Ich nehme an, daß unter der Bezeichnung ‚‚soda and 
lime“ das zu verstehen ist, was wir im Deutschen mit Natronkalk 
bezeichnen. Ob sich die Angabe 4:1 auf das Mischungsverhältnis 
des Natrons und des Kalks oder auf das Mischungsverhältnis der ana- 
lysierten organischen Substanz und des Natronkalks bezieht, bleibt 
mir unklar. Ich habe zu meiner Orientierung über die nach dieser Me- 
thode zu erreichende Genauigkeit einen Versuch gemacht, bei dem 


!) R. Rosemann, Arch. f. d. ges. Physiol. 142, 231. 1911. 
?) R. Rosemann, Arch. f. d. ges. Physiol. 135, 181. 1910. 


Beiträge zur Physiologie der Verdauung. VII. 5 


100 g des frischen Fleisches, das auch zu den oben erwähnten Aus- 
schüttelungsversuchen benutzt wurde, mit 10 g Natronkalk verascht 
und auf Chlor analysiert wurde; ich fand 0,0853 statt 0,0890%, also 
einen kleinen, wenn auch nicht besonders in Betracht kommenden 
Verlust. Ich muß aber hervorheben, daß ich bei diesem Versuche alle 
Vorsichtsmaßregeln angewandt habe, wie ich sie in meiner früheren 
Arbeit angeführt habe: Verkohlung der Substanz bei niedriger Tem- 
peratur, Extrahierung der Kohle und getrennte Veraschung des Ex- 
trakts und des Rückstandes bei Vermeidung jeder stärkeren Erhitzung. 
Von alledem sagt Takata nichts. Müßte man danach etwa annehmen, 
daß er einfach die zu analysierende Substanz nach Zusatz von Natron- 
kalk solange und so hoch erhitzt hat, bis sie weiß gebrannt war, so 
könnte man bestimmt vermuten, daß dabei erhebliche Chlorverluste 
eingetreten wären, daß also der Chlorgehalt der Nahrung zu niedrig 
gefunden worden ist. Takata gibt ferner an, daß er dem ausgekochten 
und dem ausgeschüttelten Fleische Fleischextrakt, Rohrzucker, Stärke, 
Speck, sowie eine Mischung verschiedener Salze zugesetzt habe. Waren 
diese Substanzen alle chlorfrei oder ist ihr Chlorgehalt ermittelt und 
berücksichtigt worden? Jedenfalls wird man zum mindesten Fleisch- 
extrakt und Speck nicht ohne weiteres für chlorfrei ansehen können. 
Takata sagt hierüber nichts, die Möglichkeit, daß mit diesen Zusätzen 
Chlor in der Nahrung zugeführt wurde, das in der Bilanz nicht berück- 
sichtigt ist, wäre also immerhin denkbar. Endlich erwähnt Takata 
auch nichts über die Behandlung des Harns vor der Analyse nach 
Volhard. Es ist ja allgemein bekannt, daß gerade der Hundeharn 
Substanzen enthält, die mit Silber ausfallen, und also den Chlorgehalt 
zu hoch erscheinen lassen, wenn sie nicht vorher entfernt sind. Ich 
habe immer die von mir untersuchten Hundeharne zuvor nach Gruber!) 
behandelt. Da Takata von einer derartigen Vorsichtsmaßregel nichts 
sagt, möchte man fast vermuten, daß er sie unterlassen hat, dann wären 
die Werte für das mit dem Harn ausgeschiedene Chlor notwendiger- 
weise zu hoch ausgefallen. Sollten diese Vermutungen zutreffen, 
so wäre also der Betrag für das Chlor in den Einnahmen zu niedrig, 
in den Ausgaben zu hoch bestimmt worden, d. h. der Chlorverlust 
wäre tatsächlich kleiner gewesen als er nach Takata erscheint. Ich 
kann natürlich nicht behaupten, daß dies wirklich zutrifft, aber bei den 
kurzen Angaben Takatas über seine Methodik kann man sich solcher 
Vermutungen schwer entschlagen. Kürze in der Darstellung ist gewiß 
auch bei wissenschaftlichen Mitteilungen eine sehr notwendige For- 
derung; die bei der Untersuchung befolgte Methode aber kann kaum 
zu ausführlich dargestellt werden, denn nur auf dieser Grundlage kann 


!) M. Gruber, Zur Titrierung der Chloride'im Hundeharn. Zeitschr. f. Biol. 
19, 569. 1883. 


6 R. Rosemann: 


der Leser ein Urteil über die Zuverlässigkeit der mitgeteilten Resultate 
gewinnen. Ich werde aber natürlich trotz dieser Bedenken gegen die 
von Takata geübte Methodik zunächst seine Resultate als richtig 
annehmen. 

Wie gestaltet sich nun bei der von Takata erzielten Chlor- 
verarmung des Körpers das Verhalten der Magensaftabsonderung? 
Takata selbst stellt es so dar, als ob sie nur wenig oder gar nicht durch 
die Chlorverarmung beeinträchtigt worden sei. Im Gegensatz dazu 
zeigt sich aber deutlich eine Abnahme sowohl der Menge des Magen- 
saftes wie der darin ausgeschiedenen Salzsäure und des Gesamtchlors 
im Laufe des Versuchs. Die Menge des von dem kleinen Magen bei der 
Fütterung abgesonderten Magensaftes betrug in den ersten 5 Tagen 
im Durchschnitt 28,8, in den zweiten 5 Tagen 28,4 ccm und erreichte, 
als nach Abschluß des Versuchs dem Tiere wieder reichlich Chlor zu- 
geführt worden war, am 67. und 68. Versuchstage 25,0 ccm, sie war 
also unter normalen Verhältnissen ziemlich konstant. In der Zeit vom 
11. bis 15. Versuchstage fällt sie bereits auf 11,9 ccm, also auf weniger 
als die Hälfte des anfänglichen Wertes. Takata will dies aber nicht 
auf die Chlorverarmung des Körpers, sondern vielmehr auf die Abnahme 
des Appetits beziehen, da das Tier das ausgekochte Fleisch mit steigen- 
dem Widerwillen aufnahm. Tatsächlich muß aber der Hund in diesem 
Versuchsabschnitt ungefähr ebenso viel Fleisch aufgenommen haben 
wie in dem vorhergehenden Abschnitt, die Chloraufnahme ist an 4 Tagen 
sogar etwas größer als vom 7. bis 10. Tage, nur am 13. ist sie deut- 
lich herabgesetzt. Takata ging nun dazu über, an Stelle des ausge- 
kochten das bei Zimmertemperatur extrahierte Fleisch zu geben, das 
von dem Hunde bis zum Schluß mit gutem Appetit gefressen wurde. 
Gleichwohl steigt aber die Menge des abgesonderten Magensaftes nur 
sehr wenig an, sie beträgt vom 16. bis 20. Tage durchschnittlich 12,9 cem 
pro Tag, vom 21. bis 25. 12,3, vom 26. bis 30. 15,7 ccm. Im weiteren 
Verlaufe des Versuchs wurde dann die Magensaftabsonderung durch die 
Verabreichung von Alkohol, sowie durch die Zufuhr von KNO, an- 
geregt. Sieht man zunächst von den Tagen ab, bei denen eine derartige 
künstliche Anregung der Absonderung stattfand, die also nicht mit 
den früheren Tagen verglichen werden können, so betrug die abge- 
sonderte Menge am 36. bis 40.’ Tage 16,7, am 46. bis 47. Tage 10,6, 
am 49. bis 51. Tage 8,6, am 58. bis 59. Tage 5,6 und am 60. Tage nur 
noch eine Spur. Durch die Verabreichung von Alkohol und KNO, 
konnte allerdings anfänglich die Absonderung in die Höhe getrieben 
werden, so am 34. und 35. Tage bis auf 24,7 cem, am 48. Tage aber 
betrug sie trotz Alkohol nur 11,0 und am 57. Tage trotz Alkohol und 
KNO, nur 10,5 cem. Und während dieser ganzen Zeit nahm doch der 
Hund sein Futter mit gutem Appetit! Wie man da die Verringerung 


Beiträge zur Physiologie der Verdauung. VIII. 7 


der Magensaftsekretion auf Appetitmangel zurückführen soll, bleibt 
mir unverständlich. Höchstens kann man zugeben, daß die erhebliche 
Abnahme des Körpergewichts und die Beeinträchtigung des Allgemein- 
zustandes des Tieres, wovon noch zu reden sein wird, dabei mit eine 
Rolle gespielt hat. Weshalb aber gerade die Chlorverarmung des Körpers 
dabei unwesentlich gewesen sein soll, vermag ich nicht einzusehen, 
mir erscheint im Gegenteil gerade dieses Moment als das nächstliegende. 
Auch der Salzsäuregehalt und Gesamtchlorgehalt des Magensaftes 
nehmen im Laufe des Versuchs deutlich ab, wenn auch im geringeren 
Grade als die Saftmenge. Es ergab sich aber schon bei meinen Ver- 
suchen, daß bei jeder Beeinträchtigung der Magensaftabsonderung die 
Saftmenge am stärksten herabgesetzt wird, während der Gehalt des 
Saftes an Säure und an Gesamtchlor sich schädigenden Einflüssen 
gegenüber viel widerstandsfähiger erweist. Der Gesamtchlorgehalt 
des Magensaftes, auf den ich mich hier der Kürze wegen beschränken 
will, betrug während der ersten 30 Tage des Versuchs von gelegent- 
‚lichen kleinen Schwankungen abgesehen, konstant 0,545—0,550%, 
denselben Wert erreichte er bemerkenswerterweise am 68. Versuchs- 
tage, als dem Tier wieder reichlich Chlor zugeführt worden war. Vom 
31. Tage an sinkt der Gehalt an Gesamtchlor deutlich und erreicht 
am 40. Tage den Wert 0,503%, um diese Zeit hatte das Tier 19,45% 
seines Anfangschlorvorrates verloren. Ich hatte in meinen Versuchen 
gefunden, daß überhaupt nur 20% des Chlorvorrates des Körpers für 
die Magensaftabsonderung disponibel seien. Im weiteren Verlauf des 
Versuchs nimmt der Gehalt an Gesamtchlor noch deutlicher ab, in den 
letzten 15 Tagen beträgt er im Durchschnitt nur noch 0,47%. Daß 
auch diese Verminderung der Qualität des Saftes zum mindesten mit 
auf die Chlorverarmung des Körpers zurückgeführt werden muß, er- 
scheint mir als ganz selbstverständlich. 

Zugeben muß man Takata allerdings, daß in seinem Versuche 
außer der Chlorverarmung des Körpers auch noch eine Reihe anderer 
Momente, die Körpergewichtsabnahme des Tieres, die Beeinträch- 
tigung des Allgemeinbefindens usw. die Magensaftabsonderung beein- 
flußt haben können. Das ist eben der große Nachteil seiner Versuchs- 
anordnung, daß infolge der langen Dauer des Versuchs, die wieder durch 
den sehr geringen täglichen Chlorverlust bedingt ist, sich zu der Chlor- 
verarmung selbst noch verschiedene andere Einflüsse hinzugesellen, 
so daß es schwer oder unmöglich wird, die verschiedenen Wirkungen 
gegeneinander abzuwägen. In meinen Versuchen, in denen infolge 
der sehr beträchtlichen Chlorabgabe bei der Scheinfütterung sich in 
sehr kurzer Zeit eine erhebliche Chlerverarmung des Körpers erreichen 
ließ, fällt diese Schwierigkeit vollständig weg, hier bleiben alle andern 
äußeren Bedingungen gleich und nur die Chlorverarmung als solche 


Ss R. Rosemann: 


kann für die auftretenden Erscheinungen verantwortlich gemacht 
werden. Dabei zeigte es sich nun, daß in meinem Versuch vom 27. Ok- 
tober 1906 der Hund das Fleisch, das er am 24. Oktober noch mit 
gutem Appetit gefressen hatte, nach der inzwischen eingetretenen Chlor- 
verarmung vollkommen verweigerte, ebenso gekochtes (nicht etwa 
ausgekochtes) Fleisch, sowie Milch nicht annahm. Die Magensaft- 
sekretion war überhaupt nicht in Gang zu bringen, auch als ich 500 g 
gehacktes Fleisch durch die Magenfistel direkt in den Magen brachte, 
trat keine Absonderung ein, noch nach mehreren Stunden lag das 
Fleisch unverändert im Magen. In dem Hungerversuch vom 7. März 
1907 fraß das im übrigen normale Tier nach 10tägigem Hunger natür- 
lich das ihm dargebotene Fleisch mit gutem Appetit, die Menge des 
abgesonderten Magensaftes war zwar etwas vermindert, die Qualität 
des Saftes normal; am folgenden Tage, nachdem inzwischen dem Körper 
eine größere Menge Chlor entzogen war, war das Tier nicht dazu zu 
bringen, feste Nahrung aufzunehmen, rohes, gekochtes Fleisch, Brot, 
warme Bouillon wurden durchaus verweigert. Statt des Magensaftes 
floß eine blutige Flüssigkeit aus der Fistel. Als dann durch Chlorzufuhr 
der Verlust des Körpers an Chlor wieder ausgeglichen wurde, fraß 
der Hund am folgenden Tage wieder ganz gut, die Menge des abgeson- 
derten Magensaftes war fast ebenso groß wie in dem letzten positiven 
Scheinfütterungsversuch, der Gesamtchlorgehalt des Saftes fast normal. 
Wie man die hier beobachteten Erscheinungen anders erklären will, 
als durch die Chlorverarmung des Körpers, bleibt mir unerfindlich. 
Takata macht sich die Beurteilung der Versuche seiner Vorgänger 
sehr leicht, indem er die beobachteten Erscheinungen, den Appetit- 
mangel, das Ausbleiben der Magensaftsekretion kurzerhand auf die 
Verabfolgung einer ‚unpalatable diet‘ zurückführt. Für meine Versuche 
jedenfalls kann diese Erklärung unmöglich anerkannt werden; niemand 
wird frisches gehacktes Fleisch, gekochtes Fleisch mit der Bouillon, 
Brot, Milch als eine unschmackhafte Kost ansehen wollen, noch dazu 
bei einem Hunde, der 11 Tage lang gehungert hat. Dieselbe Nahrung 
nahm der Hund wenige Tage vor der Chlorverarmung mit lebhaftem 
Appetit und ebenso wieder, nachdem der Chlorverlust durch Chlor- 
zufuhr aufgehoben worden war. Ich halte es nach wie vor für einwands- 
frei bewiesen, daß die Chlorverarmung des Körpers, sowie sie einen ge- 
wissen Grad erreicht hat, vollständiges Schwinden des Appetits, 
Sistierung der Magensaftabsonderung und schwere Schädigung der 
Magenschleimhaut zur Folge hat, und ich zweifle nicht daran, daß 
auch in dem Versuch Takatas die beobachtete Verschlechterung 
der Magensaftabsonderung in quantitativer und qualitativer Bezie- 
hung in erster Linie auf die Chlorverarmung des Körpers zurückzu- 
führen ist. 


Beiträge zur Physiologie der Verdauung. VIII. 9 


Eines bleibt allerdings noch aufzuklären, nämlich warum in meinen 
Versuchen bei einem Chlorverlust von ungefähr 20%, des ursprünglichen 
Vorrates die Magensekretion vollständig zum Stillstand kam, während 
der Hund Takatas auch über diesen Chlorverlust hinaus fast bis zum 
Ende des Versuchs die Fähigkeit behielt, Magensaft von ziemlich 
starkem Säuregehalt abzusondern; Takata legt gerade hierauf ein 
besonderes Gewicht. Es erscheint mir, worauf ich oben schon hinwies, 
bemerkenswert, daß bei dem Takataschen Hunde die qualitative Ver- 
schlechterung der Magensekretion, die deutliche Abnahme des Gesamt- 
chlorgehaltes gerade zu der Zeit einsetzt, wo der Chlorverlust etwa 
20%, des Vorrats beträgt; vielleicht handelt es sich hierbei aber auch 
um ein mehr zufälliges Zusammentreffen. Jedenfalls konnte der Hund 
Takatas auch noch nach dieser Zeit dauernd geringe Mengen Magen- 
saft von nur wenig verschlechterter Zusammensetzung absondern. 
Der Grund dafür scheint mir in den eigentümlichen Ernährungsverhält- 
nissen des Takataschen Hundes zu liegen. Leider vermißt man wieder 
‚jede Angabe über die Menge der dem Hund pro Tag verabreichten 
Nahrung. Takata sagt nur, daß der Hund außer dem Fleisch noch 
Rohrzucker, Stärke und Speck erhielt und daß ‚attention was given 
to the supply of a sufficient number of calories“. Wie soll man es sich 
aber bei einer calorisch ausreichenden Nahrung erklären, daß das 
Gewicht des Hundes im Laufe des Versuchs um 4 kg, d. h. 22% des 
Anfangsgewichtes abnahm, daß der Hund wenige Tage nach Schluß 
des Versuchs an einer großen Wunde zugrunde ging, die er sich durch 
Kratzen an der vom Magensaft benetzten Stelle des Bauches zugezogen 
hatte, eine Verletzung, die doch wohl kaum geeignet erscheint, den Tod 
eines ausreichend ernährten Tieres herbeizuführen, und daß endlich 
bei der Sektion ein starker Schwund des Fettgewebes und der Muskeln 
konstatiert wurde? Dies alles legt doch wohl trotz der gegenteiligen 
Versicherung Takatas, die eben leider durch keine Zahlenangaben 
gestützt ist, die Vermutung nahe, daß die Ernährung des Hundes doch 
nicht ausreichend gewesen ist, daß er sich in einem Zustande protra- 
hierter Unterernährung befunden hat. Mit großer Sicherheit läßt sich 
aber behaupten, daß die Eiweißzufuhr in der Nahrung eine durchaus 
unzureichende gewesen ist. Es scheint Takata vollständig entgangen 
zu sein, daß bei der von ihm für so zweckmäßig angesehenen Extraktion 
des Fleisches bei Zimmertemperatur nicht nur die löslichen Salze, 
sondern zugleich auch die gesamten löslichen Eiweißstoffe des Fleisches 
in den Extrakt übergehen, während der übrigbleibende Rückstand 
mit dem Wasser stark aufquillt. In meinem oben erwähnten Versuche 
gaben der erste und zweite Extrakt beim Kochen eine so starke Gerin- 
nung, daß fast die ganze Flüssigkeit fest wurde, der Niederschlag im 
dritten Extrakt war geringer. Trotz dieses starken Eiweißverlustes 


10 R. Rosemann: 


wog aber, wie aus den oben mitgeteilten Zahlen hervorgeht, der beim 
Extrahieren und Kolieren verbleibende Rückstand regelmäßig erheblich 
mehr als die in Arbeit genommene Anfangsmenge, der Eiweißverlust 
. war also durch starke Aufquellung in dem Wasser sogar überkompensiert. 
Ich habe das ursprüngliche und das dreimal extrahierte Fleisch nach 
Kjeldahl auf seinen Stickstoffgehalt untersucht, er betrug in dem 
ersteren 3,67, in dem letzteren nur noch 1,38%. Obwohl Takata 
nicht angibt, wieviel Fleisch der Hund zu fressen bekam, kann man doch 
diese Menge ungefähr auf Grund der für die Chlorzufuhr angegebenen 
- Werte berechnen. Vom 16. bis zum 60. Tage des Versuchs erhielt das 
Tier im ganzen mit der Nahrung 0,8128 g Cl zugeführt oder 0,0181 g 
pro Tag. Das ausgelaugte Fleisch enthielt nach Takatas Angabe 
noch 0,006—0,009% Cl, im Mittel also 0,0075%. Der täglichen Chlor- 
zufuhr würden danach etwa 240 g Fleisch entsprechen. Nimmt man an, 
daß diese wie in meinem Versuch nur noch 1,38%, N enthielten, so er- 
gäbe sich eine tägliche N-Zufuhr von 3,31 g. Nach einer Zusammen- 
stellung der einschlägigen Arbeiten bei R. Tigerstedt: Die Physio- 
logie des Stoffwechsels, Nagels Handbuch der Physiologie, Bd. 1, S. 409 
betrug bei Hunden, die mit möglichst wenig Eiweiß bei ausreichender 
Zufuhr von Fett und Kohlenhydraten ernährt wurden, der niedrigste 
N-Umsatz pro Körperkilogramm 0,23 g. Das würde für den Takata- 
schen Hund von 18 kg Körpergewicht also einen Umsatz von 4,14 g 
pro Tag ausmachen, die N-Zufuhr in der Nahrung von 3,31 g war also 
unzweifelhaft zu niedrig. Dabei muß man noch bedenken, daß die lös- 
lichen Eiweißstoffe des Fleisches, die beim Extrahieren verloren gehen, 
gerade die wertvollsten Bestandteile sind, während die zurückbleibenden 
unlöslichen Körper wohl kaum ein vollwertiges Eiweiß darstellen 
dürften. Unter diesen Ernährungsverhältnissen mußte der Hund 
natürlich dauernd Stickstoff vom Körper abgeben. Dadurch wird der 
bei der Sektion beobachtete Schwund der Muskeln, sowie die auffallend 
geringe Widerstandsfähigkeit des Tieres wohl verständlich. Nun be- 
findet sich ein beträchtlicher Teil des gesamten Chlorvorrates des Körpers 
in Form von Chlornatrium in den Mvskeln, zwar nicht in dem eigentlichen 
Muskelgewebe selbst, sondern in der Zwischenflüssigkeit, wo es mit 
großer Energie festgehalten wird, da das Na-Ion, wie wir durch Over- 
tons!) Untersuchungen wissen, für die Erregbarkeit des Nerv- und 
Muskelgewebes unumgänglich nötig ist. Bei einem Tier in annähernd 
normalen Ernährungsverhältnissen steht dieses Chlor der Muskeln 
offenbar für die Magensaftsekretion nicht zur Verfügung. Wenn aber 
infolge ungenügender Ernährung Muskelsubstanz zum Einschmelzen 


1!) E. Overton, Arch. f. d. ges. Physiol. 9%, 115, 346. 1902; 105, 176. 1904; 
Studien über die Narkose, Jena 1901. Verhandl. d. Gesellsch. deutscher Naturf. 
u. Ärzte zu Kassel 2 (II), 416. 1904. 


Beiträge zur Physiologie der Verdauung. VII. al 


kommt, so wird die ihr entsprechende Chlormenge in Freiheit gesetzt 
und kann für die Magensaftsekretion verwandt werden. In dem Ver- 
suche Takatas reichte offenbar die aus der täglichen Einschmelzung 
von Muskelsubstanz herrührende Chlormenge aus, um die geringe 
Chlorabgabe im Magensafte zu bestreiten, nur infolge seiner mangel- 
haften Ernährung konnte das Tier die für die Magensaftabsonderung 
erforderliche Chlormenge zur Verfügung stellen. Takatas Versuch, 
mit meinen Untersuchungen zusammengenommen, gibt daher ein sehr 
klares Bild von der verschieden großen Energie, mit der die einzelnen 
Körpergewebe das Chlor an sich zu reißen vermögen: die Niere vermag 
bei einer chlorarmen Ernährung überhaupt kein Chlor aus dem Körper 
herauszuschaffen, für die Magensaftsekretion stehen 20% des Chlor- 
vorrates ohne weiteres zur Verfügung, der Rest wird von den Geweben, 
besonders den Muskeln so festgehalten, daß die Magendrüsen ihn nicht 
für ihre Zwecke frei zu machen vermögen. Kommt es allerdings zur 
Einschmelzung von Körpergewebe, so wird ein entsprechender Betrag 
von Chlor aufs neue disponibel und kann nun von den Magendrüsen 
verwertet werden. 

Damit ist auch der letzte Widerspruch zwischen Takatas und meinen 
Resultaten aufgeklärt und der Takatasche Versuch mit den früheren 
Untersuchungen über die Bedeutung der Chlorverarmung des Körpers 
für die Magensaftsekretion in vollkommene Übereinstimmung ge- 
bracht. 


(Aus dem Institut für animalische Physiologie [Theodor Stern-Haus] und aus der 
Medizinischen Universitätsklinik Frankfurt a. M.) 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 


Von 


. Dr. med. Friedrich Kauffmann, 
Assistent an der Medizinischen Klinik 


und 
Dr. med. et phil. Wilhelm Steinhausen, 
Assistent am Physiologischen Institut. 


(Mit 7 Textabbildungen.) 
(Eingegangen am 24. März 1921.) 


I. Einleitung. 

In einer früheren Arbeit!) hat der eine von uns einige Versuche über 
die Latenzzeit der Muskelkontraktion in Abhängigkeit von der 
Stromstärke bei Reizung mit konstantem elektrischem Strom mitgeteilt 
und daran anschließend die dabei beobachteten Gesetzmäßigkeiten und 
ihre vermutlichen Ursachen besprochen. Es zeigte sich, daß man 
die Kurve der Latenzzeit als Funktion der Stromstärke als gleich- 
seitige Hyperbel deuten kann, die gegen die Koordinatenachsen ver- 
schoben ist, oder um es anders auszudrücken, daß die Latenzzeit dar- 
stellbar ist durch die Formel: 


deuten. Bei der Analyse der Versuchsergebnisse, die der eine von uns?) 
bereits im Sommer 1914 im Kieler physiologischen Institut über die 
Abhängigkeit der Reflexzeit von der Säurekonzentration bei 
chemischer Reizung der Froschhaut begonnen hat, kamen wir 
zu dem Ergebnis, daß für die Abhängigkeit der Reflexzeit von der 
Stärke des Reizes formal wenigstens dieselben Gesetze ableitbar sind wie 
für die Abhängigkeit der Latenzzeit des Muskels von der Stromstärke. 
Diese Ableitung soll im folgenden gegeben und auf einige andere Fälle 
angewandt werden. Zugleich wird ein Versuch gemacht, die physio- 
logische Bedeutung der Ergebnisse aufzufinden. 


ı) W. Steinhausen, Arch. f. d. ges. Physiol. 18%, 26—46. 1921. 
2) F. Kauffmann. 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 13 


I. Aufgabe. 


Wir stellten uns also die Aufgabe, die Reflexzeit als Funktion 
der Reizintensität allein zu betrachten. Unter Reflexzeit ist im 
folgenden, wenn nicht ausdrücklich eine andere Bedeutung angegeben 
ist, stets die „rohe Reflexzeit‘“ verstanden, d.h. die Zeit vom Beginn 
der Reizsetzung bis zum ersten meßbaren Reaktionsanfang. Diese 
Definition der Reflexzeit wird nicht nur auf die chemischen Reizungen 
am Froschpräparat, sondern auch auf Reizung mit anderen Qualitäten 
(Wärme usw.) beim Frosch und schließlich auch auf Temperaturreize 
am Menschen angewandt. Dabei wird die Reaktion beim Menschen 
(Schmerzäußerung) als Reflex aufgefaßt, was man unter den von uns 
angewandten Versuchsbedingungen tun darf. 

In dieser sogenannten rohen Reflexzeit sind eine ganze Reihe von 
Zeiten für die verschiedenen Einzelvorgänge, aus denen der Reflex- 
vorgang besteht, enthalten. Auf die genauere Analyse dieser Zeiten 
wollen wir erst später eingehen. Wir wollen hier nur schon bemerken, 
daß mindestens sechs Einzelvorgänge (in Wirklichkeit aber wohl 
noch sehr viel mehr) bei einem Reflex hintereinander ablaufen. Wenn 
wir also die Reflexzeit messen, so messen wir damit eine ganze Summe 
von Zeiten. Betrachten wir die Reflexzeit als Funktion einer an- 
deren veränderlichen Größe, so untersuchen wir damit, wie jene 
Zeitsumme von dieser anderen Größe abhängig ist. 

Als diese unabhängige Variable haben wir die Reizstärke genommen. 
Wir wandten in allen Fällen konstante Reize an und veränderten 
nur die Maximalintensität dieses konstanten Reizes (Konzentration der 
Säure, Reiztemperatur usw.). Wir erwarteten dabei, daß der Reizerfolg 
qualitativ derselbe bleibt (von der Reflexumkehr wird noch be- 
sonders gesprochen werden), und daß die Zeit, die vergeht vom Moment 
der Reizung bis zum ersten meßbaren Eintreten einer Reaktion, in 
einen gesetzmäßigen Zusammenhang mit der Reizintensität 
zu bringen ist. Sollte sich ein solcher gesetzmäßiger Zusammenhang 
nicht finden, so müssen wir annehmen, daß mit der Veränderung der 
Reizstärke irgendwelche Faktoren eintreten, die sich noch nicht über- 
sehen lassen (z. B. bei der Reflexumkehr). Im anderen Fall, in dem wir 
eine funktionale Beziehung finden, müssen wir zunächst mit der 
Möglichkeit rechnen, daß dieselbe sehr kompliziert sein wird, da ja der 
Reflex aus einer so großen Zahl vonhintereinander geschalteten Vorgängen 
besteht. Nur in dem Falle, daß von diesen Vorgängen einer besonders 
stark über die anderen überwiegt und besonders veränderlich mit der 
Reizstärke ist, werden wir eine entsprechend einfachere Beziehung 
finden. Wie wir sehen werden, ist dies letztere in der Tat der Fall. 
Wir können unsere Versuchsergebnisseso deuten, daß wir einen einzigen 
Vorgang als den besonders langsam verlaufenden und als von der Reiz- 


14 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


stärke besonders beeinflußbaren ansehen unter Vernachlässigung der 
übrigen Zeiten. Welches dieser Vorgang ist, darüber lassen sich nur 
Vermutungen äußern. 


IIi. Reflexumkehr, Bahnung usw. 


. Der Reflexvorgang kann durch einige Erscheinungen: Reflex- 
umkehr,Bahnung,Summation usw.[Uexküll, Bethe,Böhme!)] 
unter gewissen Umständen sehr kompliziert werden. In neuerer Zeit 
haben die Autoren ihr Interesse besonders diesen Abweichungen vom regel- 
mäßigen Ablauf des Reflexes zugewandt. Seitdem Freusberg?) beim 
Hunde die Umwandlung des Flexionsreflexes des Fußes in einen 
Extensionsreflex bei Anwendung starker faradischer Reize gefunden 
hatte, sind zahlreiche ähnliche Beobachtungen gemacht und auch die 
Bedingungen für den Eintritt der Reflexumkehr besonders von Sher- 
rington?) eingehend studiert worden. Fröhlich?) fand am Frosch- 
bein bei schwachen Reizen Flexion, bei starken Reizen Extension. 
In einer neueren Arbeit konnte Verzär?) zeigen, daß auch Ermüdung 
des Präparates und Schock Reflexumkehr zur Folge haben können. 
Eine solche Reflexumkehr bringt eine Unstetigkeit in den funktionalen 
Zusammenhang zwischen Reizstärke und Reizerfolg, die ganz anders 
diskutiert werden muß als der stetige Verlauf des Abhängiskeitsver- 
hältnisses außerhalb dieser Unstetigkeitsstelle. Wir wollen uns nur mit 
den Abschnitten beschäftigen, in denen die Funktion stetig ist. 

Eine Reflexumkehr haben wir beim Frosch bei Anwendung 
chemischer Reize im Bereich der von uns angewandten Konzentrationen 
nicht beobachtet, vielmehr reagiert das Präparat stets mit Flexion 
des gereizten Beines. Auch andere Autoren erwähnen die zumeist gleich- 
artige Reaktion auf chemische Reize. Baglioni®) rechnet die chemi- 
schen Reize zu den schädigenden Reizen und durch solche wird nach 
seinen Angaben stets der gleiche Reflex bedingt. Die ausgelösten Re- 
flexbewegungen stehen in direkter Beziehung zu dem Ort, der Stärke 
und der Dauer der Reizwirkung und haben zum Zweck, das gereizte 
Glied dem Einfluß des Reizes zu entziehen (&-Reflexe, Baglioni); als 
Beispiel für solche konstanten Reflexe führt Baglioni?) den Beuge- 


1) J. v. VUexküll, z. B. Zeitschr. f. Biol. 34, 298—332. 1896. 
A. Bethe, Anat. u. Phys. d. Nervensystems 1903, S. 335. 
A. Böhme, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 56, 256. 1917. 
?) A. Freusberg, Reflexbewegungen beim Hunde. Arch. f. d. ges. Physiol. 
9, 358. 1874. 
®) Sherrington, Journ. of physiol. 30, 93. 1903. 
*) Fr. W. Fröhlich, Zeitschr. f. allg. Physiol. 9. 85, 1909. 
5) F. Verzär, Arch. f. d. ges. Physiol. 183, 210—234. 1920. 
6) S. Baglioni, Ergebnisse d. Physiol. 13, 509. 1913. 
?) 8. Baglioni, a.a. O. 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 15 


reflex des Froschbeines auf Kneifen oder Eintauchen in eine Säure- 
lösung (Türcksches Verfahren), also unsere Versuchsanordnung bei der 
chemischen Reizung an. Auch bei unseren übrigen Versuchen kam 
eine Reflexumkehr nicht zur Beobachtung. 

Weiter wird der Reflexvorgang beeinflußt durch Summations- 
erscheinungen. Es zeigt sich nämlich sowohl für chemische als auch 
für andere Reizqualitäten, daß der Reflexvorgang abhängig ist außer 
von der Intensität der Reize, der Schnelligkeit ihres Eintretens und 
von der Größe der Reizfläche auch von der Zahl der Reize in der Zeit- 
einheit. Der enthirnte Frosch, welcher den in eine schwache Säurelösung, 
eingetauchten Fuß stets nach einer gleichen Zeit zurückzieht, reagiert 
wie Freusberg zeigte, rascher, wenn z. B. zu dem Eintauchen in die 
Säure eine schwache zur Reflexauslösung für sich allein nicht genügende 
mechanische Reizung hinzukommt. Eine Summation kommt nach 
Freusberg!) immer dann zustande, wenn die zu einem bestimmten 
Zentrum führenden sensiblen Nerven durch gleiche oder verschieden- 
artige Reize gleichzeitig oder in rascher Folge getroffen werden. Eine 
solche äußere Summation kann bei Säurereizen verhindert werden, 
wenn die Reizung mit der Säure in großen Zwischenräumen geschieht, 
die es dem Präparat ermöglichen, auf seinen ursprünglichen Erregungs- 
zustand zurückzukehren. Bei unseren Versuchen haben wir lange Pausen 
zwischen die einzelnen Reize eingeschaltet und nach Möglichkeit das 
Auftreten von Zusatzreizen zu verhindern gesucht. Von Summa- 
tionserscheinungen in diesem Sinne können wir daher gleichfalls 
absehen. Auch die komplizierten Erscheinungen der Reflexhemmung 
und Bahnung wollen wir aus der Betrachtung ausschließen. 


IV. Literatur. 


Die einfache Frage, wie die Reflexzeit sich bei Abnahme der Reizstärke 
verhält, ist auffallenderweise nur ganz spärlich bearbeitet worden. Nur Baxt?) 
hat die Frage für chemische Reize systematisch untersucht. Auf die Baxtsche Arbeit 
kommen wir noch eingehend zurück. Rosenthal?) macht die Angabe, daß die 
„wahre“ Reflexzeit, d. h. die zur Übertragung eines sensiblen Reizes auf eine 
motorischen Nerven notwendige Zeit um so kleiner ausfällt, je stärker der Reiz 
ist. Die Angabe allerdings, daß die ‚wahre‘ Reflexzeit den Wert 0 annimmt bei 
starken Reizen, dürfte nicht zutreffend sein. Unter Anwendung elektrischer Reize 
fand Stirling?) Abnahme der ‚rohen‘ Reflexzeit bei Zunahme der Reizstärke. 
Er gibt an, daß bei minimalen Reizen die Reflexzeiten sehr stark zunehmen, wenn 
die Reizintensitäten nur um weniges kleiner werden. Eine Gesetzmäßigkeit läßt 


!) A. Freusberg, Arch. f. d. ges. Physiol. 9, 358. 1874. 

®) W. Baxt, Bericht d. Kgl. Sächs. 'Gesellsch. d. Wiss. math.-phys. Kl. 
23, 309—328. 1871. 

®2) J. Rosenthal, Bericht d. Akad. d. Wiss. Berlin 1873 und und Biol. 
Centralbl. 1884/85, S. 247. 

4) W. Stirling, Bericht.d. Kgl. Gesellschr d. Wiss. Leipzig, Math.-phys. Kl. 
1874, S. 372—4N0. 


16 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


sich aus seinen Versuchen allerdings nicht ableiten. Im übrigen findet sich nur 
gelegentlich die Angabe, daß die Reflexzeit mit der Stärke des Reizes abnimmt. 
So fand Exner!) für den Lidreflex bei schwacher elektrischer Reizung 0,0662 Sek., 
bei starkem Reiz 0,0558 Sek. Auch Wundt?) gibt an, daß die Reflexzeit mit 
Abnahme der Reizstärke zunimmt. Für den Tricepsreflex beim Hunde nach 
elektrischer Reizung der Hautnerven stellte Francois- Franck?) die Werte 0,04, 
0,038, 0,026 und 0,022 Sek. fest, wobei die längeren Werte zu den schwächeren 
Reizen gehören. 

Wie groß die Reflexzeiten bei schwachen Reizen werden können, wurde 
nicht verfolgt, weil man sich eben nur für die kürzesten zu beobachtenden Zeiten 
interessierte. 

Dasselbe gilt von den Wärmeschmerzreaktionen, die wir neben den 
chemischen Reflexzeiten besonders herangezogen haben. Auch hierüber finden 
sich in der Literatur kaum einige Einzelbeobachtungen. 

Thunberg?*) macht einige Angaben über die Latenzzeit der Schmerzemp- 
findung bei Anwendung von Temperaturen von 50—68°; er fand als Reaktions- 
zeiten Werte, die zwischen 20 und 170/100 Sekunden schwanken. Aber gemischt 
unter diese kurzen Werte hat er auch erheblich längere beobachtet. So fand 
er bei 50° Reiztemperatur Reaktionszeiten von 5,3; 4,5; 6 Sekunden, bei 52° 
2,9; 3,4; 2,5 Sekunden. 

Thunberg erwähnt diese hohen Werte, da er sie nicht gänzlich verwerfen 
zu können glaubt. Er hat sie aber bei der Berechnung der Mittelwerte für die 
Latenzzeit der Schmerzempfindung auffallenderweise nicht berücksichtigt, in der 
Meinung, sie äußeren Einflüssen, wie einer „unbedeutenden Änderung der an- 
gewandten Temperatur, einem unbedeutenden Unterschied in der Dicke der 
Hautschicht, die die nervösen Endorgane von der Wärmequelle trennt“, zuschreiben 
zu müssen. 

Bei diesen von Thunberg beobachteten langen Latenzzeiten dürfte es sich 
um Werte handeln, die normalerweise bei Abschwächung der Intensität des 
Reizes auftreten. Daher erscheinen uns Bestimmungen von Reflex- bzw. Reaktions- 
zeiten ohne Angaben darüber, ob es sich wirklich um maximale Reize gehandelt hat, 
von nur sehr bedingtem Wert. Weitere Angaben über die Reaktionszeit der Schmerz- 
empfindung finden sich bei Goldscheider°). Er erwähnt das Vorkommen langer 
Reaktionszeiten bei niedrigen Reiztemperaturen, vereinzelt findet er Werte von 
3—17 Sekunden. Systematische Untersuchungen über die Beziehungen zwischen 
Latenzzeit und Reiztemperatur hat er jedoch nicht angestellt. In einer neueren 
Arbeit von Sonnenschein®), welcher die Reaktionszeit der Schmerzempfindung 
auf momentane mechanische Hautreize bestimmt hat, ist die Veränderlichkeit 
der Latenzzeit mit der Reizstärke überhaupt nicht diskutiert. 


Der Grund für das Fehlen von Versuchen über die Abhängiskeit der 
Reflexzeit von der Reizstärke scheint uns darin zu liegen, daß die 


1) S. Exner, Arch. f. d. ges. Physiol. 8, 526. 1874. 

2) W. na Untersuchungen zur Mechanik der Nerven usw. II. Ale a 
S. 16. 1876. 

3) Francois-Franck, Lecons sur les fonctions motrices du cerveau. Paris 
1887, S. 44; zitiert nach Nagel Handbuch IV, S. 264. 

*) T. Thunberg, Untersuchungen über die bei einer einzelnen momentanen 
Hautreizung auftretenden zwei stechenden Empfindungen. Skand. Archiv f£. 
Physiol. XII. 1902, S. 394—442. 

5) A. Goldscheider, Ges. Abhandl. Bd.1, S. 349. 1898. 

6) Sonnenschein, Neue Ühnkenismelhrernsten über Schmerzreaktionszeiten. 
Inaug.-Diss. Gießen 1920. 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 7 


einen!) eine proportionale Zunahme der Reflexzeit mit Ab- 
nahme der Reizstärke für selbstverständlich halten, eine Annahme, 
die, wie wir sehen werden, nicht zutrifft und die anderen in der Ein- 
sicht von der zusammengesetzten Natur des Reflexvorganges sich aus 
dem Studium der Reflexzeit keine Aufklärung über den Vorgang als 
solchen versprechen. Wir hoffen zeigen zu können, daß auch die letztere 
Meinung nicht zu Recht besteht. 


V. Eigene Versuche. 
A. Chemische Reize. 

Wir berichten zuerst über Versuche, die wir beim Frosch über die 
Reflexzeit bei chemischen Hautreizen in Abhängigkeit von der 
Reizstärke, die hier durch die Konzentration der chemischen Substanz 
gegeben ist, angestellt haben. 


1. Versuchsmethoden. 


Wir benutzten hierbei das in bekannter Weise hergestellte Reflexpräparat 
des dekapitierten Frosches. Da es uns nur auf die funktionelle Beziehung 
zwischen Reizstärke und 
Latenzzeit ankam, ohne 
Rücksicht auf den genauen 
absoluten Wert der Kon- 
stanten, die bei physiologi- 
schen Versuchen im all- 
gemeinen von einer sehr 
großen Anzahl von Faktoren 
abhängen, so haben wir auf 
die genaue Feststellung der 
Anfangsbedingungen (Tem- 
peratur, Reflexerregbarkeit, 
Vorgeschichte des Ver- 
suchstieres usw.) verzichtet. 
Nur darauf haben wir streng 
hinzuwirken versucht, daß 
das Tier während des Ver- 
suches keinerlei Verände- 
rung erfuhr, die irgendwie Abb. 1. Versuchsanordnung für die chemische Reizung. 
ändernd auf diese Konstan- 
ten hätte wirken können. Wie dies im einzelnen erreicht und geprüft wurde, 
wird bei den Versuchen selber angegeben werden. 

Die Versuche wurden in ähnlicher Weise ausgeführt, wie sie bei Baxt?) 
beschrieben sind, jedoch wurden sie nicht auf Schwefelsäure beschränkt, sondern 
auch auf andere anorganische und organische Säuren (Salzsäure, Salpetersäure, 
Essigsäure) sowie auf Laugen ausgedehnt. Im einzelnen war die Versuchsanord- 
nung die folgende (vgl. das Schema Abb. 1): An dem Unterschenkel des de- 


!) W. Gloel, Physiologie. München 1913. Nach G. ist die Reflexzeit aller- 
dings umgekehrt proportional dem Quadrat der Reizintensität. 
?) W. Baxt, Die Reizung der Hautnerven-durch verdünnte Schwefelsäure. 
Bericht d. Sächs. Gesellsch. d. Wiss. Math.-phys. Kl. 1871, S. 309, 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. D) 


u 


18 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


kapitierten Frosches wurde eine leicht schließende Klemme (X) angebracht; an 
ihr ist ein Platindraht befestigt, der in ein Näpfehen mit Quecksilber eintaucht und 
durch einen Lamettafaden mit dem elektromagnetischen Signal M verbunden ist. 
Die Säure befindet sich in dem Schälchen S8, welches an dem einen Arm eines 
zweiarmigen Hebels H befestigt ist und durch Herunterdrücken des anderen Hebel- 
armes bis zu dem Anschlag A gehoben werden kann. Der Drehpunkt des Hebels- 
ist mit dem Quecksilberschälchen (Q), der Anschlag mit der Stromquelle (Z) und _ 
diese wieder mit dem elektromagnetischen Signal verbunden, dessen Bewegungen 
auf einer Kymographiontrommel (7') aufgezeichnet werden. Aus der Signalkurve 
und der darunter verzeichneten Zeitkurve (!/,”) läßt sich in bekannter Weise 
sofort die Reflexzeit ablesen. Der Anschlag war so gestellt, daß die Extremität 
des Frosches beim Heben der Schale bis zum Fußgelenk eintauchte. 

Das Gefäß, das bis fast an den Rand mit der Säure gefüllt war, war sehr 
groß im Verhältnis zum Volumen des eingetauchten Stückes des Froschschenkels. 
Deshalb kann die Abnahme der Säurekonzentration, die durch Wegdiffundieren 
aus dem Gefäß in den Froschschenkel eintritt, vernachlässigt werden. Wir können 
also annehmen, daß wir stets die gleiche Säurekonzentration im Reizgefäß haben. 


2. Versuche mit Säuren und Laugen. 


Wir haben zunächst Schwefelsäure als Reizflüssigkeit angewandt. 
Dabei wurde streng darauf geachtet, daß die Säure nach jeder 
Reizung vollständig wieder abgespült wurde: zuerst Abspülung in. 
schwacher Lösung von Natr. bicarbon. (Phenolphthalein wurde gerade 
gerötet) dann in Leitungswasser, schließlich Abtrocknen mit Fließpapier. 
Es wurde stets eine Pause von drei Minuten zwischen je zwei 
Reizen eingelegt. Daß die Erregbarkeit des Präparates zu Beginn einer 
jeden Reizung die gleiche war, ließ sich aus der Konstanz der Reaktions- 
zeit bei Wiederholung des gleichen Reizes ableiten. Wir haben die Ver- 
suche nur so lange fortgesetzt, als die Erregbarkeit des Präparates sich 
nicht änderte. Bei genügender Sorgfalt (Verhütung der Austrocknung 
und Verblutung) läßt es sich erreichen, daß das Präparat stundenlang 
die gleiche Erregbarkeit zeigt. Die Hauptversuche der Säurereizung 
wurden in den Monaten April— Juli 1914 angestellt; die Versuche bei 
thermischer Reizung und mit Laugen und Salzen sowie einige Kontroll- 
versuche bei Säurereizung haben wir im. Laufe des vergangenen Jahres 
unternommen. Das Ergebnis eines Versuches bei Reizung mit Schwefel- 
säure ist durch die Tabelle I wiedergegeben. 


Tabelle I. 
Reflexzeit in Sek. 
Konzentration der H,SO, in % beobachtet errechnet 
0,05 19,7 19,7 
0,1 8,8 6,95 
0,3 2,5 2,5 
0,5 1,8 1,81 
1,0 1,3 1,837 


1,5 112 1015 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 19 


Außer den beobachteten Werten sind im 3. Stab die Werte angegeben, 
die man errechnet, wenn man die später begründete Formel — — +b 
anwendet. {ist dabei die Reflexzeit, c die Konzentration; a, b und const 
sind konstante Größen: Der numerische Wert der Konstanten beträgt 
in Tabelle I const = 0,452; a = 0,026; b = 0,848. 

In den folgenden Tabellen sind jedesmal nach derselben Methode die 
Werte berechnet und angegeben. 

Die Kurve Abb. 2a gibt Tabelle I graphisch dargestellt wieder. 

In der Abbildung sind wie in den folgenden immer durch die Sternchen 


20 
Sek 


—— 
Ss 


5 
N 
& 
D 
Sn n) 
DOES O; 70 DT NDT 7 15% 
Konzentration — Konzemtranhon —— 
a) b) 


Abb. 2. Reflexzeitkurven für Säurereize. a) für Schwefelsäure. b) für Salzsäure. Sternchen: 
beobachtete Werte; ausgezogene Kurve: berechnete Hyperbel. 


die beobachteten Reflexzeiten wiedergegeben, und als ausgezogene 
Kurven sind die nach der angegebenen Formel berechneten Hyperbeln 
eingezeichnet. 

Die folgende Tabelle II (vgl. Abb. 2b) gibt ein Beispiel für eine 
Reizung mit Salzsäure: 


Tabelle II. 
} Reflexzeit in Sek. 

Konzentration der HCl in % beobachtet errechnet 

0,05 34,0 34,0 

0,1 6,3 7,2 

0,3 2,3 2,3 

0,5 0,85 1,1 

1,0 0,45 0,45 

1,5 0,25 0,13 
a = 0,029; b = — 0,364. const = 0,72. Der negative Wert für 5 erklärt 


sich vielleicht daraus, daß wir nicht nach der Ausgleichsmethode gerechnet 
haben. Vgl. später. 


Von den Versuchen mit Salpetersäure, Essigsäure und Laugen, die 
im Prinzip zu denselben Ergebnissen führten, wollen wir nur einen 


IF 


20 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


Versuch anführen mit Natronlauge. Die gefundenen Reflexzeiten eines 
Versuches sind in Tabelle III und Abb. 3a wiedergegeben. 


28 
Sek a OH\ Sek 
ZU 


20 


76 


D 


— 
o©. 


el —- 


SS 


N 


Reflexzeit 
Reflexz 


Ss 


[) 
8 05 10 15 29 


2 4 6 
ö H 
Konzenira hon 700 !° Konzentrahon Mol: Lfr: 
a) b) 


Abb. 3. Reflexzeitkurven für Laugen und Salze als Reizmittel. a) für Natronlauge. b) für Koch- 
salz. Sternchen: beobachtete Werte; ausgezogene Kurve: berechnete Hyperbel. 


Tabelle III. 


Reflexzeit in Sek. 


Konzentration der Natronlauge in */,o O2 beobachtet errechnet 
2 15,8 15,8 
3 8,8 9,1 
4 6,8 6,8 
5 5,0 5,4 
7 4,2 4,2 


a = 0,807; b = 1,43; const = 18,53. 


3. Versuche mit Salzen als Reizmittel. 


Auch Salzlösungen wurden auf ihreWirksamkeithin untersucht. Einen 
solchen Versuch mit Kochsalzlösung gibt die Tabelle IV und Abb. 3b. 


Tabelle IV. 
Reflexzeit in Sek. 
Konzentration des NaCl i. Mol pro Liter beobachtet errechnet 
0,5 30,6 30,6. 
0,75 8,5 9,8 
1,0 6,0 5,98 
1,25 5,0 4,6 
1,5 3,9 3,7 
2,0 3,2 2,9 


a = 0,41; b = 0,96; const = 2,96. 

Erwähnt sei, daß amerikanische Forscher!) neuerdings Versuche 
veröffentlicht haben über die Einwirkung von Kampfgas auf die 

1) H.W. Smith, G. Clowes and E. Marshall jr., On dichloraethylsulfide 


(Mustard Gas). IV. The mechanism of absorption by the skin. Journal of 
pharmacol. a. exp. therapeut. 13, 330. 1919. 


Uber die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 2] 


Haut, bei welchen sie ähnliche Kurven gefunden haben, wie wir sie 
hier geben. Der Verlauf ihrer Kurven ist allerdings viel steiler. Auch 
handelte es sich bei ihnen um eine ganz andere Fragestellung; sie be- 
obachteten die Erythembildung der Haut in Abhängigkeit von der 
Konzentration des Gases und der Zeit seines Einwirkens. Immerhin 
dürfte ein Teil der im folgenden abzuleitenden Ergebnisse auch auf den 
Durchtritt von Gasen durch die Haut angewandt werden können, wenn 
auch hier die Verhältnisse durch Adsorption, Löslichkeitsverhältnisse 
usw. noch komplizierter zu liegen scheinen !). 


B. Thermische Reize. 


1. Versuche am Frosch. 


Außer bei chemischen Reizen wurde auch die Reflexzeit bei ther- 
mischen Reizen in Abhängigkeit von der Reizstärke untersucht. Die 
folgende Tabelle gibt einen solchen Versuch für das Froschpräparat. 
Statt in Säure von verschiedener Konzentration wurde der Fuß des 
Reflexpräparates in Wasser von verschiedener Temperatur getaucht 
und die Reflexzeiten abgelesen. Die Werte eines solchen Versuches gibt 
die Tabelle V. 


Tabelle V. 
Temperatur in ° © Reflexzeit in Sek. 
43,8 3,0 
43,8 3,8 
37,5 8,2 
36,0 13,2 
35,5 22,2 
47,0 1,4 
42,5 3,0 


2. Versuche über Wärmeschmerzempfindung beim Menschen. 


Wegen der beim Frosch frühzeitig eintretenden Wärmestarre und der 
Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, das Präparat zwischen den 
einzelnen Reizen wieder in den Anfangszustand zurückzubringen, haben 
wir die weiteren Versuche über Wärmereizungen am Menschen an- 

gestellt. Wir benutzten als Indicator das Auftreten der Schmerz- 
empfindung, welche nach einer unter Umständen sehr langen Latenz- 
zeit plötzlich auftritt und daher auch präzis angegeben werden kann. 

Die Tabelle VI gibt einen unserer zahlreichen Versuche wieder. 
Zwischen den einzelnen Reizen war jeweils wieder eine Pause von drei 
Minuten eingelegt. (Siehe Kurve Abb. 4a.) 


1) Ähnliche Kurven finden sich in einer kürzlich erschienenen deutschen 
Arbeit von Flury über Kampfgaswirkungen. Zeitschr. f. d. ges. experim. 
Med. 13, 12. 1921. 


22 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


ödek 


70 
So 
N 
I 
R 
S 
iS | 
0 (7) 
552 Temper 65? Tas 652 Temper 852 Ta 
a) b) 


Abb. 4a. Reaktionszeit der Schmerzempfindung in Abhängigkeit von der Reiztemperatur. 
Abb. 4b. Reflexzeit nach Temperaturreiz bei einem Hemiplegiker. Sternchen: beobachtete 
Werte; ausgezogene Kurve: berechnete Hyperbel. 


Tabelle VI. 
Schmerz-Reaktionszeit in Sek. 
Reiztemperatur in °C beobachtete Werte errechnete Werte 

80 1,0 0,9 
76 1,4 1,4 
75 1,4 1,5 
12 2,2 1,9 
70 2,4 2,3 
68 2,4 2,8 
66 3,2 (4,0) 3,6 
65 4,2 4,0 
63 5,2 (5,6) 5,2 
60 7,8 (6,8) (9,0) 8,3 
57,5 13,0 (10,8) 14,3 
57 16,6 (15,6) 16,6 
55 oo 

a—= 59,4; b= — 1,63; const = 65,5. 


Auch hier sind im 3. Stab die Werte angegeben, die man nach der auf 
Seite 19 angegebenen und später erläuterten Formel errechnet. 


Es fällt auf, daß die Werte, die wir bei niedrigen Temperaturen für die Latenz- 
zeit der Schmerzempfindung gefunden haben, erheblich länger sind als diejenigen, 
die Goldscheider fand. Nun geht aus Goldscheiders Angaben nicht genau 
hervor, wie groß die Reizfläche bei seinen Versuchen gewesen ist. Die Kugel, 
die er zu der Reizung verwandte, hatte einen Durchmesser von 2,9 cm, die Größe 
unserer ebenen Reizfläche betrug etwa 1,5 qem, so daß unsere Reizfläche ver- 
mutlich erheblich größer war als die Goldscheiders. Es liegt nun die Annahme 
am nächsten, daß als Ursache für die erheblichen Differenzen für die Latenzzeiten 
im wesentlichen die verschiedene Größe der Reizfläche anzusehen ist. Für die 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 23 


Wärmeempfindung ist durch Weber!) der Einfluß der Reizfläche festgestellt. 
Er fand, daß man Wasser von 291/,°, in das man die ganze Hand eintaucht, für 
wärmer hält, als Wasser, welches 32° warm ist, und in das man nur einen Finger 
eintaucht. In gleicher Weise dürfte auch die Größe der Reizfläche für die Latenz- 
zeit der Schmerzempfindung von Bedeutung sein. Die größere Reizfläche wird 
bei gleicher Temperatur geringere Latenzzeitwerte ergeben, andererseits aber 
wird die größere Reizfläche noch bei niedrigerer Temperatur Schmerzempfindungen 
auslösen können als die kleinere Reizfläche. So erklären sich wohl einmal die ver- 
schiedenen absoluten Werte der Reizintensitäten und dann auch die außergewöhn- 
lich langen Zeiten, die wir bei geringen Temperaturdifferenzen festgestellt haben. 
Daß außerdem auch das Material des Reizgefäßes, die Beschaffenheit und Emp- 
findlichkeit der Haut und die Verschiedenheiten der Beobachtungsmethoden 
Differenzen mit sich bringen, ist selbstverständlich. 


3. Versuche bei Hemiplegikern. 


Gegen die Wärmeschmerzversuche am Menschen könnte viel- 
leicht eingewandt werden, daß sie keine exakte Messung der Reflex- 
zeiten darstellen, sondern einen komplizierten Vorgang zum Gegenstand 
haben, bei welchem dem subjektiven Ermessen der Versuchsperson 
ein allzugroßer Spielraum eingeräumt wurde. Immerhin wußteder Patient 
ja nicht vorher, mit welcher Temperatur er gereizt wurde, so daß eine Be- 
einflussung wenigstens der Versuchsperson ausgeschlossen erscheint. 
Um den erwähnten Einwand zu entkräften, stellten wir auch am 
Menschen Wärmereflexkurven fest. Reine Wärmereflexe kann man 
erhalten, wenn die Reflexbeeinflussung vom Großhirn aus aus- 
geschaltet ist. Eine solche pathologische Ausschaltung des Großhirn- 
einflusses findet sich z. B. bei manchen Hemiplegikern. Setzt man 
in einem solchen Falle an der Haut im Bereich der gelähmten und gefühl- 
losen, also vom Großhirn funktionell getrennten Extremität einen 
Wärmereiz an, so kann man eine reine Reflexzuckung erzeugen, die 
dem Patienten nicht zum Bewußtsein kommt und deren Latenz von 
der Stärke des Reizes (Größe der Temperaturdifferenz) in gesetzmäßiger 
Weise abhängig ist. Als Beispiel sei folgender Versuch angeführt, wel- 
cher an einem Patienten mit rechtsseitiger Hemiplegie und Hemian- 
ästhesie angestellt wurde. Das gelähmte rechte Bein lag in leichter 
Außenrotation, die Reizung erfolgte am medialen Fußrande. Als reflek- 
torische Bewegung trat eine Dorsalflektion des Fußes ein, deren Latenz- 
zeit registriert wurde. (Siehe Tabelle VII und Abb. 4b.) 


Tabelle VL. 
Reflexzeit in Sek. 
Reiztemperatur in ° C beobachtet berechnet 
80 1,8 1,8 
77 2,2 2,0 
75 22 DIN 
72 2,4 ZI 


!) Weber, Wagners Handbuch 3, 2, 8.553 und Nagel, Handbuch 3, 683. 


24 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


Tabelle VII (Fortsetzung). . 
Reflexzeit in Sek, 


Reiztemperatur in ° C beobachtet berechnet 
70 3,2 er 
68,5 3,4 3,4 
66 4,2 4,1 
65 4,8 52 
63 5,8 5,6 
61 1,6 6,7 
60,5 8,2 72 
58,5 10,4 14,6 
55 16,2 16,2 
54 6%) 
a=51,9;b = —0,75; const = 69,5. 


Auch hier finden wir also eine scheinbar ganz gesetzmäßige Zu- 
nahme der Reflexzeit mit Abnahme der Reiztemperatur. 


C. Reflexzeit und Reizstärke. 


Wir haben aus dem großen Material, das wir gesammelt haben, nur 
wenige Beispiele ausgesucht. In allen Versuchen fanden wir stets die- . 
selbe Erscheinung, nämlich eine Zunahme der Reflexzeit mit Ab- 
nahme der Reizstärke, die erst langsam vor sich geht und bei An- 
näherung an den Schwellenwert zu großen Reflexzeitwerten führt. Bei 
genügender Feinheit der Abstufung der Reize fanden wir außergewöhn- 
lich lange Zeiten, die wegen der Konstanz ihres Auftretens nicht als 
Versuchsfehler gedeutet werden können. Wir sind überzeugt, daß man 
auch bei Anwendung anderer Reizqualitäten zu ähnlichen Resultaten 
gelangen würde, wenn man die Intensitäten der Reize in genügender 
Feinheit abstuft. Versuche mit elektrischen Reizen (Wechselstrom- und 
Gleichstromreizung) haben zu qualitativ ähnlichen Resultaten geführt. 
Schwierigkeiten bereiten hierbei nur die Erscheinungen der Reflex- 
umkehr und der Ausbreitung des Reizes infolge der Stromschleifen. Die 
Bedingungen für das Auftreten derselben Gesetzmäßigkeiten wie bei 
den chemischen und thermischen Reizen in bezug auf die Abhängigkeit 
von der Reizstärke sollen daher erst noch eingehender untersucht 
werden. Aber es kann schon jetzt festgestellt werden, daß wir auch 
bei elektrischen Reizen ganz ungewöhnlich lange Latenzzeiten beob- 
achten konnten, sobald die Intensität des Stromes bis in die Nähe des 
Schwellenwertes herabgesetzt wurde. 

Das wichtigste Ergebnis unserer Versuche ist also, daß die 
Reflexzeitmit der Abnahme der Reizstärkein einer offenbar 
gesetzmäßigen Weise zunimmt. Es liegt aber, wie man sofort er- 
kennt, keine einfache Beziehung zwischen Reflexzeit und Reiz- 
stärke vor, etwa in der Weise, daß das Produkt dieser beiden Größen 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 25 


konstant wäre, etwa nach der üblichen Hyperbelgleichung i R = const. 
Das ist keineswegs der Fall. 

Bevor wir dazu übergehen, die funktionale Beziehung der 
beiden Größen zu suchen, wollen wir noch auf eines aufmerksam machen: 


Die Reflexzeit als Nutzzeit. 


Offenbar können die gemessenen Reflexzeiten zugleich als N utz- 
zeiten für die angewandten Reize in dem Fick-Hermann-Gilde- 
meisterschen Sinne!) gedeutet werden. Der Eintritt der Zuckung 
zeigt uns gewissermaßen das Ende der Nutzzeit an, indem der mecha- 
nische Vorgang der Reaktion zeitlich so kurz ist, daß die Zeit, die er 
‘verbraucht, vernachlässigt werden kann. Aus dem Verlauf unserer Re- 
flexzeitkurven ergibt sich sofort für die Reflexnutzzeiten das Gilde- 
meistersche Gesetz vom Schwerpunkt der ‚Reizflächen‘ (die bei uns 
als Rechtecke anzusehen sind), wenn man das Produkt aus Reizstärke 
und Nutzzeit so bezeichnen will. Für große, wachsende Nutzzeiten wird 
dieses Produkt ganz ähnlich, wie es Gildemeister für die elektrischen 
Reize gefunden hat, immer größer, oder anders ausgedrückt, bei gleichem 
numerischen Wert der Produkte ist das Produkt mit kurzer Nutzzeit 
der wirksamere Reiz. 

In unserem Falle tritt außerdem bei Verkürzung der Nutzzeit gleich- 
zeitig eine Verstärkung des Reizerfolges (größere Zuckung) auf, so daß, 
um gleichen Reizerfolg zu erhalten, man vermutlich die Reizkonzen- 
tration vermindern müßte. Die Nutzzeitkurve für gleichen Reizerfolg 
würde also unter unserer Kurve verlaufen, so daß das Gildemeister- 
sche Gesetz noch deutlicher in Erscheinung treten würde. 

Ob aber im ganzen Bereich des untersuchten Intervalls die Reflex- 
zeiten gleichzeitig Nutzzeiten sind, bedarf noch der experimentellen 
Prüfung. Auch ist über die Bedeutung der Nutzzeit und ihre Entstehung 
für unseren Fall noch nichts ausgesagt. Hierzu müssen wir erst unter- 
suchen, wie die Reflexzeit überhaupt zustande kommt. 


VI. Die Ursachen der Verlängerung der Reflexzeit bei schwachen Reizen. 


Der hier in Frage kommende Reflexvorgang besteht aus folgenden 
6 Hauptabschnitten, von denen jeder einzelne wieder aus einer 
unbekannten Zahl von Einzelvorgängen gebildet wird und die 
einzeln oder gemeinsam für eine Verlängerung der Reflexzeit mit Ab- 
nahme der Reizstärke in Betracht kommen: 

1. Diffusion der chemischen Substanz bzw. Fortschreiten der 
Temperaturdifferenz von der Oberfläche der Haut zu den auf- 
nehmenden nervösen Elementen. 


1) M. Gildemeister, Zeitschr. f. Biol. 6%, 358—396. 1913. 


26 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


2. Auslösung des Erregungsvorganges in dem nervösen 
Endorgan, peripher hervorgerufen durch die Temperaturerhöhung 
bzw. die chemische Substanz. 

3. Leitung dieser Erregung durch den Nerven in zentripetaler Rich- 
tung zum Zentralorgan. Eine Abnahme der Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit der Erregung mit der Stärke der Erregung in dem hier 
geforderten Ausmaß ist unwahrscheinlich. 

4. Umschaltung dieser zentripetalen Erregung im Zentralorgan 
auf die zentrifugale Bahn. 

5. Leitung der Erregung auf der centrifugalen Bahn bis zum effek- 
_ torischen Organ. : Vgl. Punkt 3. 

6. Umsetzung der Erregung in eine Muskelkontraktion und 
Fortschreiten des Kontraktionsprozesses bis zu meßbarer Größe. 

Bei der Verlängerung der Latenzzeit der Muskelkontraktion mit 
Abnahme der Reizstärke handelt es sich im Vergleich zu den hier in 
Frage kommenden Verzögerungen um relativ sehr kleine Beträge 
(einige hundertstel Sekunden)!), vorausgesetzt, daß man die Ergebnisse 
der künstlichen elektrischen Reizung auf die Reflexzuckung übertragen 
darf. 

Die Punkte 3, 5 und 6 können wir also übergehen und brauchen nur 
die übrigen zu besprechen. 

Da für die langen Latenzzeiten bis jetzt stets die Wärme- 
leitung?) bzw. die Diffusion der chemischen Substanz von der 
Oberfläche der Haut bis zu den Nervenendorganen®) verantwortlich 
gemacht wurde, wollen wir zuerst die Funktionen suchen, die für die 
Abhängigkeit der Wärmeleitungszeit und der Diffusionszeit von der 
Reizstärke in Betracht kommen. 


A. Wärmeleitung und Diffusion. 


1. Vollständige Gleichungen. 


Da die Gleichungen für die Wärmeleitung und die Diffu- 
sion formal dieselbe Gestalt annehmen, können wir den ersten Ab- 
schnitt des Reflexvorganges für chemische und thermische Reize 
gemeinsam besprechen. Wir wollen ihn für die Tem peraturreize 
analysieren. Die Ergebnisse können dann ohne weiteres unter Ver- 
änderung der Bezeichnungen auf chemische Reize übertragen werden. 


!) W. Steinhausen, Arch. f. d. ges. Physiol. 18%, 26. 1921. 

2) Vgl.auch O. Rosenbach, Dtsch. med. Wochenschr. 1884, Nr. 22, 8.338. 

®) Eine Untersuchung des elektrischen Vorganges im Nerven bei chemischen 
Hautreizen ist beabsichtigt, konnte aber äußerer Umstände halber bisher noch 
nicht ausgeführt werden. 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. DM 


Es soll also die Temperaturin der Nervenendorganschicht berechnet 
werden), wenn auf die Oberfläche der Haut eine höhere oder niedrigere Tem- 
peratur als die normale einwirkt. Es kommt dies der Aufgabe gleich, die Wärme- 
bewegung in einem Stabe von der Länge A zu bestimmen, dessen eines Ende 
konstant die Bluttemperatur, dessen anderes Ende im Anfangszustande die Haut- 
oberflächentemperatur 4 besitzt und zur Zeit 0 mit einem Wärmereservoir von 
der Temperatur R (Reiztemperatur) in Verbindung gebracht wird. Der Null- 
punkt des Koordinatensystems liege in der Oberfläche der Haut, und die positive 
x-Richtung verlaufe senkrecht zur Hautoberfläche nach dem Inneren. Unter Ver- 
nachlässigung der seitlichen Wärmebewegung gilt dann im Bereich der Haut die 
Differentialgleichung: 

ET a 
za: 

Aus dieser Gleichung ergibt sich unter Beachtung der angegebenen Grenz- 
bedingungen die Temperaturbewegung in der Haut. Die Temperaturerhöhung in 
der Entfernung x, vom H-Ende des Stabes, in dem sich die Nervenendorgane 
befinden sollen, ist dann nach Goldscheider gegeben durch die Gleichung: 


5 Es 1 n® y: sı® t 

% 5) Nu 72 
an m .@ 

‚Hieraus geht hervor, daß die Erwärmung proportional der Differenz zwischen 
Reiz- und Hauttemperatur, d. h. der Reizstärke, sowie unabhängig von der Blut- 
temperatur ist, dagegen besteht keine einfache Beziehung zur Zeit. 

Nehmen wir an, daß der Reiz ausgelöst wird, sobald die Erwärmung der 
Nervenendorgane eine bestimmte Höhe erreicht hat, so wird durch die angegebene 
Gleichung die Kurve der Latenzzeit in Abhängigkeit von der Reiztemperatur gegeben. 

Daß wir hier von der Annahme einer konstanten Erregungstemperatur 
bzw. einer konstanten Erregungskonzentration bei chemischen Reizen ausgehen, 
scheint der Tatsache zu widersprechen, daß auch die Geschwindigkeit, mit 
. der der Reiz zugeführt wird, für den Reizerfolg von Einfluß ist. 

Bekannt sind die Versuchsergebnisse beim langsamen Anstieg eines elektrischen 
Stromes im Reizobjekt (Einschleichen). Für chemische Reize hat Fratscher?) 
nachgewiesen, daß auf enthirnte sowohl als unverletzte Frösche ein sehr langsam kon- 
tinuierlich von Null anwachsender chemischer Hautreiz keine Reflexbewegung 
und keinen Fluchtversuch hervorzurufen braucht. Es kann sogar die Reizung in 
manchen Fällen bis zur völligen Zerstörung des Gewebes, ohne daß das 
Tier reagiert, fortgesetzt werden. Wir müssen annehmen, daß von dem Reiz neben 
einer erregenden Wirkung eine zerstörende bzw. lähmende Wirkung ausgeht, 
die bei extrem langsam ansteigender Reizintensität die Oberhand gewinnen kann. 

Für die Verzögerung der Reflexzeit bei schwachen Reizen diese lähmende 
Wirkung heranzuziehen, scheint uns aber vorläufig eine unnötige Komplikation 
zu sein. Wir wollen deshalb an der Annahme einer konstanten Erregungskon- 
zentration bzw. -temperatur festhalten. 

Berechnet man die Zeit, nach welcher das Maximum der Wärmezunahme 


E 
in der x-Schicht eintritt ?), so findet man die Zeit zur — 6,27 Setzt man diesen 


Wert als Zeiteinheit, d. h. {= dr, so kommt 


1) Vgl. Goldscheider, Fr., Über die Wärmebewegung in der Haut bei 
äußeren Temperatureinwirkungen. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1888, abgedruckt 
in A. Goldscheider, Ges. Abh. I, S. 355. 1898. 

2) C. Fratscher, Jen. Zeitschr. f. Nat’, 130—160. 1875. 

®) Vgl. Fr. Goldscheider, a.a. O. 


28 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


o®1] mand 
sr = u Nas 612 \ 
= (iM ai j > „ ln e | 


Hieraus läßt sich die Erwärmung in Bruchteilen von (R — H) allge- 
mein berechnen. Die folgende Tabelle ist mit den Werten von Gold- 


scheider berechnet. Es ist dabei für e _ = gesetzt. 
Erwärmung (7). 
D% Reiztärke = 1 Reizstärke = 2 Reizstärke = 5 R = 10 19 = h 
0,1 0,074 0,078 0,052 0,054 0,072 
0,5 0,0143 0,0286 0,072 0,143 0,0071 
1 0,0832 0,166 0,415 0,832 0,0416 
5 0,438 0,88 2,190 4,38 0,219 
10 0,584 1,168 2,920 5,84 0,294 
20 0,697 1,394 3,485 6,97 0,349 
100 0,7995 1,599 3,9975 7,995 0,3998 
00 0,8 1,6 4,0 8,0 0,4 


Die Tabelle gibt also die Erwärmung in der Schicht x = n ‚ berechnet 
für verschiedene Reizstärken. In der Abb. 5a sind die Werte noch einmal 
graphisch aufgezeichnet. Man erkennt, daß die Temperatur zuerst sehr 


AS) 
IS 


Erwormung —= 


5 70 75 20 


2 Zeit — 


Abb. 5a u. b. a Erwärmungskurven für die Nervenendorganschicht in Abhängigkeit von der 
Zeit. Als Parameter dient die Reiztemperatur (theoretisch). b Latenzzeitkurve einer bestimm- 
ten Erwärmung der Nervenendorganschicht in Abhängigkeit der Reiztemperatur (theoretisch). 


langsam ansteigt, dann immer schneller anwächst und schließlich wieder 
langsam asymptotisch dem durch die Gleichung 
1 Ze = | 


gegebenen Grenzwert zustrebt. 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 29 


Das, worauf es uns ankommt, ist, die Reflexzeit, d. h. die 
Zeit zu berechnen, die verstreichen muß, bis die x-Schicht der Haut 
die Erregungstemperatur, die wir als konstant ansehen, ange- 
nommen hat, und zwar als Funktion der Reizgröße (also der Tempe- 
raturdifferenz (R — H)). A. Goldscheider!) sagt, daß die fragliche 
Zeit (Fortleitung der Wärme in der Haut zu den Nervenenden) um- 
gekehrt proportional der Temperaturdifferenz sei. Daß dies 
nicht streng zutreffend sein kann, erkennt man ohne weiteres aus 
dem komplizierten Bau der Gleichung für die Erwärmung. Zwar ist 
die Erwärmung direkt proportional der Temperaturdifferenz, 
aber die Zeit, die vergeht, bis die x-Schicht eine bestimmte Erwärmung 
annimmt, ist eine sehr komplizierte Funktion der Temperaturdifferenz. 
Man könnte sie dadurch bestimmen, daß man die Gleichung nach { auf- 
löst. Das ist explizit nicht möglich. Aber aus der Abbildung läßt sich 
diese Zeit (bei unserer augenblicklichen Annahme also die Reflexzeit) 
graphisch leicht bestimmen. Man hat nur nötig, die Schnittpunkte 
einer im Abstand der angenommenen Erregungstemperatur parallel zur 
Abszisse gezogenen Geraden mit der Kurvenschar zu bestimmen. Die 
dadurch erhaltenen Zeitwerte geben direkt die Zeiten an (in der vorhin 
definierten Zeiteinheit), nach denen bei verschiedenen Reiztemperaturen, 
welche durch die an die Kurven angeschriebenen Werte gegeben sind, die 
Erregungstemperatur erreicht wird. In der Abb.5b ist eine solche Re- 
flexzeitkurve in Abhängigkeit von der Reiztemperatur gezeich- 
net. Dabei ist die willkürliche Annahme gemacht, daß die Erregungs- 
temperatur 0,5 Temperatureinheiten beträgt, d. h. es ist angenommen, 
daß die Nervenerregung eintritt, wenn die Temperatur in der Nerven- _ 
endschicht auf 0,5 Einheiten über ihren Normalstand in der Haut 
gestiegen ist. 

Die Kurve gleicht fast vollkommen unseren experimen- 
tell aufgestellten Kurven. 


2. Abgekürzte Gleichungen. 


_ Wir wollen weiter darauf hinweisen, daß aus der Gleichung für die 
Erwärmung unter Beibehaltung des ersten Gliedes der Reihenentwicklung 
und Vernachlässigung der folgenden Glieder bei Auflösung nach { folgt: 


De, 2 
RE; 


Unter x ist dabei die Reiztemperatur (R—H) und unter & und k 
Konstanten verstanden, deren Wert sich aus der Ausgangsgleichung 
errechnen läßt. 


1) A. Goldscheider, Ges. Abh. I, 8. 315. 1898. 


30 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


Diese Gleichung für die Reflexzeit läßt sich auch direkt ableiten. 
Wir wollen hierzu mit x die Temperatur an der Außenfläche der Haut 
(Reiztemperatur) und mit & die Temperatur im Innern derselben be- 
zeichnen. x soll während eines einzelnen Versuches konstant sein, 
d. h. es soll die Außenfläche der Haut mit einem Wärmereservoir von 
großer Kapazität verbunden sein; & soll nur eine Funktion der Zeit 
sein. Durch die Hautoberfläche soll ein Temperaturausgleich der beiden 


Räume möglich sein. Dann ist der Wärmefluß durch die Hautfläche: 
da 


Integriert man, so kommt für die Wärmezunahme im Innern der 


Haut: = (2 — &)(l — e*%) 


Setzt man &% =o und nimmt an, daß die Erregung an den 
Nervenendorganen im Innern der Haut eintritt, sobald die Temperatur 
den Wert « erreicht hat, so kommt in der Tat für die Zeit bis zum Ein- 
tritt der Erregung die oben geschriebene Gleichung zustande: 

x 


1 
t= — 
Be: 


Hier ist also x die Reiztemperatur an der Hautoberfläche, & die 
während einer Versuchsreihe als konstant anzunehmende, zur Erregung 
der Nervenendorgane in der Nervenendorganschicht erforderliche Tem- 
peraturerhöhung, und % die Wärmeleitfähigkeit. Unter geeigneter Be- 
nennung gilt die Gleichung natürlich auch für chemische Reize. 

Wie man sieht, ist diese Gleichung dieselbe wie diejenige, aus der 
die Reaktionsgeschwindigkeit der monomolekularen chemischen 
Reaktion berechnet wird. In erster Annäherung führt also die Wärme- 
leitung zu denselben Gleichungen, die wir annehmen müßten, wenn der 
durch die Temperaturerhöhung bzw. Säureeinwirkung hervorgerufene 
Erregungsvorgang wie eine monomolekulare chemische Reaktion abliefe. 

Wir haben also aus der Theorie der Wärmeleitung bzw. der 
Diffusion unter der Annahme, daß es einen konstanten Schwellenwert 
der Erregung gibt und daß die Verzögerung des Reflexvorganges bei 
schwachen Reizen allein durch Wärmeleitung bzw. Diffusion in der 
Haut bedingt ist, eine Formel abgeleitet, die die experimen- 
tellen Ergebnissevollkommenzuerklärengeeigneterscheint. 
Wir könnten jetzt dazu übergehen, den numerischen Wert der 
Konstanten zu bestimmen, d. h. die konstante Zusatzzeit b, den 
Schwellenwert und die Wärmeleitfähigkeit bzw. die Diffusionsgeschwin- 
digkeit in der Haut und weiter die Lage der Nervenendstellen zu be- 
rechnen. 

Was uns aber davon zurückhält, ist die Überlegung, daß die 
Konstanz der Zusatzzeit für die übrigen Vorgänge des Reflexes, 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. Fl 


auf der die Möglichkeit der Berechnung beruht, nicht gewährleistet ist. 
Wir werden zeigen, daß die Reflexzeit bei sonst gleichen Reizen 
sehr wesentlich vom Zustand des Zentralorgans!) abhängig ist und 
daß bei gewissen Zustandsänderungen des Zentralorgans, aber sonst 
gleichen peripheren Reizen eine charakteristische Veränderung der 
Reflexzeit eintreten kann. Es liegt daher nahe, auch für die Ab- 
hängiskeit der Reflexzeit von der Reizstärke den Grund im Zen- 
tralorgan zu suchen. Wir müssen annehmen, daß die Verzöge- 
rungen, die im Zentralorgan bei schwachen Reizen auftreten, 
auf die Reflexzeit einen größeren Einfluß ausüben als die Verzöge- 
rungen in der Peripherie durch Wärmeleitung bzw. Diffusion. 


B) Vorgänge im Zentralorgan. 


1. Reflexzeitkurven in Headschen Zonen. 


Daß der Zustand des Zentralorgans für die Auslösung eines 
Reflexes von der größten Wichtigkeit ist, erscheint selbstverständ- 
lich, daß aber auch die Reflexzeit unter dem Einfluß veränderter Be- 
dingungen des Zentralorgans unter sonst gleichen peripheren Reizen 
sich ganz außerordentlich verändern kann, haben wir auf folgende 
Weise festzustellen versucht: 

Wir haben die Schmerzreaktion in Fällen veränderten Zustandes 
des Zentralorganes untersucht, indem wir Schmerzreflexkurven an 
Patienten mit gewissen Sensibilitätsstörungen aufstellten. Am ge- 
eignetsten für solche Urtersuchungen erwiesen sich Patienten mit 
hyperalgetischen Zonen im Sinne Heads). 

Die Headschen Zonen bestehen bekanntlich aus hyperalgeti- 
schen Bezirken der Haut, die selbst keinerlei objektiv nachweisliche 
Veränderungen zeigt. In einersolchen Headschen Zone wurde eine Stelle 
markiert und zur gleichen Zeit an dieser und der korrespondierenden 
Hautstelle der gesunden Körperhälfte dieReaktionszeitderSchmerz- 
empfindung bestimmt. Das Resultat eines solchen Versuches zeigt 
die Tabelle VIII. Es handelte sich um einen Patienten mit Cholecystitis; 
die hyperalgetische Zone befand sich auf der rechten Seite im Bereich 
von D 9 bis D 10. Im ersten Stab sind die Reiztemperaturen angegeben, 
im zweiten die Reaktionszeiten der Schmerzempfindung an der 
markierten Stelle der Headschen Zone, im dritten die Reaktionszeit 


!) Wir wollen dabei unter Vorgängen im Zentralorgan alle nervösen Um- 
schaltungen, ausgenommen Leitungsvorgänge, verstehen, also auch die Erre- 
gungen im nervösen Endorgan, so daß wir auch den Punkt 2 der Aufstellung 
auf S. 26 hier mit einbegreifen. 

®2)H. Head, Sensibilitätsstörungen 1 Haut bei Visceralerkrankungen. 
Deutsch von Serien. Berlin 1898. 


BD) F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


an der korrespondierenden gesunden Körperstelle. Daneben 
haben wir wiederum die nach der später angegebenen Methode errech- 
neten Werte der Hyperbelgleichung angeführt. Abb. 6 gibt eine gra- 
phische Darstellung der Werte. 

Der angeführte Fall ist nur ein Beispiel aus einer großen 
Anzahl von Versuchen an Patienten mit Headschen Zonen. 
Alle Versuche haben zu einem analogen Ergebnis geführt. Wir dürfen 
daher annehmen, daß essich umein typisches Phänomen handelt: 

Wir finden eine äußerst regelmäßige, immer wieder in gleicher 
. Weise beobachtete, starke Verschiebungderinder Headschen 
Zone gewonnenen Kurve gegenüber derjenigen, welche 


75 


sek. 


70 


(9) 
° ° ° ° ° o 
50 Terper. 35 600 65 70 75 


Abb. 6. Latenzzeit der Schmerzempfindung bei Reizung im Bereich einer Headschen Zone (*) 
und an der korrespondierenden gesunden Hautstelle (°). (*), (°): beobachtete Zeiten ; ausgezogene 
Kurven: berechnete Hyperbeln. 


an der korrespondierenden normalen Körperstelle er- 
mittelt wurde. Eine solche gegenseitige Verschiebung der Kurven von 
korrespondierenden Körperstellen haben wir bei normalen Ver- 
suchspersonen niemals beobachten können. 

Die Verschiebung der Schmerzkurve in der Headschen Zone ist 
nach der Ordinatenachse gerichtet. Im ganzen untersuchten Tempe- 
raturbereich submaximaler Reize sind die Reaktionszeiten für die 
Headsche Zone kürzer als für die normale korrespondierende Haut- 
stelle, und was besonders wichtig erscheint, es werden, wenn wir zu 
minimalen Reizen übergehen, noch Temperaturen in der Headschen 
Zone als schmerzhaft empfunden, die in dem normalen Hautbereich 
bereits völlig unwirksam sind. 

Diese Verschiebung der Kurve könnte an sich ein Ausdruck 
für eine Differenz der Wärmeleitfähigkeit der Haut an den 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 33 


untersuchten Körperstellen sein. Es ist aber undenkbar, daß die in 
der Headschen Zone neben der Verschiebung der Schmerzkurve fest- 
stellbare allgemeine Hyperästhesie!) durch eine Erhöhung der 
Wärmeleitung der Haut hervorgerufen wäre. Vielmehr müssen wir 
eine erhöhte Erregbarkeit des Zentralorgans für die übrigen Reize an- 
nehmen; folglich dürfte es nicht zweifelhaft sein, daß auch die Ver- 
schiebung der Schmerzkurve auf die gleiche Ursache zurückzuführen 
ist, nämlich auf den erhöhten Erresungszustand bzw. die erhöhte Er- 
regbarkeit der nervösen Zentren. Ist diese Anschauung richtig, so ist es 
wohl naheliegend, auch die Veränderung der Latenzzeit mit der Reiz- 
stärke auf zentrale Ursachen zu beziehen. 


Tabelle VII. 


im Bereich der Zone an der korrespondierenden Stelle 
meaT | Banane nn ee 
74,0 | 1 | 0,9 1,2 1a 
22 1,0 2 163 
70,0 I 1,4 1,4 — a 
69,0 — — 1,8 | 1,9 
65,0 2,0 2,4 2,8 (3,0) | 3,0 
62,0 2,8 (3,0) 3,3 5,4 4,4 
60,0 4,2 4,2 7,0 (7,4) | 6,1 
58,0 | _ — 9,6 (10,0) | 9,1 
57,0 6,8 (5,8) (6,4) 6,4 11,8 | 11,8 
56,0 — — Keine Schm.-Empfd. 
54,0 ‚11,0 (12,1) 11,0 
52,0 25,8 20,6 
51,0 Keine Schm.- Empfd. 
In der Headschen Zone: a = 48,75; b= — 1,75; konst. = 66,9. An der 
korrespondierenden Hautstelle: a = 53,2; b= — 1,2; konst. = 49,4. Über die 


negativen Werte für b vgl. früher. 


Gegen die Annahme, daß die Verkürzung der Reaktionszeit durch 
Veränderungen in der Peripherie bedingt sei, sprechen auch anato- 
mische Gründe. Denn der Ort, an welchem die vom erkrankten Visceralorgan 
zentripetal verlaufenden sympathischen Fasern mit den cerebrospinalen Nerven- 
bahnen in Beziehung treten, befindet sich im Rückenmark. So haben denn 
auch bereits die Autoren, welche als erste auf die Reflexhyperästhesien der 
Haut bei Erkrankungen der Visceralorgane hingewiesen haben, wie Lange 
und Head, die Ursache der segmental angeordneten, scharf begrenzten Hyperal- 
gesien als spinale Irritations- und Irradiationserscheinungen aufgefaßt, und diese 
Anschauung besteht nach dem Stand unserer Kenntnisse heute noch zu Recht. 


An welcher Stelle des Zentralorgans die Verzögerung des Reflexes ein- 
tritt und welcher Art die Vorgänge sind, ist für unsere Fragestellung zu- 
nächst belanglos. Betreffs der ersten Frage sei auf die Anschauungen 


# 
!) Vgl. A. Goldscheider, Schmerzproblem S. 54 und 59. 
Pflügers Archiv f. d, ges. Physiol. Bd. 190. 


34 F. Kauffmann und W. Steinhausen : 


Goldscheiders!) und Bethes?) verwiesen, betreffs der zweiten hat 
Pütter?) allgemeine Gesetze abgeleitet, die auf Veränderung der Reak- 
tionskonstanten chemischer Umsetzungen mit der Reizstärke basieren. 

Ganz ähnliche Vorstellungen wie die, welche Pütter entwickelt hat, 
sind von botanischer Seite eingehend erörtert worden ). 


2. Formulierung des Abhängigkeitsverhältnisses der Reflexzeit von den 
zentralen Vorgängen. 


Für die Vorgänge im Zentralorgan kann man vielleicht in erster 
Annäherung annehmen, daß ihre Intensität proportional der Reiz- 
stärke ist. Setzt man die Reflexzeit umgekehrt proportional der Inten- 
sität des Erregungsvorganges°), d.h. nimmt man an, daß der Erregungs- 
vorgang um so früher meßbare Größe erreicht, je stärker er ist, sokommt 
man zu einer umgekehrten Proportionalität zwischen Reflexzeit und 
Reizstärke. Diese Annahme ist augenscheinlich die nächstliegendste, 
die man machen kann ohne auf Einzelheiten des Reflexvorganges im 
Zentralorgan einzugehen. In der Tat hat Baxt®), der sich mit der 
Frage der Reflexzeit in Abhängigkeit von der Reizstärke bisher allein ein- 
gehender beschäftigt hat, zu allererst an eine umgekehrt proportio- 
nale Abhängigkeit gedacht. Er findet aber, daß eine Deutung seiner 
Kurven als Hyperbeln, in welchen diese umgekehrt proportionale Ab- 
hängigkeit zum Ausdruck käme, auf keine Weise möglich sei und kommt 
schließlich zu der Ansicht, daß logarithmische Kurven vorliegen. Die 
Versuche von Stirling”), der die Baxtsche Behauptung von logarith- 
mischen Kurven zu stützen versuchte, sind zu der Entscheidung der 
Frage nicht geeignet. : 

Insofern hat Baxt mit seiner Behauptung recht: bildet man näm- 
lich das Produkt aus Reflexzeit und Reizstärke, so istesin 
keinem Versuchekonstant, einfache gleichseitige Hyperbeln, deren 
Asymptoten durch die Koordinatenachsen gegeben sind, liegen also nicht 
vor. Nur in einem ganz kleinen mittleren Bereich könnte man unter 
Umständen eine angenäherte Konstanz der Produktwerte ablesen. Wir 
haben nach einem unserer Versuche in der Abb. 7 b eine graphische 
Darstellung der c-t-Werte für Schwefelsäure aufgezeichnet. Als 


!) Siehe die zusammenfassende Darstellung: A. Goldscheider, Das Schmerz- 
problem. J. Springer, 1920. 

2) A. Bethe, Anat. u. Physiol. d. Nervensystems 1903. 

>) A. Pütter, Studien zur Theorie der Reizvorgänge I—-IV. Arch. f. d. ges. 
Physiol. 171, 201. 1918 und 1%5, 371. 1919; 1%6, 39. 1919. 

4) Vgl. z. B. O. Warburg, Über die Geschwindigkeit der photochemischen 
Kohlensäurezersetzung in lebenden Zellen. Biochem. Zeitschr. 100, 230. 1919. 
5) Vgl. z. B. O. Langendorff, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1877, S. 100. 

)7Baxt, 3.2.0. 
2) Stirlinsiyar a... 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 35 


Abszissen sind die Konzentrationen, als Ordinaten die ce t- Werte 
aufgetragen. 

Wie man sieht, weicht die Kurve sehr von einer Geraden ab, aber 
man erkennt doch sogleich, welche Gesetzmäßigkeit man aus ihr ab- 
lesen kann. Wir haben nur zu setzen: 

(e—a)- (t — b) = const ; 
darin bedeuten c die Konzentration (oder die Reiztemperatur), i die 
gemessene Reflexzeit, a, b und const konstante Größen. Also: 


const 
le). 
© — © 
Die Einführung dreier willkürlicher Konstanten scheint auf den ersten Blick 
keine Vereinfachung der Betrachtungsweise herbeiführen zu können. Aber auch 


36 


Kv— 


r | 
07 07 02 03 0m 015 00 017 018 09 O2 O2 022 023 024 025% 
Honzentratonm —— 


Abb. 7a u. b. a) Reflexzeitkurve nach einem Versuch von Baxt. Sternchen: von Baxt beob- 
achtete Werte; ausgezogene Kurve: berechnete Hyperbel. b) e - ti Kurve nach einem eigenen 
Versuch für Reizung mit Schwefelsäure. 


die anderen aus der Wärmeleitung bzw. den chemischen Reaktionsgesetzen ab- 
geleiteten Gleichungen enthalten mindestens ebenso viele Konstanten; auch können 
wir den hier eingeführten Konstanten eine physiologische Bedeutung un- 
gezwungen beilegen: a wäre der Ausdruck für die Empfindlichkeit 
der Nervensubstanz, const der Ausdruck für das Summationsver- 
mögen und bdie Restzeit, die für die Erregungsleitung, die Latenz der Muskel- 
kontraktion usw. in Anrechnung gebracht werden muß und nach Abzug der Zeit 
für den zentralen Vorgang von der Reflexzeit noch übrigbleibt. 
Lösen wir nach c- t auf, so kommt: 
c-t=cont—a-b+c-b-+tat. 

Das Produkt ist also nicht konstant, sondern wieder eine Funktion von t und c. 
Betrachten wir c- t als Funktion beispielsweise von c, dann wird, für kleines £ 
das Glied, @- t verschwinden. Wir haben dann c-t, als lineare Funktion von c, 
für große c ist also die Kurve der c- t Werte, als Funktion von ce betrachtet, eine 
gerade Linie. Für kleine c wird t groß und für c = a sogar unendlich. Die Kurve 
der c- t Werte biegt also für kleine c--Werte nac# wachsenden Ordinaten um, um 


DE 
3*+ 


36 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


für c = ains Unendliche zu gelangen. Das gleiche kann man ableiten, wenn man 
c-tals Funktion von t betrachtet. Aus der Abb. ist diese Eigenschaft der Kurve 
direkt abzulesen. Sie biegt für kleine c-Werte nach unendlich um und nähert 
sich für große c-Werte einer geraden Linie. 

Wir haben in den graphischen Darstellungen und Tabellen unserer Versuche 
die aus der angegebenen Formel hervorgehenden Werte berechnet und eingetragen. 
Man sieht daraus (vgl. die Abb. 2—7, 10 und Tabellen I-VI, VIII), wie gut die 
Übereinstimmung der Rechnung und Beobachtung ist. Die Übereinstimmung 
wäre noch besser, wenn wir nach dem Verfahren der Ausgleichsrechnung berechnet 
hätten. Da es uns aber vorläufig nicht auf die genauen Werte der Konstanten 
ankam, so haben wir der Einfachheit halber aus 3 experimentellen Punkten die 
theoretische Hyperbel bestimmt und ihren Verlauf mit der experimentellen Kurve 
verglichen. Sind c,t, Cgtg, C,t,. die Koordinaten dieser Punkte, so wird nach 
bekannten Regeln: j 

a = (Cytz — Cata)(Cı — Co) (cıtı — Cats) (3 — C2) 
(i3 — 3) (cı — 62) — (bı — ta) (C3 — Ca) 
b=—aloi)tüohmils 
Cal C> 
eonst = (c, — a)(t, —b). 
Durch geeignete Wahl der Abszissenabschnitte vereinfachen sich die Gleichungen 
noch. 
Um zu zeigen, daß auch die Baxtschen Kurven auf diese einfache Weise 


dargestellt werden können, haben wir in gleicher Weise die Baxtschen Versuche 
durchgerechnet (Tabelle IX). 


Tabelle IX. Baxt. Schwefelsäurekurve IV. 


Konzentration Reflexzeit (beobachtet) KReflexzeit (berechnet) 


(%) in Sek. in Sek. 
0,11 60,6 60,6 
0,12 33,0 27,0 
0,13 14,4 17,5 
0,14 11,8 12,9 
0,15 9,6 10,2 
0,16 8,4 8,5 
= Dlz 75 7,4 
0,18 6,6 6,5 
0,19 6,0 57 
0,20 5,4 5,2 
0,21 4,8 4,7 
0,22 4,5 4,4 
0,23 3,9 4,0 
0,24 3,6 3,8 
0,25 3,12 35 


Die aus seinen Werten hervorgehenden Kurven lassen sich also ebenso wie 
unsere eigenen als gegen die Koordinatenachse verschobene gleichseitige Hy- 
perbeln deuten. Als Beispiel geben wir die Berechnung und die Kurvendar- 
stellung des Baxtschen Versuches IV. Die Wirkungszeiten sind in Sekunden 
umgerechnet. (Vgl. Abb. 7a.) 

Wie man sieht, besteht hier fast vollkommene Übereinstimmung zwischen 
Beobachtung und Berechnung. 


Über die Abhängigkeit der Reflexzeit von der Stärke (des Reizes. 37 
Die Gleichung 


RO) 
ist somit eine zutreffende Formulierung der Baxtschen sowohl, 
wie unserer eigenen Versuchsergebnisse. 


Interessant ist das Verfahren, das Baxt!) zur Analyse seiner Kurven an- 
wendet. Er berechnet die Quotienten von je zwei aufeinanderfolgenden Ordi- 
naten-(Reflexzeit-)Werten, die zu je zweien um eine bestimmte kleine Größe 
voneinander verschiedenen Abszissen-(Säurekonzentrations-)Werten gehören. Diese 
Quotienten findet er für bestimmte Abschnitte seiner Kurven angenähert konstant, 
und somit erklärt er die Kurven zusammengesetzt aus lauter Stücken von loga- 
rithmischen (gemeint sind e-Funktions-)Kurven°). Dieses Resultat ist aber nur ein 
scheinbares. Auch eine Hyperbel kann man sich bei den Baxtschen Vernach- 
lässigungen als aus e-Funktionsabschnitten zusammengesetzt denken. Nehmen wir 
an, wir hätten eine Hyperbelgleichung von der Form 


(2 — a)- y = const 


oder 
const 


y- . 
x — 4 
Gehen wir nun weiter zum Wert ©&— 4x (Baxt nimmt 4x = 0,0001 an) und 


bilden, wie Baxt es tut: 
Ir el 


e) 


so kommt: Yg- 


ia = — 4 1 


Y, x — Ax—qa 1 Ax 
a 

Da Ax konstant ist, so wird sich bei kleinen Änderungen von x, also für kurze 
Kurvenstücke, der Quotient wenig ändern. Er wird, da 2 —a groß gegen Ax 
angenommen wird, etwas größer als 1 sein. (Vgl. Baxt.) Setzt man ihn kon- 
stant, was er streng genommen mathematisch nicht werden kann, so erhält man 
in der Tat eine e-Funktion. Abgesehen davon, daß die Ableitung nicht einwand- 
frei ist, so erscheint die Annahme einer Zerstückelung der Kurven im Baxtschen 
Sinne als zur Analyse ungeeignet. 


3. Der Mechanismus der Reflexverzögerung. 


Wir sind auf Grund der Verschiebung der Reflexzeitkurve unter 
dem Einfluß zentraler Umstimmung (als Beispiel haben wir die Beobach- 
tungen in den Headschen Zonen angeführt) zu der Annahme gedrängt 
worden, daß der Grund für die Abhängigkeit der Reflexzeitänderung 


DEBaxıt: ar a..05282325: 
2) Bei einer e-Funktion ist bekanntlich der Quotient aus zwei Ordinaten- 
werten, die zu zwei gleichweit voneinander entfernten Abszissenwerten gehören, 


konstant: 
- b(b + Aa) 
x bAx A 
—ge — const, wenn Ax = const ist. 


bz 
ae 
Tr 


38 F. Kauffmann und W. Steinhausen: 


mit der Reizstärke nicht so sehr in der Peripherie als im Central- 
organ selber gelegen ist. 

Wenn wir zum Schlusse dazu übergehen uns ein Bild von den Vor- 
gängen zu machen, die im Zentralorgan zu einer Zunahme der 
Reflexzeit mit Abnahme des Reizes führen können und zwar in der 
gesetzmäßigen Weise, wie sie unsere Versuche ergeben haben, so wissen 
wir sehr wohl, daß darüber nur Vermutungen geäußert werden 
können. 

In Analogie zu den Latenzzeitgesetzen bei der elektrischen Reizung 
der Muskeln in Abhängigkeit von der Stromstärke!) könnte man 
geneigt sein, auch hier eine ähnliche quantitative Beziehung zwi- 
schen Reizstärke und Reflexzeit abzulesen. Man hätte sich dann 
die Entstehung des Reflexvorganges so zu denken, daß die Anzahl der 
in Tätigkeit befindlichen zentralen Elemente direkt proportional der 
Reizstärke wäre, und daß infolge der Anordnung dieser Elemente eine 
proportionale Zunahme der Anzahl der von der Erregung getroffenen 
bei Reizsteigerung auftritt. 

Die Diskussion der Diffusionsgleichungen hat uns anderer- 
seits zu ganz ähnlichen Kurven geführt, wie diejenigen sind, die 
wir aus den Versuchen abgeleitet und als gleichseitige Hyperbeln 
gedeutet haben. Die Schlußfolgerung liest sehr nahe, daß die Vor- 
gänge im Zentralorgan ebenfalls nach einfachen Regeln der Diffu- 
sion bzw. der chemischen Umsetzung vor sich gehen. Nehmen 
wir zum Beispiel an, daß der Erregungsprozeß nach der auf S. 28 
berechneten Kurve ansteigt und ebenso von der Reizstärke abhängig 
ist wie die dort besprochenen Wärmeleitungs- bzw. Diffusionsvorgänge, 
so ließen sich auch die beobachteten Reflexzeiten aus solchen Diffusions- 
vorgängen bzw. chemischen Umsetzungen erklären. Umgekehrt 
könnten wir aus dem Verlauf der Reflexzeitkurven auf die Art der Vor- 
gänge im Zentralorgan Rückschlüsse ziehen. Die experimentellen 
Kurven sind vorläufig noch zu ungenau, andererseits ist der Unterschied 
zwischen den aus den verschiedenen Vorstellungen abgeleiteten theore- 
tischen Kurven zu gering, als daß jetzt schon Sicheres über die Einzel- 
heiten des Reflexvorganges ausgesagt werden könnte. Es scheint uns 
aber das Studium der Reflexzeit in Abhängigkeit von der Reizstärke 
besonders bei schwachen Reizen für das Verständnis des Reflexvorganges 
und seiner Auslösung im Zentralorgan von großer Wichtigkeit zu sein. 

Schließlich möge noch auf folgendes hingewiesen werden. Wenn wir 
in der Reflexzeit, wie vorhin angedeutet, in Analogie zu der Latenz- 
zeit der Muskelkontraktion einen Ausdruck für die Stärke des Er- 
regungszustandes sehen, etwa in der Weise, daß wir die Stärke der 
Erregung umgekehrt proportional der Reflexzeit setzen, so kämen wir 


l) W. Steinhausen, a.a. O. 


Über die Abhängiekeit der Reflexzeit von der Stärke des Reizes. 39 


den verschiedenen Gleichungen entsprechend zu verschiedenen neuen 
mathematischen Formulierungen des Weberschen Gesetzes, soweit es 
physiologisch erklärt werden soll. 

Wir haben ja gesehen, daß eine logarithmische Kurve unter ent- 
sprechenden Vernachlässigungen und Einführung neuer Konstanten 
durch andere Kurven ersetzt werden kann und daß andererseits der 
komplizierte Ablauf der Reflexvorgänge wie überhaupt der Reizvor- 
gänge viele Erklärungsmöglichkeiten offen läßt. Es handelt sich nur 
darum, in jedem einzelnen Fall die wahrscheinlichste Erklärung zu 
finden. Aus der Form der Kurven allein über den Ablauf der Reiz- 
vorgänge etwas für alle Fälle Bindendes auszusagen, erscheint deshalb 
fast unmöglich. Wir glauben darum auch nicht, daß die zeitliche 
Veränderung im Reaktionsablauf bei Veränderung der Reizstärke allein 
durch Änderung der Reaktionsgeschwindigkeit der bei dem Reizvorgang 
ablaufenden chemischen Umsetzungen bedingt zu sein braucht, wie 
Pütter!) aus der Übereinstimmung von Rechnung und Versuch ableitet. 


VII. Zusammenfassung der Ergebnisse. 


Während bisher im allgemeinen das Hauptgewicht auf die Bestim- 
mung der kürzesten Reflex- bzw. Reaktionszeiten gelegt wurde 
und über die Abhängigkeit der Reflexzeiten von der Reizstärke 
auffallend wenig bekannt ist, waren wir bestrebt, die Latenzzeiten 
der Reflexe möglichst im ganzen Bereich der wirksamen Reiz- 
stärken, also auch für die schwächsten Reize festzustellen. Wir 
untersuchten einmal die Reflexzeiten am Froschpräparat bei chemischer, 
osmotischer und thermischer Reizung; dann aber haben wir auch die 
Latenzzeit der Schmerzempfindung unter normalen und pathologischen 
Verhältnissen (Headsche Zonen) auf Wärmereize bestimmt und haben 
schließlich Wärmereflexkurven an solchen Kranken (Hemiplegikern) 
aufgestellt, bei welchen infolge der funktionellen Trennung der gelähm- 
ten und anästhetischen Extremität vom Großhirn dem Froschpräparat 
analoge Verhältnisse geschaffen sind und der registrierte Wärmereiz- 
erfolg unbeeinflußt von seiten des Patienten eintritt. 

Es ergab sich sowohl für chemische wie für thermische Reize 
(andere Reize wurden zwar nicht eingehend untersucht, lieferten aber 
in Vorversuchen qualitativ die gleichen Ergebnisse), daß die Reflexzeit 
umgekehrt proportional der Differenz zwischen der Reizstärke 
und einer konstanten Größe ist. Diese konstante Größe ist der theore- 
tische Schwellenwert der Reizstärke. Die gesetzmäßigen Beziehungen 
sind graphisch dargestellt durch eine gleichseitige gegen die Koordinaten- 
achsen verschobene Hyperbel. 


2) A. Pütter, a.a. ©. 


40  F.Kauffmann u. W. Steinhausen: Über die Abhängigkeit der Reflexzeit usw. 


Zur Erklärung der Versuchsergebnisse haben wir zunächst die Vor- 
gänge der Wärmeleitung bzw. der Diffusion durch die Haut 
heranzuziehen und auch rechnerisch zu erfassen gesucht. Für die 
Latenzzeit der Erregungstemperatur in den Nervenendorganen 
haben wir Formeln abgeleitet, die ebenfalls gut mit unseren experi- 
mentellen Ergebnissen übereinstimmen. Durch die Wärmeleitung und 
die Diffusion ließen sich vor allem das Auftreten der langen Latenz- 
zeiten bei schwachen Reizen gut erklären. 

Aus den Reflexzeitkurven, die wir in Headschen Zonen beobachtet 
haben und der hier auftretenden großen Verschiebung der Kurven gegen- 
über der normalen Kurve haben wir jedoch geschlossen, daß die Vor- 
gänge im Zentralorgan für die Abhängigkeit der Reflexzeit von der 
Reizstärke in höherem Maße verantwortlich gemacht werden müssen 
als die Vorgänge in der Peripherie. 

Schließlich haben wir die Ursachen kurz besprochen, die im Zentral- 
organ zu einer Zunahme der Reflexzeit mit Abnahme der Reizstärke 
führen können. 

Daß die Untersuchung dieser Reflexzeitkurven und besonders die 
Abweichung bzw. Verschiebung derselben unter pathologischen Ver- 
hältnissen auch eine gewisse klinische Bedeutung haben dürfte, darauf 
mag hier nur kurz hingewiesen sein. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 


Von 
Dr. $. de Boer, 


Privatdozent in der Physiologie in Amsterdam. 


(Eingegangen am 19. März 1921.) 


Nachdem im Jahre 1913 meine erste Mitteilung!) über die sympathi- 
sche Innervation des Skelettmuskeltonus erschienen war, ist dieses 
Problem seitens mehrerer Untersucher in Angriff genommen worden. 
Eine kurze Auseinandersetzung meiner Experimente über die Tonus- 
innervation möge hier einer Besprechung einiger diesbezüglicher Ge- 
sichtspunkte vorausgeschickt werden. 

Meine Experimente über die Innervation des Skelettmuskeltonus 
' waren eine direkte Folge einer von mir über den Einfluß von Veratrin 
auf das Elektromyogramm angestellten Untersuchung. Bekanntlich 
treten bei den Skelettmuskeln nach Vergiftung mit Veratrin auf einen 
Induktionsreiz zwei Verkürzungen auf, nämlich eine schnelle zuckungs- 
artige Anfangsverkürzung, der sich eine Kontraktur von viel längerer 
Dauer anschließt. Von diesen Verkürzungen studierte ich nun die 
Aktionsströme. Dabei bediente ich mich der monophasischen Ableitung, 
durch die allein eine länger dauernde Negativität manifestiert wird. 
Diese Versuchsanordnung ist nämlich bei Benutzung des Saitengalvano- 
meters, das ja zum Messen von Potentialunterschieden dient, uner- 
läßlich. Wenn nämlich unter den beiden Ableitungselektroden das 
Potential auf gleiche Höhe gebracht wird während der Kontraktur, 
dann wird bei diphasischer Ableitung hiervon bei meinem Meßapparat 
nichts zu merken sein, da das Muskelgewebe unter beiden Ableitungs- 
polen in diesem Falle isoelektrisch ist. Ein Ausschlag des Saitengalva- 
nometers erfolgt somit nur bei monophasischer Ableitung. Nach dieser 
Methode erzielte ich nun bei meinen vorgenannten Experimenten 
während der Kontraktur einen langsamen Ausschlag der Saite, nach 
dem vorangehenden schnellen monophasischen Ausschlag. Die elek- 
trische Kurve des Veratrinmyogrammes hatte also eine ähnliche Form 
wie die mechanische Kurve?). 

Da nun die Anfangszuckung durch eine Verkürzung der querge- 
streiften Fibrillen zustande kommt und die in den letzteren verlaufenden 


1) Folia neurobiol. 7, 378 und 837. 1913. — Zeitschr. f. Biol. 65, 239. 1915. 


?) Zeitschr. f. Biol. 61, 143. 1913. 
Pr 


42 S. de Boer: 


Prozesse stets eine kürzere Dauer haben, war es wohl sehr wahrscheinlich, 
daß diejenige Contractur, welche solch eine langsame elektrische Kurve 
bewirkt, auf einem ganz anderen Prozeß beruht. Nun haben die histo- 
logischen Untersuchungen Boekes!) gelehrt, daß die Skelettmuskeln 
doppelt innerviert werden: die cerebrospinale Nervenfaser endigt hypo- 
lemmal in den Kühneschen Endplättchen; daneben befinden sich 
ebenfalls hypelemmal, also in der Muskelfaser, kleine Endplättchen 
(die accessorischen Boekeschen Endplättchen), die mit myelinlosen 
Nervenfasern, also offenbar Sympathicusfasern, verbunden sind. 

Um die hier obwaltenden Verhältnisse zu ermitteln, stellte ich eine 
Untersuchung über die Wirkung der kombinierten Vergiftung der 
_ Skelettmuskeln mit Veratrin und Curare an. Dabei erhielt ich in 
einigen Fällen nach einem Induktionsreize des innervierenden Nerven 
(also nach indirekter Reizung) allein die langsame Kontraktur, der 
keine Zuckung vorherging. Ich erhielt den Eindruck, daß allein in 
einem bestimmten Stadium der Curarevergiftung nach indirekter Rei- 
zung dieses Resultat zu erzielen war. Schritt nämlich die Vergiftung 
weiter fort, dann entstand durch Reizung des Nerven keine Verkürzung 
des Muskels mehr. 

Nach dieser Untersuchung, deren Resultate mich nicht ganz be- 
friedigten, erhob sich die Frage: Wird der Muskeltonus von dem sympa- 
thischen Nervensystem innerviert und kommen die schnelleren Zuckun- 
gen unter dem Einflusse des cerebrospinalen Nervensystems zustande? 
Zwecks Beantwortung dieser Frage griff ich auf das klassische Experi- 
ment Brondgeests zurück, bei welchem ich aber eine Änderung vor- 
nahm. Statt der Hinterwurzeln, die den Hinterfuß innervieren, durch- 
schnitt ich bei Fröschen die Rami communicantes an einer Seite. Es 
zeigte sich, daß hierauf der Tonus des gleichseitigen Hinterfußes ver- 
schwunden war und zwar in demselben Grade wie nach Durchschneidung 
der Hinterwurzeln. (Wenn man die Ergebnisse dieser beiden Versuchs- 
reihen vergleicht, ist es nötig, daß die Extremitäten während einiger Zeit 
keine Kontraktionen gemacht haben, damit ein etwaiger Kontraktions- 
rückstand nicht verwirrend wirke.) Dieselben Versuche wurden bei 
Katzen wiederholt und ebenfalls hier bestätigt; auch einen Monat nach 
der Operation waren die Muskeln des Hinterfußes noch atonisch. 

Nun ist schon seit langem, nämlich seit den Untersuchungen der 
Hermannschen Schule die Tatsache bekannt, daß die Schnelligkeit, 
mit welcher die Muskeln nach dem Tode (des Individuums) zur Leichen- 
starre übergehen, durch deren Innervation beeinflußt wird. Nach Durch- 
schneidung des innervierenden Nerven geht ein Muskel langsamer in 
die Leichenstarre über. Daher stellte ich mir die folgende Frage: Besteht 
ein Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein des Muskeltonus und 


!) Anatomischer Anzeiger 35, 481 und 193. 1909; 44, 343. 1913. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 43 


der Schnelligkeit, mit welcher sich Leichenstarre einstellt? Um nun 
eine Lösung dieser Frage zu erzielen, durchschnitt ich in einer Versuchs- 
reihe bei Fröschen an einer Seite die Hinterwurzeln 8, 9 und 10, von 
denen aus die Hinterextremitäten innerviert werden. Danach trat an 
der gleichseitigen Hinterextremität die Leichenstarre viel später ein als 
an der anderen Seite. Hierdurch wurde der Nachweis geliefert, daß 
atonische Muskeln nicht so schnell zur Leichenstarre übergehen wie 
Muskeln mit erhaltenem Tonus. Es ist von Bedeutung, daß diese Resul- 
tate genau dieselben waren, wenn ich an einer Seite statt der Hinter- 
wurzeln die Rami communicantes durchschnitt. Nachdrücklich weise 
ich noch auf den Umstand hin, daß es keinen Unterschied macht, ob 
die Rami communicantes drei Tage vor dem Leichenstarre-Versuch 
durchschnitten wurden oder ob dieser Versuch sich dem Durchschneiden 
dieser Verbindungsäste direkt anschloß. Jansma!), der diese Experi- 
mente wiederholte und vollkommen bestätigte, entblutete hierbei die 
Frösche. Nach meiner Ansicht muß man, wenn man den beschleunigen- 
den Einfluß des Reflextonus auf das Entstehen der Leichenstarre stu- 
dieren will, diese Versuche an Fröschen anstellen, da bei diesen die Re- 
flexe auch nach dem Entbluten hinreichend lange erhalten bleiben, um 
das Entstehen der Leichenstarre beeinflussen zu können. 

In einer folgenden Versuchsreihe wurde der Einfluß studiert, den 
das sympathische Nervensystem auf die einfache Muskelkontraktion 
ausübt. Aus den von Funke?), Fick®), Yeo und Cash!) und gleich- 
zeitig von Rollett?) angestellten Versuchen hat sich gezeigt, daß die 
einfache Muskelkontraktion, die unter bestimmten Umständen erzeugt 
wird, aus zwei Verkürzungen besteht, und zwar einer schnellen Anfangs- 
zuckung und einer darauf folgenden langsameren tonischen Verkürzung, 
(der Funkeschen Nase). Es gelang Graham Brown®), diese zweite 
Verkürzung unter soviel wie möglich physiologischen Verhältnissen her- 
vorzurufen. Zugleich fand Graham Brown, daß die Funkesche Nase 
infolge von Reizen, z. B. auf der Haut, verschwindet und später wieder 
zurückkehrt. Brown konnte durch Zusammendrücken des Nerven 
zwischen der Reizelektrode die Funkesche Nase verstärken und diese 
schließlich isolieren, während dann das latente Stadium des isolierten 
zweiten Gipfels ungefähr doppelt so groß war als dasjenige für die 
schnelle Anfangszuckung. Es sind dies sehr merkwürdige und wichtige 
Resultate. 


1) Zeitschr. f. Biol. 65, 365. 1915. 

?2) Arch. f. d. ges. Physiol. 8, 213. 1874. 

2) Arbeiten a. d. Physiol. Labor. d. Würzburger Hochschule 1872, S. 65. 
2) Journ. of physiol. 4, 198. 1883. 

5) Arch. f. d. ges. Physiol. 64, 507. 1896 und %1, 209. 1898. 

6) Arch. f. d. ges. Physiol. 125, 491. 308, 


44 S. de Boer: - 


Da die Empfindlichkeit der Funkeschen Nase für Reize auch von 
mir konstatiert wurde, habe ich meine Versuche unter soviel wie möglich 
physiologischen Verhältnissen vorgenommen. Ich ließ dabei den Blut- 
kreislauf intakt, durchschnitt die Rami communicantes an einer Seite 
und verband die Endsehne des M. gastrocnemius mit dem Hebel. Für 
die Entwicklung der Funkeschen Nase ist es von Bedeutung, die ein- 
greifende Operation des Durchschneidens der Rami communicantes einige 
Tage vor dem Versuche auszuführen. Wenn man in der von mir an 
anderer Stelle ausführlich beschriebenen Weise so schonend wie 
möglich verfährt, erst dann kann man erwarten, daß unter soviel wie 
. möglich physiologischen Verhältnissen die Funkesche Nase zum Vor- 
schein kommt. 

Ich wandte dann einen Induktionsreiz zentral und peripher von der 
Lücke im autonomen System an. Dabei wartete ich erst so lange, bis auf 
einen peripheren Reiz die Funkesche Nase auftrat. Sobald ich mit 
Sicherheit dieses Resultat erzielt hatte, wurde der Reiz an 
derselben Seite zentral von den durchschnittenen Rami 
communicantes wiederholt. Nach dem letzten Reiz war dann die 
Funkesche Nase nicht vorhanden und die schnelle Zuckung endigte mit 
einem elastischen Nachschwanken. Zugleich wurde die Entwicklung der 
Funkeschen Nase von einer kleinen zu einer großen tonischen Ver- 
kürzung im Verlaufe von 5—6 Stunden nach der Aufstellung des Prä- 
parates verfolgt. In allen diesen Versuchen fehlte die Funke- 
sche Nase ganz, wenn der Reiz zentral von der Lücke im 
sympathischen Nervensystem angewandt wurde. Viele Kur- 
venpaare, welche den Entwicklungsgang der Funkeschen Nase von 
Stunde zu Stunde demonstrieren und aus denen deutlich hervorgeht, 
daß Reizung zentral von der Lücke im sympathischen Nervensystem 
nur eine einfache Zuckung mit elastischem Nachschwanken bewirkt, 
wurden an anderer Stelle wiedergegeben (siehe auch S. 49 dieser Mit- 
teilung). Wir sind also wohl zu der Annahme genötigt, daß die einfache 
Muskelkontraktion aus zwei Teilen besteht, nämlich einer Anfangs- 
zuckung, die durch einen Reiz vom cerebrospinalen System aus zustande 
kommt und einer tonischen Verkürzung (der Funkeschen Nase), die 
durch einen längs dem sympathischen Nervensystem nach dem Muskel 
fließenden Impuls entsteht. Als meine erste Mitteilung über die sym- 
pathische Innervation des Muskeltonus erschienen war, publizierte 
danach Dusser de Barenne einen kurzen Artikel, in welchem er mit- 
teilte, daß er im Jahre 1910 Versuche über decerebrate rigidity angestellt 
und dabei den Einfluß der einseitigen Exstirpation des Grenzstranges 
untersucht habe (ohne hierüber in irgendeiner Form etwas mitzuteilen). 
Ich betone hier denn auch ausdrücklich, daß mir von derartigen Ver- 


1) Folia neurobiol. %, 651. 1913. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 45 


suchen Dusser de Barennes absolut nichts bekannt war, als ich meine 
ersten Untersuchungen über die Symphathicusinnervation der Skelett- 
muskeln anstellte und veröffentlichte. 

Nach meinen ersten Publikationen hat Dusser de Barenne über 
diesen Gegenstand einige Artikel geschrieben. Wenn man aber die 
Publikationen Dusser de Barennes liest, trifft man bei der Bespre- 
chung der Experimente anderer immer wieder den von ihm benutzten 
Ausdruck ‚‚nicht einwandfrei“. Indessen bleibt er oft, wenn er die 
Argumente anführt, die Angabe schuldig, warum die Versuche anderer 
nicht einwandfrei sind. Es ist daher vielleicht nicht unerwünscht, ein- 
mal die Experimente Dusser de Barennes näher zu betrachten, so- 
weit er darüber objektive Daten in seinen Arbeiten beibringt. Bei dem 
Wiedergeben eigener experimenteller Arbeit ist nämlich dieser Unter- 
sucher äußerst zurückhaltend. Eine mehr detaillierte Beschreibung und 
namentlich eine reichlichere Illustration durch Abbildungen, wie dies von 
mir stets getan wird, wäre nicht überflüssig. 

Nachdem wir die Behauptung gehört haben, daß nach Exstirpation 
des Grenzstranges an einer Seite der Tonusverlust bei Fröschen nicht 
vollständig ist (was aber, wie sich aus meinen genauen Messungen ergibt, 
dennoch der Fall ist), bietet Dusser de Barenne eine Abbildung von 
zwei Fröschen dar, bei denen er an einer Seite die Rami communicantes 
und an der anderen Seite die Hinterwurzeln durchschnitten hat !!). 

Nun kann man allein den größeren oder geringeren Beugestand der 
beiden hinteren Extremitäten bei einem Frosch beurteilen, wenn die 
Hinterfüße frei herunterhängen. So verfuhr Brondgeest immer, so 
hielt ich es auch stets bei meinen Experimenten. Wir sehen an der Ab- 
bildung, in welcher Weise Dusser de Baren.ne seine Experimente aus- 
führt. Die Hinterfüße stützen sich notabene bei Frosch A 
gegenseitig mit den Fersen, so daß die größere oder geringere 
Atonie der Muskeln einer der beiden hinteren Extremitäten absolut 
nicht zum Ausdruck gelangen kann in dem verschiedenen Stande der 
Extremitäten. Fin anderes Mal läßt Dusser de Barenne wieder die 
Extremitäten frei herabhängen; er läßt es also nur vom Zufall ab- 
hängen, ob die Füße nun das eine Mal frei herabhängen, das andere Mal 
nicht 

Die Experimente, welche ich über den beschleunigenden Einfluß des 
autonomen Nervensystems auf das Auftreten der Leichenstarre anstellte, 
werden auch von Dusser de Barenne einer Kritik unterworfen, und 
zwar in den folgenden Worten: 

„In erster Linie möchte ich bemerken, daß diese Versuche meines Erachtens 


nicht beweisend sind. de Boer hat die betreffende Operation an allen Tieren aus- 
geführt, von !/, Stunde bis 3 Tagen, bevor er den Frosch durch Unterbindung des 


1) Arch. f. d. ges. Physiol. 166, 145. 1916. 


F4 


46 S. de Boer: 


Herzens tötete. Somit sind in den betreffenden Muskeln vasomotorische Stö- 
rungen während kürzerer oder längerer Zeit vorhanden gewesen. Daß diese aber 
höchstwahrscheinlich Veränderungen in der inneren Respiration und in dem 
Stoffwechsel dieser Muskeln zur Folge gehabt haben, ist oben ausführlich aus- 
einandergesetzt (bei der Kritik der Arbeit Mansfelds [de Boer]). Es ist somit 
keineswegs unmöglich, ja selbst wahrscheinlich, daß die aufgefundene Ver- 
spätung in dem Entstehen der Totenstarre der betreffenden Muskeln auf diese 
Änderungen in der vasomotorischen Innervation zurückzuführen wäre.“ 

Hierzu ist die Bemerkung meinerseits nicht überflüssig, daß in einer 
sroßen Zahl meiner Versuche die Unterbindung des Herzens direkt 
nach dem Durchschneiden der Rami communicantes folgte. Der Frosch 
wurde in. diesen Versuchen in Rückenlage auf eine Korkplatte gespannt. 
Dann wurde der Bauch geöffnet, dieRami communicantesdurchschnitten, 
das Herz unterbunden und der Bauch gleich wieder geheftet. So verlief 
in diesen Versuchen eine Viertelstunde zwischen dem Aufspannen des 
Frosches und seinem Aufhängen in den Schrank. Es wäre doch undenk- 
bar, da ich absichtlich 1, 2 oder 3 Tage zwischen dem Durchschneiden des 
Rami communicantes und dem Unterbinden des Herzens verlaufen ließ, 
daß von mir diese Zwischenzeit nun geflissentlich auf die Mindestdauer 
von einer Viertelstunde beschränkt wurde. Außerdem betone ich hier 
nochmals, daß das Ergebnis der Versuche absolut dasselbe blieb, ob 
ich nun das Herz sofort oder 3 Tage nach dem Durchschneiden des Rami 
communicantes unterband. Es ist vielleicht nicht unerwünscht, darauf 
hinzuweisen, daß Jansma meine Experimente wiederholte und be- 
stätigte. Dieser exstirpierte den Grenzstrang an einer Seite und entblutete 
die Frösche durch Durchschneiden des Herzens. Auch er führte diese 
Handlungen direkt nacheinander aus; wenigstens geht aus seiner Be- 
schreibung nicht hervor, daß er dazwischen einige Zeit verlaufen ließ, 
was auch nicht rationell wäre. Nachdrücklich muß ich hier darauf hin- 
weisen, daß der Zusammenhang zwischen dem Reflextonus und dem 
Beschleunigen der Leichenstarre am besten bei Fröschen studiert werden 
kann und dies zwar gerade darum, weil bei ihnen die Reflexe auch nach 
dem Entbluten hinreichend lange bestehen bleiben, den Prozeß der 
Leichenstarre zu beschleunigen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nun 
auf diesen Punkt lenken, dann berührt es wohleigentümlich. daß Dusser 
de Barenne nun gerade bei entbluteten Säugetieren hierüber experi- 
mentierte. 
Übrigens erklärte Dusser de Barenne schon ehe er Versuche über 
die Leichenstarre angesteilt hatte, in einer Debatte!) hierüber, daß 
Leichenstarre auf einem rein physischen Prozeß beruhe und nichts mit 
dem Leben zu tun habe. Bereits damals wurde der Zusammenhang 
zwischen Leichenstarre und Muskeltonus von ihm geleugnet. Insofern 
sind seine 5 Experimente hiermit in Übereinstimmung. Nach den 


1) Werken van het Gen. t. bev. v. Nat.-Gen. en Heelkunde 1917, S. 619. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 47 


Experimenten Dusser de Barennes beeinflußt Wegnahme des Grenz- 
stranges zwar den Muskeltonus, aber nicht die Schnelligkeit des Auf- 
tretens der Leichenstarre. Es scheint mir überflüssig, hier diesen Zu- 
sammenhang noch näher zu besprechen; ich verweise diesbezüglich auf 
meine Mitteilungen in der Zeitschr. f. Biologie, Bd, 65 S 239, wo gleich- 
zeitig die Literatur verzeichnet ist. 

An dem betreffenden Physiologentage, wo Dusser de Barenne 
seine an Katzen ausgeführten Experimente als chron’sche Versuche 
meinen Experimenten die nach seiner Ansicht akut gewesen sein sollen, 
gegenüberstellte, habe ich schon bemerkt, daß auch meine Versuche sich 
auf langdauernde Beobachtungen erstreckten. Nach Exstirpation des 
rechten Grenzstranges waren nämlich die Muskeln des rechten Hinter- 
fußes bei Katzen nach reichlich einem Monat noch atonisch und bei 
Fröschen noch nach 3 und mehr Tagen. Weder bei den Katzen, noch 
bei den Fröschen war die Atonie während dieser Zeit ganz oder teilweise 
zurückgegangen. 

In den sog. akuten Experimenten soll nach Dusser de Barenne 
die Hypotonie einem Schock zugeschrieben werden können !). Dies 
müßte dann auch ein Schock sein ‚der bei den Katzen länger als einen 
Monat dauert und bei Fröschen 3 und mehr Tage. Dieser Schock soll 
durch das Durchschneiden der im Grenzstrang verlaufenden zentripetalen 
Fasern entstehen. Sonderbarerweise vergleicht Dusser de Barenne 
diesen eventuell auftretenden Schock mit den ‚reflektorisch ausge- 
lösten Schockerscheinungen im Goltzschen Klopfversuch“. Wie Dusser 
de Barenne mit sich selbst in Widerspruch gerät, möge aus den folgen- 
den Zitaten hervorgehen: 


Im Arch. f. d. ges. Physiol. 166, 166 finden wir: ‚In erster Linie drängt sich 
dann die Frage auf, ob diese Hypotonie nicht etwa auf eine Art Schock zurück- 
zuführen sei. Für diese Ansicht könnten folgende Momente geltend gemacht wer- 
den: 1. Durch die Exstirpation des Bauchstranges werden neben den zentrifugalen 
auch zahlreiche zentripetale autonome Impulse ausgeschaltet und 2. haben wir 
gute Gründe anzunehmen, daß durch diesen Eingriff auch zahlreiche schock- 
verursachende Reize dem Zentralnervensystem zugeführt werden; (man denke 
nur zum Beispiel an die reflektorisch ausgelösten Schockerscheinungen im Goltz- 
schen Klopfversuch)“. 

- Auf S. 167: „Es ließe sich weiter fragen, inwieweit die von der Bauchstrang- 
exstirpation herrührenden in den Muskeln und höchstwahrscheinlich auch im 
Rückenmark (reflektorisch ausgelöst), bestehenden vasomotorischen Störungen in 
der Genese der initialen Hypotonie eine Rolle spielen. Daß diesem Faktor in 
dieser Hinsicht eine große Bedeutung zukomme, ist mir allerdings nicht sehr 
wahrscheinlich. de Boer hat die Tonusabnahme auch beobachtet an Fröschen, 
denen er die ganze Leibeshöhle ausgeräumt hatte.‘ 

Und dennoch spricht D. de Barenne von Schock nach einseitiger 


Bauchstrangexstirpation, obschon ich in meiner Mitteilung in der 


!) Jedoch fügt de Barenne hinzu, daß diese Erklärung ihn nicht voll- 


auf befriedigen kann. r 


48 S. de Boer: 


Zeitschr. f. Biologie auf S. 262 darauf hıngewiesen habe, daß nach dem 
Entleeren des Abdomens der Effekt des Durchschneidens der Rami 
communicantes, nicht dem Durchschneiden der vom Grenzstrang 
kommenden afferenten Bahnen zugeschrieben werden muß. Merk- 
würdig sind die Resultate, welche D. de Barenne bei seinen Katzen 
erzielte. Während 4 Wochen nach der Exstirpation noch Hypotonie der 
Muskeln des gleichseitigen Hinterfußes bestand, war 7—8 Wochen 
nach diesem Eingriff kein Unterschied zwischen den beiden Hinter- 
füßen mehr zu spüren. Die äußerst kurze und karge Beschreibung ge- 
stattet nicht, daß man sich ein hinreichend objektives Urteil bilden 
kann. Gern hätte ich wenigstens neben Abb. 1 seiner Mitteilung auch 
noch eine Abbildung gesehen, die dieselbe Katze 7—8 Wochen nach der 
Exstirpation des Grenzstranges in derselben Haltung mit gleichen Ge- 
wichten an den beiden Hinterfüßen darstellt. Dann hätten wir ver- 
gleichen und urteilen können. Wir hätten dann sehen können, ob der 
Fuß an der operierten Seite denselben Beugestand zeigte, wie 
der Fuß an der nicht-operierten Seite. Aus keinem einzigen Worte seiner 
Beschreibung geht hervor, daß dies der Fall ist. Nur kann man aus der 
Mitteilung schließen, daß die Haltung beider Extremitäten nach 
8 Wochen gleich ist. Aber das istnicht genügend. D. de Barenne hätte 
nachweisen müssen, daß der Beugetonusan der operierten Seite 
zurückgekehrt war. Dies hat er nicht getan. Im Gegenteil: mit 
seinen doppelseitigen Vastocrureuspräparaten weist er nach, daß auch 
dann noch der Tonus an der operierten Seite vermindert ist. Merk- 
würdigerweise denkt Dusser de Barenne dann wieder an Schock 
(gewiß wieder ebenso wie in dem Goltzschen Klopfversuch), der 
dann an derjenigen Seite nicht auftreten soll, wo der Grenzstrang 
noch bestand. 

Ich getraue mir nun folgendes anzunehmen. Wenn D. de Barenne 
mit seinen Vastocrureuspräparaten nach 7—8 Wochen auch eine Tonus- 
abnahme findet, bestätigt er meine Beobachtung völlig. Findet 
nun D. de Barenne nach dem Anhängen von Gewichten 7—8S Wochen 
nach der Operation einen gleichen Stand der Hinterfüße, dann würde 
dieser Befund allein dann Wert haben, wenn dies ein gleicher 
Beugestand wäre. Dies können wir seit den bei den Vastocrureus- 
präparaten erzielten Resultaten nicht erwarten. Ich vermute also, 
daß der gleiche Stand ein Streckstand gewesen ist. Die Katzen 
haben nach den langdauernden wiederholten Experimenten, die sich 
auf Wochen erstreckten, allmählich auch an der nicht-operierten 
Seite dem Zuge der schweren Gewichte mehr und mehr nachgegeben 
und den Hinterfuß an dieser Seite gestreckt. Damit wäre auch das 
Geheimnisvolle aus den Experiwenten mit den Vastocrureuspräparaten 
gelöst. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 49 


In einer Mitteilung, die in den Berichten der Königlichen Akademie 
der Wissenschaften in Amsterdam!) erschien, hat D. de Barenne 
weitere Kritik ausgeübt und Experimente mitgeteilt. Die Kritik, welche 
er vor 3 Jahren an der Arbeit Mansfelds geübt hatte, widerruft er hier 
völlig, da dieselbe nicht stichhaltig war. Hieraus muß ich wohl schließen, 
daß D. de Barenne der Ansicht ist, daß die Kritik meiner Arbeit wohl 
stichhaltig ist. Die einzigen Daten, die uns in dem betreffenden Artikel 
von seiner Hand verschafft werden, bestehen aus 3 Abbildungen mit 
ihren Unterschriften. Im Text finden wir nichts angegeben über die 
Weise, wie die Versuche angestellt wurden. Wir müssen uns also zu- 
frieden geben mit den Unterschriften. Zur Einleitung mögen einige Be- 
merkungen vorausgesandt werden. Wie oben schon auseinandergesetzt 
wurde, kann man die Funkesche Nase nach einem Induktionsreiz nicht 
regelmäßig zum Vorschein rufen; vielmehr erscheint sie nur ausnahms- 
weise unter den gewöhnlichen experimentellen Verhältnissen. Nur dann, 
wenn man unter möglichst physiologischen Verhältnissen arbeitet, kann 
man die Funkesche Nase noch am besten hervorrufen. Daher exstir- 
pierte ich vorzugsweise den Grenzstrang einige Tage zuvor, ließ den. 
Blutkreislauf intakt, machte einen Schnitt über den Gastrocnemius in 
die Haut und registrierte auf diese Weise die Muskelkurven ohne die 
Frösche mehr zu lädieren und zu reizen. Allein dann, wenn Reizung 
peripher von der Lücke in den Rami communicantes eine Funkesche 
Nase ergab, konnte dieses Resultat mit den Kurven verglichen werden, 
die durch zentral von der Lücke erfolgende Reizung erhalten wurde. 

Reichlich 5 Stunden nach diesen Eingriffen erhielt ich die Kurven, 
die in Abb. 1 wiedergegeben sind. Ich reizte nun peripher und zentral 


Abb. 1. 


von der Lücke in den Rami communicantes. Kurve 1 entstand nach 
einem Reize peripher von der genannten Lücke. Wir sehen in dieser 
Kurve eine deutliche Funkesche Nase. Zweifel ist hier völlig ausge- 
schlossen. Wenn nun der Reiz zentral von der Lücke in den Rami com- 
municantes wiederholt wird, entsteht Kurve 2, die vielkürzer dauert, 
keine Funkesche Nase aufweist und mit einer elastischen Nachschwan- 
kung endigt. Nunmehr wollen wir einmal die Arbeit D. de Barennes 


!) Koninkl. Ak. van Wet. 1919. 27. 937. 
Pr 
Pflügers Arehiv f. d. ges, Physiol. Bd. 190. 4 


50 S. de Boer: 


näher betrachten. Aus der Beschreibung geht absolut nicht hervor, daß 
hinreichende Fürsorgemaßnahmen getroffen wurden, die Funkesche 
Nase zu erzielen. Auch läßt sich nicht erkennen, ob der Blutkreislauf 
intakt gelassen wurde. Jedesmal wurde der rechte Grenzstrang exstir- 
piert. Dann wurden nach Reizung des Rückenmarks vom linken und 
rechten Gastrocnemius die Kurven registriert. Drei Kurvenpaare, die 
ohne Zweifel in der Ausführung mangelhaft sind, wurden publiziert. 
Eine Funkesche Nase aber ist nicht aus den Kurven abzu- 
lesen. Ein paar Kurven machen den Eindruck, daß sie registriert 
wurden, während in der Aufstellung etwas haperte; wenigstens sind diese 
Kurven etwas eckig ausgefallen und bleiben mit einer elastischen Nach- 
schwankung weit über dem 0-stand stehen. Hiermit hat Dusser de 
Barenne bewiesen, daß die Funkesche Nase oft nicht vor- 
kommt. Dusser de Baren.ne scheint dies nicht zu wissen; wenigstens 
beweisen diese Kurven nach seiner Meinung, daß auch nach Exstirpation 
desGrenzstranges nach Reizung zentral von der Lücke die Funkesche Nase 
wohl auftritt. Er fügt noch hinzu, daß dies positive Moment gegenüber 
. dem negativen Resultat de Boers natürlich beweisend ist. Hierauf 
werde ich mich vorläufig beschränken. 

Überdies weise ich darauf hin, daß meine experimentellen Daten über 
den Sympathicustonus von den drei japanischen Untersuchern: Ken 
Kure, Tohei Hiramatsu und Hachiro Naito!) bestätigt wurden, 
die nach Durchschneidung der N. N. splanchnici den Tonus des Dia- 
phragmas verschwinden sahen, während dieser bestehen blieb nach 
Durchschneidung der N. N. phrenici. Sie führten ihre Experimente an 
Hunden, Katzen, Kaninchen und Affen aus und bestätigten ihre Re- 
sultate durch Betupfen des Ganglion coeliacum mit Nicotin. Weitere 
Bestätigung meiner Versuche erfolgte von seiten Mansfelds und seiner 
Mitarbeiter ?). 

Negrin y Lopes und v. Brücke?) gelangten wieder zu anderen 
Ergebnissen. Sie fanden allein eine initiale Abnahme des Tonus nach 
Exstirpation des Grenzstranges an einer Seite. Ich fand auch bei ihnen 
keine Angabe, ob wirklich wieder ein Beugetonus an der operierten Seite 
vorhanden war. Da sie in ihrer Arbeit keine Photographien bringen, 
können wir uns darüber absolut kein Urteil bilden. Wenn zwar ein 
gleicher Stand der Extremitäten von ihnen gefunden wurde, aber an 
der operierten Seite nicht fraglos ein Beugetonus vorhanden war, dann 
lehren ihre Experimente uns nichts. Im strikten Gegensatze zu Dusser 
de Barenne fanden Negrin y Lopez und v. Brücke, daß auch bei 
Säugetieren nach Wegnahme des Grenzstranges das Eintreten der 


t) Zeitschr. f. experim. Pathol. u. Ther. 16, 395. 1914. 


?) Arch. f. d. ges. Physiol. 161, 467., 478 und 483. 1915.: 
®) Arch. f. d. ges. Physiol. 166, 55. 1916. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 51 
Leichenstarre verzögert wird; sie vermochten somit meine bei Fröschen 
erhaltenen experimentellen Data für Säugetiere vollkommen zu be- 
stätigen. Übrigens bestätigte auch Jansma meine Versuche mit ent- 
bluteten Fröschen. In diesem Punkte herrscht also fast allgemeine 
Übereinstimmung. Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, daß 
nicht allein Exstirpation des Grenzstranges, sondern auch Durchschnei- 
dung der Hinterwurzeln dasselbe Resultat zeigt. Auch dies wurde 
zuerst von mir festgestellt. Daß nun gleichzeitig die Vasoconstrictoren 
für die Hinterfüße durchgeschnitten waren, habe ich schon vorher be- 
sprochen!). Aus diesem Grunde hemmte ich auch direkt nach der 
Durchschneidung der Rami communicantes den Blutkreislauf. Übrigens 
erhielt Jansma dasselbe Resultat nach Entblutung. 

Dusser de Barenne ist der einzige, der keinen Zusammenhang 
zwischen dem Vorhandensein des Grenzstranges und der Schnelligkeit, 
mit der die Leichenstarre eintritt, findet. Dieser Haltung entspricht 
völlig seine Äußerung über diesen Gegenstand auf einem früheren Phy- 
siologentage; jedoch hatte er damals noch kein einziges Experiment 
hierüber angestellt. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, hier auf die Ex- 
perimente Dusser de Barennes weiter einzugehen. Wohl aber muß 
ich noch kurz stillstehen bei der Erklärung, die Negrin y Lopez und 
v.Brücke für ihre Leichenstarre-Versuche glauben geben zu müssen. 
Diese Autoren sind der Meinung, daß die Verzögerung des Eintretens 
der Leichenstarre in ihren Versuchen auf Vasodilatation infolge des 
Durchschneidens der Vasoconstrietoren zurückzuführen ist. Nun ist zu 
bemerken, daß sie ihre Versuche eine Woche nach dem Exstirpieren des 
Grenzstranges ausführten. Inzwischen wird wohl die initiale Vasodila- 
tation Gelegenheit gehabt haben, sich wiederherzustellen. Außerdem 
töteten sie die Tiere durch Herzstich, also durch Entbluten. Es scheint 
also a priori wohl etwas spitzfindig, die zeitweilige Vasodilatation für 
die Verzögerung des Leichenstarreprozesses verantwortlich zu machen. 
In-jedem Falle aber müßte man, falls man diesen Zusammenhang an- 
nehmen will, hierfür sehr einwandfreie Gründe anführen. Diejenigen 
Experimente aber, welche genannte Autoren zwecks Klarstellung des 
Leichenstarreproblems ausführten, liefern hierfür sogar nicht einmal 
den Schein eines Beweises. Sie rufen nämlich bei Katzen in dem Hinter- 
fuße an einer Seite durch Stauung eine starke Blutfüllung hervor und 
suchen nun den Unterschied an Blutfüllung beider Hinterfüße so groß 
wie möglich zu machen, indem sie den Hinterfuß der anderen Seite anä- 
misieren. Dann töten sie die Katzen und finden, daß die Muskeln des- 
jenigen Hinterfußes, der am stärksten mit Blut gefüllt war, später er- 
starren. 

1) Folia neurobiol. %, 378 .und 837. 1913. — Zeitschr. f. Biol. 65, 
239. 1915. Ba 

4” 


52 | S. de Boer: 


In diesem Umstande sehen die Autoren einen Beweis, daß nach 
Sympathicusexstirpation die Verspätung der Leichenstarre eine Folge 
der Hyperämie ist. Schon oben wies ich darauf hin, daß die aktive 
Hyperämie nur vorübergehend besteht nach Durchschneidung der Vaso- 
constrietoren und daß die Katzen entblutet wurden. 

Aber die Kontrollversuche mit der stärkeren Stauung beweisen ein 
ganz anderes Moment, das für den Leichenstarreprozeß von Bedeutung 
ist. Wir wissen nämlich durch die Versuche Fletchers!) und Winter- 
steins?), daß die unmittelbare Ursache der Leichenstarre in dem durch 
Sauerstoffmangel bewirkten chemischen Zustand der Muskeln besteht. 
Dieser chemische Zustand hängt von dem Vorhandensein intermediärer 
Stoffwechselprodukte ab, worauf ich schon in meiner vorigen Mitteilung 
die Aufmerksamkeit lenkte. Diese intermediären Stoffwechselprodukte 
bilden einen chemischen Reiz für das Entstehen der Leichenstarre. Wenn 
nun Lopez und v. Brücke einen Fuß, der stark mit Blut gefüllt ist, 
zur Leichenstarre übergehen lassen, werden die intermediären Stoff- 
wechselprodukte im Blute diffundieren, während dieselben in dem blut- 
leeren Fuße in den Muskeln angehäuft bleiben. So haben sie also einen 
schönen Beweis geliefert für die Betätigung der intermediären Stoff- 
wechselprodukte als Reiz für das Entstehen der Leichenstarre. 

Aber neben diesem chemischen Reiz kennen wir den nervösen Reiz, 
der gleichzeitig den Prozeß der Leichenstarre beschleunigt. Dieser ner- 


vöse Reiz erreicht nun die Muskeln längs dem sympathischen Nerven- ' 


system. Ausführlich wurden diese Punkte behandelt in meiner vorigen 
Mitteilung. 

Eine kurze Entgegnung erfolgte noch durch Yas Kuno?°). Dieser 
Untersucher durchschnitt an einer Seite die Rami communicantes und 
dehnte dann den gleichseitigen Gastrocnemius durch Anhängen eines 
Gewichtes. Während die Dehnung noch fortschritt, kühlte er den N. 
ischiadicus lokal ab; in diesem Augenblicke erfolgte dann die Dehnung 
noch schneller. Sonderbarerweise stellte sich nach dem Aufhören der 
Abkühlung der ursprüngliche Zustand nicht wieder her. Man sollte nun 
erwarten, daß sich der Tonus, falls das schnellere Fortschreiten der 
Dehnung durch Tonusverlust zustande käme, wieder einstellen müßte, 
wenn mit dem Abkühlen innegehalten würde. Davon bemerken wir 
aber nichts in der publizierten Kurve. Warum hat Kuno nun nicht 
direkt nach dem Abkühlen lokal den Nerven erwärmt, dann hätte sich 
der Tonus doch gewiß wieder einstellen müssen? Dieses einfache Kon- 
trollexperiment wurde in dem Versuch mit Durchschneiden der Rami 
communicantes nicht ausgeführt, sonderbarerweise aber wohl in dem 


!) Journ. of physiol. 28, 474. 1902. 
?) Arch. f. d. ges. Physiol. 120, 225. 1907, 
®) Journ. of physiol. 49, 139. 1915. 


Die autonome Innervation des Skelettmuskeltonus. 53 


Experiment mit Durchschneidung der Vorderwurzeln, bei dem es völlig 
überflüssig war. 

Dann teilt Kuno noch mit, daß in Froschversuchen bei Kaltfröschen, 
wo der Muskel durch das cerebrospinale System mit dem Zentralnerven- 
system verbunden war, während die Rami communicantes durch- 
schnitten waren, nach einem Reiz vom Nerven aus wohl Kontraktions- 
rückstand auftrat. Kuno glaubt auch hierin einen Beweis sehen zu 
müssen, daß der Skelettmuskeltonus nicht autonom innerviert wird. 
Der Umstand, daß bei Kaltfröschen (und auch bei anderen Fröschen) 
nach Durchschneidung der Rami communicantes Kontraktionsrückstand 
auftritt, nach Reizung von dem noch mit dem Zentralnervensystem ver- 
bundenen Nerven aus, beweist m.E. allein, daß das Zentralnervensystem 
bei Kaltfröschen in starkem Grade die Eigenschaft der Nachwirkung 
besitzt, nichts mehr und nichts weniger. 

Es scheint mir, daß hiermit die Einwände gegen die autonome Inner- 
vation des Muskeltonus hinreichend widerlegt sind. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. 
II. Mitteilung. 


Untersuehungen mit Alkaloidsalzen und einigen anderen organischen 
Elektrolyten. 


Von 
Joseph Vorschütz. 


(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Kiel.) 
Mit 3 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 13. April 1921.) 


In der kürzlich veröffentlichten ersten Mitteilung!) über das Thema 
„BRuhestrom und Durchlässigkeit‘ wurde gezeigt, .daß es nach den 
elektrochemischen Beobachtungen von Beutner?) an „Ölketten‘‘ mög- 
lich sein sollte, die Verteilung organischer Elektrolyte auf lebende Ge- 
webe dadurch zu bestimmen, daß man die elektromotorische Kraft der 
durch sie hervorgerufenen Ruheströme mißt; Salze mit organischem 
Kation sollten im Verhältnis zu Kochsalz die mit ihnen in Berührung ge- 
brachten Gewebspartien elektronegativ machen, Salze mit organischem 
Anion sollten Elektropositivität erzeugen, falls sich die Salze stärker 
als das Kochsalz auf die zweite Phase Gewebe verteilen würden. Diese 
Möglichkeit wurde in einer ersten Versuchsreihe an Farbstoffen geprüft, 
weil durch die vielfältigen Experimente über Vitalfärbung ein besonders 
reiches Erfahrungsmaterial über deren Verteilung auf lebende Gewebe 
angesammelt war, das zur Erprobung der Stichhaltigkeit der Theorie 
einlud, und es wurde beobachtet, welchen Einfluß die Salze von Farb- 
basen und Farbsäuren auf den Ruhestrom des Froschmuskels ausüben. 
Dabei zeigte sich jedech, daß die Elektronegativität, die die basischen 
Farbstoffe durch Verteilung hervorrufen können, schwer gegen die 
Elektronegativität abzugrenzen ist, die sie durch Schädigung des Ge- 
webes hervorrufen (Demarkationsstrom), daß ferner auch die Säure- 
farbstoffe in vielen Fällen Elektronegativität bewirken, weil sie giftig 
sind, und daß die wenigen Säurefarbstoffe, welche deutlich vital färben, 


1!) J. Vorschütz, Arch. f. d. ges. Physiol. 189, 181. 1921. 

2) R. Beutner, Die Entstehung elektrischer Ströme in lebenden Geweben 
und ihre künstliche Nachahmung durch synthetisch-organische Substanzen. 
Stuttgart 1920. 


J. Vorschütz: Ruhestrom und Durchlässigkeit. II. 55 


zumeist so schwer löslich sind, daß infolgedessen der elektrische Effekt 
gering ausfällt oder ganz vermißt wird. Als Stütze für die leitende 
Hypothese blieben eigentlich nur zwei Feststellungen übrig, erstens die 
Beobachtung, daß die wenigen Säurefarbstoffe (3 unter 34), welche elek- 
tropositiv machen, wirklich Vitalfärber sind, und zweitens die Beobach- 
tung, daß die wenigen relativ ungiftigen basischen Farbstoffe, welche 
einen kleinen Verteilungsfaktor haben, auch nur schwach und langsam 
negativieren. 

Ich habe mich aus diesem Grund auf Anregung und unter Leitung von 
Herrn Professor Höber jetzt einer zweiten Gruppe von organischen Elek- 
trolyten zugewendet, um mit ihnen die Angemessenheit der Hypothese 
zu prüfen, nämlich der Gruppe der Alkaloidsalze.. Wie etwa nach 
Beutner Anilinhydrochlorid oder Dimethylanilinhydrochlorid wegen 
ihrer relativ stärkeren Löslichkeit in „Ölen“ eine stärkere negative 
Phasengrenzkraft erzeugen, als ein anorganisches Chlorid, so sollte das 
auch für die Alkaloidsalze zutreffen. Ein Bedenken mußte freilich von 
vornherein aufkommen: während nach OÖverton!) und Ruhland?) 
die Vitalfarben als Ganzes von den Zellen aufgenommen werden, dringen 
nach den Feststellungen derselben Beobachter von den Alkaloidsalzen 
nur die durch Hydrolyse in Freiheit gesetzten Basen ein. Für die 
Aufnahme der unzersetzten Farbstoffe spricht nach Overton zum 
Beispiel die Feststellung, daß das Rosanilinchlorhydrat und das Ros- 
anilinacetat in Pflanzenzellen gleich rasch eindringen, obwohl das 
letztere als Salz einer schwächeren Säure stärker hydrolysieren, in seiner 
Lösung also die Konzentration an freier Farbbase größer sein muß; 
käme es also für die Vitalfärbung auf die freie Base an, so müßte das 
Acetat rascher färben als das Hydrochlorid. — Ganz anders bei den 
Alkaloiden! Hier zeigte Överton?°), daß die freien Basen die Salze weit 
an Giftigkeit übertreffen und daß, wenn man die Hydrolyse durch Zusatz 
einer Spur von Säure zu der Alkaloidsalzlösung zurückdrängt, die Giftig- 
keit ganz oder fast ganz verschwindet, während eine leichte Alkalisierung 
die Giftigkeit der Salze enorm steigert; Ruhland?) verglich die freie 
Cocainbase und das Cocainhydrochlorid in bezug auf ihre Fähigkeit, im 
Zellsaftraum von Spirogyra eine Ausfällung der Gerbsäure hervor- 
zurufen, und fand, daß eine 2,5 - 10°? norm. Lösung der Base mit einer 
10°? norm. Lösung des Salzes äquivalent ist, was ungefähr einer gleich 
großen Konzentration an freier Base in beiden Lösungen entspricht. 
Ruhland zeigte ferner mit der Methode der Summierung der Partial- 
drucke, daß Piperidin-Hydrochlorid stundenlang Spirogyrazellen plasmo- 


1) Overton, Jahrb. f. wissensch. Batanik 34, 669. 1900. 
?) Ruhland, ebenda 46, 1. 1908. 

®) Overton, Zeitschr. f. physikal. Chemie 2%, 189. 1898. 
*#) Ruhland, Jahrb. f. wissensch. Botanik 54, 391. 1914, 


7 


56 J. Vorschütz: 


lysiert hält, ohne daß die Plasmolyse zurückgeht, während die freie 
Base augenblicklich eindringt und giftig wirkt. — Danach erscheinen 
die Alkaloidsalze zunächst sehr wenig geeignet für die Entscheidung der 
hier aufgeworfenen Frage; denn wenigstens in den bei den angeführten 
pflanzenphysiologischen Versuchen verwendeten Konzentrationen schei- 
nen die Alkaloidsalze sich überhaupt nicht auf die Protoplasten zu ver- 
teilen. 


Die Beobachtungen an den Spirogyren können aber nicht ohne - 


weiteres verallgemeinert werden. Boresch!) untersuchte im Labora- 
torium von Czapek die Permeabilität für Alkaloide an einem anderen 
pflanzlichen Objekt, an den Blattzellen eines Mooses Fontinalis anti- 
pyretica, welche in ihrer Zellsaftvacuole ein ‚Fettknäuel‘ enthalten, 
das durch verschiedene ins Innere eindringende Stoffe, unter anderen 
auch durch Alkaloide in feinste Fetttröpfchen emulgiert werden kann, 
die sich bei Entfernung des emulgierenden Agens wieder von neuem zu 
den ‚„Myelinfäden‘‘ des Knäuels aggregieren. Dabei fand er, daß die 
Konzentrationsgrenze für das Emulgierungsvermögen der freien Alka- 
loidbasen und ihrer Salze fast genau übereinstimmt, und daß bei der 
Prüfung von Lösungen mit etwas höherer Konzentration auch kein deut- 
licher zeitlicher Unterschied für den Beginn der Emulgierung zu kon- 
statieren war, so daß man hier zu demselben Schluß wie bei den Farb- 
stoffen kommt, daß die Alkaloidsalze als solche ebenso gut aufgenommen 
werden können, wie die freien Basen. Dem entspricht auch der weitere 
Befund von Boresch, daß auch schwaches Ansäuern (mit einer an sich 
ungiftigen Menge Salzsäure) und dadurch Zurückdrängen der Hydrolyse 
die Giftigkeit der Alkaloidsalze (Chininhydrochlorid) keineswegs ver- 
ringert?). 

Wie verhalten sich nun tierische Zellen? Über den Unterschied zwi- 
schen der Giftigkeit der freien Basen und der Salze, der uns hier inter- 
essiert, ist bisher kaum etwas bekannt. Overton beobachtete, daß 
Fische in einer Lösung von Strychninnitrat stundenlang ungestraft 
herumschwimmen können, wenn man die Lösung schwach ansäuert, 
während sie rasch getötet werden, wenn man sie mit ein wenig Soda 
alkalisch macht, und ähnlich beobachtete v. Prowazek?), daß die 
Giftigkeit von Atropinlösungen (— es sind wohl die Lösungen der freien 
Base gemeint —) für Colpidien durch leichtes Ansäuern abnimmt. 


1) Boresch, Biochem. Zeitschr. 101, 110. 1920. 

®) Das Ergebnis des Gegenversuches, nach dem Alkalisieren die Giftigkeit 
steigert, steht damit nicht im Widerspruch; denn auch die Giftigkeit der freien 
Alkaloidbasen kann durch Alkalizusatz verstärkt werden, was nach Traube 
und Onodera so zu erklären ist, daß die Dispersität und Oberflächenaktivität 
der in kolloider Form gelösten freien Basen durch das Alkali erhöht wird. 
(Zeitschr. f. physik. chem. Biologie I, 35. 1914.) 

3) v. Prowazek, Arch. f. Protistenkunde 18, 221. 1910. 


DEE ns Ze 


Ruhestrom und Durchlässiekeit. Il. 57 


Danach scheint es, als ob diese Versuchsobjekte sich wie die Spirogyren 
von Overton und Ruhland und nicht wie die Fontinalisblätter von 
Boresch verhalten. 

Auch über die Verteilung der Alkaloidsalze auf ‚Öle‘ von einem mit 
dem Protoplasma vergleichbaren Lösungsvermögen, d. h. auf die Lipoide 
ist fast nichts bekannt. Nur Ruhland (l. c.) macht ein paar Angaben 
über die absolute Löslichkeit von Alkaloiden in Xylol und Xylolchole- 
sterin, die aber für uns keinen Wert haben, da es ja allein auf das relative 
Lösungsvermögen ankommt. 

Es wäre danach eigentlich notwendig, zuerst einmal die Voraus- 
setzung für den Nachweis der vermuteten Abhängigkeit des Ruhe- 
stroms von der Verteilung, nämlich eben die Verteilung, sei es 
physiologisch, sei es physikochemisch genauer zu untersuchen. Aber 
im Hinblick darauf, daß selbst die verschiedenen Kationen der 
anorganischen Salze trotz der sehr geringen Öllöslichkeit nach 
Beutner recht verschiedene elektromotorische Kräfte geben, und 
in der Annahme, daß die organischen Salze nach zahlreichen Ana- 
logien doch wohl die anorganischen an Löslichkeit in organischen 
Lösungsmitteln übertreffen dürften, schien es das Einfachere, zuerst 
einmal die ruhestromentwickelnde Eigenschaften der Alkaloidsalze 
näher ins Auge zu fassen. 

Über diese liegen bereits einige Erfahrungen vor. Vor allem hat 
Henze!) Messungen an den Sartorien curarisierter Frösche vorgenom- 
men, wobei — anscheinend wahllos — die freien Basen der Alkaloide wie 
auch ihre Salze benutzt wurden. Er fand, daß, in physiologischer Koch- 
salzlösung gelöst, keinen Ruhestrom hervorriefen: Strychninnitrat 
0,5%, Morphinhydrochlorid 0,5%, Cocainhydrochlorid 1%, Atropin- 
sultat 0,4%, Pelletierinsulfat 0,5% Physostigminsalicylat 0,1%. In 
1 proz. Lösung erzeugte Strychninnitrat eine gewisse Negativität, ‚‚doch 
dürfte diese starke Konzentration undiskutierbar im physiologischen 
Sinn sein“. Auch Physostigminsalieylat rief in 0,2proz. Lösung eine 
„minimale Negativtät‘‘ hervor. Hingegen bewirkten Muscarinhydro- 
chlorid, Cholinhydrochlorid, Veratrinacetat, Nicotintartrat, Chinin- 
hydrochlorid, ferner Protoveratrin und Coffein kräftige und irreversible 
Ausschläge in negativer Richtung. Henze schließt hieraus, daß da, wo 
ein kräftiger Ruhestrom auftritt, er der Ausdruck einer Demarkation, 
einer lokalen Schädigung ist; denn gerade die wirksamen Stoffe sind 
als Muskelgifte bekannt. — Sodann haben Höber und Waldenberg?) 
beiläufig mitgeteilt, daß Piperidinhydrochlorid elektrisch annähernd in- 
different ist. 


!) Henze, Arch. f. d. ges. Physiol. 92, 451. 1902. 
®2) Höber und Waldenberg, ebenda 126, 331. 1909. 


er 


58 J. Vorschütz: 


Eigene Beobachtungen. 


Ich gehe nun zu den eigenen Beobachtungen über. Über die Methodik 
ist zu dem in der ersten Mitteilung Gesagten nichts Neues hinzuzufügen. 
Die verwendeten Frösche waren sämtlich Esculenten; sämtliche Lösun- 
gen waren neutral. 


Tabelle I. Die elektromotorische Wirksamkeit verschiedener Alkaloidsalze. 


ı Kon- | Wir . Kon- | Wir- # Kon- | Wir- | R 
Salz | zentra- kungs- a zentra- kungs- a zentra- kungs- in 
|| tion zeit tion zeit tion zeit 
a ee aa. re | 
Coeain. hydrochlor.. || "/gg | 807 | — 27 | "/1z0o | 60° |— 21 | 
Morphin. hydrochlor. | "/3 | 70° — 26 | ”/sa | 60° |— 10 
Strychnin. nitr. . . || %/g | 68° |— 22 | 
76 +2 
I 297 ı—1 | 
Pilocarpin. hydrochl. | ”/js0 | 65° |+ 3 | 
Codein. hydrochlor . | u a | 
IBrucın sul DE 
Piperidin. hydrochl.. || =/. | 30° —9 | | 
| 106, 20 | 
Cinchonin. hydrochl, | M/ıno | 55° |—22 | "| 37° | 40 | 
Chinm. sult. ._.. \ | 2.0 | 68% | 114) ou, 11202 | Sal a se 
Optochin.hydrochlor. | "/ıso | 25° 88 | "sn | 78° 85 | lreo | 877 | 18 
Coffein. hydrochlor. | | Er 181 2 soo | 507 |— 23 | 


In der Tabelle I sind aus einer größeren Anzahl der angestellten Ver- 
suche die Werte für die elektromotorischen Kräfte in Zehntel-Millivolt 
zusammengestellt, welche nach einer bestimmten Zeit der Einwirkung 
verschieden konzentrierter Lösungen abgelesen wurden. 

Auf Reversibilität wurde nicht immer geprüft; sie wurde nachgewiesen 
für "/joo Atropinsulfat, ”/,, und ®/,., Cocainhydrochlorid und "/,, 
Strychninnitrat; irreversibel wirkten dagegen "/,,; Cinchoninhydro- 
ehlorid, "/a, Chininsulfat, ®/;, und "”/,,, Optochinhydrochlorid und 
W/,.0 Coffeinhydrochlorid. Die Abb. 1 gibt 2 Beispiele für den Verlauf 
der Versuche. 

Es ergibt sich danach folgendes: Strychnin-, Pilocarpin-, Co- 
dein-, Brucin- und Piperidin-Salz sind inden angewandten 
Konzentrationen fast elektrisch indifferent etwa wie Koch- 
salz. Auch Atropin,- Cocain- und Morphinsalz wirken nur 
schwach negativierend. Chinin-, Optochin- und Coffein- 
Salz dagegen entwickeln durch Negativierung einen ziem- 
lich kräftigen Ruhestrom. Cinchoninhydrochlorid nimmt 
eine mittlere Stellung ein. 

Dies Resultat stimmt mit den Angaben von Henzerecht gut überein; 
es sind wiederum ausgesprochenere Muskelgifte, die die starke elektro- 


EEE BAER EEE Du ET 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. II. 59 


motorische Wirkung entfalten. Das mag zuerst an Hand vergleichender 
Versuche über den Einfluß der Alkaloidsalze auf die Kontraktilität der 
Sartorien dargelegt werden! 

Sämtliche Alkaloidsalze lähmen nach kürzerer oder län- 
gerer Zeit. Dies wurde für die folgenden Konzentrationen festgestellt: 
Atropinsulfat "/,.., Cocainhydrochlorid "/,o, Morphinhydrochlorid 


+90 - 70° *Volr M 


re 


! ! | 
70 20 530 40 50 60 70 80 30 100 10 120 730 140 750 760 170 780 190 20 


Abb.1. Irreversible starke Negativierung durch Optochinhydrochlorid, reversible schwache 
Negativierung durch Cocainhydrochlorid. 


%/,,, Strychninnitrat ”/,, und M/goo; Pilocarpinhydrochlorid "/o; 
Brucinsulfat "/,.0, Piperidinhydrochlorid ""/,,, Cinchoninhydrochlorid 
under, Ohininsultaty nor ls und" sro, Optochinhydro- 
chlorid ”/,,, und ®/ soo, Coffeinhydrochlorid ”/,., und "/soo- 

Die Lähmung ist durch Rückübertragung in reine Ringerlösung aber 
sehr verschieden leicht zu beseitigen. Die Lähmung durch Optochin und 
Cinchonin erwies sich als irreversibel oder nur mäßig und nach längerer 
Zeit reversibel, Chinin lähmte in "/,.. ebenfalls irreversibel, bei "/g1o 
begann die Erholung erst nach ungefähr 3 Stunden und bei "”/,.. nach 
ungefähr 1 Stunde, Coffein wurde unter der bekannten Erscheinung 
heftiger Kontraktur gelähmt, die nur sehr allmählich schwand. Beiden 
übrigen Alkaloidsalzen kehrte das Kontraktionsvermögen dagegen bald 
nach der Übertragung in die Ringerlösung zurück. 

Es sind also die vier durch stärkere Ruhestromwirkung ausgezeich- 
neten, Chinin, Optochin, Coffein und Cinchonin, die sich als stärkere 
Störer der Kontraktion herausheben. 

Über die Natur dieser stärkeren Giftwirkung läßt sich kurz folgendes 
sagen: nach den Untersuchungen von Johannsen und Schmiede- 


FA 


60 J. Vorschütz: 


berg!), Santesson?), Fürth°®), Jacoby und Golowinski?) u. a. 
rufen Coffein, Chinin und etwas weniger ausgesprochen auch Cinchonin 
eine Starre der Muskulatur hervor, welche auf einen Gerinnungsvorgang 
im Innern der Muskelfasern zurückzuführen ist’). Bei der Einwirkung 
von Coffein sieht man direkt Körnelungen in den Muskelfasern als Aus- 
druck einer Coagulation auftreten; alle drei Stoffe befördern die Ge- 
rinnung der im Muskelplasma enthaltenen Eiweißkörper. Der Einfluß 
des Optochins wird bei seiner nahen Verwandtschaft mit dem Chinin 
wohl ähnlich sein. Die genannten Alkaloidsalze wirken also offenbar 
von innen her, nachdem sie in die Muskelfasern eingedrungen sind, und 
stören die normale Struktur infolge einer spezifischen Affinität zu ge- 
' wissen funktionell wichtigen Komponenten des Zellinnern. 

Die Wirkungsart der übrigen Alkaloidsalze dürfte aber prinzipiell 
wohl ebenso beschaffen sein. Schon Overton machte die Annahme, 
daß giftige organische Basen mit den Eiweißkörpern in den Zellen in 
mehr oder weniger reversible Reaktion treten, und bezog Natur und 
Stärke der Giftigkeit auf die „Wahlwirkung‘ der einzelnen Stoffe, d. h. 
auf ihr spezielles Reaktionsvermögen mit diesem oder jenem der Proto- 
plasmabestandteile. Wenn also sämtliche untersuchten Alkaloidsalze 
die Muskeln lähmen, so kann dies auf dem Ablauf von die Funktion 
störenden Innenreaktionen beruhen, von deren Besonderheiten Grad 
und Reversibilität der Störung abhängen. 

Von diesem Standpunkt aus lassen sich auch leicht die beiden folgen- 
den Beobachtungen erklären: 

1. Vergleicht man die einzelnen Muskelkontraktionsversuche mit 
einander, so fällt es auf, daß die Zeiten bis zum Eintritt der Lähmung 
durch die Alkaloidsalze sehr verschieden lang sind. Die Zusammen- 
stellung in der Tabelle II läßt dies erkennen. 

Daraus ergibt sich, daß das Morphin-, das Pilocarpin- und das Pipe- 
ridinsalz den Muskel verhältnismäßig langsam lähmen. Dies ist auf 
folgendes zurückzuführen: das Morphin dringt nach Overton®) im 
Gegensatz zu den meisten gebräuchlichen Alkaloiden nur langsam ins 
Protoplasma ein; dem entspricht es, daß nach Traube”) die Ober- 
flächenaktivität der freien Morphinbase sowohl wie ihrer Salze nur gering 


!) Schmiedeberg, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 2, 62. 1874. 
?) Santesson, ebenda 30, 411. 1892. 
) 


3) Fürth, ebenda 3%, 389. 1896. 

*) Jacoby und Golowinski, ebenda 59, Suppl. 286. 1908. 

5) Siehe auch die Zusammenstellung bei Heinz, Handbuch der experim. 
Pathol. u. Pharm.. 1, 576. 1905. 

6) Siehe auch Ruhland, 1. c., Boresch, I. c., Czapek, Biochem. Zeitschr. 
1, 203. 1913. 

”) Traube, Biochem. Zeitschr. 42, 470. 1912; auch Traube und Onodera, 
Te: 


Ruhestrom und Durchlässiekeit. IT. 61 


Tabelle II. 
Zeitdauer bis zum Eintritt der Muskellähmung durch verschiedene Alkalisalze. 


Salz | Konzentration Zei Pisyzur Konzentration Zeit Diszum 
| Lähmung Lähmung 
Cocain. hydrochlor. . . Nenn 10’ 
Strychnin. nitr.. .. . on 257 Snlfen 1) 
Chmnesulle oo Il7f” 
Cinchonin. hydrochlor.. on 60’ Sl 15 
Optochin. hydrochlor. . en 25° 
Coffein. hydrochlor. . . 2500 36’ en 152 
Morphin. hydrochlor. . 2/00 sehr langsam len 110’ 
Pilocarpin. hydrochlor.. on ca. 300’ 
Piperidin. hydrochlor. . | m ca. 300’ 


ist; infolgedessen wird auch im Gegensatz zu zahlreichen anderen Alka- 
loiden die Oberflächenspannung bei Alkalizusatz hier nicht erniedrigt. 
Ungefähr ebenso liegen die Verhältnisse beim Pilocarpin, und die Pipe- 
ridinbase dringt nach Overton und Ruhland zwar äußerst geschwind 
in Pflanzenzellen ein, aber da ihre Dissoziationskonstante beträchtlich 
größer ist als die der übrigen Alkaloide, ihre Salze also weniger hydroly- 
sieren, so dürfte die lJangsamere Wirkung des Hydrochlorids eben auf 
diesen geringeren Gehalt an freier Base zurückzuführen sein. 

2. Eine weitere Reihe von Beobachtungen führt uns zu den Ruhe- 
strommessungen zurück. Es war vorher (S. 56) davon die Rede, daß 
sich nach Overton, Ruhland und v. Prowazek die Giftigkeit der 
Alkaloidsalze für gewisse Zellen durch schwaches Ansäuern infolge der 
damit verknüpften Zurückdrängung der Hydrolyse, also Beseitigung 
der ins Zellinnere eindringenden und dort in Reaktion tretenden freien 
Base verringern oder aufheben läßt. Der entsprechende Versuch gelingt 
nun auch beim Muskel. Zwei Sartorien von ein und demselben Frosch 
wurden in gleich konzentrierte Lösungen von Optochinhydrochlorid oder 
von Chininsulfat eingehängt; eine der beiden Lösungen erhielt dann 
noch einen Zusatz von etwas Säure. Dann wurde der Ruhestrom ge- 
messen. Der Effekt des Zusatzes war in jedem Fall eine starke Vermin- 
derung der Negativierung. Die Abb.2 und 3 geben dafür ein paar Bei- 
spiele. Es bleibt also infolge der Ansäuerung nur ein Rest von Negati- 
vierung bei diesen sonst stark wirkenden Salzen übrig, deren Größe etwa 
der bei den übrigen Alkaloidsalzen ‚beobachteten gleichkommt. 

Wir kommen somit zu dem für unsere Fragestellung wesentlichen 
Resultat, daß die Alkaloidsalze, soweit sie keine besonderen 
Giftwirkungen auf den Muskel ausüben, diesen gegenüber 
entweder elektrisch ziemlich indifferent sind oder ein wenig 
negativierend wirken. Das ist ein Ergebnis, mit dem natürlich für 


eine Stellungnahme zu Beutners Auffassung der Salzruheströme als 
r 


62 J. Vorschütz: 

Ströme von ‚„Ölketten‘‘ wenig anzufangen ist. Will man dieser Auffassung 
beipflichten, so könnte man die hier beschriebenen Versuchsergeb- 
nisse so auslegen, daß der Verteilungsfaktor für die Alkaloidsalze offen- 
bar zu klein ist, um — wenigstens bei den relativ kleinen molekula- 
ren Konzentrationen, in denen 
wegen der Höhe der Molekular- 
gewichte die Salze nur ange- 
wendet werden können, 
einen kräftigen Effekt herbeizu- 
führen. 

Was für Verbindungen sind 
denn aber geeigneter, um die 
erforderliche Entscheidung in 
der doch die Grundlagen 


70 "Volt 


Thinin sulf+ "yyooo Cl 


Bo 


Min. 
—; — J 
70 20 30 40 50 60 70 30 90 


Abb. 2. Hemmung der Chinin-Negativierung durch 
schwaches Ansäuern. 


der Elektrobiologie betreffenden 
Frage herbeizuführen, als die 
Gruppe der Farbstoffe und der 
Alkaloidsalze, die beide nicht 
zu der erwünschten Klärung 


führten ? 
In der Monographie von 
Beutner, dessen Beweis- 
führung sich ja vor allem 
auf die Heranziehung or- 


+30 - 70 Vol 


-70 „ryyooaHcl 

-20 a De ganischer Elektrolyte stützt, 
N er finden sich folgende hierher- 
a SZ Be gehörige Daten: stellt man 
N Bier eine Ölkette zusammen 


2/10 Nacl 6 Oo er 
riabler Elektrolyt, 


so ergibt sich bei Guajakol 


Mn. 


ONE OR ZOERS TIERE DES ONE EEE 0720) 


Abb. 3. Hemmung der Optochin-Negativierung durch 
schwaches Ansäuern. 


als,.01 
RC = 0,01 ]Violt 
2 PAnıln- EIG Sr ..—0,059 
» Monomethylanilin-HCl .— 0,075 ,„ 
»; Dimethylanilin-HCl 220,091, 


Die Verschiedenheit der Werte'für KCl und die übrigen drei hängt 
nach Beutner damit zusammen, daß die organischen Salze sich stärker 
auf die Ölphase verteilen als die anorganischen Salze; die Größe des 
Effekts ist dabei jeweilig symbat dem durch Leitfähigkeitsmessungen 
schätzungsweise bestimmten Verteilungsfaktort!). 


!) Siehe hierzu meine Mitteilung I, Seite 183. 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. II. 63 


Beutner gibt weiter folgende Versuchsreihe an: 
Benzaldehyd Anisaldehyd 


als „Öl“ als „Öl“ 
Ammonium-Hydrochlorid - 2. 2..— 0,010 Volt — 0,012 Volt 
Monoäthylamin-Hydrochlorid . . .— 0,014 „ — 0,023 ,„, 
Triäthylamin-Hydrochlorid.. . . . . — 0,071 ,„ —.0,058 ‚, 
Tetraäthylamin-Hydrochlorid . . . — 0,089 „ —. 0,066 ‚, 


Angaben über die Leitfähigkeit der „Öle“ nach Ausschütteln der 
Lösungen dieser verschiedenen substituierten Amine werden bei dieser 
Versuchsreihe von Beutner nicht gemacht. 

Endlich finden sich noch folgende Angaben, die die Wirkung orga- 


nischer Anionen (mit Guajakol als Ol‘) demonstrieren: 


EBEN O) EIS TREE EEE RA 0,000 Volt 
BEnNa-Benzoatin re Ks ee + 0,057 ,, 
I Na-Salevlatı weis rer: —+ 0,084 ,, 
BEN a-OlEataEn ae en ee + 0,095 ,„ 


Diesmal wird von Beutner der Zusammenhang der Größe der elek- 
tromotorischen Kräfte mit der Verteilung, wiederum durch Leitfähig- 
keitsmessungen, nachgewiesen. 

Es zeigt sich also mit großer Deutlichkeit in einer freilich nicht 
großen Anzahl von Versuchen, daß die organischen Salze elektromoto- 
risch wirksamer sind als die anorganischen, und daß die Wirksamkeit 
sich mit der Anzahl der C-Atome verstärkt. 

Wenn nun die mitgeteilten Versuche mit Farbstoffen und Alkaloid- 
salzen zu so wenig befriedigenden Ergebnissen führten, — sind dann die 
von Beutner bei den Ölketten erfolgreich geprüften Salze auch im 
physiologischen Versuch brauchbar ? 

Höber!) hat schon vor langer Zeit zur Prüfung seiner Kolloidtheorie 
der Salzruheströme Messungen mit organischen Elektrolyten vorge- 
nommen, die zum Teil schon in meiner ersten Mitteilung erwähnt wurden, 
und die sich teilweise auf dieselben Salze beziehen, die Beutner prüfte, 
nämlich Tetraäthylammoniumchlorid, Natriumbenzoat, Natriumsali- 
ceylat und Natriumoleat. Es zeigt sich, daß das Salz der quaternären 
Ammoniumbase in isotonischer Konzentration ("/,,) etwa ebenso 
wirkt wie Kochsalz. Dasselbe Ergebnis hatten Versuche mit Tetramethyl- 
ammonium, Tetrapropylammonium- und Neurinchlorid. Ferner zeigte 
sich, daß auch Na-benzoat und Na-salicylat in isotonischer Lösung an- 
nähernd elektrisch indifferent sind. Es wurden früher des weiteren schon 
die Natriumsalze der einfachen Fettsäuren, Ameisensäure, Essigsäure, 
Buttersäure und Valeriansäure geprüft, wobei festgestellt wurde, daß 
sie eine schwache (reversible) Negativität hervorrufen, die unabhängig 
von der Länge der C-Kette bei allen ungefähr gleich groß ist. Dassind. 


!) Höberund Waldenberg, Arch. f. d. ges. Physiol. 126, 331. 1909; Höber, 


ebenda 134, 311. 1910. 
v 


64 J. Vorschütz: 


lauter Ergebnisse, die der Beutnerschen Auffassung der 
Salzruheströme als Ströme von „Ölketten“ widersprechen. 

Auch mit Natriumoleat (in neutraler Lösung) sind schon früher von 
Höber (l. c.) Versuche gemacht worden, die ich jetzt noch einmal 
wiederholt habe. Das Oleat erzeugt einen sehr kräftigen Ruhestrom, 
aber in negativer Richtung. Dies spricht jedoch weder für noch gegen 
die Beutnersche Theorie, da Ölsäure ein starkes Cytolyticum ist, und 


offenbar als solches, ebenso wie andere Cytolytica!), einen Demarkations- 


strom hervorruft. 

Endlich wurden auch Anilinhydrochlorid und Dimethylanilinhydro- 
chlorid geprüft. Beide negativieren, das Dimethylsalz etwa ebenso 
kräftig wie Chinin (s. Tab. I, S. 58): 


Konzentration Wirkungszeit 10%-Volt 


Anılin HCl er en a nee in 66’ 37 
95% 34 
Dimethylanıln- Holen en) 40’ 138 
70° 128 


Beide Salze lähmen in den genannten Konzentrationen die Sartorien 
in 10—20 Minuten, in Ringerlösung zurückübertragen erholen sie sich 
rasch und vollkommen. Das Ergebnis mit diesen beiden Verbindungen 
entspricht also besser den Vorstellungen von Beutner. — 

Betrachten wir nun zum Schluß noch einmal die Gesamtheit der bis- 
herigen Feststellungen, so muß man sagen, daß es noch eine offene 
Frage bleibt, ob oder wie weit die Beutnersche Theorie der Salzruhe- 
ströme akzeptiert werden kann. Stellt man ihr die alte Höbersche 
Theorie gegenüber, nach der die Salzruheströme von der Einwirkung 
der Salze auf die Plasmahautkolloide herrühren, so bietet diese zunächst 


noch unverkennbare Vorzüge vor der neueren Anschauung. Nicht bloß, 


daß sie die verschiedene Wirksamkeit der anorganischen Ionen deutet, 
indem sie sie mit den Hofmeisterschen Reihen in Zusammenhang 
bringt, sondern auch die eben erwähnten Erfahrungen mit den organi- 
schen Anionen fügen sich ihr wenigstens zum Teil recht gut; denn die 


fettsauren Salze wirken nach Höber auf den Solzustand von Eiweiß. 


und Lecithin etwa so, wie es ihrer Stellung in der nach ihrer physiolo- 
gischen Wirkung gebildeten Elektrolytreihe entspricht. Vor allem erfuhr 
aber die Kolloidtheorie der Salzruheströme neuerdings?) eine starke 
Stütze in dem Nachweis, daß die Wertigkeitsregel der Kolloidehemie in 
weitgehendem Maß auch auf die Salzruheströme anzuwenden ist, wofür 
die Beutnersche Theorie zunächst keine Handhabe bietet. Die Koleoid- 
theorie der Salzruheströme bildet ferner ja nur ein Glied in der langen 
Kette von Argumenten, die zugunsten der Lehre vom Zusammenhang 
der phyisologischen Ionenwirkungen mit den Zustandsänderungen der 


1) Siehe dazu Höber, 1. c. 
?) Höber, Arch. f. d. ges. Physiol. 166, 531. 1917. 


EEE WERTE 


Ruhestrom und Durchlässigkeit. II. 65 


Protoplasmakolloide zusammengetragen worden sind!). Es wäre aber 
voreilig, jetzt schon endgültig über die Beutnersche Theorie urteilen 
zu wollen, zumal hier nur ein kleiner Ausschnitt aus seiner Lehre von 
den „Ölketten‘ in ihrem Zusammenhang mit den physiologischen Vor- 
gängen in die Diskussion zu ziehen war. Vorerst sind noch weitere Ver- 
suche notwendig, teils Modellversuche mit den physiologischen Verhält- 
nissen möglichst angepaßten ‚Ölen‘, etwa dem Diamylamin-Ölsäure- 
Gemisch von Nirenstein?), teils physiologische Versuche mit Geweben, 
die weniger Komplikationen in die Versuche hineintragen als die Muskeln, 
und für beides, Modellversuche und physiolo&ische Versuche, einfachere 
Elektrolyte als die Farbstoffe und Alkaloidsalze es sind. Es liegt aber auch 
nahe, an eine Verschmelzung der beiden genannten Theorien zu denken; 
denn die Gewebe als Ölphasen sind wohl durch die lipoidhaltigen Membra- 
nen der Zellen repräsentiert, und diese sind eben gleichzeitig Ölund Kolloid. 


Zusammenfassung. 

1. Es wird, ähnlich wie in der ersten Mitteilung, geprüft, ob sich durch 
Untersuchung des Einflusses von Alkaloidsalzen und anderen organischen 
Elektrolyten auf den Ruhestrom des Muskeln Anhaltspunkte für die Theo- 
rievon Beutner gewinnen lassen, nach der die Salzruheströme als Ströme 
von diphasischen Flüssigkeitsketten mit „Ölphase‘‘ aufzufassen sind. 

2. Die Alkaloidsalze wirken abgesehen von denjenigen, die, wie Chinin, 
Optochin, Cinchonin, Coffein, ausgesprochene Muskelgifte sind, nur 
schwach ruhestromentwickelnd ; ihrVerteilungsfaktor in bezug auf Muskel 
und umgebende Lösungist wahrscheinlich auch nurklein. Bestimmte Rück- 
schlüsse auf die Angemessenheit der Theorie sind daher nicht möglich. 

3. Eswird gezeigt, daß die Lösungen der Alkaloidsalze wohl allein durch 
die durch Hydrolyse abgespaltene freie Base auf die Muskeln wirken. 

4. Es gibt eine Anzahl von organischen Elektrolyten, wie die Salze der 
quaternären Ammoniumbasen, die Natriumsalze der niederen Fettsäuren, 
Natriumsalicylat und Natriumbenzoat, die keineswegs entsprechend den 
Beutnerschen Modellversuchen an ‚‚Ölketten‘ auf die Muskeln wirken. 

5. Im allgemeinen lassen sich die Erfahrungen über die Einwirkung 
von Salzen auf den Muskelstrom bisher am besten in der Kolloidtheorie 
der Salzruheströme von Höber zusammenfassen. Eine Verschmelzung 
der Anschauungen von Beutner und Höber wird aber nach Gewinnung 
eines größeren Erfahrungsmaterials als möglich hingestellt. 


Zum Schluß spreche ich Herrn Professor Dr. Höber für die An- 
regung zu der Arbeit und für seine ständige Mithilfe, auch bei der 
Abfassung des Manuskripts, meinen besten Dank aus. 

!) Siehe dazu Höber, Physikalische Chemie der Zelle und Gewebe. 4. Aufl., 
besonders Kap. 10 und 11. 

2) Nirenstein, Arch. f. d. ges. Physiol. 199, 233. 1920. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 
2 


Dr 1 


(Aus dem Physiologischen Institut zu Freiburg i. B.) 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 


Von 
Prof. J. v. Kries. 


(Eingegangen am 17. April 1921.) 


Die neueren Untersuchungen zur Theorie der Muskeltätigkeit haben 
ohne Zweifel unsere Einsicht ganz besonders auch in bezug auf eine 
Anzahl allgemeiner Fragen gefördert, Fragen, deren Aufwerfung und 
erstmalige Erörterung wir Fick verdanken. Wie weit dies der Fall 
ist, läßt sich aus keiner der neueren Arbeiten ganz ohne weiteres er- 
kennen, wohl aber tritt es bei einem zusammenfassenden Überblick 
in sehr belehrender Weise zutage. Ich denke dabei vornehmlich an 
die Untersuchungen von Hill!) und Weizsäcker, 2%), die zu der 
Aufstellung der sog. „Zweimaschinentheorie“ geführt haben, 


dann aber an die neuesten theoretischen Erörterungen von Herzfeld 


und Klinger!) sowie von Meyerhof2!, 2). In den folgenden Blät- 


tern möchte ich auf einige Punkte hinweisen, die sich herausheben, 


wenn wir diese Arbeiten teils untereinander teils mit älteren Frage- 
stellungen in Verbindung bringen, eine Betrachtung, die nicht nur 
historisches Interesse besitzt, sondern wohl auch geeignet ist, den 
gegenwärtigen Stand der Fragen zu klären und für ihre weitere Förde- 
rung nützlich zu sein. Im Anschluß daran möchte ich dann auch noch 
einige ältere Untersuchungsergebnisse berühren, die, früher viel be- 
achtet, allmählich in Vergessenheit gekommen zu sein scheinen, und die, 
wie ich glaube, im Hinblick auf neuere Anschauungen erhöhtes Interesse 
bieten. 

Zuerst möchte ich hier den entscheidenden Gedanken erwähnen, 
durch den, gegenüber den Fickschen Betrachtungen, für die Theorie 
der Muskeltätigkeit, vor allem für ihre energetischen Verhältnisse, eine 
neue Bahn eröffnet worden ist, und der denn auch den genannten drei 
Arbeiten (sowie zahlreichen anderen) gleichermaßen eigen ist. Er be- 
steht darin, daß die Verbrennungsvorgänge, die in letzter 
Instanz jedenfalls als die Energiequelle des Muskels zu betrachten 
sind, nicht gerade in derjenigen Phase der Muskelfunk- 
tion stattzufinden brauchen, in der äußere Arbeit 
geleistet wird, nämlich bei der Zusammenziehung. 


J. v. Kries: Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 67 


Daß eine solche Vorstellung im Hinblick auf die Energieverhältnisse 
zulässig ist, leuchtet ohne weiteres ein. Wir könnten uns denken, daß 
unter Aufwendung von Verbrennungsenersie eine Feder angespannt, ein 
‘ Gewicht aufgewunden würde o. dgl. Ein geringfüsgiger Anstoß würde 
dann genügen, um irgendeinen anderen, mit sichtbarer Arbeitsleistung 
verknüpften Vorgang auszulösen. Ähnlich könnte auch im Muskel 
die sichtbare Arbeitsleistung auf Kosten irgendeiner anderen Energie 
erfolgen, die ihrerseits durch die Verbrennungen erzeugt oder wieder- 
hergestellt würde. Man erkennt sogleich, wie dieser Gedanke in der 
von Hill und Weizsäcker angenommenen „Zwischenenergie‘ ver- 
wirklicht ist. Doch werden wir sehen, daß auch andere Anschauungen 
ihm entsprechen. — Durch die Heranziehung dieses Gedankens lösen 
sich gewisse Schwierigkeiten, die lange Zeit einem Fortschritt der 
Kontraktionstheorien hinderlich im Wege standen. So entfällt vor 
allem der Widerspruch, den Fick?) gegen die damals von Engel- 
mann®) aufgestellte Quellungshypothese glaubte erheben zu müssen. 
Ihm schien es mit den Energieverhältnissen unvereinbar, daß die 
Zusammenziehung unter Arbeitsleistung ohne gleichzeitige Verbren- 
nungsvorgänge stattfinden sollte, und er betonte, daß bei der Quellung 
von Sehnen, Bändern u. dgl. allerdings Arbeit geleistet werde, aber nur 
einmal, da eben dann die Quellungsenergie verbraucht sei. Er über- 
sah dabei die Möglichkeit, daß die Verbrennungsvorgänge gerade dazu 
dienen könnten, die Quellungsenergie immer wieder herzustellen *). 
Noch ein anderer scheinbarer Widerspruch erledigt sich durch die 
gleiche Erweiterung unserer Vorstellungen. Eine ganze Reihe von 
Tatsachen hatte seit lange darauf hingewiesen, daß der Bildung von 
Milchsäure bei der Muskeltätigkeit eine hervorragende Rolle zukommt. 
Da als Muttersubstanz der Milchsäure jedenfalls in erster Linie zucker- 
ähnliche Körper in Frage kommen, so konnte die Frage entstehen, 
ob etwa die chemischen Vorgänge, die der Muskeltätigkeit maßgebend 
zugrunde liegen, gar nicht in Verbrennungsprozessen zu suchen seien, 
sondern in Vorgängen, bei denen aus Zucker oder zuckerähnlichen 
Körpern Milchsäure gebildet wird, in gärungsartigen Prozessen. 
Diese Frage mußet jedoch im Hinblick auf die Energieverhältnisse 
unbedingt verneint werden. Denken wir uns die Zuckung in der eben 
erwähnten Weise zerlegt, so steht natürlich nichts der Annahme im 
Wege, daß die Zusammenziehung durch die Bildung von Milchsäure 

*) Für eine historische Betrachtung ist dieser Sachverhalt um so eigenartiger, 
als Fick selbst wiederholt darauf hingewiesen hat, daß wir in dem Vorgang der 
Erschlaffung einen nicht minder wichtigen Teil der Muskeltätigkeit erblicken 
müssen als in der Zusammenziehung. Engelmann übrigens übersah jene 
Möglichkeit ganz ebenso wie Fick; und so war er damals auch nicht in der 
Lage, die von Fick gegen die Quellungshypothese erhobenen Bedenken zu 
beseitigen. 


er Di 


68 J. v. Kries: 


ausgelöst wird, auch wenn dieser Vorgang sehr wenig oder gar keine 
Energie liefert, und daß die energieliefernden Verbrennungen nicht im 
Stadium der Zusammenziehung ablaufen. Hiernach würde denn der 
Milchsäurebildung eine dominierende Bedeutung doch zukommen, 
ohne daß sich daraus im Hinblick auf die Energieverhältnisse Wider- 
sprüche ergeben *). 


I. Der Muskel als chemodynamische Maschine. 


Ich wende mich zu einer speziellen Besprechung der vorhin 
erwähnten Arbeiten und beginne hier mit derjenigen von Herzfeld 
und Klinger®), da die in ihr niedergelegten Anschauungen wenigstens 
unter den uns hier beschäftigenden Gesichtspunkten vorzugsweise ein- 
fach und durchsichtig sind. An der Theorie dieser Autoren ist für uns 
hier zweierlei von Bedeutung. Zunächst finden wir auch hier, wie ja 
überhaupt jetzt in großem Umfange, jene soeben erwähnte Annahme 
vertreten, daß der unmittelbare Anstoß für die Zuckung durch eine 
Entstehung von Milchsäure gegeben sei. Die genauere Art, wie die 
Milchsäure wirksam wird, darf hier außer Betracht bleiben. Für die 
hier zu betrachtenden Fragen ist es ohne Belang, ob die Milchsäure, 
wie Herzfeld und Klinger annehmen, ‚adsorbiert‘‘ wird oder ob 
sie Quellungsvorgänge einleitet. Nicht minder können wir es auf sich 
beruhen lassen, ob etwaige Quellungsvorgänge in einem Wasseraus- 
tausch zwischen isotroper und anistroper Substanz bestehen, wie 
Engelmann annahm, oder zwischen Fibrillen und Sarkoplasma 
[Mac Dougall®)], oder zwischen kleinsten Gebilden der anisotropen 
Substanz und ihrer unmittelbaren Umgebung, wie zuletzt v. Fürth!) 
wahrscheinlich zu machen versucht hat. — Der andere hier hervorzu- . 
hebende Punkt ist der folgende. Nachdem durch das Auftreten der 
Milchsäure die Zusammenziehung des Muskels veranlaßt worden ist, 
beruht der Rückgang des Muskels in den erschlafften Zustand darauf, 
daß die adsorbierte Milchsäure verbrannt wird. Damit wird 
denn zugleich auch derjenige Zustand wieder hergestellt, bei dem 
eine Freimachung von Milchsäure eine neue Zusammenziehung in 
die Wege leiten kann. Hinsichtlich der Energieverhältnisse ist dabei 
folgendes zu beachten. Bei der hier angenommenenen Einrichtung 
des Muskels würde, wenn einerseits die Muttersubstanz der Milch- 


*) Dies ist mit besonderem Nachdruck und gewiß mit Recht von Hill!) 
betont worden. Wenn aber Hill sich mit einer gewissen Schärfe gegen die Über- 
legungen wendet, die eine Zurückführung der Muskeltätigkeit auf gärungsartige 
Vorgänge für energetisch unmöglich erklärten, so scheint mir das kaum be- 
rechtigt. Denn was hier bestritten wurde, war immer nur die Anschauung, daß 
die Muskeltätigkeit in ihrer Gesamtheit sich in solchen Vorgängen erschöpfe. 
Über die Unzulässigkeit dieses Gedankens kann auch gegenwärtig keinerlei 
Zweifel bestehen. 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 69 


säure, andererseits Sauerstoff zugeführt werden, in unbegrenzter 
Weise Arbeit geleistet werden können; die Energiequelle der Muskel- 
arbeit liegt also, woran ja auch nicht zu zweifeln ist, in den Verbren- 
nungen, und zwar hier in erster Linie jedenfalls in der Verbrennung 
der Milchsäure.. Damit ist schon gegeben, daß diese Verbrennung, 
sowie sie im Muskel stattfindet, nicht so viel Wärme erzeugen kann, 
wie wenn sie unter gewöhnlichen Bedingungen, ohne gleichzeitige 
Arbeitsleistung, vor sich geht und die ganze Energie als Wärme zur 
Erscheinung kommt. Dies hat seinen Grund darin, daß die Milchsäure, 
nachdem sie die sichtbare Arbeitsleistung herbeigeführt hat, sich in 
einer Anordnung befindet, aus der heraus sie nur unter Überwindung 
gewisser, sie festhaltender Kräfte oxydiert werden kann. Dies wird 
denn auch von Herzfeld und Klinger mit Recht hervorgehoben. 
(A. a. ©. S. 363.) Nehmen wir an, daß die Milchsäure die Zusammen- 
ziehung im Wege einer Quellung herbeigeführt, so ergeben sich analoge 
Folgerungen. 

Die ganze Vorstellung ist, wie vorhin schon hervorgehoben, überaus ein- 
fach und dadurch ansprechend. Die Muskeltätigkeit zerfällt inzwei Pha- 
sen, deren Vorgänge hinsichtlich ihres Zusammenhanges, namentlich hin- 
sichtlich ihrer energetischen Beziehungen, vollkommen verständlich sind. 

Machen wir uns zunächst klar, daß die Theorie trotz einer gewissen 
äußerlichen Ähnlichkeit keineswegs den von Hill und Weizsäcker 
entwickelten Gedanken entspricht. Denn nach diesen Autoren soll ja 
ein wesentlicher Teil der Muskeltätigkeit, namentlich auch mindestens 
ein Teil der kraftliefernden Verbrennungen, im Erholungsstadium 
stattfinden, also in den Zwischenräumen der sichtbaren Tätigkeit, 
nicht aber in der Erschlaffungsphase der Muskelzuckung, wie es 
hier angenommen wird. Damit hängt denn aber auch zusammen, 
daß die Theorie sich in einen, wie mir scheint ganz unlösbaren Wider- 
spruch mit den Tatsachen setzt. Wird die Erschlaffung des Muskels 
durch die Verbrennung der Milchsäure bedingt, so wird der Rückgang 
in den erschlafften Zustand ohne Sauerstoffverbrauch ausgeschlossen 
und damit eine anoxybiotische Muskeltätigkeit überhaupt un- 
möglich sein. Die Abweichung von der Zweimaschinentheorie im 
Sinne Weizsäckers macht sich hier ganz besonders bemerklich. An - 
der von Hill entdeckten verzögerten Wärmebildung ist ja eine der 
bemerkenswertesten Tatsachen, daß sie an die Gegenwart von O ge- 
bunden ist; sie fehlt in der N.-Atmosphäre. Der O-Verbrauch er- 
scheint hier erforderlich, um eine gewisse Menge von Zwischenenergie 
zu bilden. Ist aber diese vorhanden, so ist damit der Muskel zu einer 
gewissen Summe von Arbeitsleistung befähigt, die ihrerseits an einen 
O-Verkrauch nicht gebunden ist. In der Hillschen Betrachtung er- 
scheint also gerade die anoxybiotische Muskeltätigkeit in glücklicher 


70 | J. v. Kries: . 


Weise verständlich gemacht. Das Gegenteil ist der Fall, wenn wir 
mit Herzfeld und Klinger den O-Verbrauch in die Erschlaffungs- 
phase legen und ihm die Bedeutung zuschreiben, die Erschlaffung 
des Muskels zu bewirken. Auch daran muß übrigens erinnert werden, 
daß im Muskel beträchtliche Mengen von Milchsäure sich an- 
häufen können, ohne daß er im zusammengezogenen Zustande beharrt. 
Unbedenklich kann man daher sagen: so einfach, wie es in dieser Arbeit 
angenommen wird, können die Dinge unmöglich liegen; das chemische 
Geschehen, namentlich die Rolle der Milchsäure, muß eine verwik- 
keltere sein *). 

Versucht man nun diese Unzuträglichkeit zu beseitigen, so wird 
man naturgemäß auf Vorstellungen von der Art geführt, wie sie von 
Meyerhof entwickelt worden sind. Sie stimmen mit denen von Herz- 
feld und Klinger darin überein, daß die Tätigkeit des Muskels durch 
eine Bildung von Milchsäure eingeleitet wird. Dagegen wird der Vor- 
gang der Erschlaffung anders aufgefaßt. Auch hier zwar muß natürlich 
angenommen werden, daß die Milchsäure von denjenigen Stellen oder 
aus derjenigen Anordnung, wo sie die Zusammenziehung bewirkt hat, 
wieder entfernt wird. Nach Meyerhof erfolgt dies aber nicht durch 
eine oxydative Zerstörung, sondern durch eine Ortsveränderung der 
Milchsäure, die von den ‚Verkürzungsorten“ an die ‚„Ermüdungsorte“ 
gebracht wird. Hier erst erfolgt dann ihre Verbrennung. Der Gegensatz 
der Meyerhofschen Theorie gegenüber der von Herzfeld und Klinger 
läßt sich also mit einem Wort sehr scharf bezeichnen: In die Muskel- 
zuckung ist noch eine weitere Phase eingeschoben; sie 
setzt sich, wie bei Herzfeld und Klinger aus zwei, so nun- 
mehr aus drei sich aneinanderschließenden Vorgängen 
zusammen **). 

*) Es ist daher auch nicht ganz verständlich, wie Herzfeld und Klinger eine 
Bestätigung ihrer Anschauungen darin finden wollen, ‚daß die Milchsäure in der 
Erholungsperiode restlos verbrennt, während aus den Arbeiten von Parnas hervor- 
geht, daß die hierbei gebildete Wärme nur wenig mehr als die Hälfte derjenigen ist, 
die sich als normale Oxydationswärme einer gleichen Milchsäuremenge ergeben 
würde“. Denn diese Tatsache bezieht sich ja eben auf die Erholungs-, nicht 
auf die Erschlaffungs-Phase, bestätigt also die Anschauung von Meyerhof, 
- nicht aber die von Herzfeld und Klinger. 

**) Natürlich darf nicht vergessen werden, daß außer den hier ins Auge ge- 
faßten Vorgängen sicherlich noch andere bei der Muskeltätigkeit beteiligt sind, 
so schon die Entstehung der Milchsäure, aber auch die Bildung ihrer Mutter- 
substanz aus Glykogen usw. Sagen wir also, daß Herzfeld und Klinger die 
Zuckung als einen zweiphasigen, M. als einen dreiphasigen Vorgang auffassen, so 
bezieht sich das nur auf einen gewissen engeren Kreis von Vorgängen. Doch darf 
der Sachverhalt wohl so dargestellt werden, um den Unterschied möglichst klar 
hervortreten zu lassen. Auch heben ja Herzfeld und Klinger selbst ganz mit 
Recht den Aneinanderschluß der zwei Vorgänge, Bildung und Verbrennung der 
Milchsäure als den eigentlichen Kernpunkt ihrer Auffassung hervor. 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 71 


Bei dieser Vorstellung gewinnt natürlich derjenige Körper eine 
hervorragende Bedeutung, der, an den Ermüdungsorten vorhanden, 
die Milchsäure von den Verkürzungsorten an sich zieht. Um für ihn 
eine kurze Bezeichnung zu haben, was für die folgende Darstellung 
wünschenswert ist, möchte ich dafür die Bezeichnung der Z-Sub- 
stanz benutzen *). 

Me yerhof nimmt nun weiter an, daß jene Substanz, deren Affinität 
zur Milchsäure diese von den Verkürzungsorten zu sich herüberzieht, 
von vornherein an den Ermüdungsorten in einer gewissen Menge 
vorhanden ist. Ihre wirksame Menge aber wirdin dem Maße vermindert, 
als sie Milchsäure angezogen und sich mit ihr verbunden hat, anderer- 
seits aber durch die Verbrennung der Milchsäure wieder hergestellt. 
So ist denn verständlich, daß der Muskel in erheblichem Betrage auch 
ohne Sauerstoffverbrauch arbeiten kann, daß aber die Ansammlung 
der Milchsäure eine Ermüdung, ihre Verbrennung eine Er- 
holung bedeutet **). 

Was die Energieverhältnisse anlangt, so wird auch in dieser Hin- 
sicht die vorhin angestellte Betrachtung sich gewissermaßen ver- 
doppeln. Die Verbindung der Milchsäure mit jener an den Ermüdungs- 
orten vorhandenen Substanz wird die Kräfte zu überwinden haben, 
mit denen sie an den Verkürzungsorten gebunden ist; bei der Oxy- 
. dation andererseits sind die Kräfte zu überwinden, mit denen sie an 
jenen erstgenannten Stellen (den Ermüdungsorten) gebunden ist. In 
beiden Fällen also wird zwar eine gewisse Menge von Wärme ent- 
stehen, aber weniger, als wenn die betreffenden Bindungen aus anderen 
Anordnungen und ohne die Überwindung solcher Gegenkräfte entstünden. 

Von besonderem Interesse ist es nun, zu sehen, in welchem Verhältnis 
die Theorie Me yerhofs zu den Folgerungen steht, die Hill und Weiz- 
säcker auf Grund der verzögerten Wärmebildung gezogen haben. 
Geht man diesen des Genaueren nach, so zeigt sich, daß die allgemeine 
Anschauung, zu der diese Untersucher gelangt sind, in zweierlei Weise 
verwirklicht sein kann. Zunächst ist daran zu denken (und das ist 
die durch Darstellung und Wortlaut wohl näher gelegte Auffassung), 
daß der Muskel in demjenigen Zustande, in dem er sich von Haus aus 
nach Maßgabe seiner Entstehung und Entwicklung befindet, noch 
nicht arbeitsfähig ist; er würde vielmehr erst dadurch arbeitsfähig 

*) Die von Meyerhof Ermüdungsorte genannten Stellen könnten ebensowohl 
auch als Erholungsorte und vielleicht noch besser als Verbrennungsorte bezeichnev 
werden. Doch soll hier die von Meyerhof gewählte Benennung festgehalten 
werden. 

**) Natürlich wird nicht anzunehmen sein, daß die Ermüdung allein in der 
Ansammlung der Milchsäure besteht, sondern es werden daran auch noch andere 


Veränderungen des Muskels, so jedenfalls schon die Verminderung des Glykogen- 


bestandes, vielleicht auch noch manches weitere beteiligt sein. 
Ei 


2 J. v. Kries: 


werden, daß in ihm gewisse besondere, im weiteren Sinne schon seiner 
Tätigkeit zuzurechnende Vorgänge stattfinden. . Das wären jene oxy- 
dativen Prozesse, vermittels deren die ‚„Zwischenenergie‘‘ hergestellt 
wird. Bei dieser Auffassung kann man in der Bildung der Zwischen- 
energie zwar auch eine nach der Tätigkeit einsetzende Erholung er- 
blicken; bezeichnender aber ist es eigentlich, sie eine für nachfol- 
sende Tätigkeiten erforderliche Vorbereitung zu nennen. 

Man kann sich jedoch die Sache auch so denken, daß der Muskel 
in jenem ursprünglichen Zustande bereits eine gewisse Menge solcher 
Zwischenenergie besitzt, demgemäß auch zu einer gewissen Summe 
von Arbeitsleistung von vornherein befähigt ist. Der mit der ver- 
zögerten Wärmebildung verknüpfte Vorgang würde dann diese von 
Haus aus vorhandene, aber durch die Tätigkeit mehr oder weniger 
verbrauchte Zwischenenergie wiederherstellen. Und hier erscheint 
dann der Ausdruck der Erholung als der allein angemessene. Diesem 
letzteren Rahmen fügt sich die Theorie Meyerhofs ohne weiteres ein. 
Die ‚„Zwischenenergie‘ ist hier eben dadurch gegeben, daß in räum- 
licher Trennung von den Verkürzungsorten ein Körper vorhanden 
ist, der eine hohe Affinität zur Milchsäure besitzt, eben die 
Z-Substanz. Ob Hill und Weizsäcker sich den Vorgang in der 
ersteren oder der letzteren Weise gedacht haben oder ob sie beide in 
Betracht gezogen und absichtlich unterlassen haben, eine Entscheidung 
dazwischen zu treffen, darf hier dahingestellt bleiben. Halten wir als 
wesentlichen Punkt ihrer Entwicklungen nur den allgemeinen, beide 
Fälle umfassenden Gedanken fest, so werden wir sagen dürfen, daß 
die Meyerhofsche Theorie, indem sie dem letzteren Falle entspricht, 
eine spezialisierende Durchführung der Hillschen Vorstellung ist. 

Wenn wir, wozu hier nun der Ort ist, auf die Betrachtungen Ficks 
zurückblicken und erwägen, in welchen Hinsichten und wie weit wir 
über sie hinausgelangt sind, so wird etwa folgendes zu sagen sein. 
Da Fick, wie erwähnt, davon als selbstverständlich ausging, daß die 
energieliefernden Verbrennungsprozesse während der Zusammenziehung 
ablaufen müßten, so führte ihn die Einsicht, daß der Muskel jedenfalls 
nicht als thermodynamische Maschine arbeitet, unmittelbar zu der 
Folgerung, daß die chemischen Affinitäten der Verbrennung ‚im Sinne 
der Zusammenziehung geordnet‘ sein müßten. Ihm selbst dürfte dabei 
am wenigsten entgangen sein, daß man sich zunächst keinerlei Bild 
davon zu machen vermag, wie dies verwirklicht sein sollte. Von diesem 
schwierigen, ja wie wir jetzt wohl sagen dürfen, hoffnungslosen Pro- 
blem sind wir befreit. Nicht die chemischen Affinitäten der Verbren- 
nung haben wir uns im Sinne der Zusammenziehung geordnet zu den- 
ken, sondern physikalisch-chemische Kräfte besonderer Art, wie etwa 
Quellungskräfte oder ähnliche. Die ganz allgemeine Frage, wie bei der 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 73 


Muskeltätigkeit chemische Energie zur Erzeugung sichtbarer Be- 
wegung und zur Leistung mechanischer Arbeit verwendet wird, ist hier- 
durch greifbarer gemacht und dadurch sicherlich auch ihrer Lösung 
näher gebracht. Aber man kann andererseits doch auch nicht be- 
haupten, daß sie endgültig und in befriedigender Weise gelöst sei. Man 
sieht das vielleicht am deutlichsten, wenn man an gewisse Fälle denkt, in 
denen das analoge Problem wirklich ganz gelöst erscheint. Dahin ge- 
hört namentlich die Leistung elektrischer Arbeit durch chemische 
Kräfte (oder umgekehrt), Verhältnisse, die durch die Theorie der 
Elektrolyse und des galvanischen Elementes in der Tat vollkommen 
durchsichtig sind. Auch der Zusammenhang des osmotischen Druckes 
mit den chemischen Verhältnissen wird hierher zu rechnen sein. Bei 
der Quellung läßt sich der Zusammenhang der Wasserbewegung mit 
chemischen Bedingungen zwar leicht als Tatsache erweisen. Aber es 
ist, soweit ich sehe, bisher nicht gelungen, alle diese Zusammenhänge 
allgemeinen Gesetzen unterzuordnen. Das kommt schon darin zum 
Ausdruck, daß wir eine feste quantitative Beziehung zwischen Quel- 
lungskräften und chemischen Affinitäten bisher nicht anzugeben 
vermögen. 

Wenn ferner ein Körper bei der Quellung nicht allein sein Volum, 
sondern zugleich auch seine Form ändert, so drückt sich ja darin ein 
in den verschiedenen Richtungen des Raumes ungleiches Verhalten 
aus. Finden wir dies also bei Gebilden, die sich auch in optischer Hin- 
“sicht als anisotrop erweisen, so können wir ein solches Verhalten im 
allgemeinen Sinne verständlich nennen. Aber es fehlt uns vorderhand 
doch noch durchaus an genaueren Vorstellungen über die dabei in 
Betracht kommenden Strukturen. Ähnliches gilt wohl in noch höherem 
Maße für die von Herzfeld und Klinger angenommenen Adsorptionen 
und die durch sie freigemachten ‚Nebenaffinitäten“. Nur darauf 
können wir mit Recht hinweisen, daß der Schlüssel für diese Probleme 
in der kolloiden Natur der betr. Gebilde gegeben sein wird. Ordnen 
sich die Atome nach Maßgabe chemischer Affinitäten zu Gruppen, 
die über die Größe der gewöhnlichen Moleküle weit hinausgehen, so 
werden wir es verständlich finden, daß dabei auch Kräfte entstehen, 
die über molekulare Abmessungen hinausgehen und sichtbare Be- 
wegungen herbeizuführen geeignet sind. Auch hier kann man sagen, 
was ja in allgemeinerem Sinne zutrifft, daß durch die kolloiden Bil- 
dungen die Grenze zwischen molekularen und sichtbaren Abmessungen, 
zwischen chemischem und physikalischem Geschehen, überbrückt sind. 

Ähnlich liegen die Dinge auch für den zweiten Punkt, der an den 
modernen Theorien als allgemeines Merkmal hervorzuheben ist. Mit 
der Zerlegung der Muskeltätigkeit in eine Mehrzahl sich aneinander- 
schließender Vorgänge ist ohne weiteres gegeben, daß ein Teil dieser 


mA ; J. v. Kries:. 


Vorgänge durch gewisse chemische Affinitäten bedingt ist, zugleich 
aber andere chemische Kräfte ihm entgegenwirken und überwunden 
werden, wie dies oben ja im einzelnen schon im Hinblick auf die ener- 
getischen Verhältnisse hervorgehoben wurde. Diese ganze Vorstellung 
fällt durchaus in den Rahmen des uns Gewohnten und schließt in- 
sofern ein besonderes Problem nicht in sich. Es gehört zu unseren 
geläufigsten chemischen Vorstellungen, daß z. B., wenn wir eine orga- 
nische Substanz verbrennen, dabei die chemischen Affinitäten, durch 
die ihre Atome zunächst zusammengehalten sind, gesprengt werden 
müssen, und daß demgemäß auch die Wärmetönung von derjenigen 
verschieden ist, die wir bei Verbrennung ihrer unverbundenen Ele- 
mente erhalten. Auf der anderen Seite versteht sich, daß wir von einem 
abschließenden Verständnis noch nicht reden können, solange uns: jene 
gegeneinandergeordneten chemischen Vorgänge nicht im einzelnen 
bekannt sind. Die fühlbarste Lücke in dieser Hinsicht ist wohl die, 
daß wir uns von der Z-Substanz, jenem Körper, der nach der Annahme 
Meyerhofs die Milchsäure von den Verkürzungs- zu den Ermüdungs- 
orten hinüberziehen soll, und von der Natur der dabei entstehenden Ver- 
bindung kein Bild zu machen vermögen. — Noch anders stellen sich die 
Dinge dar, sobald wir mit Meyerhof annehmen, daß bei der Erholung 
nicht schlechtweg eine Verbrennung der ganzen an die Z-Substanz gebun- 
denen Milchsäure stattfindet, sondern daß unter Verbrennung eines 
gewissen Teiles (etwa !/,) der Rest zu Glykogen regeneriert und wieder 
an die Verkürzungsorte gebracht wird. Dabei ist zu beachten, daß ° 
auch dieser Rest aus seiner Verbindung mit der Z-Substanz gelöst 
werden muß, was eine entsprechende Energie-Aufwendung voraussetzt. 
Ist diese Energiequelle in der Verbrennung jenes einen Drittels zu 
. suchen, so haben wir damit einen Vorgang, bei dem chemische Ver- 
änderungen in gewissen Körpern hervorgerufen werden unter Auf- 
wendung derjenigen Energie, die durch gleichzeitige Vorgänge in 
anderen Körpern verfügbar wird. Dies setzt eine Verkoppelung 
voraus, von deren Natur wir uns vorderhand keine rechte Vorstellung 
bilden können, und für die es auch wohl nicht leicht sein dürfte, in der 
unbelebten Natur Analogien zu finden. — Auf eine andere Lücke unserer 
Kenntnisse gerade in bezug auf diesen Punkt, die einander entgegen- 
geordneten chemischen Kräfte, wird sogleich in anderem Zusammen- 
hange noch zurückzukommen sein. 

Nach all dem könnte eine pessimistisch gestimmte Betrachtung wohl 
zu dem Ergebnis kommen, daß die Probleme der Muskeltätigkeit nicht 
sowohl gelöst, als von der Phase der Zusammenziehung in die der 
Erschlaffung und der Erholung hinübergeschoben sind. Immerhin, 
wenn die Anschauungen, die sich herausgebildet haben, auch nur in 
ihren Grundzügen zutreffend sind, so dürfen wir den Gewinn nicht 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 75 


unterschätzen, den es bedeutet, in die Gliederung der Vorgänge, 
den Aneinanderschluß ihrer Teile, einen Einblick gewonnen zu haben. 
Und sind uns die dabei wirksamen Kräfte noch nicht vollkommen 
durchsichtig, so ist es doch von Wert, mit unserer Fragestellung 
auf den richtigen Weg gekommen zu sein. 

In der Tat erscheint mir als die wertvollste Errungenschaft die 
allgemeine Anschauung über die Gliederung der Zuckung und den 
energetischen Zusammenhang der Teilvorgänge, wie sie namentlich 
in der Arbeit Meyerhofs in voller Klarheit herauskristallisiert er- 
scheint *). 

Sie besteht, um das Wesentliche nochmals kurz zusammenzufassen, 
im folgenden: 1. Zusammenziehung. Die sichtbare mechanische 
Arbeit wird durch physikalisch-chemische Kräfte besonderer Art ge- 
leistet, somit durch Verbrauch einer Energieform, die etwa, wenn auch 
nur beispielsweise, als Quellungsenergie bezeichnet werden darf. Diese 
Quellungsenergie ist der Natur der Sache nach immer nur in dem 
für eine maximale Zusammenziehung erforderlichen Maße vorhanden, 
und ist somit verbraucht, wenn diese eingetreten ist. 2. Erschlaf- 
fung. Die Zurückführung des Muskels in den erschlafften Zustand 
bedeutet eine Wiederherstellung der Quellungsenergie. Sie erfolgt 
durch Kräfte, die, wiederum beispielsweise, als die Affinität der Z-Sub- 
stanz zur Milchsäure bezeichnet werden können, und auf Kosten einer 
als Zwischenenergie zu bezeichnenden Energieform. Diese Zwischen- 
energie ist in einem Betrage vorhanden, der genüst, um für eine große 
Reihe von Zuckungen die Erschlaffung herbeizuführen und die Quel- 
lungsenergie wiederherzustellen. 3. Erholung. Die Wiederherstellung 
der verbrauchten Zwischenenergie endlich erfolgt im Erholungsstadium 
durch Verbrennungsprozesse. 


II. Der ökonomische Quotient. 


Die zweite Frage von weittragender physiologischer Bedeutung, 
über deren Stand ich hier in ähnlichem Sinne einige Bemerkungen 
machen möchte, ist die nach dem ökonomischen Quotienten 
der Muskeltätigkeit. Haben wir, wie die Beobachtungen Hills lehren, 
zwei Arten der Wärmeentwicklung zu unterscheiden, die initiale und 
die verzögerte, so ist zunächst zu erwägen, ob für seine Ermittlung 
die geleistete Arbeit mit der gesamten entwickelten Wärme, der ini- 
tialen plus der verzögerten, oder etwa nur mit der ersteren in Vergleich 


*) Damit soll selbstverständlich Wert und Bedeutung aller derjenigen Unter- 
suchungen, die sich eine speziellere Aufklärung der Tätigkeitsvorgänge des Muskels 
zum Ziel gesteckt haben, weder verkannt noch herabgesetzt werden. Ich wünschte 
hier nur herauszuheben, was gerade von dem hier eingenommenen Standpunkt 
aus als vorzugsweise bedeutsam erscheint. 


76 | J. v. Kries: 


zu bringen ist. Ohne weiteres leuchtet ein, daß die erstere Betrach- 
tung geboten ist. Denn wenn wir den ökonomischen Quotienten im 
letzteren Sinne nehmen wollten, so würde dieser Begriff, wenn auch 
nicht ganz wertlos werden, so doch jedenfalls derjenigen Bedeutung 
ermangeln, auf der sein großes biologisches Interesse beruht. Man sieht 
das am einfachsten, wenn man z. B. an die Möglichkeit denkt, daß 
durch einen vorbereitenden Vorgang eine mechanische ‚„Zwischen- 


energie‘ geschaffen würde. Es könnte dann durch Auslösung derselben 


die Zuckung ausgeführt und Arbeit geleistet werden, ohne daß dabei 
überhaupt. Wärme gebildet, ja auch ohne daß chemische Spannkräfte 
dabei verbraucht würden. Man wird jedoch nicht daran denken, in 
diesem Falle von einem ökonomischen Quotienten — 1 oder = oo zu 
sprechen. Wir wünschen durch ihn anzugeben, in welchem Verhältnis 
der Muskel diejenige Energie, die ihm dauernd und unbe- 
grenzt zugeführt werden kann, zur mechanischen Arbeits- 
leistung zu verwerten vermag; er bezieht sich also auf die Gesamt- 
heit aller hierin eingehenden Vorgänge, nicht auf irgendeinen Teil- 
prozeß. — Für diese Aufgabe ist nun, wie mir scheint, die. Lage inso- 
fern verschoben worden, als dasjenige Verfahren, das hier vormals 
mit in erster Linie herangezogen wurde, die thermoelektrische Beobach- 
tung der Muskelerwärmung, nunmehr von sehr problematischem Wert, 
ja eigentlich wohl überhaupt ungeeignet erscheint. Wenn im Muskel 
Wärme in einem Bruchteil einer Sekunde erzeugt wird, so können w'r 
freilich ohne nennenswerten Fehler den kalorischen Wert aus der 
Temperatursteigerung der Muskelmasse entnehmen. Dagegen scheint 
es mir ganz unmöglich, den kalorischen Wert einer ‚‚verzögerten Wärme- 
bildung‘ auf diesem Wege auch nur mit annähernder Sicherheit zu 
ermitteln. Hill hat freilich den Versuch gemacht, hier wenigstens 
schätzungsweise zu bestimmten Werten zu gelangen. Mir scheint jedoch, 
daß diese Schätzung zu erheblichen Bedenken Anlaß gibt. Die ver- 
zögerte Wärmebildung vollzieht sich ja sehr langsam. Hill verfolst 
sie über 5 Minuten. Es versteht sich indessen, daß sehr geringe Grade 
der verzögerten Wärmebildung sich bei dem angewandten Verfahren 
der Beobachtung entziehen. Nehmen wir an (was jedenfalls nicht 
auszuschließen ist), daß sie sich in geringem Grade noch über viel 
längere Zeiten erstreckt, so könnten sich vielleicht beträchtlich höhere 
Werte für sie herausstellen. — Dazu kommt noch etwas Weiteres. Die 
Berechnung des ökonomischen Quotienten unter Einbeziehung der 
verzögerten Wärmebildung ist ja nur unter der Voraussetzung zu- 
lässig, daß nach deren Abschluß, also nach der ‚Erholung‘, deren 
Begleiterscheinung sie ist, der Muskel sich genau in demselben Zu- 
stand befindet wie vor der betr. Zuckung. Je nach den besonderen 
Vorstellungen, von denen man ausgeht, würde dies bedeuten, daß 


7 
2 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätiekeit. 7 
5 - ( 


wieder genau die nämliche Menge an Zwischenenergie vorhanden ist, 
daß an den Ermüdungsorten sich wieder genau die gleiche Menge von 
Milchsäure befindet usw. Daß das der Fall ist, kann auch nicht als 
selbstverständlich behauptet werden. — Endlich ist hier noch anzu- 
führen, daß Hill die mechanische Arbeit des Muskels nicht direkt 
beobachtet, sondern (bei isometrischem Verfahren) aus den bei ver- 
schiedenen Längen zu erhaltenden Spannungen berechnet hat. Es wird 
an späterer Stelle noch darauf einzugehen sein, daß sich gegen diese 
Berechnung starke Bedenken geltend machen lassen. — Nach all dem 
dürfen wir es wohl kaum als erwiesen ansehen, daß der ökonomische 
Quotient die hohen Werte bis zu 0,5, die Hill berechnet, wirklich 
erreichen kann*). 

Bei dieser Sachlage gewinnen diejenigen Ermittlungen des ökono- 
mischen Quotienten eine eıhöhte Bedeutung, die auf ganz anderer 
Grundlage, nämlich auf Beobachtungen am Gesamtorganismus, 
beruhen. Die wichtigen Untersuchungen von Zuntz?”?) haben gezeist, 
daß innerhalb gewisser Grenzen für jedes Kilogıamm-Meter geleisteter 
Arbeit ein Mehrverbrauch von etwa 1,5 cem Sauerstoff stattfindet, 
ein Verhältnis, aus dem sich durch einfache Berechnungen ein ökono- 
mischer Quotient von etwa 1/, bis !/, ergibt. Von besonderem In- 
teresse ist dabei, daß dieser Wert in annähernder Übereinstim- 
mung für Mensch, Hund und Pferd gefunden wurden. Meines Er- 
achtens sınd diese Werte zur Zeit die verhältnismäßig sicherste Grund- 
lage dessen, was wir über den ökonomischen Quotienten wissen. — 
Der hier erhaltene Wert von 25—33%, ist nun insofern auffallend, 
als er weit hinter demjenigen zurückbleibt, der auf freilich rein theo- 
retischer, aber wohl einwandfreier Grundlage als möglicher Höchst- 
wert berechnet worden ist. Baron und Polanyi!) finden auf Grund 
des Nernstschen Wärmetheorems einen Nutzwert von gegen 100%. 
Verhalten sich die Dinge so, so würde hier jene höchste Vollkommen- 
heit, die wir von den Einrichtungen der belebten Natur zu erwarten 
gewohnt sind, in auffälliger und einer besonderen Erklärung bedürf- 
tiger Weise fehlen**). Eine solche muß um so mehr gefordert werden, 


*) Ebensowenig werden wir die älteren Befunde Metzners (20a) als be- 
weisend betrachten dürfen, bei denen die verzögerte Wärmebildung noch nicht 
bekannt war und außer Berechnung blieb, 

**) Man darf hiergegen nicht einwenden, daß es nicht berechtigt sei, den 
Muskel unter den gleichen Gesichtspunkten zu betrachten wie etwa eine Dampf- 
maschine, da er nicht allein zur Arbeitsleistung, sondern auch zur Wärmeerzeugung 
bestimmt sei. Denn wenn dies auch im allgemeinen zutrifft, so fehlt es doch nicht 
an Umständen, unter denen es für den Organismus von höchstem Wert wäre, 
seine Muskelarbeit mit so wenig Wärmeerzeugung als nur irgend möglich leisten 
zu können. Das ist z. B. der Fall, wenn in sehr warmer Umgebung die Gefahr 
einer Übersteigerung der Körpertemperatur droht. Es ist bekannt, wie sehr diese 


er 


78 J. v. Kries: 


als es sich nicht um ein schwankendes und unregelmäßiges Zurück- 
bleiben hinter dem theoretischen Höchstwert handelt, sondern um die 
Einstellung auf einen annähernd bestimmten Wert, dem also die Be- 
deutung irgendeiner festen Grenze zuzukommen scheint. 

Diese Erklärung darf nun, wie mir scheint, wenigstens 
teilweise darin gefunden werden, daß bei der Tätigkeit 
des Muskels verschiedene chemische Vorgänge in der vor- 


hin dargelegten Weise gegeneinandergeordnet sind. Aus 


. allgemeinen Gründen ergibt sich ja, daß der theoretisch denkbar höchste 
Arbeitserfolg nur dann erzielt werden kann, wenn die sämtlichen dabei 
sich abspielenden Vorgänge in umkehrbarer Weise verlaufen. 
Wenn nun ein chemischer Vorgang im Sinne gewisser Affinitäten 
und entgegengesetzt anderen stattfindet, die letzteren also durch 
die ersteren überwunden werden, so ist er dann und nur dann ein 
umkehrbarer, wenn die entgegengesetzten Affinitäten nur unendlich 
wenig voneinander verschieden sind. Eben dieses Verhältnis wird nun 
ohne Zweifel bei der Muskeltätigkeit nach Maßgabe der sonstigen 
durch die physiologischen Zwecke gestellten Forderungen ausgeschlossen 
sein. Denn diese gehen ja vor allem auch dahin, daß die betr. Vor- 
gänge mit einer beträchtlichen Geschwindigkeit ablaufen. Die chemische 
Kraft, mit der die Milchsäure von den Verkürzungsorten nach den Er- 
müdungsorten gezogen wird, muß die dabei zu überwindende, die sie 
an den ersteren Stellen festhält, jedenfalls um ein Beträchtliches über- 
steigen. Ebenso wird die Affinität zwischen O und Milchsäure wieder- 
um diejenige, mit der die letztere an den Ermüdungsorten festgehalten 
wird, nicht um unendlich wenig, sondern erheblich übertreffen müssen. 
Dabei ist weiter zu beachten, daß, wenn diese chemischen Vorgänge 
qualitativ fixiert und demgemäß die dabei ins Spiel kommenden Affi- 
nitäten fest gegeben sind, damit auch dem ökonomischen Quotienten 
eine ganz bestimmte, nicht überschreitbare Grenze gesteckt ist. 
Natürlich soll nicht gesagt sein, daß diese Verhältnisse allein für den 
ökonomischen Quotienten maßgebend seien. Wie mir scheint, verdient 
in dieser Hinsicht namentlich noch der folgende Punkt Beachtung. Der 
Vorgang einer Quellung bedingt ja zunächst die Vermehrung eines 
Volumens. Wir haben daher in erster Linie zu erwarten, daß die dabei 
theoretisch mögliche Menge geordneter Energie in dieser Form, als 
eine durch Volumzunahme bedingte mechanische Arbeit, erhalten werden 
kann. Auch für den Muskel muß die Quellungstheorie annehmen, daß 
bei der Zusammenziehung das Volumen gewisser Teile sich vermehrt, 


Gefahr durch angestrengte Muskeltätigkeit gesteigert wird. Unter diesen Um- 
ständen zeigt sich deutlich, daß entgegen der Forderung der Zweckmäßigkeit 
die Muskelarbeit nicht anders als mit sehr beträchtlichen Wärmeentwicklungen 
aufrechterhalten werden kann. 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 79 


während andere eine Volumverminderung erleiden. Nun können wir 
wohl verstehen, daß bei Gebilden, die sich nicht in allen Richtungen 
gleich verhalten, die also anisotrop sind, die Volumvermehrung mit 
einer Änderung der Form festverknüpft ist. Eben hierin liegt ja das 
große Interesse der Tatsache, daß es, wie Engelmann sagte, keine 
biologische Contractilität ohne Doppelbrechung gibt. Auch können 
wir uns, wenn wir nur die Energieverhältnisse in Betracht ziehen, wohl 
denken, daß die Energie der Volumänderung restlos in eine solche 
der Formänderung, des Zuges, umgewandelt wird. Aber es ist eine 
berechtigte Frage, ob das tatsächlich geschehen kann. Und es könnte 
vielleicht auch gerade in diesen Verhältnissen ein Grund dafür liegen, 
daß der ökonomische Quotient hinter dem theoretisch zu errechnenden 
Wert zurückbleibt und seiner Erhöhung eine feste Grenze gezogen ist. 


III. Der zeitliche Verlauf der Zuckung und seine Abhänsig- 
keit von mechanischen Bedingungen. 


Wie eingangs erwähnt, haben ältere Untersuchungen so manche 
Tatsache ergeben, die wir wohl Anlaß haben, etwas vollständiger als 
bisher geschehen, mit den Theorien der Muskeltätigkeit in Verbindung 
zu bringen. Es ist dabei vor allem an diejenigen Ermittlungen zu 
denken, die sich auf den zeitlichen Verlauf der Zuckung und ihre Ab- 
hängigkeit von mechanischen Bedingungen erstrecken. Da jede Theorie 
den Aneinanderschluß mehrerer verschiedener Vorgänge in der Zuk- 
kung annehmen muß, so ist damit auch für die fundamentale Tat- 
sache, daß die Zuckung überhaupt auf einen bestimmten zeitlichen 
Verlauf eingestellt ist, die wichtigste Grundlage gegeben. Bei jeder Auf- 
fassung leuchtet ferner ein, daß die Bewegungen der Bestandteile des 
Muskels, die in der Verkürzung zur Erscheinung kommen, von welcher: 
Art sie auch sein mögen, eine gewisse endliche Zeit in Anspruch nehmen. 
Man kann daher auch die endliche Dauer des Verkürzungsvorganges, 
wenn man von ihren genaueren quantitativen Werten absieht, wohl 
als eine selbstverständliche, einer besonderen Erklärung nicht be- 
dürftige Tatsache gelten lassen. Im Anschluß hieran hat aber schon 
Helmholtz!:) auf die fundamentale Bedeutung der Frage hinge- 
wiesen, ob nach der Reizung die jene Bewegungen hervorrufenden. 
Kräfte sogleich in vollem Umfang vorhanden sind, oder ob auch diese 
sich erst in gleichen oder ähnlichen Zeiträumen entwickeln. Um diese 
Frage zu entscheiden, beobachtete er die Zuckungen nach dem sog. 
Überlastungsverfahren und stellte fest, daß in dem an der Ver- 
kürzung verhinderten Muskel auch die Spannungen nicht momentan 
in voller Stärke einsetzen, sondern sich erst allmählich in einem der 
Verkürzung jedenfalls ähnlichen Verlauf entwickeln. Die späteren Unter- 
suchungen haben dies bestätigt; sie haben gezeigt, daß der zeitliche Ver- 


sr 


80 J.v. Kries: 


lauf einer Spannungs- oder isometrischen Zuckung mit dem der 
Verkürzungs- oder isotonischen zwar nicht genau parallel geht, aber ihr 
doch ähnlich ist und hinsichtlich der Größenordnung mit ihr überein- 
stimmt. Versucht man diese Tatsache mit den Theorien der Muskeltätigkeit 
in Zusammenhang zu bringen, so erheben sich sogleich Fragen, die, 
wie mir scheint, bisher die Aufmerksamkeit nicht gefunden haben, 
die sie wohl verdienen. Ist der Anstoß zur Zuckung in einer Bildung 
von Milchsäure zu suchen, so können wir uns vielleicht denken, daß 
diese Bildung trotz des ihr zugeschriebenen ‚„explosiven“ Charakters 
über eine gewisse, etwa dem Anstieg der isometrischen Zuckung gleich- 
zusetzende Zeit ausgedehnt ist. Ohne Zweifel kann aber diese Vorstel- 
lung auch Bedenken begegnen. Und man wird vielleicht eher geneigt 
sein anzunehmen, daß die Bildung der Milchsäure in einer für diese 
Verhältnisse zu vernachlässigenden Zeit „momentan“ erfolgt, daß 
sie aber zunächst noch nicht genügt, um die bemerkbare mechanische 
Änderung des Muskels, den Spannungszuwachs, hervorzurufen, daß 
hierzu vielmehr erst ein weiterer Vorgang erforderlich ist, der sich 
an die Entstehung der Milchsäure anschließt und seinerseits eine merk- 
bare Zeit erfordert. Namentlich wenn man sich auf den Boden 
der Quellungshypothese stellt, ist die Vorstellung sehr naheliegend, daß 
der mit der Entstehung der Milchsäure gegebene Zustand sich nicht 
unmittelbar als Spannung bemerkbar macht, daß diese vielmehr erst 
in dem Maße eintritt, als eine Quellung tatsächlich stattge- 
funden hat, also z.B. (im Sinne Fürths) die anisotropen Gebilde 
Wasser aus ihrer Umgebung aufgenommen haben. Es liegt jedoch 
nicht in meiner Absicht, diese Frage des Genaueren zu verfolgen; 
ich wollte sie nur der Aufmerksamkeit der Theoretiker empfehlen - 
und eine Äußerung in bezug auf diesen doch recht wichtigen Punkt 
anregen. 

Was die Abhängigkeit der Zuckung von den mechanischen Be- 
dingungen angeht, unter denen wir sie ablaufen lassen, so glaube ich, 
daß eine ganze Anzahl hierhergehöriger Tatsachen durch die modernen 
Theorien verständlich gemacht werden und wiederum sie zu stützen 
und zu vervollständigen geeignet sind. Man kann sogar sagen, daß 
gewisse, sehr allgemeine Anschauungen, die sich schon vormals aus 
den Tatsachen entnehmen ließen, sich in den modernen Theorien in 
speziellerer Durchführung wiederfinden. — Wir wissen seit einigen Jahr- 
zehnten, daß zwischen dem Verlauf der Zuckung und den mechanischen 
Einwirkungen, die auf den Muskel ausgeübt werden, ein enger und 
mannigfaltiger Zusammenhang besteht. Um die Bedeutung dieser 
Tatsachen richtig zu würdigen, ist es nicht überflüssig daran zu er- 
innern, daß bis kurz vor dem Einsetzen dieser Untersuchungen ein solcher 
Zusammenhang grundsätzlich verneint wurde. Eine auf Ed. Weber 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 81 


zurückgehende, aber auch noch in den älteren Arbeiten Ficks 
zugrunde gelegte Anschauung ging dahin, daß infolge eines Reizes 
stets ein streng festgelegter Verband von Vorgängen sich im Muskel 
abspiele und daß die durch mechanische Bedingungen (großen oder 
geringen, konstanten oder wechselnden Zug) zu erhaltenden Ver- 
änderungen nichts anderes bedeuten, als elastische Deformationen. 
Selbst die Tatsache, daß die isometrische Zuckung ihren Gipfel regel- 
mäßig früher als die isotonische erreicht, suchte Fick zuerst noch?) 
mit dieser Auffassung in Einklang zu bringen. Eine systematische 
und ausgedehntere Variierung der mechanischen Bedingungen führte 
mich schon bei meinen ersten Versuchen über die Muskeltätigkeit!?) 
zu der Einsicht, daß die Dinge sich nicht so verhalten, daß es unan- 
gängig ist, Tätigkeits- und elastische Veränderungen streng zu trennen. 
Ich gelangte so zu der Aufstellung, daß eben diejenigen Verän- 
derungen, in denen die Tätigkeit besteht, durch die der 
Verkürzung entgegenwirkenden äußeren Kräfte klei- 
neren oder größeren Teils verhindert werden, und daß 
man daher von einer „Elastizität des tätigen Muskels‘‘ als einer ein- 
heitlichen, der Elastizität unbelebter Gebilde vergleichbaren physi- 
kalischen Eigenschaft nicht reden kann. 

Es würde zu weit führen, auf die zahlreichen Tatsachen, aus denen diese 
Anschauung sich entnehmen ließ, hier in extenso einzugehen. Indem ich 
im übrigen auf die erwähnten älteren Arbeiten verweise, beschränke ich 
mich hier darauf, eine besonders einfache Gruppe hierhergehöriger Erschei- 
nungen kurz zu berühren, die sog. Unterstützungszuckungen. 
Man läßt den Muskel eine maximale Zuckung ausführen mit einem 
Gewicht p, das zunächst vor der Zuckung frei an ihm hängt. Er er- 
reicht dabei einen bestimmten Verkürzungsgrad, das Gewicht wird 
bis zu einer bestimmten Höhe gehoben. Stellt man nunmehr durch 
eine passende Unterstützungsvorrichtung das Gewicht von vornherein 
auf diese Höhe ein und reizt nunmehr den Muskel, so vermag er es 
von der Unterstützung ab- und auf eine beträchtlich größere Höhe 
zu heben, erreicht also einen weit höheren Verkürzungsgrad. Erhebt 
man das Gewicht wiederum durch die Unterstützung auf die nunmehr 
erreichte Höhe und reizt dann, so wird das Gewicht wiederum höher 
gehoben, also ein noch höherer Grad der Verkürzung erreicht. So kann 
man eine ganze Anzahl von Malen nacheinander fortfahren. Der Zustand, 
den der Muskel als höchsten Verkürzungsgrad (und zwar immer bei 
derselben Spannung) erreicht, ist also in hohem Grade abhängig von 
den der Verkürzung entgegenwirkenden Kräften. Je größer diese 
schon vom Beginn der Zuckung an sind, m.a. W., je mehr Arbeit der 
Muskel beim Anstieg der Zuckung leistet, um so geringer sind die 
Kontraktionsgrade, die er erreicht. 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. ed 6 


82 J. v. Kıries: 


Die erwähnte allgemeine Folgerung nun, die sich damals aus dieser 
und anderen ähnlichen Tatsachen ziehen ließ, bedeutet ja im Grunde gar 
nichts anderes, als was uns jetzt in der Form geläufig ist, daß der 
Muskel als chemodynamische Maschine aufgefaßt wird, daß chemische 
oder physikalisch-chemische Kräfte (wie etwa die der Quellung) im 
Sinne der Formveränderung geordnet sind. Denn sobald 
dies der Fall ist, wirken auch die der Formveränderung entgegen- 


gerichteten Kräfte jenen physikalisch-chemischen Kräften direkt ent- 


gegen und werden also den Vorgang, den diese herbeiführen, in irgend- 
einem Betrage verhindern. Wenn wir uns z.B. auf den Boden der 
Quellungshypothese stellen, so wird anzunehmen sein, daß, wie der 
Wassereintritt in gewisse Gebilde die Formveränderung bedingt, so 
auch die Menge des in jene Gebilde eintretenden Wassers 
von den der Verkürzung entgegenwirkenden Kräften 
abhängt. 

Es gibt noch eine ganze Anzahl anderer Tatsachen dieses Gebietes, 
die gleichfalls im Hinblick auf die Theorien der Muskeltätigkeit, wenn 
auch wieder unter anderen Gesichtspunkten, von Interesse sind. Von 
diesen mögen hier die sog. Gipfelzeiten erwähnt werden, d.h. die 
Zeiten, die vom Beginn der Reizung vergehen, bis der Muskel das Höchst- 
maß des tätigen Zustandes erreicht hat. Unbedingt muß ja angenom- 
men werden, daß bei der Erschlaffung nicht etwa ein die Tätigkeit 
bedingender Vorgang einfach aufhört, sondern daß der veränderte 
Zustand (sei es der Verkürzung, sei es der Spannung) durch einen 
bestimmten Vorgang wieder beseitigt oder rückgängig gemacht wird. 
Es ist dies von Fick immer mit besonderem Nachdruck betont worden 


und alle Theorien der Muskeltätigkeit tragen diesem Postulat Rech- - 


nung. Man kann in diesem Sinne etwa mit Eckstein°) von distra- 
hierenden, im Gegensatz zu den kontrahierenden, Vorgängen 
sprechen. Geht manhhiervon aus, so wird weiter mit großer Wahrscheinlich- 
keit anzunehmen sein, daß jene distrahierenden Vorgänge nicht etwa 
erst in dem Augenblick einsetzen, wo der Zuckungsgipfel erreicht ist, 
sondern schon vorher. Danach würde denn der Gipfel denjenigen 
Punkt bedeuten, in dem die Vorgänge der einen und der anderen 
Art sich gerade das Gleichgewicht halten. So würde etwa an- 
zunehmen sein, daß in irgendwelchen Gebilden das Eindringen der 
Milchsäure von einer Stelle und ihr Fortgehen nach einer anderen 
Stelle sich gerade im Gleichgewicht halten, während vor dem Zuckungs- 
gipfel das erstere, nach dem Gipfel das zweite überwiegt. 

Die Beobachtungen haben nun gelehrt, daß die Zeiten, die vom 
Augenblick des Reizes bis zur Erreichung des Gipfels vergehen, für einen 
bestimmten Muskel keineswegs konstant sind, sondern von den Be- 
dingungen der Zuckung in weitgehender Weise abhängen. Die be- 


u ANETTE. tere 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 53 


merkenswerteste hierhergehörige Tatsache ist die, daß der Gipfel 
um so früher erreicht wird, je höher der erreichte Tätig- 
keitsgrad ist!2). Dies läßt sich schon erkennen, wenn wir in der 
vorhin erwähnten Weise die Kontraktionshöhen durch anfängliche 
Unterstützung des Gewichtes vermehren; die Zuckungen mit unter- 
stütztem Gewicht haben kürzere Gipfelzeiten als die mit frei am Muskel 
hängender Belastung. In sehr viel stärkerem Maße aber läßt sich das 
gleiche bei der Summation von Zuckungen bemerken, und wir kom- 
men damit auf eine Tatsache, die auch in anderer Richtung von Be- 
deutung ist. Ein Muskel möge bei einmaliger Reizung den Zuckungs- 
gipfel nach 50 o erreichen. Was geschieht nun, wenn wir zahlreiche- 
Reize in einem zeitlichen Zwischenraum von 50 o oder einem noch 
kleineren einwirken lassen? Wäre jeder Reiz befähigt, für eine ganz: 
bestimmte Zeit eine Verkürzung des Muskels herbeizuführen, so müßte 
man erwarten, daß der Muskel nun gar keine Wiederverlängerung: 
mehr zeigen kann; es müßte also ein absolut vollkommener Tetanus 
eintreten. Das ist aber keineswegs der Fall. Man sieht vielmehr auch 
bei solchen oder auch noch schnelleren Reizfolgen regelmäßige Oscil- 
lationen. Hier erzielt nun jeder Reizanstoß einen weit kürzeren An- 
stieg. Wie bekannt, gilt dies, soweit wir wissen, unbegrenzt; d.h. 
wir haben Anlaß anzunehmen, daß es einen absolut vollkommenen 
Tetanus überhaupt nicht gibt. Diese Tatsache beruht eben darauf, 
daß in dem Maße als der Zusammenziehungsgrad des Muskels höher 
geworden ist, auch die durch jeden Reiz eingeleitete Längenverminde- 
rung von immer kürzerer Dauer und immer schneller durch die 
Wiederverlängerung abgelöst wird. 

Die allgemeine Regel nun, zu der wir hier gelangen, daß die distra- 
hierenden Vorgänge um so lebhafter ablaufen, je höher der Kontrak- 
tionsgrad ist, läßt sich auf dem Boden bestimmter theoretischer Vor- 
stellung auch leicht greifbarer gestalten und damit zugleich allgemeinen 
wohlbekannten Gesetzmäßigkeiten annähern. So erscheint leicht ver- 
ständlich, daß die Überführung der Milchsäure von den Verkürzungs- 
orten nach den Ermüdungsorten um so lebhafter stattfindet, je mehr 
von ihr an den ersteren Stellen vorhanden ist. 

Es ist hier nun auch der Ort, auf die Art und Weise einzugehen, 
in der Hill die vom Muskel bei einer Zuckung zu leistende Arbeit 
berechnet. Die Bedenken, die sich, wie vorhin berührt, gegen diese 
Berechnung erheben, beruhen gerade darauf, daß die soeben besprochenen 
Verhältnisse der Zuckungsmechanik nicht berücksichtigt werden. 
Hill geht von der folgenden Überlegung aus. Haben wir z.B. einen 
gespannten Gummifaden, so müssen wir, um das Maximum von Arbeit 
zu erhalten, das er leisten kann, die Belastung ganz allmählich ver- 
mindern. Wir erhalten dann für jede unendlich kleine Verminderung 

Fa 6* 


84 | J. v. Kries: 


der Last auch eine unendlich kleine Verkürzung. Die vom Gummi- 
faden zu leistende Arbeit würde dann in bekannter Weise in einem 
Diagramm darzustellen sein, das die jeweilige Länge als Funktion der 
Spannung zeist. Wird dagegen die Spannung plötzlich stark ver- 
mindert, so wird die Arbeit, die der Faden hergeben könnte, tatsächlich 
nicht geleistet; die Teile des Fadens erhalten unter diesen Umständen 
Beschleunigungen, sie werden in innere Bewegung versetzt und die 
verlorengegangene Spannungsenergie wird durch die innere Reibung 
in Wärme verwandelt. Um den Höchstbetrag von Arbeit zu erhalten, 
müssen wir so verfahren, daß die Länge des Fadens in jedem Augen- 
blick eine „Gleichgewichtslänge‘“ ist. Ebenso müßte man nun, 
wie Hill meint, den Muskel bei einer zuerst hohen, dann allmählich 
in bestimmter Weise nachlassenden Spannung beobachten, was bei 
der Schnelligkeit des Zuckungsverlaufes nicht ausgeführt werden 
kann. Diese Überlegung setzt stillschweigend voraus, daß im Beginn 
der Zuckung sofort das Höchstmaß von Spannung vorhanden sei. 
Aber das ist ja, wie wir aus den Untersuchungen von Helmholtz und 
Fick wissen, keineswegs der Fall. Auch die Spannungen entwickeln 
sich in einer endlichen Zeit. Lassen wir daher den Muskel seine Zuckung 
isotonisch ausführen, so sind jene Bedingungen für die Energiever- 
geudung, wie beim plötzlich entlasteten Gummifaden, gar nicht gegeben. 
Vielmehr ist, wenigstens mit größter Annäherung, nicht nur (was der 
Name zunächst bedeutet) die Spannung während der ganzen Zuckung 
konstant, sondern sie ist auch während der ganzen Zuckung dem auf 
ihn ausgeübten Zuge gleich; die jeweiligen Längen sind, wenigstens 
mit größter Annäherung, durchweg Gleichgewichtslängen. Der 
Fall höchster Arbeitsleistung ist also keineswegs, wie Hill meint, ein 
idealer, der am Muskel nicht verwirklicht werden kann, sondern er ist 
bei gutem isotonischem Verfahren mindestens mit sehr großer An- 
näherung hergestellt. 

Hill hat nun, um zu der Arbeitsleistung unter idealen Bedingungen 
zu gelangen, die Spannungen ermittelt, die der Muskel einerseits bei 
seiner natürlichen Länge, andererseits bei einer Reihe von kleineren 
Längen entwickeln kann. Diese Betrachtung steht ganz auf dem Boden 
der vorhin erwähnten Weberschen Anschauung; der tätige Muskel 
wird als ein Gebilde betrachtet, für das wir den funktionellen Zu- 
sammenhang zwischen Länge und Spannung ganz ebenso wie für einen 
Gummifaden ermitteln können. Esist aber dabei außer acht gelassen, daß 
die Tätigkeitsgrade je nach den mechanischen Bedingungen verschieden 
sind. Die ‚„Unterstützungszuckungen“ lehren, daß, wenn der Muskel 
sich ohne Arbeitsleistung verkürzt, er wesentlich höhere Tätigkeits- 
grade erreicht, als wenn er von vornherein Arbeit zu leisten hat. Es 
kann daher sehr wohl der Fall sein, daß der Muskel sich (ohne Arbeits- 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 5 


leistung) bis zu einer gewissen Länge verkürzt und bei dieser Länge 
noch eine gewisse Spannung zu entwickeln vermag, daß er aber, wenn 
er von vornherein Arbeit zu leisten hat, jene Länge gar nicht erreicht. 
Daß also der Muskel die von Hill errechneten hohen Arbeitsbeträge 
unter irgend welchen Bedingungen wirklich leisten könne, darf zu- 
nächst sehr bezweifelt werden; es ist mindestens in keiner Weise fest- 
gestellt *). 


IV. Muskelzustände und Muskelarten. 


An letzter Stelle mögen hier noch einige Bemerkungen darüber 
Platz finden, wie weit die besprochenen Theorien der Muskelfunktion 
geeignet sind, auf die Unterschiede der Tätigkeitsweise Licht zu werfen, 
die uns teils bei denselben Muskeln je nach wechselnden Zuständen, 
teils auch als konstante Merkmale verschiedener Muskelarten begegnen. 
Hier sei zunächst an die Zustände des Skelettmuskels erinnert, bei 
denen der absteigende Schenkel der Zuckung besonders gestreckt ver- 
läuft, wie dies beim abgekühlten und beim ermüdeten Muskel der Fall 
ist, oder wohl auch ganz ausfällt (sog. Contracturen, gewisse Vergif- 
tungen). Auch die Totenstarre ist hierher zu rechnen, wenn wir mit 
Hermann annehmen, daß dabei die Zusammenziehung nichts anderes 
als eine normale Verkürzung des lebenden Muskels stattfindet und nur 
der im Leben eintretende Rückgang fehlt. Und jedenfalls gehört hier- 
her der sehr charakteristische Zustand, den Mangold 20) als der eigent- 
liehen Totenstarre häufig vorausgehend beschrieben und mit dem 
Namen Starrebereitschaft bezeichnet hat. In all diesen Fällen 
erscheint die Erschlaffung behindert, verzögert, evtl. ganz aufgehoben, 
so daß der Muskel, wenn wir ihn z. B. durch einen Reiz in gewöhnlicher 
Weise in den zusammengezogenen Zustand bringen, einfach in diesem 
beharrt. Es waren wohl in erster Linie Tatsachen gerade dieses Ge- 
bietes, die Fick veranlaßten zu betonen, daß man sich die Erschlaffung . 
nicht einfach als das Aufhören eines Tätigkeitsvorganges zu denken 
habe, sondern daß der Muskel durch irgendwelche besondere Vorgänge 
aus dem tätigen in den erschlafften Zustand zurückgeführt werden 
müsse, Vorgänge, die demgemäß denn auch von mancherlei Bedingungen 
abhängig und in mancherlei Weise beeinflußbar seien. Diesem Grund- 
gedanken entsprechen ja nun die Kontraktionstheorien durchweg. 
Und so versteht sich, daß sie für die Deutung dieser Gruppe von Er- 

*) Zutreffend aber keineswegs neu sind dagegen gewisse andere Bemerkungen 
Hills über die Berechnung der Muskelarbeit. Daß man von der ganzen bei einer 
Zuckung geleisteten Arbeit, namentlich bei höheren Belastungen, denjenigen Teil 
abrechnen muß, der bei der Erhebung des Gewichtes von den elastischen Kräften 
des ruhenden Muskels geleistet werden würde, hat, ganz ähnlich der Hillschen 


Betrachtung, schon Metzner?0*) auseinandergesetzt und daraufhin den für die 
Tätigkeit in Rechnung zu bringenden Teil als ‚‚mutzbare Arbeit‘“ bezeichnet. 


86 J. v. Kries: 


scheinungen jedenfalls die Handhabe bieten. Wird die Erschlaffung 
durch die Hinüberziehung der Milchsäure an die Ermüdungsorte 
bewirkt, so liest ihr in der Tat ein besonderer Vorgang zugrunde, dessen 
Abhängiskeit und Beeinflußbarkeit nicht überraschend ist. Daß er, 
wie es bei der Ermüdung der Fall ist, um so langsamer stattfindet, 
je mehr Milchsäure die Z-Substanz schon an sich gezogen hat und je 
kleiner der für weitere Bindung von Milchsäure noch zur Verfügung 
stehende Teil ist, das läßt sich sogar direkt den alles chemische Ge- 
schehen beherrschenden Massengesetzen einordnen. | 

Wenden wir uns der Vergleichung verschiedener Muskelarten zu, 
so fallen besonders bei der sog. glatten Muskulatur Erscheinungen auf, 
die zu hierhergehörigen Betrachtungen Anlaß geben. Fassen wir das 
normale, unter gewöhnlichen Lebensbedingungen gegebene Verhalten 
solcher Muskeln ins Auge, so finden wir ja, daß wenigstens für einen 
Teil von ihnen das andauernde Bestehen eines gewissen Zusammen- 
ziehungszustandes, ein „ Tonus “, charakteristisch ist. In ausgeprägter 
Weise trifft das z. B. für die Gefäßmuskulatur zu. Bethe?) hat mit 
Recht darauf hingewiesen, wie unzweckmäßig es wäre, wenn z.B. die 
andauernde Zusammenziehung der Gefäßmuskulatur in ähnlicher Weise 
hervorgebracht resp. unterhalten würde wie der Tetanus eines Skelett- 
muskels, nämlich mit fortwährend wiederholten Innervationsantrieben 
und entsprechend mit andauerndem beträchtlichem Energieverbrauch. 
Auf der anderen Seite muß aber doch auch beachtet werden, daß der 
konstriktorische Tonus der Gefäßmuskulatur nur durch andauernde 
Beeinflussung von seiten des Zentralnervensystems sich erhält, und 
daß eine alsbaldige Erschlaffung eintritt, wenn diese aufgehoben wird. 
Dies lehren ja die alten Versuche mit Durchschneidung des Halsmarks, 
entscheidender noch die Beobachtungen Trendelenburgs?*) mit Ab- 
kühlung, bei denen die Fehlerquelle irgendwelcher Reizungen sicher 
vermieden ist. Wir werden uns hiernach den Tonus als einen Zustand 
der Verkürzung oder Spannung zu denken haben, der durch relativ 
geringfügige und vielleicht seltene Innervationsanstöße unterhalten 
wird, und bei dem der Stoffumsatz zwar relativ gering ist, aber doch 
nicht gänzlich fehlt, der also in diesen Hinsichten vom Tetanus nur 
dem Grade nach verschieden ist. Hiernach könnten wir in dem, was 
für den Skelettmuskel unter Ausnahmebedingungen gegeben ist, einer 
besonderen Langsamkeit der Erschlaffung, das charakteristische und 
regelmäßige Merkmal dieser Muskelarten erblicken. Denn es ist ein- 
leuchtend, daß jeder Muskel, für den dies zutrifft, durch ein geringes 
Maß von Anstößen in Zuständen dauernder Kontraktion gehalten 
werden kann. 

Andere Tatsachen geben jedoch Anlaß, noch einen Schritt weiter- 
zugehen. Bei der Mehrzahl der Präparate gelingt es ja überhaupt nicht, 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 87 


einen annähernd fixierten, der Zuckung des Skelettmuskels vergleich- 
baren Verband von Vorgängen aufzuweisen. Wir erzielen leicht eine 
Zusammenziehung; ob sie sich aber alsbald wieder löst oder lange be- 
stehen bleibt, hängt von den mannigfachsten, unserer Beobachtung 
nicht ohne weiteres zugänglichen Umständen ab. Wollen wir also das 
Verhalten solcher Muskeln in rein beschreibender Weise richtig dar- 
stellen, so werden wir zutreffender nicht herausheben, daß sie langsam 
arbeiten, sondern daß sie eines fest bestimmten zeitlichen Typus der 
Tätigkeit überhaupt ermangeln. Damit würden dann aber auch Zu- 
stände dauernder Deformation, ganz ohne chemische Vorgänge, als 
denkbar erscheinen. In der Tat wird von manchen Autoren wohl der 
konstriktorische Tonus der Gefäße beim Säuger in diesem Sinne auf- 
gefaßt. Und wenn ich, wie vorhin berührt, gerade dieser Vorstellung 
mich nicht anzuschließen vermag, so ist doch die Möglichkeit solcher 
Zustände für andere Gebilde sehr ernstlich in Betracht zu ziehen. Hier- 
mit erhebt sich nochmals eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. 
Denn selbstverständlich können ja solche Zustände nicht unter allen 
Umständen dauernd bestehen bleiben; es muß eine Möglichkeit gegeben 
sein, sie wieder aufzuheben oder wenigstens zu vermindern. Wenn nun 
dies nicht durch die Einrichtung des Muskels selbst zwangsläufig ge- 
währleistet ist, so wird zu fragen sein, ob der Muskel durch äußere 
Einwirkungen, insbesondere durch eine Innervation, im erschlaffenden 
Sinne beeinflußt werden kann. Auf diese Frage wird sogleich in all- 
gemeinerem Zusammenhange zurückzukommen sein. Hier hätten wir 
zunächst nur zu prüfen, wie weit die Kontraktionstheorien den Unter- 
schied im Tätigkeitsverlauf, wie er uns bei den verschiedenen Muskel- 
arten so auffällig entgegentritt, verständlich zu machen geeignet sind. 

Wie mir scheint, geben sie uns in dieser Richtung wohl einen ge- 
wissen Anhalt und Ausgangspunkt der Fragestellung, aber auch nicht 
mehr. Wir stoßen hier auf den Punkt, der schon vorhin als die fühl- 
barste Lücke der Theorie hervorgehoben wurde, daß wir uns von der 
Natur jenes Vorganges, der die Milchsäure von den Verkürzungsorten 
zu den Orten der Verbrennung hinüberführt, vorläufig kein bestimmtes 
Bild machen können. So vermögen wir denn auch nicht zu sagen, 
wie es kommt, daß die Bedingungen dieses Vorganges in den ver- 
schiedenen Muskeln so ungleich geordnet sind. Hier drängt sich zudem 
unmittelbar die Bemerkung auf, daß gerade diese Ungleichheit der Funk- 
tion mit einem Unterschiede der histologischen Bildung aufs engste 
verknüpft zu sein scheint, daß die zwangsläufige und schnelle Er- 
schlaffung mit der Querstreifung, also der Differenzierung der 
Muskelsubstanz, in zwei ungleiche, schichtenweise abwechselnde Teile 
parallel zu gehen scheint. So erscheint denn ein deutlicher Einblick 
in den Erschlaffungsvorgang unter Berücksichtigung nicht nur che- 

F 


88 J. v. Kries: 


mischer, sondern auch histologischer Tatsachen als das, was vor allem 
gewünscht werden darf. 

Für die weiteren hier zu besprechenden Fragen können wir noch- 
mals an Zweckmäßigkeitsbetrachtungen anknüpfen. Die Anschau- 
ung, daß ein Zustand dauernder Verkürzung oder Spannung nur 
in der Form des Tetanus, d.h. mit häufig wiederholten Reizen und 
starkem Stoffverbrauch möglich sei, hat ohne Zweifel auch für die 
Skelettmuskeln etwas Auffälliges.. Daß diese meist mehr auf Be- 
wegung als auf beharrende Zustände der Verkürzung oder des Zuges 
in Anspruch genommen werden, mag zugegeben werden; immerhin 
kommt doch auch das letztere nicht so selten vor. Man denke an den 
Fall, daß wir einen Gegenstand längere Zeit am gekrümmten Unter- 
arm tragen, Und daß in den Skelettmuskeln der Wirbeltiere vielfach 
die als Tonus bezeichneten andauernden Tätigkeitszustände bestehen, 
ist ja eine wohlbekannte und unbestreitbare Tatsache. Auch hier er- 
scheint der Tetanus mit hohem Energieverbrauch wenig zweckmäßig. 
Erwägungen dieser Art führen also auf die Frage, ob etwa die Tätig- 
keitsweise des Skelettmuskels je nach Umständen und Erfordernissen 
mehr oder weniger gewechselt werden kann. Eine positive Stütze 
finden solche Annahmen darin, daß es, wie sich immer deutlicher 
herausgestellt hat, Tätigkeiten oder tätigkeitsähnliche Zustände von 
Skelettmuskeln gibt, bei denen keine Aktionsströme beobachtet werden 
und die von keinem gesteigerten Stoffverbrauch begleitet sind. Und 
weiter ist in diesem Zusammenhange die Möglichkeit einer doppelten 
Innervation der Skelettmuskeln ins Auge gefaßt worden, einer 
cerebrospinalen, die den gewöhnlichen Bewegungen, einer sympa- 
thischen, die der Erhaltung eines Tonus dienen sollte. Freilich 
gestatten die vorliegenden Erfahrungen wohl in vieler Hinsicht 
noch kein abschließendes Urteil. So haben die Untersuchungen 
die neuestens auf Anregung Trendelenburgs von Saleck und 
Weitbrecht2) ausgeführt sind, für die Annahme, daß der Tonus 
der Skelettmuskulatur auf einer Wirkung der sympathischen Inner- 
vation beruhe, keinen Anhalt ergeben. 

Auf eine kritische Erörterung des ganzen hierher gehörigen Materials 
und der Deutungen, die es gefunden hat, soll hier um so weniger ein- 
gegangen werden, als diese Deutungen vor allem auch mit Vorstellungen 
in engster Verbindung stehen, die sich noch in weiteren Hinsichten 
von den uns beschäftigenden Theorien entfernen. Hier wäre zunächst 
nur zueerwägen, ob wirunsim Rahmen dieser Theorien eine solche 
mehrfache Funktionsweise eines Muskels, namentlich auch eine mehrfache 
Innervation denken können. Offenbar könnte das zunächst durch die 
Annahme geschehen, daß nicht nur die Zusammenziehung durch 
einen nervösen Antrieb ausgelöst wird, sondern daß auch die er- 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätiekeit. 89 


schlaffenden Vorgänge in der Form. einer Innervation beeinflußbar 
sind. Wenn die Erschlaffungsvorgänge durch Innervation gehemmt 
evtl. ganz unterdrückt werden können, so wäre damit die Möglichkeit 
gegeben, daß der zusammengezogene Muskel in diesem Zustande mit 
sehr wenig oder gar keinen neuen Antrieben, mit sehr geringem evtl. 
ohne Stoffverbrauch verharrte. Man wird sich zu einer solchen An- 
nahme vielleicht um so lieber entschließen, als eine Beeinflussung 
der Erschlaffung im fördernden Sinne, eine erschlaffende Inner- 
vation, aus den Untersuchungen von Biedermann und Mangold 
tatsächlich bekannt ist), 12). 

An zweiter Stelle ist dann die Annahme zu erwähnen, daß der 
Muskel außer in der der gewöhnlichen Zuckung zugrunde liegenden 
Weise noch in einer anderen Art in Tätigkeit gebracht werden 
könnte, wobei das äußerlich erkennbare Verhalten das nämliche 
(Verkürzungs- oder Spannungszuwachs) sein, wobei aber der Er- 
schlaffungsprozeß nicht in der gleichen zwangsläufisen Weise an 
diesen veränderten Zustand sich anschließen würde. Man könnte sich 
vom Standpunkt der Quellungshypothese aus z. B. denken, daß die 
quellbaren Gebilde nicht allein durch Milchsäure, sondern auch durch 
irgendeinen anderen vielleicht aus Eiweiß gebildetem Körper zur Wasser- 
aufnahme veranlaßt werden könnten. Dadurch würde sich das Problem, 
das für die Milchsäure einer glücklichen Lösung mindestens nahe- 
gebracht ist, nochmals, wenn auch in stark veränderter Form, erheben. 
Bestünde eine solche Möglichkeit, so wäre der Muskel damit zu einer 
Betätigung befähigt (sie könnte evtl. durch eine besondere Inner- 
vation hervorgerufen werden), die sich der des glatten Muskels an- 
nähert. Es wäre insbesondere auch die Möglichkeit andauernder Zu- 
sammenziehung mit relativ geringem Stoffverbrauch und ohne 
Ermüdung gegeben. Im Rahmen der gewohnten Anschauungen 
würden wir auch bei dieser Annahme namentlich insofern noch bleiben, 
als das äußerlich mechanisch erkennbare Verhalten des Muskels nur 
in einer ganz bestimmten Weise veränderlich gedacht würde, nämlich 
bei konstantem Zug in der Form der Verkürzung oder, allgemeiner 
ausgedrückt, als Verminderung der elastischen Gleichgewichts- 
länge. Wie bekannt, sind nun in neuerer Zeit Zweifel darüber ent- 
standen, ob wir unsere Vorstellung von den Muskelzuständen nicht 
gerade in diesem Punkt ändern müssen. Ob wir nicht dem Muskel 
neben jener uns geläufigen noch die Befähigung zu Zustandsänderungen 
ganz anderer, grundsätzlich verschiedener Art zuschreiben müssen. 
Dies würde dann ein Hinausgehen über den ganzen 
Vorstellungskreis der älteren Theorien bedeuten. Des 
Genaueren auf diese Vorstellungen einzugehen, liegt hier nicht in 
meiner Absicht, da diese Banenmugen In erster Linie der Theorie 


90 J. v. Kries: 


der gewöhnlichen normalen Zuckung des Skelettmuskels gelten sollten. 
Doch mag es gestattet sein, hier kurz auf einige Punkte hinzuweisen, 
in denen mir diese modernsten Theorien gewisse Lücken oder Dunkel- 
heiten zu bieten scheinen. Dabei will ich mich vorzugsweise an die 
Darstellungen von E. Frank halten, insbesondere seine Arbeit 10), in der 
die uns hier interessierenden Dinge besonders klar zum Ausdruck 
kommen, wobei übrigens die besonderen Vorstellungen Franks über 
die Innervationsverhältnisse (spinale, parasympathische und sym- 
pathische Innervation) des Skelettmuskels hier außer Betracht bleiben 
können. | 

Ich kann von gewissen Muskelzuständen ausgehen, die in dieser 
Hinsicht von besonders großer Bedeutung sind und daher auch all- 
gemein in erster Linie als Grundlage für die Annahme besonderer, der 
älteren Auffassung fremder Tätigkeitsformen herangezogen worden 
sind. Wir beobachten bei gewissen Krankheitsfällen, ganz ähnlich aber 
auch bei der sog. Enthirnungsstarre, daß die Extremitäten jeder Stel- 
lungsänderung einen auffällig starken Widerstand entgegensetzen, 
daß sie aber, durch hinreichende Kräfte in eine neue Stellung ver- 
bracht, nunmehr in dieser verharren, auch wenn jene Kräfte nicht 
mehr einwirken; ja sie widersetzen sich nunmehr einer Änderung der 
neuerreichten Stellung, welche dies auch sei, ganz ebenso wie zuvor 
einer Entfernung. aus der ersten. Wollen wir ein solches Verhalten 
in der üblichen Terminologie der Physik beschreiben, so hätten wir 
den betr. Gebilden eine hohe*), aber sehr unvollkommene 
Elastizität zuzuschreiben. Die Muskeln scheinen sich nicht 


etwa wie ein „totes elastisches Band“, sondern wie ein Stück Blei 


oder Wachs zu verhalten, welch letzterer Vergleich ja auch in der 
Benennung solcher Zustände als ‚flexibilitas cerea‘ seinen zutreffenden 
Ausdruck erhalten hat. In der Überführung der Muskeln in ein solches 
Verhalten können wir also eine, von der gewöhnlichen Tätigkeit in der 
Tat vollkommen verschiedene Zustandsänderung erblicken. Die eine 
würde in einer Änderung der Gleichgewichtslänge bestehen, die ohne 
oder wenigstens ohne erhebliche Änderung der elastischen Eigenschaften 
stattfindet, die andere dagegen gerade in einer völligen Änderung der 
elastischen Eigenschaften. Wir könnten sie uns z.B. im An- 
schluß an Frank so denken, daß das Sarkoplasma in eine annähernd 
feste, etwa als teigartig zu bezeichnende Konsistenz übergeführt würde. 
Ich will eine solche Änderung eine Versteifung nennen. Hier könnte 
man denn auch mit einigem Recht von einem Muskelzustande reden, 


*) Unter der hohen Elastizität wird hier verstanden, daß einer Formver- 
änderung ein großer Widerstand entgegengesetzt wird, wie das ja in der wissen- 
schaftlichen Physik, in gewissem Gegensatz zur Sprache des täglichen Lebens 
üblich ist. 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 91 


der nur zur Erzeugung von Spannungen, nicht aber von Verkürzungen 
geeignet ist. Ganz im allgemeinen versteht es sich ja, daß, wie jede 
Verkürzung, durch gesteigerten Zug in eine Spannungszunahme ver- 
wandelt werden kann, so auch jede Spannungszunahme bei nach- 
lassendem Zug in Verkürzung umgesetzt werden kann, daß es also 
lediglich von den äußeren mechanischen Bedingungen abhängt, ob 
eine Zustandsänderung des Muskels in der einen oder anderen Form 
erscheint. Indessen ist dieser Zusammenhang quantitativ durch die 
Elastizität des Muskels bestimmt. Denken wir uns diese auf einen sehr 
hohen Wert gesteigert, so werden sehr beträchtliche Spannungsände- 
rungen minimalen Änderungen der Länge entsprechen. In idealer Weise 
wäre ein solches Verhalten bei dem ‚starren Körper‘ der theoretischen 
Physik gegeben. Von einem solchen kann man im strengen Sinne 
sagen, daß er nur zur Erzeugung von Spannungen, nicht aber von 
Bewegungen geeignet sei. Wir hätten uns also zu denken, daß der 
Muskel einerseits zu Verkürzungen befähigt ist (genauer gesagt: zu 
Zustandsänderungen, die je nach äußeren Bedingungen als Verkür- 
zungen oder als Spannungsänderungen zur Erscheinung kommen 
können), anderseits aber zu einer Versteifung. Hierin also würden 
wir den springenden Punkt der neuen Annahmen zu erblicken haben, 
während, wie vorhin gezeigt, Zustände dauernder Kontraktion oder 
Spannung ohne Ermüdung und Stoffverbrauch, ebenso auch eine 
mehrfache Innervation sehr wohl auch im Rahmen der älteren Theorien 
in Erwägung gezogen werden kann. 

Erscheint nun der Muskel zu zwei ganz verschiedenen Zustands- 
änderungen befähigt, so fragt sich vor allem, in welcher Beziehung 
sie zueinander stehen. In dieser Hinsicht ist die einfachste Annahme, 
daß sie voneinander unabhängig, also in jeder beliebigen Weise mit- 
einander kombinierbar sind. Wir wollen von dieser Annahme zunächst 
ausgehen; und es wird sich dann fragen, wie wir eine Anzahl von 
Muskelzuständen aufzufassen haben. Denken wir hier zunächst 
an den sog. Tonus der Skelettmuskeln, so ist zu beachten, daß 
er ja stets in erster Linie in einem gewissen Grade von Verkürzung 
besteht. Dies ist in der grundlegenden Brondgeestschen Erscheinung 
des Extremitätentonus unmittelbar ersichtlich. Aber auch im all- 
gemeineren Sinne beschreibt z.B. Frank schlechtweg den Tonus als 
eine Dauerverkürzung. Keinesfalls ist also der Tonus der Skelett- 
muskulatur mit der Versteifung zu identifizieren; vielmehr müßten 
wir uns hier jedenfalls beide Zustandsänderungen kombiniert denken. 
Und zwar könnte man sich den Sachverhalt etwa so vorstellen, 
daß zufolge eines gewissen Maßes von Versteifung seltene, vielleicht 
auch unregelmäßige Verkürzungsantriebe genügten, um den Muskel 


in einem gewissen Grad von Verkürzung dauernd zu unterhalten. 
? 


92 J. v. Kries: 


Die Versteifung würde also ganz ähnlich wirken wie die vorhin in 
Betracht gezogene Hemmung oder Ausschaltung der Erschlaffungs- 
vorgänge. 

Wenden wir uns zur Betrachtung des glatten Muskels. Von diesem 
sagt Frank, es sei ‚eine der wesentlichsten Eigenschaften der glatten 
Muskelzellen, daß sie keine eigentliche Ruhelage haben, sondern daß 
jeder Zustand von Verkürzung oder Verlängerung, in den sie durch 
Nervenreiz oder mechanische Dehnung geraten, eine neue Gleich- 
gewichtslage darstellt, in der sie beliebig lange verharren, ohne zu 
ermüden‘“. Dies ist ja nun tatsächlich nur mit großen Einschränkungen 
zutreffend. Reizen wir beim Kaninchen den. Halssympathicus, so 
ziehen sich die Gefäße des Ohres zusammen, und diese Verengerung 
dauert eine annähernd bestimmte mäßige Zeit, etwa 2 bis 3 Minuten, 
um dann einer Wiedererweiterung Platz zu machen. Lassen wir 
indessen das beiseite und nehmen wir an, es verhielte sich streng 
so wie Frank sagt, so würden wir ja der glatten Muskulatur 
eben das, was wir Versteifung nennen, als ein ihr dauernd und 
unter allen Umständen zukommendes Merkmal zuzu- 
schreiben haben. Denn das, was hier als Grundeigenschaft des 
glatten Muskels angegeben wird, ist ja genau das nämliche, was 
z. B. die Enthirnungsstarre charakterisiert. Eine Versteifung als 
besondere Form der Zustandsänderung anzunehmen, erscheint 
also für den glatten Muskel überflüssig. Wir könnten sie höchstens 
als eine ihm unter allen Umständen zukommende Eigenschaft 
betrachten. Auch diese Vorstellung begegnet aber in anderen Rich- 
tungen erheblichen Schwierigkeiten. Nicht ohne Bedenken wird man 
z. B. gerade der Gefäßmuskulatur die für die Versteifung charak- 
teristische unvollkommene Elastizität zuschreiben. Tatsächlich wird 
ja die Arterienwand bei jedem Herzschlag durch die Eintreibung des 
Blutes ausgedehnt und zieht sich bei Nachlassen des Druckes wieder 
zusammen, funktioniert also durchaus in der Art eines sehr vollkommen 
elastischen Gebildes. Befände sie sich in einem der Enthirnungsstarre 
ähnlichen Zustand, so wäre zu erwarten, daß sie durch die sich immer 
wiederholenden Dehnungen allmählich auf einen Zustand größter Er- 
weiterung sich einstellen müßte. Zieht man diese Verhältnisse in Be- 
tracht, so verliert auch die Annahme einer Versteifung als dauernder 
Eigenschaft an Glaubwürdigkeit. Und man fragt sich, ob es nicht 
richtiger ist, der alten Annahme folgend, die charakteristische Eigen- 
schaft der glatten Muskeln einfach darin zu erblicken, daß die Er- 
schlaffungsvorgänge sehr langsam ablaufen evtl. gar nicht zwangs- 
läufig an die Zusammenziehung geknüpft sind, sondern erst durch 
besondere Beeinflussungen hervorgerufen werden. — Mag man nun 
die glatte Muskulatur in der einen oder der anderen Weise auffassen, 


Bemerkungen zur T'heorie der Muskeltätigkeit. 93 


in keinem Falle erscheint es mir zutreffend, mit Frank zu sagen, daß 
sich ‚in jedem quergestreiften Muskel ein glatter verbirgt‘. Denn für 
den ersteren wäre es ja gerade charakteristisch, daß er in den ver- 
steiften Zustand versetzt werden kann. Diese Eigenschaft können 
wir nicht aus der Beimischung eines Elementes erklären, dem diese 
Eigenschaft entweder dauernd zukommt oder ganz fehlt. Ist die Ver- 
steifung eine Zustandsänderung, zu der lediglich der Skelettmuskel 
befähigt ist, so wird es vielmehr richtiger sein zu sagen, daß diesem 
eine Einrichtung gegeben ist, vermöge deren er trotz des zwangs- 
mäßigen und schnellen Ablaufs der Erschlaffungsvorgänge zu Dauerkon- 
traktionen mit geringem Stoffverbrauch befähigt ist, eine Einrichtung, 
deren der glatte Muskel wegen der ihm eigenen Langsamkeit der 
Erschlaffung nicht bedarf. 

Ich bin bisher von der Annahme ausgegangen, daß die beiden 
Zustandsänderungen Verkürzung und Versteifung voneinander un- 
abhängig sind. Dies dürfte nun aber wohl nicht der Meinung der- 
jenigen Autoren entsprechen, die die Theorie der Muskelfunktion 
in dem uns beschäftigenden Sinne entwickelt haben. Vielmehr wird offen- 
bar in der Regel irgendein fester Zusammenhang zwischen Verkürzung 
und Versteifung angenommen. Dies drückt sich schon darin aus, daß 
der normale Tonus des Skelettmuskels als Verkürzung beschrieben, 
sleichwohl aber die Versteifung als übertriebene tonische Innervation 
bezeichnet wird. Wenn Frank z.B. sagt, daß durch gewisse Alkaloide 
Steigerung des physiologischen Tonus, Neigung zu anhaltender Ver- 
kürzung, schließlich ausgesprochene Steifigkeit hervorgerufen wird, 
so wird geradezu die Versteifung als höherer Grad einer zunächst als 
Verkürzung erkennbaren Zustandsänderung dargestellt. An sich er- 
scheint es natürlich denkbar, daß die beiden Zustandsänderungen in 
einem solchen festen Verband stehen. Wird aber das angenommen, 
so sollte es jedenfalls ausdrücklich gesagt und hervorgehoben werden. 
Auch führt die Frage, wie nun diese Verknüpfung eigentlich zu denken 
ist, auf Schwierigkeiten. Frank hat die Vermutung ausgesprochen, 
daß bei dem Tonus des Skelettmuskels wesentlich das Sarkoplasma 
beteiligt sei. Diese Vorstellung ist, wie mir scheint, am ehesten für 
eine reine Versteifung einleuchtend. Wir können uns vorstellen, daß das 
Sarkoplasma in derjenigen Form, in der es sich jeweils befindet, zäh 
gemacht, eingedickt wird. Denn dies ist ein Vorgang, der sich ohne 
Leistung äußerer Arbeit abspielt. Sehr schwer erscheint mir dagegen 
denkbar, daß das Sarkoplasma, das doch, soweit wir wissen, eine echte 
Flüssigkeit und optisch isotrop ist, kontraktil sein soll. Die ganzen 
Fragen der Kontraktionstheorien würden sich dabei gewissermaßen 
nochmals aufrollen und es wären zu ihrer Lösung gar keine Anhalts- 
punkte gegeben. — Noch mehr vermißt man eine genügende physi- 


94 J. v. Kries: 


kalische Klärung z. B. bei dem Begriffe einer ‚inneren Spannung“, 
wie ihn Grafel2) verwendet. Wollen wir nicht den sicheren Boden 
ganz verlieren, so muß doch jede solche Bezeichnung ein uns erkenn- 
bares, in der Untersuchung bemerkbares Verhalten bedeuten. Hier 
ist es schon nicht ganz leicht, sich ein Bild davon zu machen, was 
solche inneren Spannungen eigentlich sein sollen; noch schwieriger 
aber ist es zu beurteilen, und es wird auch nichts darüber gesagt, wie 
sie sich in dem äußeren Verhalten des Muskels bemerklich machen 
würden. Und so bleibt es auch dunkel, welches äußere Verhalten 
uns zu ihrer Annahme veranlassen und in ihnen seine Erklärung finden 
‚soll. 

Das Gesagte wird genügen, um zu zeigen, in welchen Hinsichten 
die modernen Theorien zunächst unbefriedigend erscheinen. Es ist, 
das, kurz gesagt, insofern der Fall, als die beiden Zustandsänderungen, 
auf die wir bei einer streng physikalischen Betrachtung geführt werden, 
Änderung der Gleichgewichtslänge und Änderung der Elastizität, 
Verkürzung und Versteifung, nicht streng auseinandergehalten werden, 
wodurch schon in die rein deskriptive Darstellung der Muskelzustände 
eine gewisse Unklarheit kommt. Damit hängt es aber auch zusammen, 


daß bei der Darstellung der Theorie die Frage ungeklärt bleibt, welcher 


Zusammenhang zwischen jenen beiden Zustandsänderungen angenom- 
men werden soll, und daß bei der Deutung bestimmter Muskelzustände 
nicht geprüft wird, wie weit sich in ihnen die eine oder die andere jener 
Zustandsänderungen ausdrückt *). 

Das Ergebnis der letzten Betrachtungen kurz zusammenfassend, 
möchte ich folgendes sagen. Die Zuckung, von deren Theorie wir als einer 
relativ gesicherten Grundlage ausgehen können, ist dadurch charak- 
terisiert, daß die Vorgänge der Erschlaffung sich unmittelbar und 
zwangsläufig an die Zusammenziehung knüpfen. Damit ist gegeben, 
daß der als eine Wiederholung der gleichen Vorgänge aufzufassende 
Dauerzustand, der Tetanus, durch wiederholte Reizanstöße, durch 
ein fortwährendes chemisches Geschehen bedingt ist, also mit Stoff- 
verbrauch und Ermüdung einhergeht. Versuchen wir für andere For- 
men der Muskeltätigkeit zu einem ähnlich weit durchgeführten Ver- 


*) Das gilt z. B. auch für den vielbesprochenen Schließmuskel der Muscheln. 
Bei den bisherigen Untersuchungen war das Hauptinteresse immer darauf ge- 
richtet, zu erweisen, daß er im Zustande starker Spannungen erhalten werden 
kann, ohne daß dabei ein merkbarer Stoffverbrauch oder Ermüdung stattfindet. 
An der Richtigkeit und an der hohen Bedeutung dieser Tatsache ist gewiß nicht 
zu zweifeln. Ob aber dieser Zustand des Muskels eine Versteifung im obigen 
Sinne ist oder eine Anspannung gewöhnlicher Art, die in Ermangelung von 
Erschlaffungsprozessen andauert, das ist bis jetzt kaum erwogen worden und 
kann auch aus den beobachteten Tatsachen nicht ohne weiteres entnommen 
werden. 


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3 


Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätigkeit. 95 


ständnis zu gelangen, so können wir eine Erweiterung jener Theorie 
in mehrerlei verschiedener Weise in Erwägung ziehen. Erstens kann 
an eine vielleicht durch Nervenwirkungen zu erzielende Hemmung 
oder Unterdrückung des Erschlaffungsvorganges gedacht werden. 
Zweitens erscheint es denkbar, daß die Zusammenziehung außer in 
der der gewöhnlichen Zuckung eigentümlichen Weise noch durch 
einen anderen Prozeß hervorgerufen wird, bei dem die Erschlaffung 
sich nicht in der gleichen Weise zwangsläufig an die Zusammenziehung 
anschließt. Drittens ist an eine von der Zusammenziehung grund- 
sätzlich verschiedene, etwa als Versteifung zu bezeichnende Art der 
Zustandsänderung zu denken. Auf jeder dieser drei Grundlagen 
können wir uns Zustände dauernder Spannung oder Verkürzung, die 
annähernd oder auch wohl streng ohne Ermüdung und ohne Stoff- 
verbrauch bestehen, verständlich machen. Auch die Annahme einer 
mehrfachen Innervation kann auf der einen wie auf der anderen Grund- 
lage durchgeführt werden. Eine grundsätzliche Änderung älterer Vor- 
stellungen würde nur durch die an dritter Stelle erwähnte Annahme 
gegeben sein. Ob sie unerläßlich ist, kann wohl zur Zeit nicht mit 
Sicherheit gesagt werden. Zuzugeben ist, daß sie durch die Erschei- 
nungen der Enthirnungsstarre sowie der krankhaften Flexibilitas cerea. 
nahe gelegt wird. Doch erscheint in vielen Hinsichten eine genauere 
Prüfung des physikalischen Verhaltens erwünscht. Auch kommen 
wohl gerade für diese Erscheinungen noch andere Deutungen in Be- 
tracht, deren Erörterung jedoch an dieser Stelle zu weit führen würde. 


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1882. — ?) Fick, Ad., Einige Bemerkungen zu Engelmanns Abhandlung über 
den Ursprung der Muskelkraft. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 53, 606. 1893. — 
10) Frank, E., Die parasympathische Innervation der quergestreiften Muskulatur 
und ihre klinische Bedeutung. Berl. klin. Wochenschr. 1920. — !!) Fürth, O. v., 
Die Kolloidehemie des Muskels und ihre Beziehung zu den Problemen der Kon- 
traktion und der Starre. Ergebn. d. Physiol. 1%, 363. — 12) Grafe, Muskeltonus und 


96 J. v. Kries: Bemerkungen zur Theorie der Muskeltätiekeit. 


Gesamtstoffwechsel. Dtsch. med. Wochenschr. 1920, Nr. 49. — 13) Grützner, P., 
Zur Muskelphysiologie. Breslauer ärztliche Zeitschrift 1887. — 1!) Helmholtz, H., 
Messungen über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animaler Muskeln und über 
über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven. Archiv 
f. Anat. u. Physiol. 1850, S. 276. — 15) Herzfeld und Klinger, Der physi- 
kalisch-chemische Mechanismus der Muskelkontraktion. Naturwissenschaften 
1920, S. 359. — 1%) Hill, A. v., Die Beziehungen zwischen der Wärmebildung 


und den im Muskel stattfindenden chemischen Prozessen. Ergebn. d. Physiol. _ 


15, 340. 1916. — !”) v. Kries, Untersuchungen zur Mechanik des quergestreiften 
Muskels. Archiv f. Anat. u. Physiol. 1880, S. 348. — 12) v. Kries, 
Über den zeitlichen Verlauf summierter Zuckungen. III. Mitteilung. Ebenda 
1888, S. 537. — 1°) Mangold, E., Untersuchungen über die Endigungen der Nerven 
. in den quergestreiften Muskeln der Arthropoden. Zeitschr. f. allg. Physiol. 5, 135. 
1905; Studien zur Physiologie des Nervensystems der Echinodermen. Pflügers 
Arch. f. d. ges. Physiol. 123, 1. 1908. —2° ) Mangold, E., Über Automatie, Erreg- 
barkeit und Totenstarre in verschiedenen Teilen des Froschmagens. Dtsch. med. 
Wochenschr. 1920, Nr. 16. — 2°®) Metzner, R., Über das Verhältnis von Arbeits- 
leistung und Wärmebildung im Muskel. Archiv f. Anat. u. Physiol. 
1893, Supplement, S. 74. — °!) Meyerhof, O., Die Energieumwandlungen im 
Muskel. I. Über die Beziehung der Milchsäure zur Wärmebildung und Arbeits- 
leistung des Muskels in der Anaerobiose. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 182, 232. 
II. Über das Schicksal der Milchsäure in der Erholungsperiode des Muskels. 
Fbenda 182, 284. III. Kohlenhydrat- und Milchsäureumsatz im Froschmuskel. 
Ebenda 185, 11. 1920. — °?) Meyerhof, O., Über die Rolle der Milchsäure in 
der Energetik des Muskels. Naturwissenschaften 1920, S. 696. — ??) Saleck, W. 
und E. Weitbrecht, Zur Frage der Beteiligung sympathischer Nerven am Tonus 
der Skelettmuskulatur. Zeitschr. f. Biol. 41, 246. 1920. — °*) Trendelenburg, W., 
Untersuchungen über reizlose vroübergehende Ausschaltungen am Zentral- 
Nervensystem. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 135, 469. 1910. — °5) Weiz- 
säcker, V. v., Neuere Versuche zur Theorie der Muskelmaschine. Münch. med. 
Wochenschr. 1915, S. 217 und 257. — %) Weizsäcker, V. v., Über die Energetik 
der Muskeln insbesondere des Herzmuskels und ihre Beziehungen zur Pathologie 
des Herzens. Sitzungsber. d. Heidelberg. Akad. d. Wiss., math.-naturw. Kl. 1917. 
— %) Zuntz, N., Über den Stoffverbrauch des Hundes bei Muskelarbeit. Pflügers 
Arch. f. d. ges. Physiol. 68, 191. 


en u ee 1 ee Dee iD 


(Aus dem Physiologischen Institut zu Freiburg i. B.) 


Über Atmung in bewegter Luft'). 


Von 
Wilhelm Senner, Freiburg ı. B. 
Assistent am Institut. 


Mit 2 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 17. April 1921.) 


T'. 


Es ist eine geläufige Erfahrung, daß man in stark bewegter Luft 
oft im Atmen behindert ist und instinktiv durch Änderung seiner 
Stellung dieser Behinderung zu entgehen sucht. In sehr hohem Maße 
tritt diese Erscheinung bei Insassen von Flugzeugen auf, soweit sie 
dem heftigen Gegenwind ungeschirmt ausgesetzt sind. Worin der 
eigentliche Grund der Behinderung liest, ist nicht ohne weiteres zu 
beantworten. Subjektiv werden verschiedene Empfindungen an- 
gegeben, und zwar im wesentlichen zwei: einmal die Empfindung, als 
ob man Mund und Nase nicht schnell genug gegen die mächtig an- 
stoßende Luft schließen könnte; dann aber auch das Gefühl, als ob 
einem die Luft entrissen würde, wodurch man zu krampfhaften, förm- 
lich schnappenden Einatmungsbewegungen veranlaßt wird. Daß die 
beiden Empfindungen, von denen die eine gerade das Gegenteil der 
anderen darstellt, vorkommen, ist besonders beachtenswert. 

Wollen wir uns die Bedingungen für die Atmung in bewegter Luft 
klarmachen, so gehen wir am besten davon aus, daß der menschliche 
Körper im Luftstrom wie jedes in eine Strömung gestellte Hindernis wirkt, 
und haben folgende Verhältnisse. Vor dem Hindernis kommt es durch 
Stauung zu einer Überdruckzone, einem sog. Staukegel. — Der Über- 
druck in diesem Raum setzt sich aus einer statischen und einer dyna- 
mischen Druckkomponente zusammen. — Um diesen Staukegel aus- 
biegend, beiderseits am Hindernis vorbei, verlaufen die Stromlinien, 
um sich erst in größerer Entfernung im Rücken wieder zu schließen 
und zwischen sich, hinter dem Hindernis, eine Unterdruckzone zu 
lassen, die durch die mitreißende Wirkung der Strömung zustandekommt. 


!) Vorliegende Arbeit ist ein Auszug aus meiner Dissertation (Freiburg i. Br. 
1920). Es sei daher bezüglich der ausführlicheren Darstellung sowohl der Ver- 
suche wie ihrer kritischen Betrachtung auf die Dissertation selbst verwiesen. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 5 U 


98 W. Senner: 


Denken wir uns den Menschen als solch ein Hindernis in strömender 
Luft, so wird es für die Atmung in erster Linie von Bedeutung sein, 
was für Druckverhältnisse vor die Atemöffnung zu liegen kommen; 
denn diese werden sich bei freien Atemwegen (geöffneter Glottis) auf 
die Innenfläche (,‚Epithelfläche‘‘) der Lunge übertragen. Gegenüber 
diesem veränderten ‚Innendruck‘‘ wird der auf der Oberfläche von 


Thorax und Leib herrschende ‚„Außendruck‘“ nur eine unwesentliche 


Rolle spielen, da auf der Oberfläche gleichzeitig teils + Druck, und 
zwar auf der der Strömung zugekehrten Seite, teils — Druck auf der 
der Strömung abgewendeten Seite herrschen wird, so daß sich Belastung 
und Entlastung von Thorax und Zwerchfell mehr oder weniger immer 
aufheben werden. Bedenkt man, daß der Innendruck dagegen immer 
ein einheitlicher (+ oder — Druck) sein wird, so sieht man leicht 


ein, daß es in strömender Luft zu Differenzen zwischen Außen- und 


Innendruck kommen muß, die im wesentlichen also nur auf der Ver- 
änderung des Innendrucks beruhen. 

Ganz ähnliche Verhältnisse werden auch für den Insassen eines 
Flugzeugs gegeben sein, wenn dieses in ruhender Luft (bei windstillem 
Wetter) vorwärtsgetrieben wird, da es im wesentlichen nur auf die 


relative Bewegung der betr. Körper gegenüber der sie umgebenden - 


Luftmasse ankommen wird. 


Diese Tatsachen legen es zunächst nahe, den Grund der Atem- 


behinderung in abnormen Verhältnissen zu suchen, wie sie durch Druck- 
differenzen herbeigeführt werden. Dies ist der Ausgangspunkt der 
folgenden Betrachtungen und Experimente. 


Man kann zunächst als einfachste Voraussetzung die zugrunde 


legen, daß der Thorax ohne Einmischung irgendwelcher reflektorischer 
oder ähnlicher Regulierungen, lediglich nach Maßgabe der elastischen 
Verhältnisse, sich entsprechend den Änderungen des auf der Innen- 
fläche der Lunge. lastenden Drucks auf veränderte Mittellagen ein- 
stellt. Um die Gestaltung der Atmung unter dieser Voraussetzung zu 
beurteilen, erscheint es dann wichtig, festzustellen, wie groß die 
in- und exspiratorischen Kräfte sind, die bei beliebiger 
Thoraxstellung, also beliebigem Füllungsgrade der Lun- 
gen, aufgebracht werden können, m. a. W. wie einerseits der höchste 
erreichbare exspiratorische Druck, andererseits die höchste erreichbare 
inspiratorische Saugkraft von demjenigen Grade der Lungenfüllung 
abhängen, bei dem sie geprüft werden. — Nach den am Skelettmuskel 
bekannten Tatsachen, insbesondere dem sog. Schwannschen Versuch, 
ließ sich erwarten, daß der exspiratorische Druck bei größter Lungen- 
füllung (stärkster Inspirationsstellung) seinen höchsten Wert haben 
wird, um bei fortschreitender Entleerung der Lunge immer geringer 
zu werden, während umgekehrt für die inspiratorische Saugkraft 


Über Atmung in bewegter Luft. 99 


voraussichtlich die höchsten Werte bei ganz entleerter Lunge gefunden 
werden müssen und bei Stellungen, die sich dem Maximum der In- 
spiration annähern, nur noch immer geringere Saugkräfte zu erwarten 
sind. 

So könnte man namentlich erwarten, daß durch hohe Innen- 
drucke, bei starkem Gegenwind der Thorax so weit angefüllt, in so 
starke Inspirationsstellungen gebracht wird, daß für eine noch grö- 
ßere Füllung keine genügenden Kräfte mehr zur Verfügung stehen. 
Dazu könnte noch kommen, daß Brustkorb und Lungen sich ihren 
Deformationsgrenzen nähern oder doch der weiteren Ausdehnung 
immer größere Widerstände entgegenstehen. Hiernach würde es denn 
die Einatmung sein, die auf immer größere Schwierigkeiten stoßen 
und schließlich ungenügend werden könntet). 


10% 


. Eine experimentelle Prüfung dieser Verhältnisse habe ich mir zu- 
nächst zur Aufgabe gestellt. Ich verfuhr dabei in der folgenden Weise. 
Ein weites Rohr führte als Atemrohr aus meinem Munde einerseits 
zu einer Zuntzschen Gasuhr, andererseits zu einem Ludwigschen Hg- 
Manometer, das Druckschwankungen an einem Kymographion regi- 
strierte. Gasuhr wie Manometer konnten durch Hähne abgesperrt 
werden. Ich ging nun so vor, daß ich zuerst den Weg zum Manometer 
absperrte, mich in eine bestimmte Thoraxstellung brachte mit Hilfe 
der Gasuhr, diese jetzt absperrte, den Hahn zum Manometer öffnete 
und durch Ein- bzw. Ausatmen den maximalen Druck für die betref- 
fende Thoraxstellung registrierte. Im ganzen wählte ich fünf verschie- 
dene Thoraxstellungen, und zwar ging ich für die Exspirationsdrucke 
von maximaler Inspirationsstellung als erster Phase aus, für die weiteren 
4 Phasen entleerteich die Lunge um 1000, dann 2000, 3000 und 4000 ccm; 
für die Inspirationsdrucke ging ich von maximaler Exspirationsstellung 
aus und gelangte zu den weiteren 4 Stellungen auf umgekehrtem Weg, 
durch Anfüllung der Lunge um 1000, 2000, 3000 und 4000 cem. — Meine 
Vitalkapazität betrug im Mittel 4300 cem. — Die Ergebnisse sind in 
den beiden nachstehenden Tabellen zusammengestellt und in den 
Abb. 1 und 2 veranschaulicht. 


!) Im Gegensatz hierzu ist Geigel (Münch. med. Wochenschr. S. 1253. 1917) 
geneigt, die Atmungsbehinderung darauf zu beziehen, daß die exspiratorischen Kräfte 
den gesteigerten Innendruck nicht mehr zu überwinden vermögen. Geigel 
hat aber dabei gerade die hier berührten Verhältnisse, eine Verschiebung der 
Mittellage des Thorax und die dadurch bedingten Modifikationen der Atmungs- 
kräfte ganz außer Betracht gelassen. Wie weit seine Überlegungen anwendbar 
sind, erscheint daher zunächst zweifelhaft. Es wird unten darauf zurückzu- 
kommen sein. d 


7*+ 


Stärkste Inspiration weniger 


1000 2000 3000 4000 ccm 
50 4 4l 26mmHs 


Stärkste Ausatmung plus 


100 W. Senner: 
Tabelle 1. 

Füllungsgrad der Lunge. ..... 0 
Maximaler exspirator. Druck . . . 60 
Tabelle II. 

Füllungsgrad der Lunge. ..... 0 


Maximale inspirat. Saugekraft 


1000 2000 3000 4000 ccm 


.— 76 —70 —66 —49 — 13mmHg 


Die in den Tabellen aufgeführten und in den Abbildungen dar- 
gestellten Werte sind Mittelwerte aus 40 bis 50 Einzelmessungen für 


mo, = = = 
oe - 7000 2000 3000 - 4000com 
Stellung 

Abb. 1. Maximale exspiratorische Drucke bei 


verschiedenen Thoraxstellungen. Höchst- 
werte der exspiratorisch wirksamen Druckdifferenz. 


mm He 
-80 3 


MAX. 

Erspirn  +'900 +2000 +.3000 + 4000ccm 
Stellung 
Abb. 2 Maximale inspiratorische Drucke 


bei verschiedenen Thoraxstellungen. -- —- -- Höchst- 
werte der inspiratorisch wirksamen Druckdifferenz. 


jede Thoraxstellung. Die Er- 
gebnisse entsprechen im we- 
sentlichen dem, was zu er- 
warten war. Bei der inspira- 
torischen Saugekraft ist deut- 
lich ausgeprägt, daß sie sich, 
von der stärksten Ausatmungs- 
stellung ausgehend, zunächst 
bei den ersten drei Füllungs- 
graden nur wenig ändert; 
ist die mittlere Füllung von 
2000 cem überschritten, so 
nehmen sie dann stärker ab. 
Die exspiratorischen Druck- 
kräfte zeigen dagegen mit der 
von stärkster Einatmung all- 
mählich abnehmenden Füllung 
ein annähernd gleichmäßiges 
Absinken. 

Um die Bedeutung dieser 
Tatsachen für etwaige Behin- 
derungen der Atmung richtig 
zu würdigen, muß man nun 
beachten, daß die bei einer be- 
stimmten Thoraxstellung auf- 
zubringenden in- oder ex- 
spiratorischen Kräfte nicht 
direkt einen Maßstab für die 
Leistungen geben, die unter 
den uns hier interessierenden 
Umständen möglich sind. Ist 


z.B. der Thorax durch einen vermehrten Innendruck auf einen be- 
stimmten Füllungsgrad eingestellt, so ist eine Ausatmung erst dann 


Über Atmung in bewegter Luft. 101 


möglich, wenn der bei dieser Füllung aufzubringende exspiratorische 
Druck über jenen Innendruck hinausgeht. Um von der Leistungs- 
fähigkeit der Atemmechanik ein Bild zu haben, werden wir also von 
dem bei einer Stellung beobachteten höchsten exspiratorischen Druck 
denjenigen Betrag abzuziehen haben, den der Innendruck besitzen 
muß, um den Thorax in jene Stellung zu bringen. Den so erhaltenen 
verminderten Wert kann man als den Höchstwert der exspira- 
torisch wirksamen Druckdifferenz bezeichnen. Man kann ihn 
übrigens auch als Ausdruck der von der Muskulatur aufzubringenden 
Leistung betrachten. Denn in dem ganzen exspiratorischen Druck wert 
kommen zu diesem noch die elastischen Kräfte des Thorax und der 
Lungen hinzu. Diese aber stehen ja mit dem vermehrten Innendruck 
im Gleichgewicht. Ziehen wir also diesen ab, so vermindern wir den 
ganzen exspiratorischen Druck um den auf die elastischen Kräfte zu 
rechnenden Anteil und erhalten den auf die Muskeltätigkeit zu be- 
ziehenden Teil. Ebenso wird unter den gegebenen Bedingungen die 
Einatmung durch den Innendruck unterstützt. Eine solche ist daher 
nicht nur dann möglich, wenn der bei der betreffenden Stellung durch 
stärkste inspiratorische Anstrengung zu erzielende Druck negativ, 
kleiner als Atmosphärendruck ist, sondern schon dann, wenn er kleiner 
als der jene Stellung erzeugende Innendruck ist. Als Maß der inspirato- 
rischen Leistungsfähigkeit können wir den algebraischen Unterschied 
zwischen diesem Innendruck und dem Höchstwert der inspiratorischen 
Saugekraft benutzen. Auch hier kann also von einem Höchstwert der 
inspiratorisch wirksamen Druckdifferenz gesprochen werden. Sie wird 
erhalten, wenn wir zu der beobachteten maximalen Saugekraft den 
Betrag des Innendruckes hinzuaddieren. Auch hier sind die so ver- 
mehrten Werte ein Maß der eigentlichen Muskelleistung. Denn bei 
der Bestimmung der ganzen Saugekraft muß hier der elastische Wider- 
stand überwunden werden, während, wenn der Thorax durch ver- 
mehrten Innendruck in diese Stellung gebracht ist, eben dieser Innen- 
druck den elastischen Kräften das Gleichgewicht hält. Das Ent- 
sprechende gilt für Thoraxstellungen, bei denen die Lungen weniger 
Luft als in der Gleichgewichtslage enthalten. Um auch für diese Ver- 
hältnisse eine quantitative Beurteilung zu gewinnen, habe ich versucht, 
festzustellen, welche Drucke auf der Innenfläche der Lunge gegeben 
werden müssen, um bei möglichst vollständig erschlaffter Atmungs- 
muskulatur die Lungen auf verschiedene Füllungsgrade einzustellen. 
Zu diesem Zweck verfuhr ich folgendermaßen: 

Ich brachte mich mit Hilfe der Gasuhr in die gleichen Thorax- 
stellungen wie für die pneumatometrischen Messungen, maß nun aber 
(statt eines forzierten Atemdruckes wie oben) den Druck (Innen- 
druck), der bei möglichster Entspannung“aller Muskeln in den Luft- 


102 W. Senner: 


wegen entsteht, wenn das Atmungssystem in der betreffenden Stel- 
lung abgesperrt ist. — Methodisch war nur die eine Abänderung ge- 
troffen, daß statt des Hg-Manometers zur genaueren Bestimmung der 
niedrigeren Drucke ein H,O-Manometer verwendet und nicht am 
Kymographion registriert, sondern abgelesen wurde. 

Es schien mir im Hinblick auf die Schwierigkeit, jeden aktiven 
Einfluß bei den Messungen auszuschalten, zuerst zweifelhaft, ob die- 
Versuche brauchbare Resultate ergeben würden. Durch einige Übung 
war jedoch diese Schwierigkeit mit ziemlicher Sicherheit zu überwinden. 
Als Beweis dafür kann die große Regelmäßigkeit gelten, mit der sich 
die Druckwerte. für gleiche Thoraxstellungen wiederholten. Auch sei 
bemerkt, daß die Mehrzahl der Ablesungen von einem anderen gemacht 
wurde, ohne daß ich selbst das Manometer sehen konnte, also auf 
diese Art eine Beeinflussung ausgeschlossen war. 

Die Werte für die einzelnen Thoraxstellungen differierten um 0,8 
bis 2,9 mm Hg bei den einzelnen Thoraxstellungen. Nach alledem 
glaube ich, daß man die Resultate als durchaus brauchbar bezeichnen 
kann. ’ 

Auch diese Versuche wurden in zwei Reihen ausgeführt, indem 
einmal von stärkster Inspirations-, einmal von stärkster Exspirations- 
stellung ausgegangen wurde und der Gleichgewichtsdruck für die Tho- 
raxstellungen geprüft wurde, die durch Aus- bzw. Einatmung von 
1000, 2000, 3000 und 4000 cem erhalten wurden. Die erhaltenen 
Befunde sind in den nachstehenden beiden Reihen aufgeführt. 


Tabelle III. 


Stärkste Inspiration weniger 


Füllungsgrad der Lunge... . 0 1000 2000 3000 4000 ccm 
Gleichgewichtsdruck. . . . . . 25,7 12,4 4,6 — 4,4 — 16,3 mm Hg 
Tabelle IV. 
Stärkste Exspiration plus 
Füllungsgrad der Lunge... . 0 1000 2000 3000 4000 cem 
Gleichgewichtsdruck. . . . . 27,6 9,7 1,9 7,9 21,6 mm Hg 


Die Werte der beiden Reihen ordnen sich in der zu erwartenden 
Weise ineinander, wenn man beachtet, daß meine Vitalkapazität hier 
etwa 4400 ccm betrug!), daß also die Stellung, die z. B. durch Ausatmen 
von 2000 cem nach tiefster Einatmung erreicht wird, die nämliche 
ist, wie die durch Einatmen von 2400 ccm nach tiefster Ausatmung. 

1) Sie war durch die andauernde Übung ein wenig in die Höhe gegangen. Die 
Ungenauigkeit, die darin liest, daß die hier erhaltenen Zahlen trotzdem in der 
erwähnten Weise mit denen der ersten Versuchsreihe kombiniert werden, ist so 
gering, daß sie außer Betracht bleiben darf. Wollte man sie berücksichtigen, so 
würden die wirksamen Druckdifferenzen sich überall noch ein wenig größer heraus- 
stellen. 


Über Atmung in bewegter Luft. 103 


Auf Grund dieser Beobachtungen habe ich nun den zunächst fest- 
gestellten und in den Abb. I und 2 dargestellten Druck- und Sauge- 
kräften diejenigen Beträge ab- resp. zugerechnet, die zufolge des Innen- 
druckes von ihnen überwunden werden müssen resp. sich zu ihnen 
hinzuaddieren. Die so erhaltenen Werte sind in den Tabellen V und VI 
zusammengestellt und in den Abb. 1 und 2 durch die mit unterbro- 
chener Linie verbundenen Punkte veranschaulicht. 


Tabelle V. 
Stärkste Inspiration weniger 
Füllungsgrad der Lunge... . ... 0 1000 2000 3000 4000 ccm 
Höchstwert der exspirat. Druck- 
diiferenz2. 2 ala OU le ue 34,3 37,6 40,4 45,4 42,3 mm Hg 
Tabelle VI. 
Stärkste Exspiration plus 
Füllungsgrad der Lunge . . 0 1000 2000 3000 4000 cem 
Höchstwert der inspiratori- 
schen Druckdifferenz . . . 48,4 60,3 64,1 56,9 39,6 mm Hg 


Die unterbrochene Linie gibt also ein Bild von den eigentlich ver- 
fügbaren Atemkräften. 

Aus dem Verlauf der unterbrochenen Kurve ist ersichtlich, daß die 
Atemkräfte bei der Mittellage des Thorax ihre Höchstwerte haben, aber 
bis zu beträchtlichen Abweichungen davon sich nur unerheblich ändern. 
Um die Bedeutung dieser Ergebnisse für das Atmen in bewegter Luft zu 
beurteilen, ist nur noch erforderlich, die Größe des dabei entwickelten 
Innendruckes zu kennen. Man kann sich hier auf gewisse, in der physika- 
lischen Literatur vorliegende Angaben stützen (wenigstens annähernd für 
den speziellen Fall direkten Gegenwindes). Für kleinere Flächen (unter 
0,1 m?), wie sie größer für unsere Zwecke für gewöhnlich nicht in Betracht 
kommen, kann folgende empirische Formel zugrunde gelegt werden: 

= 0,25, 
d.h. der Winddruck in Kilogramm pro Quadratmeter ist ein Achtel des 
Quadrates der in Meter pro Sekunde gemessenen Windgeschwindigkeit!). 

Nach dieser Formel berechnet sich für Geschwindigkeiten von 
10,5 m/sek. oder 37,8km pro Stunde ein Winddruck von 1,0 mm Hs, für 
28 m/sek. oder 100,8km pro Stunde 7,2 mm Hg, bei 35 m/sek. oder 
126km pro Stunde 11,2 mm Hg. Der Überdruck von 11,2 mm Hg würde, 
wenn wir nach den obigen Bestimmungen interpolieren, eine Thoraxfül- 
lung von 3236ccm über der maximalen Exspiration ergeben, eine Stellung, 
bei der sowohl die ex- wie die inspiratorischen Kräfte sich nur un- 
erheblich von ihren normalen Beträgen unterschieden. An ein Versagen 
der inspiratorischen Kräfte in der vorhin berührten Weise dürfte hier 
also nicht zu denken sein. Und esist danach wohl überhaupt wenig wahr- 


t) Zitiert nach L. Dressel, Elementares Lehrbuch der Physik. 4. Aufl. S. 144. 


104 W. Senner: 


scheinlich, daß auch die im Flugzeug bemerkbaren Atembehinderungen 
hierauf zurückzuführen sind. Es könnte das wohl höchstens bei noch 
weit größeren Eigengeschwindigkeiten vorkommen. Ob solche erreicht 
werden, scheint mir einigermaßen zweifelhaft, da die allerdings oft er- 
zielten weit größeren Geschwindigkeiten wohl immer bei Fahrten 
mit dem Wind erhalten wurden. 

Die bisherige Betrachtung ging von der Annahme aus, daß bei ver- 
:ändertem Innendruck der Thorax sich rein den elastischen Kräften 
gemäß auf eine veränderte Mittellage einstellt. Es war nun weiter zu 
prüfen, ob diese Voraussetzung zutrifft. Wäre das nicht der Fall, 
würde z.B. trotz einer Differenz zwischen Innen- und Außendruck 
der Thorax durch Muskelkräfte immer auf die normale Mittellage 
eingestellt, so könnte ja in der hierbei aufgewendeten Anstrengung 
der Grund der Atmungsbehinderungen gelegen sein. 

Zur Prüfung dieser Frage unternahm ich Versuche an Meerschweinchen. 

Das Tier wurde in eine luftdicht verschließbare Glaskammer ge- 
legt, in der der Druck (Außendruck) beliebig geändert werden konnte, 
während von der Trachea aus eine Schlauchverbindung durch die 
Glaskammer zu einem Gadschen Volumschreiber führte, so daß der 
Druck über der Innenfläche der Lunge (Innendruck) Atmosphären- 
druck und damit unveränderlich war. Auf diese Weise konnte in 
weitem Umfange Druckdifferenz zwischen Außen- und Innendruck 
hergestellt und das Verhalten der Atmung und Thoraxstellung dabei 
beobachtet werden. Außer am unverletzten Tier wurden die Versuche 
jeweils auch nach Vagotomie und nach Tötung des Tieres vorgenommen, 
um einen Vergleich zu erhalten zwischen der Umstellung des Atmungs- 
systems am unversehrten Tier und der Umstellung des Atmungssystems 
nach Ausschaltung aller vitalen Einflüsse, wobei allein die mechanischen 
(elastischen) Eigenschaften des Atmungssystems in Betracht kommen. 

Die Ergebnisse der Versuche sind folgende: 

Mit Auftreten einer Differenz zwischen Außen- und Innendruck 
erfolgt sofortige Umstellung des Thorax auf eine neue Gleichgewichtslage. 
Die Umstellung ist eine freie elastische, durch keine nachweisbaren 
vitalen Vorgänge korrigierte. Die Atmung erfolgt von der neuen Gleich- 
gewichtslage des Thorax aus in der Regel nach dem normalen Atem- 
typus: Aktive Inspiration, passive Exspiration. Die Möglichkeit einer 
Atmung von der neuen Gleichgewichtslage aus hängt also im wesent- 
lichen von dem Verhalten der inspiratorischen Atemkräfte für die 
betreffende Thoraxstellung ab. — Hiermit erscheinen die Voraus- 
setzungen gestützt, von denen vorhin ausgegangen wurde). 


1!) Andererseits zeigt sich, daß der, wie oben erwähnt, von Geigel außer acht 
gelassene Punkt wohl sicher von erheblicher realer Bedeutung ist, so daß seine 
Überlegungen auf die tatsächlichen Verhältnisse nicht anwendbar erscheinen. 


re ee ze 


a N ee Ze ae 


Über Atmung in bewegter Luft. 105 


Allerdings muß beachtet werden, daß diese Ergebnisse nur für 
kleine Versuchstiere (Meerschweinchen) festgestellt sind. Eine Nach- 
prüfung an größeren Tieren, evtl. am Menschen, erscheint um so mehr 
zu wünschen, als man nach den bekannten von Hering und Breuer 
_ gefundenen reflektorischen Zusammenhängen mit einiger Wahrschein- 
lichkeit ein gegenteiliges Verhalten erwarten könnte. Übrigens haben 
Dreyer und Spannaus!) auch an Hunden eine prompte Verschiebung 
der Mittelage des Thorax bei Druckdifferenzen gefunden. 

Hinsichtlich der Atmungsstörungen in stark bewegter Luft, ins- 
besondere im schnellfahrenden Flugzeug komme ich hiernach zu fol- 
gendem Ergebnis. 

Es ist sehr unwahrscheinlich, daß der Thorax immer auf die nor- 
male Mittellage eingestellt und die dazu erforderliche Muskeltätigkeit 
als Atmungsbehinderung empfunden wird. Seine Mittelstellung scheint 
sich vielmehr wie die eines unbelebten elastischen Gebildes durch den 
Unterschied zwischen Außen- und Innendruck zu bestimmen. Es ist 
aber auch sehr unwahrscheinlich, daß diese elastischen Verschiebungen 
einen Betrag erreichen, bei dem die Atmungsbewegungen unmöglich 
oder auch nur sehr erschwert werden, daß z. B. Inspirationsstellungen 
erreicht werden, über die hinaus eine weitere Einatmung nicht oder 
nur mit exzessiv großem Kraftaufwand möglich ist. Hiernach werden 
wir den Grund der Atembehinderung, wie mir scheint, überhaupt 
nicht in Verhältnissen erblicken dürfen, die dauernd bestehen, 
sondern in den schnellen und unregelmäßigen Wechseln, 
die namentlich bei böigem Wetter in hohem Maße gegeben sind. 
In der Tat versteht sich, daß, wenn in dem Augenblick, wo wir ausatmen 
wollen, gerade eine Vermehrung oder im Moment des Einatmens gerade 
eine Verminderung des Winddrucks stattfindet, die Atmungsbewegungen 
dadurch gestört werden und die Aufwendung bedeutend größerer 
Kräfte alsnormal erforderlich wird. Aber auch wenn das Phasenverhältnis 
etwa das umgekehrte ist, wird die Atmung erschwert und gestört 
werden. Denn der Wechsel des Winddruckes wird in diesem Falle dahin 
wirken, der Atmungsbewegung einen exzessiven Umfang zu geben, 
wodurch korrigierende Gegenkräfte ausgelöst werden. Mit dieser An- 
schauung, daß die Behinderungen wesentlich auf dem schnellen unregel- 
mäßigen Wechseln des Winddruckes beruhen, scheint mir in gutem 
Einklange, daß, wie eingangs erwähnt, der subjektive Eindruck der 
Atmungsbehinderung in unregelmäßiger Weise wechselt, zuweilen die 
Ein-, zuweilen die Ausatmung erschwert erscheint. 


!) Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 60, 110. 


Physiologisch-akustische Untersuchungen. 
II. Mitteilung. 


Über das diotische Schwebungsphänomen bei einem einseitigen 
Tauben (Aecustieus-Tumor). 


None 
A. Kreidl und S. Gatscher, Wien. 


(Eingegangen am 22. April 1921.) 


In unserer ersten Mitteilung über dieses Thema!) sind wir auf Grund 
neuer Untersuchungen an einseitig tauben Menschen, bei denen das 
Phänomen der diotischen Schwebungen nicht auftrat, zu der Schluß- 
folgerung gekommen, daß für die Entstehung dieses Phänomens eine 
beiderseitige Nervenerregung neben dem physikalischen Moment der 
metotischen oder inneren Überleitung des Tones von Ohr zu Ohr ge- 
fordert werden müsse. 

Die Befunde an den einseitig Tauben, die uns damals zur Verfügung 
standen, schienen für die zentrale Entstehung diotischer Schwebungen 
zu sprechen. Wir haben uns trotzdem für eine endgültige Entscheidung 
dieser Frage nicht entschlossen, weil immerhin die Möglichkeit nicht ab- 
zulehnen war, daß der pathologische Prozeß im Ohr Veränderungen 
gesetzt habe, durch die die metotische Leitung beeinträchtigt wird. 
„Weitere Untersuchungen an Fällen mit einseitiger Taubheit‘‘, — so 
schrieben wir — „die mit Sicherheit oder größter Wahrscheinlich- 
keit auf eine reine Acusticuserkrankung (z. B. Acustieustumor) be- 
zogen werden kann, werden uns vielleicht eine solche Entscheidung 
ermöglichen.‘ 

Einen solchen Fall von einseitiger Taubheit durch Tumor haben 
wir jüngst Gelegenheit gehabt zu untersuchen und berichten im folgenden 
über den Befund und das Verhalten bei der Untersuchung auf Schwe- 
bungen?). 

M.Z. 26 Jahre, seit zwei Jahren links taub, wurde 3 Monate vor der 
am 11. Jan. 1921 von uns vorgenommenen Untersuchung wegen eines 
Tumors der linken hinteren Schädelgrube (Cholesteatom an der hin- 
teren Fläche der Pyramide) operiert, ohne daß am Gehörorgan selbst 
ein Eingriff vorgenommen wurde. 

Ötologischer Befund: Rechts otoskopischer Befund und Coch- 
learisfunktion normal; links Mittelohr normal, taub. 


t) Dieses Archiv 185, H. 4/6, S. 165. 
2) Alle Untersuchungen, auch die in der früheren Mitteilung, wurden mit 
Stimmgabel e ausgeführt. 


A. Kreidl und S. Gatscher: Physiologisch-akustische Untersuchungen. IL. 107 


Stimmgabelprüfung: 

1. Der Ton der auf der Scheitelmitte aufgesetzten Stimmgabel e 
wird rechts lokalisiert. 

2. Die Patientin erkennt rechts deutlich geringe Höhendifferenzen 
von Tönen. 

3. Rechts werden monotisch die Schwebungen deutlich erkannt. 

4. Bei diotischer Zuleitung werden keine Schwebungen erkannt. 

Aus diesem Befunde geht hervor, daß diese Patientin sich ebenso 
verhält wir unsere in der ersten Mitteilung zitierten einseitig Tauben. 
Auch bei ihr, bei der der Krankheitsprozeß in der hinteren Schädelgrube 
gelegen ist und durch Zerstörung des Nerven zur Taubheit geführt hat, 
fehlt das diotische Schwebungsphänomen. 

Bei diesem Fall ist die Möglichkeit einer physikalischen Überleitung 
des Tones der stark angeschlagenen e-Gabel noch weniger in Abrede 
zu stellen als bei den früheren. Wenn nun bei ihm das Phänomen 
fehlt, so müssen wir wohl mit besonderem Nachdruck an der in der ersten 
Mitteilung ausgesprochenen Ansicht festhalten, daß für das Auftreten 
des Phänomens die Erregungsfähigkeit beider Hörapparate notwendig ist. 

Für diese Annahme spricht das Experiment von Thompson, 
wo durch beiderseits unterschwellige Töne das Schwebungsphänomen 
ausgelöst wird, ebenso wie jener Versuch, wo dies der Fall ist, wenn der 
Ton einer Seite unterschwellig ist. In beiden Versuchen muß man an- 
nehmen, daß der unterschwellige Ton im Gehörorgan doch zu einer Erre- 
gung führt, wenn auch keine bewußte Tonempfindung vorhanden ist, und 
daß diese Erregung zentral die von einer Tonempfindung begleitete 
Erregung des anderen Ohres beeinflußt. Die Tatsache, daß bei dem hier 
mitgeteilten Fall dasdiotischeSchwebungsphänomen auch bei Anwendung 
starker Töne fehlt, spricht im Zusammenhang mit der eben vorgebrach- 
ten Analyse der beiden zitierten Versuche geradezu gegen die von andern 
Autoren vertretene Ansicht, daß dieses Phänomen ausschließlich durch 
innere Schallüberleitung zustande kommt. 

Der an dieser einseitig Tauben erhobene Befund ist auch geeignet, 
einem Einwande zu begegnen, der den Thompsonschen Versuch wie 
folgt erklären will. 

Man könnte annehmen, daß im Versuch von Thompson die Schall- 
wellen außerhalb des Schädels zur Interferenz kommen, und daß die 
dadurch entstehenden Intermissionen zur Perception gelangen, wenn 
auch die einzelnen upterschwelligen Töne nicht gehört werden. Gegen 
eine solche Annahme spricht das Verhalten der einseitig Tauben, bei 
denen physikalisch die Möglichkeit zur Entstehung einer Interferenz 
der Schallwellen außerhalb des Schädels ebenso vorhanden ist, die also, 
wenn die als Einwand bezeichnete Erklärung des Thompsonschen 
Versuches zutreffend wäre, diotisch Schwebungen hören müßten. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Wien.) 


Über inverse Herzwirkungen parasympathischer Gifte. 


ä Von 
Richard Kolm und Ernst P. Pick. 


(Ausgeführt mit Unterstützung der Fürst Liechtenstein-Spende.) 
Mit 6 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 29. April 1921.) 


Die bisherigen Untersuchungen [Kolm und Pick!), Amsler2)] 
haben ergeben, daß die beiden Nervenapparate, welche die Herzaktion 
beeinflussen, nicht, wie man von vornherein hätte annehmen können, 
in der Anspruchsfähigkeit ihrer Endapparate voneinander unab- 
hängig sind, sondern in einem strengen gegenseitigen Abhängigkeits- 
verhältnis stehen. Die Erregbarkeit der beiden Herznerven wird dem- 
nach nicht allein durch einen zentralen Regulationsmechanismus be- 
herrscht, sondern auch durch einen peripheren, im Erfolgsorgan 
selbst gelegenen, der, wie sich experimentell zeigen läßt, für die 
Wirkung der Herzgifte von größter Bedeutung ist. In früheren Arbeiten 
wurde an isolierten Froschherzen gezeigt, daß das Herz sowohl nach 
Erregung des Vagus wie auch nach Lähmung des Sympathicus auf 
sympathicotrope Gifte so reagiert, wie es sonst nur auf vagotrope 
Mittel anspricht. 

Im folgenden soll gezeigt werden, daß auch die Erregbarkeits- 
steigerung der sympathischen Herznervenendigungen eine 
Wirkungsänderung der vagalen Herzgifte herbeiführt. Die 
Beziehungen der Erregbarkeit der sympathischen Nervenendappa- 
rate zum Kalkgehalt der Nährlösung wurden von uns in einer vorher- 
gehenden Untersuchungsreihe festgestellt, aus welcher hervorgeht, daß 
die Empfindlichkeit genannter Nervenendigungenihren adäquaten chemi- 
schen Reizen gegenüber bei relativem Kalküberschuß wesentlich zunimmt. 
Über den Einfluß von Kalksalzen auf die chemische oder elektrische 
Erregbarkeit des Herzvagus liegen in der älteren und jüngeren Lite- 


!) R. Kolm und E.P. Pick, Über Änderung der Adrenalinwirkung nach 
Erregung der vagalen Endapparate. Arch. f. d. ges. Physiol. 184, 79. 1920. — 
Dieselben, Über die Bedeutung des Caleiums für die Erregbarkeit der sympathi- 
schen Herznervenendigungen. Arch. f. d. ges. Physiol. 189, 137. 1921. 

1) C. Amsler, Über inverse Adrenalinwirkung. Arch. f. d. ges. Physiol. 
185, 36. 1920. 


R. Kolm u. E. P. Pick: Über inverse Herzwirkungen parasympathischer Gifte. 109 


ratur eine Reihe von Arbeiten vor [Busquet und Pachont), Fröh- 
lich und Chiari2), O.Loewi?), Fr. Kraus?)], auf welche bereits von 
dem einen von uns in einer früheren Mitteilung eingegangen worden 
ist®). Hinzuzufügen wären noch die inzwischen erschienenen Abhand- 
lungen von Zondek®$) und Kirste?), die u.a. in ähnlicher Weise wie 
O. Loewis3) frühere Untersuchungen die Beziehungen von Kalksalzen 
zur Muscarinwirkung auf das Froschherz zum Gegenstande hatten; 
diese Autoren kamen zu dem Ergebnisse, daß der Muscarinstillstand 
des Froschherzens durch Kalksalze aufgehoben werden könne. In einer 
weiteren Mitteilung zeigte Zondek, daß auch die Arsen- und Chinin- 
schädigung des Froschherzens durch Kalksalze zu verhindern sei, und 
folgert daraus einen Antagonismus zwischen Kalk und den genannten 
Giften. Für die genauere Analyse dieser Erscheinungen müssen indes 
eine Reihe von Beobachtungen berücksichtigt werden, welche in den 
genannten Arbeiten Zondeks anscheinend übersehen worden sind. 
Vor allem handelt es sich um die Feststellung, welche Herzqualitäten 
von den angewandten Giften vorwiegend geschädigt werden und ob 
die durch Kalkzusatz hervorgerufene Herztätigkeit tatsächlich eine 
normale ist. Es ist bekannt, daß eine Reihe von Giften, welche den 
Herzvagus erregen, gleichzeitig eine Reizleitungsstörung verursachen, 
wodurch ähnlich wie nach der Atrioventrikularligatur (Stannius II) 
das Auftreten der Kammerautomatie begünstigt wird [Fröhlich und 
Pick°)]; aber auch eine größere Anzahl anderer, nicht vagal wirkender 


1) Busquetet Pachon, Journ. de physiol. et de pathol. gen. 11, 807 und 851. 
1909 und Cpt. rend. des seances de la soc. de biol. 66, 3, 127; 66, 6, 247; 66, 9, 
384 und 66, 17, 779; 66, 21, 958. 

2) R. Chiari und A. Fröhlich, Zur Frage der Nervenerregbarkeit bei der 
Oxalatvergiftung. Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 66, 110. 1911. Dieselben 
Erregbarkeitsänderung des vegetativen Nervensystems durch Kalkentziehung. 
Ebenda 64, 214. 1911. 

3) ©. Loewi, Untersuchungen zur Physiologie und Pharmakologie des Her- 
vagus. Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. %0, 343. 1912. 

4) Fr. Kraus, Dtsch. med. Wochenschr. 1920, Nr. 8, S. 201. 

5) E.P. Pick, Über paradoxe Wirkungen von Herzgiften und ihre Ursachen. 
Wien. klin. Wochenschr. 1920, Nr. 50. 

6) S. G. Zondek, Über die Bedeutung der Caleium- und Kaliumionen bei 
Giftwirkungen am Herzen. I. u. II. Mitt. Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 
87, 342. 1920 und 88, 158. 1920. 

?) H. Kirste, Über den Synergismus von Atropin und Blutserum am mus- 
carinvergifteten Froschherz. Arch. f. exp. Pathel. u. Pharmakol. 89, 106. 1921. 

8) O. Loewi, Über die Wirkung von Muscarin auf das nicht oder unzureichend 
gespeiste Froschherz und die Gegenwirkung von Calciumsalz. Zentralbl. f. Physiol. 
19, 593. 1905. 

°) Fröhlich und Pick, Untersuchungen über die Giftfestigkeit des Reiz- 
leitungssystems und der Kammerautomatie. Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 
84, 250. 1918. — Dieselben, Unwirksamkeit der Stanniusligatur am Frosch- 
herzen unter dem Einflusse parasympathischer Gifte. Ebenda 84, 267. 1918. 


110 | R. Kolm und E. P. Pick: 


Substanzen verursachen beim Frosch eine ‚„Herzlähmung‘‘, welche auf 
einer Unterbrechung der Reizleitung beruht, während der automatische 
Kammerapparat, wie dies aus früheren Versuchen von Fröhlich und 
Pick hervorgeht, völlig intakt bleibt und leicht geweckt werden kann; 
zur ersteren Gruppe gehört u.a. Muscarin, zur zweiten Chinin und 
seine Derivate. Es werden daher alle Reize, welche die Kammer- 
automatie wecken, bei ungenügender Registrierung der Vorhofstätig- - 
keit scheinbar eine normale Herzaktion hervorrufen, während in Wirk- 
lichkeit bloß die Kammer selbsttätig arbeitet und die Vorhöfe entweder 
stillestehen oder unabhängig von der Kammer schlagen. Da die Kalk- 
salze, wie schon lange bekannt ist (Rothberger und Winterberg, 
Fröhlich und Pick), 
die tertiären Ventrikel- 
zentren kräftig erregen, 
so ist es naheliegend, 
daß die von Zondek 
angenommene Aufhe- 
bung der Wirkung von 
Muscarin, Arsen und 
Chinin nur eine schein- 
bare ist, während in 
Wirklichkeit nur eine 


ErweckungderKammer- 
Abb. 1. Rana escul. (Winterfrosch). Straubsche Versuchs- . 

anordnung. Kalifreier Ringer. Obere Zeile Kammer, untere automatle durch Kalk- 
Zeile Vorhof. Bei A Zusatz von 0,05ccm einer 05 proz. salze vorliegt. In Über- 
CaCl,-Lösung: Einsetzen einer kurzdauernden Kammer- R Ö ö 
contractur; nach Lösen derselben wird 0,1 ccm einer Acetyl- eınstimmung mit der 
cholinlösung 1: 10000 hinzugefügt (bei B): nach einiger Zeit Auffassung, daß es sich 


diastolischer Vorhof- und Ventrikelstillstand. (Von links 2 R 
nach rechts zu lesen). nicht um einen gegen- 
seitigen Antagonismus 
zwischen Kalk und Muscarin handle, steht auch der ältere Befund 
von OÖ. Loewi, daß eine regelmäßige Folge der Kalkinjektion am Frosch- 
herzen während der Pilocarpin- und Muscarinwirkung nur eine Hebung 
des Kontraktionsvermögens sei. 

In den hier mitzuteilenden Versuchen wurde die Eigenschaft der 
Kalksalze verwendet, die sympathischen Herznervenendigungen erreg- 
barer zu machen, um festzustellen, wie selektiv vagotrope Gifte — 
Acetylcholin, Muscarin und Pituitrin — ein derartig sympathisch sen- 
sibilisiertes Herz beeinflussen. Unsere Versuche wurden im Sommer 
1919 und 1920 an kräftigen Esculentenherzen in der Straubschen 
Versuchsanordnung durchgeführt. Die im Winter angestellten Kon- 
trollversuche ergaben, daß die Herzen dieser meist schlecht genährten 
Frösche sich anders verhielten, indem sich keine befriedigende Sensi- 
bilisijerung des Sympathicus durch Kalksalze herbeiführen ließ. In- 


Über inverse Herzwirkungen parasympathischer Gifte. 1ljl 


wieweit der bei Winterfröschen stark entwickelte Vagustonus an diesen 
Verhältnissen ursächlich beteiligt ist, mag hier dahingestellt bleiben; 
zweifellos ist aber auch der Zustand der Herzmuskulatur für den Er- 
folg der Kalkwirkung maßgebend. Tatsache ist, daß an derartigen 
Winterfröschen oder an Tieren in der Laichperiode, bei denen durch 
Kalkanreicherung selbst eine sehr deutliche Contracturbereitschaft 
auszulösen war, die diastolische Wirkung vagotroper Gifte, 
wie Acetylcholin, zum Unterschiede zu unseren Sommerfröschen durch 
Kalk nicht gehemmt werden konnte (siehe Abb. 1)}). 


I. Wirkung von Acetylcholin, Muscarin und Piutitrin bei 
Kalküberschuß an Sommerfröschen. 


Bekanntlich führt Acetylcholin an einem in normaler Ringerlösung 
schlagenden Esculentenherzen in Konzentrationen von 1—10 Millionen 
fast augenblicklich einen diastolischen Stillstand herbei, welcher durch 
die heftige Erregung der vagalen Herznervenendigungen bedingt wird 
und durch Atropin sofort aufzuheben ist. An dem Stillstand beteiligen 
sich sowohl die Vorhöfe als auch die Kammer, und zwar in der Weise, 
daß in der Regel die Vorhöfe samt Sinus ihre Tätigkeit gleichzeitig 
mit der Kammer einstellen; nicht selten geschieht es jedoch, daß trotz 
völligen Vorhofsstillstandes die Kammer scheinbar unverändert weiter- 
schlägt; sie ist dann bei genauer Betrachtung zumeist sowohl inotrop 
als auch chronotrop geschädigt, vermag aber in dem neuen Rhythmus 
regelmäßig zu schlagen: es haben eben unmittelbar im Anschluß an 
den Vorhofsstillstand die automatischen motorischen Kammerzentren 
die Führung übernommen, wie dies häufig nach Einwirkung auch 
anderer vagaler Gifte beobachtet werden kann. 

Ganz anders aber stellt sich die Acetylcholinwirkung bei völligem 
Mangel der Kaliumsalze und Überwiegen der Kalksalze dar; für diese 
Versuche werden die anfangs unter normaler Ringerlösung schlagenden 
Herzen mit kaliumfreier Nährlösung gespeist entweder bei normalem 
oder um das Zwei- bis Dreifache erhöhtem Kalkgehalt. Der Überschuß 
an Calciumsalzen bewirkt, solange noch Spuren von Kaliumsalzen im 
Herzen zurückbleiben, eine Verstärkung und Verlängerung der Kammer- 
systole bei kräftig schlagenden Vorhöfen; meist ist dann eine gleich- 


!) Auf diesen Unterschied der verschiedenen Froschherzen je nach Jahreszeit 
und Ernährungszustand dürften auch die abweichenden Versuchsergebnisse 
zurückzuführen sein, die manchmal bei Anwendung verschiedener Ionen erhalten 
werden. So z. B. reagieren schwach schlagende Vorhöfe, wie wir uns bei Herzen 
schlecht genährter Winterfrösche überzeugen konnten, ganz anders auf Kalisalze 
als kräftig schlagende Vorhöfe gut genährter Sommerfrösche, indem die ersteren 
häufig negativ inotrop, letztere hingegen stets positiv reagieren. (Siehe F. B. Hof- 
mann, Die Ursache des Stillstandes nach .der ersten Stanniusschen Ligatur 


Zeitschr. f. Biol. %2, 229. 1920.) E 


> R. Kolm und E. P. Pick: 


zeitige Entwicklung von Halb- und Einviertelrhythmus (zwei oder vier 
Vorhofschläge auf einen Ventrikelschlag) zu beobachten (Stadium I). 
Wird in diesem Stadium der verstärkten Kammertätigkeit Acetyl- 
cholin (entweder in destilliertem Wasser oder in kaliumfreiem Ringer 
gelöst) in Dosen zugesetzt, welche unter normalen Bedingungen einen 
vagalen Herzstillstand hervorrufen, so geht die Kammer unter all- 
mählicher Abnahme der Diastole in eine völlige Contractur- 
stellung über (siehe Abb. 2); niemals läßt sich beobachten, wie von 
vornherein zu vermuten wäre, daß die durch Kalk gesetzte Contractur- 
bereitschaft der Kammer aufgehoben würde. Ein weiterer wesentlicher 
Unterschied zwischen der durch Acetylcholin in normaler Ringer- 
lösung und bei Kalküberschuß hervorgerufenen Herzwirkung liegt auch 


Abb. 2. Rana escul. (Sommerfrosch). Versuchsanordnung wie bei Abb. 1. Kalifreier Ringer. 

Bei A 0,lcem Acetylcholin 1:10000: die Kammer geht in Contracturstellung über, welche 

durch Zusatz von 0,2 ccm einer 0,1 proz. Lösung von Atropin. sulfur. nicht aufgehoben wird. 
\ (Von rechts nach links zu lesen). 


im Verhalten der Vorhöfe. Während unter normalen Bedingungen 


Acetylcholin gleichzeitig mit dem Ventrikel auch die Vorhöfe stillestellt, 
schlagen in unserem Falle die Vorhöfe eine Zeitlang weiter auch dann 
noch, wenn der Ventrikel bereits maximal systolisch eingestellt ist 
(vgl. Abb. 5). Erst allmählich, wenn die Vorhöfe den durch die Ver- 
kleinerung des Kammerraumes gesetzten Widerstand nicht mehr über- 
winden können, erlahmen sie und stellen ebenfalls ihre Tätigkeit ein. 

Mitunter kommt es bereits vor dem Acetylcholinzusatz infolge des 
Kalküberschusses zu Vorhofsstillstand; wird in diesem Stadium das 
Herz unter Acetylcholinwirkung gesetzt, so zieht sich trotz Aussetzens 
der Vorhofstätigkeit die Herzkammer zusammen; doch ist in diesen 
Fällen die Ventrikeleontractur niemals so stark wie bei kräftig arbeiten- 
den Vorhöfen (siehe Abb. 3a, b). Aber selbst dann, wenn durch Kalk- 
zusatz der Ventrikel bei tätigem Oberherzen in Contractur übergegangen 
ist und Acetylcholin die Vorhöfe stillegestellt hat, wird die ausgebildete 
Ventrikeleontractur, wiewohl die Vorhofstätigkeit aufgehoben ist, nicht 
wesentlich abgeschwächt. Aus diesen Beobachtungen könnte ge- 


Über inverse Herzwirkungen parasympathischer Gifte. 113 


schlossen werden, daß das Oberherz an der Ausbildung der Contractur 
keinerlei Anteil nimmt; aus den später mitzuteilenden Versuchen ist 
jedoch zu ersehen, daß dieser Schluß wenigstens für den abgeschnür- 
ten Ventrikel nicht zu Recht besteht. 

Das Stadium verstärkter Kammertätigkeit tritt auf Caleiumzusatz 
nur dann ein, wenn noch Spuren von Kaliumsalzen im Herzmuskel 
vorhanden sind; werden letztere durch fortgesetztes Waschen mit kali- 
freier Ringerlösung vollständig entfernt, so erfolgt auf Zusatz von 
Caleiumchlorid infolge Abschwächung der Sinusimpulse und Unter- 
brechung der Reizleitung ein diastolischer Kammerstillstand, während 
die Vorhöfe weiterschlagen [Stadium II der Kalkwirkung!)]. Wird 


1 


(6; 


"Abb. 3b. Abb. 3a. 
Abb. 3a. Straubherz (Sommerescul.) mit kalifreiem Ringer; oben Ventrikel, unten: Vorhöfe, 
Bei A stellt sich nach Zusatz von 0,05 ccm 1proz. CaCl,-Lösung die Kammer leicht systolisch ein, 
während die Vorhöfe stille stehen, bei B 0,2 cem Acetylcholinlösung 1 : 10000: Die Kammersystoie 
nimmt zu; nach kurzdauerndem Stillstand in Mittelstellung Entwicklung von Kammerautomatie. 


Abb. 3b. Fortsetzung von 3a. Bei fortdauernder Kammerautomatie wird durch neuerlichen 
Acetylcholinzusatz (bei C) in der gleichen Dosis, wie früher, die Systole abermals verstärkt. 
(Von rechts nach links zu lesen.) 


nunmehr Acetylcholinlösung in der gleichen Menge wie in den früher 
beschriebenen Versuchen zugesetzt, so ist zunächst keinerlei Wirkung 
zu beobachten; der Ventrikel verharrt weiter in diastolischer Er- 
schlaffung, während die Vorhöfe ihre Tätigkeit weiterbehalten. Da 
die Kammermuskulatur ihre mechanische Erregbarkeit trotz des 
diastolischen Stillstandes beibehält, genügt nunmehr ein schwacher 
mechanischer Reiz, wie das Berühren der Kammer, eine Kontraktion 
auszulösen, welche in der Regel die sofortige Entwicklung einer Dauer- 
contractur zur Folge hat (Abb.4 ). 

Ähnliche Wirkungen, wie mit Acetylcholin, konnten wir auch mit 
anderen, vagal wirkenden Giften, wie mit Muscarin und Pituitrin, 


!) Kolm und Pick, Die Bedeutung des Kaliums für die Selbststeuerung 
des Herzens. Arch. f. d. ges. Physiol. 185, 237.. 1920. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 8 


114 R. Kolm und E. P. Pick: | 


erzielen (Abb. 5a u. b und Abb. 6). Wir sehen hier, daß durch Ionen- 
verschiebung zugunsten des Calciums das Herznervensystem derart 
beeinflußt wird, daß nunmehr 
chemische vagale Reize auf 
die Herzkammer von der 
Norm völlig abweichende Wir- 
kungen ausüben; an Stelle 
des diastolischen 'Herzstill- 
standes entwickelt sich in 
direkter Umkehr eine lang- 
dauernde systolische Einstel- 
lung der Kammer. In der 
früher erwähnten Untersu- 
ehungsreihe über die Bezie- | 
troiemm Ringer ‚oben Kemmer unten Vorhör, BUS der Kalksalze zur ‚Erres ig 
Nach Zusatz von 0,15 ccm einer 1 proz. CaCl,-Lösung barkeit des Herzsympathicus | 
(bei 4) steht die Kammer diastolisch. still, während R 2 
die Vorhöfe weiter schlagen: bei B werden 0,2 ccm wurde gezeigt, daß die Adre- 
Acetyleholinlösung 1:10 000 der Nährlösung zugefügt nalinkammereontractur nach 


und mit ihr vorsichtig gemischt: es erfolgt ein Kam- 
mervorschlag, wsrauf die Kammer in eine einige Kalkvorbehandlung als Aus- 


Minuten währende Contractur übergeht, die Vorhöfe druck einer Sympathicuserre- 
schlagen zunächst unverändert; erst allmählich 


stehen sie still. (Von rechts nach links zu lesen.) gung aufzufassen sei im Ge- 

gensatz zu der durch Kali- 
salze ausgelösten Ventrikelcontractur, an welcher die sympathischen 
Herznervenendigungen anscheinend unbeteilist sind; in beiden Fällen 


Abb. 5b. Abb. 5a. 


Abb. 5a. Straubherz. Sommereseul. in normaler Sommer-Ringer-Lösung. Muskarinstillstand 
durch 0,1 cem Muskarinlösung bei A. 


Abb. 5b. Fortsetzung von 5a. Nach Ersatz der Ringerlösung durch kalifreien Ringer ruft die 

gleiche Muskarinmenge, wie früher (bei C) nach vorhergehendem Zusatz von 0,1 ccm 0,1 proz. 

CaC],-Lösung (bei B) ohne Aussetzen der Kammertätigkeit eine sich allmählich lösende Ven- 
trikelcontractur hervor. (Von rechts nach links zu lesen.) 


war die Tätigkeit der Vorhöfe von wesentlichem Einfluß. Es war 
nunmehr festzustellen, welcher Art die hier beschriebenen Contractur- 
phänomene angehören. 


Über inverse Herzwirkungen parasympathischer Gifte. 115 


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Abb.6. Straubherz (Sommeresculenta) in kalifreiem Ringer; bei 4 Zusatz von 0,1 cem CaCl, 

in 0,1 proz. Lösung; bei B 0,05 cem Pituitrin (Parke, Davis & Co.): die durch vorhergehenden 

Kalküberschuß in Contracturbereitschaft versetzte Kammer verfällt in systolischen Krampf und 

bleibt nach kurz vorübergehendem, leicht diastolischen Abfall in Contracturstellung. Bei RW 

bedingt Ersatz der kalifreien Ringerlösung durch eine Normal-Ringerlösung wieder normale Ven- 

trikeltätigkeit; bei C Zusatz der gleichen Pituitrinmenge, wie vorher: sofort setzt die typische 
negativ inotrope Wirkung ein. (Von rechts nach links zu lesen.) 


II. Analyse der Acetylcholincontractur. 


Für die Deutung der eben geschilderten Versuchsergebnisse kam 
vor allem in Frage, in welcher Weise unser Contracturphänomen be- 
einflußbar ist einerseits durch Gifte, welche die vagalen, andererseits 
durch solche, welche die sympathischen Nervenendigungen lähmen, 
ferner ob an ihm das Öberherz wesentlich beteiligt ist. Zu diesem 
Zwecke wurden die Herzen sowohl vor wie nach Acetylcholinzusatz 
unter Atropin wirkung gesetzt. Während unter normalen Bedingun- 
gen der durch Acetylcholin hervorgerufene diastolische Herzstillstand 
sofort aufgehoben wird, hindert Atropin weder das Zustandekommen 
der Contracturstellung des gekalkten Ventrikels, noch vermag es die 
eingetretene Contractur aufzuheben (s. Abb. 2). Mitunter sieht man 
wohl, daß nach Atropinzusatz zu der in systolischem Krampf ver- 
harrenden Kammer schwache Pulse auftreten, ohne aber daß ihre 
Fußpunkte die ursprüngliche Abszisse erreichen. Aus der Unwirksam- 
keit des Atropins gegenüber der Acetylcholincontractur geht wohl 
hervor, daß die letztere von vagalen Impulsen völlig unabhängig ist 
und daß ihr Zustandekommen auf ganz anderen Ursachen beruhen 
müsse als auf der Vaguserregung. Schon der Umstand, daß 
Acetylcholin an der durch Kalk erzeugten Contractur- 
bereitschaft der Kammer nichts ändert, spricht dafür, 
daß die vagalen Nervenendigungen der gekalkten Kammer 
ihre Anspruchsfähigkeit für chemische Reize eingebüßt 
haben. 

Ganz anders wird die beschriebene Acetylcholinwirkung durch 
Lähmung der sympathischen Nervenendigungen beeinflußt. Wird 
ein Herz mit Dosen von Ergotamin (Sandoz) vergiftet, die an sich 
noch keine Änderung der Inotropie hervorrufen, so vermag Acetyl- 


s 
8* 


116 R. Kolm und E. P. Pick: 


:cholin den in gewohnter Weise gekalkten Ventrikel nicht in Contractur- 
stellung überzuführen. Aus dieser Tatsache läßt sich der Schluß ziehen, 
daß die Kalk-Acetyleholin-Contractur ebenso wie die 
Kalk-Adrenalin-Contractur eine unmittelbare Folge der 
Erregung sympathischer Nervenelemente ist. Wir müssen 
demnach annehmen, daß durch Kalküberschuß gleichzeitig mit einer 
Erregbarkeitssteigerung des Sympathicus eine Herabsetzung der 
vagalen Empfindlichkeit hervorgerufen wird, so daß unter normalen 
Bedingungen vagotrop wirkende Gifte ihren Wirkungscharakter völlig 
ändern und eine inverse Wirkung auslösen; es sind somit diesen Giften 
auch sympathicotrope Eigenschaften zuzuschreiben, welche unter 
normalen Bedingungen latent bleiben. Auf diese Weise kommt an 
Stelle der diastolischen Herzwirkung von Acetylcholin, Muscarin und 
Pituitrin eine systolische zustande. 

Auf die Bedeutung des Oberherzens für die Entwicklung der Con- 
tracturstellung wurde von Fröhlich und Pick!) bereits hingewiesen; 
in eigenen Versuchen konnten wir feststellen, daß die Kali-Kalk- 
Contracturan die vomOberherzen ausgehenden Impulse 
gebundeniist, und auch für die Adrenalin-Kalk-Con- 
tracturist es wahrscheinlich, daß eine kräftige Ober- 
herztätigkeit die Vorbedingung für deren Entfaltung 
ist. Da sich die Kalk-Acetylcholin-Contractur auch an Herzen ent- 
wickelt, welche infolge Kalkvorbehandlung und Kalimangels eine 
Reizleitungsstörung aufweisen, konnte erwartet werden, daß sie 
an der völlig isolierten Kammer ebenfalls auszulösen wäre. Diesbezüg- 
liche Versuche, welche an Herzen angestellt worden sind, an denen 
die Kammer durch Ligatur an der Atrioventrikulargrenze (Stannius II) 
abgeschnürt worden war und automatisch schlug, ergaben, daß in 
(diesen Fällen niemals eine Contractur auszulösen ist. Die vom Ober- 
herzen völlig isolierte Kammer verhält sich demnach anders als ein 
Ventrikel, welcher. mit dem Öberherzen durch eine, wenn auch ge- 
schädigte Reizleitung verbunden ist, so daß auch hier mit Wahrschein- 
lichkeit angenommen werden muß, daß an der Acetylcholincontractur 
das Oberherz beteiligt ist. 


Schlußsätze. 
l. An isolierten Herzen von Sommeresculenten, welche mit 
einer kalkreichen Nährlösung gespeist sind, vermögen vagale Gifte 
— Acetyleholin, Muscarin und Pituitrin — keinen diastolischen 
Stillstand hervorzurufen; Herzen von Winterfröschen reagieren 
trotz Kalkvorbehandlung auf oben genannte Gifte in normaler Weise. 


1) Fröhlich und Pick, Über Contractur des Froschherzens. Zentralbl. f. 
Physiol. 33, Nr. 7/8. 1919. 


Über inverse Herzwirkungen parasympathischer Gifte, lre 


2. Acetylcholin, Muscarin und Pituitrin lösen an Sommeresculenten- 
herzen nach Vorbehandlung mit Caleiumchlorid bei vollständigem 
oder teilweisem Mangel an Kaliumsalzen eine Contracturstellung 
der Kammer aus; diese vagalen Gifte sind nicht imstande, die durch 
Caleium gesetzte Contracturbereitschaft aufzuheben. 

3. Die Kalk-Acetylcholin-Contractur kann weder durch Vorbehand- 
lung des Herzens mit Atropin verhindert werden, noch wird eine bereits 
ausgebildete Contractur durch Atropin aufgehoben; das Zustande- 
kommen der Contractur ist daher vom vagalen Nervenendapparat 
unabhängig. 

4. Nach Lähmung der sympathischen Herznerven durch Ergotamin 
ist die Acetylcholineontraetur nicht auszulösen; sie ist demnach als 
eine Folge der Erregung des durch Kalk überempfindlich gewordenen 
Herzsympathicus aufzufassen. 

5. Den vagalen Giften kommen in der Norm latent bleibende sym- 
pathicotrope Eigenschaften zu, welche unter den besonderen, hier 
gegebenen Bedingungen zutage treten. 

6. Die Acetylcholincontractur kommt an der durch Abschnürung: 
in der Atrioventrikulargrenze isolierten Kammer nicht zustande. 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die 
Gefäße. 


Von 
Edgar Atzler und Gunther Lehmann. 


(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Greifswald.) 
Mit 3 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 26. April 1921.) 


Inhaltsübersicht: 
Bisherige Literatur (S. 118). 
I. Experimenteller Teil (S. 122). 
a) Vergleichende Betrachtung der Empfindlichkeit der mikroskopischen 
Capillarbeobachtungsmethode und der Methode der Tropfenzählung (8.122). 

b) Methode (S. 123). 
c) Festlegung der Resultate (S. 125). 

II. Versuchsergebnisse (S. 127). 

III. Besprechung der Ergebnisse (S. 131). 


Die vorliegende Studie behandelt die Frage des Einflusses von 
Säure und Lauge auf die Weite der Blutgefäße. Dieses Problem ist 


zwar schon des öfteren bearbeitet worden, aber einerseits stehen die 


von den verschiedenen Autoren gewonnenen Resultate zueinander 
zum Teil in scharfem Gegensatz, andererseits ist, soweit wir aus der 
Literatur ersehen können, die Wasserstoffionenkonzentration noch 
nicht systematisch berücksichtigt worden. Wir werden aber sehen, 
daß die Abhängigkeit der Gefäßweite von der Wasserstoffionenkonzen- 
tration uns einen guten Einblick in den Mechanismus der Vasomotion 
unter dem Einfluß saurer Stoffwechselprodukte gewährt. 

Die hierhergehörigen Durchblutungsversuche der Autoren lassen 
sich in zwei Kategorien einteilen: erstens in solche, bei denen eine 
der gebräuchlichen isotonischen Salzlösungen Verwendung findet, 
und zweitens in solche, bei denen Blut durch die zu untersuchenden 
Organe hindurchgeleitet wurde. 

Im Interesse einer klaren Darstellung berücksichtigen wir zunächst 
nur die erste Gruppe von Arbeiten, bei denen eine Salzlösung zur Ver- 
wendung kam. Da ist zunächst die klassische Arbeit von Gaskell?) 
zu nennen, die allen folgenden Forschern auf diesem Gebiete als Aus- 


1) Gaskell, Journ. of physiol. 3, 62. 1830—18853. 


E. Atzler u. G. Lehmann: Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration usw. 119 


gangspunkt diente. Gaskell arbeitete an 
Fröschen mit zerstörtem Zentralnerven- { 
system. Durch eine in die rechte Aorten- | 
wurzel eingebundene Kanüle floß bei ab- | 
l 


1 


Nalı 
65 68 


ll 


gebundenem linken Bogen unter einem Druck 

von 25 cm Wasser eine 0,75 proz. Kochsalz- 
lösung in das Gefäßsystem hinein und ge- _“— 
langte entweder aus dem eröffneten Sinus N, 
venosus oder aus der incidierten Abdominal- \ 

vene wieder nach außen. Dabei wurde ein \ 
geeignetes Gefäß im Musc. mylohyoideus DER 
mikroskopisch beobachtet unddie Wirkungen 
untereinander verglichen, die der Zusatz von 

Säure oder Lauge zur Kochsalzlösung her- 
vorbrachte (1 Teil NaOH zu 10000 Teilen io] 


I 


= 
90 58 DOEELZEE6H, 


L 


Milchs. 
L 


WO S50 32754 


Salzlösung bzw. 1 Teil Milchsäure zu 13000 8 
Teilen Salzlösung). +3 
Bei der grundlegenden Bedeutung dieser er S INS 
Versuche erscheint es angebracht, die Gas- AR 
kellschen Resultate an Hand einer Kurve 4 S x 
zu erörtern, die wir unter Berücksichtigung \ 5 ae 
der Protokolle dieses Autors gezeichnet DER 12 s 
haben (Abb. 1). Auf der Abszisse ist die \ g IR 
‚Zeit in Minuten angegeben, während die NL S 8 
Höhe der Ordinaten der jeweiligen Gefäß- — EN 
weite, wie sie am Okularmikrometer be- a 
obachtet wurde, entspricht (1 Teilstrich as 


26 


— 1/,, mm). Die Breite der Arterie beträgt 
zu Beginn des Versuches fünf Teilstriche. i 
Auf die erste Erweiterung des Gefäßrohres 
nach dem Eintritt der Milchsäure möchten 


Alkalı 
il 
E20 RZEEZH 


u N 
wir auf Grund unserer Erfahrungen nicht re ] - 
allzuviel geben. Denn zu Beginn einer Durch- ı 8 
spülung muß sich der Tonus der Gefäße den f S a 
neuen Druckverhältnissen usw. erst anpas- / > 8 
sen!). Aus dem weiteren Verlauf der Kurve ie . 
ersieht man, daß Alkali die Arterie voll- } & y 
ständig verschließt; durch die nachfolgende N S ® 
reine Kochsalzlösung kann dieser Verschluß = 5 
zunächst noch nicht vollständig gelöst k > Ä S 

1) Dazu kommt noch, daß die weiter unten 0% S | h 
! r — S) 


zu besprechende physiologische Laugencortractur 
beseitigt wird. 


| 
SER 


4 


120 | FE. Atzler und G. Lehmann: 


werden, wohl aber durch die nun folgende Milchsäure, welche die 
Alkaliwirkung neutralisiert. Das Gefäßrohr dilatiert sich eine Spur 
über den Anfangswert; auf dieser Weite erhält es sich auch während 
der nun folgenden Kochsalzdurchspülung. Die sich anschließende Alkali- 
wirkung besteht wiederum in einem maximalen Kontraktionszustand, 
dessen Lösung durch reine Kochsalzlösung nur mangelhaft, durch 
Milchsäure aber prompt gelingt. 

Der Ansicht von Gaskell, daß die Milchsäure eine direkte Vaso- 
dilatation bedingt, können wir uns auf Grund seiner Versuche nicht 
ohne weiteres anschließen. Die kontrahierende Wirkung der Lauge hin- 
gegen wird wohl allgemein anerkannt werden. Benutzt manzur Herstellung 
der Gaskellschen Laugenkochsalzlösung eine 33 proz. Natronlauge, die 
man nach der oben erwähnten Vorschrift der Kochsalzlösung zusetzt, so 
erhält man eine [H'] von 1,88. 10 °1!. Die Wasserstoffionenkonzentration 
der verwendeten Milchsäuremischung beträgt 1,83- 10°. Gaskell 
verglich also eine Lösung mit hoher [OH’] mit einer solchen von immer- 
hin nur geringer [H']. Aus unseren eigenen Versuchen geht nun hervor, 
daß die Milchsäurelösung bei Gaskell keine Wirkung ausüben konnte, 
während die Laugenlösung auch bei uns eine starke Vasokonstriktion 
herbeiführte. Die erweiternde Wirkung der Milchsäure in den Gaskell- 
schen Versuchen scheint also durch den Wechsel der Perfusionsflüssig- 
keiten vorgetäuscht zu sein. 

Diese Deutung der Gaskellschen Versuche findet eine wesentliche 
Stütze in den Beobachtungen anderer Autoren. So sagt Roy Gentry 
Pearce!): „Weder Kohlensäure noch Fleischmilchsäure wirken am 
Laewen-Trendelenburgschen Präparat gefäßerweiternd; ihre einzige 
Wirkung ist Gefäßverengerung.‘“ Und ein Jahr später sagt Ishikawa?), 
daß beim Frosch sowohl Säuren (Kohlensäure, Paramilchsäure, Salz- 
säure) wie auch Alkalien (Na,CO,, Natronlauge und zuweilen Ringer- 
sche Lösung) das Gefäßlumen verengern; er meint: „daß die Gefäß- 
erweiterung tätiger Organe auf einer Verminderung der Blut- 
alkalescenz infolge der Bildung von sauren Stoffwechselprodukten 
beruhe‘“. 

Im Gegensatz hierzu stehen aber die Befunde von Bayliss®), der 
in einer kurzen Notiz erwähnt, daß bei der Durchspülung der ent- 
häuteten hinteren Froschextremitäten mit kohlensäuregesättigter Rin- 
gerlösung eine Vasodilatation erfolgt. Bei der Durchspülung des ganzen 
Frosches, dessen Zentralnervensystem zerstört worden war, konnte er 
hingegen keine konstanten Resultate erzielen. Auch Fleisch*) be- 


1) Pearce, Zeitschr. f. Biol. 62, 264. 1913. 

2) Ishikawa, Zeitschr. f. allg. Physiol. 16, 235. 1914. 

3) Bayliss, Journ. of physiol. 26, XXXII. 1900—1901. 

4) Fleisch, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%1, 86. 1918. 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. OT 


obachtete am Frosch, dessen Gefäßsystem er mit einer eigenen Methode 
durehspülte, bei schwacher Säurekonzentration eine Gefäßerweiterung, 
wohingegen bei stärkerer Säurekonzentration auch bei seinem Präparat 
eine Vasokonstriktion eintrat. Dieser Befund von Fleisch wird wohl 
aber darauf zurückzuführen sein, daß bei seinem Präparat Gehirn und 
Rückenmark ‚in guter Reaktionsfähigkeit‘‘“ blieben. In seiner Aus- 
einandersetzung mit den oben erwähnten Versuchen Ishikawas meint 
er auch, daß ‚‚der constrictorische Effekt die Folge einer direkten 
Gefäßmuskelreizung ist, während die Dilatation durch die Vermitt- 
lung nervöser Elemente zustande kommt“. Letztere sind nun bei ihm 
gut erhalten, und darauf ist es wohl zurückzuführen, daß sein Präparat 
auf Sauerstoffmangel der Perfusionsflüssigkeit so überaus fein mit 
einer Gefäßverengerung reagiert, während die meisten anderen Au- 
toren an sonst üblichen, weniger empfindlichen Präparaten keinen 
Unterschied zwischen luft- und sauerstoffgesättigter Durchströmungs- 
lösung bemerken konnten. Es scheint aber doch, daß die Froschart 
und vielleicht andere, zur Zeit noch nicht zu übersehende Faktoren 
eine große Rolle spielen. Denn Rothlin!), der am gleichen Institut 
mit der Fleischschen Apparatur arbeitete, beobachtete bei Verwendung 
einer ausgekochten wie einer bei 40° ausgepumpten Ringerlösung 
„sowohl eine Erweiterung oder eine ebenso schwache Verengerung 
bzw. eine vollständige Indifferenz‘. 

Wir haben damit einen Überblick über die oben genannte erste 
Kategorie von Arbeiten gegeben, bei denen eine Salzlösung als Per- 
fusionsflüssigkeit Verwendung fand. Es geht daraus hervor, daß die 
Meinungen darüber geteilt sind, ob geringe Säurekonzentration eine 
Gefäßerweiterung herbeiführt. Gaskell glaubt an eine direkt er- 
schlaffende Wirkung der Stoffwechselprodukte, während Fleisch die 
durch schwache Säuren erzeugte Vasodilatation durch die Vermitt- 
lung nervöser Elemente zustande kommen läßt. Auch wir sind 
geneigt, eine nervöse Komponente anzuerkennen, möchten aber be- 
merken, daß wir in der vorliegenden Arbeit den nervösen Teil der 
Gefäßregulation außer acht lassen wollen. Im Widerspruch mit diesen 
Autoren befinden sich Ishikawa und Pearce, die eine vasodilatato- 
rische Wirkung der Säuren, auch in geringster Konzentration, ablehnen. 

Es bliebe nun noch übrig, die Literaturübersicht über die zweite 
Gruppe von Gefäßstudien, bei denen Blut die Organe durchströmte, 
zu geben. Wir ziehen es aber vor, vorerst unsere eigenen Versuche 
zu besprechen, die auch zur ersten Kategorie gehören. Es wird sich 
als vorteilhaft erweisen, erst bei der Diskussion der von uns gewon- 
nenen Resultate die zweite Gruppe zu berücksichtigen. 


1) Rothlin, Biochem. Zeitschr. 111, 236. 1920. 
> 


123 E. Atzler und G. Lehmann: 


I. Experimenteller Teil. 


a) Vergleichende Betrachtung der Empfindlichkeit der 
mikroskopischen Capillarbeobachtungsmethode und der 
Methode der Tropfenzählung. 


Wie sich aus der soeben gegebenen Literaturübersicht ergibt, haben wir die 
Möglichkeit, die Schwankungen der Gefäßweite durch mikroskopische Beobachtung 
eines Gefäßes oder durch die Tropfenzählmethode zu untersuchen. Folgende 
Überlegung soll uns zeigen, welche von den beiden Methoden empfehlenswerter 
erscheint. 

Eine Substanz wirke kontrahierend auf n-Capillaren von je 2@u Durchmesser; 
jeder Radius werde um p%, verkürzt. Dann ist die Querschnittsfläche fl, einer 
Capillare vor der Verengerung a’u”, und nach der .Verengerung ist die Quer- 

schnittsfläche a2 (100 RM p) j 
N a ge (1) 


Es genügt für unsere Betrachtung ein sehr kurzes Röhrenstück; wir können uns 
also der Einfachheit halber vorstellen, daß der Ausfluß aus einer seitlichen Öff- 
nung eines Reservoirs erfolgte, dann gilt aber die Beziehung vor der Verenge- 
rung Ausflußmenge 


m, = fl, kY2gs., (2) 
nach der Verengerung Ausflußmenge 
m, = fl,kY2gs. (3) 


Daraus folgt 
m Fl Fer WERTE 10000 
m; fl, a?x(100 — pP? 10000 — 200p + p? 


Ist beispielsweise m lW0so, ist, "u 1,02 
Ms 
5 3, DON 
p = 2, so Ist — 1,04 
p=3, so ist 1,06. 
Ms 
Nun ist die Ausflußmenge der Tropfenzahl proportional; wir können daher sagen, 
daß, wenn vorher b Tropfen in der Zeiteinheit ausgeflossen sind, nach der Verengerung 
or 
um P% 1,02 | 
verändert. Für p = 2 finden wir P = 4 und für p = 3, P = 6 usw. Die Tropfen- 
methode erweist sich also der mikroskopischen gegenüber als überlegen. Dazu 
kommt noch, daß durch eine cfache Beobachtungszeit die gesuchten Differenzen 
zwischen m, und m, ebenfalls um das cfache größer werden. 

Allerdings müssen wir die Voraussetzung treffen, daß die einzelnen Gefäße 
gleichsinnig auf den Reiz reagieren. Bestehen Gründe dafür, daß diese Bedingung 
nicht erfüllt ist, dann wird man eventuell die mikroskopische Beobachtungs- 
methode mit heranziehen; oder es müssen die Durchströmungsversuche so geleitet 
werden, daß nur gleichsinnig reagierende Gefäßbezirke durchströmt werden. 


Tropfen ausfließen. Die Tropfenzahl hat sich also um P= 2% 


b) Methode. 


Auf Grund dieser Überlegungen entschlossen wir uns zur Tropfen- 
zählmethode. Wir bedienten uns hierzu einer bereits beschriebenen!) 


1) Atzler und Frank, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 181, 141. 1920. 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. 123 


Versuchsanordnung mit automatischer Registrierung der in der Zeit- 
einheit in das Gefäßsystem einfließenden Flüssigkeitsmenge. Wegen 
der technischen Einzelheiten dieser Methode müssen wir auf diese 
Arbeit verweisen. 

Als Versuchstiere dienten uns männliche sowie weibliche Frösche 
der Arten R. füsca und R. esculenta. Wir durchströmten den Gesamt- 
frosch, meist ohne Zerstörung des Zentralnervensystems. Die Kanüle 
wurde in der gleichen Weise wie bei den oben beschriebenen Versuchen 
in die Aorta eingebunden; der Abfluß erfolgte aus dem eröffneten 
Venensinus und der Abdominalvene. Auf die beim Einbinden der 
Kanüle zu beachtenden Vorsichtsmaßregeln hat Rothlin!) in einer 
kürzlich erschienenen Arbeit aufmerksam gemacht; wir begnügen uns 
daher mit diesem Hinweis. 

Zur Narkose der Frösche mit intaktem Zentralnervensystem ver- 
wandten wir 3 ccm einer lOproz. Urethanlösung pro 100 g Körper- 
gewicht. Diese Dosierung entspricht auch ungefähr derjenigen, die 
Krogh?) bei seinen capillariomotorischen Studien am Frosch ge- 
brauchte. Von Curare sahen wir neben anderen Gründen vor allem 
deshalb ab, weil diese Droge die Entstehung von Ödemen begünstigt; 
dies steht im Einklang mit Heidenhain, der Curare in die euie Klasse 
seiner Lymphagoga einreiht. 

Bei der Herstellung der Durchströmungsflüssigkeiten von verschie- 
dener Wasserstoffionenkonzentration gingen wir von Ringerlösung 
aus (NaCl 0,65%, NaHCO, 0,01%, KC10,014%, CaCl, 0,012% und 
Traubenzucker 0,2% — letzterer wurde immer frisch vor Anstellung 
eines Versuches zugesetzt —). Dieser Lösung setzten wir 3,5% Gummi 
arabicum zu. 

Nach Bayliss?®) soll der Gummizusatz in den meisten Fällen das 
Auftreten von Ödemen verhindern. Dies hängt mit dem osmotischen 
Druck der Kolloide zusammen. Durch Starling?*) wissen wir, daß 
die Blutgefäße in der Regel für die Kolloide des Blutplasmas undurch- 
gängig sind. Eine wichtige Ausnahme bilden die Lebergefäße?). Der 
Druck dieser Kolloide beträgt nach Starling®) ca. 30 mm Hg (Warm- 
blüter). Nun ist in den Arteriolen und in den arteriellen Teilen der Capil- 
laren unter normalen Bedingungen der Blutdruck höher als der kolloid- 
osmotische Druck. Wenn auch nach den neuesten Versuchen von Hill 
und James’) der Arteriolendruck bisher zu hoch bewertet wurde 

1) Rothlin, Biochem. Zeitschr. 111, 224. 1920. 

®) Krogh, Journ. of physiol. 53, 399. 1920. 

®) Bayliss, Journ. of pharmacol. a. exp. therap. 15, Nr. 1, S. 29—74. 1920. 

*) Starling, Journ. of physiol. 31. 224. 

5) Mall, Proc. Assoc. Amer. Anatom. 1900, S. 185. 


6) Starling, Journ. of physiol. 24, 317, 31. 
?) Hill und James, Brit. journ. of exp. pathol. 2, Nr. I, S. 1-7. 1921. 


124 E. Atzler und G. Lehmann: 


und damit nach der Ansicht dieser Autoren das Baylisssche Schema 
der Lymphbildung revisionsbedürftig erscheint, so darf man doch nicht 
außer acht lassen, daß sich zu dem Blutdruck noch der kolloidosmo- 
tische Druck der außerhalb der Blutgefäße befindlichen Lymphe hinzu- 
addiert. Dem geringen Eiweißgehalt der Lymphe entsprechend wird 
dieser Druck allerdings kleiner sein als der kolloidosmotische Druck 
des Blutes. Wenn diese Summe nun höher ist als der kolloidosmotische 
Druck des Blutes, dann kann eine Lymphbildung durch Filtration er- 
folgen. Die Baylisschen Versuche sprechen sehr dafür, daß diese Annahme 
berechtigt ist. Gehen wir weiter nach unten in die tieferen Gefäß- 
 abschnitte, so kommen wir in eine Zone, wo der Kolloiddruck genau 
so groß ist wie der Blutdruck plus Kolloiddruck der Lymphe. Hier 
fehlen dann also die Druckkräfte für die Filtration. Da aber infolge der 
Filtration in dem oberen Capillarabschnitt eine Eindickung des Blutes 
erfolgt ist, so resultiert eine Zunahme des kolloidosmotischen Druckes, 
die einen Rückfluß der Lymphe in den untersten Capillarabschnitt, wo 
obendrein der Blutdruck geringer ist als der Kolloiddruck, begünstigt. 

An Hand dieses Schemas der Lymphbildung wird es nun klar, aus 
welchen Gründen sich ein Kolloidzusatz zu der Durchströmungsflüssig- 
keit empfiehlt. Verwenden wir nämlich eine kolloidfreie Perfusionsflüssig- 
keit, so wirkt der gesamte Flüssigkeitsdruck filtrierend, da ihm keine 
Kräfte entgegenarbeiten. Und ein Rückfluß kann nach dem Schema 
überhaupt nicht erfolgen. Es wird also zur Ödembildung kommen. 
Fügen wir aber der Durchströmungsflüssigkeit ein Kolloid zu, so ver- 
kleinern wir die Zone für den Wasseraustritt und schaffen die Be- 
dingungen dafür, daß ein Teil der gebildeten Lymphe wieder in das 
Blutgefäßsystem zurückgelangt. 

Bayliss empfiehlt für den Warmblüter einen Zusatz von 6—-7% 
Gummi arabicum. Für den Frosch schien uns ein Gehalt von 3,5% 
zu genügen. Wir gelangten zu dieser Zahl durch systematische Wägungen 
einer Serie durchströmter Frösche; der 0,6proz. Kochsalzlösung wurde 
allmählich so viel Gummi arabicum zugesetzt, daß gerade keine Ge- 
wichtszunahme mehr infolge Ödembildung erfolgte. Es fiel uns hierbei 
übrigens auf, daß man den ersten Beginn der Ödembildung sehr schön 
an der Zunge beobachten kann. Es würde den Rahmen dieser Arbeit 
überschreiten, unsere auf diesem Gebiet gewonnenen Erfahrungen zu 
erörtern; wir wollen hier nur sagen, daß durch den Gummizusatz der 
Eintritt von Ödemen erschwert, aber auf die Dauer nicht verhindert 
wird. Wir behalten es uns vor, auf dieses wichtige Kapitel in einer 
späteren Arbeit noch zurückzukommen. 

Jede der zur Durchströmung kommenden Lösungen wurde mit Hilfe 
von Gasketten auf ihre Wasserstoffionenkonzentration untersucht. 
Wenn es sich um sauerstoffgesättigte Lösungen handelte, benutzten 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. 125 


wir teils die Michaelissche Elektrode, teils bedienten wir uns der ge- 
wöhnlichen Nernstschen Methode mit strömendem Wasserstoff. Als 
Ableitungselektrode diente uns die gesättigte Kalomelelektrode. Die 
elektromotorische Kraft wurde mit dem Spannungsverteiler nach 
Wilsmore (Modell Edelmann) bis auf halbe Millivolt gemessen!). 

Es zeigte sich nun, daß der Gummizusatz die Ringerlösung zu 
sauer macht. Die [H-] einer solchen Gummisalzlösung schwankte 
zwischen [H'] =3 - 10°% und [HJ] =8- 10. Diese Differenzen beruhen 
darauf, daß wir im Verlaufe unserer Versuche verschiedene Gummi- 
arabicum-Sorten verarbeiten mußten. 

Eine genau neutrale Lösung erreichten wir gewöhnlirh durch einen 
Zusatz von 10% "/, Natriumacetat und 2% "/oo-Natronlauge. Die 
Pufferung wird also durch die Wechselwirkung der Arabinsäure und 
des Salzes der Essigsäure erreicht. Da hierdurch der osmotische Druck 
herabgesetzt wurde, so mußten auf Grund von Gefrierpunktsernied- 
rigungsbestimmungen 0,064% Kochsalz, bezogen auf die Gesamt- 
lösung, hinzugefügt werden. Um in den verschiedenen Py-Bereichen 
arbeiten zu können, wurden wechselnde Mengen von Säure resp. Alkali 
zugesetzt; dabei haben wir zunächst der Ringerlösung absichtlich noch 
keine Puffer zugesetzt; die Lösung strömt relativ rasch durch das Gefäß- 
system hindurch, und die elektrometrische Bestimmung der Reaktion 
wurde unmittelbar vor Anstellung des Versuchs vorgenommen. Über 
die mit gepufferter Ringerlösung erhaltenen Resultate werden wir 
in einer späteren kurzen Notiz berichten. 


c) Festlegung der Resultate. 


Mit Hilfe des oben genannten Durchströmungsapparates wird die 
Zeit registriert, die nötig ist, damit ein bestimmtes Volumen Flüssig- 
keit in das Gefäßsystem des Frosches eintritt. Bei jedem Ausschlag des 
_Apparates ist die gleiche Flüssigkeitsmenge in das Gefäßsystem getreten. 
Wir tragen nun senkrecht auf der Abszisse eines rechtwinkligen Koordi- 
natensystems in gleichen Abständen (von Millimeter zu Millimeter) 
die gemessenen Sekundenzahlen als Ordinaten auf. Die erste Ordinate 
bedeutet die Sekundenzahl, in welcher eine gewisse Flüssigkeitsmenge 
durchgeflossen ist, die zweite die Sekundenzahl, in welcher dieselbe 
Flüssigkeitsmenge durchgeflossen ist usf. Man erhält dann eine Kurve, 


1) Nebenher bestimmten wir auch die Wasserstoffzahl nach der kürzlich von 
L. Michaelis und A. Gyemant veröffentlichten Indicatorenmethode. Herr 
Prof. Michaelis hatte uns auf unsere Bitte in liebenswürdiger Weise die 
Indicatoren samt einer Beschreibung schon vor der Publikation (Biochem. Zeitschr. 
109, 165; 1920) übersandt. Die Methode hat sich uns gut bewährt, und wir möchten 
sie besonders für diejenigen Laboratorien empfehlen, denen keine Einrichtung 
zur elektrometrischen Bestimmung der Wasserstoffionenkonzentration zur Ver- 


fügung steht. $: 


126 E. Atzler und G. Lehmann: 


welche die Gefäßveränderungen zwar deutlich veranschaulicht, welche 
aber die Eigentümlichkeit hat, daß auf der Abszisse nicht wie gewöhn- 
lich die Zeit, sondern die Volumina verzeichnet werden. Die beigefügte 
Abb. 2 wird dieses Verfahren illustrieren. Bei ?,,’ erfolgt eine Um- 
schaltung der Bürette; floß vorher die neutrale Vergleichslösung ein, 
so gelangt jetzt eine Lösung in das Gefäßsystem, die eine Vasokonstrik- 
tion bedingt, wie aus dem Ansteigen der Kurve zu ersehen ist. Bei 
P,;, wird wieder neutrale Gummiringerlösung perfundiert, die an- 
nähernd eine Rückkehr zur normalen Gefäßweite bedingt. Die Unter- 
brechung der Kurven bei P,, und P,, (P = Pause) gibt die durch 
- die Umschaltung hervorgerufene Unterbrechung der Registrierung in 
Sekunden an. 

Um die gewonnenen Kurven zahlenmäßig untereinander vergleichen 
zu können, ließen wir die mit der neutralen zu vergleichende Lösung 
jedesmal genau 30 Minuten einwirken. Die Ordinatenhöhe D,, nach 
einer Einwirkung von 30 Minuten verhält sich zu der Ordinatenhöhe 


sauer 
neutral 
neutral 5 


001% HCl-Zusatz 


Abb. 2. 


D, am Beginn der Einwirkung umgekehrt wie die entsprechenden 
Sekundenvolumina. Da aber das Sekundenvolumen eine Funktion 


De 
des Querschnittes ist, so haben wir in dem Ausdruck mn ein Maß 
0 


für die Querschnittsänderung. Wir können also sagen, 
ka D., 
ee ID 
wo r, den Radius des Gefäßrohres zu Beginn der Einwirkung, r, nach 
30 Min., und k den Proportionalitätsfaktor bedeutet. 

Man könnte einwenden, daß bei diesem Verfahren interessante 
Einzelheiten der Kurven verlorengehen; es wurde aber immer ein 
kontinuierlicher Anstieg ohne weitere Besonderheiten gefunden. Die 
rechte Seite obiger Gleichung bezeichnen wir als den Kontraktions- 


grad K. Der Sinn dieser Größe wäre dahin zu deuten, daß sich die 
2 
Summe der Gefäßflächen von r/z auf 3 verkleinert. 


= X, 


Voraussetzung für die Anwendungsmöglichkeit dieser Überlegung 
ist, daß eine Zeit von 30 Minuten genügt, um die zu untersuchende 


Über den Binfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. 127 


Wasserstoffionenkonzentration in allen Gefäßgebieten zur. Wirkung 
kommen zu lassen. Diese Voraussetzung trifft zu. Weiter ist nötig, 
daß die Kurve für die neutrale Vergleichslösung der Abszisse parallel 
verläuft. Mitunter war diese Voraussetzung nicht erfüllt; dann wurde 
das bei der Berechnung durch Extrapolation des abnormen Kurven- 
verlaufes berücksichtigt. Ergaben sich aber bei der Durchspülung 
mit der neutralen Ringerlösung starke Unregelmäßigkeiten, so wurden 
die Versuche ohne weiteres verworfen. Bei starken Säuren oder Laugen 
war es oft nicht möglich, eine Durchspülungszeit von 30 Minuten ein- 
zuhalten; denn es war dann die Gefahr vorhanden, daß bei der nach- 
folgenden Durchspülung mit neutraler Ringerlösung keine Restitution 
mehr eintrat. In diesen Fällen wurde durch Extrapolation der Wert 
für D,, errechnet. 

Um eine Verwechslung mit Embolieen der Gefäße zu ver- 
meiden, wurden nur solche Versuche der Berechnung zugrunde gelegt, 
bei denen auf die eben erwähnte nachträgliche Durchströmung mit 
neutraler Ringerlösung die Säure- resp. Laugencontractur bis auf 
einen in der Nähe des Ausgangswertes befindlichen Grad beseitigt 
wurde (Abb. 2). 


II. Versuchsergebnisse. 


Wir kommen nun zur Besprechung unserer Versuchsergebnisse 
und wollen zunächst die Resultate derjenigen Experimente zusammen- 
stellen, aus denen hervorgeht, welche Wasserstoffionenkonzentration 
auf die Gefäße keine Wirkung ausübt. 

In dieser und den folgenden Tabellen bedeuten Py, und Py, die 
Wasserstoffzahlen der untereinander verglichenen Lösungen. K ist das 
oben definierte Maß der Kontraktion der Gefäße. K = 1 bedeutet 
also, daß weder eine Erweiterung noch eine Verengerung eingetreten 
ist. Es ist in den Zusammenstellungen weiter angegeben, durch welchen 
Zusatz die gewünschte |H’] erreicht worden ist. 


Tabelle I. 

Nr. Pr Zusatz Be K 
1 5.15 n/o Na-Acetat R/,., NaOH an 
2 5,15 2/o Na-Acetat 2/00? NaOH 6,74 | 1 
3 5,15 2/0 Na-Acetat "/;oo NaOH 6,74 | 1 
4 5,15 2/o Na-Acetat 2/,oo? NaOH 1004 | 1 
5 6,27 0,12n NaOH 11.6502 | 1 
6 6,27 0,12n NaOH | 701 1 
7 6,27 0,12n NaOH | 7,01 1 


Aus dieser Tabelle geht hervor, daß Lösungen, deren Wasser- 
stoffzahl zwischen 5 und 7 liegt, das Gefäßsystem unseres 


128 E. Atzler und G. Lehmann: 


Präparates unverändert lassen. Der unwirksame Bereich der 
[HJ] ist demnach auffallend groß. 

Lassen wir nun die Säuerung der Perfuson zunehmen, 
so erhalten wir folgende K-Werte.: 


Tabelle II. 
Nr. Pr, Zusatz Pr, K 
1 5,15 H,SO, 4,97 1,20 
2 5,15 | H,SO, 4,86 1,56 
3 | 5,15 | H,SO, 4,66 1,70 
4 | 5,15 H,SO, + 4,70 1,66 
5 I Su H,SO, 4.23 | 2,00 
6 5,15 | H,SO, 3,22 | 2,38 
7 5,15 | H,SO, 2,62 | 6,44 
8 5,15 | H,SO, 1,96 | 7,30 


Pp, sinkt also hierbei unter den Wert 5, während Py, inner- 
halb der unwirksamen Py-Zone 5—7 liegt. Welchen Wert Py, 
zwischen 5 und 7 hat, ist dabei gleichgültig. Aus dem Ansteigen des 
K-Wertes über 1 ersehen wir, daß eine Vasokonstriktion 
eintritt. 

Es galt nun, der Frage nahe zu treten, ob diese Vasokonstriktion 
durch Säure lediglich von der Wasserstoffionenkonzentration abhängt, 
oder ob auch dem Anion eine mitbestimmende Rolle zukommt. Zu 
diesem Zwecke wurde die Säuerung mit verschiedenen anderen Säuren 
ausgeführt. 


Tabelle II. 


Nr. | Pr, Zusatz Pr, K 
1 5,15 HCl 4,90 1,00 
2 | 5,15 E 4,50 1,61 
3 | 5,15 \ 2,71 5,00 
4 5,15 5 1,36 24,14 
5 | 5,15 Essigsäure 4,37 1,08 
6 | 5,15 z 3,83 2,43 
7 | 5,15 Ai 3,21 3,30 
8 | 5,15 & 3,21 3,00 
9 | 5,15 Milchsäure 4,80 1,00 
10 | 5,15 2 4,18 1,66 
11 | 5,15 5 3,55 2,40 
12 | 5,15 % 2,71 9,50 
13 | 5,15 & 2,71 8,20 


Für gleiche Wasserstoffzahlen sind auch die X-Werte befriedigend 
‚gleich. In einer Kurve (Abb. 3) wird dies noch deutlicher veranschaulicht 
werden können. Wir ziehen daraus den Schluß, daß die Wasser- 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. 129 


stoffionenkonzentration der maßgebende Faktor für die 
Stärke der durch Säure bedingten Gefäßverengerung ist. 

Nun liegt der Gedanke nahe, auch die Bedeutung der [OH’] für 
die Gefäße zu betrachten. 


Tabelle IV. 
Nr. Pr, Zusatz Pr, K 
1 6,27 0,12n NaOH 7,01 1,00 
2 6,74 ® als 1,26 
3 6,74 ® 7,18 1,20 
4 6,74 3, ziel 2,38 
5 6,74 BE zii 1,74 
6 | 6,74 Rt 8,24 3,61 
7 6,74 * 8,24 2,60 
8 6,74 M 8,75 4,33 
9 6,74 5 8,75 3,66 
10 | 6,74 = 8,98 12,40 
11 N 6,74 | Rs 8,98 4,00 
12 | 6,74 | » 10,39 15,40 


Es wird auch durch Lauge eine Gefäßverengerung hervor- 
gerufen, wenn die Wasserstoffzahl den Wert von 7,1 übersteigt. 
Der Anstieg der K-Werte infolge Zunahme der Hydroxylionen- 
konzentration erfolgt in analoger Weise wie der Anstieg infolge 
Steigerung der Wasserstoffionenkonzentration. 


75 ZWERZI N N N el 7 Ba a a de 0 


Abb. 3. @ Schwefelsäure. x Milchsäure. * Essigsäure. © Salzsäure. & Natronlauge. 


Sehr viel übersichtlicher werden unsere Ergebnisse, wenn wir die 
Werte für K als Ordinaten in eine Kurve eintragen, auf deren Abszisse 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 19%. 4 9 


7 


130 E. Atzler und G. Lehmann: 


die zugehörigen Py-Werte verzeichnet werden. In Abb. 3 sind die 
durch die verschiedenen Säuren gewonnenen K-Werte durch beson- 
dere Bezeichnung hervorgehoben. Die Kurve zeigt noch sinnfälliger 
als die Tabelle III die relative Bedeutungslosigkeit der Anionen, so-. 
wie den durch Anwachsen der |H'] bzw. [OH’] bedingten Anstieg 
jenseits von Pg =4,95 und Py = 7,1. Weiter geht aus der Kurve 
hervor, daß bei keiner Wasserstoffionenkonzentration eine Gefäß- 
erweiterung zu beobachten war, sofern Py, zwischen 5 und 
7 lag. | 
Wir beschäftigten uns beiläufig mit dem Einfluß des Zentralnerven- 
systems auf die Gefäße, die von Lösungen verschiedener Wasserstoff- 
ionenkonzentrationen durchspült wurden. Zu dem Zweck zerstörten 
wir an den Fröschen teils nur das Gehirn, teils das ganze Zentral- 
nervensystem. Es zeigte sich regelmäßig, daß eine Änderung der 
Wasserstoffionenkonzentration in der Durchströmungsflüssigkeit von 
dem Gefäßsystem in prinzipiell gleicher Weise beantwortet wird wie 
bei Fröschen mit intaktem Zentralnervensystem. Insbesondere er- 
fahren die Schwellenwerte keine wesentliche Verschiebung. Tragen 
wir die aus dieser Versuchsreihe gewonnenen Ä-Werte in eine Kurve 
ein, so ergibt sich allerdings, daß sie von einer Idealkurve etwas stärker 
abweichen, als es bei den Fröschen mit unversehrtem Zentralnerven- 
system der Fall ist. Man kann diese Erscheinung vielleicht auf den 
Verlust des Vasomotorentonus beziehen. Immerhin möchten wir 
aber betonen, daß wir noch nicht berechtigt sind, aus diesen Versuchen 
bindende Schlüsse zu ziehen. Zu einer befriedigenden Klärung der in 
Frage stehenden Verhältnisse bedarf es besonderer Vorsichtsmaß- 
nahmen bei der Anfertigung des Froschpräparates, die uns die Garantie - 
bieten, daß sich das Zentralnervensystem für die Dauer des Versuches 
in einem guten Zustand befindet. 

Wir wollen trotzdem einige der gewonnenen Versuchsresultate in 
den beiden folgenden Tabellen wiedergeben; in einer späteren Arbeit 
hoffen wir Näheres über diesen Punkt mitteilen zu können. 


Tabelle V. Ohne Gehirn. 


Nr. Pr, | Zusatz P H, K 

1 5,15 | H,SO, 4,86 1,62 
2 5,15 HC DT 3,10 
3 5,15 32 | Da 2,50 
4 5,15 Milchsäure 2,71 20,40 
5 "5,15 8 Dr 5,22 
6 | 5,15 R\ 2,71 11,70 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. 131 


Tabelle VI. Ohne Zentralnervensystem. 


Nr. Pr, Zusatz Pr, K 
| 5,15 H,SO, 4,86 2,19 
2 5,15 HC 2,71 4,75 
3 5,15 = 2a Sul 
4 5,15 Milchsäure DA 2,83 
5 5,115) ” 2,71 4,74 
6 7,01 0,12n NaOH 9,77 11,16 
7 7,01 5 977 29,75 
8 5,98 5 9,72 3,68 


Zum Schlusse kommen wir noch auf eine Versuchsgruppe zu sprechen, 
der wir eine größere Bedeutung als der eben behandelten zusprechen 
möchten. Es handelte sich um die Frage, wie lange Zeit nach der 
Operation die Gefäße reaktionsfähig bleiben. Das Froschpräparat 
wurde in der üblichen Weise angefertigt, dann wurde solange Ringer- 
lösung durchströmt, bis sämtliche Blutreste aus dem Gefäßsystem 
ausgespült waren. Hierauf wurde der Frosch mehrere Tage feucht 
und kühl aufbewahrt, bis die eigentlichen Durchströmungsversuche 
angestellt wurden. : 

Tabelle VII. 


\ Nr. | Alter des Frosches | Pr, | Zusatz | Pr, | K 
| 2 Tage 592 | 0,2nNns0H | 9,53 1,57 
| au 5,92 | a 9,53 3,25 
3. 3 | 598 | . 8,83 | 2,16 


Es ergab sich, daß Frösche, bei denen schon ein starker 
Fäulnisgeruch wahrnehmbar war, auf eine Erhöhung der 
[OH’] mit einer Gefäßverengerung reagierten. 


III. Besprechung der Ergebnisse. 


Zwei Umstände sind es, die beim Überblicken der gewonnenen 
Resultate auffallen werden: erstens die relative Unabhängigkeit der 
Gefäßverengerung unter dem Einfluß von Säuren resp. Laugen vom 
Zentralnervensystem und zweitens die Unempfindlichkeit der Gefäße 
gegen die Wasserstoffionenkonzentration in einem auffallend großen 
Pyp-Bereich. Eine Säuerung des Blutes unter Pp =5 wird unter 
physiologischen Bedingungen nie eintreten. Berücksichtigen wir weiter, 
daß die Laugenverengerung auch an faulenden Präparaten prompt 
erfolgte, so gewinnt die Ansicht, daß wir keinen vitalen, sondern einen 
von nervösem Einfluß freien physikalisch-chemischen Vorgang vor 
uns haben, an Wahrscheinlichkeit. Wenn wir auch noch keine Angaben 
darüber machen können, an welchem Teil der Gefäße der Angriffs- 
punkt der Säuren und Laugen zu suchen ist, so wird es doch nützlich 


Pr g* 


132 E. Atzler und G. Lehmann: 


sein, die Theorien der Muskelkontraktion zur Deutung heranzuziehen. 
Die Oberflächenspannungs-, die Säurequellungs- und die osmotische 
Drucktheorie kommen in Frage. Nach v. Fürth!) scheint die Säure- 
quellungstheorie das Wesen des Kontraktionsvorganges am besten zu 
erklären. Wir wollen uns daher mit dieser Hypothese soweit befassen, 
als dies zur Klärung der gewonnenen Versuchsresultate nötig erscheint. 

Seit Engelmann hat die Säurequellungstheorie sehr an Bedeu- 
tung gewonnen; es sei nur an die Namen Biedermann, M.H. Fischer, 
Pauli und v. Fürth erinnert. 

Man kennt schon seit langem den Einfluß von Zusätzen auf die 
Quellungsvorgänge und unterscheidet quellungsfördernde und quel- 
lungshemmende Agenzien. Karl Spiro?) entdeckte die gewaltige 
Steigerung, die die Quellung von Leimgallerten durch die Gegenwart 
minimaler Säuremengen erfährt. Pauli?) erklärte die Beziehungen 
der Säurequellung von Gallerten und der Hydratation der Eiweißteil- 
chen auf: „Ionisches Eiweiß ist gegenüber dem neutralen durch einen 
gewaltigen Anstieg der Quellung oder Hydratation seiner Teilchen 
ausgezeichnet.“ Und auch bei der Säurequellung von Gallerten gilt 
der Satz, „daß die Umwandlung von neutralen in ionische Teilchen 
mit einer gewaltigen Hydratation oder Quellungsvermehrung der 
Gelatine einhergeht‘. 

Eine derartige Ionisation des Eiweißes der contractilen Elemente des 
Gefäßrohres muß aber eintreten, wenn wir das Gefäßsystem mit einer 
Flüssigkeit durchströmen, deren Wasserstoffionenkonzentration dem 
isoelektrischen Punkt der in Frage kommenden Kolloidteilchen nicht 
entspricht. Da das Minimum der Quellung mit dem isoelektrischen 


Punkt zusammenfällt, so würden wir bei der Perfusion mit einer Lösung. 


von einer dem isoelektrischen Punkt entsprechenden [H'] das physi- 
kalische Optimum der Strombahn zu erwarten haben. Ja, wir können 
sogar noch einen Schritt weitergehen. 

Tragen wir auf der Abszisse unserer Hauptkurve (Abb. 3)*) als Ordi- 
naten nicht die X-Werte, sondern deren reziproke Werte auf, so erhalten 
wir das Maximum der Kurve über dem Abszissenbereich Py = 5 bis 7; 
im sauren und im alkalischen Anteil fällt die Kurve beiderseits nach 
der Abszisse zu ab. Die so erhaltene Kurve entspricht aber der Disso- 
ziationsrestkurve eines Ampholyten. Diese Übereinstimmung dürfte 
keine zufällige sein. 

1) v. Fürth, Ergebn. d. Physiol. 17, 556. 1919. 

2) Spiro, Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol. 5, 276. 1904. 

3) Pauli, Abderhalden Fortschr. d. Naturforsch. 4, 1912. Siehe auch Kolloid- 
chemie der Muskelkontraktion, vorgetragen in der morphol.-physiol. Gesellsch. 
zu Wien 1912. Verlag von Theodor Steinkopf. 

4) Näheres über die Dissoziationsrestkurve der Ampholyten siehe bei Mi- 
chaelis, Wasserstoffionenkonzentration, S. 357, 779. 


Über den Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration auf die Gefäße. 133 


Die isoelektrische Zone ist dadurch charakterisiert, daß ‚in ihr 
die Summe der Anionen und der Kationen der Ampholyten zusammen- 
genommen bei gegebener Gesamtampholytmenge ein Minimum“ und 
„daß die Konzentration der Anionen des Ampholyten gleich der der ' 
Kationen desselben ist“. Die Gipfelzone der Dissoziationsrestkurve 
zeigt nun, daß das Verhältnis des undissoziierten Anteils des Ampho- 
Iyten zu seiner Gesamtmenge ein Maximum ist, daß wir also ein Mini- 
mum von ionischem Eiweiß bei dieser Wasserstoffzahl vor uns haben. 
Je mehr sich die Wasserstoffionenkonzentration aus der isoelektrischen 
Zone entfernt, um so stärkere lonisation des Eiweißes tritt ein und 
um so stärker wird die Quellung. 

Die Lage des unwirksamen Py-Bereiches ist in unserer Perfusions- 
kurve nicht symmetrisch zum neutralen Punkt, sondern etwa zu 
Pa = 6. In diesem Zusammenhange ist es vielleicht nicht uninteressant 
darauf hinzuweisen, daß im allgemeinen bei Aminosäuren die Säure- 
dissoziationskonstante größer ist als die Laugendissoziationskonstante. 
Der isoelektrische Punkt wird also ungefähr in der Mitte der isoelek- 
trischen Zone unserer Perfusionskurve zu liegen kommen. 

Fragen wir uns nun, ob wir diesen Erscheinungen eine physiologische 
Bedeutung zusprechen dürfen. 

Schon Mosso!) diskutiert im Anschluß an die Schilderung seiner 
Nierendurchblutung die Frage der Quellung der Gefäße. Er lehnt aber 
diese Möglichkeit ab. ‚‚Wie sollte bei der bekannten Langsamkeit der 
Imbibitionsvorgänge dieser kurze Zeitraum genügen, um den gequollenen 
Teilchen ihr Wasser zu entziehen ?'‘ Demgegenüber aber stehen die 
Messungen von Grober?), der sagt: ‚Die Quellung der Kolloide erfolgt 
schnell genug, um innerhalb 5 Minuten einen selbst für gröbere Me- 
thoden meßbaren Wert zu ergeben, auch bei Umkehr des Prozesses ... 
Es darf daraus geschlossen werden, daß die chemisch bedingte Quellung 
innerhalb so kleiner Zeiten sich abspielen kann, daß der Einwand keine Gel- 
tung hat, die Muskelkontraktion erfolge mit solcher Geschwindigkeit, daß 
aus diesem Grunde die Quellung der Kolloide nieht damit verglichen 
werden könne, daß deshalb beide Vorgänge nicht identisch sein können. ‘“ 

Nach der Entkräftung dieses Mossoschen Einwandes wollen wir 
die Frage der physiologischen Bedeutung der Quellung weiter er- 
örtern. Wir müssen da von der Wasserstoffionenkonzentration des 
Froschblutes ausgehen; nun fanden wir leider in der Literatur keine 
genaue Angabe über die Wasserstoffzahl des Froschblutes. Nur Pech- 
stein?) macht am Schlusse seiner Arbeit über die Reaktionen des 


!) Mosso, Berichte der math.-physik. Kl. der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. 1%, 
S. 305, 1874. 

2) Grober, zitiert nach v. Fürth, Ergebn. d. Physiol. 1%, 553. 1919. 

3) Pechstein, Biochem. Zeitschr. 68, 142 1915. 


134 E. Atzler und G. Lehmann: 


ruhenden und arbeitenden Froschmuskels einige Andeutungen (aber 
nicht zahlenmäßig), aus denen man evtl. auf eine Wasserstoffzahl 
schließen kann, die zwischen Pg = 17 und 7,25 liegt. 

Dann ergibt sich aber aus dem Verlauf unserer Kurve, daß sich 
schon unter normalen Bedingungen die Gefäße in einer physiologischen 
Laugencontractur befinden, die wir nach dem Dargelegten als eine 
Quellungserscheinung auffassen möchten. 

Eine geringe Abnahme der [H'] des Blutes verstärkt demnach die 
Contraetur. Größere physiologische Bedeutung dürfte aber einer 
Steigerung der [H'] durch saure Stoffwechselprodukte zukommen. 
Die Erweiterung der Gefäße in arbeitenden Organen könnte nach dieser 
Anschauung, abgesehen von rein mechanischen Umständen, eine Er- 
klärung finden, falls wir annehmen dürfen, daß durch die sauren Stoff- 
wechselprodukte zwar eine geringe Steigerung der [H'] des Blutes trotz 
der vorhandenen Puffer eintreten kann, daß diese aber andererseits 
nie eine derartige Höhe erreichen kann, daß eine Säurecontractur der 
Gefäße eintritt. 

Will man sich hierüber rechnerisch eine Vorstellung machen, so 
leet man am besten das vereinfachte Blutmodell nach Michaelis!) 
den Betrachtungen zugrunde. Danach bestimmte sich die [HJ] des 
Blutes durch seinen Gehalt an Carbonaten, Phosphaten und Eiweiß. 
Der Einfluß der Phosphate und des Eiweißes auf die [H'] ist aber sehr 
gering, so daß für die Überschlagsrechnung ein Gemisch von 0,01n CO, 
und 0,12nNaHCO, zugrunde gelegt werden kann. 

Setzen wir nach dem Massenwirkungsgesetz 2) 


SI] [SH] 
— = — | ol Del IC —— ; 
[SH] ı 
so erfolgt daraus für unser vereinfachtes Blutmodell 
0,01 
J=310-r7 Ze NM: =, 
[HI =3-107. 57, = 0,25. 10 


b) 


Steigt die Kohlensäure auf das Doppelte, so ergibt sich 
N 0,02 = N 
Ds) =8> 1072 0,12 — 0, 502-210 772 
Pr ist also von 7,60 auf 7,30 gesunken. Da jedoch ein derartig hoher 
Unterschied des CO,-Gehaltes im Blute kaum vorkommen dürfte, und 
da der Py-Wert des Froschblutes vermutlich kleiner als 7,3 ist, so ist 
dem CO, auf diese Form der Gefäßtonusregulierung kaum ein Einfluß 
zuzusprechen. Versuche, die wir mit kohlensäuregesättigter Ringer- 


!) Michaelis, Die Wasserstoffionenkonzentration. Verlag Julius Springer, 
S. 88. 

2) Da die [H']J des Froschblutes noch nicht genau bekannt ist, legen wir den 
Formeln die [H'] des Warmblüters zugrunde. 


Über den Einfluß der Wasserstoflionenkonzentration auf die Gefäße. 135 


lösung anstellten, haben denn auch im Einklang mit diesen theoretischen 
Erwägungen keinen Einfluß auf die Gefäße ergeben. 

Eine beträchtliche Steigerung der [HJ] kann durch Beimengung 
stärkerer Säuren wie Milchsäure erfolgen. Mit Hilfe des Michaelisschen 
Blutmodells läßt sich berechnen, wieviel Milchsäure dem Blut zu- 
geführt werden kann, ohne daß eine kontrahierende Säurewirkung in 
Erscheinung tritt. 

Da bei Zusatz einer stärkeren Säure sich eine Reaktion nach der Formel: 
0,12 Mol. NaHCO, + 0,01 Mol. Säure > 0,11 Mol. NaHCO, + 0,01 Mol. 
H,CO, abspielt!), so setzen wir die molare Konzentration der Milch- 
säure gleich 0,0la. Der Punkt der beginnenden Säurewirkung ist 
[HN] = 1,5.10>5. Es ist dann 

0,01 + 0,01a 
0» 00%: 
Daraus folst oe laleyze 


19210573210 7 


Die molare Konzentration der Milchsäure ist demnach 0,117. Wir 
können also dem Blute Milchsäure in einer Konzentration von etwa 
1% zusetzen, ohne daß sich eine kontrahierende Wirkung geltend macht. 

Es entsteht nun die Frage, welche Milchsäurekonzentration im 
Blute eines ermüdeten Tieres wirklich vorhanden ist. Wir stellten 
solche Versuche an. Um das Kaninchen möglichst stark arbeiten zu 
lassen, wurde es an zwei langen mit den Polen eines Induktionsappa- 
rates verbundenen Drähten festgebunden. Bei Stromschluß führte 
dann das Tier derart heftige Bewegungen aus, daß es nach etwa 5 Min. 
erschöpft zusammenbrach. Die Milchsäureanalysen wurden nach 
Embden?), v. Fürth und Charnass?) ausgeführt. 

Im Maximum fanden wir eine Milchsäurekonzentration von 0,13%. 
Selbst unter der Annahme, daß in den Muskelcapillaren noch eine 
höhere Konzentration vorkommt, ist doch kaum anzunehmen, daß 
sie über 1% steigt). Danach erscheint es ausgeschlossen, daß die 
Wasserstoffzahl des Blutes so weit sinkt, daß eine Säurequellung eintritt. 

Nachdem wir uns eine Vorstellung über die physiologische Be- 
deutung der Wasserstoffionenkonzentration für die Weite der Gefäße 
gemacht haben, holen wir jetzt zweckmäßig die Besprechung jener 
Gruppe von Arbeiten nach, bei denen Blut durch die zu untersuchenden 


1) Michaelis, 1. c. 

2) Abderhaldens Handbuch der biochem. Arbeitsmethoden 5, 2. 

3) v. Fürth, Biochem. Zeitschr. 26, 199, 1910. 

*) Wir weisen in diesem Zusammenhang daraufhin, daß alle von verschiedenen 
Autoren ausgeführten Milchsäurebestimmungen in frischer Muskulatur nie über 
1% liegen; ja, daß sogar die Säurebildungsmaxima bei Starreerscheinungen der 
Muskulatur unter 1% liegen; auch aus diesem Grunde erscheint es ausgeschlossen, 
daß im Blute eine höhere Konzentration vorkommt. Vgl. v. Fürth, Biochem. 
Zeitschr. 69, 209. 1915 und Ergebn. d. Phfsiol. 1%, 385. 1919. 


El 


136 E. Atzler und G. Lehmann: Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration usw. 


Organe geleitet wurde, dem vom Experimentator wechselnde Mengen 


von Säure und Lauge zugesetzt wurden. Es erübrigt sich aber, eine 
Literaturübersicht zu geben, zumal da in der hier besonders zu be- 
sprechenden Arbeit von Schwarz und Lemberger, wie auch in der 
erwähnten Studie von Fleisch, die wesentlichsten Arbeiten genannt 
sind. 

Es ist bekannt, daß die [H'] der gebräuchlichen Ringerlösung nicht 
sehr konstant ist; durch Luftdurchleitung wird die Wasserstoffionen- 
konzentration z. B. deutlich verändert. Michaelis!) schlägt eine ge- 
eignete Lösung vor; unseres Wissens ist sie aber bis jetzt noch nicht 
angewandt worden. Wenn wir nun einen so scharfen Unterschied 
machten zwischen Versuchen mit Salzlösung und solchen mit Blut- 
perfusion, so lag dem die Erwägung zugrunde, daß beim Blut eine 
Änderung der Wasserstoffionenkonzentration infolge der Pufferwirkung 
schwerer erfolgt als bei den üblichen Durchströmungsflüssigkeiten. 

Schwarz und Lemberger?) beobachteten nun die Wirkung von 
Säurezusatz zum Blut auf die Blutgefäße der vom Zentralnervensystem 
isolierten Submaxillardrüse der Katze und auf die vom Gefäßzentrum 
unabhängigen intracranialen Blutgefäße des Hundes. Die Methode 
war im Prinzip die gleiche, wie sie Sadler in seiner klassischen, unter 
Ludwig angefertigten, Arbeit benutzt hat. Die genannten Autoren 
fanden nun, daß kleinste Säuremengen eine kurzdauernde Gefäßerweite- 
rung bedingen. Die angewandte Technik (siehe die Einzelheiten im 
Original) erlaubt es leider nicht, abzuschätzen, wie groß die wirksame 
[HJ] gewesen ist. War sie genügend, um eine Lösung der oben postu- 
lierten Laugencontractur herbeizuführen, so würde man einen der 
genannten physikalisch-chemischen Prozesse zur Erklärung herbei- 
ziehen; war aber die [H ] hierzu nicht stark genug, dann wird man ge- 
neigt sein, einen durch die Säure bedingten nervösen Reiz anzunehmen. 
Wissen wir doch z. B. vom Atemzentrum, daß es eine sehr starke Emp- 
findlichkeit gegen kleine Schwankungen der [HJ] des umspülenden 
Blutes besitzt. Wenn die Autoren weiter fanden, daß so schwache 
Säuren, wie Aminoproprionsäure und Aminoessigsäure auf die Blut- 
gefäße nicht wirken, so erklären das ohne weiteres die physikalisch- 
chemischen Eigenschaften des Blutes, d.h. die physiologische Laugen- 
contractur bleibt erhalten. 

Wir neigen der Ansicht zu, daß den geschilderten Quellungs- 
erscheinungen eine biologische Bedeutung für den Vorgang der Blut- 
zirkulation zukommt, neben denen natürlich auch nervöse Einflüsse auf 
die Gefäße vorhanden sind, die wir in dieser Arbeit unberücksichtigt 
ließen. 


1) Michaelis, Wasserstoffionenkonzentration, 8. 91. 
?) Schwarz und Lemberger, Arch. f. Physiol. 141, 149. 1911. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Frankfurt a. M.) 
Untersuchungen 
an überlebenden roten und weißen Kanincehenmuskeln. 


Von 


Otto Riesser. 
Mit 12 Textabbildungen. 


(Eingegangen am 29. April 1921.) 


Physiologische und pharmakologische Untersuchungen an über- 
lebenden Muskeln von Warmblütern liegen bisher nur in recht geringer 
Zahl vor. Botazzi!) wies nach, daß der Musculus rectus des Hunde- 
auges in sauerstoffhaltiger Ringerlösung längere Zeit überlebend er- 
halten werden kann, und beschrieb das Verhalten der Zuckungskurve 
bei einfachen und tetanisierenden Reizen. Wenig später?) teilte derselbe 
Forscher mit, daß man aus dem Zwerchfell von Hunden ein Nerv- 
Muskelpräparat herstellen kann, bei dem auch die Erregbarkeit von 
Nerven (Phrenicus) aus lange genug erhalten bleibt. Botazzis Schüler 
Quagliariello®) hat an diesem Präparat die Wirkung des Veratrins 
studiert, ohne daß sich irgendwelche wesentlich neuen Beobachtungen 
ergeben hätten. Winterstein®*) hatte schon vorher gezeigt, daß 

- Muskeln von Kaninchen bei 40° und 2 bis 4 Atmosphären Sauerstoff- 


des nötigen Überdrucks kompliziert ist. 


2 EE 


druck bis zu 27 Stunden erregbar bleiben können, und eine Versuchs- 
anordnung beschrieben, die durch eine Vorrichtung zur Herstellung 


"Aus den bisherigen Versuchen an solchen Präparaten ergaben sich 
allerdings keine Anhaltspunkte dafür, daß zwischen dem Verhalten 


des Warmblütermuskels und dem des soviel leichter zu handhabenden 
Muskels der Kaltblüter irgendwelche grundlegenden Verschiedenheiten 
existierten, ein Ergebnis, das auch aus den erheblich zahlreicheren 
Versuchen an in situ befindlichen Warmblütermuskeln zu erwarten war. 

Es gibt indessen doch eine Reihe von Fragestellungen, deren Be- 
arbeitung die Verwendung überlebender Warmblütermuskeln nach 


t) Zeitschr. f. Biol. 48, 432. 1906. 

2) Zentralbl. £. Physiol. 21, 171. 1907. ” 

3) Quagliariello, Zeitschr. f. Biol. 59, 441. 
4) Arch. f. d. ges. Physiol. 120, 225. 1907. 


138 O. Riesser: 


wie vor sehr wünschenswert oder gar notwendig erscheinen läßt. Unter 
ihnen sei vor allem das vergleichende Studium verschiedener. Muskeln 
desselben Tieres hinsichtlich ihres Stoff- und Energiewechsels hervor- 
gehoben!). Solange wir keine geeignete Versuchsanordnung kennen, 
welche die Durchströmung einzelner Muskeln unter gleichzeitiger 
Registrierung ihrer Tätigkeit gestattet, wird man versuchen müssen, 
an einzelnen, in physiologischer Lösung suspendierten, isolierten Muskeln 
zu arbeiten. 

Vergleichende Untersuchungen an roten und weißen bzw. an lang- 
sam und flink zuckenden Muskeln gewinnen allgemeinere physiologische 
Bedeutung im Hinblick auf die alte und immer wieder neue Frage 
nach der Natur des Muskeltonus. Man pflegt die langsam zuckenden 
roten Muskeln geradezu als Tonusmuskeln zu betrachten, ausgehend von 
der Tatsache, daß bei ihnen der tonische Anteil der Einzelzuckung, 
wie erin der Dauer des Verkürzungszustandes, des Plateaus, und in der 
Verzögerung der Erschlaffung zum Ausdruck kommt, besonders aüs- 
geprägt ist. Wegen dieses Verlaufs der Zuckungskurve beim roten 
Muskel wird er vielfach als ein Mittelding zwischen schnell zuckendem 
Skelettmuskel einerseits, Herz- und glattem Muskel andrerseits angesehen. 

Im Hinblick auf diese allgemein übliche Betrachtungsweise mag 
hier darauf hingewiesen sein, daß die roten Muskeln rein funktionell 
zwar sicher Haltemuskeln sind, daß ihre Dauerverkürzungen indessen 
doch wohl zumeist nicht Dauercontracturen, sondern Tetani sind, wie 
bei allen quergestreiften Muskeln. Ihre tonische Eigenschaft kommt _ 
aber gerade dabei zur Geltung. Denn es ist einleuchtend, daß, je länger 
die Dauer des Verkürzungsstadiums im Ablauf der Einzelzuckung ist, 
um so leichter die Superposition aufeinanderfolgender Reize zur Dauer- 
verkürzung führen muß, wie es denn auch längst bekannt ist, daß der 
rote Muskel durch: viel geringere Reizfrequenz in viel stärkere Dauer- 
verkürzung gebracht werden kann als der weiße, flinke. Es sind also 
die roten Haltemuskeln nicht so sehr Tonus-, als vielmehr Tetanus- 
muskeln. Auf die engen Beziehungen zwischen Tonus und Tetanus 
einzugehen, wie sie insbesondere auch aus der Definition des Haltungs- 
tonus nach Sherrington hervorgehen, ist hier nicht der Ort. Ich 
gedenke an anderer Stelle hierauf ausführlich zurückkommen. 

Die Lehre vom Tonus des quergestreiften Skelettmuskels, wie sie 
neuerdings besonders De Boer?) vertreten hat und von der ich selbst 
in Studien über den Zusammenhang von Kreatinbildung und zentral- 
sympathischer Erregung ausging®), beruht auf der durch Boekes®) 


1) Vgl. Bürker, Arch. f. d. ges. Physiol. 194, 283. 1919. 
?) Zeitschr. f. Biol. 65, 239. 1915. 

2) Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 80, 1916. 

*) Anat. Anz. 44, 343. 1913. 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 139 


anatomische Ergebnisse gut begründeten Annahme einer vegetativen, 
und zwar wahrscheinlich sympathischen Innervation des Skelettmuskels. 
Gegenüber dieser Theorie, zu der sich auch Sherrington!) erneut 
bekannt hat, stellte Frank?), vor kurzem noch Anhänger der gleichen 
Anschauung, die Hypothese auf, daß vielmehr parasympathische Nerven, 
als antidrome Fasern in den hinteren Wurzeln verlaufend, die tonischen 
Impulse zum Muskel leiteten. Diese durch eine Reihe von Versuchen 
am Tier wie am Menschen, besonders aus der Wirkung des Physostigmins 
auf die Erscheinungen der Tigelschen Contractur abgeleitete Anschauung 
ist allerdings durch H. H. Meyer?) mit gewichtigen Gründen be- 
kämpft worden; daß sie bisher nicht als endgültig erwiesen betrachtet 
werden darf, ist sicher. Meyer hält es nicht für ausgeschlossen, daß 
es ein besonderes tonisches Nervensystem gebe, das, vom sympathischen 
und parasympathischen System verschieden, die tonische Erregung ver- 
mittle. 
Wie dem auch sei — und zweifellos kann von einer endgültigen 
Entscheidung des tonischen Innervationsproblems nicht die Rede 
sein —, man kann wohl die Frage aufwerfen und experimenteller 
Untersuchung unterziehen, ob nicht rote und weiße Muskeln, die sich 
angeblich durch den Grad ihrer tonischen Funktionsfähigkeit unter- 
scheiden, in ihrem Verhalten gegenüber Giften Unterschiede aufweisen, 
die auf einer verschieden reichen Versorgung mit vegetativen Nerven, 
als Leitern der tonischen Impulse, beruhen oder auf eine verschieden 
starke Anspruchsfähigkeit gegenüber sympathischen oder parasym- 
pathischen Erregungen hinweisen. In pharmakologischen Versuchen am 
Ösophagus und am Atrium von Emys und an den Muskeln von Bufo 
glaubte Botazzi*) Anhaltspunkte dafür gewonnen zu haben, daß in 
der Tat der langsam zuckende Krötenmuskel vielfach analog reagiere 
wie der Herzmuskel und die glatte Muskulatur, was er allerdings nicht 
auf Übereinstimmung der Innervation als vielmehr auf den hohen 
Sarkoplasmagehalt der langsamen Muskeln zurückführt. Ursprünglich 
ausgehend von der Frage nach einem auf Unterschieden der nervösen 
Endapparate beruhenden verschiedenen Verhalten langsamer und 
schneller Muskeln habe ich isolierte, überlebende rote und weiße Kanin- 
chenmuskeln, nach Ausarbeitung einer brauchbaren Methodik, auf ihr 
Verhalten gegenüber einer Reihe von pharmakologischen Einwirkungen 
untersucht. Obwohl aus diesen Versuchen eine Entscheidung der ge- 
stellten Frage nicht hervorging, so ergaben sie doch ganz konstante 


1) West London med. journ. 25, 97. 1920. Referat in den Berichten über die 
gesamte Physiol. 4, 359. 

?) Berl. klin. Wochenschr. 1920, S. 725. Siehe auch Schaeffer, Ebenda 
1920, S. 728 und Arch. f. d. ges. Physiol. 185. 1920. 

3) Med. Klinik 16, Nr. 50, S. 1278. 1920. 

4) Arch. f. Physiol. (Engelmann). S. 377. 1901. 


140 O. Riesser : 


und charakteristische Unterschiede im pharmakologischen Verhalten 
der beiden Muskelarten, deren Deutung zu weiteren Fragestellungen 
und Untersuchungen Anlaß gegeben hat. 


l. Versuchsanordnung. 


Die angewandte Apparatur war nach einer Reihe von Vorversuchen 
eine sehr einfache (s. Abb. 1). Herrn Prof. Bethe verdanke ich man- 


. GERBEEBREBERBRERERBERREREERENE 


- /BBBRRBENENEE 


A)g 


cherlei wertvolle Anregung, für die ich ihm auch an dieser Stelle herz- 
lichen Dank sagen möchte. 

Ein einfaches Glasrohr R von 12cm Länge und 20 mm lichter 
Weite ist durch eine Einschnürung in der Mitte auf ca. 10 mm verengt, 
so daß die untersuchten Muskeln gerade frei hindurchpassieren konnten, 
In das untere Ende paßt ein dreifach durchbohrter Korkstopfen St. 
Durch die eine Öffnung führt ein Glasrohr, in das ein der elektrischen 
Zuleitung sowie der Befestigung des Muskels dienender Draht D ein- 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 141 


geschmolzen ist. Durch die beiden anderen Öffnungen führt je ein 
doppelt gebogenes Röhrchen, von denen das eine für die Zuleitung 
von Sauerstoff bestimmt ist (0), das andere als Heber H dem Ablassen 
der Flüssigkeit dient. Das Nachfüllen geschieht durch Eingießen von 
oben. Das Ganze wurde am Stativ befestigt und tauchte in ein mit 
Wasser von 41—42° oefülltes Becherglas @ (Temperatur im Rohr R 40°), 

Der zu untersuchende Muskel wird in der aus der Abbildung er- 
sichtlichen Weise mit dem einen Ende an dem in das Glasrohr ein- 
geschmolzenen Draht D befestigt, das andere Ende ist in einen Draht 
eingehakt, der die Verbindung mit dem Muskelhebel herstellt (Ver- 
bindungsdraht, V). Von diesem Draht geht ein feiner Kupferfaden F 
zu einer festen Klemme, die mit dem einen Pol des Induktionsapparats 
in Verbindung steht, während der andere Pol mit der Klemme des 
eingeschmolzenen Drahtes D leitend verbunden ist. Die Ströme durch- 
setzen also den Muskel in seiner ganzen Länge. Die Verengerung in der 
Mitte des Rohres R hat den Zweck, die durch die Flüssigkeit selbst 
gehenden Ströme an einer Stelle des Muskels zu verdichten. Es war 
dies besonders deshalb angebracht, weil beide Drahtenden in die 
Flüssigkeit eintauchten und sowohl die völlige Isolierung der Drähte 
gegen die Lösung als die Einhaltung der gleichen Höhe der Flüssig- 
keitssäule Schwierigkeiten bereitete. Bei der gewählten Anordnung spielte 
beides keine praktische Rolle mehr, und die Reizstärke blieb von kleinen 
Schwankungen der Flüssigkeitssäule unabhängig. 

Die zur Untersuchung dienenden Muskeln wurden in Äthernarkose 
entnommen. Die von Blutgerinnseln sorgfältig befreiten, mit Sublimat- 
lösung gut ausgewaschenen und mit Naht verschlossenen Wunden 
heilten, obwohl ohne jede aseptische Maßnahmen gearbeitet wurde, 
erstaunlich gut. Zwar platzten die Nähte gewöhnlich wieder auf, und die 
Wunden sezernierten stark. Unter täglicher Behandlung mit Sublimat- 
abspülungen heilten sie aber im Verlauf von 2 bis 3 Wochen vollständig 
unter Bildung fester, kaum sichtbarer, linearer Narben. 

Als weißer Muskel diente der an der Streckseite des Unterschenkels 
liegende Extensor communis. Er entsprach vor allem der für die Ver- 
suche zu stellenden Forderung, daß er sich ohne Verletzung leicht heraus- 
präparieren ließ. Da der Tibialis verschont bleibt, so war der Funktions- 
verlust nach Heilung der Wunde unmerkbar, was auch erwünscht sein 
mußte angesichts der Kostspieligkeit des Tiermaterials. 

Man durchtrennt die Haut des Unterschenkels nach vorheriger 
Enthaarung in einem über die ganze dorsale Fläche verlaufenden Längs- 
schnitt, sodann die den Tibialis bedeckenden dünnen aber festen Fascien. 
Der zu oberst liegende Tibialis antieus: wird von unten her stumpf ge- 
lockert, angehoben und der unter ihm liegende, durch seine silbrige 
Sehneneinlagerung gekennzeichnete, platt spindelförmige Extensor 


142 O. Riesser: 


communis von unten und oben her frei präpariert. In die Endsehne 
wird, noch während der Muskel in situ ist, der bereitgelegte Ver- 
bindungsdraht V eingefüst. Sodann wird oben außen die starke Ur- 
sprungssehne aufgesucht, durchtrennt und der Muskel nun in einem 
Zuge losgelöst, wobei man es sehr leicht einrichten kann, daß die im 
oberen Dritteil zum Muskel verlaufenden Gefäße und Nerven erst im 
letzten Schnitt durchtrennt werden. Jetzt wird der am Verbindungs- 
draht hängende Muskel von oben her durch das bereitgehaltene Rohr 
gesenkt, bis das untere Ende heraushängt und an dem den Kork durch- 
- setzenden Drahthäkchen D befestigt werden kann. Nun wird der Kork 
fest eingesetzt, das Röhrchen mit vorbereiteter 40° warmer Locke- 
lösung gefülit, das Ganze in das mit 41—42° warmem Wasser gefüllte 
 Becherglas am Stativ gehängt, der obere (Verbindungs-)Draht am 
Muskelhebel angeschlossen und schließlich werden die Leitungskontakte 
hergestellt. 

Als roten Muskel wählte ich den Semitendinosus. Wenn er auch 
nicht ganz so leicht unverletzt herauspräparierbar ist wie der 
Extensor, so kommt man doch auch hier nach einiger Übung zum Ziel. 
An dem in Rückenlage aufgebundenen und narkotisierten Tiere durch- 
trennt man an der Innenfläche des Oberschenkels die Haut in einem. 
vom Schambein zum inneren Knorren des Oberschenkelbeins ver- 
laufenden Schnitt. Den zunächst zutage tretenden dünnen M. gracilis 
durchtrennt man nahezu in der Richtung seines Faserverlaufes.. Nun 
sieht man fast stets den roten Muskel schon in der Tiefe des Adductor 
magnus durchschimmern. Man geht auf die lange Endsehne ein und 
präpariert den frei durch die übrige Muskulatur ziehenden Muskel nach 
oben zu heraus. Im oberen Drittel seiner Länge muß man unter Um- 
ständen die quer über ihn hinwegziehende Arteria profunda femoris 
poppelt unterbinden. Man präpariert weiter, nunmehr in die Tiefe und 
nach oben zum Becken vordringend. Die unverletzte Loslösung des 
Muskels vom Knochen ist der einzige schwierigere Teil der Aufgabe, 
da die Fasern fast ohne sehnige Vermittlung in das Periost übergehen. 
Man muß daher, nachdem man den Ansatz so gut als möglich freigelegt 
hat, mit spitzer Schere ein Stück des Knochens mitsamt dem Ansatz 
herausschneiden. — Der Verbindungsdraht kam allemal in die End- 
sehne, das obere Muskelende dagegen an den unteren Haken. Es ver- 
dient hervorgehoben zu werden, daß weißer Extensor und roter Semiten- 
dinosus in Gestalt und Gewicht einander sehr ähnlich sind. Die Reizung 
erfolgte in einem Teil der Versuche durch Öffnungsinduktionsschläge 
eines Du Bois-Reymondschen Schlitteninduktoriums unter Benutzung 
von Quecksilberschlüsseln und bei einem Rollenabstand, der gerade der 
maximalen Zuckungshöhe entsprach. In den späteren Versuchen 
benutzte ich eine Baltzarsche Unterbrecheruhr, die in regelmäßigen 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 143 


Abständen Unterbrechung des primären Stromkreises gestattet. Der 
momentane Kontakt der Stifte im Uhrwerk bedingt nahezu gleichzeitige 
Öffnung und Schließung, die als ein einziger, in seiner Stärke sehr 
gleichmäßiger Reiz wirkt. 


2. Allgemeines Verhalten der überlebenden Muskeln. 


Unmittelbar nach der Herausnahme aus dem Tierkörper wiesen 
besonders die weißen Muskeln, mitunter, wenn auch in wesentlich 
geringerem Maße, auch die roten, fibrilläre, unregelmäßige Zuckungen 
auf, die in den folgenden Minuten allmählich spärlicher wurden, um bald 
ganz zu verschwinden. Sie sind als Folge der beim Durchtrennen des 
Nerven gesetzten Erregung aufzufassen. Muskeln, die solchen fibril- 
lären Anfangsklonus aufwiesen, waren regelmäßig zu Beginn besonders 


5. cc 5 ° 20 


11h 13°— 11h 41° 11h 55’—12h 12h 15°—12h 20° 


Abb. 2. Zuckungsreihe des roten M. semitendinosus im Laufe einer Stunde bei zwei Reizen in 
der Minute. 


stark erregbar. In allen Fällen sank die Erregbarkeit, gemessen am 
maximalen Reiz, zunächst schnell, dann langsam ab, um schließlich 
für eine gewisse Zeit konstant oder doch nahezu konstant zu bleiben. 
(S. Abb. 2.) Die Zuckungshöhe sank erst schnell, dann langsamer, 
aber stetig ab. Im Gegensatz zum weißen Muskel war beim roten 
eine mehr oder minder lange Periode konstanter Zuckungshöhe 
festzustellen. Schwankungen der Temperatur um + oder — 1° schienen 
auf die Zuckungshöhe ohne Einfluß zu sein. Im normal verlaufenden 
Versuch und bei völlig unversehrtem Muskel blieb die Erregbarkeit 
viele Stunden lang erhalten. Ein Unterschied in der Überlebensdauer 
der beiden Muskelarten war bei dieser Versuchsanordnung nicht fest- 
zustellen. Daß unter Umständen solche Präparate, selbst bei ungün- 
stigsten Verhältnissen, recht widerstandsfähig sind, beweist das Ver- 
halten eines roten Muskels, der, nach Beendigung eines 2stündigen 
Versuches, zufällig noch 31/, Stunden in der allmählich bis auf 19° 


144 ©. Riesser: 


abkühlenden Lösung geblieben war und sich dann immer noch er- 


regbar erwies. 


Die Zuckungskurve des weißen Muskels (Abb.3a) war steil 
und wies nur einen Gipfel auf. Die elastischen Nachschwankungen 


b) 
Normale Zuckungskurven, a) des weißen M. extensor communis, b) des roten M. semitendinosus in frischem, c) desselben 


a) 


3. 


Abb. 


gesichts dieser Tatsache, warum Fischer 


Muskels in ermüdetem Zustand. 


waren sehr ausgepräst 
(alle Versuche wurden 
mit der gleichen Be- 
lastung von 20 g aus- 
geführt). Die Kurven 
waren stets von glei- 
chem Typus, nur zeig- 
ten sich kleine Ver- 
schiedenheiten in der 
Zahl der elastischen 
Nachschwankungen. 
Contractur trat bei 
ausgiebiger Durchlei- 
tung von Sauerstoff nur 
ein, wenn der Muskel 
mehr oder weniger be- 
schädigt war. Je besser, 
bei fortschreitender 
Übung, die Präparation 
wurde, um so sicherer 
gelang es, jede Öontrac- 
tur hintenanzuhalten. 
Meist waren die Zuk- 
kungen des weißen Mus- 
kels höher als die des 
gleichlangen roten, doch 
kamen auch sehr be- 
trächtliche Zuckungs- 
höhen des roten vor. 
Auch in dieser Hinsicht 
bestand eine sehr aus- 
gesprochene Abhängig- 
keit von der Präpara- 
tion des Muskels; je 
besser sie gelang, um so 
höher war die Zuckungs- 
kurve. Man begreift an- 


in seinen Untersuchungen 


am roten Soleus des Kaninchens, den er, bei Belassung im lebenden 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 145 


Tier, möglichst frei zu präparieren suchte, meist so niedrige Zuckungs- 
kurven erhielt, da es praktisch nicht möglich ist, den Soleus ohne 
Verletzung freizulegen. Es ist mir ebensowenig wie anderen Autoren 
(mit Ausnahme von Botazzi) gelungen, ein Nervmuskelpräparat 
herzustellen, bei dem die Nerverregbarkeit nicht innerhalb kürzester 
Zeit erlosch. 


3. Der rote Muskel und die Funkesche Nase. 


Die normale Zuckungskurve des roten Muskels zeichnet sich be- 
kanntlich durch ihren langsamen Verlauf vor der des weißen Muskels 
aus. Hierüber finden sich zahlenmäßige Angaben in den Arbeiten von 
Paukult!) und von Fischer?). Insbesondere erscheint der absteigende 
Ast der Zuckungskurve gedehnt. Im Unterschied zum Verhalten des 
weißen Muskels fehlen die elastischen, steilen Nachschwankungen ganz, 
oder es ist nur eine einzige, ziemlich flache vorhanden: ein Zeichen 
der durchaus andersartigen Elastizitätsverhältnisse des roten Muskels. 
Besonders fällt in meinen Kurven (s. Abb. 3b u. c) das regelmäßige Er- 
scheinen eines zweiten Gipfelsauf. In der Literatur über die Physio- 
logie des roten Muskels, bezüglich derer ich auf die oben zitierten Ar- 
beiten von Paukul und von Fischer verweise, finden sich verhält- 
nismäßig sehr wenige Wiedergaben der Zuckungskurven solcher Muskeln. 
Bei den von Fischer publizierten Kurven des Soleus von Säugetieren 
macht sich ganz offensichtlich das ungünstige Präparat geltend. Sehr 
schön findet man den Typus der Zuckungskurve langsamer Muskeln 
bei den Figuren, die Botazzi (a.a. 0.) von seinem Zwerchfellpräparat 
wiedergibt. Der Autor selbst betont die Ähnlichkeit im allgemeinen 
Verhalten des Zuckungsablaufs dieses Muskels und der Zuckungsform 
sonstiger roter Muskeln, und in der Tat ähneln die von ihm wiederge- 
gebenen Kurven außerordentlich den Figuren, die ich selbst am überleben- 
den Semitendinosus erhielt, insbesondere bezüglich des zweiten Gipfels. 
Auch in den Zuckungskurven, die Cash?) bei gewissen langsam zucken- 
den Muskeln von Fröschen und bei solchen der Schildkröte erhielt, sieht 
man, im Gegensatz zum Verhalten der schnellzuckenden Muskeln, den 
Doppelgipfel meist deutlich ausgeprägt. Beim Semitendinosus in meinen 
Versuchen fehlt er niemals. Er kann niedriger sein als der erste, ist aber 
häufig auch höher. 

Die geschilderte Erscheinung spielt als „Funkesche Nase‘ eine ge- 
wisse Rolle in der Muskelphysiologie. Sowohl mit der Tigelschen 
Contractur als mit der Veratrincontractur offensichtlich verwandt, gehört 
sie zu den Symptomen einer tonischen Funktion des Skelettmuskels. 


!) Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 1904, S. 100. 
2) Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 125, 541. 1908. 
®) Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. Supplementband 1880, S. 147. 


Pflügers Archiv f.d. ges. Physiol. Bd. 1%. 10 


146 . O. Riesser: 


Ursprünglich beobachtete man den Doppelgipfel nur unter besonderen 
Bedingungen, so z. B. bei der Ermüdung, bei übermaximaler Reizung, 
dann aber auch unter normalen Bedingungen, bis man schließlich zur 
Einsicht gelangte, daß es sich nur um die verstärkte Ausbildung eines 
allen Muskeln, nurin verschiedenem Grade, eigenen Verhaltens handele. 
Dabei ist offenbar der zweite Gipfel bei den langsamen Muskeln schon 
normalerweise ausgeprägt, während er um so weniger leicht zur Dar- 
stellung zu bringen ist, je flinker ein Muskel ist. 

Wir verdanken den ausgezeichneten Untersuchungen von De Boer 
eine eingehende experimentelle Analyse der Erscheinung der Funke- 
schen Nase. Er betrachtet den zweiten Gipfel als den Höhepunkt der 
tonischen Zusammenziehung, während der erste der schnellen An- 
fangszuckung entspricht. Nach De Boer zerfällt jede Muskelzuckungin 
Anfangszuckung und tonischen Anteil, die nurinihrem Verhältnis zuein- 
ander, je nach der Art der Muskeln wechseln, und selbst da, wo sie unter 
normalen Bedingungen in der Zuckungskurve nicht erkennbar sind, 
durch besondere Eingriffe, wie z.B. durch Abkühlen, getrennt von- 
einander darstellbar sind. Er erbrachte des weiteren wichtige An- 
haltspunkte für die Annahme, daß der Grad der Ausbildung des toni- 
schen Anteils von Impulsen abhängig ist, die in sympathischen, in den 
Rami communicantes verlaufenden Fasern geleitet werden. Es er- 
gaben sich diese Schlüsse aus Versuchen mit indirekter Reizung vor 
und nach Durchtrennung jener Bahnen, deren Unterbrechung den 
zweiten Gipfel zum Verschwinden bringt. Daß der tonische Anteil der 
Kurve von nervösen, sympathischen Erregungen beeinflußt wird, kann 
nach diesen Untersuchungen nicht geleugnet werden. Seine Existenz 
ist indessen an diese Impulse sicher nicht gebunden, da, wie De Boer 
selbst angibt und auch meine Versuche zeigen, der Doppelgipfel auch 
am isolierten, jedem nervösen Einfluß entzogenen Muskel bei direkter 
Reizung auftritt. Wir werden die Erscheinung der Funkeschen Nase 
bzw. des Doppelgipfels daher am besten im Einklang mit den An- 
schauungen von Botazzi als eine Äußerung der langsamen, tonischen 
Sarkoplasmareaktion betrachten, deren Intensität in erster Linie von 
der relativen Menge dieses Anteils der Muskelzelle abhängt, des weiteren 
allerdings von einer Reihe anderer Faktoren, auf deren Erörterung ich 
im Zusammenhang einer folgenden Arbeit eingehen werde. 


4. Die Wirkung des Veratrins auf rote und weiße Muskeln. 


Bei dem Studium der Veratrinwirkung auf verschiedene Muskel- 
arten ergeben sich eine Reihe von Fragestellungen, die teils die Theorie 
der Veratrinwirkung überhaupt, teils das Wesen des Muskeltonus 
betreffen. Die Erklärung der Veratrinwirkungen lag bis heute trotz aller 
darauf verwandter Mühen im argen. Es ist hier nicht der Ort, die 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 147 


zahlreichen Erklärungsversuche zu erörtern, es sei vielmehr auf 
die erschöpfenden Abhandlungen von Biberfeld!) und von Böhm?) 
verwiesen. Wegen ihrer nahen Beziehungen zur Frage der roten und 
weißen Muskeln verdient indessen die alte Overendsche?) Theorie be- 
sondere Erwähnung, zumal sie zahlreiche Anhänger fand. Overend 
stellte auf Grund der Grütznerschen Vorstellungen die Hypothese auf, 
daß die Veratrinwirkung auf eine funktionelle Trennung der Aktion 
roter und weißer Fasern in den Skelettmuskeln zurückzuführen sei. 
Wie diese funktionelle Trennung unter Veratrinwirkung zustande- 
kommen solle, blieb allerdings ungeklärt. Diese Hypothese setzt vor- 
aus, daß alle auf Veratrin mit der typischen Doppelzuckung reagieren- 
den Muskeln gemischte seien, d.h. aus roten sarkoplasmareichen und 
weißen sarkoplasmaarmen, aber fibrillenreichen Fasern beständen. 
Dieser Annahme schien indessen der Befund von Carvallo und Weiß) 
zu widersprechen, wonach sowohl der rote M. radialis internus, als der 
weiße Radialis externus primus des Kaninchenvorderbeines nach 
Veratrinvergiftung den Doppelgipfel zeigen. Der hieraus gezogene 
Schluß, daß, wenn sowohl rein weiße wie rein rote Muskeln die typische 
Veratrinreaktion geben, diese nicht durch eine Mischung zweier Faser- 
arten bedingt sein könne, wäre richtig, wenn erwiesen wäre, daß die 
von Carvallo und Weiß untersuchten Muskeln sich wirklich jeweils 
nur aus einer Faserart zusammensetzten. Ein solcher Beweis ist aber 
gar nicht erbracht worden, die Annahme, daß es sich um einen ‚‚rein 
roten‘ oder ‚rein weißen‘ Muskel handelte, ist eine willkürliche und, 
wie wir heute sagen können, eine irrtümliche. Obwohl die Overendsche 
Hypothese der Veratrinwirkung sicher nicht zutrifft, so ist doch der 
durch alle Lehr- und Handbücher durchgeschleppte Gegenbeweis von 
Carvallo und Weiß, der einzige bisher versuchte, ganz unzulänglich. 

Die Overendsche Hypothese ist aber aus einem andern Grunde in 
der Tat unhaltbar. Nach ihr wirkt Veratrin im wesentlichen durch 
Verstärkung der Aktion der roten Fasern, so daß deren langsamer 
Kontraktionsablauf sich besonders stark geltend macht. Aus meinen 
Beobachtungen an überlebenden weißen und roten Muskeln ergibt 
sich nun aber, daß rote Muskeln durch Veratrin nicht oder doch nur 
in ganz geringem Maße beeinflußt werden, während gerade die weißen 
die typische doppelgipflige Kurve schon bei überaus geringen Veratrin- 
konzentrationen in sehr starker Ausbildung aufweisen. 

Tatsächlich ist die Wirkung verschiedenster Veratrinkonzentrationen 
auf den roten Muskel eine überaus geringe. Zwar steigt die Höhe der 


1) Ergebn. d. Physiol. Jahrg. XVIII. 1919. 

2) Heffters Handbuch der Pharmakologie Bd. 2, Teil 1. 
?) Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 26, S. 1. 

%) Arch. de pathol. generale 1. 1899. 


10* 


148 O. Riesser: 


Zuckung mitunter ein wenig an, wenn die Dosis nicht sohoch war, daß es 
sofort zur Lähmung kam, aber kein Anzeichen ist vorhanden, daß der 
schon normalerweise auftre- 
tende zweite Gipfel stärker 
ausgbildet würde. Zur An- | 
wendung kamen solche Do- 
sen, die beim weißen Mus- 
kel kräftig wirkten, von N 

1:2 700000 an bis zu | 
1:300 000 und mehr (s. 
Abb. 4). 

Überaus prompt und in- 
tensiv gestaltete sich da- 
gegen die Wirkung der glei- 
chen Konzentrationen beim 
weißen Extensor (s. Abb. 5 
und 6). Bei 1:600 000 be- 
obachtete ich reine Erhö- N 
Abb. 4. Roter M. semitendinosus. Obere Kurve nor- hung der Zuckung um das | 
mal. Untere ne Te a 1 : 600 000. Vielfache des Normalen. Es 

folgte dann bald Lähmung, 
die allerdings durch Einbringen des Muskels in reine Lockelösung völlig 
reversibel war. Nach solcher Erholung konnte man die Veratrinwirkung 


Abb. 5. Weißer M. extensor communis. Bei y Veratrin 1:1200000. Markierung !/, Sek. 


nochmals, wenn auch abgeschwächt, erzielen. Bei Konzentrationen von 
1:1200 000 und darunter bis 1:2000 000 kam der Doppelgipfel, zu- 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 149 


gleich mit der Erhöhung der Zuckungskurve, sofort und besonders 
schön heraus. Bei diesen geringen Konzentrationen blieben die hohe 
Arbeitsleistung und der Doppelgipfel lange bestehen. 

Der Befund, daß Veratrin auf die roten Muskeln gar nicht oder 
doch fast gar nicht wirkt, insbesondere in striktem Gegensatz zum 
weißen Muskel keine Contractur, keinen Doppelgipfel, erzeugt, wider- 
spricht durchaus den bisher gültigen Anschauungen, wonach erstens 
das Veratrin in typischer Weise tonussteigernd wirken soll und zweitens 
die roten Muskeln gerade Tonusmuskeln sind. Nach dieser Annahme 
müßten rote Muskeln besonders intensiv auf Veratrin reagieren. Zur 

gleichen Voraussetzung 
führt auch die Botazzische 
Sarkoplasmatheorie, nach 
der die Wirkung des Vera- 
trins in einer Verstärkung 
der langsamen Sarkoplas- 
makontraktion besteht und 
die demnach am sarko- 
plasmareichen roten Mus- 
kel besonders zu erwarten 
wäre. Botazzi glaubte in 
dertypischen Veratrinreak- 
tion des relativ langsam 
zuckenden Krötenmuskels 
einen Beweis für solche 
Anschauung zufinden. Daß 
aber der Krötenmuskel Abb. 6. Weißer M. extensor communis unter Veratrin- 
(Gastroenemius) etwaleich- wirkung. 
ter und intensiver auf 
Veratrin reagiere als der flinkere Froschmuskel, davon konnte ich 
mich in Durchströmungsversuchen nicht überzeugen. Der Kröten- 
muskel ist also hinsichtlich seiner Reaktion auf Veratrin eher den 
flinken (weißen) Muskeln einzureihen. 

Meine Befunde über den Unterschied im Verhalten der beiden 
Muskelarten gegenüber Veratrin stehen keineswegs allein da. Es zeigt 
sich, daß schon früher vereinzelt Ähnliches beobachtet wurde, ohne daß 
jedoch immer die Beobachtung richtig gewertet worden wäre. So kann 
man bei Carvallo und Weiss feststellen — und diese Autoren haben 
selbst darauf hingewiesen —, daß der rote Radialis internus des Kanin- 
chens erheblich weniger auf Veratrin reagiert als der weiße Externus. 
Wir können an Hand meiner Beobachtungen nun sagen, daß der Internus, 
da er auf Veratrin, wenn auch nur schwach, reagiert, sicher kein rein 
roter Muskel, sondern viel eher ein Zwischending zwischen rotem und 


150 O. Riesser: 


weißem Muskel ist. Die von Overend (a.a. 0.) wiedergegebene Kurve 
eines unter Veratrinwirkung gereizten roten Muskels, des Soleus des Kanin- 
chens, ist alles andere als typisch, und besonders beachtenswert erscheint 
mir in diesem Zusammenhange, daß Gregor!) am langsam zuckenden 
Muse. dorsalis scapulae des Frosches die Veratrinwirkung niemals in typi- 
scher Weise beobachten konnte, während sie beim schnellzuckenden Muse. 
triceps brachii ohne weiteres zu erhalten war. Ich glaube daher feststellen 
zu können, daß der typische langsame (rote) Muskel durch seine 
negative Reaktion gegenüber Veratrin geradezu gekenn- 
zeichnet ist... 

Durch diese Feststellungen ist nicht nur ein kennzeichnender Unter- 
schied im pharmakologischen Verhalten der beiden Muskelarten nach- 
gewiesen — wir werden noch weitere zu schildern haben — vielmehr 
greifen sie an die Fundamente der bisher verbreitetsten Theorien der 
Veratrinwirkung. Ich habe schon auseinandergesetzt, daß und warum 
meine Befunde sowohl die Overendsche Erklärung, als die von Botazzi 
gegebene als nicht haltbar erscheinen lassen. Es ist klar, daß man 
sich mit solch negativer Kritik nicht zufrieden geben wird und zum 
mindesten den Versuch unternehmen muß, eine neue Erklärung an die 
Stelle der alten zu setzen, die den Befunden dieser Arbeit gerecht wird. 
Inzwischen haben eigene, zusammen mit Neuschloß durchgeführte, 
und auf den Anschauungen Embdens über die funktionelle Bedeutung 
der Permeabilität der Muskelfaser-Grenzschichten beruhende Unter- 
suchungen die Lehre von der Vera- 
trinwirkung auf eine neue, physi- 
kalisch-chemische Basis gestellt. 
Die bisherigen Anschauungen er- 
wiesen sich als ungenügend, nicht 
nur um meine neuen Befunde, son- 
dern, wenn man es genauer be- 
trachtet, auch die älteren zu er- 
klären. Indem ich auf die später 
erscheinenden Ergebnisse unserer 
Veratrinstudien verweise, sei hier 
lediglich so viel gesagt, als schon bei 
Abschluß der hier geschilderten Ver- 
Abb. 7. Weißer M. extensor communis. Spä- suche klar lag und. was im Grunde 

teres Stadium der Veratrinwirkung. auch den Weg zu den neuen An- 

| schauungen weist. 

Es ist schon aus der Betrachtung der dieser Arbeit beigegebenen 
Kurven ersichtlich (vgl. insbes. Abb. 3c mit Abb. 7), daß der rote 
Muskel schon normalerweise eine Zuckungskurve schreibt, wie sie der 

!) Gregor, Pflügers Arch. f. d ges. Physiol. 101. 1904. 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 151 


weiße erst nach Behandlung mit Veratrin aufweist. Man gewinnt 
den Eindruck, als ob der weiße Muskel durch Veratrin erst in den 
Zustand gebracht wird, in dem sich der rote Muskel schon von 
vornherein befindet. Es liegt nahe, an Unterschiede des physikalisch- 
chemischen Zustandes der beiden Muskelfaserarten sowie des ver- 
gifteten und unvergifteten weißen Muskels zu denken. Wir werden 
in der erwähnten nachfolgenden Arbeit die Richtigkeit dieser An- 
schauung erweisen und wir machen besonders auf die neuesten Ver- 
öffentlichungen Embdens aufmerksam, in denen wesentliche Unter- 
schiede im physikalisch -chemischen Verhalten und im Tätigkeits- 
stoffwechsel verschiedener Muskelarten aufgedeckt werden!). 


5. Die Wirkung des Physostigmins auf rote und weiße 


Muskeln. 


Wir begegnen auch hier einem sehr regelmäßigen und klaren Unter- 
schiede im Verhalten der beiden Muskelarten, nur daß er, rein äußerlich 
‚betrachtet, gerade im entgegengesetzten Sinne ausfällt, wie es beim 
Veratrin der Fall ist. Es handelt sich um eine sehr charakteristische 


Abb. 8. Aufeinanderfolgende Stadien der Wirkung von Physostigmin. salicyl. 1 : 300000 (bei x) 
auf den roten M. semitendinosus. Markierung !/, Sek. 


a) 


Abb. 9. a) Normalkurve. b) Derselbe Muskel unter Physostigmin. salieyl. 1 : 300 000. 


Contractur im absteigenden Schenkel, die nur beim roten Muskel auf- 
zutreten scheint, dä ich sie unter keinen Verhältnissen beim weißen 
4) Zeitschr. f. physiol, Chemie 113, 5.. 1921. 


152 O. Riesser: 


Muskel erzielen konnte. Diese Erscheinung, die auf Abb. 8 u. 9 wieder- 
gegeben wird, tritt bei Konzentrationen 1:300 000 Physostigmin. 
salicyl. oder darunter als eine typische Nachcontractur auf, die etwa 
in der Mitte des absteigenden Schenkels der normalen Kurve, meist 
niedriger, beginnt und langsam abschwellend über 3 Sekunden ver- 
läuft. Von der Veratrincontractur ist diese Form des Zuckungsverlaufs 
durchaus verschieden. Niemals findet man eine zweite schnelle 
Zuckung wie beim Veratrin, sondern stets jene plötzliche Verlangsamung 
der Erschlaffung, die in der Mitte oder dem unteren Drittel des Abfalles 
der Primärzuckung einsetzt. Fast alle meine Versuche lassen das in 
der Literatur häufig beschriebene sog. Physostigminzucken vermissen. 
Nur zweimal habe ich an roten Muskeln über längere Zeit hin kleine, 
in größeren Intervallen aufeinanderfolgende, spontane Zuckungen 
beobachten können. Da die bekannten fibrillären Zuckungen nach 
Physostigmin zweifellos auf Erregung motorischer Endapparate im 
Muskel zurückzuführen sind, so darf man vielleicht an ein ausnahmsweise 
längeres Überleben von Nervenendigungen in diesen beiden Fällen denken. 
Das ebenfalls schon häufig beschriebene Höherwerden der Zuckungen 
nach Physostigmin war auch bei meiner Versuchsanordnung meist deutlich 
erkennbar, und zwar fand es sich 
bei beiden Muskelarten (Abb. 10). 
Wir sind über den feineren Me- 
chanismus der Physostigminwir- 
kung heute noch zu wenig orien- 
tiert, als daß wir auch nur Ver- 
mutungen über die Ursache der 
Contractur der roten bzw. des 
Unterschiedes im Verhalten der 
roten und weißen Muskeln gegen- 
über Physostigmin anstellen könn- 
ten. Eine physikalisch-chemische 
Analyse der Wirkungsweise des 
Giftes und unter Berücksichtigung 
Abb. 10. Wirkung von Physostigmin. salicyl. da: venselisgemen So u ug be = 
1:300 000 auf weißen Muskel. den Muskelarten wird auch hier 
zweifellos zum Ziele führen. Es sei 

hier noch darauf hingewiesen, daß der Krötenmuskel ebenso wie 
gegenüber Veratrin (s. oben), auch gegenüber Physostigmin in einigen 
Versuchen sich nicht wie ein roter Muskel, sondern wie ein weißer 
Muskel verhielt, da er die Contractur nicht aufwies. Hier muß auch 
der neuen Untersuchungen von H. Schaeffer!) gedacht werden. 
Er konnte in Versuchen am Ergographen zeigen, daß subeutane Injektion 


1) Arch. f. d. ges. Physiol. 185, 42. 1920. 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 153 


parasympathisch erregender Gifte, wie Pilocarpin und vor allem Physo- 
stigmin, die unter bestimmten experimentellen Bedingungen bei be- 
sonders disponierten Individuen auftretende Tiegelsche Contractur zu 
verstärken vermag, daß parasympathisch lähmende wie Atropin und 
Scopolamin sie zum Verschwinden bringen und daß insbesondere das 
sympathisch erregend wirkende Adrenalin (beiintramuskulärer Injektion) 
das Auftreten der Tiegelschen Contractur beeinträchtigt oder gar völlig 
verhindert. Auch ließ sich eine antagonistische Wirkung der Gifte bei 
aufeinanderfolgender Injektion nachweisen. Da die gleichen Erschei- 
nungen auch dann auftreten, wenn der Muskel vollständig sensibel und 
motorisch gelähmt ist, so wird die Wirkung der Gifte mit Recht als eine 
periphere angesehen. Schaeffer nimmt an, daß die receptiven neuro- 
muskulären Endapparate, nicht die contractile Substanz selbst, Angriffs- 
punkte des Giftes seien, ohne daß jedoch diese Frage durch seine Über- 
legungen und Versuche als entschieden zu betrachten wäre. Wie wir 
sahen, bewirkt Physostigmin in meinen Versuchen am roten Muskel eine 
sehr ausgesprochene Contractur. Daß es sich hierbei um eine Wirkung 
auf Nervenendapparate handelt, dafür geben mir die zahlreichen Versuche 
bisher keine Anhaltspunkte. Vor allem habe ich auch in Versuchen mit 
dem typisch-parasympathisch erregenden Gifte Muscarin keinen Einfluß 
auf den Verlauf der Zuckung feststellen können. 

Aber selbst, wenn ein gewisser Antagonismus zwischen Physostigmin 
und Adrenalin sich auch in Versuchen am überlebenden roten Muskel 
ergeben sollte, so ist damit die Frage nach dem Wirkungsmechanismus 
noch nicht gelöst. Wir werden damit zu rechnen haben, daß, ebenso 
wie wir es in einer folgenden Arbeit für das Veratrin zeigen werden, 
auch die Wirkungsweise anderer Gifte in weitem Maße durch Beeinflus- 
sung des physikalisch-chemischen Zustandes der Muskelkolloide sehr 
wesentlich bedingt wird. Durch solche Betrachtungsweise wird die bisher 
übliche Fragestellung nach dem Wirkungsort durch die nach dem 
Wirkungsmechanismus abgelöst werden. 

In einer sehr großen Zahl von Versuchen habe ich noch viele ver- 
schtedene Gifte auf ihre Wirkung gegenüber den beiden Muskelarten 
geprüft, immer im Hinblick auf die Frage nach einem Unterschied in 
den Wirkungen, der auf die Existenz vegetativer Nerven oder auf ver- 
schiedenen Gehalt an Endigungen solcher Nerven hinweisen könnte. 
Aus allen diesen Versuchen, welche die Zahl von 60 überschreiten, er- 
gaben sich enttäuschend wenige Ergebnisse. Es kamen zur Unter- 
suchung: Atropin, Muscarin, Cholin, Adrenalin, Tetrahydro-ß-naph- 
thylamin, Coffein und Theobromin, Cocain, Strophantin, Nicotin, 
Kreatin, Glycerin, Guanidin, Baryumchlorid, CaCl,, MgSO,, NaH,PO.. 
Wohl erhielt man die typische Erhöhung der Kurve nach ziemlich 
hohen Dosen Coffeins und Theobromins, und die schnelle Lähmung 


154°: O. Riesser: 


durch sehr kleine Dosen Nicotin. Sonst aber waren charakteristische 
Erscheinungen nicht zu erkennen. Selbst die typischen Muskelgifte 
Baryumchlorid und Guanidin blieben ohne irgendwelche Wirkung, 
abgesehen von der bei höheren Dosen einsetzenden, uncharakte- 
ristischen Lähmung. Die Erklärung muß zum guten Teil darin gesucht 
werden, daß die Mehrzahl dieser Substanzen nicht oder schlecht in den 
unversehrten Muskel eindringt. Tatsächlich erhielt ich mit BaCl, sofort 
eine wesentliche Steigerung der Zuckungshöhe, als ich das Gift mittels 
einer feinen Kanüle in den Muskel injizierte. 

Einer besonderen Erwähnung bedarf noch das Verhalten der Muskeln 
gegenüber Ammoniak. 


6. Ammoniakwirkung auf rote und weiße Muskeln. 


Auch hier ergab sich ein sehr ausgesprochener Unterschied im Ver- 
halten der beiden Muskelarten. Auf Zusatz von nur ein bis zwei Tropfen 
einer ca. 6,5 proz. NH,-Lösung zu der Lockelösung (30 ccm) antwortete 
der rote Muskel jedesmal mit einer steilen und ziemlich schnellen Kon- 
traktion, die, allmählich ansteigend und auf Zusatz einiger weiterer 
Tropfen stark zunehmend, sehr erhebliche Grade annahm. Die schließ- 
lich erreichte Verkürzung betrug das Mehrfache der einfachen Zuckungs- 
höhe und übertraf bei weitem die bei tetanischer Reizung zu erzielende 
Zusammenziehung (Abb. 12a 
u. b). Trotzdem konnte sie, 
wenigstens zum größten Teil, 


a) Erregborkeit noch gut 


Pe Ten N nn ni N N L ni N fi ı ya 
EZ 3) HL TEENS Ba) 5 7 N 3 9 170 777; a 73 14 75 Minuten 


RR | 


HCI 7:3000 1:7500 1:750 1:375 7:175 h „feine durch Einbringen des Mus- 
elosung a En 
kels in reine Lockelösung 
E barkeit noch guf .. or . 
ee b) aa © rückgängig gemacht werden. 
Einzelzuckung 


Die Abnahme der Erregbar- 
\ Ä 54 3 78 R om EZ 7 # Minen keit und ihr Wiederauftreten 
HCl 71:300000 1:150000 7:2500 . 7:7000 Reine Locke- 

ZEIE im Stadium der Contractur- 
Abb. 11. Wirkung von HCl auf den weißen a) und den abnahme entsprachen den 
ee schon oft von anderen 
Autoren beschriebenen Erscheinungen. (Vgl. hierzu insbesondere 

Schwenker, Arch. f.d. ges. Physiol. 157, 914.) 

Durchaus anders war das Bild beim weißen Muskel (Abb. 12e). 
Selbst das Mehrfache der NH,-Dosis, die beim roten starke Contraetur 
bedingt, wirkte auf den weißen kaum oder doch nur in geringem Maße 
ein. Das Bild war in allen Versuchen das gleiche. Dabei ist zu be- 
merken, daß anscheinend auch andere Basen, insbesondere organische, 
ähnlich wirken und den gleichen Unterschied der Empfindlichkeit der 
beiden Muskelarten zeigen, wie ich in zwei Versuchen mit freiem Cholin 
beobachten konnte. Es ist demnach die Ammoniakcontractur zum 
mindesten in ihrer Intensität in sehr weitgehendem Maße von der Muskel- 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 155 


art abhängig. Man kann kaum annehmen, daß es sich um Verschieden- 
heiten der Eindringungsgeschwindigkeit handelt bei einer so flüchtigen 
und lipoid- wie wasserlöslichen Substanz. Vielleicht haben wir es 
bei der NH,-Contractur mit einer typischen Reaktion des Sarko- 
plasmas zu tun, die naturgemäß bei dem sarkoplasmareicheren roten 
Muskel intensiver ausgeprägt sein müßte, als bei dem weißen. Ich 
nehme an, daß man bei der systematischen Untersuchung verschiedener 
Muskeln auf ihre Contracturempfindlichkeit gegenüber NH, eine 
ganze Skala von Wirkungsgraden finden wird, die zur Charakterisierung 
der einzelnen Muskeln hinsichtlich ihrer Eigenschaft als langsamer, 
sarkoplasmareicher und flinker, sarkoplasmaarmer in ähnlicher Weise 
dienen könnte, wie die Veratrinreaktion. Es sei schließlich noch bemerkt, 
daß ich in einigen Versuchen mit Zusatz von HCl keinen wesentlichen 
Unterschied im Verhalten der beiden Muskelarten fand, es sei denn, 
daß der rote Muskel empfindlicher schien als der weiße, und daß im 


Erregbarkeit erloschen 


Erregbarkeit kehrt wieder 


Y 


Maximale a) 


Einzelzuckung 


ERS SERIEN SEE DEE EN ON TEN RN DER rs BEE Din Tan 
7 | ZUR 3EEN AG; E\ 78930 MN 73 M 75 76 17 18Minuren 
0722000777700 L IE, Ing | Erregbarkeit erloschen 


Erregbarkeif kehrt wieder 


Maximale ) 
Einzelzuckung 


at 1 Nen 1 L f Ten ie ni fi fi l f EEE L 
ZU UI STERNE ET NEE 97077, Z 73 mM 95% 177 18 19 20 21Minulerr 
7:45000 1:22000 7:76000 Reine 
Lockelösung 


Maximale 
Einzelzuckung Erregbarkeit erloschen 


€) 


fi L 1 1 L j 1 1  L—, 
7 IM 3 UNS 687 8 EZ 70 Minuten 
7%:45000 1:22000 7:11000- 7:6000 Reine 
Lockelösung 


Abb. 12. Wirkung von NH, auf den roten a) und b) und den weißen Muskel c). 


übrigen beide verhältnismäßig sehr wenig stark auf Säure sich kontra- 
hierten (s. Abb. 11). Der Unterschied gegenüber NH, fiel natürlich 
beim roten Muskel besonders auf. 


Zusammenfassung. 


1. Es wird eine einfache Versuchsanordnung beschrieben, die es 
gestattet, rote und weiße Warmblüter- (Kaninchen-) Muskeln eine Reihe 
von Stunden gut erregbar außerhalb des Tierkörpers zu erhalten. 

2. Im Unterschied zum weißen Muskel zeigt der rote stets einen 
zweiten Gipfel im absteigenden Schenkel der Zuckungskurve. 


156 O. Riesser: 


3. Auf Veratrin reagiert nur der weiße flinke Muskel in der 
typischen Weise mit starker ‚Erhöhung der Zuckung und der Con- 
tractur bzw. dem zweiten Gipfel im absteigenden Schenkel. Der rote 
Muskel dagegen ändert die Höhe der Zuckung wenig, die Form über- 
haupt nicht. Die Bedeutung dieses Befundes für die Veratrintheorien 
von Overend und Botazzi wird erörtert. 

4. Physostigmin gibt am weißen Muskel lediglich eine geringe 
Erhöhung der Zuckungskurve. Am roten tritt hierzu regelmäßig eine 
langanhaltende, sehr charakteristische Contractur im absteigenden 
Schenkel. 

5. Ammoniak führt am roten Muskel schon in geringen Kon- 
traktionen zu überaus starker, aber reversibler Contractur; am weißen 
Muskel ist, selbst bei Anwendung der vielfachen Dosis, die Contractur 


nur geringfügig. 


Nachtrag bei der Korrektur. 


Seit Abschluß der vorliegenden Arbeit haben eigene neue Unter- 
suchungen zu Ergebnissen geführt, die für die Frage der vegetativen 
Innervation der Skelettmuskulatur von Bedeutung sein dürften. In 
Durchströmungsversuchen an Kröten beobachtete ich eine durch Cholin 
bewirkte reversible Contractur!). Im Hinblick auf die bekannte, um das 
Mehrfache stärkere parasympathisch erregende Wirkung des acetylierten 
Cholins ging ich zu Versuchen mit einem reinen, krystallinischen Prä- 
parat von Acetylcholin-Chlorhydrat über. Die wesentlichen 
Ergebnisse sind folgende. 

1. Taucht man Gastrocnemien von Temporarien oder Kröten in eine 
Ringerlösung mit 1:200000 bis 1: 100000 Acetylcholin-Chlorhydrat, so 
ziehen sie sich ziemlich schnell zusammen und gehen in Dauercontractur 
über. Diese Contractur kann stundenlang bestehen bleiben, solange 
der Muskel sich in der Giftlösung befindet, ohne daß doch die Erreg- 
barkeit für direkte elektrische Reizung geschädigt würde. Zurück- 
bringen in reine Ringerlösung hebt die Contractur schnell auf. 

2. Atropin. sulfur. 1:1000 zugleich mit Acetylcholin 1: 100000 bringt 
die Contractur schnell zum Verschwinden. Vorbehandlung des Muskels 
mit Atropin während 10—15 Minuten macht nachfolgendes Einbringen 
in Acetylcholinlösung unwirksam. 

3. Novocain 1:1000 wirkt ähnlich wie Atropin gegenüber der Acetyl- 
cholincontractur. 

4. Das Acetylcholin wirkt nur von der Stelle des Nerveneintritts 
aus. Eintauchen des Muskels mit Ausschluß der Nerveneintrittsstelle 


!) Schon von Böhm erwähnt Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. 58, 
265. 1908. 


Untersuchungen an überlebenden roten und weißen Kaninchenmuskeln. 157 


‚oder Eintauchen des Nerven allein ist unwirksam (receptive Substanz 
von Langley). 

5. Ein durch Curaresierung des ganzen Tieres gelähmter Muskel 
reagiert auf Acetylcholin in normaler Weise. Eintauchen eines Nerv- 
muskelpräparates in Curarelösungen 1:10000 -++ Acetylcholin 1: 100000 
beeinflußt die indirekte Erregbarkeit zunächst gar nicht (Böhm), 
hebt aber die Acetylcholincontractur genau so auf wie Atropin. (Vgl. 
Langleys Antagonismus zwischen Curare und Nicotin.) 

Es ist kein Zweifel, daß diese Befunde für die Frage der parasym- 
pathischen Innervation des Muskels von Wichtigkeit sind. Zugleich 
sind sie geeignet, eine Reihe anderer Fragen, welche die pharmakolo- 
gische Contractur betreffen, insbesondere auch die Langleyschen 
Nicotinstudien, in einem neuen Lichte erscheinen zu lassen. Hierüber 
wird die demnächst erscheinende erste Mitteilung dieser Untersuchungs- 
reihe Näheres bringen. 


Wirkung des Cocains auf das Froschherz und seine Gewöhnung 
an das Gift. 


Von 
M. Kochmann!). 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Halle.) 
Mit 16 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 29. April 1921.) 


Es war ursprünglich geplant worden, die Wirkung der Lokalanästhe- 
tica auf das Froschherz einer vergleichenden Untersuchung zu unter- 
ziehen. Im Lauf der Arbeit zeigte es sich, daß mit dem Cocain eine 
Reihe von Ergebnissen erzielt wurde, die einer Veröffentlichung wert 
erscheinen dürften. 

Über die Wirkung des Cocains auf das Froschherz liegen eine Anzahl 
von Arbeiten vor, die Poulsson?) in dem betreffenden Abschnitt des. 
Handbuchs der experimentellen Pharmakologie von Heffter kritisch 
zusammengestellt hat. Die einen Autoren halten das Cocain für ein 
diastolisch wirkendes Herzgift (vgl. v. Anrep), das in sehr kleinen 
Gaben keinen Einfluß zeigt, nach Mosso aber das Herz zu erhöhter: 
Frequenz und Vergrößerung der Amplitude anregt. Nach diesem eben. 
genannten Untersucher soll das Herz auf große Gaben von Cocain 
einen systolischen Stillstand zeigen, was von Dastre und Pouchet. 
bestätigt wurde. In neuester Zeit hat Weiler?) diastolische Erweiterung 
mit starker Pulsverlangsamung und schließlich Herzstillstand in Dia- 
stole beobachtet. Im Anfang konnte bei Pulsverlangsamung eine Zu- 
nahme der Amplitude wahrgenommen werden. Verschiedene Autoren. 
berichten über eine Arrhythmie des Herzschlages. Rippel®) führt diese 
Erscheinungen (regelmäßige Vorhofkontraktionen bei Unregelmäßigkeit. 
in der Schlagfolge der Kammer) auf Erschwerung des Überganges der: 
Reize vom Vorhof zur Kammer zurück. Zur Erklärung der Tatsache, 
daß die Vorhöfe länger schlagen als die Kammer, nimmt v. Anrep: 


!) Ein Teil der Versuche wurde unter Mitwirkung des Herrn Dr. G. Apitz, 
damals Volontärassistent am Institut, angestellt. 

®2) E. Poulsson in A. Heffter, Handb. d. experim. Pharmakologie. Ber- 
lin 1920. 

®) L. Weiler, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 80, 131. 1917. 

#4) A. Rippel, Arch. f. Pharmazie %58, 287. 1920. 


M. Kochmann: Wirkung des Cocains auf das Froschherz usw. 159 


an, daß die Cocainempfindlichkeit des Ventrikels größer als die der 
Vorhöfe sei. 

Die Versuche, die im folgenden beschrieben werden, wurden an 
den isolierten Froschherzen frisch gefangener Sommer- und Winter- 
frösche, zum Teil aus besonderen Gründen an den Herzen überwinterter 
Tiere angestellt. R. esculenta und temporaria hatten im allgemeinen 
die gleichen Versuchsergebnisse. 


Die Herzen schlugen an der Straub-Fühnerschen Kanüle, die Füllung betrug 
l cem Ringerlösung, die folgendermaßen zusammengesetzt war: Für Sommer- 
frösche: NaCl 6,0 g, KCl 0,075 g, CaCl, 0,1 g, NaHCO, 0,1 g auf 1000,0 ccm H,O; 
für Winterfröschet!): NaCl 6,0 g, CaCl, 0,24 g, KCl 0,42 g, NaHCO, 0,3 g auf 
1000,0 ccm H,O. Am besten schlagen die Herzen, wenn man sie nach der Ent- 
nahme aus dem Tier etwa eine Stunde mit einer verdünnten Froschblut-Ringer- 
lösung arbeiten läßt und erst nachher diese Blutlösung durch reine Ringerlösung 
mehrmals ersetzt. Die Lösungen des Cocains wurden in der Weise hergestellt, 
daß wir zunächst eine Lösung von %/oo = 09,34% Cocainum hydrochloricum in 
destilliertem Wasser bereiteten. Die erforderlichen Verdünnungen wurden jedesmal 
frisch aus dieser Stammlösung hergestellt, weil das Cocain in den schwachen 
Konzentrationen bei alkalischer Reaktion schnell einer Spaltung unterliest. Auch 
die Stammlösung wurde mindestens alle Wochen erneuert. 


Große Cocaingaben: 1/9 Mol.-Lösungen = 0,034%, rufen fast 
unmittelbar nach der Beschickung der Kanüle mit der Giftlösung dia- - 
stolischen Herzstillstand hervor. 


> 


| 
| 


| 


2 e 


. Cocein. : 


11.3... P.37 
ÄLUINLUIDALIAUDLLILINLLNLENLLDNLLDLLDLLLKG LALLLNILLILILILLLSDLDIÄLULNLLLLLUUIKLLLLUNNLLNGN 


Abb.1. Wirkung von n/;ooo Cocain - HCl. Stillstand und allmähliche Erholung bis zur Halbierung. 


Der Ventrikel steht zuerst still, während der Vorhof noch einige Zeit 
weiter schlägt. Das Herz bläht sich sichtbar langsam auf und sieht 
schließlich wie ein straff mit Luft gefüllter Ballon aus. Seine Form 
nähert sich also der einer Kugel, das heißt, es wird im Querdurch messer 


— 1) Nach C. Amsler und A. Fröhlich, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 11, 107. 
1920. 


160 M. Kochmann: 


erweitert und in der Längsachse verkürzt, so daß bei der gewöhnlichen 
Aufschreibung der Herzkontraktionen (Übertragung der Bewegungen 
der Herzspitze auf einen leichten Schreibhebel) die Fußlinie trotz maxi- 
maler Diastole nach oben steigt und dadurch einen gewissen Kontrak- 
tionszustand vortäuscht. Nach !/,—1 Stunde setzen, ohne daß ein 
Wechsel der Herzfüllung stattgefunden hätte, die Vorhofskontraktionen 
wieder ein, die so stark werden, daß sie den Ventrikel, der immer noch 
schlaff ist, passiv mitnehmen. Schließlich beginnen auch die Ventrikel- 
kontraktionen. Das Herz ist also wenigstens teilweise erholungsfähig. 
Es bleibt aber bei dieser Konzentration geschädigt, indem jede zweite 
Kammerkontraktion ausfällt, während regelmäßige Vorhofskontrak- 
tionen vorhanden sind, es bleibt also Pulshalbierung bestehen. Auch 
ein Wechsel der Giftlösung auf giftfreie Ringerlösung bringt das Herz 
nicht mehr zum regelrechten Schlagen. 

good? Mol.- Lösung ruft manchmal noch diastolischen Stillstand 
hervor, meistens aber werden die Kontraktionen nur bedeutend kleiner 
und langsamer, es fallen Kammerkontraktionen aus, die Vorhöfe können, 
wenn auch verlangsamt, regelmäßig weiterschlagen. So kommt es unter 
Umständen zum Ausfall mehrerer Kontraktionen hintereinander oder 
nur zur Halbierung, Drittelung usw. des Pulses. Spontane Erholung 
ohne Entfernung der Giftlösung ist möglich, wenn auch nicht voll- 
ständig, da der Puls halbiert bleibt. Wechsel auf giftfreie Ringerlösung 
kann den Herzschlag wieder regelmäßig gestalten, ja es wird sogar 
öfters beobachtet, daß danach eine allerdings vorübergehende Erhöhung 
der Pulsfrequenz eintritt. 

Die Verdünnungen von Y,ooo—"roood? Mol. - Lösung haben ähn- 
liche, wenn auch selbstverständlich geringere Wirkungen als die eben 
geschilderten. Spontane Erholung konnte, obwohl die Giftlösung in der 
Kanüle nicht gewechselt wurde, von 1/,,99 Mol.-Lösung fast; stets beob- 
achtet werden. Die Erholung geht in der Weise vor sich, daß allmählich 
immer weniger Kammerschläge ausfallen, bis endlich auf. jede zweite 
Vorhofkontraktion eine Kammerkontraktion eintritt. Auf diese Hal- 
bierung des Pulses folgt schließlich eine Drittelung, Viertelung usw., 
das heißt es fällt nur noch die dritte, vierte, fünfte usw. Kammersystole 
aus. Auf diese Weise kommt es zu einer Gruppenbildung von einer 
Anzahl regelmäßiger Herzkontraktionen, die durch eine einem aus- 
fallenden Herzschlag entsprechende Pause voneinander getrennt sind. 
Diese Pausen werden immer seltener, die Gruppen regelmäßiger Herz- 
schläge immer größer und schließlich ist der Herzschlag wieder voll- 
kommen hergestellt. 

Bei !/;yo00? Mol. - Lösung können die eben geschilderten charak- 
teristischen Erscheinungen der Rhythmusstörung noch auftreten. In 
manchen Fällen kommt es aber nicht mehr dazu, sondern nur zu einer 


Wirkung des Cocains auf das Froschherz und seine Gewöhnung an das Gift. 161 


Pulsverkleinerung und -Verlangsamung ohne Ausfall von Kammer- 
systolen. 

Mittlere Konzentrationen: von Y/,;9000 "/ıooood? Mol. - Lösung 
bedingen nur noch im absteigenden Maße eine Pulsverkleinerung und 
-Verlangsamung. Spontane Erholung ist regelmäßig zu beobachten. Bei 
Wechsel der Giftlösung auf giftfreie Ringerlösung kommt es bei fast 
allen Konzentrationen 
zu einer vollkom- 
menen Enteiftung. 
Die Schädigung ist 
also im weitesten Um- 
fang reversibel, 

Bei ganz kleinen 


Konzentrationen: 300 

1 
z. B. */ıs0000 Mol.- P.32 "-P30 p28 
Lösung wurde, be- NINEXUHEKHENSTENINISEEUNEENNEINEEETEEERRNUNGEREENUNEEEEERNUNSUUEEREENE 


sonders bei überwin- 
terten Temporarien, Abb. 2. Cocain HCl n/;o000- Verkleinerung und Verlangsamung 
eine Zunahme der ohne Gruppenbildung. 
Kontraktionsgröße 

gesehen, wobei der Puls entweder gleich bleibt oder eine geringe Ver- 
langsamung aufweist. In einigen Fällen kam es sogar zu einer kleinen 
Beschleunigung des Pulses. Auch diese Veränderungen sind durch Wechsel 
der Cocainlösung auf gift- 
freie Ringerlösung rever- 
sibel. 

Um die Gabe, die eine 
Vergrößerung des Herz- 
schlages hervorruft, mit 
mehr Sicherheit zu treffen, 
sind wir in der Weise vor- 
gegangen, daß wir nicht 
die Gesamtfüllung des Her- 
zens gegen die Cocainlösung IRMMHIMMHMERTIMEERHE| (KEN EEITEMEEERIEIIE EEE EKNUIEEITETRHENEITE 
austauschten, sondern daß | 
wir nur !/,, ccm des Ka- 


de 5 Abb.3. Cocain HCl %/jsoooo A) vor der Vergiftung. b) Ver- 
nüleninhalts entnahmen größerung des Herzschlages während der Cocainwirkung. 


ec) nach Wechsel auf R.-L. wieder Absinken der 


und dafür die gleiehe Menge Amplitude. 


einer dünnen Cocainlösung 

hinzufügten. Wendet man z.B. eine !/,, 900 M9l.-Lösung an, so wird diese 
durch den Kanüleninhalt um das Zehnfache verdünnt (= !/,,9000)- Nach 
kurzer Zeit wird von neuem 1/,,„ecm des Kanüleninhaltes entnommen und 
gegen die gleiche Menge der !/,, 99, Cocainlösung ausgetauscht. Auf diese 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 1%. 11 


162 M. Kochmann: 


Weise gelingt es, ganz allmählich die Konzentration zu steigern!). Abb. 4, 
die eine Steigerung der Amplitudengröße bei vermehrtem Pulsschlag 
zeigt, ist auf diese Weise gewonnen worden. 

Die an der Straub-Fühnerschen Kanüle schlagenden Herzen, die ihre 
Bewegungen mittels Häkchenschreibung aufzeichnen, lassen zunächst 
nur die Veränderungen in 
der Längsachse erkennen. 
Aber auch diese Verände- 
rungen können, wieschon 
oben hervorgehoben wor- 
den ist, aus rein mechani- 
schen Ursachen undeutlich 

Ai gemacht oder verdeckt 
um - | werden. Um nun über die 
CocomPıs Ps Pı7 P12 P%6  PW 


Änderung des Herz volu- 


mens Aufschluß zuerhal- 


Abb. 4. Allmähliche Steigerung der Cocainkonzentration ten, gingen wir in der 
von N/zooooo beginnend. Pulsbeschleunigung und Vergrö- 1 { 
Berung der Amplitude. Weise vor, daß wir das 


Herz in ein kleines Glas- 
gefäß luftdicht einsetzten und durch Luftübertragung die Volumenände- 
rungen des Herzens durch eine empfindliche Mareysche Trommel auf- 
zeichnen ließen. Wenn die Gummimem- 
bran der Mareyschen Trommel gut, das 
heißt luftdicht und mit der nötigen Span- 
nung, aufgebunden wird, und das Ge- 
wicht des Schreibhebels möglichst klein 
ist (feiner Strohhalm), so sind die Aus- 
schläge der Mareyschen Kapsel in ver- 
hältnismäßig weiten Grenzen den Vo- 
lumenänderungen proportional, wovon 
man sich durch die Eichung überzeugen 
kann. Die Versuchsanordnung im ein- 
zelnen ergibt sich aus der beigefügten 
Skizze (Abb. 5). 

!) Unter der Voraussetzung, daß keine 


Zerstörung des Giftes stattfindet, läßt sich 
die erreichte Konzentration nach der Formel 


Abb. 5. 


b 
berechnen x = a — | t 


C 
Wechsel zurückbleibende giftfreie Flüssigkeitsmenge und n die Zahl bedeutet, wie 


n j b X h 
‚ wobei a die ursprüngliche Menge, — die nach jedem 
€ 


\ 3, \ 5 
oft Giftlösung zugefügt wurde. Im vorliegenden Fall ist x = 1 — (6) . Hier wie 


schon oft hatte ich mich des mathematischen Rates von Herrn Geh. Rat Wangerin 
zu erfreuen, dem ich auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank ausspreche. 


Wirkung des Üocains auf das Froschherz und seine Gewöhnung an das Gift. 163 


Die Eichung wurde in der Weise vorgenommen, daß an dem freien Ende 
der durch Hahn zu verschließenden 7T-Kanüle 7 mittels Gummischlauchs eine 
feine, zur Hälfte mit Wasser gefüllte Spritze (Liebergsche Tuberkulinspritze) 
angefügt wurde. Durch Verschieben des Spritzenstempels um 1/,, oder !/,, ccm 
läßt sich die Mareysche Kapsel gut auf 0,1 und 0,05 ccm eichen !). 


Mit Hilfe dieser Methode stellten wir fest, daß kleine Cocaingaben 
eine geringe Vergrößerung der Systole ohne Veränderung der‘ Fußlinie 
der Kurve hervorrufen, während größere Konzentrationen eine sofortige 
diastolische Erweiterung des Herzens bedingen, die aber sehr bald etwas 
nachläßt. Gleichgültig, ob das 
Herz diastolisch stillsteht oder noch 
weiterschlägt, kommt es spontan 
wieder zu einem allmählichen An- 
stieg der Kurve. Jedoch erreicht 
diese mit ihrem Gipfelpunkt nach 
schädigenden Cocaingaben nie- 
mals die alte Höhe. Und auch 
die Fußlinie, die die diastolische 
Erweiterung anzeigt, bleibt unter Abb. 6. Volumenschreibung. Wirkung kleiner 
der Fußlinie der Kurve vor der sank enzentrdion 
Cocaindarreichung. Nach kurzer 
Zeit, z. B. nach Y/,,o00 Mol.-Cocainlösung, ist die Amplitudengröße fast 
ebenso hoch wie zuvor; die ganze Kurve liegt aber tiefer als vor der 
Giftdarreichung. 

Wir können also die Ergebnisse Weilers (l.c.) für die mittleren 
Konzentrationen des Cocains bestätigen, der für diese Erscheinungen 


Be 
a N | UL YOlzt strleilefel 


Abb. 7. a) Volumenschreibung. Diastolische Blähung des Herzens bei n/,,0u Cocain - HCl. 
b) Volumenschreibung. Diastolische Erweiterung und Abfall des Tonus. 


eine Verringerung der ‚Elastizität‘ im Sinne Schmiedebergs annimmt. 
Wir möchten diese Erscheinungen kurz als eine Verringerung des Herz- 
muskeltonus bezeichnen. Die sonstigen toxischen Erscheinungen, Hal- 


4) Wir haben gefunden, daß die Volumenschreibung mit der Mareyschen 
Kapsel einfacher und mindestens ebenso genau ist als mit dem uns zur Verfügung 
stehenden Pistonrekorder. 


ul 


164 M. Kochmann: 


bierung usw., konnten natürlich auch bei dieser Methode der Regi- 
strierung wahrgenommen werden. 

Zur Ergänzung wurden auch Versuche an dem in situ befindlichen 
Herzen von R. temporaria angestellt. Das Herz wurde zur Registrierung 
in der bekannten Weise nach Engelmann suspendiert und der ganze 
Frosch in einer feuchten Kammer gehalten, um die Eintrocknung des 
Herzens zu verhindern. Subeutane Injektionen von kleinen Cocain- 
dosen zeigten keinerlei Einfluß auf Frequenz und Stärke des Pulses. 
Injektion von 10 mg Cocain. hydrochl. bewirkte vorübergehende Un- 
regelmäßigkeit des Pulses. Injektion von 0,5 g Cocain pro Kilogramm 
Frosch (nach Poulsson die tödliche Dosis) bewirkte erst 2 Stunden 
nach der Einspritzung eine Halbierung des Pulses. Injektion von 20 mg 
Cocain bei einem Frosch von 17 g =1,2 g pro Kilogramm Tier — also 
eine die tödliche bei weitem überschreitende Dosis — rief schon kurze 
Zeit nach der Einspritzung Halbierung und später starke Verlangsamung 
der Pulses hervor. Ungefähr ®/, Stunden blieben die Ventrikelkontrak- 
tionen ganz aus, während die Vorhöfe noch schwach weiterschlugen. 
Das Herz stand diastolisch und straff mit Blut gefüllt still. Nach rund 
25 Minuten setzten spontan die Ventrikelkontraktionen wieder ein. 
Nach 14 Stunden schlug das Herz immer noch, wenn auch äußerst un- 
regelmäßig. Einen systolischen Stillstand haben wir auch hierbei nie- 
mals gesehen. 

Die beobachteten Wirkungen des Cocains auf das Froschherz lassen 
sich folgendermaßen erklären: 

Die Zunahme der Amplitudengröße nach kleinen Gaben dürfte un- 
gezwungen, besonders aber im Hinblick auf die Ergebnisse der Unter- 
suchungen, die ich mit Daels!) am Warmblüterherzen angestellt habe, 
dahin gedeutet werden, daß die Reizbarkeit des Ventrikels zunimmt. 

Die Verlangsa mung der Schlagfolge der Kammer bei gleichzeitiger. 
Verlangsamung des Vorhofes kann wohl auf eine beginnende Lähmung 
der Reizerzeugungsstätten zurückgeführt werden. Eine Mitwirkung des 
Vagus konnte am atropinisierten Herzen ausgeschlossen werden. 

Für die Verkleinerung der Systolengröße der Kammer muß eine 
Abnahme der Erregbarkeit des Ventrikels angenommen werden. Dies 
geht aus Versuchen an Herzen hervor, die durch die erste Stannius- 
ligatur stillgelegt worden waren und rhythmisch durch den Öffnungs- 
schlag eines Induktionsstromes gereizt wurden. Aus der Stärke des 
Reizes (Rollenabstand der sekundären von der primären Spule des 
Schlitteninduktionsapparates) läßt sich ersehen, ob die Erregbarkeit des 
Herzens zu- oder abgenommen hat. Die rhythmische Reizung wurde 
mit Hilfe eines Apparates nach Art des Ludwig-Hüflerschen Strom- 


1) M. Kochmann und F. Daels, Arch. internat. de pharmacodyn. et de 
therap. 18, 41. 1907. 


Wirkung des Cocains auf das Froschherz und seine Gewöhnung an das Gift. 165 


wählers erreicht, bei dem die Schließungsströme abgeblendet sind, so 
daß nur der Öffnungsinduktionsschlag zur Wirkung gelangt. Die eine 
Elektrode des sekundären Stromes wurde in die Ringerlösung der Herz- 
kanüle gebracht, während das Häkchen, das an der Herzspitze zur 
Übertragung der Bewegungen auf den Schreibhebel diente, als zweite 
Elektrode verwandt wurde. Ein feinster Platindraht stellte die Ver- 
bindung mit der sekundären Spule her. Bei denjenigen Konzentrationen, 
die neben Pulsverlangsamung eine Verkleinerung der Systolengröße her- 
vorrufen, mußten die Rollenabstände vermindert werden, z.B. von 
10 auf 5, ja auf O0 cm, um überhaupt Kontraktionen am Herzen hervor- 
zurufen. Es nahm also die Erregbarkeit des Herzmuskels erheblich ab. 
Durch Wechsel auf giftfreie Ringerlösung war es in allen Fällen möglich, 
wiederum eine Zunahme der Erregbarkeit festzustellen. 

Die Unregelmäßigkeit des Herzschlages, das Ausfallen von Ven- 
trikelkontraktionen bei vorhandenem Vorhofschlag, könnte einmal darauf 
zurückgeführt werden, daß Störungen im Reizleitungssystem zwischen 
Vorhof und Kammer, also im Hisschen Bündel, durch das Cocain bedingt 
werden, eine Annahme, der sich auch Rippel (l.c.) zuzuneigen scheint. 

Diese Möglichkeit konnte dadurch ausgeschlossen werden, daß die 
gleichen Störungen unter Cocainwirkung auftraten, wenn die Reiz- 
leitung zwischen Vorhof und Kammer durch die zweite Stanniusligatur 
vollkommen unterbrochen war. 


- Abb. 8. II. Stanniusligatur. Trotz dessen Halbierung, Drittlung des Kammerschlages. 


Auf der Kurve 8, die von solcher autonom schlagenden Herz- 
kammer gewonnen wurde, sieht man den Ausfall einer oder mehrerer 
Systolen und schließlich als Anfang einer Erholung: die Gruppen- 
bildung. Ein Vergleich dieser Kurven mit solchen vom nicht ligierten 
Herzen, z.B. Kurve 13 und 14 läßt bezüglich der Arrhythmie einen 
Unterschied nicht erkennen!). 


1) A. Fröhlich und E. P. Pick (Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 84, 250. 
1918) fanden, daß Cocäin 1 : 5000 sowohl das ganze Herz, wie den autonom schla- 
genden Ventrikel dauernd diastolisch stillstellen. 


166 M. Kochmann: 


Eine andere Erklärung für den unregelmäßigen Herzschlag konnte 
in der Verlängerung der refraktären Phase des Herzens gesucht werden, 
wie es Straub!) für das Antiarin und neuerdings Frey?) für das 
Strychnin festgestellt haben. 

Durch die Untersuchungen Mareys?®) und später W. Trendelen- 
burgs*) wissen wir, daß der Ventrikel während der Kontraktion un- 
erregbar ist und daß seine Erregbarkeit vom Beginn der Diastole an 
schnell wieder zunimmt. Wenn die Zunahme der Erregbarkeit, die Er- 
holung nach der Erschöpfung durch die Kontraktion im Sinne Freys, 
sehr langsam vor sich geht, so kann es sich ereignen, daß der vom 
Sinus über die Vorhöfe kommende normale Reiz nicht genügt, um den 
Ventrikel zur Kontraktion zu bringen. Die Erregbarkeit der Kammer 

läßt sich am ganzen Herzen an der Größe des Reizes ermessen, der 
_ gerade imstande ist, eine Extrasystole des schlagenden Herzens, eine 
Kontraktion des stillstehenden auszulösen. Es wurde also der größte 
Rollenabstand gemessen, bei dem durch den Induktionsschlag eines 
‚Schlittenapparates?) am nicht cocainisierten Herzen eine Extrasystole 
bedingt wird. Dann wird das Herz durch eine passende Konzentration 
von Cocain so geschädigt, daß eine oder mehrere Kammerkontraktionen 
‚ausfallen, und von neuem der größte Rollenabstand aufgesuchi, bei dem 
eine Kontraktion ausgelöst werden kann. Dabei zeigt sich nun, daß 
die Stromstärke unter Umständen gar nicht so sehr viel größer zu sein 
braucht als vorher, ja, daß sie unter Umständen gleichbleibt (Kurve 10), 
daß aber die Zeit, die zwischen einer Spontankontraktion und der künst- 
lich hervorgerufenen Systole verstreicht, sehr viel länger geworden ist. 
Mit anderen Worten: die Erregbarkeit des Ventrikels nach einer Spon- 
tankontraktion erreicht ihr Maximum sehr viel’langsamer, während 
seine Höhe unter Umständen gar nicht oder nicht viel gegenüber dem 
regelrechten Verhalten zurückbleibt. 

Auf der Abb. 9 erkennen wir, daß bei 12 cm Rollenabstand eıne Extra- 
systole sich etwa 0,85 Sekunden nach der Spontansystole hervorrufen läßt. Am 
cocainisierten Herzen ist eine. wenn auch kleinere Kontraktion bei Rollenabstand 
—=7 cm erst nach 2,85 Sekunden, im weiteren Verlauf sogar erst nach 3 Sekunden 
bei Rollenabstand — 5cm möglich. Erholt sich dann das Herz unter giftfreier 
Ringerlösung, so kann eine nunmehr größere Kontraktion schon 1,3 Sekunden 
nach der Spontansystole bei Rollenabstand — 8 cm hervorgerufen werden. 

In einem anderen Versuch war folgendes Verhalten festzustellen. Der 


Minimalreiz zur Auslösung der Extrasystole ist (Rollenabstand — 16 cm) 0,66 Se- 
kunden nach Beendigung der spontanen Systole wirksam, während nach der 


t) W. Straub, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 45, 380. 1901. 

®) E. Frey, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 8%, 377. 1920. 

3) M. Marey, Cpt. rend. hebdom. des seances de l’acad. des sciences 89, 203. 
1879. 

24) W. Trendelenburg, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 141, 378. 1911. 

°) Auf eine Eichung des Schlitteninduktoriums haben wir verzichtet. 


Wirkung des Cocains auf das Froschherz und seine Gewöhnung an das Gift. 167 
Cocainisierung der Minimalreiz bei Rollenabstand 13 cm erst 60 Sekunden nach 
der vorhergehenden Kontraktion eine Zusammenziehung hervorbringt. Bei der 


U 
j j ze 3 » n 
a) ec) d) 
Refraktärstadium durch Cocain wesentlich verlängert. a) Rollenabstand 12cm vor 
Cocainwirkung. b) R.-A.7 cm. ec) R.-A.5 cm während der Cocainwirkung. d) R.-A. Sem während 
der Erholung. Unten Zeit, darüber die Reizmarkierung. 


/ 


| 
| 


9A 


Abb. 9. 


Erholung des Herzens ließ sich die Extrasystole bei Rollenabstand — 14 cm be- 
reits wieder nach einer Sekunde hervorrufen. 


c) 
Abb.10. a) u.b) vor der Cocainisierung. R.-A. = 6 cm wirksam, 8 cm unwirksam. 
Cocainwirkung. Verlängerung der refraktären Phase. Unten Zeit. 


c) während der 
Oben Reizmarkierung. 


Um sich eine bildliche Anschauung von diesen Vorgängen machen 
zu können, haben wir versucht, 


keit graphisch darzustellen. 

Diese Abbildung veran- 
schaulicht die Verhältnisse 
des Versuches der Kurve 9. 
Durch diese quantitätiv mes- 
senden Versuche glauben wir 
den Ausfall der Ventrikel- 
kontraktionen unter Cocain- 


wirkung hinreichend erklärt 
zu haben!). 


das Stadium der Unerregbar- 


AS) 
[S,} 


= . 


o 
[Sy 


SS} 
on 


AV 
N AL 


) €) d) 

S SL Baur Abb. 11. Relative Unerregbarkeit. a) vor der Cocain- 
Eine sehr bemerkenswerte darreichung, b) u. c) während dieser, d) während der 
Erscheinung, auf die schon 


Erholung. 


I 
[S} 


x 


1 H. Straub, Deut. Arch. f. klin. Med. 123, 403, 1917 nat ähnliche Be- 
dingungen bei dem klinischen Bilde des Herzalternans zur Erklärung herangezogen. 


168 M. Kochmann: 


wiederholt aufmerksam gemacht wurde, ist die spontane Erholung 
des Herzens, obwohl die Giftlösung nicht gegen giftfreie Ringerlösung 
„ausgewechselt wurde. Es bestehen zwei Möglichkeiten, diese Erschei- . 
nung zu erklären. Einmal konnte das Cocain in der Ringerlösung bei 
schwach alkalischer Reaktion und Durchperlen von Luft zerstört 
werden. Zweitens konnte es sich aber auch um eine Gewöhnung des 
Herzens an das Gift handeln, also eine gewisse erworbene Immunität 
gegen das Cocain vorliegen. 

Die erste Möglichkeit erschien zunächst die wahrscheinlichere zu 
sein, da wir wissen, daß sich Cocainlösungen verhältnismäßig rasch zer- 
setzen. Erst jüngst hat Rippel unter P. Trendelenburg (l. c.) diese 
Verhältnisse genauer untersucht. Unsere eigenen Versuche zeigten uns, 
daß bei mehrstündigem Durchleiten von Luft, wie es ja auch bei Ver- 
suchen am Herzen geschieht, die Wirksamkeit des Cocains leidet. Das 
geht aus der Abb. 12 deutlich hervor. 

Aber unwirksam wird die Cocain-Ringerlösung auch nicht nach 
31/,stündiger Luftdurchleitung. Es wurde infolgedessen weiter unter- 


N \) A Mn 


IRREERSCELEREENEN 


a) ») 
Abb. 12. Unvollkommene Zerstörung des Cocains: a) Wirkung von A/yyooo Coc. «» HCl nach 
2t/, stündiger Luftdurchleitung. b) einer frischbereiteten Lösung. 


sucht, ob sie im Herzen schneller unwirksam gemacht wurde. Zu diesem 
Zweck wurde die Cocain-Ringerlösung, die als Füllung eines Herzens 
toxische Erscheinungen ausgelöst, bei weiterem Verweilen im Herzen 
die spontane Erholung aber nicht gehindert hatte, einem zweiten frischen 
Herzen als Füllung gegeben. Dabei zeigte sich, daß eine starke Schädi- 
gung des zweiten Herzens eintrat, wenn die Erholung beim ersten Herzen 
schon bis zur Pulshalbierung fortgeschritten war. Man gewinnt deutlich 
den Eindruck, daß das zweite Herz stärkere toxische Erscheinungen 
zeigt als es diejenigen sind, die das erste Herz bei der Entnahme der 
Füllung darbot. Es kommt beim zweiten Herzen zu Schädigungen, die 
das erste Herz bereits überwunden hat (Abb. 13a und b). 

Wird nun die Füllung des ersten Herzens zu einer Zeit entnommen, 
wo bereits Erholung eingetreten ist, die wohl als vollkommen bezeichnet 


Wirkung des Cocains auf das Froschherz und seine @ewöhnung an das Gift. 169 


werden darf, so tritt dennoch eine Schädigung des zweiten Herzens ein, 
die sich durch Pulsverlangsamung und -Verkleinerung kundgibt. Selbst- 


f N 
| KUNNNAINN IN \ 
ARNLUAEN NN Ahlaı 

DUUNLL I in (Ki) 


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| 


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Il 


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Luteaueaah 


——— 


au 
A bocain zb 


m 


verständlich überzeugten wir uns, 
daß die giftfreie Ringerlösung, die 
als Füllung eines mehrere Stunden 
schlagenden Herzens gedient hatte, 
für ein zweites Herz nicht toxisch ist. 
Aus diesen Versuchen geht also 
hervor, daß das Cocain trotz weit 
fortgeschrittener Erholung.noch nicht 
vollkommen zerstört ist. Wenn da- Abb. 18. 

her die Erholung zweifellos zum Teil 

auf die Zerstörung eines gewissen Anteils des Cocains zurückgeführt 
werden kann, so zeigt sich doch andererseits, daß sie allein zur Er- 
klärung der Erholung nicht genügt, und eine Gewöhnung des Herzens 
an das Gift sehr wahrscheinlich ist. 

Wenn nun wirklich eine Gewöhnung vorliegt, so darf bei einem 
solehen gewöhnten Herzen eine sicher schädigende Cocaingabe keine 
oder nur geringe toxische Wirkungen hervorrufen. Diese Annahme traf 
in der Tat zu, wie sich aus den Abb. 14 und 15 ergibt. 

Für die zweite Vergiftung wurde selbstverständlich die Cocain- 
lösung frisch bereitet. Um die Angewöhnung sicherer zu erreichen, 
gingen wir in manchen Versuchen so vor, daß wir das erste Herz in der- 
selben Weise, wie es früher schon auseinandergesetzt wurde, durch all- 
mählich steigende Konzentrationen bis zur eintretenden Halbierung des 
Pulses vergifteten, indem wir rasch nacheinander immer !/,, ccm .der 
.Kanülenfüllung durch !/,„eem einer passenden Cocain-Ringerlösung 
austauschten. Wenn dann die Schädigung eintrat, ließen wir das Herz 
sich erholen und ersetzten nunmehr den ganzen Inhalt durch eine Cocain- 
lösung, die der früheren Endkonzentration gleichkam, unter der Voraus- 


Mm 


ıl 


1 


| 


INN 


en — 


Cocainlösgaus: N2T 


170 M. Kochmann: 


setzung, daß eine Spaltung des Cocains überhaupt nicht stattgefunden 
hätte. Die Abb.16 gibt einen solchen Versuch wieder. 

Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß diese Gewöhnung an 
das Cocain bei Esculenten nicht ohne weiteres zu erzielen ist. Auch 
frisch gefangene Temporarien eignen sich nicht in demselben Um- 


I 


ii 
ii Il 


fange dafür wie überwinterte 
Exemplare. Aus diesem Grunde 
wurden die Versuche, die wir 
schon 1920 begonnen hatten, in 
diesem Jahre noch einmal wieder- 
holt, und zwar mit dem gleichen 
Ergebnis. Nickt belanglos ist die 
Abb. 14. a), b), c) veranschaulichen die Schä- Zeit, zu der man zum zweiten- 
digung des Herzens durch Cocain A»/jso00 und mal das Cocain darreicht. Es 
die Erholung. d) u. e) zeigen die wesentlich ge- N P 
ringere Wirkung durch eine zweite Cocainlösung war aber nicht möglich, dafür 
von gleicher Konzentration. experimentelle Unterlagen zu 
schaffen. 
Wie diese Gewöhnung zu erklären ist, darüber geben die Versuche 
keinen Aufschluß. Man könnte sich vorstellen, daß die Spaltprodukte 


Abb. 15. Gewöhnung des Herzens an Cocain. a) Wirkung von "/z3g000° Coeain HCl. b) Zweite 
Vergiftung mit der gleichen Gabe; fast keine Wirkung. 


des Cocains die Bindung des Giftes mit den giftempfindlichen Stellen 
der Zelle verhindern, indem sie diese selbst besetzt halten. Von dieser 
Vorstellung ausgehend, wurde versucht, das Herz mit den Spalt- 


Wirkung des Cocains auf das Froschherz und seine Gewöhnung an das Gift. 171 


produkten des Cocains, z.B. dem Ekgonin!) vorzubehandeln. Doch 
führten diese Untersuchungen ebensowenig zu einem Ergebnis wie der 
Zusatz von Serum, Blut, Eiweiß und Zucker, sowie Zusatz oder Entzug 


Abb. 16. Gewöhnung: a) allmähliche Steigerung der Cocainkonzentration bis zur Halbierung. 
b) Gleiche Gabe fast ohne Wirkung. | 


von Bestandteilen der Ringerlösung. Aus diesen zahlreichen Versuchen 
sei nur noch erwähnt, daß das Cocain bei Serumzusatz wesentlich 
schwächere Wirkungen ausübt als in reiner Ringerlösung und ferner, 
daß in kalifreier Ringerlösung das Herz nicht in Diastole, sondern in 
halbsystolischer Stellung zum Stillstand kommt. 


Zusammenfassung. 


l. Cocain ruft in großen Konzentrationen, Y/yy9ou Mol.-Lösung dia- 
stolischen Herzstillstand hervor, und zwar zunächst der Ventrikel, erst 
später der Vorhöfe. 

Geringere Konzentrationen bis !/y,909 Mol.-Lösung führen zu Ver- 
langsamung des Herzschlages, zu einer Verminderung der Systolen- 
größe und zum Ausfall von Kammerkontraktionen bei gleichmäßig 
fortschlagenden Vorhöfen. 

Mittlere Konzentrationen Y/,,000 — "/ıooooo? Mol.-Lösungen rufen nur 
Verlangsamung der Schlasfolge und Verkleinerung der Systolengröße 
hervor. 

Noch kleinere Konzentrationen (T/,go000 — "/s00.000) Mol. - Lösung 
können bei mäßig verlangsamter, öfter aber gleichbleibender, ja sogar 
etwas beschleunigter Herztätigkeit eine Vergrößerung der Kammer- 
amplitude bedingen. 

Geringere Konzentrationen als Y/,,,000 Normallösung sind überhaupt 
unwirksam. 


!) Ich verdanke däs Ekgonin der Liebenswürdigkeit des Herrn Professor 
J- v. Braun - Berlin. 


172 M. Kochmann: Wirkung des Öocains auf das Froschherz usw. 


2. Die beobachteten Erscheinungen: sowohl Pulsverlangsamung und 
Verkleinerung, als auch Amplitudenvergrößerung sind durch giftfreie 
Ringerlösung in weitestem Umfange reversibel zu gestalten. 

3. Auch am ganzen Frosch lassen sich durch Cocain, das in die 
Lymphsäcke injiziert wird, die gleichen Erscheinungen von seiten des 
Herzens auslösen. Der Herzstillstand ist aber selbst nach den größten 
Gaben nie systolisch, sondern immer ein diastolischer. 

4. Die Pulsverlangsamung unter Cocainwirkung wird durch eine be- 
ginnende Lähmung: der Reizerzeugung, die Verkleinerung der Ampli- 
tude durch eine Abnahme der Erregbarkeit der Kammern, der Ausfall 
von Ventrikelkontraktionen durch Verlängerung der refraktären Phase 
in quantitativ messenden Versuchen erklärt. 

5. Bei nicht zu hohen Konzentrationen von Cocain tritt eine spon- 
tane Erholung ein. Diese ist zum Teil auf eine Zerstörung des Cocains, 
zum Teil auf eine Gewöhnung des Herzens an das Gift zurückzuführen. 
Letzteres läßt sich am besten an überwinterten Fröschen nachweisen. 


Quantitative Beiträge zur Frage des Zusammenwirkens von 
Ionen und organischen Giften. 


1. Mitteilung. 


Von 
Hans Handovsky. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Göttingen.) 
Mit 1 Textabbildune. 
(Eingegangen am 5. Mai 1921.) 


Es ist in letzter Zeit viel von der Bedeutung der Ionen für die 
Wirkung von Giften die Rede. Im folgenden möchte ich an einem 
besonders günstigen Objekt zu zeigen versuchen, daß sich die Anteile, 
die Ionen und organische Gifte an einem Vergiftungsvorgang haben, 
innerhalb bestimmter Grenzen berechnen lassen. Das gewählte Bei- 
spiel ist die Hämolyse durch Saponin. Es wurden von Kaninchen 
Erythrocyten in 100 cem isotonischer Lösung 2,5 proz. Aufschwem- 
mungen gemacht, Saponin zugegeben und der Hämolysegrad be- 
stimmt; die Isotonie wurde durch Mischungen von Rohrzucker und Koch- 
salzlösungen aufrechterhalten; die Einzelheiten sind aus Abb.1zu ersehen. 


0 0002 0004 0006 0008 0,07 0012 QOrM 006 GoB 0,02 
%o Soponn 


1: 23,5 cem Blut in 100 cem 7,8°/, Rohrzucker 


1:25 ccm ,„ ,„ 96 cem 78% 8 + 4 ccm 0,9°/, NaCl 
III: 2,5 ccm FE: 90 cem 7,8°%% ab + 10 ccm 09% ,„ 
\ IV:25 ccm  „ „80 ccm 7,8% En + 20 ccm 09% 
- V22b cm. „ 40 cem 7,8%, > + 60 ccm 09%, 
VI:25ccm „ „ 0 ccm 78%, 2 + 100 ccm 0,9%, ,„ 
VIT:2,5°cem , . .0’ccm 728%, ‚+ 100 ccm 36%, » 


7A H. Handovsky: Quantitative Beiträge zur Frage 


Aus der Abbildung geht ohne weiteres hervor, daß das Saponin 
in der Rohrzuckerlösung wesentlich weniger wirksam ist, als in den 
verschieden konzentrierten Salzlösungen, und daß die Steigerung der 
Hämolyse in den Salzlösungen mit zunehmender Salzkonzentration 
zunimmt. Es läßt sich nun sehr einfach berechnen, daß diese Steige- 
rung der Hämolyse durch das Salz — innerhalb gewisser Grenzen — 
der Salzkonzentration direkt proportional ist. Was zunächst diese 
Grenzen anlangt, so sind sie dadurch gegeben, daß die Hämolyse 
kein einheitlicher Vorgang ist; der Verlauf der. Hämolyse mit zuneh- 
mender Konzentration des Hämolytikums hängt vielmehr nicht allein 
von der letzieren, sondern auch von der verschiedenen Giftempfindlich- 
keit verschieden alter Blutkörperchen in einer Blutprobe ab!), so daß 
Beginn und Ende der Hämolysekurven unregelmäßig verlaufen. Für 
die folgenden Berechnungen wurden daher nur jene Kurvenstücke 
aus den Hämolysekurven ausgewählt, innerhalb derer eine regelmäßige 
Abhängigkeit von Konzentration und Wirkung zu beobachten war 
(vgl. Tabelle). Geht man bei der Berechnung von der Saponinhämolyse 
in isotonischer Rohrzuckerlösung aus, dann bewirkt jeder Ersatz von 
Zuckerlösung durch das gleiche Volum isotonischer Salzlösung, also 
jeder Salzzusatz, eine Steigerung der Wirkung der gleichen Saponin- 
konzentration; diese Steigerung ist der Salzkonzentration 
proportional. Bezeichnet man den Hämolysegrad in der Rohrzucker- 
lösung mit H,, den in einer NaCl-Lösung, die in 100 cem ce Millimole 
Salz enthält, mit 4, die Gesamtkonzentration des Saponins in Pro- 
zenten mit 8, den Schwellenwert der Wirksamkeit des Saponins für 
die betreffende Blutkörperchenmenge mit S,, dann gilt zunächst die 
Beziehung H — H,=k-c, und zwar ist, wie sich leicht berechnen 
läßt, HZ — H, für 0,006°/,, Saponinlösung 3, für 0,010°),, 13, für 
0,012 °/,, 18, für 0,014°/,, 23 usw. Innerhalb der untersuchten Grenzen 
entspricht also einer Zunahme von S um 0,002°/,, eine Zunahme von 
k um 5. Durch Extrapolation dieser Reihen kommt man zu einem 
Nullwert für k, bei dem also Salzzusatz keine Steigerung der Wirkung 
hervorruft; dieser Wert liegt bei 0,0048°/,, Saponingehalt; es muß 
das wohl der Schwellenwert der Saponinwirkung, wenigstens für jene 
überwiegende Mehrzahl der Erythrocyten sein, für deren Auflösung 
der zugrunde gelegte regelmäßige Verlauf der Hämolyse gilt. Wir 
können also für die Saponinhämolyse folgende Gesetzmäßigkeit for- 
mulieren, die wohl für jede Wirkung organischer Gifte gelten wird, 
bei der eine regelmäßige Abhängigkeit zwischen Konzentration und 
Ausmaß der Wirkung besteht: Das Ausmaß einer Giftwirkung 
auf Zellen, die sich in einer salzhaltigen (physiologischen) 


1!) Vgl. Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 69, 412. 1912, woselbst die Ver- 
suche näher beschrieben sind. 


175 


des Zusammenwirkens von Ionen und organischen Giften. I. 


Umgebung befinden, setzt sich zusammen aus dem Aus- 
maß der Wirkung der gleichen Giftmenge, wenn keine 
Salze zugegen sind, und einem Werte, der dem Produkt 
aus der Salzkonzentration und der „Wirkungskonzentra- 
tion“ des Giftes (Gesamtkonzentration minus Schwellen- 
wert) proportional ist. Für unser Beispiel der Saponinhämolyse 
ergibt sich demnach folgende Formel: H — H, =k, : ($S — 8,)  k, be- 
rechnet sich zu 2500 (vel. Tabelle). 


0,006 °/,, Saponin 0,010 °/,, Saponin 0,012°/,, Saponin 0,014 °/,, Saponin 
H = H, + 2500 cs H = H, + 2500 c, H =H, + 2500 cs; H = H, + 2500 c, 
Ent- Millimole + (0,006 — 0,0048) - (0,010 — 0,0048) - (0,012 — 0,0048) « (0,014 — 0,0048) 
spricht | NaCl in t =8c, —=18@, —=18.c, —I23ICH 
‘Nr. in 100 cem LÄREENEESRE KO] RR ET ER MEN ES ER Fr RE ae] | ee 
‚Abb.1 ICH H ge- H be- H ge- H be- H ge- H be- H ge- H be- 
funden rechnet funden rechnet funden rechnet funden rechnet 
| % % Gel 2% 2 ER NRT % % 
I 0 ln Et sn= 8 En) kn ll En 13 ED, ml 
II 0,615 — — 18 1 24 23.1 30 28,1 
LI 1,54 8 8,6 27 29 39 39,7 47 49,4 
IV 3.08 12 13,3 51 49 70 67,4 — _ 
V 9,24 32 31,7 = - — — 2 = 
VI | 15,40 50 50,2 | a ze Zn 


Wie man sieht, ergibt sich eine sehr schöne Übereinstimmung für 
die berechneten und gefundenen Hämolysegrade. Die Gesetzmäßigkeit 
gilt, wie schon erwähnt, nicht für jene Teile der Hämolysekurven, die 
noch nicht genauer definierbare Abweichungen von einem regelmäßigen 
Verlauf zeigen; es sollte ja hier auch keine Analyse der Saponin- 
hämolyse gegeben, sondern darauf hingewiesen werden, daß bei einem 
sehr einfachen Vergiftungsvorgang, der in dieser Ein- 
fachheit selten zu beobachten sein wird, wohl aber, über- 
deckt durch mannigfache interferierende Prozesse, den 
Stoffwechselerscheinungen, bei denen es sich um eine 
Bindung organischer Substanzen an die Zellen handelt, 
zugrunde liegen dürfte, die abgeleitete gesetzmäßige Ab- 
hängigkeit der Giftwirkung von der Konzentration der 
gegenwärtigen Salze und der „Wirkungskonzentration “ 
des Giftes besteht. Die Bedeutung dieser ‚Wirkungskonzentration“ 
für den Vergiftungsvorgang, sowie ihre allgemeine Gültigkeit, bedarf 
noch einer physikalisch-chemischen Analyse. Ihre hier für die Hämo- 
lyse mathematisch abgeleitete Bedeutung mag aber als Bestätigung 
der Versuche W. Straubs!) gelten, der wohl zuerst nachgewiesen hat, 
daß Zellen Substanzen in beträchtlichem Maße speichern können, ohne 
irgendwie geschädigt öder funktionell verändert zu werden und ebenso 


1) Arch. di fisiol. 1, 55. 1908. 


176 LH. Handowsky: Beiträge des Zusammenwirkens von Ionen und Giften. I. 


als Bestätigung der Auffassung von H. H. Meyer!) über den Zu- 
sammenhang von Gesamtkonzentration und Wirkungskonzentration 
eines Giftes. 

Die oben abgeleitete Gesetzmäßigkeit, die den Salzen eine be- 
stimmte Bedeutung bei dem Ablauf einer Vergiftung, und vor allem 
für das Ausmaß der Wirkung einer Giftkonzentration zuschreibt, er- 
innert an die Erscheinung der Adsorptionsverstärkung in wässrigen 
Lösungen, die G. Wiegner, J. Magasanik und A.J.Virtanen?) in 
einer ausgezeichneten Arbeit ausführlich untersucht haben, deren 
Kenntnis auch .die obigen Berechnungen veranlaßt hat. Nach diesen 
Autoren wird die Adsorption von organischen Substanzen, besonders 
von Fettsäuren an Tierkohle, durch Salze wesentlich erhöht; die Er- 
höhung ist der Salzkonzentration proportional; eine Abhängigkeit der 
Adsorptionsverstärkung von der Konzentration des Adsorbendum ließ 
sich bei den Versuchen Wiegners und seiner Mitarbeiter nicht auf- 
finden. Wohl aber gelang ihnen einwandfrei der Nachweis, daß die 
durch Fettsäuren bekanntlich hervorgerufene Erniedrigung der ÖOber- 
flächenspannung an der Grenzfläche Wasser— Luft durch Neutralsalze 
in dem gleichen Ausmaß wie die Adsorption an Tierkohle gesteigert 
wird; die Autoren kamen so zu dem Schluß, daß die die Oberflächen- 
spannung erhöhende Wirkung der Salze eine wesentliche Ursache der 
Adsorptionsverstärkung ist. Ebenso ist wohl anzunehmen, daß für 
eine Saponinhämolyse eine bestimmte Größe der Oberflächenspannung 
der Blutkörperchen nötig ist?), von der das Ausmaß des zunächst wohl 
mechanisch gebundenen Giftes abhängt. Inwieweit auch die Hydra- 
tation an diesen Vorgängen beteiligt ist?), müssen weitere Unter- 
suchungen ergeben. Ferner bedarf es einer genaueren Spezifizierung 
des Proportionalitätsfaktors 2500; da sich die Ionen bei der Adsorp- 
tionsverstärkung zu der lyophilen Hofmeisterschen Reihe anordnen, 
ist anzunehmen, daß sie auch die Saponinhämolyse in ähnlicher Weise 
fördern werden. Das soll in einer nächsten Arbeit untersucht werden. 


1) H.H. Meyer in Meyer-Gottlieb, Experimentelle Pharmakologie. 
5. Aufl., S. 632. 1921. 

2) Kolloid-Zeitschr. 28, 51—77. 1921. 

3) Ich habe dies in der zitierten Arbeit bereits als Erklärung herangezogen; 
die direkten Oberflächenspannungsmessungen Wiegners verleihen den dortigen 
Ausführungen eine größere Wahrscheinlichkeit. Übrigens steht in der zitierten 
Arbeit auf S. 426, zweimal, Zeile 13 und 16 von oben versehentlich Verminderung 
der Oberflächenspannung statt Erhöhung, was hiemit korrigiert sei. 


Ein photochemisches Modell der Retina. 


Von 
Fritz Weigert. 


Mit 3 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 21. Juni 1921.) 
$ 1. Einleitung. 


Die Frage, durch welchen Mechanismus im Auge die verschiedenen 
Farben und Helliskeitsstufen des von der Linse entworfenen reellen 
Bildes der Außenwelt auf der Retina in Licht- und Farbenempfindungen 
umgewandelt wird, ist noch nicht gelöst. Dies hat seinen Grund zunächst 
in der äußerst schwierigen experimentellen Behandlung des Problems 
am lebenden Objekt, dann aber vor allen Dingen darin, daß auch in viel 
einfacheren Fällen in der unbelebten Materie der Mechanismus der 
Umwandlung der Strahlung, um die es sich bei jeder Lichtwirkung han- 
deln muß, noch sehr ungeklärt ist, so daß eine Übertragung auf ein sehr 
kompliziertes lebendes Objekt zu unsicheren Folgerungen führen würde. 

Die Lichtempfindungen sind in allen normalen und nicht patho- 
logischen Fällen so zwangsläufig mit dem Eintreten von Strahlung in 
das Auge verbunden, und sie lassen sich so spezifisch durch Variationen 
der Intensität und Natur des Lichtes beeinflussen, daß nicht daran 
gezweifelt werden kann, daß die ersten Wirkungen des Lichtes in den 
lichtperzipierenden Teilen der Retina rein physikalische oder chemische 
sind und daß das eigentliche für den lebenden Organismus Charakte- 
ristische erst bei der Verarbeitung der ersten Lichtwirkungen zu einer 
Licht- oder Farbenempfindung in einem späteren Zeitpunkt eingreift. 
Der Sehvorgang ist daher, wie vielleicht kein anderer Prozeß im lebenden 
Organismus, ganz scharf zu trennen in einen Physikalischen und Che- 
mischen und einen Biologischen Teilprozeß und die ganz besonders 
feine Abstimmung beider Teile aufeinander wird vielleicht den besten 
Einblick in die unbekannten biologischen Vorgänge vermitteln. 

In richtiger Erkenntnis der Tatsache, daß nur durch eine Umformung 
der Strahlungsenergie eine Zustandsänderung im Auge eintreten kann, 
die als Licht empfunden wird, bewegen sich die meisten Untersuchungen 
zur Aufklärung des Sehvorganges in photochemischer Richtung. Und 
zwar sucht man die Erfahrungen der Photochemie auf das Auge zu 
übertragen. Die Entdeckung des Sehpurpurs und seiner Veränderung 

“durch Boll und Kühne, die Möglichkeit Optogramme herzustellen, die 

Pflügers Archiv fi. d. ges. Physiol. Bd. 190. 12 


178 F. Weigert: 


Veränderung der elektrischen Bestandsströme im Auge durch schwächste 
Lichteindrücke, die von Holmgren entdecktund von Garten eingehend 
untersucht wurden, leiteten ganz von selbst zu Vergleichen mit der 
Lichtempfindlichkeit der Farbstoffe, mit den photographischen Pro- 
zessen und mit den photogalvanischen Erscheinungen. Diese Beispiele 
seien nur genannt, um die Richtung der ungeheuren und ausgezeichneten 
Arbeit zu zeigen, die von biologischer Seite hier geleistet ist!). 


$ 2. Die Eigenart des Problems. 


Wenn der Verfasser als Nichtbiologe und Photochemiker Bedenken 
hat, ob hier überhaupt ein Erfolg zu erwarten ist, so richten diese sich 
nur dagegen, daß die Vergleichsobjekte nicht geeignet erscheinen, da 
sie bei kritischer Betrachtung ebenso unaufgeklärt sind, wie die bio- 
logischen Lichtwirkungen selbst. Und dann, daß die charakteristischen 
Lichtwirkungen im Auge, die spezifische Reaktion auf jede Farbe, 
gepaart mit einer sehr großen Lichtempfindlichkeit bei den Vergleichs- 
objekten unbelebter Art bis jetzt überhaupt kaum bekannt ist. 

Ein Farbstoff verändert sich nur in solchem farbigen Licht, das 
dem Spektralgebiet seiner Absorptionsbande entspricht. Aber jede Farbe 
innerhalb dieser Bande wirkt in derselben Weise beschleunigend im Sinne 
einer chemischen Zersetzung des Farbstoffes, bei der meistens der 
Sauerstoff irgendwie beteiligt ist. Eine auf alle Farben abgestimmte 
Reaktion kann nur in einem schwarzen Farbstoff oder Farbstoffgemisch 
stattfinden, wie es ja in dem sog. photographischen Ausbleichverfahren 
zur Abbildung der natürlichen Farben tatsächlich verwendet wird. 
Nun enthalten aber die Stäbchen kein solches schwarzes Farbstoff- 
gemisch, sondern nur den Sehpurpur mit seinem Absorptionsgebiet 
zwischen orange und grün und die eigentlich farben-perzipierenden 
Zapfen sind praktisch farbstoffrei. Diese letzte Eigenschaft der Zapfen- 
außenglieder ist besonders auffallend, denn eine große Lichtempfindlich- 
keit ist in allen bekannten einfachen photochemischen Reaktionen mit 
einer starken Lichtabsorption verbunden. So geht ja bei den photo- 
graphischen Platten die Steigerung der Lichtempfindlichkeit bei der 
Reifung mit der Absorption Hand in Hand. Hier haben wir nun ein 
enorm lichtempfindliches praktisches durchsichtiges Medium! 

Auch die photoelektrischen und photogalvanischen Erscheinungen, 
welche man mit Sicherheit in den Aktionsströmen vor sich hat, sind für 
die verschiedenen Farben nicht spezifisch qualitativ, sondern nur quanti- 
tativ verschieden, man erhält immer einen elektrischen Strom, der sich nur 
in bezug auf die Stärke und Richtung unterscheidet. Also auch hier 


1!) Vgl. hierzu die Zusammenstellung von Garten im Handbuch der ges. 
Augenheilkunde von Graefe-Saemisch, 128. u. 129. Lieferung, S. 146—250. 1908. 


Ein photochemisches Modell der Retina. 179 


können wir keine Aufschlüsse für die qualitativ verschiedenen Farben- 
empfindungen erwarten. 

Wenn man endlich zu der einfachsten Grunderscheinung zurück- 
geht, welche nach den heutigen physikalischen Kenntnissen jede Strah- 
lungsumformung einleitet, der durch das Einsteinsche photochemische 
Äquivalentgesetz geforderten quantenhaften Aufnahme der Strahlung, 
so können wir wohl mit Sicherheit sagen, daß sie auch bei dem primären 
Vorgang bei der Lichtwirkung im Auge eintritt, aber wir haben dadurch 
nicht viel gewonnen. 

Das Einsteinsche Gesetz sagt aus, daß sich die Strahlungsenergie nur 
in Form kleiner unteilbarer Mengen, den Energiequanten, in andere 
Energieformen umsetzen kann, und daß diese Quanten für jede Wellen- 
länge eine ganz bestimmte Größe E, haben. Sie sind nach der Theorie 
von Planck umgekehrt proportional der Wellenlänge oder direkt 
proportional der Schwingungszahl » des Lichtes 

3, 0 
wo h die Planeksche Konstante mit dem Zahlenwert 6,54 10-27 ist. 
Hier haben wir allerdings eine spezifisch von der Farbe abhängige Größe, 
aber nach ihrer Umwandlung ist sie auch gewissermaßen wieder un- 
persönlich geworden, und kann nur in quantitativen Unterschieden der 
Temperaturerhöhung, der chemisch umgesetzten Stoffmengen oder von 
Elektronengeschwindigkeiten !) zum Ausdruck kommen. Die wunder- 
bare Erscheinung, warum z. B. Licht von der Wellenlänge 600 au mit 
einem Enersiequant Z, von 3,28-10-12 und Licht von der Wellenlänge 
500 uu mit einem Energiequant Z, von 3.93- 10-12 zwei in keiner Weise 
vergleichbare Empfindungen des Orange und Blaugrün in uns auslösen, 
kommt in dem quantitativen Verhältnis 5:6 der Energieelemente in 
keiner Weise zum Ausdruck. ’ 

Im folgenden sollen die Ergebnisse einer neueren photochemischen 
Untersuchung kurz mitgeteilt werden, weil sie geeignet sind, 
gewissermaßen modellmäßig einen Einblick in die Lichtwirkung beim 
Sehvorgang zu vermitteln. Es gelang nämlich, sehr lichtempfindliche, 
praktisch farblose Systeme näher kennenzulernen, welche spezifisch 
auf die verschiedenen Farben reagieren. Es wird so vielleicht möglich 
sein, experimentell in die analogen Vorgänge im. Auge eingreifen zu 
können. 


$ 3. Die Farbenanpassungen der Silberverbindungen. 


Auf die Angabe der speziellen experimentellen Anordnungen und 
der theoretischen Überlegungen, welche zur Sicherstellung der Ergeb- 


!) Auf den von derjWellenlänge des Lichtes abhängigen Elektronengeschwin- 
diskeiten beruht eine neue Theorie des Farbensehens von J. Joly. Vgl. Anm. 
am Schluß. 

125 


180 F. Weigert: 


nisse geführt haben, muß an dieser Stelle verzichtet werden, da sie in 
ausführlichen Mitteilungen in physikalischen und chemischen Zeit- 
schriften niedergelegt sind!). Hier sollen nur die Ergebnisse mitgeteilt 
werden, soweit sie auf das speziell interessierende biologische Problem 
Anwendung finden können. 

Um diese aber verständlich erscheinen zu lassen, muß zunächst mit 
wenigen Worten auf eine etwas fernerliegende photochemische Er- 
scheinung eingegangen werden, die chemisch in keiner Weise mit den 
Vorgängen im Auge verglichen werden kann. Es handelt sich um die 
schon über 100 Jahre alte Entdeckung Ritters und Seebecks?), daß 
Chlorsilber, welches sich im Licht dunkel gefärbt hat, die Eigenschaft 
angenommen hat, die Spektralfarben annähernd richtig wiederzugeben. 
Diese ‚„‚Farbenanpassung‘‘ hat häufig das große Interesse der Physiker 
und Chemiker gefunden und die gewissermaßen abschließenden Unter- 
suchungen Wieners?) haben gelehrt, daß die Farben wirkliche ‚Kör- 
perfarben‘“ sind und keine ‚Schillerfarben‘ oder Farben dünner Blätt- 
chen, wie sie in den Farben der Seifenblasen bekannt sind. Über 
die chemische Natur der farbigen Stoffe haben die Untersuchungen 
Lüppo-Cramers?) und Reinders) insofern Klarheit gebracht, als 
diese beiden Forscher feststellten, daß die sog. Photochloride, welche man 
als definierte chemische Verbindungen in den farbigen Systemen vor sich 
zu haben glaubte, in Wahrheit als Adsorptionsverbindungen von Silber 
an Chlorsilber in wechselnden Mengenverhältnissen aufzufassen sind $). 

Die Farbenanpassung der Photochloride ist eine spezifische Wirkung 
der verschiedenartigen Strahlungen, d.h. rotes Licht, welches die Systeme 
rötlich färbt, hat eine qualitativ andere Wirkung als grünes Licht, das 
eine grünliche Nuance hervorruft. Durch eine quantitative Ver- 
änderung der Stärke der einen Wirkung können wir niemals das Resultat 
der andersfarbigen Erregung erhalten. 


$4. Die spezifischen Wirkungen des polarisierten Lichtes. 


Es gelang dem Verfasser zu zeigen, daß die spezifische Wirkung der 
verschiedenen Strahlenarten eine noch viel feinere ist, als sie in der 
Farbenanpassung zum Ausdruck kommt, wenn man die Photochloride 
nicht mit natürlichem, sondern mit linear-polarisiertem farbigen Licht 


!) Fritz Weigert, Verhandl. d. dtsch. physik. Ges. %1, 479, 615, 623. 1919. 
— Zeitschr. f. Physik 2, 1; 3, 437. 1920. — Kolloid-Zeitschr. 28, 115, (mit Hans 
Pohle) 153. 1921. und besonders: Ann. d. Physik 63, 681. 1920 und Zeitschr. 
f. Physik 5, 410. 1921. Kurze Zusammenfassung: Naturwissenschaften 9, 
583; 1921. 

?) Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, II. Teil, Naturwiss. Schriften 4, 338. 

3) OÖ. Wiener, Wied. Ann. 55, 225. 1895. 

*2) Lüppo-Cramer, Kolloid-Zeitschr. 8, 42, 97. 1911. 

>) Reinders, Zeitschr. f. physik. Chemie %%, 213, 356, 677. 1911. 
6) Weitere Zitate in den in diesem Abschnitt angeführten Arbeiten. 


Ein photochemisches Modell der Retina. 181 


erregte. Das Licht, welches von einer beliebigen Lichtquelle, von der 
Sonne, von Flammen oder glühenden Körpern ausstrahlt, ist ‚‚natürlich‘“ 
d.h. die von ihr ausgehenden transversal schwingenden Lichtwellen, 
bevorzugen keine bestimmte Richtung senkrecht zum Lichtstrahl. Im 
Gegensatz zum natürlichen schwingt das linear-polarisierte Licht in einer 
ganz bestimmten Richtung senkrecht zum Strahl. Man kann daher 
von einer senkrechten und horizontalen Schwingungsrichtung des 
Lichtes sprechen. 

Es zeigte sich nun, daß eine Photochloridschicht verschiedene 
Eigenschaften annahm, je nachdem man sie mit senkrecht oder hori- 
zontal polarisiertem farbigen Licht bestrahlte. In beiden Fällen unter- 
schied sich die Strahlung nur durch die Schwingungsrichtung, Farbe 
und Intensität blieben ungeändert. Es ergab sich daher auch nur ein 
Unterschied in der Richtung, der durch Betrachten mit einem Polari- 
sator erkannt werden konnte. Die Schicht hatte die Eigenschaften 
eines doppelt-brechenden Krystalls angenommen, sie war anisotrop 
und dichroitisch geworden, und die optische Achse fiel mit der Schwin- 
gungsrichtung des Lichtes bei der Erregung zusammen. Die Schicht 
hat sich also nicht nur an die Farbe, sondern auch an die Schwingungs- 
richtung der erregenden Strahlung spezifisch angepaßt. 

Diese neu aufgefundene Möglichkeit, die Polarisationsebene des 
Lichtes photographisch festzulegen, hat im Verlauf der Untersuchungen 
einige theoretische Einblicke in den Mechanismus der Strahlungs- 
umformungen ermöglicht, auf die am Schluß des $ 5 kurz eingegangen 
werden soll. Vor allen Dingen aber erlaubte sie ganz neue Methoden, 
die zum Teil der Krystallphysik entnommen sind, auf die Unter- 
suchung der Erscheinungen der Farbenanpassungen anzuwenden, so 
daß es möglich war, die Empfindlichkeit der Messungen auf fast den 
hundertfachen Betrag gegen früher zu steigern. 


$ 5. Physiologische, photometrische und dichrometrische 
Farbenanpassungen. 


‘Die neuen, auf die Farbenanpassung der Photochloride angewen- 
deten Methoden zeigten, daß die wirkliche Entstehung neuer Farben 
in den rötlichblauen Photochloriden, die man als eine ‚physiologische 
Farbenanpassung‘ bezeichnen kann, sehr grob und unscharf ist. 
Es findet erst bei längerer Belichtung eine nur geringe Änderung der 
Farbennuance in Richtung auf die Farbe des erregenden Lichtes statt, 
die nur im Rot gut ist. 

Als einen Vorläufer dieser physiologischen Farbenanpassung kann 
man eine „photometrische Farbenanpassung‘“ auffassen, bei 
der die Absorptionsänderungen in den verschiedenen Farben zu schwach 
sind, um dem Auge als Nuancenänderung zu erscheinen. Sie lassen 


182 F. Weigert: 


sich mit der Meßgenauigkeit der gewöhnlichen Photometer quantitativ 
feststellen. In den Teilbildern der Abb. 1 sind die Ergebnisse an drei 
Photochloridschichten auf Glas graphisch wiedergegeben, die mit dem 
König - Martensschen Spektralphotometer gewonnen worden sind. 
Sie geben den spektralen Verlauf der Extinktion Z oder des Logarithmus 

des Verhältnisses des eintreten- 


&n den und durchgelassenen Lichtes 

[Z [E = log I,//] vor und nach der 
Da Erregung der Schichten mit 
Ev rotgelbem, grünem und blauem 


Licht wieder. 

Man ersieht aus den drei 
Diagrammen, in denen die Ex- 
tinktionskurven vor der Erregung 
stark eingetragen sind, die früher 
noch nicht bekannte Tatsache, die 
als ‚„Absorptionsverschiebung‘‘ 
bezeichnet wurde, daß mit einer 
verstärkten Durchlässigkeit für 
die Farbe des Erregungslichtes, 
der eigentlichen ‚‚photometri- 
schen Farbenanpassung‘‘, eine 
verstärkte Absorption für die 
erregungsfremden Farben Hand 
in Hand geht. Die neuen opti- 
schen Eigenschaften der Schich- 


& 
& ten sind für jede Farbe ganz 
Blau spezifische, die sich ohne Strah- 
10 lung nicht ineinander überführen 
"600 500. WOLLLL 


lassen. 

In der folgenden Tabelle I 
sind die Messungen der Abb. 1 noch einmal in der Weise eingetragen, 
daß für die drei Erregungsfarben Orange, Grün und Gelb das Verhältnis 
der Extinktionen nach und vor der Erregung (Z,/E,) für die drei 
Meßfarben Gelb, Grün und Blau ausgerechnet ist. 


Tabelle I. 


Meßfarben 
Gelb | Grün | Blau 


Erregungsfarben | 
I 


oo ee | 0 | 1: | 1,41 
E,:E,Grün .| 1,10 | 094 | 1,07 


| 


E,:E,Blau .| 1,29 | 111 


‚0,94 


Ein photochemisches Modell der Retina. 183 


Es geht aus der Tabelle hervor, daß durch die Absorptionsverschie- 
bung immer dann, wenn die Erregungs- und Meßfarben übereinstimmten, 
das Verhältnis kleiner als 1 war, was einer verstärkten Durchlässig- 
keit entspricht, in allen anderen Fällen ist es größer als 1, d.h. die 
Absorption ist verstärkt. 

Die quantitative Messung des Dichroismus mittels eines sehr emp- 
findlichen ‚Dichrometers‘“ nach Erregung der Schichten mit linear- 
polarisierter farbiger Strahlung ergab nun auch die Existenz einer 
„dichrometrischen Farbenanpassung‘“, die etwas eingehender 
definiert werden muß. 

In der Krystallphysik bezeichnet man mit ‚Dichroismus‘‘ gewöhn- 
lich die Eigenschaft zahlreicher gefärbter Mineralien beim Betrachten 
in verschiedenen Lagen verschiedene Farben zu zeigen. Es hat dies 
seine Ursache darin, daß die absorbierenden Eigenschaften der doppelt- 
brechenden Krystalle für verschiedene Schwingungsrichtungen des 
Lichtes verschieden sind. Die Unterschiede bei den dichroitischen 

- Krystallen lassen sich besonders deutlich machen, wenn man sie mit 
einem Nikolschen Prisma beobachtet, welches nur eine Schwingungs- 
richtung des Lichtes hindurchtreten läßt. Der Krystall nimmt dann 
beim Drehen des Nikols verschiedene Farben an. Die Bezeichnung 
Dichroismus ist meistens nicht ganz richtig, da häufig mehr als zwei 
verschiedene Farben beobachtet werden. So zeigen zum Beispiel die 
optisch zweiachsigen gefärbten Krystalle, die also nicht regulär qua- 
dratisch oder hexagonal sind, in drei senkrecht zueinander stehenden 
Schwingungsrichtungen des Lichtes drei verschiedene Absorptionen 
und Farben. In den Zwischenlagen können noch Mischfarben auftreten. 
Man spricht daher auch von Tri- und Polychroismus. 

Die mit polarisiertem Licht erregten Photochloride zeigen nun 
auch im linear-polarisierten Licht je nach der Stellung des Beobachtungs- 
nikols verschiedene Farben, die dadurch genau analysiert werden konn- 
ten, daß für verschiedene Spektralgebiete das Verhältnis der durch- 
gelassenen Lichtintensitäten gemessen wurde, welche in zwei senkrecht 
zueinander polarisierten Schwingungsrichtungen durch die auf Glas 
präparierten Photochlorid-Gelatineschichten hindurchgelassen wurden. 
Nach der elektromagnetischen Theorie des Lichtes schwingen die 
elektrischen und magnetischen Vektoren der elektromagnetischen Licht- 
welle in zwei zueinander senkrechten Richtungen, die ihrerseits senk- 
recht zur Strahlrichtung orientiert sind, und die Versuche von Wiener 
haben gezeigt, daß die ‚„Schwingungsrichtung‘“ des Lichtes mit dem 
elektrischen Vektor übereinstimmt. 

Wenn man die lichtempfindliche Schicht z. B. mit senkrecht schwin- 
gendem roten Licht erregt, so sei die in dieser Richtung nachher bei der 

"Beobachtung hindurchgelassene Lichtintensität mit /, und die dazu 


184 F. Weigert: 


senkrechte mit /,, bezeichnet. Wenn nun /, größer als J,, ist, oder der 
log I,/I, positiv, dann sieht die Schicht gegen einen weißen Hinter- 
grund in der e-Richtung mehr rot aus, als in der m-Richtung, und 
wir können von einer dichrometrischen Anpassung an die rote Farbe 
sprechen. 

Es hat sich nun gezeigt, daß der Dichroismus, dessen quantitatives 
Maß für jede Farbe ganz analog wie die Extinktion der Zahlenwert . 
von log I,/I,, ist, in den ersten Stadien der polarisierten Erregung mit 
einfarbigem Licht immer am größten für die Erregungsfarbe selbst 
ist, und für die anderen erregungsfremden Farben sogar negativ werden 
kann. (Dichrometrische Verschiebung). Es findet also eine scharfe 
dichrometrische Anpassung an jede Farbe statt. Die spektrale Ver- 
teilung des Dichroismus ist also ganz spezifisch abhängig von der Farbe 
des erregenden Lichtes und es ist nicht möglich, durch Veränderung 
der Stärke oder Einwirkungsdauer eines bestimmten farbigen Lichtes 
die dichrometrischen Kurven zu erhalten, welche zu einer anderen 
Farbe gehören. 

Diese vielleicht etwas ungewohnte Untersuchungsart der Objekte 
hat sich deshalb als sehr wertvoll erwiesen, weil die quantitative 
Messung des Dichroismus ganz besonders exakt durchzuführen ist. Es 
konnten so Lichtwirkungen, welche kürzer als !/,, Sekunde waren, 
quantitiativ über das ganze Spektrum analysiert werden, und man kann 
“auf diese Weise noch Strahlungseffekte direkt erkennen, welche sich 
sonst nur indirekt durch photographische oder elektrische Methoden 
feststellen ließen!). 

Die Wirkung auf die rötlichblauen Photochloride ist nicht für alle 
Spektralfarben gleich stark. Sie ist im Blau und Violett sehr schwach, 
nimmt über Grün und Gelb zum Rot zu und wird nach dem Ultrarot 
wieder schwächer. Die Tatsache, daß die Erscheinung der dichrom-. 
metrischen Farbenanpassung fast nur auf das sichtbare Spektralgebiet 
beschränkt ist und in bezug auf die spektrale Verteilung der Stärke 
annähernd parallel mit der physiologischen Empfindlichkeitskurve des 
Auges läuft, muß zunächst in Anbetracht der vollkommenen che- 
mischen Verschiedenheit der betrachteten Systeme als zufällig hinge- 
stellt werden. 

Die Untersuchung der verschiedenen Farbenanpassungen der Photo- 
chloride mit den neuen empfindlichen Methoden hat folgende Resultate 
ergeben: Die Veränderungen spielen sich in sehr kleinen Molekül- 
komplexen ab, deren Größe unterhalb der ultramikroskopischen Auf- 
lösungsgrenze liegt. Die Farbenänderungen sind nicht durch chemische 
Umwandlungen bewirkt, da die Menge des vorhandenen Silbers un- 


!) Die Veränderungen sind in zahlreichen Diagrammen in den eingangs zitier- 
ten Abhandlungen wiedergegeben. 


Ein photochemisches Modell der Retina. 185 


verändert bleibt; dagegen sind sie auf die häufig beobachteten Farben- 
änderungen in dispersen Systemen zurückzuführen. 

Die große Variabilität der Farben- und Richtungsanpassung läßt 
sich durch die Annahme deuten, daß die räumliche Lagerung der zahl- 
reichen in einem derartigen amikroskopischen Teilchen vorhandenen 
Chlorsilber- und Silbermoleküle durch das Licht veränderlich ist. Und 
zwar finden durch die polarisierte einfarbige Strahlung zunächst 
Elektronenverlagerungen statt, die in bestimmter Weise zur Schwin- 
sungsrichtung des Lichtes orientiert sind. Hierdurch werden sekundär 
mechanische Verschiebungen in bestimmter Richtung und je nach 
der Erregungsfarbe in verschiedenen Zonen des Teilchens hervorgerufen. 
Die dadurch bewirkten kleinsten Druck- und Zugwirkungen lassen sich 
durch die Untersuchung der Doppelbrechung indirekt nachweisen. 

Alle diese Veränderungen treten in natürlichem Licht genau in der 
gleichen Weise ein. Nur wird hier keine bestimmte Richtung bevorzugt, 
wodurch die genaue optische Analyse erschwert wird. Die Erregung 
mit polarisiertem Licht bedeutet in diesen Fällen also hauptsächlich 
eine feinere analytische Methode. 


$6. Gerichtete Lichtwirkungen in Farbstoffschichten. 


Die genauere Untersuchung zahlreicher lichtempfindlicher Systeme 
mit polarisiertem Licht hat nun ergeben, daß die gerichteten Wirkungen 
nicht auf die Photochloride beschränkt sind, sondern daß sie sich 
auch in anderen kolloiden Silbersalzen und besonders auch in Farb- 
stoffschichten wiederfindet. Die qualitative Prüfung hat in Kollodium- 
schichten, welche mit Cyanin- und cyaninähnlichen Farbstoffen, mit 
substituierten Fluoresceinen, wie Eosin und Erythrosin, mit Triphenyl- 
methanfarbstoffen, wie Methylviolett, Fuchsin, Malachitgrün und mit 
Methylenblau gefärbt waren, mehr oder weniger stark einen Dichrois- 
mus und eine Doppelbrechung bei Erregung mit polarisiertem Licht 
ergeben. Es scheint fast, als ob dies eine allgemeine Eigenschaft licht- 
empfindlicher Farbstoffe in geeigneten festen Schichten ist. 

“ Die Untersuchung dieser lichtempfindlichen Farbstoffsysteme ist 
erheblich schwieriger als die der Photochloridschichten, weil bei ihnen 
eine chemische Veränderung, die in vielen Fällen zum Ausbleichen 
und Verschwinden des Farbstoffs führt, nicht wie bei den Photo- 
chloriden auszuschließen ist. 

Die einzigen bisher genauer untersuchten Systeme sind Kollodium- 
schichten, welche mit Cyanin blaugefärbt waren. An diesen Schichten 
wurden schon früher von Lasareff!) sehr interessante Messungen an- 
gestellt. Lasareff fand, daß immer eine Ausbleichung des Farbstoffes 


1) P. Lasareff, Ann. d. Physik 24, 661. 1909. Zeitschr. f. physik. Chem. 
38, 657. 1912. 


186 : F. Weigert: 


eintritt, wenn das Licht überhaupt absorbiert wird, und daß die Ge- 
schwindigkeit der Ausbleichung nur abhängig von der in den verschie- 
denen Spektralgebieten absorbierten Lichtenergie ist. Hiernach muß 
also rotes und grünes Licht, wenn es nur in demselben Betrage absorbiert 
wird, dieselbe Wirkung auf die Schicht ausüben. Für eine spezifische 
Wirkung der verschiedenen Farben lassen also die Lasareffschen 
Ergebnisse keinen Raum. 


$ 7. Farbenanpassungen bei Farbstoffen. 


Nun findet sich aber in der Literatur eine kurze Angabe von Gar- 
basso!), daß im Licht ausgebleichte Cyaninschichten eine rötliche 
oder bläuliche Nuance beibehalten, je nachdem sie mit rotem oder grün- 
blauem Licht bestrahlt worden waren. Dasselbe soll auch für ein 
bestimmtes Nachtblau gelten. 

Diese Beobachtung einer ‚physiologischen‘ Farbenanpassung konnte 
durch Abbildung eines sehr lichtstarken Spektrums auf einer Cyanin- 
kollodiumschicht bestätigt werden. Der kleine ausgeblichene Spektral- 
streifen wurde nicht vollständig farblos, sondern behielt auf der roten 
Seite eine gelblichrote, und auf der blauen eine bläuliche Nuance bei. 
Dasselbe Resultat ergaben übrigens auch die anderen schnell aus- 
bleichenden photographischen Sensibilisierungsfarbstoffe, wie Pinacyanol, 
Ortochrom usw., die anderen im $ 6 genannten Farbstoffe behalten 
sehr lange ihre Eigenfarbe und lassen daher diese physiologische Farben- 
anpassung nicht erkennen. 

Die Erscheinung wurde dann mittels des König -Martensschen 
Spektralphotometers gemessen und auch als ‚„photometrische Farben- 
anpassung‘‘ nachgewiesen. In der folgenden Tabelle II ist für das Gelb 
(579 uu), Grün (546 uu) und das Blau (436 vu) des Quecksilberlicht- 
bogens die Extinktion einer Cyaninkollodiumschicht vor (#,) und 
nach dem Ausbleichen (Z,) mit intensivem gelben Licht eingetragen. 


Tabelle II. 

| Gelb | Grün | Blau 
RN: \ 2,440 | 1,132 | 0,041 
ee. 0,134 | 0,121 | 0,114 
Eu 0055 10102 28 


Es war also das ganze Licht wirksam, welches von der zwischen Rot 
und Grün liegenden Cyaninbande absorbiert wird, dagegen kein blaues 
Licht. Aus der letzten Zeile der Tabelle geht hervor, daß durch die 
Ausbleichung die Extinktion im Gelb und Grün ab-, im Blau dagegen 


!) Garbasso, Nuov. Cim. [4] 8, 263. 1898. 


Fin photochemisches Modell der Retina. 187 


zugenommen hat. Es hat also eine ‚„Absorptionsverschiebung‘“ in der 
Weise stattgefunden, daß die Absorption aus dem langwelligen Spektral- 
gebiet der Erregung nach dem Blau verschoben wird. Die im $ 6 be- 
schriebene Absorptionsverschiebung an den Photochloriden sind viel 
ausgesprochener, weil dort kein eigentliches Ausbleichen in einer che- 
mischen Reaktion stattfindet. 

Bei Erregung mit linear-polarisiertem Licht findet nun auch eine 
dichrometrische Farbenanpassung statt, und es hat sich genau so wie 
bei den Photochloriden gezeigt, daß sie um so schärfer ist, je kürzer 
die Erregungsdauer war. In diesen Anfangsstadien ist die ‚„‚photome- 
trische‘“ Farbenanpassung so gering, daß sie mit den gewöhnlichen 
Photometern nicht nachzuweisen ist und die „physiologische“ kommt 
überhaupt nicht in Betracht, weil die Schicht bei der kurzen Belichtung 
immer rein blau aussieht. 


$ 8. Einfluß der Farbstoffkonzentration. 


Die Untersuchung verschieden dunkel angefärbter Schichten hatte 
folgendes Ergebnis: Bei Verwendung dunkelblauer Cyaninschichten 
und längeren Erregungsdauern beobachtet man bei Erregung mit rotem, 
gelbem oder grünem Licht einen Dichroismus, der am stärksten im, 
Gelb, schwächer im Grün und am geringsten im Rot ist. Der Dichrois- 
mus verläuft also parallel mit der Absorptionsbande des Cyanins, welche 
für die Extinktion dieselbe Reihenfolge zeigt. Es ist also keine eigent- 
liche dichrometrische Farbenanpassung vorhanden. Je verdünnter 
die Färbung und je kürzer die Erregungszeit mit polarisiertem Licht 
ist, um so deutlicher wird die dichrometrische Farbenanpassung, welche 
sich in einem Überwiegen des Dichroismus für die Erregungsfarbe aus- 
drückt. Außerdem wächst mit zunehmender Verdünnung die dichroi- 
tische Lichtempfindlichkeit für das Rot und die langwelligen Strahlen 
schneller als für Gelb und Grün. Umgekehrt nimmt die Empfindlichkeit 
für Rot bei zunehmender Farbstoffschicht am stärksten ab. 

Es findet also in helleren Schichten eine Annäherung der Eigen- 
schaften der Farbstoffschichten an diejenigen statt, die bei den Photo- 
chloriden eingehender untersucht worden sind, und die eigentliche 
Farbstoffnatur, welche sich in einer ausgeprägten selektiven Ab- 
sorption mit einem Maximum im Gelb-Orange andeutet, tritt in den 
hellen Schichten immer mehr zurück. Extreme Verhältnisse konnten 
realisiert werden durch Eintrocknen einer ganz hell blauen Kollodium- 
lösung auf Glasplatten. Durch das Eintrocknen verschiebt sich die 
Absorption des Farbstoffes durch einen Vorgang, auf den hier nicht 
eingegangen werden kann, etwas, und die trockene Schicht war prak- 
tisch farblos. Die’ Absorptionsmessungen sind in diesen extrem hellen 

"Systemen ganz unsicher, aber bei Erregung mit polarisiertem farbigem 


188 F. Weigert: 


Licht konnte auch hier eine merkliche dichrometrische Farbenanpassung 
festgestellt werden. 

Die Lichtwirkungen in den Farbstoffschichten verlaufen so, als ob 
sich über das eigentliche Absorptionsspektrum des Farbstoffes eine 
zweite Absorption lagert, die kein ausgeprägtes Maximum enthält 
und mit der die spektrale Verteilung der Empfindlichkeit parallel geht. 
Sie tritt mit zunehmender Verdünnung des Farbstoffs immer mehr 
hervor, bedingt die spezifischen Farbenanpassungen und ihre Analogie 
mit den Veränderungen in den Photochloriden, macht es wahrscheinlich, 
- daß sie physikalisch durch mechanische Veränderungen in der Schicht 
hervorgerufen sind. Daneben führt ein photochemischer, nicht spezi- 
fischer. Prozeß, besonders in den dunklen Schichten, zu einem Aus- 
bleichen des Farbstoffs. 


$ 9. Die Abhängigkeit der Liehtempfindlichkeit von der 
Bestrahlungszeit. 


Eine weitere Beobachtung an den Cyaninschichten war zunächst 
vom photochemischen Standpunkt wichtig, weil sie eine häufig ausge- 
sprochene Anschauung als unrichtig nachwies. Sie wird aber auch im 
$ 11 eine biologische Anwendung finden. Es wurde für alle Farben, 
in denen überhaupt eine Veränderung der Schichten stattfand, beob- 
achtet, daß sowohl die Ausbleichung als auch die dichroitischen Effekte 
bei polarisierter Bestrahlung mit der Dauer der Belichtung ganz außer- 
ordentlich viel schwächer wurden, während die absorbierte Lichtmenge 
nur wenig abnahm. Die Geschwindigkeit des Vorgangs ist also nicht, 
wie Lasareff vermutete, einfach proportional der absorbierten Licht- 
menge, sondern auch abhängig von der Vorgeschichte der Systeme: 
Wenn sie schon stark durch längere oder intensivere Lichtwirkung 
erregt waren, kann die Lichtempfindlichkeit trotz starker Absorption 
auf einen geringen Bruchteil der anfänglichen absinken. Eine helle 
frische Schicht kann also eine absolut größere Empfindlichkeit gegen 
Licht einer bestimmten Intensität aufweisen, also eine dunklere, die 
schon erregt ist. 


$ 10. Biologische Anwendungen. 


Die im vorstehenden beschriebenen neu aufgefundenen Wirkungen 
des Lichtes sind wahrscheinlich nicht auf die beiden untersuchten Fälle 
beschränkt. Ihr Eintreten bei den beiden großen Klassen von licht- 
empfindlichen Systemen, den Silberverbindungen und den Farbstoffen 
zwingt wahrscheinlich zu einer weitgehenden Revision der herrschenden 
photochemischen Anschauungen. 

Für die Biologie haben sie insofern ein besonderes Interesse, weil 
sie gerade in den sichtbaren Teil des Spektrums eindringen, mit denen 


Ein photochemisches Modell der Retina. 189 


wir bei allen normalen Lichtwirkungen im Leben zu rechnen haben. 
Denn das Ultraviolett der Höhenstrahlung und der künstlichen Licht- 
quellen kommt weder im Auge noch bei der Kohlensäureassimilation 
der Pflanzen in Betracht. 


$ 11. Die Vorgänge in der Retina. 


Auf Grund der mitgeteilten Ergebnisse können wir uns nun die 
Liehtwirkung in den Außengliedern der Stäbchen und Zapfen der Retina 
auf folgende Weise modellmäßig vorstellen. Beide Elemente enthalten 
einen Farbstoff, der ähnlich wie das Cyanin und wahrscheinlich alle 
lichtempfindlichen Farbstoffe im Lichte veränderlich ist. Es ist am 
natürlichsten, in diesem Farbstoff den Sehpurpur zu sehen, wofür fol- 
gende Anzeichen sprechen. Beim Ausbleichen des Sehpurpurfarbstoffs 
sowohl in der Netzhaut selbst, wie in der Lösung in gallensauren Salzen 
findet kein gleichmäßiges Ausbleichen im ganzen Spektrum statt, son- 
dern eine Nuancenveränderung, und das Endprodukt der Ausbleichung 

ist nicht farblos, sondern gelb gefärbt. Man spricht hier von dem Seh- 
gelb und die Frage, ob in diesem ein neuer Farbstoff vorliegt, bildet 
einen sehr eingehend behandelten Diskussionsgegenstand der Physio- 
logie. Nun zeigen aber die Abb. I (oben) und die Versuche der Tab. I u. II 
an, daß wir beim Ausbleichen von Photochlorid und Cyaninkollo- 
diumschichten genau dieselbe Erscheinung vor uns haben. Die Bande im 
Orange verschwindet, und es entsteht eine neue Absorption im Blau. 
Ich führte dies auf eine Absorptionsverschiebung zurück, für welche 
kein neuer Farbstoff angenommen zu werden braucht, sondern nur 
eine Verlagerung der Einzelmoleküle in den amikroskopischen Micellen. 

Die im $ 8 erwähnte Tatsache, daß die dichrometrischen Farben- 
anpassungen in den Cyaninschichten mit abnehmender Farbstoffmenge 
immer photochloridähnlicher werden, macht es fast sicher, daß die 
primäre Wirkung in beiden Fällen die gleiche ist, so daß man jetzt 
direkt die Absorptionsverschiebungen in den Photochloriden mit den 
Farbänderungen des Sehpurpurs vergleichen kann. So ist die schöne 
Tafel, welche Garten veröffentlicht hat !), um die verschiedenen Farben 
zu demonstrieren, die der Sehpurpur während der Ausbleichung 
annehmen kann, direkt auch dazu zu verwenden, die verschiedenen 
Farben der Photochloride wiederzugeben, welche beim Bestrahlen einer 
Schicht mit gelbem Licht auftreten; und die Abb. 6, 7 und 10, 11 auf 
S. 162 und 165 der Arbeit Gartens, in denen er seine Untersuchun- 
gen über die photometrischen Veränderungen der Sehpurpurlösungen 
vom Bley und von der Eule graphisch darstellt, entsprechen ganz den 
Werten der Tabelle U. 


I) Garten, Gratfes Arch. f. Ophthalmol. 63, Tafel VII. 1906 und Graefe- 
-Saemisch, Handb. d. ges. Augenheilk., I. Teil, III. Bd., XII. Kap., Anhang. 


190 F. Weigert: 


Um dies zu zeigen, sind die Absorptionskoeffizienten A, und A, 
aus den Sehpurpurlösungen von Bley (Abramis brama) für einige 
Wellenlängen vor und nach dem starken Ausbleichen sowie die Quotienten 
in der Tabelle III ähnlich wie in Tabelle II eingetragen !), woraus der 
analoge qualitative Verlauf der Erscheinung der Absorptionsverschie- 
bung hervorgeht. 

Tabelle III. 


Farbe Orange | Gem | Grün | Pau | viotett 
Ferne 
A, :..| 0,283 | 0,567 | 0,667 | 0,617 | 0,308 | 0,392 | 0,583 | 0,617 


0,208 | 0,237 | 0,275 | 0,367 | 0,400 | 0,584 | 0,725 | 0,842 


Rz 0,7 | o42 |o4 |o5 | 10 | 140 | 112 | 287 


Noch charakteristischer ist die Absorptionsverschiebung aus den 
Messungen Königs?) an Lösungen von menschlichem Sehpurpur zu- 
erkennen, die von Trendelenburg?) und von Garten in der zitierten 
Zusammenfassung graphisch wiedergegeben werden. König bleicht 
den Sehpurpur teilweise mit monochromatischem grünem Licht aus, 
dessen Wellenlänge größer als 520 uu ist, und beobachtet dabei eine Ab- 
nahme der Extinktion im Grün und eine Zunahme im Orange und 
Blau. In der Tabelle IV sind die Ergebnisse dieser Messungen in der- 
selben Weise, wie in Tabelle III für einige Wellenlängen wiedergegeben. 


Tabelle IV. 


Farbe | Orange | Grün | Blau 
IE a: 0 | 560 | 540 | 520 | 500 | #60 | 42014 
Aa, | 02 | 01 | 04 | 031 | 05 | 02] 08 
ANNE | 003 | 0,1 | 0,22 | 0,28 | 0,36 | 0,43 | 0,62 
AR a | 1,50 | 1,20 | 092 | 0,00 | os5 | 132 | 1:8 


!) Die Zahlen sind den Originaltabellen von Garten (Graefes Arch. f. Oph- 
thalmol. 63, 160, 161. 1906) entnommen. Sie stellen die Absorptionskoeffizienten 
A dar, also den Bruchteil der absorbierten Lichtmenge. Die Extinctionen log /o/7, 
welche in den früheren Tabellen verwertet wurden, berechnen sich daraus mittels 
log 1/(1—A). Da es sich jedoch bei diesen Betrachtungen im wesentlichen nur 
darum handelt, ob die Quotienten der letzten Zeile der Tabellen größer oder kleiner 
als 1 sind, wurde von einer Umrechnung abgesehen. 

?) Die Zahlen sind aus den Durchlässigkeitskoeffizienten D, also den Bruch- 
teilen des durch die absorbierende Lösung hindurchgelassenen Lichtes, der Ta- 
bellen I und II Königs (Berliner Akademieberichte 1904, S. 580 und 581) durch 
Subtraktion von 1 als Absorptionskoeffizienten A = 1—D wie in der obigen 
Tabelle III nach Garten berechnet. Die Extinetionen wären log 1/1l—A oder 
direkt log 1/D. 

3) Trendelenburg, Zeitschr. f. Physiol. u. Psychol. d. Sinnesorg. 3%. 1904. 


Ein photochemisches Modell der Retina. 191 


Es liegt hier also eine typische photometrische Farbenanpassung 
an die grüne Erregungsfarbe vor, die sich qualitativ nicht von der 
analogen Erscheinung an den Photochloriden, welche in Abb. 1 und in 
der zweiten Zeile der Tabelle I wiedergegeben ist, unterscheidet. 

Der Sehpurpur, dessen spezielle Untersuchung mit den neuen 
Methoden beabsichtigt und in eingetrockneten festen Schichten 
durchaus möglich ist, scheint also ganz analoge Eigenschaften zu 
haben, wie die Photochloride und unsere einfacheren organischen licht- 
empfindlichen Farbstoffe. Er ist merklich nur in den Stäbchen nach- 
gewiesen worden und fehlt in den Zapfen. Ich vermute nun, daß 
dieses Fehlen nur ein scheinbares ist, und daß derselbe Farbstoff in den 
Zapfen auch vorhanden ist, aber in einer so großen Verdünnung, daß 
ein analytischer Nachweis versagt!). Hiermit stimmt die Grundlage 
der v. Kriesschen Duplizitätstheorie überein, daß die Zapfen farben- 
empfindlich sind, während den Stäbchen diese Eigenschaft fehlt. Diese 
absorbieren durch ihre größere Farbstoffkonzentration mehr Licht 
als die mit dem verdünnten Farbstoff angefüllten Zapfen und reagieren 
daher schon auf schwache Erregung, aber nicht spezifisch für die 
verschiedenen Farben, sie vermitteln also das Dämmerungssehen. 

Aus der Übertragung der im $ 9 kurz beschriebenen Abnahme der 
Lichtempfindlichkeit mit der Erregungszeit und Intensität auf den 
Sehpurpur kann man direkt eine Erklärung für die Ausschaltung der 
Stäbchen bei starker Erregung der Netzhaut ableiten. Da immer eine 
Regeneration des verbrauchten Farbstoffes stattfindet, enthalten die 
Zapfen bei hellem Licht immer frischeren Farbstoff als die im Anfang 
durch die stärkere Absorption weit erregten Stäbchen. Ihre Licht- 
empfindlichkeit ist also, da sie noch viel schon erregten Farbstoff ent- 
halten, stark herabgesetzt. Es arbeiten also im hellen Licht die Zapfen 
mit ihrer geringen, aber frischeren Farbstoffmenge vorteilhafter als die 
Stäbchen. Im Dunkeln füllen sich auch die Stäbchen wieder mit 
frischem Farbstoff und die plötzliche farblose Blendung bei Wieder- 
belichtung findet in den Stäbchen statt, deren Lichtempfindlichkeit 
sich. wie bei den Cyaninschichten schnell selbst bremst. Hierin liegt 
eine photochemische Deutung der Adaptation. 

Die Analogie mit dem Cyanin geht aber noch weiter. Wir sahen 
im $8, daß mit zunehmender Dunkelfärbung der Schichten die Emp- 
findlichkeit für das Rot besonders stark abnimmt. Wenn also im 
Auge die Lichtperzeption in der Dämmerung den Zapfen durch die 
Stäbchen abgenommen wird, macht sich dies zunächst in einer Ab- 
nahme der Empfindlichkeit im Rot bemerkbar. Es ist dies das Pur- 
kinje - Phänomen. In geringem Maße wird dieses auch in den Zapfen 


!) Diese Annahme wurde schon von Hering gemacht, ohne daß er aller- 
dings die hier mitgeteilten Konsequenzen daraus zog. 


192 | F. Weigert: 


allein eintreten können, denn ihre, allerdings geringe, stationäre Farb- 
stoffkonzentration ist bei niederen Lichtintensitäten größer als bei 
hohen, die Empfindlichkeit für Rot im schwachen Licht also geringer. 
Es steht dies in Beziehung zu Beobachtungen von Heß!) und Hering?), 
die auch foveal, wenn auch nur schwach, das Purkinje - Phänomen 
feststellen konnten. 

Die Diskussion der verschiedenen farbigen Lichterscheinungen und 
ihre Veränderung mit der Erregungszeit und Intensität vom Stand- 
punkt der Verschiebung des Empfindlichkeitsspektrums der Farbstoffe 
mit ihrer Konzentration bedarf als Grundlage. weitere spektralphoto- 
metrische und dichrometrische Versuche. Als einzige Beispiele sollen 
außer der Deutung des Purkinje - Phänomen nur zwei Beobachtungen 
Königs?) herangezogen werden. Es ist dies die zuerst von Fick?) 
beschriebene Erscheinung, daß außerhalb der Fovea centralis langsam 
ansteigende Lichtintensitäten zuerst farblos empfunden werden, mit 
Ausnahme des Rot, welches sofort rot erscheint. Innerhalb der Fovea 
werden auch die anderen Strahlenarten bei geringer Intensität mit 
ihren richtigen Farben gesehen. Umgekehrt wird das Blau in der Fovea 
überhaupt nicht wahrgenommen, sondern erst dann, wenn das blaue 
Licht auf die extrafovealen Bezirke der Retina fällt. Die Fovea ist 
blaublind. 

Die Fovea enthält lediglich Zapfen mit kleiner Farbstoffkonzen- 
tration, während die Stäbchen mit ihrem hohen Sehpurpurgehalt erst 
in den äußeren Bezirken hinzutreten. Im Sinne der Befunde des $ 8 
an den unbelebten Farbstoffschichten ist daher die spezifische Farben- 
anpassung in den hellen Zapfenaußengliedern hoch im Rot und gering 
im Blau, und in den Stäbchenaußengliedern umgekehrt sehr gering im 
Rot und groß in Blau, so daß das rote Licht nur von den Zapfen, welche 
immer eine spezifische rote Farbenempfindung vermitteln, aufgenommen 
wird. 

Die außerordentlich schnelle Reaktion der Netzhautelemente auf 
rasche Lichtwechsel ist notwendig, um eine Bewegung mit dem Auge 
erkennen zu können. 

Auch diese große Lichtempfindlichkeit finden wir in den Farbstoff- 
systemen und den Photochloriden wieder. Gerade im ersten Moment 
des Einsetzens der Erregung ist die Reaktion am schärfsten. Ebenso 
kommen die Anomalien bei längerer Belichtung der Farbstoffschichten 
in den Blendungserscheinungen bei zu starken Lichtintensitäten analog 
zum Ausdruck. 


!) C. Hess, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 101, 241. 1904. 

®?) E. Hering, Arch. f. Ophtalm. 90, 1; 1915. 

3) A. König, Berliner Akademieberichte 1894, S. 590. 

*) A. E. Fick, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol, 43, 441. 1888. 


Ein photochemisches Modell der Retina. 193 


$ 12. Die Übertragung der Lichtwirkungen auf die Nerven- 
| endigungen. 

In der Einleitung wurde das Problem der Lichtwirkung im Auge 
ganz scharf in ein physikalisches und. chemisches und ein biologisches 
getrennt. Für den Verfasser als Nichtbiologen ist natürlich nur die 
erste einfachere Hälfte des Problems zugänglich. Es sollte gezeigt wer- 
den, daß nach neueren Untersuchungen ganz spezifische Wirkungen 
der verschiedenen Farben in der unbelebten Natur vorkommen, welche 
in ihrem ganzen qualitativen und quantitativen Verlauf die charakte- 
ristischen Erscheinungen zeigen, die man sich bei den Vorgängen in 
der Retina vorstellen muß. Wie die Übertragung der spezifischen physi- 
kalischen Wirkungen der verschiedenen Farben auf die Nervenendigungen 
in den Stäbchen- und Zapfenaußengliedern zustande kommen, darüber 
lassen sich zunächst nur Vermutungen anstellen. 

Elektronenbewegungen sind, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, 
notwendig mit den ersten Lichtwirkungen bei der Absorption der Strah- 
lung verbunden und es ist wahrscheinlich, daß die Aktionsströme der 
belichteten Netzhaut mit diesen primären Elektronensprüngen zu- 
sammenhängen. Dauernde Wirkungen, wie sie in dem neuen Strah- 
lungseffekt des polarisierten Lichtes vorliegen, können jedoch nicht auf 
Elektronenverlagerungen allein zurückzuführen sein. Diese haben viel- 
mehr mechanische Dilatations- und Kompressionswirkungen in den 
amikroskopischen Micellen zur Folge, die je nach der Erregungsfarbe 
ganz spezifisch lokal orientiert sind. Die spezielleren auf Grund der 
Messungen bei den Photochloriden durchgeführten Diskussionen er- 
gaben nun, daß z. B. bei Roterregung die kugelförmig gedachten 
Mizelle im Zentrum dilatiert und in den äußeren Zonen komprimiert 
werden. Bei Grün-Erregung findet die Dilatation in den mittleren 
und die Kompression in den inneren und äußeren Zonen statt. Man 
braucht dann nur anzunehmen, daß die Nervenendigungen eine mecha- 
nische Veränderung im ersten Sinne als Rotempfindung, im zweiten 
Sinne als Grün vermitteln, um sich eine Vorstellung von einer Ver- 
bindung der qualitativ verschiedenen physikalischen Lichtwirkungen 
mit dem psychischen Vorgang zu machen. Diese gibt dann ohne weiteres 
auch eine Deutung für die farbigen Nachbilder, denn beim Aufhören 
der Rot-Erregung findet eine Rückwanderung der Teilchen eines Micells 
in einer ähnlichen Art statt, als ob eine grüne Erregung stattgefunden 
hätte. 

Mit derartigen Überlegungen, welche, wenigstens in ihrem physika- 
lischen Teil, auf ziemlich breiter experimenteller Grundlage stehen, 
wird vielleicht auch die Heringsche Theorie der Gegenfarben etwas 
greifbarer, da es jetzt möglich ist, die Assimilations- und Dissimilations- 
vorgänge auf entgegengesetzte mechanische Verschiebungen in einem 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 13 


194 F. Weigert: 


einzigen Mizell zurückzuführen, die direkt durch die farbige Strahlung 
in den Zapfen ausgelöst werden. Ob nun die Nervenendigungen auf 
Veränderungen in einer bestimmten Richtung oder auf bestimmte Zu- 
stände in den Micellen reagieren, ist auf dem bisher eingeschlagenen 
Wege nicht zu erweisen, 

Hier hören die Vergleichsmöglichkeiten mit den untersuchten nicht 
belebten Systemen auf. Denn diese sind fest und nur im Verlauf längerer 
Zeit verändern sie sich im Sinne eines Übergangs in den Anfangszustand. 
Dieser Prozeß wird bei der halbflüssigen Konsistenz der Stäbchen und 
Zapfen, besonders bei der relativ hohen Körpertemperatur erheblich 
schneller verlaufen, Hierzu kommt die rasche Regeneration des Farb- 
stoffes, durch welche dauernd eine annähernd konstante stationäre 
Konzentration desselben gewährleistet wird!). Die Aufklärung aller 
dieser Vorgänge, welche auf die Erregung durch das Licht folgen und 
für die dauernde Erhaltung der Reaktionsfähigkeit von fundamentaler 
Bedeutung sind, muß dem physiologischen Chemiker und dem Physio- 
logen vorbehalten bleiben. 


$ 135. Zusammenfassung der Ergebnisse. 


Die vorstehenden Ausführungen bezwecken zu zeigen, daß die 
charakteristischen Wirkungen des Lichtes im Auge sehr weitgehende 
Vergleichsmöglichkeiten mit Veränderungen besitzen; welche die Strah- 
lung in gewissen unbelebten lichtempfindlichen Systemen hervorruft. 
Diese Vergleiche konnten früher nicht gezogen werden, weil die physi- 
kalische Technik noch nicht genügend empfindliche Beobachtungs- 
methoden besaß, um die ‚„Farbenanpassungen‘“, die einzigen Vorgänge, 
bei denen das Licht verschiedener Farbe ähnlich spezifisch wirkt wie 
im Auge, genügend fein zu analysieren. 

Durch einen neu aufgefundenen Strahlungseffekt konnte gezeigt 
werden, daß das spezifische Anpassungsvermögen der betreffenden Ob- 
jekte nicht nur für die Farbe, sondern auch für die Schwingungs- 
richtung der linear-polarisierten Strahlung gilt, daß es also möglich ist, 
die Polarisationsebene zu photographieren. Hierauf konnten neue, 
erheblich feinere Untersuchungsmethoden gegründet werden. 

Es konnte nachgewiesen werden, daß die altbekannten Photochloride 
nicht nur die Farbe des Erregungslichtes annehmen, also eine „‚physio- 


1) Über die Rolle des Sehgelbs bei dieser Regeneration, die aus den Unter- 
suchungen Gartens (l. c.) hervorgeht, können wahrscheinlich weitere photo- 
chemische Versuche Aufschluß geben, nachdem es im $ 11 wahrscheinlich gemacht 
worden ist, daß das Sehgelb keinen eigentlich neuen Farbstoff darstellt, sondern 
nur optisch durch eine Absorptionsverschiebung in dem Mizell in die Erscheinung 
tritt. Die im Gang befindlichen Messungen an farbig erregten Photochloriden, 
die mit einer anderen Farbe nacherregt wurden, scheinen auch auf diese bio- 
logischen Fragen anwendbar zu sein, 


Ein photochemisches Modell der Retina. 195 


logische Farbenanpassung‘ zeigen, sondern auch, daß ihr eine 
„photometrische‘“ und. bei polarisierter Erregung eine „dichro- 
metrische Farbenanpassung‘“ parallel geht. Besonders läßt sich 
die dichrometrische Farbenanpassung, welche in einer stärkeren Aus- 
bleichung für die Erregungsfarbe in der Schwingungsrichtung des Lichtes 
besteht, sehr frühzeitig und bei so geringen Belichtungen zeigen, bei 
denen sich das System überhaupt noch nicht sichtbar verändert. 

In zwei einfachen Fällen, bei Photochloridschichten und bei Cyanin- 
kollodiumschichten wurden die Verhältnisse genauer untersucht und 
sie verlaufen, besonders in dem letzten Fall, der den Prototyp für die 
meisten lichtempfindlichen Farbstoffe darstellt, so weitgehend ähnlich, 
wie man sich die Lichtwirkungen im Auge vorstellungen muß, daß 
eine Farbstoffkollodiumschicht gewissermaßen als ein Modell der Retina 
anzusehen ist. Die Analogie ist besonders ausgesprochen, weil die 
bekannten durch Licht bewirkten Veränderungen des Sehpurpurs, der 
im Auge als lichtempfindlicher Farbstoff auftritt, sehr weitgehende 
Ähnlichkeit mit den neu aufgefundenen Lichtwirkungen in den Farb- 
stoffen und den Photochloriden zeigen. 

Die neue Auffassung der Lichtwirkungen in der Retina, welche man 
vielleicht als eine ‚„Anpassungstheorie‘ des Farbensehens bezeich- 
nen kann, nimmt zunächst an, daß die Außenglieder der Zapfen nicht, 
wie bisher vermutet, farbstoffrei sind, sondern daß sie nur den Seh- 
purpur in einer solchen Verdünnung enthalten, daß er mit den gewöhn- 
lichen analytischen Hilfsmitteln nicht nachzuweisen ist. In den Stäbchen- 
außengliedern ist er dagegen in merklicher Menge zugegen. Die Ver- 
suche mit den Cyaninschichten haben nämlich gezeist, daß die dunk- 
leren Systeme sehr geringe farbenanpassende Eigenschaften haben, 
daß diese aber um so mehr hervortreten, je verdünnter der Farbstoff 
ist. Die kaum merklich gefärbten Zapfen sind daher zur Farben- 
perzeption geeignet, während die Stäbchen allerdings lichtempfindlicher 
sind, aber unspezifisch nur auf die Stärke und die absorbierte Menge 
des Lichtes reagieren. 

Die Lichtempfindlichkeit der Farbstoffschichten ist in den ersten 
Anfangsstadien der Belichtung am größten und nimmt sehr schnell 
auf einen geringen Wert ab, trotzdem ihre Lichtabsorption noch bedeu- 
tend sein kann. Auf die Retina übertragen muß man hieraus folgern, 
daß die Erregung der Stäbchen durch helles Licht im Anfang sehr 
stark ist, daß die Empfindlichkeit sich aber sehr schnell automatisch 
bremst. Die dauernde Regeneration des Farbstoffs bedingt, daß er 
in den Zapfen stationär in geringer Menge, aber frischer vorhanden 
ist, als in den Stäbchen, so daß die Zapfen dann absolut lichtempfind- 
licher werden und pfaktisch allein die Lichtperzeption, die sich hier 
auch spezifisch auf die Farben erstreckt, übernehmen, Es ist dies eine 


192 


196 F. Weigert: 


Deutung der Adaptation. Erst im Dunkeln und in der Dämmerung 
füllen sich auch die Stäbchen so reichlich wieder mit frischem Farbstoff 
auf, daß sie jetzt durch ihre stärkere Lichtabsorption, allerdings farblos, 
die Lichtperzeption übernehmen. 

Bei den unbelebten Farbstoffsystemen zeigte es sich, daß mit zu- 
nehmender Färbung der Schichten die spezifische Wirkung am stärk- 
sten für das Rot und am schwächsten für die kurzwelligen Strahlen 
abnimmt. Wenn also beim Dämmerungssehen die Stäbchen den 
Zapfen die Arbeit abnehmen, verschwindet die spezifische Wirkung zu- 
erst im Rot. Eine Tatsache, die im Phänomen von Purkinje zum 
Ausdruck kommt. 

Die physikalische Untersuchung der Photochlorid- und Farbstoff- 
systeme hat zu der Folgerung geführt, daß die erste Wirkung des Lichtes 
nach der Abtrennung von Elektronen in einer mechanischen Verschiebung 
in sehr kleinen Komplexen besteht, deren Dimensionen unterhalb der 
ultramikroskopischen Auflösungsgrenze liegen. Diese Strukturver- 
änderungen sind für die verschiedenen Farben ganz spezifisch. Wenn 
man dieses Resultat auf den Sehpurpur überträgt, liegt es nahe anzu- 
nehmen, daß die Nervenendigungen in den Zapfenaußengliedern die 
mechanischen Veränderungen mit der Vermittlung einer bestimmten 
Farbenempfindung beantworten. 

Die Richtigkeit dieser Annahme läßt sich nicht mit physikalischen 
und chemischen, sondern nur mit biologischen Untersuchungsmethoden 
prüfen, sie erscheint jedoch nicht unwahrscheinlich, weil sie einen 
ziemlich weitgehenden Parallelismus zwischen spezifischen psychischen 
Empfindungen und spezifischen mechanischen Effekten enthält. Diese 
nämlich sind an den untersuchten unbelebten lichtempfindlichen Syste- 
men teilweise reversibel, und die Wiederherstellung des ursprünglichen 
Zustandes entspricht derselben Strukturänderungen, als wenn eine 
andere Farbe eingewirkt hätte. Die Rückverwandlungen, welche in 
dem halbflüssigen Substrat der Zapfenaußenglieder unvergleichlich 
viel schneller ablaufen als in den bisher untersuchten einfacheren festen 
Versuchsobjekten, werden dann von den Nervenendigungen ebenso 
registriert, als ob eine Farbe eingewirkt hat, die derjenigen komple- 
mentär ist, welche das betreffende Element erregt hatte. Die weitere 
Durchführung dieses Gedankens erlaubt eine experimentelle Prüfung 
der Heringschen Theorie der Gegenfarben an einfachen unbelebten 
lichtempfindlichen Systemen. 

Zum Schluß muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die 
im vorstehenden diskutierten Vergleiche zunächst nur Gültigkeit be- 
anspruchen in den Fällen, wo die Lichtempfindung in direkter Be- 
ziehung zur Absorption von Strahlung in den lichtperzipierenden Ele- 
menten der Netzhaut steht. Die Licht- und Farbenwahrnehmung unter 


Ein photochemisches Modell der Retina. 197 


pathologischen und abnormen Bedingungen, z. B. bei Druckwirkungen 
auf Teile des Auges und des Sehnervs oder beim Anlegen elektrischer 
Potentiale müssen vorläufig von der Diskussion ausgeschlossen werden. 
Dasselbe gilt zunächst auch von den zeitlichen Änderungen der Licht- 
empfindungen, die natürlich mit der Regeneration des Sehpurpurs, 
einem noch unaufgeklärten, teilweise biologischen Prozeß, in Beziehung 
stehen, trotzdem auch beim Studium der unbelebten lichtempfind- 
lichen Systeme Zeitphänomene aufgefunden sind, die in gewisser Be- 
ziehung zu den bekannten Umstimmungserscheinungen zu stehen schei- 
nen, welche bei länger wirkender weißer oder farbiger Belichtung auf- 
treten. Sie verlaufen aber wesentlich verwickelter als die einfachen 
Anfangswirkungen des Lichts. 


Photochemische Abteilung des Physikalisch-chemischen Instituts der 
Universität Leipzig, Juni 1921. 


Anmerkung bei der Korrektur: Erst nach Abschluß des 
Manuskripts erhielt ich Kenntnis von den wichtigen Untersuchungen 
von,.U. Ebbecke über das Sehen im Flimmerlicht, Arch. f. d. ges. 
Physiol. 185, 186. 1920, welche es ermöglichen, gerade die ersten Licht- 
wirkungen im Auge leicht zu analysieren, und die daher zur Prüfung 
der obigen neuen Auffassung über das Farbensehen verwertet werden 
können. Hierauf soll in einer späteren Mitteilung eingegangen werden. 

Dann erschienen kürzlich zwei interessante Versuche einer photo- 
elektrischen und einer Quantentheorie des Farbensehens von J.H.J. 
Poole, Phil. Mag. (6), 41, 347. 1921 und von J. Joly, Phil. Mag. (6) 
41, 289, 1921, welche gleichfalls eine Beteiligung des Sehpurpurs in 
den farbentüchtigen Zapfen vorsehen, die aber, wie es scheint, keine 
eigentliche Spezifizität erklären können, was gerade durch die hier ver- 
suchte Anpassungstheorie möglich ist. Auch diese Arbeiten müssen 
noch besprochen werden, wenn auf die speziellen Unterschiede der neuen 
Auffassung gegen die bekannten Farbentheorien eingegangen wird. 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen, Zell- 
bestandteilen und Membranen. 


Von 


Karl Heesch. | 
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Kiel.) 
Mit 1 Textabbildung. 
(Eingegangen am 1. Mai 1921.) 


Die im folgenden beschriebenen Versuche wurden durch zwei Beob- 
achtungen angeregt, die in letzter Zeit im hiesigen Laboratorium ge- 
macht wurden. Runar Collander!) untersuchte im Anschluß an die 
osmotischen Messungen von Girard, Toni Hamburger, Bartell, 
J. Loeb u.a., ob sich bei Beobachtung der Plasmolyse von Pflanzen- 
zellen durch Elektrolytlösungen irgendwelche Anhaltspunkte für das 
Vorhandensein eines elektroosmotischen Druckes gewinnen ließen, der 
auf die Änderung der elektrischen Ladung der Plasmamembran durch 
die Ionen zu beziehen wäre. Unerwarteterweise verliefen die Plasmo- 
lysen in jedem Fall, trotz mannigfacher Variierung der Natur und 
der Konzentration der Ionen, ‚normal‘, und bei der Erörterung der 
Ursachen für diesen Versuchsverlauf mußte die Frage aufgeworfen 
werden, ob denn auch die Voraussetzung für das Auftreten elektro- 
osmotischer Zugkräfte, die Umladung der Protoplasten, wirklich zu- 
träfe. 

Die zweite Beobachtung, welche als Ausgangspunkt für meine 
Untersuchungen diente, war die Feststellung von Linzenmeier?), 
daß die roten Blutkörperchen vom Menschen, deren negative Ladung?) 
sich leicht durch ”/,,, bis ®/ood? Lanthan-Salz in eine positive Ladung 
umkehren läßt, wenn man sie unmittelbar aus dem Blut in die La- 
Lösung überträgt[Koza wa), Fähraeus°)], nach ausgiebiger Waschung 
mit NaCl-Lösung so unempfindlich gegen die La-Ionen werden, daß 
die Konzentration evtl. auf "/,, gesteigert werden muß, um den iso- 
elektrischen Zustand oder ein positives Verhalten herbeizuführen. 


!) R. Collander, Arch. f. d. ges. Physiol. 185, 224. 1920. 

2) Linzenmeier, Ebenda 181, 169. 1920 und 186, 272. 1921. 
3) Höber, Ebenda 101, 607. 1904 und 102, 196. 1904. 

4) Kozawa, Biochem. Zeitschr. 60, 146. 1914. 

5) Fähraeus, Ebenda 89, 355. 1918. 


K. Heesch: Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw. 199 


Auch dieser Befund ist ganz wider Erwarten, wenigstens wenn man 
von der recht wahrscheinlichen Annahme ausgeht, daß am Aufbau der 
Oberflächenschicht der Protoplasten u.a. auch Eiweißkörper beteiligt 
sind, die nach den Angaben von Mines!) und Kozawa im allgemeinen 
durch erheblich geringere Konzentrationen der Ionen seltener Erden 
zu entladen sein dürften, als durch ®/,o- 

Aber auch noch andere Beobachtungen von Linzen meier mach- 
ten es wünschenswert, das Erfahrungsmaterial betreffs der Umladbar- 
keit von Zellen und der sie aufbauenden Bestandteile zu vergrößern. 
Nach Linzenmeier kann die Umladbarkeit der menschlichen roten 
Blutkörperchen durch Zusätze mannigfach beeinflußt werden. Dabei 
verhalten sich ungewaschene und gewaschene Blutkörperchen ganz 
verschieden. Die Umladung der ungewaschenen Blutkörperchen durch 
La wird begünstigt durch Fibrinogen, Histon und Clupein, während 
Nuclein, nucleinsaures Na, Albumin, Pepton ohne Einfluß sind. Die 
Umladung gewaschener Blutkörperchen wird dagegen außer durch 
Histon und Clupein auch durch Albumin und nucleinsaures Na, ferner 
durch Gelatine gefördert, während Gummi, Stärke, Lecithin auch jetzt 
keinen Einfluß haben. Dies kann so erklärt werden, daß die ge- 
' waschenen Blutkörperchen, die, wie wir sahen, an sich durch La sehr 
schwer umgeladen werden können, durch die genannten wirksamen 
Zusätze für die La-Ionen sozusagen sensibilisiert werden, während sie 
in Gegenwart der unwirksamen Zusätze, wie Stärke und Gummi, für 
die La-Ionen schwer angreifbar bleiben. Histon und Clupein, die in 
beiden Fällen, bei gewaschenen wie bei ungewaschenen Blutkörper- 
chen wirksam sind, nehmen aber auch insofern eine besondere Stellung 
ein, als sie auch ohne die Gegenwart von La die gewaschenen Blut- 
körperchen direkt entladen können. 


Eigene Beobachtungen. 


An diese verschiedenen Feststellungen anknüpfend habe ich auf 
Anregung und unter Leitung von Herrn Prof. Höber 1. mit den roten 
Blutkörperchen andere Zellen bezüglich ihrer Umladbarkeit verglichen, 
nämlich Hefezellen, Lycopodiumsporen und Leukocyten; 2. habe ich 
einige Zellbestandteile auf ihre Umladbarkeit geprüft, nämlich Gummi, 
Agar, Cellulose, Stärke, Cholesterin, Lecithin, Öl, Albumin; alle diese 
Messungen wurden, so wie die von Kozawa, Fähreaus und Linzen- 
meier, mit dem Kataphoreseapparat von Höber (l.c.) ausgeführt. 
Außerdem wurde 3. die Umladbarkeit mit Hilfe der Elektroosmose 
bestimmt, indem die zu untersuchenden Substanzen in Form von 
Membranen verwendet wurden. 


- 4) Mines, Journ. of physiol. 42, 309. 1911. 


200 K. Heesch: 


a) Beobachtungen über die Umladbarkeit von Zellen. 


1. Hefezellen würden zweimal mit destilliertem Wasser gewaschen, 
sodann einmal mit einer Mischung von 10%, Robhrzucker und 0,2% NaCl, 
in der verschiedene Zusätze, wie Albumin (1%), Pepton (1/,%), Gela- 
tine (1/;%), Nuclein (1/;%), nucleinsaures Na (1/,%), Lecithinemulsion 
(1/;%), Cholesterinemulsion (1/,%), Agar (1/;%), Gummi (1/,%), Stärke- 
kleister (1/,%) enthalten waren. Dann wurden von den Hefezellen 
mit einer Platinöse Proben in den Kataphoreseapparat übertragen, 
der mit verschieden konzentrierten Lösungen von Lanthannitrat ge- 
füllt war, und sofort die Kataphoreserichtung bestimmt. Das Ergebnis 
war das: folgende: 

2 Tabelle I. Umladung von Hefezellen. 


S S ei = Ss 3 K 8 > Ir 
ol lee 5 en 
& = [7) 5 er 5 7 A z 5 = 
3 ä < z im) S 

2500 | — | Fr 

1000 | = |— = ar, Re 
750.7 | aus alles FT a Sn 
500 ale + |+od.schw.+| sh. _ | = | = 
2350 |+|+ | + ba 
100 i ni 3 


Danach wird also bei Hefezellen, ebenso wie bei den roten Blut- 
körperchen, die Umladung durch La durch Zusatz. von Albumin oder 
Gelatine erleichtert; nucleinsaures Na ist dagegen hier ohne Einfluß, 
ebenso Nuclein, Pepton, Lecithin und Cholesterin, während Stärke, 
Gummi und Agar die Umladung nicht nur nicht erleichtern, sondern 
sie sogar erschweren. 

2. Die untersuchten Lycopodiumsporen wurden ebenso vor- 
behandelt wie die Hefezellen. Die Ergebnisse der Messungen waren 


folgende: 
Tabelle II. Umladung von Lycopodiumsporen. 


La- Ohne Stärke Gummi | Agar lm: Gelatine| Nuclein | Pepton |Nucleins. Na 


Konz. Zusatz min 


2500 — — — 
1000 —— — E= — | ad 

750 — — 

500 =ie — 

250 Esel bisiale 

100 = + | 

!) Ausgedrückt durch die Anzahl von Litern, in denen 1 Mol Lanthannitrat 

gelöst ist. 


+H 
H 

i 

| 


| 
| 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw, 201 


Wiederum sensibilisieren also Albumin und Gelatine die Zellenfür die La- 
Ionen, ferner auch Nuclein und Pepton, während nucleinsaures Na wieder 
indifferent ist und Stärke, Gummi und Agar ‚negativ sensibilisieren‘“. 

3. Die Leukocyten stammten aus Pferdeblut, das durch Citrat 
ungerinnbar gemacht war. In diesem senken sich bekanntlich die roten 
Blutkörperchen bedeutend schneller als die weißen; man kann also 
nach Absitzen der roten Blutkörperchen das Plasma abheben und aus 
ihm die weißen Blutkörperchen ausschleudern. Die Leukocyten wurden 
6mal mit isotonischer NaCl-Lösung gewaschen und dann ebenso be- 
handelt wie Hefezellen und Lycopodium. 


Tabelle III. Umladung von Leukocyten. 


La-Konz. |Ohne Zusatz Gummi Agar Albumin | Gelatine Pepton | Cholesterin 


oo . | — | zus ee az sin En 
2500 u en a an en an 
1000 n a ee et 2 > 

750 = en ul = 

500 2 a ei ar ii u 

250 = — 2 E Sue 

100 ae L IE ul IL 


0| + + |, + + + 


+H| 


Dies Ergebnis bestätigt die Angaben von Linzenmeier für die 
roten Blutkörperchen insofern, als erstens das Auswaschen auch hier 
die merkwürdige Abschwächung der La-Wirkung bis zu der Grenz- 
konzentration von ”/,, hervorruft, die zum Teil den Anlaß für diese 
Untersuchungen abgab; bei Hefezellen und Leukocyten war eine der- 
artige Abschwächung nicht zu erreichen. Zweitens begegnen wir auch 
hier wieder der starken Sensibilisierung für La durch Albumin und Gela- 
tine, ferner einer schwachen Sensibilisierung durch Pepton und Cholesterin. 

Unerörtert blieb bisher der Einfluß von Histon und Clupein, 
die nach Linzen meier auch die gewaschenen roten Blutkörperchen 
an sich, d.h. auch ohne die Anwesenhei' von La umladen. Das Gleiche 
ließ sich auch für Hefezellen, Lycopodium und Leukocyten feststellen!). 


Tabelle IV. Umladung durch Histonsulfat. 


% Histonsulfat | Hefezellen Lycopodium Leukocyten 
al 512 FT RE SER 
Ugse Fat a AT 
aa — — + 
Usa Se Ai 
u 16 ai ir 


!) Histonsulfat und Clopeinsulfat verdanken wir der Liebenswürdigkeit von 
Herrn Geheimrat A. Kossel, Heidelberg. 


202 K. Heesch: 


Tabelle V. Umladung durch Clupeinsulfat. 


% Clupeinsulfat | Hefezellen Lycopodium Leukocyten 
rosa ER 2 Nr 
a 512 Sm 757: ai 
"ass | 273 a an 
ah 128 | ER, Re Se 
"/ea | ae zis ni 
ee ae -- 
is | a zir an 


Die Leukocyten sind danach empfindlicher als die beiden Pflanzen 
zellarten. 

Außer den bisher genannten umladenden Agenzien wurden weiter- 
hin noch basische Farbstoffe und Alkaloidsalze in den Kreis 
der Untersuchungen gezogen. Der Grund dafür ist der folgende: 
Histon und Clupein wirken als basische Stoffe, d.h. durch ihre positive 
Ladung auf die negativen Zellen umladend. Aber es kommt noch etwas 
Weiteres hinzu, was sie vor den ebenfalls umladenden La-Ionen aus- 
zeichnet; das ist die mehrfach genannte Eigenschaft, auch gewaschenen 
Zellen leicht, d.h. in sehr kleinen molekularen Konzentrationen eine 
positive Ladung zu erteilen. Dies dürfte auf ihrem mehr oder weniger 
kolloiden Verhalten und der damit zusammenhängenden Fähigkeit, 
sich an Oberflächen anzuheften, beruhen. Dies Haften an Oberflächen, 
dies Sichankleben mag auch die Ursache dafür sein, daß besonders 
Albumin und Gelatine die gewaschenen Zellen für die La-Ionen zu 
sensibilisieren vermögen. Unter diesem Gesichtspunkt wurde der Plan 
gefaßt, auch die kolloiden bis semikolloiden basischen Farbstoffe und 
Alkaloidbasen bzw. ihre Salze hier zu prüfen, Namentlich von der 
Untersuchung der Farbstoffe ließ sich ein gewisser Erfolg versprechen, 
da die Möglichkeit, mit basischen Farbstoffen Zellen umzuladen, bereits 
für die roten Blutkörperchen durch Höbert!) erwiesen und zudem auch 
durch Vorschütz?) kürzlich im hiesigen Laboratorium gezeigt wurde, 
daß Farbbasen rote Blutkörperchen agglutinieren. Des ferneren ist 
von Freundlich?) schon vor längerer Zeit festgestellt worden, daß 
negative Sole (As,S,, Au) durch die Salze von Farbbasen und Alkaloiden 
in relativ kleiner Konzentration ausgeflockt werden können. 

Zur Prüfung der Wirksamkeit der Farbbasen wurden die Zellen 
teils in Rohrzucker-Kochsalz gewaschen, teils ungewaschen, teils auch 
nach Zusatz von Albumin zur Waschflüssigkeit in die Farblösungen 
eingetragen. Das Ergebnis war das folgende: 


1) Höber, Biochem. Zeitschr. 6%, 420. 1914. 
2) Vorschütz, Arch. f. d. ges. Physiol. 189, 182. 1921. 
®) Freundlich, Zeitschr. f, physikal. Chemie %3, 385. 1910. 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw. 203 
Tabelle VI. Umladung durch Neutralrot. 

Neutral- : [ 3 |Leukocyten| Rote Blut-| Rote Blut- | Rote Blut- 
Tot- Hefezellen ne k De mit Albu- | körperchen | körperchen | körperchen 
Konz. ein an ınin gewaschen | ungewasch. | m. Albumin 
2400 — — — — — — == 
1200 — _ — — — — — 
600 | + bis + + — n_ — — — 
300 E u zubse IE AIE schw. + | schw. + 

120 a + a" nm + + 
Tabelle VII. Umladung durch Rhodamin S. 

"Rhod- | Hefezellen Lycopo- Leuko- > Rote Blut- 
amin- Er mit Albu- Bien dium mit Bauase eyten mit PuG körperchen 
Konz in min Podium) Aypumin | CYten | Aybumin |Körperchen | „ Albumin 
400 — — — — — — — — 
320 —. —_ — — — — — — 
160 — + + + — — — u 
| +. + + een 

Tabelle VIII. Umladung durch Methylviolett. 
Methylviolett- 5 
Konz: | Hefezellen Lycopodium 
1600 — — 
s00 aim —+ bis nn 
400 + + 


Es zeigt sich also, daß Neutralrot bei etwa %/,s, Dis "/300, Rhodamin S 
bei ®/,, bis %/ig0 und Methylviolett bei %/;no PIS "/gon die Zellen umlädt 
und zwar auffälligerweise unabhängig von Zellart und Vorbehandlung. 

Die Salze der Alkaloide waren dagegen, wenigstens innerhalb 
des untersuchten Konzentrationsintervalls, nicht geeignet, 
die negative Ladung der Zellen aufzuheben, auch nicht wenn durch 
Zusatz von etwas NaHCO, die Hydrolyse verstärkt bzw. die Ober- 
flächenaktivität der freigemachten Base gesteigert wurde!). Auch ließ 
sich nicht nachweisen, daß die Zellen in einer Alkaloid-La-Lösung 
leichter umzuladen sind, als in der La-Lösung ohne Alkaloid. Die fol- 
gende Tabelle gibt eine Übersicht über die angestellten Versuche. 


Tabelle IX. Einwirkung von Alkaloidsalzen. 


Alkaloidsalz 


Hefezellen 


Lycopo- 
dium 


Leuko- 
cyten 


Rote Blut- 
körperchen 


Cocain-HCl "/gg 
Socan Hola a ua. 
Cocain-HCl ”®/,; + 0,1% NaHC0,. . 
Morphin-HCl "/g 
Chinin-H,SO, "/ga 
Optochin-HCl ”/.g 
Optochin-HCl "/,;, + 04% NaHCO, 


euere leere, 3 


ei eyi ie ver ieh eiserne 


= DS) Ib aube und Onodera, Internat. Zeitschr. f. physik.-chem. Biol. 1, 35. 1914. 


» 


204 K. Heesch: 


Von großem Interesse wäre es gewesen, wenn die Untersuchungen 
an den tierischen Zellen durch die Untersuchungen an nackten Proto- 
plasten von Pflanzenzellen hätten ergänzt werden können, zumal im 
Hinblick auf die Versuche von Collander, die anfangs zitiert wurden. 
Leider waren meine Bemühungen, aus plasmolysierten Zellen durch 
Anreißen der Zellhaut eine größere Zahl von Protoplasten zu isolieren 
oder durch Zerschneiden von Vaucheriafäden brauchbare Protoplasma- 
tröpfehen in genügender Menge zu erhalten, vergeblich. 


b) Beobachtungen über die Umladbarkeit von Zellbestand- 
teilen. 

Nachdem im vorhergehenden eine größere Zahl von Erfahrungen 
über die Umladbarkeit von Zellen zusammengestellt wurde, erscheint 
es als der gegebene Weg der weiteren Analyse nachzusehen, auf welche 
der einzelnen Bestandteile, die in der Oberfläche der Zelle vertreten sein 
können, die beobachteten Einflüsse zu beziehen sind. Aus diesem 
Grunde wurden die bereits S. 199 angeführten Stoffe, so wie die Zellen 
in den bisher beschriebenen Versuchen, suspendiert und ihre Kata- 
phoreserichtung untersucht. 

1. Stärkekörnchen. Weizenstärke wurde 4 mal mit destilliertem 
Wasser gewaschen, dann in Rohrzucker-Kochsalzlösung übertragen, 
die je nachdem mit verschiedenen Zusätzen versehen war. Für diese 
Versuche wurde der Kataphoreseapparat mit einer Kammer von be- 
sonders großer Höhe ausgestattet, um die relativ großen und rasch 
fallenden Körnchen lange genug vor ihrem Absitzen auf dem Boden 
der Kammer im Mikroskop beobachten zu können. 


Tabelle X. Umladbarkeit von Stärkekörnchen. 


a | ee Gummi Agar | Albumin | Gelatine | Pepton | Leeithin | ER Er 
oo RR wer a peut Peer! ER Ba 

2500 n a = an gu 12 ae 

1000 En an ein a au 
750 — = a = + en au 3 
500 || schw. — E— + + Ze + — 
250. | zebis — — AL | = IL =E 
100 + — = ar 2 + 

10 zwbiser a 


2. Cellulose. Reines Filtrierpapier wurde fein zerzupft und 4 mal 
gewaschen: s. Tabelle XT. 

3. Agar. Klümpchen davon erwiesen sich auch in Gegenwart 
vom =/,, La noch deutlich negativ. 

4. Gummi. Teilchen davon waren bei ®/,, La umgeladen. 

5. Leeithin (Merck, älteres, dunkelkraunes Präparat). Es wurde 
für die Versuche in den betreffenden Lösungen verrieben: s. Tabelle XII. 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw. 205 


Tabelle XI. Umladbarkeit von Cellulose. 


E leS| 8 =: 5 = B 2 a ö 
les E E euer 
= [®) N 5 = 5 au e = oa 
[o 6) _— = — —— = == —— —— — 
EN se ah Haren 
1000 | — | — |! — |schw. —bis + | + bis + _ -— — 
7100| —ı — | — + + schw. — —- bis + 

500 ee an a Ey | 

>50 ae 3 L en ze 
OD | I = | = Z= Ar 

10 le 


Tabelle XII. Umladbarkeit von Lecithin. 


La-Konz. Ohne Zusatz Gummi Asar Albumin Gelatine 


oo et ER = a se, 
2500 = — a = 
1000 Dn > HL This AL an 

750 2 = —_ ar =. 

500 + bis + = a 

250 L — an 

100 ve = 


6. Cholesterin. Es wurde ebenfalls in den Lösungen verrieben. 


Tabelle XIII. Umladbarkeit von Cholesterin. 


La-Konz. Ohne Zusatz Gummi Asar Albumin Gelatine 


1000 = = as er Er 
750 = ı u e 
500 — hs _ — aba) A 
250 + — = . 
100 - _ 


7. Öl. Pflanzenöl wurde mit etwas Soda emulgiert und eine kleine 
Menge der Emulsion in die verschiedenen Lösungen eingetragen. 


Tabelle XIV. Umladbarkeit von Öl. 


La-Konz. Ohne Zusatz Agar Albumin Pepton Lecithin | Cholesterin 
1000 = er = a Ze — 
750 —_ — = = = — 
500 us — ee ebiseıe N 
Do zn un L + 4 
222100 ai as AL 


206 K. Heesch: 


8. Albumin (aus Blut von Merck). Es wurde in Wasser gelöst 
und durch Hitze koaguliert. Von den feinen Koagula wurden Proben 
in die verschiedenen La-Lösungen eingetragen. Die Umladung trat bei 
2 lkan ein. . 

Außer mit La-Ionen wurde auch bei den Zellbestandteilen die 
Umladung mit Histon, Clupein, Farbbasen und Alkaloiden 
durchgeprüft. Histonsulfat, Clupeinsulfat und die basischen Farb- 
stoffe Neutralrot, Methylviolett und Rhodamin S erwiesen sich wie- 
derum als geeignet, die geprüften suspendierten und gut gewaschenen 
Zellbestandteile umzuladen. Über die Histon- und Clu pein versuche 
orientieren die folgenden Tabellen. 


Tabelle XV. Umladung durch Histonsulfat. 


Histonsulfat Stärke- 


0% en Cellulose Ol, Lecithin |Cholesterin 
ut — - — _ — 
"/s2 ar a8 m DR I 
Us ie IT al en Ar 
1, + + + + + 
3, 4 v 1 + 

Tabelle XVI. Umladung durch Clupeinsulfat. 
meinen Stärke, Cellulose öl Lecithin | Cholesterin 

2% körnchen 
Ugs0 a: 
ass a Fi = fr 
an 128 ar ZEN Sn ai, Ar 
"oa Em Sm Ze an 
Use Hr m = 
ll + bis - zen 
Ua Zi Sr = 


Sehr merkwürdig ist der Befund, der mehrmals nachgeprüft wurde, 
daß Lecithin und Cholesterin durch Clupeinsulfat so besonders leicht 
umgeladen werden. 

Die Farbbasen erwiesen sich gegenüber Leeithin, Cholesterin und 
Cellulose in ungefähr der gleichen Konzentration wirksam, die Al- 
kaloide ebenso unwirksam wie gegenüber den Zellen. 

Überblicken wir die Gesamtheit dieser Ergebnisse, so finden 
wir folgendes: 

l. Die untersuchten negativ geladenen Zellbestandteile 
werden bis auf Gummi und Agar, in Rohrzucker - Kochsalz- 

ösung suspendiert, von La-Ionen innerhalb des Konzen- 
trationsintervalls von ”%/;oo Pis "/;. umgeladen. Das Gleiche 
silt für die Hefezellen und die Lycopodiumsporen (s. S. 200) 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw. 207 


und dürfte wohl darauf bezogen werden, daß sich die Zell- 
haut aus Cellulose aufbaut, die noch mit verschiedenen 
anderen Stoffen, wieLipoiden, Seifen, Pektinen imprägniert 
ist. Abweichend verhalten sich die untersuchten tierischen 
Zellen, die roten und weißen Blutkörperchen, die nach 
ausgiebiger Waschung mit Kochsalzlösung erst bei ”/,, La 
entladen oder umgeladen werden. Eine Erklärung kann 
dafür bisher nicht gegeben werden. 

2. Auch durch Histonsulfat, Clupeinsulfat und Salze 
der Farbbasen können die Zellbestandteile ebenso wie die 
ganzen Zellen umgeladen werden. Die dafür notwendigen 
Konzentrationen variieren im einzelnen ziemlich stark. 
Alkaloidsalze sind unwirksam. 

3. Die Wirksamkeit der La-Ionen kann gesteigert oder 
abgeschwächt werden (positive oder negative Sensibili- 
sierung), wenn man die umzuladenden Teilchen zuvor 
in Rohrzucker-Kochsalzlösung wäscht, in der andere 
Stoffe — als solche wurden lösliche Zellbestandteile ver- 
„wendet — gelöst sind. Positiv werden die suspendierten 
Teilchen, Zellbestandteile wie Zellen, vor allem durch 
Albumin und Gelatine sensibilisiert, negativdurchGummi 
und Agar. Lecithin ist im allgemeinen ein besserer Sensi- 
bilisator als Cholesterin; auch Pepton tritt zurück, noch 
mehr nucleinsaurer Natrium und Stärkekleister. 


c) Beobachtungen über die Umladbarkeit von Membranen. 


Die mitgeteilten Ergebnisse wurden durch Beobachtung der Kata- 
phorese der suspendierten Materialien gewonnen; sozusagen die Kehr- 
seite dieser Beobachtungen ist die Untersuchung der Elektroosmose 
durch die aus den gleichen Materialien gebildeten Membranen. Als 
solche kamen hier zur Verwendung: Schweinsblase, die muskulöse 
Bauchdecke von entkäuteten Fröschen, Pergamentpapier und 
Agar. 

Über die Umladbarkeit von Membranen liegen namentlich seit den 
bekannten Untersuchungen von Perrin zahlreiche Beobachtungen vor. 
Von Membranen an organischem Material und ihrer Beeinflussung 
durch neutrale Salze handeln vor allem die Arbeiten von Bethe und 
Toropoff!) und von Loeb?2). Bethe und Toropoff bedienten sich 
zur Beobachtung der Wasserbewegung eines Gefäßes von der Form 
eines H, in dessen Querstück die Membranen als Diaphragmen einzu- 


1) Bethe und Toropoff, Zeitschr. f. physikal. Chemie 88, 686. 1914 und 
89, 597. 1915. ’ 
- 2) J. Loeb, Journ. of gen. physiol. 2, 387, 563 und 659. 1920. 


208 . K. Heesch: 


setzen sind. Die Stromzuführung geschieht von den Seitenstücken 
aus durch Quecksilber und Kalomel hindurch, welche kleine aus Platin- 
spiralen bestehende Elektroden bedecken. Eine auf das eine Seiten- 
stück aufgesetzte graduierte Capillare dient zur Ablesung der Wasser- 
bewegung. Das Gefäß kann in einen T'hermostaten versenkt werden. 
Ein ebensolches Gefäß habe ich in meinen Versuchen verwendet (siehe 
Abb. 1), mit dem Unterschied, 
daß zur Erleichterung der Fül- 
lung an das mit der Capillare 
versehene Stück noch ein 
Rohr mit Hahn seitlich angefügt 
wurde. 

Die Arbeiten von Bethe 
und Toropoff, die ein anderes 
Ziel verfolgten als ich, enthalten 
nur gelegentlich Angaben über 

Abb. 1. die Änderung der Richtung der 

Elektroosmose durch neutrale 

Salze bei neutraler Reaktion. So findet sich für Membranen aus chro- 

mierter Gelatine die Mitteilung, daß bei Einlagerung in "/,ooo CaCl;, 

MsCl, und La(NO,), die Wasserbewegung vom Minus- zum Pluspol 

gerichtet war, also umgekehrt als sonst, und zwar beim La-Salz am 

stärksten. Bei Collodiummembranen wurde dagegen unter den gleichen 

Bedingungen die Wasserbewegung durch Zusatz von La-Ion oder dem 

ebenfalls dreiwertigen Hexamminkobaltiion nur in der Richtung 
Plus— Minus stark verlangsamt. 

Loeb stellte im Verlauf seiner ausgedehnten osmotischen Unter- 
suchungen fest, daß Collodiummembranen an sich nicht durch Salze 
positiv geladen werden können, wohl aber, wenn sie mit einem Film 
aus Gelatine, Casein, Albumin, Edestin oder Oxyhämoglobin über- 
zogen sind; alsdann nehmen sie bei der Behandlung mit drei- oder 
vierwertigen einfachen (nicht komplexen) Kationen (außer H-Ion) 
positive Ladung an und veranlassen nun, in ein genügendes Potential- 
gefälle gelegt, eine Bewegung des Wassers in Richtung auf den posi- 
tiven Pol. 

Bei meinen eigenen Untersuchungen wurden die betreffenden 
Membranen vor dem eigentlichen Versuch mehrere Stunden lang in die 
jeweils zu prüfende Lösung eingelegt. Bei den Untersuchungen an 
Agar wurden die zu prüfenden Stoffe in der Agarlösung (2%) mit auf- 
gelöst und dann eine Schicht davon in dem Querstück des Meßgefäßes 
erstarren gelassen. 

Infolge der Bildung Joulescher Wärme verschob sich in den Ver- 
suchen der Meniscus in der Capillare meistens bei beiden Strom- 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw. 209 


richtungen vorwärts; da die Größe der Verschiebung aber bei den beiden 
Richtungen verschieden groß war, so ließ sich trotzdem die Richtung 
des elektroosmotischen Transports beurteilen. 


l. Schweinsblase. In Alkohol ausgekocht und dann gewässert. 


Tabelle XVII. Umladung von Schweinsblase. 


sirom.| _ Menbeusbenosung _ |edens [arsceät| un, 
dauer |} Poland. Cap. |-Poland.Cap.| bran Volt  |@mpere 
La(NO,); 
leo RES je 7 Omm | +10, 00mm | — 100 1,0 
a A He 22.08 +11,0 ZL 100 0,5 
Histonsulfat 
Aa alla: jene 02 + 20 ,„ — 100 0,5 
NV er Eu 20 nu She 100 0,5 
I EN ee 152 2183 0% a ala + 100 0,5 
Clupeinsulfat 
Da A Rees a ae a A En — 150 0,5 
U ao n. mehr. Std.| „ 5 + 02 „ =: u 150 0,5 
LS oe. BRD 02, 21,32, — 150 0,5 
26a, Stde spät 52 | 740... 2075 + 150 0,5 
Y22% DS ER ” 5 Ale 4,5 ” ei 1,0 „ E 100 0,5 
Rhodamin S | 
ES ea: 2 SE Ar — 120 2,0 
RO VE EEE RS RL ONE ne a SIE + 24,0 ,, + 120 1,0 


Es ergibt sich demnach, daß die Substanz der Schweinsblase durch 
La, Histon, Clupein und Farbbasen in geeigneter Konzentration um- 
geladen werden kann, und eine gute Bestätigung der Kataphorese- 
versuche ist insofern darin zu erblicken, als die Grenzkonzentrationen 
für die Umladung der Membranen ungefähr mit denjenigen überein- 
stimmen, die in den vergleichbaren Fällen der Änderung der Kataphorese- 
richtung von Zellen oder von Eiweißteilchen vorher aufgefunden 
wurden. 

2. Muskelmembranen. Als solche wurden Stücke aus der Bauch- 
wand von Fröschen benutzt. 

Die umladenden Grenzkonzentrationen sind ungefähr die gleichen, 
wie in der Versuchsreihe mit Schweinsblase. Daß bei den Versuchen 
mit La als Grenzkonzentration etwa ”/,, gefunden werden würde, so 
wie bei gut ausgewaschenen roten und weißen Blutkörperchen, wurde 
von vornherein nicht erwartet, da auch durch stundenlange Vorbe- 
handlung der Membranen mit La-Lösung die zwischen den Muskel- 
fasern vorhandenen sensibilisierenden Eiweißkörper schwerlich aus- 
gelaugt werden können. 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 14 


210 K. Heesch: 
Tabelle XVIII. Umladung von Muskelmembranen. 
| EN | Meniscusbewegung a es Mili- 
dauer Poland. Cap. |-Polan d.Cap. | hran Volt ampere 
La(NO,); 
1000 je ”’ | +0,25 mm | + 15,5 mm — 100 0,1 
"750 ” a“ SF 40,0 ” + 21,5 » + 100 1,0 
Histonsulfat 
1% £2) 15’ Ten 9,9 » == 8,5 EL) z_ 100 0,5 
1/32% ” 14’ Ar 12,5 ” FE 31,5 ” = 100 0,5 
Clupeinsulfat | 
2 /32% 6, 0 20, _ 100 0,5 
U a0o ” 7 + 12,0 ” + 8,0 Er) E= 100 0,5 
Rhodamin S | 
"/160 „1022150. 02292205; — 100 0,1 
"/so - at 455,05 e 100 1,0 
3. Pergamentpapier. 
Tabelle XIX. Umladung von Pergamentpapier. 
Strom SR Meniscusbewegung er ss Mini- 
aueT |+Poland. Cap. |-Poland. Cap.| bran Volt ampere 
La(NO,), 
ns je 6/ 0. mm | + 5,0 mm — 190 0,5 
"so - N sie 190 0,5 
Histonsulfat 
"/ea%o ne Be _ 100 0,5 
"32% ARE 3:8 12 5 4 100 0,5 
Clupeinsulfat 
U 128% Ö ” 3 Ale 1,0 EL) zIiE PL ER) Tpr: 120 0,5 
lan va RL ee ne 11,0, — 100 0,5 
Rhodamin S 
"so ” 3 Sim 23,5 ” kelım: 31,25 Ex) FB 120 30 
"/go 2 EL 7 1,8 ” Ir 1,0 ” Sr 120 2,0 


Man sollte erwarten, daß beim Pergamentpapier die umladenden Grenz- 
konzentrationen mit den für Filtrierpapierstückchen kataphoretisch ge- 
fundenen übereinstimmen. Dies ist aber nicht ganz der Fall und könnte 
in chemischen Differenzen der beiden Materialien seinen Grund haben. 


4. Agar. 
Tabelle XX. Umladbarkeit von Agarmembranen. 

Stroms Meniscusbewegung | a ee ee Milli- 

dauer |} Poland. Cap. -Poland. Cap. bran Volt anıpeie 
La(NO,), "so - je 7° | —22,0mm | + 32,0 mm | — 120 2,0 
Histonsulfat 1/,% | „ Y’ — 4.0. 6, 2.50 7,,; — 120 1,5 
Clupeinsulfat!/,% | „ 1’ — 89,00 0139, — 120 1,5 
Rhodamin S ”/go | » 7’ —20,0 „ | +32,0 „ _ 120 2,0 


Untersuchungen über die Umladbarkeit von Zellen usw. al 


Die Zusammenstellung lehrt, daß es bei den höchsten verwendeten 
Konzentrationen nicht gelang, mit La, Histon, Clupein oder Rhodamin 
die Agarmembranen umzuladen. 


Schlußbetrachtung. 


Die hauptsächlichen Ergebnisse dieser Untersuchung 
wurden bereits auf S. 206 zusammengestellt; die elektro- 
osmotischen Messungen, über die eben berichtet wurde, bilden dazu 
nur eine Ergänzung. 

Wenn wir nun noch einmal auf den Ausgangspunkt der Unter- 
suchung, der in der Einleitung genannt wurde, zurückkommen, so 
können wir die neu gewonnenen Erfahrungen in folgender Richtung 
verwerten: 

1. Wenn sich in den Versuchen von Collander ein Mitspielen 
elektroosmotischer Kräfte bei der Plasmolyse der Pflanzenzellen nicht 
nachweisen ließ, so könnte dies wohl damit zusammenhängen, daß die 
Protoplasmaoberfläche nur eine geringe Umladbarkeit besitzt, wenn sie 
nicht durch Eiweiß und ähnliches sensibilisiert ist; hierfür liegen aber 
bei den Pflanzenzellen keine Anhaltspunkte vor. 

2. Die Bedeutung der Zusammensetzung des Zellmediums für die 
elektrische Ladung der Zellen wird durch die mitgeteilten Versuche 
noch viel stärker betont, als durch die früheren Mitteilungen von Fäh- 
raeus und Linzenmeier; die Ladung oder wenigstens die Umlad- 
barkeit der tierischen Zellen ist wohl in erster Linie durch die ihnen 
äußerlich anhaftenden organischen Kolloide bedingt. 

Im übrigen sind die mitgeteilten Ergebnisse als Material für weitere 
Untersuchungen anzusehen, da die Lösung der schwebenden Fragen 
der Zelladung, der Agglutination und Cytolyse, der Ionenpermeabilität, 
der Bedeutung thermodynamischer und elektrokinetischer Potentiale 
bei Zellen und Geweben Untersuchungen in der Art der hier mitge- 
teilten zur Voraussetzung hat. 


Zum Schluß möchte ich Herın Prof. Dr. R. Höber für die während 
meiner Arbeit stets gewährte Anleitung und Unterstützung durch 
Rat und Tat meinen herzlichsten Dank aussprechen. 


14* 


Über die Blutbewegung in den Capillaren. 
2. Mitteilung. 
Beziehungen zwischen Strömungsgeschwindigkeit und Druck. 


Von 
Prof. Dr. Adolf Basler, Tübingen. 


Mit 6 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 3. Mai 1921.) 


Betrachtet man die oberflächlichen Blutgefäße der menschlichen 
Haut nach der Methode von Lombard!), dann sieht man ohne weiteres, 
daß das Blut in den Capillaren sich je nach den äußeren Umständen 
verschieden schnell bewegt. So konnten in besonders darauf gerichteten 
Versuchen Bruns und König?) zeigen, daß die Blutströmung in den 
Capillaren bei Abkühlung der Haut langsamer, bei Erwärmung schneller 
wird. 

Ich selbst beobachtete stets die langsamste Strömung bei kalten 
Händen, also namentlich bei kühler Lufttemperatur, aber auch dann, 
wenn bei warmem Wetter sich die Hände kalt anfühlen. Häufig stellte 
ich im Zustande des Hungers eine kleinere Geschwindigkeit fest als 
nach der Mahlzeit. 


Ursachen für die verschiedene Geschwindigkeit. 


Zur Entscheidung darüber, durch welche Mechanismen die verschie- 
dene Strömungsgeschwindigkeit hervorgerufen wird, habe ich spezielle 
Untersuchungen ausgeführt, die nachstehend berichtet werden mögen. 

Sieht man von der Möglichkeit ab, daß die Capillaren und die sich 
an sie anschließenden kleinen Gefäße über extrakardiale Triebkräfte 
verfügen, dann muß jede Verlangsamung der Strömung in einem ein- 
zelnen Bezirk durch eine Vergrößerung des Widerstandes für den Blut- 
strom bedingt sein. Eine Verlangsamung in irgendeinem Gefäßgebiet 
kommt ceteris paribus immer dann zustande, wenn die Strombahn 
an irgendeiner Stelle verengt wird). 

1) W.P. Lombard, The Blood Pressure in the Arterioles e.c. Americ. Journ. 
of Physiol. 29, 335. 1912. x 

®2) O. Bruns und F. König, Über die Strömung der Blutcapillaren usw. 
Zeitschr. f. physik. u. diätet. Therap. 24, 21. 1920. 

>) Vgl. K. Hürthle, Über den Einfluß der Gefäßnerven auf den Blutstrom. 
Deutsche med. Wochenschrift 1917, S. 97. (98). 


A. Basler: Über die Blutbewegung in den Capillaren. II. 213 


Daß die Verengerung im Gebiet der eigentlichen Capillaren statt- 
findet, ist nicht nachweisbar, im Gegenteil kann man sich durch mikro- 
skopische Beobachtung überzeugen, daß häufig Capillaren, in denen die 
Strömung langsam erfolgt, sehr weit erscheinen, oft weiter als normal. 
Eine exakte Messung der Capillarreihe unter verschiedenen Bedingungen 
ist mir sowenig gelungen wie Bruns und Königt). Die wesentlichste 
Vergrößerung des Widerstandes ist also in den prae- bzw. postcapillären 
Gefäßen zu suchen. 

Ob die Kontraktion auf der arteriellen oder venösen Seite zustande 
kommt, darüber muß die gleichzeitige Bestimmung von Druck und 
Geschwindigkeit Aufschluß geben. Handelt es sich um Verengerung 
auf der arteriellen Seite, dann wird der Druck kleiner, bei Verengerung 
auf der venösen Seite größer. In beiden Fällen wird die Strömung 
langsamer. 


Bestimmung der Geschwindigkeit. 


Die Geschwindigkeit der Bewegung in den Capillaren zu bestimmen, 
ist nun keineswegs so leicht, wie es auf den ersten Blick erscheint. 

Zwar gehören Untersuchungen über die Strömungsgeschwindigkeit 
in den Capillaren zu den ältesten Arbeiten der Physiologie, so die von 
Hales2), Weber), Vierordt®), aber ihre Beobachtungen beziehen 
sich auf die Capillaren des Frosches, die leicht im durchfallenden Licht 
erkannt werden. 

Abgesehen davon sind die geradlinigen Strecken von Capillaren, 
die uns in der menschlichen Haut zur Verfügung stehen, kurz; um so 
schwerer ist es, die Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der die ein- 
zelnen Elemente sich fortbewegen. Dazu kommt noch, daß die erkenn- 
baren Körperchen klein sind, viel kleiner als beim Frosch. Es mußte 
deshalb zur Bestimmung der Geschwindigkeit ein neuer Weg einge- 
schlagen werden. Am leichtesten kommt man, wie ich gefunden habe, 
zum Ziel durch Vergleichung der Blutbewegung mit einer solchen von 
bekannter Geschwindigkeit. 

Zur Ausführung derartiger Bestimmungen’) durchbohrie ich das 
Okular des von mir benutzten Mikroskopes dicht unterhalb der Blende 
an zwei gegenüberliegenden Stellen. Durch die beiden Bohrlöcher 
wurde ein aus drei langen Frauenhaaren geflochtener Zopf gelegt, der 


1) O. Bruns und F. König, ].c., S.2 des Separatabdruckes. 

®) S. Hales, Statik des Geblütes. Regnerische Buchhandlung Halle 1748, 
S. 66. 

®) E.H. Weber, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1838, 450 (465). 

*) K. Vierordt, Erscheinungen und Gesetze der Stromgeschwindigkeit des 
Blutes. Frankfurt a. M. 1858, S. 35. 

5) Vgl. A. Basler, Über die Bestimmung der Strömungsgeschwindigkeit usw. 
Münch. med. Wochenschr. 1919, S. 347. 


214 A. Basler: 


auf der einen Seite mit einem kleinen Gewicht beschwert ist, während 
das andere Ende an einem Faden befestigt wurde, der sich auf eine kleine 
Walze aufspulen ließ. Wird dieser Zopf in seiner Längsrichtung be- 
wegt, dann sieht man bei Beobachtung durch das Okular, wie sich das 
vergrößerte Geflecht durch die Mitte des Gesichtsfeldes hinschiebt. 
Die Geschwindigkeit der Bewegung ist natürlich durch die Okularlinse 
ebenso vergrößert wie das im Tubus schwebende Objektbild vergrößert 
wird. Man darf deshalb, damit die scheinbare Bewegung nicht zu groß 
wird, nur langsam an dem Strang ziehen. 

In einem unter das Mikroskop gelegten Finger sieht man, wie immer 
bei entsprechender Behandlung, die Capillaren und in diesen die Be- 
wegung der Blutkörperchen. Damit man die Blutbewegung in den 
Capillaren mit der Bewegung des Stranges vergleichen kann, müssen 
die beiden Linien, in denen sich die Bewegungen abspielen, parallel 
zueinander sein. 

Man schiebt und dreht also den untersuchten Finger so lange, bis 
eine Capillarschlinge dicht neben dem Strang liegt. Ist das erreicht, 
wird der Strang an der einen Seite durch ein Uhrwerk mit gleichmäßig 
bekannter Geschwindigkeit angezogen. Jetzt läßt sich unterscheiden, 
ob die Bewegung der Blutkörperchen gleich schnell, schneller oder lang- 
samer erfolgt als die des Haares. Ich habe mit dieser Methode die Strö- 
mungsgeschwindigkeit in verschiedenen Capillaren des menschlichen 
Fingers bestimmt und die Methode auch schon beschrieben. Sie besitzt 
aber einen Nachteil; es ist nicht leicht, einen Zopf herzustellen, der 
vollständig gleichmäßig und glatt ist, andernfalls bleibt er an irgend- 
einer Stelle hängen, bis die Spannung eine bestimmte Größe erreicht hat 
und schnellt dann ein Stück weit vorwärts, um in der neuen Lage 
wieder einige Zeit zu verharren. Statt der notwendigen gleichmäßigen 
Bewegung kommt also eine sprungweise zustande. Auch wenn es 
gelungen ist, einen Strang herzustellen, der den Anforderungen genügt, 
verliert er nach mehrmaligem Gebrauch seine Glätte und der beschrie- 
bene Übelstand ist vorhanden. Ein einzelnes Haar wäre zwar glatt, 
aber seine Bewegung ist nicht sicher zu erkennen, da es unmöglich 
ist, einzelne Punkte in ıhm zu markieren. 

Da mir aber in lange fortgesetzten Untersuchungen die Vergleichung 
als die einzige zuverlässige Methode erschien, um über die Geschwindig- 
keit der Blutbewegung in den Capillaren Aufschluß zu erhalten, suchte 
ich mit allen Mitteln die dem Verfahren noch anhaftenden Mängel zu 
beseitigen, was auch durch eine kleine Abänderung gelang. 

Das Okular wird nunmehr (vgl. Abb. 1) dicht unterhalb der Blende 5 
bis über die Mitte mit einem 3 mm breiten Schlitz versehen (auf dem 
Schnitt punktiert angedeutet). Damit dieser von außen zugänglich 
ist, muß das Okular höher stehen, als es für den gewöhnlichen Gebrauch 


Über die Blutbewegung in den Capillaren. I. 215 


des Mikroskops vorgesehen ist. Deshalb sind etwas unterhalb vom 
Schlitz drei Zapfen in seine Wandung eingebohrt, die auf dem oberen 
Rand des Mikroskoptubus { 
aufsitzen. Einer der Zapfen 
2 ist auf dem Durchschnitt 
gerade getroffen. 

Um die neben dem Mi- 
kroskop angebrachte Achse 
a dreht sich eine horizontal 2 
stehende Scheibe s aus Glas 
von 45 mm Durchmesser. 
Sie steckt so weit im Schlitz, 
daß das ganze Gesichtsfeld 
nur durch das Glas erscheint. 
Mit Hilfe eines Diamanten 
ist ein konzentrischer Kreis 
k (vgl. Abb. 2) von 39 mm B 
Durchmesser in das Glas 
eingeritzt, so daß er überall 
um 3mm vom Rand der 


[5 S 


SUIIIIIUININÄNIIUUNIIISSSÄNUANIUNIUUUÄIÄNAUUSSAN 


RIIIRRÜÜÜQ„, 
Sf 


Scheibe absteht. Die Ein- Abb.1. Längsschnitt durch den oberen Teil des Mikroskopes. 
richtung zum Halten der 
Achse «a besteht in einer kurzen aufgesägten Hülse, die das Mikroskop 
umfaßt (auf der Skizze 1 sind die beiden Schnittflächen mit A, und h, 
bezeichnet. In der kleinen Muffe m läßt sich das Stäbchen c, an dem 
die Achse befestigt ist, verschieben und mit Hilfe 
der Schraube d in jeder beliebigen Stellung fest- 
klemmen. Muffe, Schraube und Stäbchen sind, weil 
außerhalb der Schnittebene liegend, auf der Skizze 
punktiert dargestellt. Durch Verschieben des Stäb- 
chens c läßt sich die Glasscheibe so einstellen, daß 
der eingeritzte Kreis k gerade durch das Zentrum 
des Gesichtsfeldes geht. Dieser Strich erscheint bei Ab. Glasscheibe 
Vergrößerung durch das obere Glas des Okular- 
systems als eine Reihe in das Glas eingesprengter Punkte. Wird die 
Scheibe gedreht, dann wandert die Punktreihe durch das Gesichtsfeld. 
Die Bewegung wird bewerkstelligt durch ein an der Achse angebrachtes 
Rädchen r, um das eine Transmission gelegt werden kann. Die Punkt- 
reihe wandert allerdings in einem leicht gekrümmten Kreisbogen durch 
das Gesichtsfeld; da aber nur ganz kurze Strecken in Betracht kom- 
men, ist die Linie nahezu gerade. 

Zur Ausführung der Beobachtung wird auch hier wieder der Finger 
so unter das Mikroskop gelest, daß die Capillare, in der die Strömungs- 


216 A. Basler: 


geschwindigkeit bestimmt werden soll, parallel zu der Punktlinie zu 
liegen kommt. Jetzt ist aber noch ein Übelstand zu beseitigen: Die 
Capillaren nehmen nur einen Teil des Gesichtsfeldes ein, während die 
Vergleichsbewegung sich über die ganze sichtbare Fläche hin vollzieht 
und dadurch viel mehr imponiert. Da deshalb die beiden so verschieden- 
artigen Bewegungen zunächst nur schwer miteinander zu vergleichen 
sind, mußte die Strecke, innerhalb der sich die bekannte Bewegung 
abspielte, verkürzt werden. Das einfachste Verfahren, um dies zu er- 
reichen, würde darin bestehen, daß man eine spaltförmige Blende so in 
das Okular einsetzte, daß der Spalt senkrecht zur Richtung der Capillar- 
schlingen steht. Aber dadurch wird die Einstellung außerordentlich 
erschwert. Deshalb wurde, wie Abb. 3 zeigt, aus dünnem Aluminium- 
; blech ein Ring a ausgeschnitten, von dem zwei 
Zungen 5b, und d, abgehen, die bei c einen 
Zwischenraum von 1 mm zwischen sich freilassen. 
In dem Raume c hat in der Regel gerade eine 
Capillarschlinge in ihrer ganzen Länge Platz. 
Von dem danebenliegenden Strich, in dem sich 
die Vergleichsbewegung vollzieht, wird jedoch 
eine gleich lange Strecke ausgeschnitten. In 
dem Zwischenraum c ist die Capillarschlinge 
und die danebenliegende Punktreihe schema- 
tisch angedeutet. Andererseits ist neben den Zungen jeweils eine so 
große Fläche des Gesichtsfeldes erkennbar, daß die Einstellung keine 
Schwierigkeiten bereitet. 

Um die Scheibe s zu drehen, wird neben dem Mikroskop ein Kymo- 
graphion so aufgestellt, daß die (senkrechtstehende) Triebachse sich in 
gleicher Höhe mit dem Rädcehen r (Abb. 1) befindet. Bei jeder Beob- 
achtung wird die Zeit für eine Umdrehung bestimmt, woraus sich ohne 
Mühe die Geschwindigkeit eines Punktes in dem Kreise berechnen läßt. 

Bei meinen Versuchen verwendete ich stets das Objektiv Leitz 3, wo- 
durch ich mit meinem Okularzusammen eine ö5fache Vergrößerung erhielt. 

Um die wirkliche Blutgeschwindigkeit in den Capillaren zu ermit- 
teln, wurde die Vergleichsgeschwindigkeit durch 9 dividiert, denn es 
ließ sich experimentell feststellen, daß das Objektiv mit der Kollektiv- 
linse 9mal vergrößert. 

Mußte sich z. B. bei einem Versuch ein Punkt des in die Scheibe 
eingeritzten Kreises k mit einer Sekundengeschwindigkeit von Imm 
bewegen, damit seine Geschwindigkeit gleich schnell erschien, wie die- 
jenige des strömenden Blutes, dann bewegte sich das Blut in der Capil- 
lare um !/;, mm in der Sekunde. 

Bei gesunden Menschen und gut durchbluteter Haut muß man häufig 
lange hinsehen, ehe man eine Bewegung erkennt. Das rührt daher, dab 


Abb. 3. 


Über die Blutbewegung in den Capillaren. II. 217 


sich einmal die Bewegung so schnell vollzieht, daß die einzelnen er- 
kennbaren Teile der Blutsäule verschmelzen, andererseits die ein- 
zelnen Körperchen so dicht beisammenliegen, daß wir es scheinbar 
mit einer homogenen Blutsäule zu tun haben. Aber trotzdem gelingt 
es häufig doch noch, die Blutkörperchen auf ihrem raschen Lauf mit 
dem Auge zu erfassen. 

In dicht daneben liegenden Schlingen erfolgt die Strömung oft viel 
langsamer. Untersucht man aber erst die Hand im Zustand der Ab- 
kühlung, dann kann die Strömung so langsam werden, daß die ein- 
zelnen Blutkörperchen nur noch träg hintereinander herschleichen. 
Es kann sogar zur vollständigen Stase kommen. 


Methode zur Bestimmung des Druckes. 


Um feststellen zu können, was für ein Druck in den einzelnen Ge- 
fäßen herrscht, habe ich den untersuchten Finger während der mikro- 
skopischen Beobachtung mit langsam steigendem Druck komprimiert 
und mir darüber Rechenschaft gegeben, was an dem Haargefäßsystem 
zu sehen ist. Der schon früher zur Druckbestimmung verwendete 
Apparat!), den ich als Capillartonometer bezeichnet habe, besteht der 
Hauptsache nach aus einer messingenen Kapsel, deren Decke ein 
Glasfenster aufweist, während die untere Wand von Goldschlägerhaut 
gebildet wird, die jedoch nicht angespannt sein darf. Außerdem be- 
sitzt die Kapsel zur kequemen Füllung ein Zu- und ein Abflußrohr. 
Mit dem einen Rohr ist eine mit Glycerin gefüllte Glaskugel verbunden. 
Durch Heben bzw. Senken derselben läßt sich der Druck weitgehend 
verändern. Zum Versuch wird die mit Glycerin gefüllte Kapsel so auf 
den Finger gesetzt, daß ihn die Goldschlägerhaut leicht berührt und 
hierauf wird während der gleichzeitigen mikroskopischen Untersuchung 
der Druck in der Kapsel langsam erhöht. Dabei wird festgestellt, was 
für Gefäße bei dem jeweiligen Druck zusammengepreßt werden. 

Wird der Versuch in der beschriebenen Weise ausgeführt, dann 
erblaßt zuerst der Grund, wie es auch Lombard?) beschreibt. Das 
geschah bei meinen Versuchen bei einem Druck von 12 bis 18cm Wasser. 

Wenn zuerst der Grund in seiner Gesamtheit heller wird, -dann 
kann das nur darauf beruhen, daß die unter den Capillaren liegenden 
kleinsten Venen des subpapillären Plexus zusammengedrückt werden. 
Dieser Venenplexus schimmert nur verschwommen durch die darüber- 
liegenden Hautschichten und bedingt im mikroskopischen Bilde eine 
diffuse Rötung. 


1) A. Basler, Untersuchungen über den Druck in den kleinsten Blutgefäßen 
der menschlichen Haut. III. Mitt. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 193, 389 (393). 
1919. f 
2), W.P. Lombard, ]. e., S. 358. 


218 A. Basler: 


Der Wert, der für den Druck in dem subpapillären Venenplexus 
gefunden wurde, stimmt ziemlich gut überein mit den Ergebnissen, 
die ich bei der Untersuchung mit einem anderen Apparat gewann, mit 
dem Ochrometer!). 

Bei manchen Capillarschlingen sieht man das überraschende Bild, 
daß sie sich gar nicht entleeren, so sehr auch der Druck in der Kapsel 
erhöht wird. Diese Tatsache, auf die ich auch in meinem Vortrag auf 
der Naturforscherversammlung in Nauheim hingewiesen habe, kann 
ich mir nur so erklären, daß die Körperchen in dem engen Capillarrohr 
eingeklemmt werden, während der größte Teil der Blutflüssigkeit 
schon herausgepreßt ist. Solche Beobachtungen werden natürlich nicht 
verwendet. 


Druck und Geschwindigkeit. 


Zur Bestimmung des Druckes und der Strömungsgeschwindigkeit 
in ein und derselben Capillare müssen natürlich die beiden Verfahren 
gleichzeitig angewendet werden. 

Wenn der Finger unter das Mikroskop gelegt ist, dann wird er in der 
beschriebenen Weise solange verschoben, bis gerade neben die Capillar- 
schlinge die wandernde Punktreihe zu liegen kommt. Hierauf wird der 
Capillartonometer aufgesetzt und unter geringem Druck gefüllt. 

Ist dies geschehen, stellt man durch den Capillartonometer hindurch 
die Gefäßschlinge von neuem ein und bestimmt durch Vergleich mit 
der Punktreihe die Störungsgeschwindigkeit in ihr. Zum Schlusse wird 
der in eben diesem Gefäß herrschende Blutdruck in der üblichen Weise 
ermittelt. 

Zur Vereinfachung habe ich noch eine andere Einrichtung ge- 
troffen, um. die Haut und die in ihr liegenden Capillaren zusammen- 
zudrücken. Ich kam dabei auf das 
älteste von v. Kries?) eingeführte 
Prinzip zurück, die Haut mit einer 
kleinen Glasplatte zu komprimieren. 

An einer leichtbeweglichen Achse 
‘a (Abb. 4) ist mit Hilfe einer Hülse 
aus Aluminium 5 ein Holzplättchen c 
Abb. 4. Der Apparat von unten gesehen. befestigt, das an der der Achse 

gegenüberliegenden Seite den Vor- 
sprung d besitzt. An ihm ist mittels Siegellack ein rechteckiges Glas- 
plättchen e angeklebt, an dessen vorderem Ende nach unten zu eine 


1) A. Basler, Untersuchungen über den Druck in den kleinsten Blutgefäßen. 
I. Mitt. Pflügers Arch. 14%, 393. 1912 und II. Mitt. Pflügers Arch. f. d. ges. 
Physiol. 15%, 345. 1914. 

2) N. v. Kries, Über den Druck in den Blutcapillaren der menschlichen Haut. 
Verhandl. d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch., Math.-phys. Kl. %%, 149. 1875. 


Über die Blutbewegung in den Capillaren. II, 219 


quadratische Glasplatte f mit Kanadabalsam aufgekittet ist. Abb. 5 
zeigt die Einrichtung von der Seite gesehen. Genau die gleiche 
Anordnung ist neben dem Vorsprung d angebracht, nur mit dem 
Unterschied, daß die Glas- 
platte e, nicht starr mit der 
Holzplatte ce verbunden ist, 
sondern unter Zwischenschal- 
tung eines dünnen Papierstrei- 
fens p. Die quadratische Glas- 
platte f, liegt somit annähernd 
mit ihrem Eigengewicht auf 
der Unterlage, ganz unabhän- 
eig davon, ob die Holzplatte 
mit Gewichten beschwert ist 
oder nicht. 

Das Gewicht, mit dem die Glasplatte f die Unterlage beschwert, 
läßt sich mit Hilfe der Wage bestimmen. Auf der einen Schale einer 
Apothekerwage wurde eine turmförmige Erhöhung a angebracht und 
durch Einlegen von Schrotkügelchen in die andere Schale tariert. Auf 
die obere Fläche der Erhöhung a wirkte die Platte f des an einem 
Stativ angebrachten Apparates, 
wodurch die Schale s sank. In 
die andere auf der Skizze nicht 
sichtbare Schale wurden nun so 
viele Gewichte gelegt, bis das 
Gleichgewicht wieder hergestellt 
war. 

Auf diese Weise ließ sich 
ermitteln, daß die Platte f ohne 
jede Beschwerung, nur durch das 
Eigengewicht des Apparates die Abb.6. Anordnung zur empirischen Bestimmung 
Unterlage mit 300 mg belastete. Br 
Da ein solches Gewicht, wie wir später sehen werden, allein schon einem 
Druck von 12cm Wasser entspricht, mußte der Apparat äquilibriert 
werden. Dies geschah in der Weise, daß an der hinteren Fläche der 
Achse «a ein entsprechend beschwerter Faden herunterlief. Der Faden h 
und das Gewicht g sind auf Abb. 5 zu sehen. 

Zum Halten des Apparates dient das kleine Stativ i. Die Fläche % 
stellt den Querschnitt des unter der Platte f, liegenden Fingers dar. 
Damit die Platte f einen bestimmten Druck auf die Haut ausübt, muß 
der Apparat beschwert werden. Die Gewichte werden stets auf die obere 
Fläche der Aluminizmhülse aufgesetzt. In Abb. 6 ist ein solches Ge- 
wicht dargestellt und mit ! bezeichnet. 


Abb. 5. Der Apparat von der Seite gesehen. 


220 A. Basler: 


Als Beispiel gebe ich eine Zusammenstellung in Tabellenform 
wieder, bei der zunächst nur die beiden ersten Kolonnen beachtet 
werden mögen. 


Auf die Hülse auf- Auf die Wagschale Druck: 
gelegtes Gewicht: wirkendes Gewicht: 
0a 0,108 4,0 cm H,O 
0,58 0,18 g 2 za 
1,08 0,35 8 14,0, 
2,08 0,ölg 20,4 ,, > 
508 1,10 g 4,0 ,„ 


Um aus den gefundenen Werten den Druck zu ermitteln, muß der 
Flächeninhait der Glasplatte f in Betracht gezogen werden. Nach 
Bestimmung mit dem Okularmikrometer war die eine Rechteckseite 
1,650 mm, die andere 1,50 mmlang, der Flächeninhalt war also 2,475 qmm 
— rund 2,5 qmm groß. Da der Wasserdruck n cm beträgt, wenn 
100 qmm Fläche mit n Gramm belastet werden, andererseits 2,5 den 
40. Teil von 100 bildet, muß der gefundene Gewichtswert, wenn man 
den Druck erhalten will, mit 40 multipliziert werden. Dies ist in der 
letzten Kolonne der Tabelle geschehen. 

Ich habe mir nun der Einfachheit halber zu dem Apparat eine 
ganze Serie von Gewichten hergestellt und auf diesen gleich den Druck- 
wert in Zentimeter H,O verzeichnet. Lege ich beispielsweise auf die 
Hülse b ein Gewicht, auf dem die Zahl 16 steht, dann wird die Haut 
unter der Glasscheibe f unter einen Druck von 16cm Wasser gesetzt. 

Zur Ausführung der Versuche wird die untere Fläche der beiden 
Glasplättehen f mit Cedernöl bestrichen und hierauf der Apparat leicht 
über den Finger k (Abb. 5) geschoben, so daß die beiden Glasplatten 
der Haut vollständig aufliegen. Beobachtet man nun von oben her 
(gleichgültig ob mit oder ohne Mikroskop), dann sieht man zwei den 
Glasplatten entsprechende Hautflächen, deren eine bei Auflegen von 
Gewichten heller wird, während die andere ihre Farbe behält. 


Vorzüge und Nachteile des Apparates. 


Diesem Apparat haften alle schon von v. Kries hervorgehobenen 
Nachteile an, die in der Überwindung des Hautwiderstandes liegen. 
Wir können deshalb nieht damit rechnen, absolut gültige Werte zu 
erhalten. Aber wenn es sich darum handelt, den Druck an ein und 
derselben Hautstelle unter verschiedenen Bedingungen zu untersuchen, 
werden die Fehler ziemlich ausgeschaltet. Denn wir dürfen annehmen, 
daß die physikalischen Konstanten bei Versuchen, die an der gleichen 
Hautstelle nur wenige Minuten nacheinander ausgeführt werden, nicht 
allzusehr voneinander verschieden sind. 


Über die Blutbewegung in den Capillaren. I. Do 


Diesen Nachteilen stehen aber große Vorzüge gegenüber. Der 
eine besteht in der wesentlich bequemeren Handhabung des Apparates. 
Der zweite Umstand, der den zuletzt beschriebenen Apparat empfehlens- 
werter macht, ist der, daß man bei seiner Anwendung wie beim Ochro- 
meter die Möglichkeit besitzt, die Farbe der gedrückten Hautstelle mit 
derjenigen einer normalen zu vergleichen. Dadurch ist der Beobachter 
imstande, eine geringere Farbenänderung festzustellen, als ohne Ver- 
gleich. 

Sämtliche Apparate sind von Herrn Universitätsmechaniker Bühler 
in Tübingen zu beziehen. 


Haben die rhythmischen Spontankontraktionen der Gefäße 
einen nachweisbaren Einfluß auf den Blutstrom? 


Von 


Kurt Wachholder. 
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Breslau.) 
Mit 3 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 7. Mai 1921.) 


Die Ansicht, daß die Arterien an der Förderung des Blutstromes 
durch peristaltische Kontraktionswellen aktiv beteiligt seien, wird viel- 
fach dadurch zu stützen gesucht, daß von zahlreichen Beobachtern 
an den Arterien Kontraktionserscheinungen festgestellt worden sind, 
sei es nach künstlicher Erhöhung des Innendruckes, sei es anscheinend 
spontan. So wird als Stütze für obige Hypothese die von Bayliss!) 
gemachte Entdeckung angeführt, daß die Arterien der Hinterextremität 
eines lebenden Hundes auf eine Steigerung des Innendruckes mit Kon- 
traktion reagieren. Jedoch sah v. Anrep?) diese Gefäßkontraktionen 
nach Entfernung der Nebennieren ausbleiben und nahm daraufhin an, 
daß sie vermutlich auf eine vermehrte Adrenalinausschüttung durch 
Splanchnieusreizung zurückzuführen sind. Gesichert blieb aber die 
Fähigkeit der Arterien, auf Erhöhung des Innendruckes mit Kon- 
traktion zu reagieren, durch weitere von Bayliss an ausgeschnittenen 
überlebenden Gefäßen gemachte Beobachtungen. Er berichtet, daß 
die Carotis eines Hundes, 3 Stunden nach dem Tode des Tieres unter- 
sucht, auf Erhöhung des Innendruckes sich so ausgesprochen kontra- 
hierte, daß der Effekt ohne Hilfe instrumenteller Vergrößerung sichtbar 
war. Da aber Bayliss keinerlei zeitliche Angaben über die Dauer der 
Kontraktion macht, so bleibt es noch fraglich, ob obige Beobachtung 
als Stütze für die eingangs erwähnte Hypothese herangezogen werden 
darf. ; 

Eine weitere Stütze glaubte man in den sog. rhythmischen Spontan- 
kontraktionen überlebender Arterien gefunden zu haben, wie sie erst- 


1) Bayliss, On the local reactions of the arterial wall to changes of internal 
pressure. Journ. of physiol. 28, 220. 1902. 

!) v. Anrep, On local vascular reactions and their interpretion. Journ. of 
physiol. 45, 318. 1912. 


K. Wachholder: Haben die rhythmischen Spontankontraktionen usw. 223 


malig von Fr. Müller!) gesehen und seitdem von zahlreichen Beob- 
achtern studiert worden sind. Da diese Beobachtungen fast ausschließ- 
lich nur an schmalen aufgeschnittenen Gefäßringen angestellt wurden, 
so bedarf es erst noch der Prüfung, ob diese Kontraktionen sich über 
längere Gefäßstücke wirklich im Sinne der Peristaltik fortpflanzen und 
nicht lokal begrenzt bleiben. Ferner verwies man auf die rhythmischen 
Gefäßschwankungen, wie sie zuerst von Schiff?) an den Arterien der 
Kaninchenohren beschrieben und später mehrfach an verschiedenen 
Gefäßen des Kaninchens und des Frosches beobachtet wurden. Falls 
diese Schwankungen einen fördernden Einfluß auf den Blutstrom haben, 
so fragt es sich, ob dieser nicht der direkten Beobachtung zugänglich 
wird durch mikroskopische Beobachtung des Kreislaufs im abhängigen 
Capillarsystem. Zur Beantwortung obiger noch offenen Fragen wurden 
nachstehende Untersuchungen angestellt: 

Zur Untersuchung der Kontraktionen ausgeschnittener Arterien 
wurden benutzt die Carotiden frischgeschlachteter Pferde. Nach 
vorsichtigem Abpräparieren des Bindegewebes wurden an einem etwa 
10cm langen Arterienstücke alle Seitenäste sorgfältig abgebunden. 
Die beiden Enden des Gefäßes wurden auf zwei Glasröhren derart auf- 
gebunden, daß das zentrale Ende mit einer Mariotteschen Druckflasche 
in Verbindung stand und das periphere Ende zu einem Torsionsfeder- 
manometer führte, dessen Ausschläge aufgeschrieben wurden. Die 
Arterie lag in einem auf 39° gehaltenen Bad von Ringerlösung mit 
erhöhtem Gehalt an NaHCO,, wie es Apitz?) neuerdings als zweck- 
mäßig zur Auslösung spontaner Kontraktionen angegeben hat; auch die 
in der Arterie befindliche Ringerlösung war von der gleichen Zusammen- 
setzung. Von einer Durchperlung der Ringerlösung mit O, oder Luft 
wurde abgesehen. Durch einen zwischen Druckflasche und Arterie 
befindlichen Hahn konnte das System Arterie-Manometer und Ver- 
bindungsstücke von etwa 20 cm Länge in sich geschlossen werden. Die 
Dehnung der anfänglich meist sehr stark kontrahierten Arterie erfolgte 
dadurch, daß die im Gefäß befindliche Ringerlösung einem Drucke von 
60cm Wasser ausgesetzt wurde, bis das Manometer nach Schließung 
des Hahnes konstant blieb, was meist nach 10 bis 15 Minuten der 
Fall war. Wurde der Binnendruck nunmehr plötzlich erhöht und der 
Hahn geschlossen, so blieb der Binnendruck nicht auf gleicher Höhe, 
sondern sank langsam ab als Ausdruck einer Nachdehnung der Arterien- 
wand. Die absinkende Linie wurde im Beginn der einzelnen Versuche 


!) Fr. Müller, Ein Beitrag zur Kenntnis der Gefäßmuskulatur. Virchows 
Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. Supplement 1906, S. 411. 
2) Schiff, Arch. f. $hysiol. Heilk. 13, 523. 1854. 
_ 3) Apitz, Über rhythmische Kontraktionen an überlebenden Arten. Arch. 
f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 85, 270. 1920. 


224 K. Wachholder: Haben die rhythmischen Spontankontraktionen 


nie durch aktive Gefäßkontraktionen unterbrochen. Erst längere Zeit, 
meist über eine Stunde, nachdem die Arterie in dem warmen Ringer- 
bade unter konstantem Innendrucke gelegen hatte, erfolgten auf eine 
künstliche Druckerhöhung reaktive Gefäßkontraktionen, 
wovon Abb.1 ein Bei- 
spiel gibt. 

Nach einer plötz- 
lichen Erhöhung des 
Innendruckes von 60 
auf 90 cm sinkt hier 
das Manometer infolge 
der elastischen Nach- 
dehnung des Gefäßes 
und erst etwa 25 Sekun- 
den nach der Druck- 
erhöhung steigt es wie- 
der und verzeichnet 
eine Kontraktion, deren 
Dauer mehr als eine Minute beträgt. Spontankontraktionen traten bei 
diesem Präparate nur vereinzelt auf, trotz einer Versuchsdauer von 
5 Stunden, während fast auf jede künstliche Druckerhöhung eine reaktive 
Kontraktion erfolgte, deren Latenzzeit und Dauer von gleicher Größen- 
ordnung war wie die abgebildete. Abb. 2, einem anderen Präparate ent- 


Abb. 1. Kontraktionen nach Erhöhung des Innendruckes 
von 60 auf 90 cm Wasser. 


s 


PIE SE MANN RATTEN NETTER MIN LINIEN in I! KUN! ÄLUNEN 


Abb. 2. Kontraktionen nach Erhöhung des Innendruckes. 


nommen, zeigt zwei weitere durch Druckerhöhung ausgelöste Kontrak- 
tionen, auch hier wieder erst nach der beträchtlichen Latenzzeit von 8 bzw. 
30 Sekunden. Die Latenzzeit von 8 Sekunden war die kürzeste, welche 
zur Beobachtung kam, meist war sie beträchtlich länger und betrug 
durchschnittlich 10 bis 20 Sekunden. Die Dauer der Kontraktionen 
schwankte zwischen 20 Sekunden und mehr als 1 Minute. Zwischen 


der Gefäße einen nachweisbaren Einfluß auf den Blutstrom ? 225 


der Größe des einwirkenden Druckunterschiedes und zwischen der 
Latenzzeit, Größe und Dauer der erfolgenden Kontraktionen bestanden 
keinerlei sichere quantitative Beziehungen. Von dem Bauchteile der 
Aorta eines Pferdes waren in mehreren Fällen qualitativ und quanti- 
tativ die gleichen Kontraktionen auf Druckerhöhung wie die oben 
von der Carotis besprochenen auszulösen, aber niemals spontane Kon- 
traktionen. Vom Brustteil der Aorta erhielt ich in keinem Versuche 
eine der beiden Kontraktionsarten, auch trat nach Adrenalin nur eine 
relativ geringe Erhöhung des Tonus ein. Dieser Befund bestätigt die 
Angaben von Weiss!) sowie Siecardi und Loredan?), welche von 
Pferde- bzw. Rinderaorten keine rhythmischen Spontankontraktionen 
erhalten konnten. Als Resultat obiger Versuche können wir sagen, daß 
die überlebenden Arterien befähigt sind, auf plötzliche Erhöhung des 
Innendruckes mit Kontraktionen zu reagieren. Der Berechtigung, 
die erhaltenen Resultate auf das Gefäßsystem im lebenden Tiere zu 
übertragen, steht aber die Tatsache entgegen, daß Hess?) an der in 
ihrer natürlichen Lage belassenen Carotis des lebenden Kaninchens 
keinerlei Reaktion des Gefäßes auf künstlich erzeugten Anstieg oder 
Abfall des Binnendruckes feststellen konnte. Möglicherweise ist aller- 
dings das negative Resultat bedingt durch eine während der Präpa- 
ration kaum zu vermeidende Abkühlung des Gefäßes, da Stepanow‘) 
die Spontankontraktionen an der intakten Froschschwimmhaut nach 
Abkühlung verschwinden sah. Aber selbst wenn wir trotz des negativen 
Ausfalles der Hessschen Versuche annehmen würden, daß die obigen 
Kontraktionen in gleicher Form auch im lebenden Organismus, durch 
die pulsatorischen Druckerhöhungen ausgelöst, vorkommen, so müssen 
wir ihnen doch wegen ihrer viel zu langen Latenzzeit und Kontraktions- 
dauer jede stromfördernde Wirkung absprechen; denn, wie Hess 
loc. cit. eingehend theoretisch dargelegt hat, dürfen wir nur einer inner- 
halb des Zeitraums zweier Pulse erfolgenden und sich wieder lösenden 
schnellen Gefäßkontraktion diese Wirkung zusprechen. 

Wenden wir uns nunmehr den sog. rhythmischen Spontan- 
kontraktionen zu, so wurden diese bisher fast stets an aufgeschnit- 
tenen Arterienringen untersucht, nur Full?) wies sie auch an längeren 


1) Weiss, Über Spontankontraktionen überlebender Arten. Pflügers Arch. 
f. d. ges. Physiol. 181, 213. 1920. 

?2) Siccardi und Loredan, Sulla contraz. d. fibre lisaei d. vasi ete. Zeitschr. 
f. allg. Physiol. 15, 84. 1913. 

®2) W. R. Hess, Die Arterienmuskulatur als peripheres Herz? Pflügers Arch. 
163, 555. 1916. 

*) Stepanow, Über die spontanen Kontraktionen der Arterien. Skand. Arch. 
f. Physiol. 38, 1. 1919, 
>) H. Full, Versuche über die automatischen Bewegungen der Arterien. 
Zeitschr. f. Biol. 61, 287. 1913. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 15 


226 K. Wachholder: Haben die rhythmischen Spontankontraktionen 


Arterienstücken nach, indem er die durch sie verursachten Schwan- 
kungen des Binnendruckes mit Hilfe eines Manometers verzeichnete. 
Ich kann zunächst seine Beobachtung, daß im allgemeinen mehrere 
Stunden verstreichen, ehe die ersten Spontankontraktionen auftreten, 
bestätigen. Nach dieser Zeitdauer sieht man, wie plötzlich an irgend- 
einer Stelle der durch den künstlichen Innendruck gedehnten Arterie 
eine ringförmige Kontraktion auftritt, welche langsam zunehmend, 
meist zu einem tiefeinschneidenden Schnürring wird, der wegen seiner 
beträchtlichen, oft mehr als 1 Minute währenden Dauer leicht zu 
beobachten ist. .Je nach der Breite und Tiefe des Schnürringes zeigt 
das Manometer eine mehr oder minder große Drucksteigerung an, 
welche ganz ansehnliche Werte annehmen kann. So erhöhte sich in 
einem Falle der lange Zeit auf einer Höhe von 50 cm konstant gebliebene 
Innendruck durch die erste auftretende Spontankontraktion auf 166 cm 
Wasser, um wieder auf 78 cm abzusinken und dann längere Zeit zwischen 
SO und 150 cm zu schwanken. Die Dauer jeder dieser Schwankungen 
betrug etwa 120 Sekunden, wovon 50 Sekunden auf den ansteigenden 
und 70cm auf den absteigenden Teil der Kurve entfielen. Im allgemeinen 
waren jedoch die Druckschwankungen wesentlich geringer und betrugen 
meist nur 20 bis 30 cm Wasserdruck, womit auch eine kürzere Dauer 
der Kontraktion verknüpft war, die aber nicht unter 30 Sekunden 
sank. Frequenz, Dauer, Größe und Form der Schwankungen variierten 
in der mannigfachsten Weise, im allgemeinen bestand eine weitgehende 
Proportionalität zwischen der Größe und der Dauer der einzelnen 
Kontraktionen. Während die kleinen Schwankungen meist ohne Pause 
aufeinander folsten, so daß ihre Frequenz bestimmt war durch die 
Dauer der einzelnen Kontraktionen — da diese mindestens 30 Sekunden 
ausmachte, betrug die schnellste Frequenz etwa 2 in der Minute —, 
war dagegen zwischen Schwankungen von einigem Ausmaße fast stets 
eine Pause eingeschaltet, in welcher das Manometer auf gleicher Höhe 
blieb, so daß hier die rhythmischen Druckschwankungen sich in Ab- 
ständen von 1 bis 10 Minuten wiederholten. 

Als Bedingung für einen stromfördernden Einfluß der rhythmischen 
Spontankontraktionen wurde eingangs gefordert, daß der Kontraktions- 
ring nicht lokal beschränkt bleibt, sondern im Sinne einer peristal- 
tischen Welle vom zentralen zum peripheren Ende des beobachteten 
Arteriendruckes wandert. Schon die bloße Inspektion ergab ein- 
wandsfrei, daß dies nicht der Fall ist. Es trat zwar nicht selten eine 
Verbreiterung des Kontraktionsringes und eine Doppelgipfligkeit der 
zugehörigen Druckkurve auf als Zeichen des Übergreifens der Kon- 
traktion auf die Umgebung, bevor die Erregung der erst kontrahierten 
‘Stelle ganz abgeklungen war, aber nie kam es zu einem ausgesprochenen 
Wandern des Schnürrings, sei es in der Richtung des natürlichen 


we 


der Gefäße einen nachweisbaren Einfluß auf den Blutstrom ? 227 


Blutstromes oder umgekehrt. Um auch einen objektiven graphischen 
Beleg zu erhalten, wurden auf das zentrale und periphere Ende des 
Arterienstückes die Pelotten je eines Sphygmographen für die bloßge- 
legte Arterie, welcher hier als Angiometer verwandt wurde, derart 
aufgesetzt, daß die aus Condomgummi bestehenden Membranen der 
Aufnahmetrommeln beim Ausgangsdrucke von 60 cm Wasser um ein 
Geringes durch die Pelotten nach innen eingedrückt und damit leicht 
gespannt waren. Die Registrierung erfolgt durch zwei empfindliche 
Pistonrekorder. Da der Schnürring meist an wechselnden Stellen 
zwischen den beiden Pelotten auftrat, so war, wie in Abb. 3 bei 
der ersten Spontan- 
kontraktion, das ge- 
wöhnliche Kurvenbild 
eine gleichzeitige Auf- 
wärtsbewegung beider 
Hebel, weil die Pelotten 
der Dehnung der Ar- 
terie durch den ver- 
mehrten Binnendruck 
folgend, etwas gehoben 
wurden. Hätte sich 
nun der Schnürring 


peristaltisch über die 

Ar ie f 6 Abb. 5. Spontane Kontraktionen. Von oben nach unten 
Arterie ortbewegt, = Kurve des Manometers (M), des zentral (Z) und des peripher (») 
hätte der peripher ge- gelegenen Pistonrekorders (PR). 


legene Hebel sich sen- 
ken müssen, sobald der Kontraktionsring unter der peripher gelegenen 
Pelotte angelangt war. Dieses Absinken des dem peripheren Ende ent- 
sprechenden Pistonrekorders nach anfänglicher Aufwärtsbewegung trat 
aber niemals ein. Die zweite Spontankontraktion der Abb. 3 fand zufällig 
unter der zentral gelegenen Pelotte statt, darum ein Absinken des ent- 
sprechenden Hebels. Nachfolgend ist keine Aufwärtsbewegung zu 
sehen; diese hätte eintreten müssen, wenn der Schnürring weiter- 
gewandert und die Pelotte durch den erhöhten Druck der gewanderten 
Kontraktion belastet worden wäre. Am peripheren Hebel auch diesmal 
kein nachträgliches Absinken unter die Ausgangsstellung, weil der Kon- 
traktionsring die peripher gelegene Pelotte nicht erreichte und entlastete. 
Die rhythmischen Spontankontraktionen überlebender Arterien 
sind somit rein örtlich begrenzte, nicht im Sinne der Peristaltik fort- 
schreitende Querschnittsschwankungen von so langsamer Frequenz 
und besonders so langer Kontraktionsdauer, daß wir ihnen ebenso wie 
den reaktiven Kontraktionen nach Erhöhung des Binnendruckes einen 
stromfördernden Einfluß absprechen müssen. 


153 


228 K. Wachholder: Haben die rhythmischen Spontankontraktionen 


Auch von den rhythmischen Schwankungen der Arterien 
im lebenden Tier ist von verschiedenen Beobachtern die gleiche 
Unregelmäßigkeit im Auftreten und das Fehlen der peristaltischen 
Fortpflanzung betont worden. Einer derälteren Beobachter, Riegel!), 
gibt zudem schon an, daß es an der Froschschwimmhaut ‚‚bei sehr 
intensiven und weitgehenden rhythmischen Kontraktionen zu deut- 
licher Stromverlangsamung und geringerer Gefäßfülle im Capillar- 
system komme‘. 

In meinen eigenen mikroskopischen Beobachtungen an der Frosch- 
schwimmhaut konnte ich bei der Mehrzahl der untersuchten Tiere 
das Auftreten rhythmischer Schwankungen in der Weite der Arteriolen 
ohne nachweisbare Ursache bestätigen, aber niemals ein Fortschreiten 
des Kontraktionsringes im Sinne des Blutstromes beobachten. Be- 
sonders stark und deutlich traten diese Schwankungen auf, wenn die 
Gefäße durch eine auf die Schwimmhaut aufgeträufelte Adrenalin- 
oder Bariumchloridlösung zur Kontraktion gebracht worden waren. 
Löste sich nach einiger Zeit die erste anhaltende, sehr starke Ver- 
engerung der Gefäße, so wurde die nachfolgende Erweiterung in ziem- 
lich regelmäßigen Abständen von etwa 1 Minute durch starke, ungefähr 
10 Sekunden anhaltende Verengerungen unterbrochen, in denen die 
Arterie oft nahezu ganz undurchlässig wurde, so daß der abhängige 
Capillarkreislauf sekundenlang stockte. Hier hatten also fraglos die 
rhythmischen Kontraktionen aufs deutlichste statt der fraglichen strom- 
fördernden eine den Kreislauf intensiv hemmende Wirkung zur Folge. 

Die Auslösung rhythmischer Kontraktionen durch Adrenalin und 
BaCl, ist wohl der tonuserhöhenden Wirkung dieser beiden Stoffe zu- 
zuschreiben: ebenso konnte auch an überlebenden Gefäßen ein fehlender 
Kontraktionsrhythmus in der Mehrzahl der Fälle hervorgerufen werden 
durch Adrenalinzusatz oder eine tonuserhöhende Vermehrung des In- 
nendruckes. In einer kürzlich erschienenen eingehenden Arbeit betont 
Rothlin?), daß am überlebenden Gefäßstreifenpräparat jeder den 
Tonus erhöhende chemische Reiz — wozu er auch den Sauerstof 
rechnet — die rhythmischen Tonusschwankungen auslöst oder fördert, 
während diese von allen den Tonus herabsetzenden Substanzen gehemmt 
werden. Das Blutgefäßsystem verhält sich demnach wie die anderen 
von glatter Muskulatur umkleideten Hohlorgane, für welche von den 
verschiedensten Autoren, so u.a. von Cannon?°)®) und P. Tren- 

1) Riegel, Über die sog. rhythm. Gefäßkontraktionen. Pflügers Arch. f. d. 
ges. Physiol. 4, 350. 1871. 

®?) Rothlin, Experimentelle Studien über die Eigenschaften überlebender 
Gefäße usw. Biochem. Zeitschr. 111, 219. 1920. 

3) Cannon, The relation of tonus to antiperistalsis in the colon. Americ. 


journ. of physiol. 29, 238. 1911—1912. 
*) Cannon, The nature of gastrie peristalsis. Ebenda S. 250. 


der Gefäße einen nachweisbaren Einfluß auf den Blutstrom ? 229 


delenburg!) für den Darm, von Strenli?) und Abelin?) für die 
Blase, von Boulet®) für den überlebenden menschlichen Ureter nach- 
gewiesen worden ist, daß deren rhythmische Kontraktionen an eine 
gewisse mittlere Toonushöhe ihrer Muskulatur gebunden sind. Da 
v. Brücke?) dies auch für den glatten M. retractor penis fand, so 
scheint die Fähigkeit, auf einen dauernden gleichmäßigen Kontraktions- 
zustand (Tonus) in regelmäßigen Abständen, anscheinend spontan, 
stärkere Kontraktionen gewissermaßen aufzupfropfen, in den allgemeinen 
Eigenschaften der glatten Muskulatur begründet zu sein. Ob und 
welche Bedeutung diese rhythmischen Schwankungen im besonderen 
für den Blutkreislauf haben, können wir nicht sagen, nachdem wir ihnen 
jegliche Bedeutung für eine Förderung des Blutstromes aberkennen 
müssen. 


Zusammenfassung. 


1. Überlebende Arterien reagieren auf plötzliche Erhöhung des 
Innendruckes mit langsamen Kontraktionen, deren Latenzzeit min- 
destens 8 Sekunden und deren Dauer mindestens 20 Sekunden beträgt. 

2. An längeren Gefäßstücken beobachtete rhythmische Spontan- 
kontraktionen überlebender Arterien haben eine Kontraktionsdauer 
von mindestens 30 Sekunden. Der sich bildende Kontraktionsring 
bleibt örtlich beschränkt und wandert nicht über das Gefäß im Sinne 
einer peristaltischen Welle. 

3. Bei Beobachtung der intakten Froschschwimmhaut zeigen die 
Arterien ähnliche rhythmische Kontraktionen, auf deren Höhe der ab- 
hängige Capillarkreislauf bis zum Stocken gehemmt sein kann. 

4. Wegen ihrer viel zu langen Latenzzeit und Kontraktionsdauer, 
bzw. wegen des Fehlens einer peristaltischen Fortpflanzung haben 
obige Kontraktionen keinen fördernden Einfluß auf den Blutstrom; 
sie können vielmehr hemmend auf den abhängigen Capillarkreislauf 
wirken. 


!) P. Trendelenburg, Physiologische und pharmakologische Versuche a. d. 
Dünndarmperistaltik. Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 81, 55. 1917. 

?2) Streuli, Die Wechselwirkung von innerer Sekretion usw. Zeitschr. f. Biol. 
66, 167. 1916. 

>) Abelin, Die physiol. Tätigkeit der Harnblase usw. Zeitschr. f. Biol. 69, 
373. 1919. 

*) Boulet, Apropos de la survie de l’uretere humain. Cpt. rend. des seances 
de la soc. de biol. 83, 790. 1920. 

>) vv. Brücke und Oinuma, Beiträge zur Physiologie d. auton. innerv. 
Muskulatur IV. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 136, 502. 1910. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 
(Über die Beziehung zwischen lokaler Reizung und elektrischer Leitfähigkeit.) 


Von 


U. Ebbecke. | 
(Aus dem physiologischen und dem physikalischen Institut in Göttingen.) 
Mit I Textabbildune. 
(Eingegangen am 10. Mai 1921.) 


Im laehllis g 


Einleitung und Fragestellung (S. 230). 
Wirkung mechanischer Reize (Vorversuch) (S. 232). 
Untersuchung mit hochfrequentem Wechselstrom (S. 233). 
a) Methode (S. 233). 
b) Ergebnisse (S. 235). 
Untersuchungen mit Gleichstrom (S. 239). 
Sitz der Widerstandsschwankungen (S. 240). 
Eigenschaften der L. G. R. (S. 243). 
Thermische Reizwirkung (S. 246). 
Chemische Reizwirkung (S. 247). 
Wirkung der Narkotica (8. 247). 
Wirkung elektrischer Reize (S. 249). 
Physiologische Deutung. Zellerregung (S. 250). 
I. Gleichartigkeit und Summation mechanischer und elektrischer Reize 
(8. 252). 
II. Zeitlicher Verlauf der Zellerregung (S. 253). 
III. Überleben der Hautzellen (S. 256). 
Beziehung zwischen Widerstandsänderungen und Hautströmen (S. 259). 
Physiologisches Übersichtsbild (8. 262). 
Physikalisches Übersichtsbild (8. 264). 
Klinische Anwendungen und Ausblicke (S. 266). 
Zusammenfassung (S. 267). 


Einleitung und Fragestellung. 


Die Untersuchungen über die lokale vasomotorische Reaktion?), 
über die Änderungen der Gefäßweite, die bei Reizung der Haut oder der 
inneren Organe zu beobachten sind, hatten zu zwei Hauptfolgerungen 
geführt. Sie hatten gezeigt, daß es die Capillaren sind, von deren Zustand 
die Färbung und Durchblutung des gereizten Bezirks wesentlich ab- 


1) U. Ebbecke, Die lokale vasomotorische Reaktion der Haut und der 
inneren Organe. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 169, 1—81. 1917. 


EEE RER 


U. Ebbecke: Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 231 


hängt, und daß die aktive Beteiligung der Capillaren bei der Reizhyper- 
ämie, funktionellen Hyperämie, aber auch bei den entzündlichen und 
infektiösen Prozessen eine bedeutende Rolle spielt. Die zweite Folgerung 
war, daß die durch mechanische und anderweite Reizung hervor- 
gerufene Capillarerweiterung erst die sekundäre Folge sei, die ihrerseits 
durch Gewebsvorgänge, Änderungen des Gewebsstoffwechsels oder der 
Zellfunktion mittels chemischer Regulierung durch Stoffwechselprodukte 
bedingt werde. Diese Anschauung hatte zu dem Begriff einer, sich durch 
die große Langsamkeit ihres Verlaufs auszeichnenden, protoplasmati- 
schen ‚‚Zellerregung‘“ geführt, die sich in ihrer Undifferenziertheit zudem 
Erregungstypus glatter Muskeln etwa verhalte wie die Erregung dieser 
zu der Erregung der quergestreiften Muskeln und der Nervenfasern; an 
den Begriff der Zellerregung hatte sich der Begriff der ‚‚Dauererregung‘““ 
angeschlossen. Während die erste Folgerung seither durch die wichtigen 
Arbeiten von Dale!) und von Krogh?) voll bestätigt und weiter er- 
gänzt ist, blieb die zweite Folgerung, die dem Physiologen ferner liegt 
als dem Kliniker, teils unbeachtet, teils wurde sie abgelehnt oder als 
unbewiesene Hypothese bezeichnet. Es war mir daher wichtig, einen 
neuen Beleg für die Anschauung zu finden, um so mehr, als die Frage 
der Gewebsreizung oder Zellerregung einerseits mit allerlei Problemen 
der Pathologie in Beziehung zu stehen schien, anderseits in die Er- 
klärung psychophysischer Vorgänge hineinspielte; denn von ganz an- 
derer Seite her hatte die Untersuchung der corticalen Erregungen?) 
mich auf das häufige Vorkommen von Dauererregung hingewiesen, für 
welche die an den verhältnismäßig einfachen wenig differenzierten Epi- 
thelzellen auftretende Reaktionsform als Muster gelten konnte. 

Als eine Möglichkeit zur Prüfung bot sich der Gedanke, nach elek- 
trischen Erscheinungen am gereizten Gewebe zu suchen und sie an 
Stelle der vasomotorischen Erscheinungen als Symptom für Gewebs- 
vorgänge zu benutzen. Doch mußte der 1914 gefaßte Plan infolge der 
Zeitverhältnisse aufgeschoben und konnte erst jetzt wieder aufgenommen 
werden, zumal in den letzten Jahren durch die Untersuchungen Gilde- 
meisters und seiner Schüler die physikalische Seite der hautelektri- 
schen Erscheinungen manche wichtigen Aufklärungen erfahren hatte. 
Ich wandte mich daher an Professor Gildemeister mit der Bitte, ob 
ich an dem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium meine 
Fragestellung prüfen dürfe, und durch sein liebenswürdiges Entgegen- 


!) Daleand Richards, The vasodilator action of histamine and of some other 
substances, Journ. of physiol. 5%, 100. 1918. 

?) A. Krogh, The supply of oxygen to the tissues and the regulation of the 
capillary circulation, ebd. S. 457. 

®) U. Ebbecke, Die corticalen Erregungen. Leipzig 1919, Kap. 7. Dauer- 
erregung von Körperzellen und Nervenzellen. 


232 U. Ebbecke: 


kommen und technische Beratung, wofür ich ihm auch an dieser Stelle 
herzlich danken möchte, gelang es, mittels der für die Prüfung des 
„psychogalvanischen Reflexphänomens“ üblichen Versuchsanordnung 
(Methode der Wheatstoneschen Brücke) — derselben, die beispiels- 
weise Kohlrausch und Schilf!) benutzten, um die Wirkung von 
Sinnesreizen auf den Frosch zu demonstrieren, — ohne große Schwierig- 
keit, einen deutlichen Befund zu erheben. 


"Wirkung mechanischer Reizung (Vorversuch). 


Zwei unpolarisierbare Gelatine-Elektroden wurden auf den Unterarm 
aufgesetzt. Die Handinnenfläche vermied ich wegen der hier störenden, 
psychisch bedingten Widerstandsschwankungen und wegen ihrer, von der 
vasomotorischen Reaktion her bekannten, geringen Empfindlichkeit; 
an der Haut des Unterarms dagegen mit ihrer guten vasomotorischen 
Erregbarkeit konnten die psychogalvanischen Schwankungen vernach- 
lässigt werden, da sie gewöhnlich so gering sind, daß nur eine empfind- 
lichere Versuchsanordnung sie nachweist. Durch die Elektroden und 
die zwischengeschaltete Armstrecke wurde der Strom einer Akkumulator- 
zelle geleitet und durch Verschiebung des Schiebers auf dem Meßdraht 
und möglichste Ausgleichung des durch einen Kurbelrheostaten gebilde- 
ten Vergleichswiderstandes die Nullstellung des Spiegelgalvanometers 
im Brückenzweig erreicht. Als Reiz wählte ich statt eines chemischen, der 
schwer berechenbare kataphoretische oder Ionenwirkungen haben 
konnte, den einfachen mechanischen Reiz des Reibens (mit der Hand, 
einem Tuch oder einer Bürste). Dabei wurde der geringe Übelstand, 
daß die Elektroden während des Versuchs nicht unverändert liegen 
bleiben konnten, in den Kauf genommen, da sich zeigte, daß wieder- 
holtes Absetzen und Aufsetzen der Elektroden zu keinen oder unerheb- 
lichen Verschiebungen des Lichtzeigers führten, sofern nur auf gutes 
gleichmäßiges Anliegen der Elektroden an den Hautstellen geachtet 
war. Das Ergebnis war, daß Reiben der Haut an einer Elektrodenstelle 
und noch mehr an beiden Elektrodenstellen den eannklansiiand. sofort 
stark herabsetzte. 

Um den Einwand auszuschließen, daß die durch die Reibung er- 
zeugte Rötung und vermehrte Durchblutung der Haut die Herabsetzung 
des Widerstandes herbeiführte, wurde nach einem Vorversuch der Ver- 
such sogleich an dem durch elastische Schnürbinde abgebundenen Unter- 
arm mit positivem Erfolg wiederholt. 

Diesen ersten Befund galt es nun, in seinen Einzelheiten zu analysieren 
und zu verfolgen. 


!) Kohlrausch und Schilf, Berichte über die gesamte Physiol., 3, 591. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 233 


Untersuchung mit hochfrequentem Wechselstrom. 


Die Frage, auf deren Beantwortung es zunächst ankam, war physi- 
kalischer Natur. Erklärte sich, bei dem bekannt großen Einfluß des 
Feuchtigkeitsgehalts der Haut auf ihren elektrischen Widerstand, die 
bessere Leitfähigkeit vielleicht als eine größere Durchfeuchtung, etwa 
durch ein Hindurchdrücken von Außenflüssigkeit oder Gewebsflüssigkeit 
in die Oberhaut hinein, oder durch ein Zusammendrücken von vorher 
isolierten Flüssigkeitsfäden in der Haut? Dann verdiente die Erschei- 
nung keine weitere Beachtung. Oder gehörte sie in eine Gruppe mit dem 
psychogalvanischen und neurogalvanischen Phänomen, das die neuen 
Untersuchungen von Aebly!), Gildemeister?) und Schwartz?) auf 
Änderungen der Polarisierbarkeit und Membranpermeabilität zurück- 
geführt hatten ? Um das zu entscheiden, war es nötig, den ‚„‚scheinbaren““ 
Widerstand für Gleichstrom mit dem ‚wahren‘ Ohmschen Widerstand 
für den die Polarisation ausschaltenden Wechselstrom hoher Frequenz 
zu vergleichen. 


Da dies eine Frage war, für die mir sowohl die Apparate wie die physikalische 
Technik fehlten, wäre mir die weitere Bearbeitung nicht möglich gewesen ohne die 
mir von Prof. Pohl gütigst erteilte Erlaubnis, diese Untersuchung im Göttinger phy- 
sikalischen Institut ausführen zu dürfen. Dadurch, daß er und seine Assistenten 
mich mit Rat und Tat unterstützten®), wurde die Lehrzeit, die ich durchzumachen 
hatte, wesentlich abgekürzt, so daß innerhalb von 2 Monaten die erste Frage be- 
antwortet werden konnte. 


Methode der Widerstandsmessung mit Wechselstrom. 


Zur Erzeugung eines Wechselstroms von genügend hoher Frequenz diente 
der Schwingungskreis einer Glühkathodenröhre (Elektronenröhre). Zur Messung 
des Widerstandes wurde die Substitutionsmethode gewählt. Hierin lag eine Ab- 
weichung von der Anordnung Gildemeisters°), der das Galvanometer oder das. 


!) I. Aebly, Zur Analyse der physikal. Bedingungen des psychogalvanischen 
Reflexes. Med. Diss. (unter Zangger), Zürich 1910. 

2) M. Gildemeister, Über die physikalisch-chemischen und physiologischen 
Vorgänge im menschlichen Körper, auf denen der psychogalvanische Reflex beruht. 
Münch. med. Wochenschr. 1913, Nr. 43. Derselbe, Der sog. psychogalvanische 
Reflex und seine physikalisch-chemische Deutung, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 
162, 489. 1915. 

3) A. Schwartz, Über die Abhängigkeit der elektrischen Eigenschaften der 
Froschhaut von der Beschaffenheit der daran angrenzenden Medien und vom Ner- 
vensystem. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 162%, 547. 1915. 

*) Den Herren Prof. Pohl, Prof. Reich, Dr. Küstner und Dr. Gudden ge- 
statte ich mir, für die mir erwiesene Freundlichkeit an dieser Stelle besten Dank 
zu sagen. Von meinen Versuchspersonen danke ich namentlich Herrn cand. med. 
G. Osterwald und Herrn cand. med. W. Mittendorf für ihre geduldige und 
interessierte Assistenz. 

5) M. Gildemeister, Über die im tierischen Körper bei elektrischer Durch- 
strömung entstehenden Gegenkräfte. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol., 1913, 149, 
S. 298. Derselbe, Über elektrischen Widerstand, Kapazität und Polarisation der 
Haut, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%6, 84. 1919. 


234 - U. Ebbecke: 


Telephon als Nullinstrument in die Wheatstonesche Brücke gelegt und durch 
Einschaltung eines Kondensators mit variierbarer Kapazität oder einer Spule 
mit passend varierter Selbstinduktion für ein scharfes Tonminimum gesorgt hatte. 
So wichtig jene Methode für die Entscheidung von Kapazität und Polarisation der 
Haut gewesen war, so schien doch ein Wechsel der Methode vorteilhaft. Zur Um- 
wandlung der frequenten Schwingungen in eine Form, auf die ein empfindliches 
Galvanometer ansprechen konnte, diente anfänglich der auch in der drahtlosen 
Telegraphie benutzte Detektor, bei dem eine feine Graphitspitze gegen ein Blei- 
glanzplättchen drückt. Da aber die Einschaltung des Detektors in den Wechsel- 
stromkreis zugleich auch den durch den Körper geschickten Strom in einen „‚zer- 
hackten‘‘ Gleichstrom mit hochfrequenten Unterbrechungen verwandelte, ließ sich 
so nur ein durch Transformation von einer zweiten induzierten Spule abgezweigter 
Nebenstrom messen, was eine Komplikation der Versuchsbedingungen war. Hier 
half Prof. Reich vom Institut für angewandte Elektrizität, indem er zur un- 
mittelbaren Messung des Wechsalstroms ein Duddellsches Galvanometer empfahl 
und entlieh, wie es sich zur Messung der Energie elektrischer Wellen bewährt hatte. 
Dessen Prinzip ist, daß der Wechselstrom durch einen Hitzdraht geschickt wird, 
der einer Thermolötstelle dicht benachbart ist und so bei sziner Erwärmung durch 
Strahlung einen Thermostrom erzeugt. Die Stärke des Thermostroms wird durch 
Drehung des Galvanometerspiegels angezeigt. Die Registrierung geschah durch 
Ablesung der von einer Nernstlampe projizierten und vom Spiegel reflektierten 
Lichtlinie auf einer Skala. Die anfangs verwendeten Schwingungen hatten eine 
Frequenz von 900,000 in der Sekunde, doch wurde dabei wegen der starken schwer 
zu beseitigenden Selbstinduktion das Meßinstrument von elektrischen Wellen, die 
durch die Luft vermittelt und nicht durch den Körperwiderstand geleitet waren, 
in störender Weise bzeinflußt. So wurde die Glühkathodenröhre durch eine andere 

ersetzt und Schwingungen von 

etwa zehnfach niedrigerer Fre- 

quenz benutzt. Einegenauere Be- 

stimmung der Schwingungsfre- 

quenz wurde leider unterlassen, 
U da aus räumlichen Gründen die 
*—  Versuchsanordnung vorzeitig ab- 


za ne A gebrochen werden mußte. In 


Abb.1. Versuchsanordnung zur Messung des Körperwider- 

C standes für hochfrequenten Wechselstrom. E Elektronenröhre ; 
K Glühkathode; B, Batterie zum Heizen der Glühkathode 

(6 V); W Widerstand ; @ Elektronengitter; B, Batterie (80 V); 

L Selbstinduktionsspule ; C Drehkondensator (bis 4 000 em); 

R Rückkoppelspule in Spannungsteilerschaltung; & sekundäre 
Spule; 4 Hitzdraht des Duddellgalvanometers; 7 Thermo- 
Drehspule des Duddellgalvanometers; Sp Spiezel des Dud- 

W 


dellgalvanometers; N, S Nord- und Südpol; U Umschalt- 
5, wippe; V Vergleichswiderstand; M Mensch. 


der nun erhaltenen Anordnung war ein primärer Stromkreis vorhanden, in wel- 
chem sich die mit 4 Volt geheizte Glühkathodenröhre, eine Akkumulatorbatterie 
von 80 Volt, ein Kondensator von variierbarer Kapazität und eine große 
Drahtspule befanden, und ein sekundärer Stromkreis, der in einer in der 
ersten Spule steckenden Spule induziert war, und von dort zu dem Duddell- 
galvanometer, zu einer Wippe und weiter, je nach der Wippenstellung, bald 
durch den menschlichen Körper, bald durch.einen Vergleichswiderstand (Stöpsel- 
rheostaten) floß. Durch Vermehrung der Senderenergie (Umkoppelung, Austausch 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 235 


der Spulen gegen große mit zahlreichen dünnen Windungen, stärkeres Anheizen der 
Glühkathode) und durch passende Ausgleichung von innerem Galvanometerwider- 
stand (Auswechseln des aus einem platinierten Quarzfädchen bestehenden Hitz- 
drahts) und Widerstand des äußeren Stromkreises wurde die Empfindlichkeit der 
Versuchsanordnung soweit erhöht, daß schließlich Widerstandsunterschiede des 
Vergleichsrheostaten von 5 Ohm, in einigen Fällen sogar von 2 Ohm zu erkennen 
waren. Das ist gegenüber der Gildemeisterschen Anordnung, bei der 50 Ohm 
einen erkennbaren Ausschlag machten), ein technischer Fortschritt. Die weiteren 
Einzelheiten ergibt die beigefügte schematische Zeichnung. 

Als Ergebnis der Untersuchungen mit hochfrequentem Wechselstrom 
zeigte sich der außerordentlich kleine Widerstand des menschlichen 
Körpers im Vergleich zum Gleichstromwiderstand und das Unverändert- 
bleiben des Wechselstromwiderstandes bei Hautreizung. 


Leitungswiderstand des menschlichen Körpers gegen hoch- 
frequenten Wechselstrom. 


Bei Ableitung mit runden Elektroden, die mit einer Kreisfläche von 
4 cm Durchmesser durch beschwerte Hebelarme mit gleichbleibender 
Belastung auf die Haut gedrückt wurden, betrugen die Werte für den 
Wechselstromwiderstand einige hundert Ohm, für den Gleichstrom- 
widerstand einige zehntausende bis hunderttausende Ohm. Während 
die Zahlen für Gleichstromwiderstand später zu erörtern sind, seien hier 
für den Wechselstromwiderstand die Ohmzahlen von 3 Versuchspersonen 
angeführt. In der Tabelle bedeutet A: beide Elektroden liegen auf einem 
Unterarm, B: eine Elektrode auf rechtem, eine auf linkem Unterarm, 
C: eine Elektrode auf rechter, eine auf linker Handinnenfläche. 


G.O. USE: W.M. 
A 160 150 240 
B 420 400 550 
C 780 710 1170 


Ableitung von beiden Handrücken gab gleiche oder noch etwas höhere 
Werte wie von den Handinnenflächen; wurden die Elektroden nach- 
einander einmal auf den Unterarm, das andere Mal im gleichen Abstand 
auf Unterarm und Handinnenfläche desselben Arms aufgesetzt, so war 
der Widerstand im zweiten Fall um ungefähr 60 Ohm höher. 

Die Kleinheit der Widerstände war zunächst überraschend im 
Gegensatz zu den hohen Gleichstromwiderständen, doch stimmen die 
Zahlen, wie dann aus der Literatur hervorging, recht gut mit den An- 
gaben von Aebly und von Gildemeister überein. Aebly?), der den 
Widerstand des menschlichen Körpers mit der Kohlrauschschen 
Wechselstrommethode maß, gibt ‘Werte zwischen 600 und 900 an; er 
leitet mit Flüssigkeitselektroden von beiden Händen ab, wobei die 


1) M. Gildemeist£r, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 162, 1. c. S. 500. 
— 2) I. Aebly, Med. Diss. Zürich 1910, 1. c. S. 18—20. 


236 U. Ebbecke: 


Hände der Versuchsperson in verdünnte Kupfersulfatlösung tauchen 
und die Stromzuleitung durch Kupferbleche geschieht; eine Angabe 
über die Frequenzzahl des von ihm verwendeten Induktoriums kann ich 
nicht finden. Gildemeister zeigt, daß selbst bei einer Wechselstrom- 
fregquenz von 30 000 der Widerstand noch nicht seinen kleinsten Wert 
erreicht!) und bemerkt kurz?), daß nach noch nicht veröffentlichten 
Versuchen der Hochfrequenzwiderstand von Hand zu Hand 500—700 
Ohm beträgt. Während Aebly wegen der viel größeren Oberfläche 
seiner Elektroden kleinere und wegen der wahrscheinlich unvollkomme- 
nen Ausschaltung der Polarisation größere Werte finden mußte, so daß 
sich die Abweichungen zufällig einigermaßen kompensieren, gibt die 
Übereinstimmung mit der Gildemeisterschen Bemerkung die Zu- 
versicht, daß die Größenordnung feststeht?). Im selben Sinne sind die 
vom klinischen Gesichtspunkt aus unternommenen Bestimmungen des 
Körperwiderstandes gegenüber Kondensatorentladungen (Zanietowski) 
und Stromstößen kürzester Dauer (Du boissche Fallkugel) zu verwerten, 
die einen Wert von 400—900 Ohm ergeben hatten*). Wenn auch jene 
Autoren den mit ballistischem Galvanometer gemessenen kleinen Wider- 
stand während der sog. ‚variablen‘ Periode des Stromschlusses noch 
als den ‚scheinbaren‘, durch Kapazität vorgetäuschten Widerstand 
auffaßten, so bleiben doch trotz der geänderten Deutung ihre Befunde 
gültig, und auch die Bemerkung (Zanietowskil. c.) ist beachtenswert, 
daß sich bei den verschiedenen Individuen der Körperwiderstand für 
faradische Ströme, kurze Stromschlüsse und Kondensatorentladungen, 
im Gegensatz zu dem wechselnden Gleichstromwiderstand, als 
ziemlich konstant herausstellt. Ob die aus meinen Zahlen hervor- 
gehenden verhältnismäßig geringen individuellen Unterschiede des 
Wechselstromwiderstandes sich vielleicht durch langdauernde Haut- 
durchfeuchtung noch weiter vermindern und ob der Befund, daß die 
jüngste Versuchsperson mit der am empfindlichsten reagierenden Haut 
den größten Wechselstromwiderstand zeigte, nur zufällig ist, darüber 
müßten weitere Versuche entscheiden. 

Aus den Zahlen der Tabelle über den Einfluß der Elektrodenlage 
geht deutlich hervor, daß der Wechselstromwiderstand kein ‚Skin- 
effekt“ im physikalischen Sinne ist, was nur für gute, metallische Leiter 


!) Gildemeister, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%6, 96. 

2) M. Gildemeister und R. Kaufhold, Über das elektr. Leitungsvermögen 
der überlebenden menschl. Haut. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%9, 146. 1920. 

>) Für den Frosch finden sich Vergleichszahlen bei Galler, Über den elektr. 
Leitungswiderstand des tier. Körpers. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 149, 156. 1913. 

*) Vgl. Zanietowski, Allgemeine Elektrodiagnostik in Boruttau-Mann, 
Handb. d. ges. med. Anwendung d. Elektrizität, 2, 11. Leipzig 1911. — Dubois- 
Bern, Archives de physiol. norm. et pathol. 10, 560. 1898. — L. Mann, Spezielle 
Elektrodiagnostik der Nervenkrankheiten, in Boruttau-Mann, Handbk. II, 1, S. 235. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 237 


zutrifft, und mit Vergrößerung des Elektrodenabstandes wächst. Es 
wird also z. T. die Länge des zwischengeschalteten Leiters 2. Klasse 
(Körpergewebe und Körperflüssigkeit) gemessen; ein anderer Teil des 
Widerstandes ist, wie der Vergleich der Unterarm- und der Hand- 
ableitung zeigt, durch die Beschaffenheit der Haut bedingt, wenn auch 
dieser Anteil nicht wie beim Gleichstromwiderstand überwiegt. Aus 
dem gleichstarken Einfluß der dünneren Handrücken- und der dickeren 
Handinnenflächenhaut läßt sich vermuten, daß für den Wechselstrom- 
widerstand der Haut hauptsächlich die oberste verhornte Schicht 
(stratum corneum) in Betracht kommt. 


Einfluß der Hautreizung auf den Wechselstromwiderstand. 


Während die Messung des elektrischen Körperwiderstandes im Rah- 
men der Arbeit nur einen nicht weiter verfolgten Nebenbefund bildete, 
war für unser Thema wichtig, ob der Wechselstromwiderstand durch 
Hautreizung verändert würde. Diese Frage konnte deutlich mit Nein 
beantwortet werden. Selbst wenn der Gleichstromwiderstand durch 
Reiben der Haut von 500,000 auf 40,000, von 250,000 auf 10,000 herab- 
gesetzt wurde, blieb der Wechselstromwiderstand ungeändert oder 
wurde sogar um ein geringes erhöht. Nur wenn die Hautreizung bis 
zur Quaddelbildung geführt hatte, sank auch der Wechselstromwider- 
stand um mehrere Ohm. DBefeuchten einer vorher trockenen Haut 
dagegen setzte den Wechselstromwiderstand sofort um 20—50 Ohm 
herab. 

Gegenüber den von Zangger und Gildemeister gestellten Fragen, 
ob der Wechselstromwiderstand durch einen durchfließenden Gleich- 
strom und einen psychogalvanischen Reflex verändert werde oder nicht, 
wobei es auf eine technisch schwierige, gleichzeitige Messung beider Arten 
Widerstände ankam, war hier der Vorteil, daß der Erfolg einer Haut- 
reizung lange Zeit anhält, so daß es genügte, die Messungen einfach 
nacheinander vorzunehmen. Um so wichtiger ist die Übereinstimmung 
der Ergebnisse. Ebensowenig, wie sich der Wechselstromwiderstand 
ändert, wenn der Gleichstromwiderstand beim Durchleiten eines Gleich- 
stromes von einigen Volt Spannung durch die Hände in Form der ‚Ruhe- 
kurve‘ ansteigt (Aebly), oder wenn er während des psychogalvanischen 
Reflexes abnimmt (Gildemeister), oder wenn er durch einen Gleich- 
strom, der etwa zwischen zwei Hautstellen des Unterarms fließt, herab- 
gesetzt wird (Belouss)!), ebensowenig ändert sich, wie sich nun zeigt, 
der Wechselstromwiderstand auch dann, wenn die Herabsetzung des 
Gleichstromwiderstands durch mechanische Hautreizung geschieht. 


!) A. Belouss, Ufitersuchung über den Einfluß von Elektrolyten auf die 
elektrische Leitfähigkeit und die Polarisation der tier. Haut. Pflügers Arch. f. d. 
ges. Physiol. 162, 507. 1915. 


238 U. Ebbecke: 


Ganz allgemein macht der Wechselstromwiderstand die großen Schwan- 
kungen und Sprünge des Gleichstromwiderstands nicht mit. 

Mit dieser Feststellung wird unser Anfangsbefund in eine Reihe zu- 
gehöriger Erscheinungen eingeordnet, und die Folgerungen, die für diese 
gezogen sind, gelten auch für ihn. Wenn der Unterschied zwischen dem 
Wechselstromwiderstand und Gleichstromwiderstand sich größtenteils 
durch die Hautpolarisation erklärt, die entsprechend der großen Zahl 
von dicht benachbarten Membranen mit einer überraschenden Stärke 
(Gegenspannung von über 6 Volt, Gildemeister) und Geschwindig- 
keit sich innerhalb der ersten tausendstel Sekunden ausbildet, so sind die 
Schwankungen des Gleichstromwiderstandes, die nicht von ebensolchen 
des Wechselstromwiderstandes begleitet werden, auf Schwankungen der 
Membranpolarisierbarkeit zurückzuführen oder, allgemeiner gesprochen, 
auf Schwankungen der elektrischen Durchlässigkeit und ‚‚Permeabilität‘“. 
Solche Schwankungen treten ein, wenn infolge eines Affekts die Schweiß- 
drüsentätigkeit, oft in einem für andere Methoden nicht feststellbaren 
kleinstem Grade, angeregt wird (,„‚psychogalvanisches Reflexphänomen‘) 
oder wenn sekretorische Hautnerven künstlich gereizt werden (,‚neuro- 
galvanisches Phänomen‘ Schwartz), sie treten aber auch ein, wenn 
die Haut selbst unmittelbar gereizt wird. Wir sind also wohl berechtigt, 
unsern Befund als ‚lokale galvanische Reaktion‘ der psychogalvani- 
schen Reaktion und der neurogalvanischen Reaktion an die Seite zu 
stellen. 

Für die physikalische Seite der Frage sei hier auf die Zusammen- 
stellung von Gilde meister!) verwiesen, der besonders den Unterschied 
von Polarisation und Kapazität hervorhebt. In dem Befund, daß Durch- 
feuchtung der Haut ihren Widerstand auch für Wechselstrom herab- 
setzt, kommt schon zum Ausdruck, daß die Haut, genauer die Horn- 
schicht der Haut, nicht rein als isolierendes Dielektrikum wirkt, so daß 
die aufliegende Elektrode und das feuchte Unterhautgewebe als die 
Belegflächen eines Kondensators angesehen werden könnten. Freilich 
bleiben noch eine Reihe physikalischer Einzelfragen über das Verhältnis 
von Wechselstrom- und Gleichstromwiderstand offen, deren Beantwor- 
tung anderen Bearbeitungen obliegt. Wir haben hier das Thema nach 
seiner biologischen Seite zu verfolgen, so daß es zunächst genügt, fest- 
zustellen, daß der Kernpunkt die Frage der Membranpermeabilität und 
ihrer funktionellen Änderung ist, deren Wichtigkeit viele Untersuchungen 
der letzten Zeit immer deutlicher herausgehoben haben und zu deren 
Beurteilung nach der Untersuchung des Wechselstromwiderstandes nun 
die Untersuchung des Gleichs‘romwiderstandes an gereizter und unge- 
reizter Haut herangezogen werden soll. 


!) M. Gildemeister, Der menschl. Körper als Leiter der Elektrizität, Elek- 
trotechn. Zeitschr. 1919, Heft 38. 


Die lokale ealvanische Reaktion der Haut. 239 


Untersuchungen mit Gleichstrom. 
Methode. 


Die Untersuchungstechnik wurde dadurch wesentlich erleichtert, daß Prof. 
Pohl ein einfaches Zeigergalvanometer zur Verfügung stellte, bei dem der Aus- 
schlag von 1° eine Stromstärke von 1. 10°6 A oder ein tausendstel Milliampere 
bedeutete, dessen Zeiger sich sehr rasch, innerhalb 1!/, Sekunden, einstellte und das, 
als handliches leichttransportierbares Kästchen auf dem Tische liegend, gestattete, 
die jeweils den Körper durchfließende Stromstärke fast unmittelbar abzulesen. So 
wurde statt mit der Nullmethode der Wheatstoneschen Brücke der Widerstand 
nach dem Ohm schen Gesetz bestimmt. Da hierbei weder die Größe des wahren 
Widerstandes noch die Größe der elektromotorischen Gegenkräfte, sondern nur 
sröße und Verlauf der physiologischen Schwankungen des scheinbaren Wider- 
stands von Wichtigkeit war, konnte davon abgesehen werden, daß für Polarisations- 


a — & 
zellen die Formel ?i = - 5; 


lauten müßte, wobei e die Voltzahl der elektromoto- 
rischen Gegenkräfte bedeutet. Als Stromquelle dienten 1—6 Akkumulatorzellen, 
von denen durch Potentiometer eine bestimmte, am Voltmeter abgelesene Span- 
nung abgezweigt wurde. Als Elektroden wurden zur Ausschaltung der exosoma- 
tischen Polarisation unpolarisierbare Elektroden genommen, in Form von Ton- 
zylindern, deren rundgeschliffener Boden auf der Haut keinen Kantenabdruck 
hinterließ; sie wurden mit halb oder drittel gesättigter Zinksulfatlösung gefüllt, 
in die ein amalgamierter Zinkstab tauchte. Der Zinkstab steckte in einem die 
Tonröhre verschließenden Korken und wurde mittels Schraubklemme mit dem 
stromzuleitenden Draht verbunden. Der Durchmesser der Röhren betrug 2, 3 
und 4 cm, wobei meist die große Sorte verwendet wurde. Außerdem gelangten zur 
Anwendung Elektroden aus Glasröhren, die unten mit Schweinsblase verschlossen 
und mit Zinksulfatlösung gefüllt waren, und zur Vermeidung von Atzwirkung 
Gelatineelektroden, bei denen der Zinkstab in ein mit Zinksulfatlösung hergestelltes 
Gel eintauchte, während die die Haut berührende Gelatineschicht nur mit Leitungs- 
wasser geschmolzen und gegossen war. Für manche Zwecke genügten einfache 
runde Zinkblechscheiben oder die bei der Elektrodiagnostik üblichen Stintzing- 
schen Normalelektroden. 

Die bequeme Methodik brachte es mit sich, daß ich als Nebenbeob- 
achtung auch alle die bekannten Erscheinungen des psychogalvanischen 
Reflexphänomens!) zu Gesicht bekam; denn mit dem erwähnten hoch- 
empfindlichen Zeigergalvanometer genügt es, aus Galvanometer, Akku- 
mulator, zwei leitenden Handgriffen und dem menschlichen Körper einen 
Stromkreis zu bilden, um sowohl die ‚‚Ruhekurve‘ als die durch Sinnes- 
und Affektreize hervorgebrachten Ablenkungen beobachten zu können. 
In dieser einfachen Form ist die Untersuchung der klinischen und ärzt- 
lichen Praxis leicht zugänglich und wird so vielleicht allgemeinere Ver- 
wendung finden. Am auffallendsten waren mir die starken individuellen 
Verschiedenheiten der Affekterregbarkeit, die sich bei den Unter- 
suchungen herausstellten und so, den Allgemeineindruck bestätigend, 
meßbar wurden. Niesen, Husten, Lachen gibt stets lebhafte Schwan- 
kungen. Einmal hatte ich Gelegenheit, einen Studenten zu untersuchen, 
der, unmittelbar von’einer Mensur kommend, durch Blutverlust ge- 


1) ©. Veraguth, Das psychogalvan. Reflexphänomen, Halle 1909. 


240 U. Ebbecke: 


schwächt war und ungewöhnlich große psychogalvanische Ausschläge 
zeigte. Freilich ist für die praktische Verwendung, etwa zur Erkennung 
affektbetonter Komplexe oder zur Entlarvung Simulierter Sinnesstörun- 
gen, immer wieder zu betonen, daß Vorsicht in der Deutung des Psycho- 
reflexes geboten ist!), Bei hoher Außentemperatur fand ich die 
psychogalvanischen Ausschläge infolge leichteren Ansprechens der 
Schweißdrüsen erheblich gesteigert. 

In ähnlicher Weise, nur ohne exosomatische Stromquelle, erlaubte 
ein Amperemeter, das zehntausendstel M. A. anzeigte aber sonst wegen 
seiner langsamen Einstellung weniger gecignet war, den Dubois-Rey- 
mondschen Willkürversuch — Mitinnervation der Schweißdrüsen bei 
Armbewegung (Hermann) — zu demonstrieren. 


Sitz der Widerstandsschwankungen bei der lokalen galva- 
nischen Reaktion. 

Um die lokale galvanische Reaktion in ihrem Verhältnis zur psycho- 
galvanischen und neurogalvanischen Reaktion näher zu charakterisieren, 
galt es, Anhaltspunkte über den Sitz der Widerstandsschwankungen bei 
jener Reaktion zu gewinnen. 

Nach den alten Versuchen von Volta, v. Humboldt und Ritter 
bedarf es keiner Diskussion mehr, daß überhaupt der elektrische Gleich- 
stromwiderstand ganz überwiegend in der Haut lokalisiert ist?). Es 
genügt, daran zu erinnern, daß der Gleichstromwiderstand größer ist 
bei der nahen Ableitung von Hand zu Unterarm als bei der weiter ent- 
fernten Ableitung von Hand zu Gesicht oder gar Zunge, und daß er durch 
Hautdefekte, Narben, Blasenpflaster auf einen kleinen Bruchteil herab- 
gesetzt wird. So finden auch die Widerstandsschwankungen ersichtlich 
in der Haut statt, nur gilt es zu entscheiden, ob sie der Hornschicht oder 
der Epidermis oder der Cutis mit Blutgefäßen und Schweißdrüsen zuzu- 
schreiben sind. 

Für die Hornschicht fand ich folgende zwei Versuche charakte- 
ristisch, die beide nur bei trockener Haut und bei Verwendung trockener 
Blechscheibenelektroden gelingen. Drückt man die stromführenden 
Zinkscheiben bei einer Spannung von 2 Volt kräftig gegen die Stirn der 
Versuchsperson, so bemerkt man eine deutliche Stromzunahme innerhalb 
von 1—2 Minuten, die nicht durch die elektrische Durchströmung her- 
vorgerufen sein kann, da der Erfolg nicht eintritt, wenn die Elektroden 
nur wie gewöhnlich mit gutem Kontakt und gelindem Druck angelegt 
sind, die aber auch nicht auf mechanischer Reizung beruht. Zwar rötet 

!) Vgl. A.Grünbaum, Le reflex psychogalvanique et sa valeur diagnostique, 
Archives ne&erlandaises 5, 1. 1920. 

2) Vgl. E. Dubois-Reymond, Untersuchungen über tier. Elektrizität, 


2, 2, Kap. 8. Von dem Leitungswiderstande des menschl. Körpers und Runge, 
Uber den Elektrotonus am Lebenden, Dtsch. Arch. f. klin. Med. %, 356. 1870. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 241 


sich dabei die gedrückte Stirnhaut und die Widerstandsabnahme erfolgt 
ebensogut, wenn die Elektroden in stromlosem Zustand einige Zeit ange- 
drückt waren, und dann erst Strom durchgeleitet wird. Aber zum Unter- 
schied von dem gewöhnlichen Erfolg der mechanischen Reizung geht 
der Widerstand schon innerhalb 2—3 Sekunden nach Absetzen der Elek- 
troden auf den Anfangswert zurück, obgleich die Haut weiter gerötet 
bleibt, und tritt der Erfolg, wenn man nur eine Elektrode an die Stirn 
drückt, die andere an eine beiiebige Hautstelle legt, nur dann ein, wenn 
die gedrückte Elektrode die Anode ist. 

Dieser zunächst unverständliche Versuch machte mich recht stutzig, 
da er den anderen Befunden zu widersprechen schien. Vor seiner Er- 
örterung sei der zweite Versuch angeführt. 

Wiederholt man den Versuch an irgendeiner anderen Körperstelle, 
etwa an der Bauchhaut, so gelingt er nicht. So sehr sich auch die ge- 
drückten oder geriebenen Stellen röten, so bleibt doch die Leitfähigkeit 
unverändert; sobald man aber die vorher ganz trockene Haut mit 
Wasser befeuchtet, zeigt sich die bessere Leitfähigkeit der gereizten 
Hautstellen im Vergleich zu den ungereizten Nachbarstellen. 

Der zweite Versuch ist leichter verständlich. Hier bei.dem unge- 
wöhnlich großen, etwa 1 Million Ohm betragenden Hautwiderstand, 
ist der Leitungswiderstand der trockenen Hornschicht für sich allein 
schon so beträchtlich, daß er nur einen minimalen Strom durchläßt und 
Unterschiede in der Leitfähigkeit der darunterliegenden Schichten gleich- 
sam zudeckt. Die Unterschiede kommen erst heraus, wenn durch Be- 
feuchtung der Widerstand dieser allerersten Schicht wesentlich gemindert 
ist. Warum gelingt aber der erste Versuch nur an der Stirn? Ersicht- 
lich, weil hier die Haut, ohne ausweichen zu können, zwischen zwei 
festen Körpern, der Elektrode und dem Knochen, zusammengepreßt 
wird, wobei allmählich auch etwas Gewebsflüssigkeit in die Hornschicht 
hineingepreßt wird und einzelne isolierte Flüssigkeitsfädchen zum Zu- 
sammenfließen gebracht werden. Sobald aber der Druck aufhört, kehrt 
die gepreßte Haut elastisch in ihren alten Zustand der isolierten Flüssig- 
keitsfäden zurück. Daß dieses Verhalten sich nur an der Anode findet, 
läßt sich dadurch erklären, daß durch den elektrisch bedingten Wasser- 
transport die Feuchtigkeit innerhalb capillarer Räume eines schlechten 
Leiters von der Anode weg und zur Kathode hin geführt wird. Hier 
spielt also die von Munk!) hervorgehobene Kataphorese oder Elektro- 
endosmose eine gewisse Rolle, die sonst, wie wir sehen werden, für die 
Erklärung der elektrischen Leitfähigkeit des Körpers nebensächlich 
ist und erst bei hohen Stromstärken wieder größere Wirkung hat). 


*) H. Munk, Arch. £, Anat. u. Phys. 241 u. 505. 1873. 
2) Vgl. R. Kaufhold, Über das elektrische Leitungsvermögen der menschl. 
Haut, Arch. f. Physiol. 189. 1919. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 16 


242 U. Ebbecke: 


Die praktische Folgerung aus diesen Versuchen, die mir zunächst 
nur als Fehlversuche aufstießen, ist die, daß der.elektrischen Unter- 
suchung eine Durchfeuchtung der Haut vorauszugehen hat, weil sonst 
die Erscheinungen in den unter der Hornschicht liegenden Schichten, 
auf die es uns ankommt, verdeckt sind. Zugleich dient die maximale 
Durchfeuchtung dazu, störende Feuchtigkeitsänderungen der Haut aus- 
zuschließen und die Versuchsbedingungen in dieser Hinsicht konstant 
zu halten. 

Nach Ausschluß der Hornschicht ist nun zwischen Epidermis und 
Cutis zu entscheiden, genauer zwischen Epithelzellen, Blutgefäßen und 
Schweißdrüsen. Mit ähnlichen Fragen haben sich Elektrotherapie und 
Elektrodiagnostik seit langem beschäftigt und die Überlegung angestellt, 
daß die Bahnen des geringsten Widerstandes für den Strom in der schlecht 
leitenden Haut und dem schlechtleitenden Unterhautfettgewebe die 
Blutkanäle und die Drüsenkanäle sein werden. So liegt es nahe, Ände- 
rungen der Leitfähigkeit vasomotorisch aus Änderungen der Blut- 
fülle nach der alten Remakschen und noch heute viel verbreiteten 
Theorie oder sekretorisch aus Änderungen der Drüsenkanälchenfüllung 
zu erklären. Beide Erklärungen würden eine begleitende Widerstands- 
änderung für Hochfrequenzstrom erfordern, die nicht gefunden wird. 
Die vasomotorische Erklärung läßt sich leicht widerlegen, da sowohl die 
psychogalvanische Reaktion, wie Veraguth zeigte, als die lokale galva- 
nische Reaktion, wie eingangs hervorgehoben, ebensogut am abgebun- 
denen, vom Blutkreislauf ausgeschalteten oder blutleer gemachten Arm 
stattfinden. Weitere Gegengründe, auf die ich im Verlauf der Unter- 
suchung stieß und die ich zunächst nur kurz erwähne, sind das Vor- 
kommen der Widerstandsherabsetzung an der Leiche, ferner an einer 
Haut, der man eine Rötung noch nicht oder nicht mehr ansieht, das 
Fehlen der Widerstandsherabsetzung an einer Haut, die, durch Fara- 
disieren oder Chloroformieren, deutlich gerötet ist. Hiernach sind vaso- 
motorische Änderungen als Ursache der lokalen galvanischen Reaktion 
mit Sicherheit auszuschließen. Nur indirekt kann die Hautdurch- 
blutung die Temperatur und Stoffwechselhöhe der Hautzellen beein- 
flussen. Gegen die sekretorische Erklärung ließe sich einwenden, daß 
nach ihr die Flüchtigkeit einer schwachen Reaktion nicht recht ver- 
ständlich ist. Immerhin könnten auch bei der lokalen galvanischen 
Reaktion die vermuteten Membranänderungen in den Schweißdrüsen 
liegen, auf welche die psychogalvanische Reaktion aufmerksam ge- 
macht hatte. Nun hat Leva!) gezeigt, daß die psychogalvanische 
Reaktion an den Hautstellen am stärksten ist, wo am reichlichsten 
Schweißdrüsen vorkommen (Handfläche, Fußsohle, Achselhöhle), und 
dort am schwächsten, wo die Schweißdrüsen spärlich sind, daß allgemein 


1) M. Leva, Münch. med. Wochenschr. Nr. 43, 1913. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 243 


die Zeichnung der anatomischen Verteilung der Schweißdrüsen in der Haut 
und des stärkeren oder schwächeren Auftretens der psychogalvanischen 
Reaktion übereinstimmt. So sehr dies, zusammen mit den Pilocarpin- 
und Atropinversuchen, für die Beteiligung der Schweißdrüsen an der 
psychogalvanischen Reaktion spricht, so sehr spricht es gegen ihre 
Beteiligung an der lokalen galvanischen Reaktion. An der Handfläche 
pflegt die lokale galvanische Reaktion zu fehlen und kommt nur unter 
besonderen Bedingungen (sehr warme Hand, sehr starke Reizung) zum 
Vorschein. Nimmt man dagegen die direkte Reizung an Hautstellen 
vor, wo wegen Mangels an Schweißdrüsen der psychogalvanische Reflex 
schwach ist oder fehlt, etwa an der Streckseite des Oberschenkels, so 
ist die lokale Reaktion nicht weniger deutlich. Hiernach sind auch die 
Schweißdrüsen als Ursache der lokalen galvanischen Reaktion auszu- 
schließen, und es bleiben per exclusionem die Epithelzellen übrig. Zu 
diesem negativen Schluß kommen positive Gründe hinzu, die Analogie 
mit der ebenfalls auf die Epithelien zurückgeführten lokalen vasomo- 
torischen Reaktion, die später zu besprechenden Gärtnerschen Befunde 
und die Wallerschen Flammströme an losgelöster, drüsenfreier Epi- 
dermis. 


Weitere Eigenschaften der lokalen galvanischen Reaktion. 


Der Unterschied der lokalen von der psychogalvanischen Reaktion 
kommt noch in einigen anderen Tatsachen zum Ausdruck. Ist durch 
starkes Reiben der Hautwiderstand erheblich herabgesetzt, so ist die 
psychogalvanische Reaktion nicht beeinträchtigt, eher deutlicher ge- 
worden, da sie durch den Epidermiswiderstand weniger zugedeckt wird. 
Die psychogalvanische Reaktion tritt auf Affektreiz gleichzeitig an allen 
Hautstellen auf, an denen sich Schweißdrüsen finden; die durch direkte 
Reizung erzeugte Reaktion ist, ebenso wie die lokale vasomotorische 
Reaktion, streng auf den unmittelbar gereizten Bezirk beschränkt. Bei 
noch so heftiger Reizung einer umschriebenen Hautstelle bleibt die 
Nachbarschaft in ihrem elektrischen Widerstande unverändert. Die 
psychogalvanische und neurogalvanische Reaktion kommen, wie der 
Name sagt, durch Nerveneinfluß zustande, die lokale galvanische Re- 
aktion ist, ebenso wie die lokale vasomotorische Reaktion, nicht nervös 
bedingt. Hier genügt es, als einzigen eindeutigen Beweis den Befund 
anzuführen, den ich im hiesigen pathologischen Institut erheben konnte: 
Auch an der Leiche, an der überlebenden Haut des Menschen ist noch 
viele Stunden, und wahrscheinlich noch einige Tage, post mortem eine 
deutliche lokale galvanische Reaktion zu erzielen. 

Wir kommen souun zu dem Schluß: die lokale galvanische Reaktion 
ist eine Epithelreaktion, die streng auf den direkt gereizten Bezirk be- 
schränkt und nicht nervös bedingt ist. 


16, 


244 U. Ebbecke: 


Freilich ist damit nicht gesagt, daß es nicht vielleicht besondere, 
etwa in den Hinterwurzeln verlaufende, ‚‚trophische‘‘ Nervenfasern gibt, 
welche, auf bestimmte Art gereizt, die Hautzellen beeinflussen, ähnlich 
wie bei Entzündung der Spinalganglien Herpes zoster entsteht (Head); 
diese Frage wäre erst durch weitere Untersuchung zu entscheiden. 

Auch ist die Reaktion nicht eine spezifische Eigentümlichkeit der 
menschlichen Haut, sondern ist, wie ich hier nur anführe, beispielsweise 
an der Haut des Frosches oder des Meerschweinchens zu finden, wenn 
auch in deutlich geringerem Grade. An der Leber fand ich sie, in bisher 
nur wenigen vorliegenden Versuchen, andeutungsweise. Daß sie dort 
so gering ausfällt, möchte ich darauf zurückführen, daß die Leitfähig- 
keit der so reichlich durchbluteten Leber ohnehin sich der Größen- 
ordnung der Leitfähigkeit des Blutes nähert, so daß wegen der reich- 
lich vorhandenen ‚‚Nebenschließungen‘ nur ein geringer Teil des Stromes 
durch die Zellen selbst geleitet wird. 

Wird die Haut an beiden Elektrodenstellen gerieben, so ist die 
Widerstandsherabsetzung unverhältnismäßig stärker, als wenn nur 
eine Elektrodenstelle gereizt war. Der Befund ist physikalisch ver- 
ständlich, da nun die geringe Leitfähigkeit der ungereizten Elektroden- 
stelle nicht mehr die gute Leitfähigkeit der gereizten Elektrodenstelle 
überdeckt. Physiologisch ist er bezeichnend für das Verhältnis dieser 
Widerstandsherabsetzung zu den Aktionsströmen. Denn nachdem 
Änderungen des Ohmschen Widerstandes mit Ausnahme der durch 
Durchfeuchtung verursachten durch die Wechselstromuntersuchungen 
ausgeschlossen wurden, bleibt zu fragen, ob die Verstärkung des den 
Körper durchfließenden Stromes auf eine im Körper hinzukommende 
gleichgerichtete elektromotorische Kraft oder auf das Wegfallen einer 
elektromotorischen Gegenkraft zurückzuführen ist. Wäre das erste der 
Fall, so müßte ein solcher endosomatischer Strom, der wie alle Aktions- 
ströme eine bestimmte, einsteigende oder aussteigende, Richtung hat, 
den Meßstrom verstärken oder abschwächen, je nachdem er gleich oder 
entgegengesetzt gerichtet ist; der Meßstrom wird aber stets verstärkt. 
Entstehen ferner bei Reizung zweier Hautstellen zwei Aktionsströme, 
so müßten sie sich, weil beide einsteigend oder beide aussteigend, in ihrer 
Wirkung kompensieren oder mindestens abschwächen, statt sich, wie der 
Versuch zeigt, zu verstärken. Wohl noch charakteristischer ist es, daß 
es sich bei diesen Widerstandsherabsetzungen und den Aktionsströmen um 
elektromotorische Kräfte ganz verschiedener Größenordnung handelt. 
Gilt dies schon für die psychogalvanische Reaktion, so gilt es noch viel 
mehr für die Widerstandsherabsetzung nach direkter Reizung, da die 
hierbei auftretenden Schwankungen die psychogalvanischen Schwan- 
kungen weit übertreffen. Bei den Aktions- und Demarkationsströmen 
handelt es sich um elektromotorische Kräfte von einigen tausendstel 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 245 


bis einigen hundertstel Volt. Für die psychogalvanische Reaktion be- 
rechnet Gildemeister Kräfte von 0,2—0,7 Volt!), für die lokale 
galvanische Reaktion ist es leicht, zu Werten von mehreren Volt zu ge- 
langen. Hierfür sei ein Zahlenbeispiel aus meinen Protokollenan geführt. 


Versuchsperson H. Sch. Die römischen Ziffern geben die Spannung des 
durchgeleiteten Stromes in Volt, die arabischen den Ausschlag des Galvanometers 
in Grad an. 

Ill I |VIL | VIII | IX 


SS en IT 
eos aabalsıın 


VIIL| VII V|IV| II 


102 75 a score 


Einige Zeit später wird der Galvanometerausschlag, der bei 3 Volt 16° ne 
durch Reizen der Elektrodenstellen auf 65° und durch weiteres Reizen auf über 
100° bei 3 Volt Spannung erhöht. Bei gleichbleibender Meßspannung ist also der 
Reizerfolg so, als ob die Spannung ungefähr um 5 oder um 7 Volt vermehrt wäre. 
Es sie bemerkt, daß dieses eine Beispiel von vielen durchaus noch nicht den 
stärksten Reizerfolg darstellt. 

Elektromotorische Kräfte von solchem Betrage können natürlich 
nicht von Aktionsströmen herstammen. Freilich wird es damit auch 
zweifelhaft, ob es zweckmäßig ist, sie, wie es Gildemeister für die 
psychogalvanische Reaktion tut, allein auf polarisatorische Gegen- 
kräfte an den Membranen zurückführen. Denn in unserem Falle würde 
die Gegenspannung, deren Wegfall den durchfließenden Strom verstärkt, 
größer sein (5—7 Volt), als die von außen angelegte polarisierende Span- 
nung (3 Volt). Nehmen wir hinzu, daß auch an Leichenversuchen ein 
Gleichstrom von 110 und 220 Volt Spannung größeren Widerstand 
findet als ein Wechselstrom?), so dürfen wir uns wohl zunächst mit der 
allgemeineren Fassung begnügen, daß durch Reizung die Membran- 
permeabilität und damit die elektrische Ionendurchlässigkeit erhöht 
werde, und kommen damit zu demselben Ergebnis, wie es bei den 
Leitfähigkeitsbestimmungen am Blut mit seinen Blutkörperchen 
[Höber, Joel®)] oder an Algen [Osterhout®)] festgestellt ist. Mit 
der Zunahme der Ionendurchlässigkeit wird eine Abnahme der Polari- 
sierbarkeit einhergehen. Es bliebe die physikalische Frage, warum dann 
solche Widerstandsänderungen der Membranen der Messung mit Wech- 
selstrom entgehen, etwa, weil der Wechselstrom die unmeßbar dünnen 
„Membranen“ durch Verschiebungsstrom überspringt. 

Die physiologisch wohl wichtigste Eigentümlichkeit der durch mecha- 
nische Reizung erzielten Leitfähigkeitsänderung ist ihre Reversibilität. 
Je nach der Stärke der Reaktion kehrt der durch Reiz herabgesetzte 

!) Gildemeister, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 16%, 502. 1915. 

®) Gildemeister u. Kaufhold, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%9, 

154. 1920. 
®) Höber, Physikal. Chemie der Zelle und, der Gewebe 372f. 1914. Joel, 
Über die Einwirkung einiger indifferenter Narkotika auf die Permeabilität roter 


Blutkörperchen. Pflügers Archiv 161, 5. 1915. 
- 4) Osterhout, Science 35, 112, 36, 350. 


246 U. Ebbecke: 


Widerstand in einer oder einigen Minuten, in Stunden oder in Tagen zum 
anfänglichen Wert zurück. In den Fällen, wo der Ausgleich, nach 
leichten nicht schädigenden Reizen, schnell erfolgt, zeigt der Galvano- 
meterzeiger gleichsam symptomatisch eine „physiologische Schwan- 
kung“ in Form einer Erregungskurve an. So lassen sich auch Summa- 
tionserscheinungen und Erregbarkeitsänderungen erkennen. 

Um Eigenschaften und Verlauf der Reaktion genauer kennen zu 
lernen, ist es nötig, außer dem mechanischen Reiz auch die anderen 
Reizarten heranzuziehen, was im folgenden geschehen soll. 


Thermische Reizwirkung. 


Daß höhere Temperatur den Leitungswiderstand des Körpers herab- 
setzt, ist verschiedentlich beobachtet worden. So sagt schon E. Weber!): 
„Impedimentum propagationis, quod in cuticula est, calore imminuitur“. 
Und Dubois-Reymond?) handelt in einem besonderen Abschnitt 
„von der Verminderung des Leitungswiderstandes der Oberhaut durch 
Temperaturerhöhung‘‘. Aber gerade bei den thermischen Wirkungen ist 
es besonders schwer zu entscheiden, was davon als physikalische Wir- 
kung und was als physiologische Reizwirkung anzusehen ist. Physi- 
kalisch nimmt der Leitungswiderstand eines Elektrolyten mit steigender 
Temperatur ab; aber auch der durch elektromotorische Gegenkraft be- 
dingte scheinbare Widerstand einer Polarisationszelle sinkt bei der Er- 
wärmung, weil dabei, ebenso wie bei Erschütterung, die Diffusion der 
angehäuften Ionen begünstigt wird. Beides trifft auch für den mensch- 
lichen Körper zu. Zudem setzt Erwärmung die Schweißdrüsentätigkeit 
in Gang. Wenn wir daneben auch den Einfluß der Temperatur auf den 
Zellstoffwechsel für wesentlich halten, so stützt sich das auf unseren 
Befund, daß Erwärmung und Abkühlung umschriebener kleiner Haut- 
stellen den Widerstand nur dann deutlich beeinflussen, wenn sie sehr 
intensiv und lange eingewirkt haben, und daß die gewöhnlichen, für die 
Empfindung und für vasomotorische und sekretorische Reflexe wirksamen 
Temperaturänderungen (kurzdauerndes Eintauchen des Arms in warmes 
oder kaltes Wasser) für den Hautwiderstand schweißdrüsenarmer Stellen 
so gut wie wirkungslos bleiben. Hier liegt derselbe Unterschied zwischen 
der reflektorischen Nervenwirkung und der direkten lokalen Reizwirkung 
vor, wie er seinerzeit für die lokale vasomotorische Reaktion?) und für 
den nichtnervösen Anteil der Pilomotorenreaktion *) hervorgehoben ist. 


!) Eduard Weber, Quaestiones physiologicaede phaenomenisgalvanomagne- 
ticis in corpore humano observatis, Leipzig 1836. 

®2) E. Dubois-Reymond, Untersuchungen über tierische Elektrizität 
2, 212—217. 

3) Ebbecke, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 169, S. 26f. 

*) Sobotka, Zur Physiologie der pilomotorischen und der ihnen verwandten 
Erscheinungen beim Menschen, Arch. f. Dermatol. u. Syphilis 105. 


Be ne 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 247 


Chemische Reizwirkung. 


Bringt man Essigsäure- oder Ammoniaklösung auf die Haut, so setzt 
das nach einiger Zeit die Leitfähigkeit reversibel herauf. Ebenso wirken 
zahlreiche andere chemische Substanzen und ‚Hautexeitantien“. Hier 
zeigt sich, bei der unsicheren Regulierbarkeit chemischer Einwirkungen, 
noch deutlicher als bei den mechanischen Wirkungen die Verwandtschaft 
von Reizung (‚,‚nutritive Reizung‘‘, Zellerregung) und Entzündung, die 
sich nur graduell, mit fließenden Übergängen, unterscheiden. Wenn 
etwa ein Blasenpflaster nach längerem Liegen sichtbare Zellstörungen, 
Schädigungen und Absterbeerscheinungen hervorruft, so handelt es 
sich nicht mehr um physiologische Reizstärken. 

Zu diesen leicht zu erhebenden Befunden lassen sich eine Reihe 
alter, nur neu zu deutender Beobachtungen zitieren. Wohl die älteste 
Beobachtung stammt von Lenz und Ptschelnikoff!), welche statt 
Newawasser auch 1 proz. und 4 proz. Schwefelsäure als hautbefeuchtende 
stromzuleitende Flüssigkeit nahmen und das Verhältnis der Körper- 
Widerstände bei den drei Flüssigkeiten wie 16,53 : 6,06 :4,37 fanden. 
Auch wenn beispielsweise Einthoven?) empfiehlt, zur Ableitung von 
Elektrokardiogrammen statt 1 proz. Kochsalzlösung 20 proz. zu nehmen 
„behufs Verkleinerung des Hautwiderstandes“, so sehen wir darin eine 
Wirkung osmotischer Hautreizung, die zu der physikalischen Wirkung 
hinzukommt. Bei anderen Excitantien wie Terpentinöl oder Kantha- 
ridin spielt die Leitfähigkeit der Flüssigkeit selbst keine Rolle. So kann 
die Messung zur genaueren Bestimmung der Reizwirkung pbarmuko- 
logischer Agentien dienen. 


Wirkung der Narkotica. 


Unter den chemischen Mitteln verdienen die Narkotica besondere 
Beachtung. Wie bekannt, haben Chloroformdämpfe heftige Reizwirkung, 
bringen etwa einen ausgeschnittenen Froschmuskel zur Contractur oder 
rufen reflektorisch von der Nasenschleimhaut her Atemstillstand hervor; 
sie dringen auch leicht in die Haut ein. Ich hatte seinerzeit das Chloro- 
form dazu benutzt, die verschiedenen Stadien der Reizung nervöser 
Hautendapparate — Kälte, Wärme, Hitze, Brennen, Schmerz — und 
das normale Vorkommen der sog. ‚„paradoxen‘‘ Wärmeempfindung zu 
demonstrieren®), und verwendete nun dieselbe Methode (wasserdichtes 
Aufstülpen chloroformgefüllter Gläschen auf die Haut, Hervorrufen eines 


!) Lenz u. Ptschelnikoff, Poggendorfs Ann. 56, 429. 1842, 

2) Einthoven, Über Bindeelektroden nebst einigen Bemerkungen über das 
Kinder-E.-K.-G. Wien. med. Wochenschr. 507. .1916. 

®) U. Ebbecke, Die ’Temperaturempfindungen in ihrer Abhängigkeit von der 
Hautdurchblutung und von den Reflexzentren. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 
168, 395. 1917. 


248 U. Ebbecke: 


bestimmten Reizstadiums, nach dem Absetzen Abwischen der Haut und 
Befeuchten mit Wasser), um den Einfluß auf den Hautwiderstand zu 
messen. Der Erfolg fiel entgegen der Erwartung aus. Selbst dann, wenn 
die Reizung bis zu empfindlichen Schmerzen und einer weit über den 
direkt gereizten Bezirk hinausgreifenden reflektorischen Rötung fort- 
gesetzt ist, zeigt sich eine Zunahme des elektrischen Widerstandes. Erst 
nach einiger Zeit (10—15 Minuten) wird die Leitfähigkeit der gereizten 
Haut gleich der der ungereizten, um danach für längere Zeit die Leit- 
fähigkeit der Umgebung zu übertreffen. Der Versuch hatte bei ver- 
schiedenen Versuchspersonen das gleiche Ergebnis und ist in mancher 
Beziehung lehrreich. | 

Er zeigt den verhältnismäßig geringen Einfluß der reflektorischen 
Hautgefäßerweiterung auf den Hautwiderstand, den er im entgegen- 
gesetzten Sinne verändern müßte. Zweitens beweist er, wie notwendig 
es ist, Nervenreizung und Hautreizung, genauer Zellreizung, scharf 
auseinanderzuhalten, da die beiden erregbaren Gebilde ganz ver- 
schiedene Reizschwellen haben. Drittens stützt er die Anschauungen, 
welche die neueren Untersuchungen über Narkosewirkung ergeben 
haben. 

So leicht es ist, den permeabilitätserhöhenden Erfolg von Chloroform 
und Äther etwa am Lackfarbigmachen des Blutes oder am Austritt des 
roten Zellsaftes aus den Scheiben der roten Rübe nachzuweisen, so tritt 
doch diese Lösung und Zerstörung der Plasmahaut erst bei höheren 
Graden der Chloroformwirkung ein. Die erste schwache und leicht 
reversible Wirkung dagegen, wie sie für die gewöhnlichen Narkosegrade 
in Frage kommt, scheint im Gegenteil eine Membranverdichtung zu sein. 
Hierauf hat schon Höber!) hingewiesen und Joel?) hat es an Blut- 
körperchen bestätigt. Zu ähnlichen Folgerungen kam Lillie®) durch 
seine Versuche an Arenicolalarven, bei denen eine mit Pigmentaustritt 
verbundene Kontraktion durch Chloroform verhindert wird, und 
ÖOsterhout?) durch seine Versuche an Laminaria, deren Widerstand 
gegen elektrische Durchströmung durch Zusatz einer Iproz. Äther- 
lösung zunahm, nach einer 3proz. Ätherlösung erst zu-, dann aber 
unter Absterben abnahm. Diesen Versuchen sind unsere Hautversuche 
durchaus analog, ohne daß es zunächst nötig ist, auf die mit der 
Permeabilitätsänderung verbundene Änderung der Membranpolarisier- 
barkeit Rücksicht zu nehmen. Die Messung der Polarisationsänderungen 


!) Höber, Eine neue Theorie der Narkose. Vierteljahrsschr. der Natur- 
forschenden Gesellsch. Zürich 1907. 

?) Joel, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 161, 5. 1915. 

3) Ralph. Lillie, Antagonism between Salts and Anaesthetics Amer. Journ. 
Physiol. 29, 372, 30, 1, 1912. 

“4, Osterhout, Effect of Anaesthetics on Permeability, Science 37, 111, 1913. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 249 


hat Gildemeister!) zur Methode ausgebildet und damit die zuerst 
durchlässigkeitsvermindernde, dann -steigernde Wirkung der Narkotica 
an der Froschhaut deutlich demonstriert). Die Übereinstimmung zeigt, 
daß auch die einfache Methode der Gleichstromwiderstandsmessung ver- 
wendbar ist. 


Wirkung elektrischer Reize. 


Alle chemischen Reizversuche leiden an dem Übelstand, daß weder 
Anfang noch Ende, noch Stärke der Einwirkung genau zu bestimmen sind, 
da das Mittel einige Zeit braucht einzudringen und nach Entfernung 
noch nachträglich seine Wirkung entfaltet. Auch bei den mechanischen 
Reizungen ist die Graduierung schwierig. Um so wichtiger war es mir, 
die ausgebildete elektrische Reizmethodik zu verwerten. 


Methodik. 

Die Messung geschah in der Weise, daß bei unverändert auflibgenden Elek- 
troden durch Umlegen einer Wippe bald der Induktionsstrom eines Dubois- 
Reymondschen Schlittens, bald der Meßstrom von 2—3 Volt Spannung durch die 
Haut des Unterarms geschickt wurde, so daß bei der zum Umlegen der Wippe 
und zur Einstellung des Galvanometerzeigers erforderlichen Zeit etwa 2 Sekunden 
nach der Reizung die den Unterarm durchfließende Stromstärke und damit indirekt 
der Gleichstromwiderstand abgelesen werden konnte. Auch für die galvanische 
Reizung diente z. T. dieselbe Anordnung, indem je nach der Wippenstellung die 
Elektroden abwechselnd mit dem Reizstrom von 10—15 Volt Spannung und dem 
Meßstrom von 2—3 Volt Spannung verbunden waren. 

Wie im Verlauf der Untersuchung immer deutlicher wurde, waren 
die Befunde, die sich ergaben, zu einem Teil die Bestätigung alter Er- 
fahrungen, welche die Elektrotherapie und Elektrodiagnostik seit 
Remak, Erb und Ziemssen angesammelt hat und die freilich nun 
mit völliger innerer Umstellung von anderem Gesichtspunkt her er- 
scheinen, z, T. waren sie neu, ließen sich aber mit jenen zu einem ein- 
heitlichen Bild vereinigen. 


Faradische Reizwirkung. 


Ein Induktionsschlag mittlerer Stärke bleibt, obgleich als deutlicher 
Schlag empfunden, ohne Wirkung auf den Widerstand. Ist die sekun- 
däre Spule ganz über die primäre geschoben mit einem Trockenelement 
als Stromquelle, so ist der Schlag von einer sehr unangenehmen Stärke; 
der Gleichstrom nimmt danach um wenige tausendstel M. A. zu, um 
innerhalb 1 Minute zum Anfangswert zurückzukehren. Werden statt 
der Einzelreize rhythmische Reize verwendet, so ist die Widerstands- 


!) Gildemeister, Elektrische Messung der Permeabilität; chemische Beein- 
flussung der Zellmembran, Ber. über die gesamte Physiologie 2, 182. 1920. 

2) Vgl. auch G. Eniden, Beiträge zur Lehre von der Muskelkontraktion, der 
Ermüdung und der Narkose, ebd. S. 159. 


250 U. Ebbecke: 


abnahme zwar deutlicher, aber im Verhältnis zu den heftigen sensiblen 
und motorischen Wirkungen auffallend gering und in wenigen Minuten 
ausgeglichen. Dabei kann es zu einer lebhaften und ausgebreiteten 
reflektorischen Hautrötung kommen. Das Resultat entspricht den 
Angaben von Bruckner, Gärtner!) und Stintzing und Graeber?), 
die nur noch nicht den Verlauf und Ausgleich der Wirkung beachtet 
hatten. 


Galvanische Reizwirkung. 


Im Gegensatz dazu steht die Wirkung galvanischer Ströme. „Ein 
konstanter Strom, der noch gar nicht gefühlt wird und der auch nicht 
kräftig genug ist, um, auf motorische Punkte appliziert, Zuckungen aus- 
zulösen, übertrifft in dieser Richtung den stärksten elektrischen Induk- 
tionsstrom““ (Gärtner, |. e. S. 539). Jede ärztliche elektrische Unter- 
suchung mit Pantostat und Milliamperemeter gibt Gelegenheit, die 
Widerstandsherabsetzung durch den Gleichstrom festzustellen. Für uns 
ist der Gegensatz von faradischer und galvanischer Wirkung ein weiteres 
Beispiel für die Notwendigkeit, Zellreizungen und Nervenreizungen be- 
grifflich auseinander zu halten, so oft sie auch miteinander kombiniert 
auftreten, und entspricht den auf S. 246 und S. 248 über thermische Reiz- 
wirkung und Chloroformwirkung gemachten Bemerkungen. Hatte doch 
schon die Untersuchung der lokalen vasomotorischen Reaktion den- 
selben Gegensatz in der galvanischen und faradischen Reizwirkung er- 
geben (Ebbecke, 1. c. S. 28). Wenn gewöhnlich die Widerstandsherab- 
setzung beim längeren Durchfließen eines in seiner Spannung unver- 
änderten Stromes festgestellt wird, so entspricht das freilich nicht den 
gewohnten physiologischen Reizbedingungen, doch sind nach unserer 
Auffassung ‚‚Reizstrom‘ und Meßstrom“, die dabei ein und derselbe sind, 
gedanklich und mit der S. 249 beschriebenen Anordnung auch leicht tat- 
sächlich zu trennen. Allerdings befinden wir uns mit dieser biologischen 
Deutung, die sich im Gang der Untersuchung von selbst einstellte, im 
Widerspruch zu der herrschenden physikalischen Erklärungsweise der 
durch Gleichstrom verursachten Widerstandsherabsetzungen, so daß 
es nötig ist, unsere Auffassung näher zu begründen. 


Physiologische Deutung. Zellerregung. 


Von der seit Einführung des galvanischen Stromes in die ärztliche 
Praxis®) lebhaften Diskussion über dieses Thema sei nur eine kurze 
Übersicht gegeben. Die anfangs herrschende und noch heute verbreitete 


1) G. Gaertner, Untersuchungen über das elektr. Leitungsvermögen der 
menschlichen Haut. Wien. med. Jahrb. 1882, S. 519. 

2) Stintzing und Graeber, Dtsch. Archiv f. klin. Med. 1887, Bd. 40, S. 129. 

>») R. Remak, Galvanotherapie der Nerven- und Muskelkrankheiten, 1859. 


Die lokale galvanische Reaktion der Ilaut. 251 


Reiztheorie — durch den Strom werde mittels Reizung der vasomoto- 
rischen Nerven eine Gefäßerweiterung und dadurch bessere Durch- 
tränkung der Haut veranlaßt (E. Remak) — wurde verdrängt durch 
H. Munkt!) und G. Gaertner. Munk übertrug den physikalischen 
Befund, daß in einer Tonzelle oder in anderen Capillarräumen eines 
schlechten Leiters sich die Wasserteilchen positiv aufladen und daher 
in der Richtung des positiven Stromes wandern, auf die Verhältnisse in 
der menschlichen Epidermis und suchte so die merkwürdigen Intensitäts- 
schwankungen des Stromes, die namentlich bei Stromwendung (Volta- 
scher Alternative) auffallen, verständlich zu machen. Gaertner (l. c.) ver- 
half dieser Ansicht zum Siege durch seine wichtigen Untersuchungen an 
der Leiche, an der er, trotzdem die vasomotorischen Änderungen weg- 
fallen, alle die Eigentümlichkeiten, wie sie vom Lebenden bekannt 
waren, wiederfand. Die letzten Untersuchungen hierüber rühren her 
von Belouss?2), Gildemeister?), Gildemeister und Kaufhold®) 
und Kaufhold5). Sie zeigten, daß die Änderungen des Gleichstrom- 
widerstandes von keinen oder von geringen antibaten Änderungen des 
Hochfrequenzwiderstandes begleitet sind. Auf Grund dessen verwirft 
Gildemeister die elektro-endosmotische Erklärung und kommt zu der 
Ansicht, daß die Befunde durch die Polarisationstheorie erklärbar sind 
unter der Annahme, daß die beim Stromdurchgang entstehenden. Kon- 
zentrationsänderungen die Membranen und ihre Polarisierbarkeit 
schädigen oder daß die Membranen vom Strom gleichsam durchschlagen 
werden. Die Ansicht erhält eine Stütze durch die Angaben von Bethe 
und Toropoff®), die bei ihren physikalischen Modellversuchen die Eigen- 
schaften ihrer Membranen bei längerer Durchströmung verändert fanden 
in dem Sinne, daß ‚die ionensiebartigen Eigenschaften sich bei Kollo- 
dium und Pergament mit der Zunahme der angelegten Spannung ver- 
schlechtern, bei Gelatine dagegen verbessern“ (l. c. S. 711). 

Wenn nun durch meine Versuche wieder die biologische Deutung 
an Stelle der physikalischen tritt und sich, wie ich hoffe, behauptet, so 
steht diese Anschauung doch ganz auf dem Boden der Polarisations- 

1) H. Munk, Über die galvan. Einführung differenter Flüssigkeiten in dem 
menschl. lebenden Organismus. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1873, S. 241. Derselbe, 
Die kataphorischen Wirkungen des elektr. Stromes, ebd. S. 505. 

2) A. Belouss, Untersuchungen über den Einfluß von Elektrolyten auf die 
elektr. Leitfähigkeit und die Polarisation der tier. Haut. Arch. f. d. ges. Physiol. 162, 
507. 1915. 

®2) M. Gildemeister, Elektrotechn. Ztschr. Heft 38. 1919. 

4) Gildemeister u. Kaufhold, Über das elektr. Leitungsvermögen der 
überlebenden menschl. Haut. Arch. f. d. ges. Psychol. 149, 154. 1920. 

i °) Kaufhold, Über das elektr. Leitungsvermögen der menschl. Haut. Arch. 
f. Physiol. 1919, S. 182. 

6) Bethe und Torb poff, Über elektrolytische Vorgänge an Diaphragmen. 

Zeitschr. f. physikal. Chemie 88, 686. 


252 U. Ebbecke: 


theorie und mehr noch der Membrantheorie. Schädigung und Heilung 
erscheinen gerade bei der Zellreizung nur als die höheren Grade von Er- 
regung und Beruhigung. Es kann zunächst dahingestellt bleiben, ob die 
eintretende Änderung der Membranpermeabilität als die primäre, die 
Erregung nach sich ziehende Wirkung oder nur als eine Folge und ein 
Symptom der Erregung zu bewerten ist. 

Als Gründe für meine Anschauung führe ich an: 

I. Der Erfolg mechanischer und elektrischer Einwirkungen auf den 
Hautwiderstand stimmt in allen Einzelheiten überein; er ist also auch 
einheitlich zu erklären. | 

II. Die Wiederkehr derselben Wirkungen faradischer und galvani- 
scher Ströme bei der lokalen vasomotorischen und der lokalen galvani- 
schen Reaktion erfordert eine gemeinsame Deutung. 

III. Der Befund an der Leiche ist kein Gegengrund, da das lange 
Überleben der Epidermiszellen auch durch andere Erfahrungen sicher- 
gestellt ist und da auch die losgelöste Epidermis unzweifelhafte Reiz- 
symptome (Aktionsströme) zeigt. 

Diese drei Thesen sind im folgenden zu erörtern: 


I. @Gleichartigkeit und Summation mechanischer und elektrischer Reize. 


Wie Gaertner zeigte, kann der Widerstand der menschlichen Haut 
durch den galvanischen Strom bis auf !/,, des Anfangswertes herab- 
gesetzt werden; der Grad der Widerstandsverminderung hängt von In- 
tensität und Dauer des Stromes ab, ihr Sitz ist die Epidermis. Setzt 
man statt galvanischen Strom mechanisches Reiben, so bleiben die 
Sätze sonst unverändert. Daß Gaertner dieselben Widerstandsänder- 
ungen auch an der vom Körper losgetrennten Epidermis findet, ist eine 
erwünschte Ergänzung unserer bisher nur indirekten Beweisführung. 
Meinerseits kann ich hinzufügen, daß auch die innerhalb weniger Minuten 
sich vollziehende Rückbildung bei schwacher Reizung und die stunden-, 
ja tagelang anhaltende Nachwirkung bei starker Reizung für beide Reiz- 
arten gemeinsam ist. Die nahe Verwandtschaft galvanischer und me- 
chanischer Reizung zeigt folgender Versuch. 

Hat man durch Messungen des Widerstandes bei verschiedenen 
Spannungen für ein Individuum beispielsweise festgestellt, daß bei einer 
Spannung von 2 Volt der Widerstand auch bei langer Durchströmung 
unverändert bleibt, bei einer niedrigeren langsam infolge Polarisation 
zunimmt, bei einer höheren abnimmt, und prüft nun in derselben Weise 
an mechanisch gereizten Hautstellen, so findet man außer dem von 
vornherein herabgesetzten Widerstand, daß nun schon bei 2 Volt oder 
weniger der Widerstand immer weiter abnimmt und die Widerstands- 
abnahme bei 3 Volt und mehr viel rascher und stärker geschieht als 
vorher. Es könnte sein, daß dies nur eine Folge der durch das Haut- 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 253 


reiben vermehrten Stromstärke wäre, daß also die Wirkung des galva- 
nischen Stromes der Stromstärke genau parallel ginge oder erst von 
einer bestimmten Stromstärke einsetzte. Dies ist aber nicht der Fall. 
Zur Kontrolle vergleiche man die Stromwirkung an einer mehr trockenen 
und einer gut befeuchteten Haut. Trotzdem nach Befeuchtung der 
Widerstand von vornherein ungefähr ebensoviel niedriger ist wie nach 
mäßigen Reiben, bleibt hier die Spannung, bei der der Umschlag von 
Widerstandszunahme während der Durchströmung zu Widerstandsab- 
nahme erfolgt, nahezu unverändert. Umgekehrt tritt die Widerstands- 
abnahme an trockener Haut bei höherer Spannung (4—6 Volt) schon 
bei einer Stromstärke (z. B. 6: 10% A) ein, die geringer ist, als die noch 
nicht reizende Stromstärke an befeuchteter Haut bei 2 Volt Spannung 
(z. B. 20 - 10° A). Sogar wenn nach einer mechanischen Reizung der 
Widerstand allmählich wieder den Anfangswert erreicht hat, bleibt 
noch einige Zeit eine Nachwirkung darin kenntlich, daß nun durch 
galvanischen Strom der Widerstand leichter und rascher herabgesetzt 
werden kann. 

Wie aus diesem Versuch hervorgeht, abgesehen von dem weiter 
aufzuklärenden Einfluß von Stromstärke und Spannung, erfährt ein 
galvanischer Strom durch die Wirkung und Nachwirkung mechanischer 
Reizung eine Unterstützung, die sich einer physikalischen Deutung ent- 
zieht, physiologisch aber als Summation und Erregbarkeitssteigerung 
verständlich ist. Mechanische und galvanische Wirkung sind so gleich- 
artig, das sie sich leicht addieren. Bei der mechanischen Wirkung kann 
es sich um eine ‚„‚kataphoretische‘‘ Wirkung nicht handeln. Was beiden 
gemeinsam ist, ist der durch Reiz entstehende Erregungsvorgang. 


II. Zeitlicher Verlauf der Zellerregung. 


Wie schon erwähnt, übertrifft auch bei der direkten vasomotorischen 
Reizwirkung der galvanische Strom weitaus den faradischen. Hier ist 
vom Standpunkt der Reiztheorie auf die Reihe: markhaltige Nerven- 
faser, marklose Nervenfaser, quergestreifter (Frosch-, Kröten-)Muskel, 
glatter Muskel, Nervenzentren zu verweisen, um daran zu erinnern, daß 
je nach der Natur der erregbaren Gebilde ‚Momentanreize‘“ oder ‚‚Zeit- 
reize‘‘ besser wirken. Ähnlich wie etwa ein degenerierender Muskel 
nach Nervendurchtrennung für den galvanischen Reiz, aber nicht für 
den faradischen erregbar ist, verhalten sich die Hautzellen, die in ihrer 
Undifferenziertheit und in der Trägheit ihrer langdauernden Reaktion 
an der untersten Stufe der Reihe stehen. Je träger die Reaktion, um so 
länger die Nutzzeit. So kann es nicht mehr überraschen, wenn es bei der 
Reizung der Hautzellen nicht auf die Steilheit des Stromanstieges, son- 
dern wesentlich auf die Dauer des Stromes ankommt. Ein Gleichgewicht 
zwischen der Reizwirkung des Stromes und der entgegengesetzt gerich- 


254 U. Ebbecke: 


teten Kompensation oder „Akkommodation“ (Nernst), die wohl nicht 
nur physikalisch als Ausgleich von Polarisation und Diffusion zu fassen 
ist, stellt sich hier erst innerhalb vieler (15—20) Minuten einigermaßen 
ein. Es ist dies, nach der Ausdrucksweise der früheren Autoren, das je 
nach der Stromstärke verschieden hohe ‚‚relative Minimum‘ des Haut- 
widerstands oder bei maximaler Stromstärke das endgültige, nicht weiter 
zu beeinflussende ‚absolute Minimum‘. In Gestalt einer Kurve, den 
Widerstand als Ordinate, die Zeit als Abszisse aufgetragen, ist das Ab- 
sinken des Widerstands während einer langdauernden, Durchströmung 
anfangs steil und nähert sich immer mehr der. Parallelen. Umgekehrt 
geschieht auch die Wiederzunahme des Widerstands nach Beendigung 
des Reizes, die Rückbildung zur Norm zunächst rasch und dann immer 
langsamer. Der zwischen relativem Minimum und Anfangswert in der 
Mitte liegende Widerstandswert (Halbwert) wird in etwa !/, der Zeit er- 
reicht, die zur vollen Rückbildung erforderlich ist. 

Wir haben in diesem Verlaufstypus, möchte ich meinen, die allge- 
meine Gesetzmäßigkeit vor uns, daß die Gegenkräfte gegen die durch 
den Reiz hervorgerufene Störung des Gleichgewichts um so größer sind, 
je weiter der jeweilige Zustand vom Gleichgewicht entfernt ist. Wenn 
wir denselben Verlauf in dem Anwachsen der Empfindungsstärke mit 
der Reizstärke (Webersches Gesetz) oder in dem Absinken einer Netz- 
hautnacherregung, wie es die Verschmelzungsfrequenz zu messen erlaubt, 
wiederfinden, so bestärkt uns das in dem Glauben, daß wir es hier mit einer 
ganz allgemeinen Gesetzmäßigkeit zu tun haben, die nur in unserem Falle 
besonders leicht meßbar ist und zu der ja auch physikaliche (Pendel) und 
physikalisch-chemische (chemische Massenwirkung) Analogien vorliegen. 

Nachdem Erregungsdauer, Summationszeit und Nutzzeit der Zell- 
erregung festgestellt sind, wäre es von Interesse, auch die Latenz- 
zeit kennen zu lernen. Hier zeigt sich eine scheinbare Abweichung 
zwischen vasomotorischer und galvanischer Reaktion, die aber nur 
darauf beruht, daß die galvanische Reaktion die genauere Messung 
gestattet. Deutliche Widerstandsänderungen entstehen nach schwacher 
und kurzdauernder Durchströmung schon dann, wenn Farbänderungen 
noch nicht bemerkbar sind, und halten nach stärkerer Reizung länger an 
als die Farbänderung, was zu der Hoffnung berechtigt, daß es der galva- 
nischen Beobachtungsmethode gelingt, Zelländerungen nachzuweisen, 
die sonst der Beobachtung entgehen. Während für die Reizröte charak- 
teristisch ist, daß sie oft eine Latenz von 5 oder 10 Sekunden hat und 
danach langsam ihren Höhepunkt erreicht, findet man solche Latenz 
und langsamen Anstieg mit der galvanischen Methode niemals. Bei der 
vasomotorischen Reaktion gibt also die Länge der Latenz, die ja bei sehr 
warmer Haut fehlen kann, nicht den Verlauf der Zellerregung unmittel- 
bar an, sondern nur die Zeit, welche die gebildeten Stoffwechselprodukte 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 255 


brauchen, um in genügender Konzentration zu den Capillaren zu diffun- 

' dieren und sie zur Erschlaffung zu bringen. Die beiden zwischen Er- 
regung und sichtbarem Erfolg eingeschalteten Glieder, Diffusionszeit 
und Latenzzeit der Capillarendothelien, fallen bei der galvanischen Mes- 
sung weg. Freilich ist auch die letztere Methode noch nicht so fein aus- 
gebildet, daß nicht die ersten beiden Sekunden nach dem Reiz der Ab- 
lesung entgingen. Innerhalb dieser Zeit ist ein Anstieg wahrscheinlich. 
Immerhin ist die Raschheit des Reaktionseintritts gegenüber der Lang- 
samkeit des Reaktionsverlaufs beachtenswert. 

Recht deutlich wird das gleichartige Verhalten der vasomotorischen 
und galvanischen Reaktion in der Sonderstellung, welche Handflächen 
und Fußflächen gegenüber den anderen Hautstellen einnehmen. Wie ich 
früher zeigte, ist das ‚mechanische Nachröten“ auch an der Handfläche, 
an der es als fehlend galt, unter geeigneten Bedingungen (sehr warme 
Hand oder langdauernder Druck) vorhanden. Ähnlich ist die von 
manchen Autoren aufgestellte Behauptung, daß bei galvanischer Durch- 

 strömung an Hand- und Fußflächen der Widerstand zu-, an anderen 
Hautstellen abnehme, nicht ganz genau, wie schon Jolly bekannt war. 
So deutlich zunächst der Gegensatz ist, so kommt doch sowohl bei den 
gewöhnlichen Hautstellen meist eine absinkende ‚„Ruhekurve“ zum 
Vorschein bei Anwendung von Strömen unterhalb 2—1 Volt Spannung, 
als wird auch eine galvanische Reizung der Handinnenfläche mit Wider- 
standsherabsetzung und Hautrötung deutlich, wenn man Ströme von 
größerer Spannung, etwa 20—30 Volt, verwendet. Es besteht demnach 
bei jeder galvanischen Durchströmung ein von der unmittelbar ein- 
setzenden Polarisation zu scheidender Einfluß, der mit einem der metal- 
lischen Polarisation ähnlichen Zeitverlauf den scheinbaren Widerstand 
steigert, und ein entgegengesetzter Einfluß der Reizwirkung; vom Ver- 
hältnis beider Faktoren hängt es ab, welcher Erfolg eintritt. Die vaso- 
motorische und galvanische Reizreaktion ist also an der palmaren und 
plantaren Epidermis qualitativ gleich der an den übrigen Hautstellen, nur 
von geringerer Empfindlichkeit, was sich aus der Dicke der Hornschicht 
und der Abstumpfung durch häufige starke Reize verstehen läßt. Die ver- 
schiedene Empfindlichkeit einer weichen, geschonten und einer harten 
schwieligen Hand in ihrer galvanischen Reaktion ist leicht festzustellen. 

Allgemein scheint die individuell so verschiedene Hautempfindlich- 
keit in der vasomotorischen und galvanischen Reaktion parallelen Aus- 
druck zu finden. 

So bestätigen und ergänzen die Erscheinungen der lokalen galva- 
nischen Reaktion die aus der lokalen vasomotorischen Reaktion her- 
geleiteten Schlüsse, Beide Reaktionen zusammen geben ein Bild vom 
Verlauf der Zellerregung und sind Ausdruck eines und desselben, nur 

“nach zwei Indikatoren beurteilten Geschehens. 


256 U. Ebbecke: 


III. Überleben der H autzellen. 


Die Gärtnerschen Feststellungen der Widerstandsänderungen an 
der Leiche hatten seinerzeit die ursprüngliche Reiztheorie beseitigt, da 
der Gedanke eines sich darin äußernden Zellenlebens und Überlebens 
gar nicht aufgetaucht war. Inzwischen sind aber von mehreren Seiten 
her Belege für ein langes Überleben der Haut erbracht. Zwar ist die 
Beobachtung, daß am frischrasierten Kinn einer männlichen Leiche 
die Haare noch nachzuwachsen scheinen, als Schrumpfung der Haut 
mit passivem Vortreten der Haarbälge deutbar, doch lassen die Er- 
fahrungen der Chirurgen über Hauttransplantation keinen Zweifel übrig. 
Hier ist namentlich der von Wentscher!) erhobene Befund anzu- 
führen, daß transplantierte Hautstücke selbst dann noch durch das 
Auftreten von Kernteilungsfiguren ihre Lebensfähigkeit zeigen, wenn 
sie, unter bestimmten Kautelen, nach der Loslösung 7 oder 14 Tage, 
in einem Falle sogar 3 Wochen, aufbewahrt waren. Sehr deutlich sind 
die Befunde Wallers?), der an losgelösten Hautstückchen vom 
Frosch, Kaninchen, Katze oder Mensch Hautströme nach faradischer 
Reizung, Aktionsströme, von ihm Flammströme genannt, bis zu 
10 Tagen nach der Lostrennung der Haut nachweisen konnte. So 
steht nichts im Wege, auch an der Leiche die Widerstands- 
änderungen nach mechanischer und elektrischer Reizung als Lebens- 
erscheinungen der überlebenden Haut aufzufassen. Die Ansicht wird 
bestärkt durch die Reversibilität dieser Widerstandsänderung, wie ich 
durch zwei Zahlenbeispiele zeigen möchte (s. S. 257 u. 258). 

Die Tabellen zeigen in der Abnahme des Widerstandes (Zunahme 
der Stromstärke) die galvanische und mechanische Reizwirkung, in der 
Wiederzunahme des Widerstandes die allerdings unvollständige Er- 
holung oder Beruhigung und, beim Vergleich von Nr. IV und III, Nr. X 
und VI, die nach unvollkommener Restitution zurückbleibende Erreg- 
barkeitssteigerung. Die weitere Fortführung solcher Versuche mit genauer 
Ausbildung der Meßmethode und Berücksichtigung der erheblichen indi- 
viduellen Verschiedenheiten wäre pathologisch nicht ohne Interesse zur 
Kenntnis der Nekrobiose. Freilich ist gerade an der Leiche reversible 
Reizwirkung und irreversible Schädigung besonders nah verknüpft. Ist 
doch die Permeabilitätszunahme absterbender Zellen bekannt, ohne daß 
hieraus, etwa wie bei der Totenstarre des absterbenden Muskels, auf eine 
letzte supravitale Erregung geschlossen zu werden pflegt; gekochte und 
in Verwesung begriffene Haut hat einen Widerstand von der Größenord- 
nung des Wechselstromwiderstandes. Auch für gerichtsärztliche Be- 
urteilung könnten solche Messungen unter Umständen von Vorteil sein. 

!) Wentscher, Zieglers Beiträge z. path. Anat. u. allg. Pathol. 24, 101, 1898. 
?2) A. D. Waller, On skin currents Proceed. Roy. Soc. 1901 u. 1902 68, 
480, 69, 511, 70, 374. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 257 


Versuch vom 12. IV. 21. Pathol. Inst. Beginn 12 Uhr mittags. Männliche 
magere Leiche. Exitus vor 17 Stunden, 11. IV. 7 Uhr abends, an Tuberkulose, 
Zimmertemperatur 15° €. 


A. Galvanische Reizung. 
Dauernde Durchströmung mit 6 Volt Spannung. Gelatineelektroden auf linkem 
Unterarm. Ablesungen in Grad (1° = 10° A) alle 10 Sekunden. 


IK II. II. IV. V. 
14 22 27 28 a7 
13 26,5 32 31 36 
21 28,5 35 42 41,5 
2245 30 36,8 45 45 
24 31,5 38 47 47 
25,2 33 39,5 5 Min. Pause 49 
26,8 34,1 40,7 51 
28 So 42 53 
28,9 36 3 54,7 
29,6 37 43,8 56,5 
30,5 SU.) 44,3 58,2 
Sl.) 38,8 46 Hg 
32,8 39,7 47 61,2 
1 Min. Pause 1Min. Pause 48,2 63 
49,1 64,6 
50 66 
50,5 67.1 
Sl, 68,1 
52 69 
53 70,1 
53,8 1 Min. Pause 
54,2 
55 
56 
5 Min. Pause 
VI. VI. VII. IX. X. XT. 
48 49 52 54,5 42 56 
58 58 61 64,5 55 65 
61,5 63 65,5 68 62 70 
64,5 65,5 68,2 (at 66 73,2 
66.2 7,8 70,2 189 69,2 76,5 
68 69,8 102 19. 02, 78,5 
70 7015 74,2 US 74,5 81 


1 Min. Pause 1Min. Pause 1 Min. Pause 5 Min. Pause 1Min. Pause 


B. Mechanische Reizung. 


Gelatineelektroden auf rechtem Unterarm. Meßstrom von 4 oder 6 Volt Span- 
nung wird jeweils nur so lange geschlossen als zur Ablesung erforderlich. 
4 V: 6° 
6 V: 14° 
Reiben der Kathodenstelle mit dickem Papier. 
4. V: 30° 
= 6 V: 65° (schon während der Ablesung steigend). 
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190: 17 ‚ 


258 U. Ebbecke: 


Reiben der Anodenstelle, 
WIR 
4 V: 80° (sehr rasch steigend) 
nach ?, Minuten 67°, 


Al 99 58°, 
De > 49°, 
ER) 6 99 43°. 


Auf Grund der aufgestellten und erörterten drei Thesen kommen 
wir zu dem Schluß: Die als Wirkung galvanischer und faradischer Ströme 
eintretenden Widerstandsänderungen der Haut sind gleichartig den 
Änderungen bei mechanischer Reizung, gleichartig den Erscheinungen 
bei der lokalen vasomotorischen Reaktion und gleichartig an lebender und 
überlebender Haut und sind als Reizerscheinungen der lebenden Epithel- 
zellen zu deuten. 

Hier ergeben sich zwei Konsequenzen, die nur kurz angedeutet seien, 
für die Deutung der Verschiedenheit von Anoden- und Kathodenwirkung 
und für die Deutung der für die einzelnen Individuen verschiedenen 
Widerstandsverhältnisse. 

Während die Wirkung der Voltaschen Alternative auf die strom- 
verstärkende Wirkung der Polarisationsströme zurückführbar ist, er- 
scheint die stärkere Reizwirkung der Kathode auf die Haut, die sich 
schon in der Empfindung von Jucken und Brennen äußert, nun als ein 
Sonderfall der von Muskel- und Nervenreizung bekannten Gesetzmäßig- 
keit. Hier sind die von A. Belousst!) aufS. 514seiner Arbeit abgebildeten 
Kurven ohne weiteres als Paradigmata zu verwerten. Wenn Belouss 
die Amplituden der Stromschwankungen größer findet bei Verwendung 
von CaCl, als Elektrodenflüssigkeit, so erklärt sich das nun, wie auch 
schon Höber?) annimmt, als eine membranverdichtende Wirkung der 
Caleiumionen, die iontophoretisch bei einsteigendem Strome in die Haut 
eingeführt werden. Vielleicht geben die Hautzellen ein neues geeignetes 
Objekt für die Untersuchung der elektrischen Reizwirkung und der mit 
ihnen verbundenen chemischen Wirkungen [Bethe]?). Auch die Be- 
f{unde von Galeotti®), Bayliss5) und A. Schwartz®) stehen hiermit 
im Zusammenhang. 


!) A. Belouss, Untersuchungen über den Einfluß von Elektrolyten auf die 
elektrische Leitfähigkeit und die Polarisation der tierischen Haut. Arch. f. d. ges. 
Physiol. 162, 507, 1915. 

?) Höber, Zur physikalischen Chemie der Erregung und dı Narkose. 
Zeitschr. f. Elektrochemie Bd. 22, 296, 1916. 

3) A. Bethe, Nervenpolarisationsbilder und Erregungstheorie, Arch. f. d. 
g>s. Physiol. 183. 289, 1920. 

*) Galeotti, Zeitschr. f. physik. Chemie, 49, 542, 1904. 

5) Bayliss, Biochem. Zeitschr. 11, 226, 1908. 

6) A. Schwartz, Über die Abhängigkeit der elektrischen Eigenschaften der 
Froschhaut von der Beschaffenheit der daran angrenzenden Medien und vom 
Nervensystem. Arch. f. d. ges. Physiol. 162, 547, 1915. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 259 


Was die alten klinischen Erfahrungen über die individuellen Ver- 
schiedenheiten des elektrischen Widerstandes anbetrifft!), so erscheinen 
sie nun durch die physiologische Deutung, als Symptome einer verschieden 
lebhaften Zelltätigkeit beurteilt, in neuem Lichte. Die charakteristischen 
Erscheinungen des herabgesetzten Widerstandes bei Basedow scher 
Krankheit und der Widerstandserhöhung bei Myxödem lassen sich 
als Symptome des dort abnorm lebhaften, hier abnorm trägen Stoff- 
wechsels verstehen, besonders wenn wir die bei Basedow bestehende 
Neigung zum ‚„Dermographismus‘ heranziehen und den Befund, daß 
außer dem abnorm niedrigen ‚„Anfangswiderstand“ und ‚‚relativem 
Minimum‘ auch die Zeit, innerhalb deren der Anfangswiderstand zum 
relativem Minimum abfällt, ungewöhnlich kurz gefunden ist?) und der 
kleine Widerstand während der ersten ‚variablen‘ Periode des Stroms für 
die verschiedenen Individuen nicht erheblich abweicht. Die Unter- 
suchung der individuellen Leitfähigkeitsunterschiede von dem hier ge- 
gebenen Standpunkt aus wäre ein Thema für weitere Arbeit. 


Beziehung der Widerstandsänderung zu den Eigenströmen 
der Haut. 


Dieselben mechanischen, thermischen, chemischen und elektrischen 
Einwirkungen, die zu lokalen Widerstandsherabsetzungen der Haut 
führen, rufen auch Eigenströme der Haut hervor. Auf solche Haut- 
ströme stieß ich bei meinen Beobachtungen, wenn ich ohne exosoma- 
tische Stromquelle den empfindlicheren Galvanometer (1° — 10°" A) ver- 
wendete; doch habe ich diese Befunde nicht weiter verfolgt, da sich 
bereits in der Literatur zahlreiche Angaben über Hautströme tierischer 
und menschlicher, im Zusammenhang mit dem Körper belassener oder 
losgelöster Haut finden, die sich in unserem Sinne verwerten lassen. 
Die ersten eingehenden Untersuchungen stammen von Dubois- 
Reymond, der freilich, durch seine physikalische Theorie an der Deu- 
tung verhindert, zu dem Schlusse kommt, daß er sich jeder weiteren 
Erörterung über diese dunklen Erscheinungen enthalte, indem er sich 
wiederholt bescheide, sich in dem Labyrinth der menschlichen Haut- 
ströme zurechtzufinden ?). Besonders wichtig sind für uns die ‚„Un- 
gleichzeitigkeitsströme‘, die er an der Froschhaut beschreibt, wobei der 
zuletzt angelegte Ableitungsbausch sich positiv verhält gegenüber dem 
zuerst angelegten und der Strom sich innerhalb weniger Minuten ver- 
liert. Den Befund würden wir jetzt als ‚Demarkationsstrom‘ erklären, 
der durch die von Dubois-Reymond benutzte Ableitungsflüssigkeit 


!) Vgl. Schnyder, Leitungswiderstand des menschlichen Körpers, Zeitschr. 
f. Elektrother. 1899 und Zanietowski in Boruttau-Mann, Handb. II, I, 10—15. 
; 2) S. L. Mann in Boruttau, Handb. II, 1, 403-406. 
3) E. Dubois-Reymond. Unters. über tier. Elektr. II, 2, 274. 


17* 


260 U. Ebbecke: 


(gesättigte Kochsalzlösung) verursacht ist und aufhören muß, wenn 
auch die später berührte Hautstelle gleich stark geschädigt ist. Die für 
Dubois-Reymond unerwartete Gleichartigkeit der Wirkung von 
Kochsalzlösung, allerlei anderen Salzlösungen, Säuren und Alkalien, die 
auf die Haut gepinselt wurden, wird biologisch verständlich. Hier regi- 
strieren wir seine Bemerkungen, daß die Hautströme an gekochter und 
faulender Haut fehlen, an Fröschen in schlechtem Ernährungszustand 
schwächer sind und an Fröschen, deren Hautoberfläche durch Benetzung 
mit Kochsalzlösung unwirksam gemacht war, wiederholt hervorgerufen 
werden können, wenn die Tiere sich inzwischen einige Zeit im- Wasser 
aufgehalten hatten. Aus der letzten Bemerkung geht die Reversibilität 
einer nicht zu heftigen Salzwirkung hervor. Weiter ist zu erinnern an 
die Untersuchungen über Haut- und Schleimhautströme von Engel- 
mannt), Hermann?), Hermann und Luchsinger°®), Bach und 
Oehler*) und Biedermann’). Ohne daß wir hier referieren können, 
sei, unter Verweisung auf die Zusammenstellung und Diskussion, die 
Biedermann) gegeben hat, nur entnommen, daß die elektromotori- 
schen Erscheinungen sich durch direkte mechanische und elektrische 
Einwirkung deutlich beeinflußt zeigen. Die Streitfrage, ob die Erschei- 
nungen auf die Sekretionsströme der Haut- und Schleimhautdrüsen 
zurückzuführen sind, oder ob daneben auch der Zustand der nicht 
drüsigen Epithelzellen, auf die es uns ankommt, maßgebend ist, wird 
entschieden durch die Untersuchungen von Reid und von Waller an 
drüsenfreien Hautstücken. Reid’) benutzt als Objekt die Haut und die 
den Kropf auskleidende Innenhaut von Tauben, Waller®) die Haut 
von Frosch, Katze und Mensch, wobei er auch Stücke mit abgeschabtem 
Unterhautgewebe, die mikroskopisch drüsenfrei waren, untersucht. 
Beide finden unabhängig von einander als Erfolg einer Reizung durch 
Induktionsschläge deutliche Aktionsströme, von Waller Flammströme 
(‚„‚blaze-currents‘‘) genannt, und lokalisieren sie in den lebenden, nicht 
verhornten Epithelzellen. Reid erwähnt die beträchtliche Dauer der 
elektromotorischen Veränderung als ‚Nachwirkung‘ der Reizung, 
Waller, der sie nicht erwähnt, bildet die graphisch registrierten Kurven 
seiner mit dem Saitengalvanometer abgeleiteten Flammströme ab, aus 
!) Engelmann, Arch. f. d. ges. Physiol. 6, 46. 
?2) Hermann, Ibid. 1%, 27 u. 58. 
3) Hermann und Lachsinger, Ibid. 18, 460. 
Bach u. Oehler, Ibid. 22, 33. 
) Biedermann, Ibid. 54, 209 und Sitzungsber. d. Wien. Akad. 86 
und 94, III. Abt. 

6) Biedermann, Elektrophysiologie, Jena 1895, 1, 392—438. 

?) Reid, Elektromotive phenomena in non-secretory epithelia, Journ. of 
physiol. 16, 360. 

2) Waller, On skin currents Ill. Proc. Roy. Soc. London, 70, 374. 


4 


5 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 261 


denen hervorgeht, daß selbst nach einem einzigen Induktionsschlag der 
Ausschlag unter Umständen erst nach über 10 Minuten zur Basislinie 
zurückkehrt (l. c. Abb.2 8.377). Nehmen wir hinzu, daß nach Waller die 
Erscheinung streng lokal beschränkt, mit Polarisationsströmen nicht zu 
verwechseln ist und an gekochter und faulender Haut fehlt, so lassen die 
Daten zur Genüge erkennen, daß wir es bei diesen Hautströmen, deren 
Deutung als Reizsymptom nicht zweifelhaft ist, mit einem Gegenstück 
der durch lokale Reizung entstehenden Widerstandsänderungen zu tun 
haben. Diese Aktionsströme der Epithelien stehen zu der lokalen galvani- 
schen Reaktion im selben Verhältnis wie die Sekretionsströme der Schweiß- 
crüsen zur psychogalvanischen Reaktion. Die bei den mechanischen und 
chemischen Einwirkungen entstehenden Hautströme wären nach der üb- 
lichen Nomenklatur als Demarkationsströme zu bezeichnen, aber da sie 
bei nicht zu heftiger Einwirkung ebenfalls, wenn auch nach langer Zeit, 
reversibel sind, ist eine scharfe Trennung zwischen Ruheströmen und 
Aktionsströmen oder, nach neuerer Bezeichnung, Bestandströmen und 
Antwortströmen ebenso wenig möglich, als bei der lokalen galvanischen 

' Reaktion zwischen Reizung, Schädigung und Absterben immer scharf 
zu trennen war. Wie schon Biedermann!) hervorhebt, ist sogar bei 

den Muskelströmen die Scheidung schwierig, erst recht aber handelt es 
sich bei den Epithelströmen, ähnlich wie bei den pflanzlichen elektrischen 
Erscheinungen, um ein für „Ruhe“ und ‚Tätigkeit‘ im Grunde gleich- 
artiges, mehr quantitativ verändertes chemisches Geschehen, das von 
elektrischen Erscheinungen begleitet ist. 

Ist die Beziehung zwischen Hautströmen und Widerstandsänderungen 
unzweifelhaft, so kann es sich doch nicht um eine unmittelbare Be- 
ziehung handeln, wie schon auf S. 244 auseinandergesetzt ist. Es ist aber 
nun möglich, das Bindeglied zu nennen, das zwischen beiden Erschei- 
nungsreihen vermittelt. Erinnern wir an die Versuche Höbers?) über 
den Einfluß der verschiedenen Salze und Ionen auf Aktions- und Demar- 
kationsströme des ausgeschnittenen Muskels, so leuchtet das Gemein- 
same dieser Befunde hervor: Es handelt sich um rascher oder langsamer, 
mehr oder weniger vollständig reversible Permeabilitätsänderungen von 
'Zellmembranen. 

Es genügt, auf die Darlegungen Höbers?) über die Permeabilität der 
Zellen und die Theorien der Permeabilität (l. c. Kap. VIII) hinzuweisen, 
besonders auf die Abschnitte ‚‚Permeabilität und Funktionszustand‘“ 
und ‚Mechanismus der Permeabilitätsänderungen“ (l. ec. S. 433—445), 

!) Biedermann, Elektrophysiologie, I, 392. 

?) R. Höber, Arch. f. d. ges. Physiol. 106, 599, und Zeitschr. f. allg. 
Physiol. 10, 173. 

32) R. Höber, Physikalische Chemie der Zelle und der Gewebe 1914, und: Zur 


physikalischen Chemi£@ der Erregung und der Narkose. Zeitschr. f. Elektro- 
chemie %2, 296. 1916. 


262 U. Ebbecke: 


[=] 


sowie auf seine Erörterungen von Membrantheorie, Ruhestrom und Ak- 
tionsstrom (l. c. Kap. XII), um zu zeigen, welchen Wert die Bernstein- 
sche Membrantheorie!) für das Verständnis auch unserer Befunde hat, 
die dadurch den größeren Zusammenhang gewinnen. 


Physiologisches Übersichtsbild. 


Versuchen wir das theoretische Gesamtbild zu entwerfen, das sich 
unter Verwertung der Membrantheorie ergibt, so erscheinen allgemein 
Aktionsstrom und Zunahme der Membranpermeabilität und elektrischen 
Leitfähigkeit als innerlich verknüpfte Äußerungen einer Erregung. Die 
Impermeabilität der Plasmahaut, die im Ruhezustand den Verlust lös- 
licher Zellsubstanzen in die Umgebung verhindert und die zelleigene 
Elektrolytzusammensetzung des Zellinnern ermöglicht, freilich auch das 
Eindringen von Nährstoffen wie Zucker und Aminosäuren ausschließt, 
wird bei Bedarf, unter den beschleunigten und vermehrten Umsetzungen 
des Reizzustands, zeitweilig zur Abgabe von Verbrauchs- und Aufnahme 
von Ersatzstoffen verändert. Da die Plasmahaut nicht ein festes, mikro- 
skopisch abzugrenzendes Gebilde ist, sondern ein veränderlicher Bestand- 
teil der lebenden Zelle, vielleicht nur durch Oberflächenwirkung, durch 
größere Konzentration der die Oberflächenspannung herabsetzenden 
Stoffe an der Berührungsfläche von Außen- und Innenflüssigkeit ent- 
standen, so bietet die Annahme ihrer Veränderlichkeit keine Schwierig- 
keit; im Gegenteil werden sich Veränderungen in der Zelle und Um- 
gebung in der Beschaffenheit der Membran ausdrücken müssen, wie 
auch umgekehrt Veränderungen der Membran eine Rückwirkung auf das 
Zellinnere ausüben. Wird durch Membranverdichtung wie in der Nar- 
kose die Permeabilitätszunahme verhindert, so kann auch die Erregung 
sich nicht entfalten. Da es in der Eigenart der ruhenden Membran liegt, 
als „‚Ionensieb‘ zu wirken, sei es infolge ihrer Struktur, sei es auf Grund 
verschiedener Löslichkeiten und Wanderungsgeschwindigkeiten, so ist 
sie der Sitz einer elektrischen Doppelschicht und eines Potentialsprungs; 
sobald aber das Ionensieb im Reizzustand grobporiger ‘oder durch 
Schädigung und Verletzung zerstört wird, können an dieser Stelle die 
entgegengesetzten Ladungen sich ausgleichen und wird von den Ober- 
flächen anderer ruhender Membranen ein Strom zu dieser Stelle fließen. 
Auch solche Oberflächenänderungen, wie wir sie an Amöben in der 
Herabsetzung der Oberflächenspannung und dem Ausfließen von 
Pseudopodien erkennen können, mögen, zumal sie mit Nahrungsaufnahme 
zusammenhängen, mit partiellen lokalen Permeabilitätsänderungen der 
Oberflächenschicht einhergehen. 

Wenn ursprünglich Bernstein zur Erklärung der Aktionsströme 
reversible Permeabilitätsänderungen postulierte, so gehen wir jetzt den 


!) 1. Bernstein, Elektrobiologie, Braunschweig 1912. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 263 


umgekehrten Weg, indem wir nachgewiesene reversible Permeabilitäts- 
änderungen als Symptom und Indikator einer Erregung, allgemeiner 
ausgedrückt, eines Reizzustandes ansehen, das anderen Symptomen, 
wie Aktionsstrom, Sauerstoffverbrauch, Kohlensäureproduktion, Milch- 
säurebildung, Wärmeentwicklung, Capillarerweiterung, Bewegung, Emp- 
findung, Sekretion an die Seite zu stellen ist und das auch dort etwas 
über den Funktionszustand des reizbaren Gebildes auszusagen gestattet, 
wo andere Beobachtungsmöglichkeiten nicht oder schwerer zugänglich 
sind. Um aus einem Symptom einen Schluß ziehen zu können, müssen 
wir den Wert der einzelnen Symptome gegeneinander abschätzen, wobei 
sich zeigt, daß etwa erhöhter Sauerstoffverbrauch und vermehrte Wärme- 
bildung eines gereizten Muskels die Zuckung einige Zeit überdauern, 
also längere Zeiten für den Ablauf der Erregung angeben, oder daß an 
Reflexzentren nach einem ersten scheinbar wirkungslos vorübergegan- 
genen Reiz ein zweiter gleicher Reiz Erfolg hat und so durch eine Nach- 
wirkung die erste, sonst nicht sichtbare Erregung angezeigt wird (,‚‚unter- 
schwellige‘“ Erregung mit Summation). Soviel sich bis jetzt beurteilen 
‚läßt, scheint die Permeabilitätsänderung ein recht empfindlicher Indi- 
kator auch noch für kleine Spuren und Rückstände einer Reizung zu 
sein. 

Erscheinen nunmehr Hautstnond und Widerstandsänderungen beide 
als Reizsymptome, ähnlich wie die Befunde Hermanns über die 
Widerstandsänderungen an Muskeln und Nerven und über Elektrotonus 
und Polarisierbarkeit in solchen Zusammenhang zu bringen sind, so ist 
damit der Begriff der Zellerregung, den ich zunächst aus dem vasomoto- 
rischen Symptom der Capillarerweiterung gefolgert hatte, fester fundiert. 
Freilich stehen wir da vor Lebewesen des Organismus, die für die ge- 
wöhnliche Betrachtung stumm bleiben, während sie für die elektrische 
Methode etwas von ihrem Eigenleben verraten, und stehen vor einer 
Erregungsform, die von dem gewohnten Erregungsablauf bei Muskeln 
und Nerven deutlich abweicht. So unscharf ist die Grenze zwischen 
Erregung und Ruhe einerseits, zwischen Erregung und Entzündung an- 
dererseits, daß man, von der üblichen Betrachtungsweise ausgehend, 
eher von verschiedenen Stoffwechsel- und Funktionsgraden oder von 
Tonusschwankungen sprechen würde. Noch mehr als die glatten Muskeln 
und die Drüsenepithelien sind diese Epithelzellen autonom, von Nerven 
unabhängig und undifferenziert. Trotzdem zeigt, wie schon eingangs 
erwähnt, ihr Erregungsverlauf Analogieen zu dem Verlauf psychophysi- 
scher Erregungen. Gerade durch ihre Undifferenziertheit ist diese Form 
von Zellerregung die Basis für die sich spezialistisch höher differenzieren- 
den erregbaren Gebilde, Muskeln und Nerven, deren fast ausschließ- 
liche Betrachtung in der Reizphysiologie für manche Zwecke nützlich, 
für andere aber einseitig ist. Es gilt, die Reizgesetze quantitativ an 


264 U. Ebbecke: 


diesem neuen Objekt festzustellen und mit den von anderen Objekten 
bekannten Gesetzmäßigkeiten zu vergleichen. Und vielleicht ist es an 
diesem ungewöhnlich langsamen Erregungsablauf eher möglich, Einzel- 
heiten festzuhalten, die sich bei dem raschen Verlauf der Muskel- und 
Nervenerregung der Beobachtung entziehen. So läßt sich vielleicht er- 
kennen, wann eine schon bestehende Permeabilitätszunahme eine 
folgende Reizung begünstigt und eine größere Labilität schafft (ge- 
steigerte Erregbarkeit und Summation) und wann sie umgekehrt mit 
Ermüdung und refraktärem Verhalten einhergeht, je nachdem der Grad 
der Membrandurchlässigkeit noch dem Ruhezustand näher steht oder die 
maximale Durchlässigkeit schon nahezu oder ganz erreicht hat. Oder 
es gelingt, etwas zu erfahren über die Natur der Gegenkräfte, durch 
deren Wirkung der Erfolg der galvanischen Reizung sich mit der Dauer 
des Stromes nicht beliebig weiter verstärkt, sondern bei einem gewissen 
Gleichgewichtszustand, der an das ‚‚allonome Gleichgewicht“ E. Herings 
erinnert und dem ‚‚relativen Minimum‘ der Elektrodiagnostik entspricht, 
Halt macht (Nernstsche ‚Akkommodation‘“). 


Physikalisches Übersichtsbild. 


Betrachten wir das Ergebnis unserer Untersuchungen mehr nach 
seiner physikalischen Seite, so läßt sich vielleicht nun ein, wenn auch 
nur skizzenhaftes Übersichtsbild geben über den Verlauf der Ereignisse, 
die sich an das Durchleiten eines elektrischen Stromes durch den Körper 
anschließen. Diesen Verlauf möchte ich in fünf Stadien trennen. 

l. Stadium. Unmittelbar nach Stromschluß findet eine freie Wande- 
rung oder Verschiebung der Ionen statt. Daß der Widerstand der Mem- 
branen in die Leitung eingeschaltet ist, stört zunächst nicht, solange 
die Zeit klein ist im Verhältnis zu der zwischen zwei Membranen liegen- 
den Strecke und der gesamten Membranfläche. Wie bei jeder Leitung 
hängt der Widerstand ab von Querschnitt und Länge der durch- 
strömten Elektrolytenstrecke, also vom Durchmesser und Abstand der 
auf die Haut aufgesetzten Elektroden, und ferner von der Leitfähig- 
keit der Hornschicht. Kapazität im Sinne eines Kondensators kann 
dabei vernachlässigt werden. Dieses außerordentlich kurze Stadium 
des geringen Widerstands (einige hundert Ohm) wird gemessen 
durch Kondensatorentladung, Duboissche Fallkugel oder Wechsel- 
strom hoher Frequenz. 

2. Stadium. Bald aber kann die freie Wanderung nur noch durch 
die Zellzwischenräume stattfinden und macht sich der Widerstand der 
Membranen bemerkbar. Zur schematischen Vereinfachung sei hier ab- 
gesehen von der Natur der „Membranen“ und von der Zahl der hinter- 
einander zu passierenden Zellagen und sei die, nicht zutreffende, An- 
nahme gemacht, daß die Membranen völlig impermeabel seien. (Für 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 265 


welche Ionen etwa die Membranen durchlässig sind, für welche nicht, 
und wie verschieden sich die Membranen der einzelnen Zellarten ver- 
halten mögen, sind Fragen, die hier zunächst außer Acht bleiben). Es 
kommt zu einer Ionenanhäufung an den Membranen (Änderung der 
Ionenkonzentration, Nernst). Der Zellinhalt nimmt trotz seines Ge- 
halts an freien Elektrolyten an der Ladungsübertragung nicht mehr 
teil, die nur noch auf dem Wege der mit Flüssigkeit gefüllten interzellu- 
laren Räume geschieht. Die Ansammlung einer lonenart an einer Seite 
der Membran verhindert andere entgegengesetzt geladene lonen, am 
Elektrizitätstransport teilzunehmen, indem sie diese durch elektro- 
statische Anziehung auf der anderen Seite der Membran festhält (Aus- 
bildung der elektrischen Doppelschicht), und es entwickelt sich eine 
Diffusionstendenz, die einen Strom nach der entgegengesetzten Rich- 
tung schickt (Polarisation und elektromotorische Gegenkraft). Der so 
zustandekommende hohe (Gleichstrom-)Widerstand ist schon großen- 
teils innerhalb der ersten tausendstel Sekunden erreicht (‚‚Anfangszacke‘“ 
von Garten und Piper, Messungen mit dem Helmholtz-Pendel von 
'Gildemeister) und nimmt dann noch einige Zeit mit immer geringerer 
Geschwindigkeit zu, am längsten an Hand- und Fußinnenfläche (,,Ruhe- 
kurve‘‘). In dieses Stadium deszunehmenden Widerstandes, der 
ja ganz überwiegend in der Haut lokalisiert ist, fällt schon die Reizung 
der Nerven und quergestreiften Muskeln, die, wie bekannt, am promp- 
testen auf Momentanreize ansprechen, woraus sich die Beobachtung 
von Dubois-Bern erklärt, daß es bei der galvanischen Erregbarkeits- 
prüfung am Menschen nicht allein auf die abgelesene M. A.-Zahl, sondern 
wesentlich auf die Voltzahl ankomme, da die Reizung in die ‚variable 
Periode‘ des Stromes falle!). 

3. Stadium. Als Folge der Ionenanhäufung und als Reaktion hierauf 
kommt es zu einer biologischen Änderung der Membranbeschaffenheit. 
Das ‚Ionensieb‘“ wird gleichsam durchlöchert, mit gröberen Poren 
durchlässiger; der Zellinhalt kann am lonentransport teilnehmen und 
die polarisatorische Gegenkraft nimmt ab. Dies geschieht schon in den 
ersten hundertstel Sekunden (Gärtner fand den Unterschied des Wider- 
standes bei !/,, und !/, Sekunden geschlossenem Strom nicht beträcht- 
lich) und geht dann mit abnehmender Geschwindigkeit verschieden 
lange Zeit weiter. Es ist das Reizstadium des abnehmenden 
Widerstands. 


!) Die Gefährlichkeit der Sinusströme erklärt sich aus ihrer flacheren Kurven- 
form und aus der ungleichen Nutzzeit von Nerven und Herzmuskel; dadurch kann 
der, in die Nerven einschleichende, Strom im Körperinnern eine schädigende, 
Herzflimmern verursachende Stärke erreichen, bevor er noch, wie sonst bei fara- 
dischen Stromzacken, Qurch heftige motorische und sensible Wirkungen unerträg- 
lich geworden ist. 


266 U. Ebbecke: 


4. Stadium. Die Reizwirkungen, welche die Membran durchlässiger 
machen, und die Gegenkräfte physikalischer Art, welche die Diffusion 
befördern, und biologischer Art, welche die Membran restituieren und 
verdichten, halten sich die Wage (allonomes Gleichgewicht, Akkommo- 
dation). Dieses Gleichgewicht und Stadium des gleichbleibenden 
Widerstands erreichen die einzelnen erregbaren Gebilde in sehr ver- 
schieden langer Zeit, die motorischen Nerven vermutlich in einer Zeit, 
wo die Epithelzellen noch im zweiten Stadium begriffen sind. Weiterhin 
hängt die Zeit von der Stromstärke ab. 

5. Stadium. Nach Öffnen des Stromes treten die Gegenwirkungen in 
Kraft, die nun, je nachdem, wie stark die Reizung war und ob sie inner- 
halb der Regulationsgrenze blieb oder nicht, zu einer rascheren oder 
langsameren, völligen oder unvollkommenen Restitution führen im 
Stadium des wieder zunehmenden Widerstands. 

Es ist klar, daß dieses Bild noch manches Hypothetische enthält. 
Doch scheint es mir als erste Übersicht und als Grundlage zu weiterer 
Prüfung nicht ohne Wert. 


Klinische Anwendungen und Ausblicke. 


Für die medizinische Praxis geben die Untersuchungen, soviel ich 
sehe, eine Aussicht nach zwei Richtungen. 

Nach der üblichen Betrachtungsweise ist die Haut mechanische 
Schutzdecke des Körpers, Sinnesorgan, Sekretionsorgan und Organ zur 
Regulierung der Körpertemperatur. Wenn nun aber der Blick geschärft 
wird für das Eigenleben der Epidermiszellen, denen man die mechani- 
sche Schutzfunktion zuzuschreiben gewohnt war, so ist das dem Kliniker 
gewiß willkommen, der seit langem die merkwürdigen individuellen 
Empfindlichkeitsunterschiede der Haut beachtet, konstitutionell be- 
bedinste Unterschiede, wie sie sich im Verhalten der Haut gegenüber 
äußeren Reizen, eingenommenen Medikamenten oder allerlei Krank- 
heiten äußern. Insbesondere dem Dermatologen ist die Haut mit ihren 
„Idiosynkrasieen‘ immer mehr ein Beispiel geworden, an dem sich die 
moderne Lehre von Immunität, Anaphylaxie, Allergie bewährt. Für ihn 
verspricht die verhältnismäßig einfache und weiter auszubauende Me- 
thode, die mit elektrischen Messungen in das Leben der Hautzellen 
hineinleuchtet, einen Weg zur Funktionsprüfung der Haut. 

Durch ihre Teilnahme an Allgemeinerkrankungen, die sich durch 
Hautausschläge dokumentiert, zeigt aber die Haut auch ihre Bedeutung 
für den Gesamtorganismus; als einziger kleiner Kern der alten Ansicht 
von dem nach außen Ableiten und dem nach innen Schlagen von Krank- 
heiten scheint sich zu bewähren, daß der auf die Krankheit reagierenden 
Haut eine wichtige Rolle für die Produktion von Schutzstoffen zu- 
kommt. So wäre dem in seiner Lebendigkeit erwiesenen Epidermis- 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 267 


epithel neben seiner mechanischen eine chemische Schutzfunktion 
zuzusprechen. Ist es demnach auch dem inneren Mediziner erwünscht, 
einen Einblick in die individuelle Eigenart der Epidermisreaktionen zu 
gewinnen, so wird andererseits das Verhalten der Hautzellen ein leichter 
zu kontrollierendes Muster für das Verhalten von Körperzellen im all- 
gemeinen, an dem die Probleme der ‚Zellerregung‘‘ und die damit zu- 
sammenhängenden der Entzündung, Pathobiose und Nekrobiose, De- 
generation und Regeneration zu bearbeiten sind. Was seinerzeit für die 
lokale vasomotorische Reaktion ausgeführt wurde, gilt auch für die lo- 
kale galvanische Reaktion, daß sie als kleines Paradigma für die Be- 
urteilung von Allgemeinveränderungen durch ‚„Protoplasmagifte‘‘, Pro- 
teinkörper, anaphylaktische und Bakteriengifte, Organextrakte und 
„Pyretika“ Anhaltspunkte gibt. Es sei etwa an die Betrachtungen von 
Weichardt über ‚unspezifische Leistungssteigerung‘‘ und ‚‚Proto- 
plasmaaktivierung‘‘ und von Bier über Heilentzündung und Heilfieber 
erinnert. So bieten sich Aussichten, die wohl dazu ermutigen können, 
den hier eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. 


Zusammenfassung. 


Auf Grund der Untersuchungen über lokale vasomotorische Reak- 
tion, die zu der Annahme einer physiologischen Gewebsreizung oder 
„‚Zellerregung‘‘ geführt hatten, wird die Frage gestellt, ob sich der- 
artige Änderungen des Gewebsstoffwechsels auch auf elektrischem 
Wege nachweisen lassen, und in positivem Sinne entschieden. Die 
elektrische Leitfähigkeit der Haut für Gleichstrom wird durch mecha- 
nische und andere Reizung auf das Doppelte, Zehnfache bis Dreißig 
fache gesteigert. 

Auf Grund der Gildemeisterschen Untersuchungen über den er- 
heblichen Unterschied zwischen dem kleinen wahren Ohmschen Wider- 
stand, der durch hochfrequenten Wechselstrom gemessen wird, und dem 
großen scheinbaren Gleichstromwiderstand, der durch Hautpolarisation 
erklärt wird, wird die Frage gestellt, ob bei der durch Hautreizung be- 
wirkten Abnahme des Gleichstromwiderstands auch der Wechselstrom- 
widerstand abnimmt. Dies ist nicht der Fall. Die angewendete Methode 
ist empfindlich genug, um andeutungsweise 2 Ohm, mit Deutlichkeit 
5 Ohm betragende Widerstandsänderungen nachzuweisen. Durch- 
feuchtung einer trockenen Haut setzt ihren Widerstand auch für Hoch- 
frequenzstrom um 20—50 Ohm herab. 

Da es sich somit bei der reversiblen Abnahme des Widerstands für 
Gleichstrom nicht um Durchfeuchtung, elektrolytisch oder elektroendos- 
motisch bewirkte oder auf Gefäßerweiterung beruhende Verbesserung 
des Leitungsweges handelt, ist die Erklärung die gleiche, die für die 
Schwankungen der Leitfähigkeit bei der psychogalvanischen und 


268 U. Ebbecke: 


neurogalvanischen Reaktion gegeben ist (Zangger-Aebly, Gilde- 
meister, Schwartz), nämlich eine reversible Abnahme der Polarisier 
barkeit und der ihr zu Grunde liegenden Undurchlässigkeit der Zell- 
membranen. 

Lokale galvanische, psychogalvanische und neurogalvanische Reak- 
tion erweisen sich als Sonderfälle der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, daß 
mit einer Reizung eine Änderung der Membranpermeabilität einhergeht. 
Die Befunde werden verständlich auf Grund der Bernstein-Hö- 
berschen Membrantheorie und stützen ihrerseits diese Anschauung. 

Der Zusammenhang zwischen Hautströmen (,,Aktions“- und ‚„Ruhe“- 
strömen) und Widerstandsänderungen wird dargelegt. 

Während die psychogalvanische und neurogalvanische Reaktion auf 
der durch Nervenreiz erregten Drüsentätigkeit beruht, ist die durch 
direkte Reizung erzeugte lokale galvanische Reaktion nicht nervös be- 
dingt, streng auf den unmittelbar gereizten Bezirk beschränkt und ist 
eine Reaktion der Epithelzellen der Epidermis. 

Sie findet sich auch an der Leiche in den ersten Tagen post mortem, 
was die Überlebensdauer und Absterbeerscheinungen der Hautzellen zu 
untersuchen ermöglicht und unter Umständen einen Anhalt für gerichts- 
ärztliche Beurteilung gibt. 

Ähnlich wie der mechanische Reiz wirken chemische, thermische und 
elektrische Reize. Lokale Chloroformwirkung setzt im Gegenteil die 
Leitfähigkeit der Haut anfänglich herab (Kolloidverdichtung der Plasma- 
haut in der Narkose). Für die chemischen Reize kommen bei gleich- 
zeitiger Durchströmung auch die kataphoretischen Ionenwirkungen in 
Betracht. Von den elektrischen Reizen ist der faradische schwach 
wirksam, unwirksam noch in einer für die Empfindung lästigen Stärke, 
der galvanische stark wirksam; seine Wirksamkeit beginnt bei einer 
Stromstärke, die für Hautrezeptoren, Nerven und Empfindung indiffe- 
rent ist und auch keine Hautrötung hervorruft. 

Stärke und Dauer der Reaktion hängen außer von der Stärke des 
Reizes in hohem Grade von der individuell verschiedenen und zeitlich 
wechselnden Empfindlichkeit (Erregbarkeit) der Hautzellen ab. An 
der Größe und Dauer der Leitfähigkeitsänderung läßt sich der Verlauf 
der Hautreizung verfolgen. Damit ist ein neues Objekt für die Unter- 
suchung der elektrischen Reizgesetze gegeben. 

Die Erregung der Hautzellen setzt sofort mit einer Latenzzeit unter- 
halb 2 Sekunden ein und hat eine ungewöhnlich lange Dauer, lange 
Nutzzeit und Summationszeit. Ihr Erregungstypus zeigt die Eigen- 
schaften der Erregung glatter Muskeln, nur in noch höherem Grade, 
und hat einige Analogien zum Verhalten der corticalen Erregungen. 

Lokale galvanische und lokale vasomotorische Reaktion sind ver- 
schiedenartiger Ausdruck desselben Zellgeschehens. 


Die lokale galvanische Reaktion der Haut. 269 


Zellularphysiologisch erscheint damit der Begriff der Zellerregung 
und der mit ihm zusammenhängende Begriff der Dauerregung deutlicher 
geklärt. 

Auch zellularpathologisch ist der Begriff einer individuell verschie- 
denen und chemisch beeinflußbaren Zellerregbarkeit von Wichtigkeit. 

Da die altbekannten Erfahrungen der Elektrotherapie und Elektro- 
diagnostik über die Leitfähigkeitsänderungen während der Dauer einer 
Durchströmung sich nun als biologisch, nicht physikalisch bedingt er- 
klären, gewinnen die klinischen Erfahrungen über die individuellen 
und für manche Krankheiten charakteristischen Verschiedenheiten 
des elektrischen Widerstandes neues Interesse (Basedow und Myxödem). 

Es zeigt sich ein Weg zu einer klinisch anwendbaren Funktions- 
prüfung der Haut. 

Die Befunde sind verwertbar für die Kenntnis der Zusammenhänge 
und Übergänge von Erregung, Entzündung und Absterben und für die 
Lehre von den, beispielsweise durch Proteinkörper hervorgerufenen, 
lokalen und generellen Reizerscheinungen und entzündlichen Verände- 
rungen. 


(Aus dem Physiologischen Institut Zürich.) 


Die Wasserstoffionenkonzentration als Regulator der Atem- 
größe. 
Von 
Dr. Alfred Fleisch, 


Assistent des Institutes. 


(Eingegangen am 13. Mai 1921.) 


Das Interesse, das dem regulatorischen Agens der Atemgröße ent- 
gegengebracht wurde, war seit Jahrzehnten ein sehr großes. Aber die 
nähere Charakterisierung dieses Agens hat unter den einzelnen Forschern 
zu eklatanten Widersprüchen geführt. Die älteste Anschauung, die von 
Rosenthal!) verfochten wurde, bezeichnet den Mangel an Sauerstoff 
als den Erreger der Atmung. Pflüger?) lieferte dann den Nachweis, daß 
eine Verstärkung der Atmungstätigkeit sowohl durch Verminderung 
des Sauerstoffgehaltes als auch durch eine Vermehrung des Kohlensäure- 
gehaltes des Blutes erzeugt werden könne. Zur Erklärung der paradoxen 
Tatsache, daß der Mangel eines Stoffes — nämlich der Mangel an Sauer- 
stoff — eine erregende Wirkung ausüben solle, stellte Pflüger die 
Hypothese auf, daß nicht der Sauerstoffmangel als solcher die dyspnöe- 
tische Verstärkung der Atmung erzeuge, sondern daß bei Sauerstoff- 
mangel eine Anhäufung von Produkten unvollkommener Oxydation 
stattfinde, und daß diese Produkte die unmittelbare Ursache der Dyspnöe 
seien. 

Diese Anschauung Pflügers blieb im wesentlichen jahrzehntelang 
bestehen. Einzig darin fand eine Weiterentwicklung statt, daß die Be- 
deutung der Kohlensäureanhäufung im Blute immer mehr in den Vorder- 
srund rückte. So widerlegte Miescher?) die Ansicht Rosenthals, 
wonach der Sauerstoffmangel erregend auf die Atmung wirken sollte. 
Nach Miescher ist der CO,-Partiardruck im Atemzentrum der Faktor, 
durch welchen normaliter die Lungenventilation bestimmt wird. Mie- 


1)J. Rosenthal, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1864 u. 1865; Die Atembewegungen 
usw. Berlin 1862. 

2) E. Pflüger, Über die Ursache der Atembewegungen, sowie der Dyspnöe 
und Apnöe. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. I, 61. 1868. 

3) F. Miescher - Rüsch, Bemerkungen zur Lehre von den Atembewegungen. 
Arch. f. Anat: u. Physiol. 1885, S. 355. 


A. Fleisch: Wasserstoffionenkonzentration als Regulator der Atemgröße. 271 


scher wies auch auf die Empfindlichkeit des Atemzentrums in bezug auf 
den Kohlensäuregehalt der Respirationsluft hin. Diese Beobachtung 
wurde von allen folgenden Untersuchern bestätigt. So fand Zuntz!), 
daß die Atemgröße bei einer geringen Beimengung von Kohlensäure zur 
Respirationsluft stark ansteigt. Erst bei großen Dosen Kohlensäure 
(bei Kaninchen über 15%) sinkt die Atemgröße infolge Narkose der 
nervösen Zentren. Im Gegensatz dazu haben Änderungen des O,-Ge- 
haltes der Inspirationsluft zwischen 12,5 und 60% nur einen geringen 
Einfluß auf die Atemgröße. Die Funktion der Kohlensäure als Regulator 
der Atmung wurde weiter erhärtet durch Fredericg?), Mosso?) und 
Hougardy*). Fredericg erzeugte echte Apnöe durch gekreuzte Zir- 
kulation. Wenn das eine Tier künstlich ventiliert wurde, so trat beim 
anderen Apnöe auf. Fredericq maß dabei die Gasspannung des Blutes 
und fand, daß die CO,-Spannung in Apnöe auf weniger als die Hälfte 
absinken konnte. Hougardy konnte durch intravenöse Injektion von 
CO,-bindenden Substanzen wie NaOH und Na,CO, (nicht aber NaCl 
oder NaHCO,) eine kurz dauernde Apnöe erzeugen. Dabei wurde die 
"Verminderung der CO,-Spannung tonometrisch festgestellt. Das gleiche 
Resultat erzielte Mosso durch intravenöse Injektion von Soda. Die 
resultierende Apnöe dauerte 2!/, Minuten. Mosso stellte ferner fest, 
daß durch Auswaschen der Kohlensäure aus dem Blute durch forciertes 
Atmen ebenfalls Apnöe erzeugt werden kann. 

Eine genauere Präzisierung über die Rolle der CO, bei der Atmung 
wurde durch Haldane und Priestley>) gegeben, indem diese Autoren 
sich dank ihrer neuen Methode auf exakte Analysen der Alveolarluft 
stützen konnten. Haldane und Priestley stellten fest, daß jedes In- 
dividuum einen bestimmten unter normalen Verhältnissen konstanten 
CO,-Partiardruck in den Alveolen besitzt, und daß dieser alveoläre CO,- 
Druck auch bei variierendem Atmosphärendruck konstant bleibt. Von 
ihnen wurde zum erstenmal die enorme Empfindlichkeit des Atem- 
zentrums gegenüber CO, nachgewiesen. Bei einem Anstieg der alveo- 
lären CO,-Spannung um nur 0,2% einer Atmosphäre wurde nämlich die 
Lungenventilation während der Ruhe verdoppelt. Während der Muskel- 
arbeit fanden sie den alveolären CO,-Druck etwas erhöht und die Lungen- 
ventilation dementsprechend vergrößert. Haldane und Priestley 


!) N. Zuntz, Über die Bedeutung des Sauerstoffmangels und der Kohlensäure 
für die Innervation der Atmung. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1897. S. 379. 

?) L. Fredericgq, Sur la cause de l’apnee. Arch. de biol. 1%, 561. 1901. 

®2) A. Mosso, L’acapnie produite par les injections de soude dans le sang. 
Arch. ital. de biol. 42, 186. 1904. 40, 1. 1903; 41, 138. 1904. 

*) A. Hougardy, Apnee par injection intraveneuse de soude chez le chien 
et le lapin. Arch. internat. de physiol. I, 17. 1904. 

5) Haldane and Priestley, The regulation of the lung-ventilation. Journ. 
of physiol. 32, 225. 1905. 


2UV2 A. Fleisch: 


konnten den Satz aufstellen, daß die Regulation der Alveolarventilation 
normaliter ausschließlich vom CO,-Druck im Atemzentrum abhängig sei. 
Immerhin beobachteten sie, daß bei einem Sinken des O,-Druckes in 
der Inspirationsluft unter 13% einer Atmosphäre das Atemzentrum 
durch den Sauerstoffmangel erregt wird, wobei die alveoläre CO,-Span- 
nung fällt. 
Boycott und Haldane!) studierten sodann diese Erregung des 
Atemzentrums durch O,-Mangel eingehender. Sie vertraten die Ansicht, 
daß diese Hyperpnöe nicht unmittelbar die Folge von O,-Mangel sei, da 
diese Hyperpnöe einige Zeit braucht, um sich zu entwickeln, und noch 
tagelang bestehen bleiben kann, nachdem der O,-Mangel beseitigt ist. 
Nach- der Ansicht dieser Autoren ist die Hyperpnöe wahrscheinlich be- 
dingt durch Milchsäure und andere Substanzen, die infolge O,-Mangel 
gebildet werden und welche den gleichen Einfluß auf das Atemzentrum 
haben wie CO,, so daß weniger Kohlensäure notwendig ist zur Erregung 
des Zentrums. Da die Kohlensäure in ihrer Wirkung auf das Atem- 
zentrum durch andere Säuren z. B. Milchsäure ersetzt werden kann, so 
scheint den Autoren der Schluß vernünftig, daß die Wirkung auf das 
Atemzentrum durch die gesamte Acidität des Blutes bedingt ist; eine 
Auffassung, die in der Folgezeit wiederholt unterstützt wurde 2). 
Winterstein?) versuchte den Nachweis zu erbringen, daß nicht 
die CO, als solche, sondern lediglich die Cy- des Blutes die Regul’erung 
der Atmung besorge. Zu diesem Zwecke durchströmte er 4—Stägige 
Kaninchen mit sauerstoffgesättigter Ringeriösung, die dauernd Apnöe 
erzeugte. Beim Durchströmen mit sauerstoffarmer Lösung dauerte die 
Apnöe weiter und die Reflexerregbarkeit verschwand. Wenn der Durch- 
spülungsflüssigkeit hingegen 2—3 Volumprozent CO, beigemischt war, 
so trat rhythmische Atmung auf. Da auch !/,o n-Nalzsäure erregend 
auf das Atemzentrum wirkte, so schließt Winterstein, daß es die 
H-Ionenkonzentration des Blutes sei, die die Regulierung der Atmung 
besorgt. 
Die Beweiskraft der Wintersteinschen Versuche wurde von 
Laquer und Verzärt) bestritten. Nach den Berechnungen dieser Au- 


!) Boycott u. Haldane, The effects of low atmospheric pressures on re- 
spiration. Journ. of physiol. 3%, 355. 1508. 

2) J.M. H. Campbell, ©. G. Douglas, J. S. Haldane andF. G. Hobson, 
The response of the respiratory centre to carbon acid, oxygen and hydrogen ion 
concentration. Journ. of physiol. 46, 301. 1913; T. H. Milroy, Changes in the 
Hydrogen ion concentration of the Blood produced by pulmonary ventilation. 
Quarterly journ. of experim. Physiol. 8, Nr. 2 u. 3, S. 141. 1912. 

>) H. Winterstein, Die Regulierung der Atmung durch das Blut. Pflügers 
Arch. f. d. ges. Physiol. 138, 167. 1911; Zentralbl. f. Physiol. 24, 811. 1910. 

4) E. Laquer u. F. Verzär, Über die spezifische Wirkung der Kohlensäure 
auf das Atemzentrum. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 143, 395. 1911. 


Die Wasserstoffionenkonzentration als Regulator der Atemgröße. 273 


toren ist nämlich die Cy: der von Winterstein verwendeten !/, go D- 
Salzsäurelösung etwa 60mal größer als die Cy: der 2—3proz. CO,- 
Lösung. Laquer und Verzär wiederholen die Versuche von Winter - 
stein und finden, daß die !/,., n-Nalzsäurelösung trotz ihrer 60 mal 
größeren Cy- oft versagt, wenn die Kohlensäure wirksam ist. Ebenso 
versagt Essigsäure oft, oder ihre Wirkung tritt erst verspätet ein, obwohl 
ihre Cy: 3—10mal größer ist als die Cp- der verwendeten CO,-Lösung. 
Laquer und Verzär ziehen daraus den Schluß, daß die CO, eine spezi- 
fische Wirkung auf das Atemzentrum besitze, da sie selbst bei neutraler, 
ja sogar leicht alkalischer Reaktion eine Wirkung auszuüben vermag. 

Es ist somit die Frage, ob die Kohlensäure oder die Cy- des Blutes 
der chemische Regulator der Atmung sei, noch nicht entschieden. Dem- 
entsprechend haben Hasselbalch und Lundsgaard!) versucht, dem 
Problem näherzukommen. Sie bestimmten an Kaninchen auf elektro- 
metrischem Wege die Cy- des Blutes, ferner die CO,-Spannung der Alveo- 
larluft und die alveolare Ventilation. Durch CO,-Inhalation stieg die 
alveolare Ventilation, und es zeigte sich, daß das Steigen der Ventila- 
tion gewöhnlich parallel geht mit einem Anstieg der Cy- des Blutes. 
In einem Versuche blieb bei einer Einatmung eines Gasgemisches von 
1,05% CO,-Gehalt die alveolare CO,-Spannung konstant infolge sehr 
starker Ventilation. Da dabei aber die Cy- des Blutes und ebenso die 
Ventilationsgröße anstiegen, nehmen die Autoren als wahrscheinlich an, 
daß die Cy- das regulatorische Agens der Atmung sei. Immerhin be- 
trachten sie den sicheren Entscheid, ob die CO, oder die Cy- der wirk- 
same Faktor sei, noch nicht als erbracht, 

In einer weiteren Arbeit hat Hasselbalch?) das Problem von einer 
anderen Seite erfolgreich in Angriff genommen. An Menschen wurde eine 
bestimmte Diät durchgeführt und dabei die C,- des Harnes und des 
venösen Blutes und ferner die CO,-Spannung der Alveolarluft gemessen. 
Dabei ergab sich u. a. das interessante Resultat, daß die reduzierte Cy- 
(bei 40 mm CO,-Spannung) des Blutes bei Fleischdiät größer ist als bei 
vegetabilischer Diät (pg- = 7,33 bei Fleischdiät gegen 7,42 bei vegeta- 
rischer Diät). Die alveoläre CO,-Spannung ist nun aber bei Fleischdiät 
geringer (38,9 mm) als bei vegetarischer Diät (43,3 mm). Dadurch 
kommt es zu der von Hasselbalch beobachteten Tatasche, daß die 
Cu: des Blutes bei der alveolären CO,-Spannung gemessen bei Fleisch- 
diät und vegetarischer Diät fast genau dieselbe ist. Die Reizbarkeit des 
Atemzentrums wird dabei als konstant gefunden. Hasselbalch schließt 


!) K. A. Hasselbalch u. Ch. Lundsgaard, Blutreaktion und Lungen- 
ventilation. Skand. Archiv f. Physiol. %%, 13. 1912. 

®) K. A. Hasselbalch, Neutralitätsregulation und Reizbarkeit des Atem- 
zentrums in ihren Wirkungen auf die Kohlensäurespannung des Blutes. Biochem. 
Zeitschr. 46, 403. 1912. 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 19%. 18 


274 A. Fleisch: 


. aus diesen Untersuchungen, daß unter allen Umständen die CO, durch 
ihren Säurecharakter auf das Atemzentrum incitierend wirkt, und daß 
die Lungenventilation u. a. als Mittel dazu verwertet wird, eine Norm 
für die Cy- des Blutes aufrecht zu erhalten. 

Dadurch ist der Nachweis erbracht, daß durch die Atmung eine 
Konstanterhaltung der Cy- des Blutes bewirkt wird. Winterstein! 
suchte weiter nach direkten Beweisen dafür, daß die Änderungen in der 
Stärke der Lungendurchlüftung auf Änderungen der Cy- und nicht 
solcher der CO,-Spannung beruhen. Winterstein registrierte an mit 
Chloralhydrat tief narkotisierten Kaninchen die Atmung und bestimmte 
die Cy- elektrometrisch mit der Apparatur von Michaelis. Im weiteren 
wurde die ungefähre CO,-Spannung des Blutes bestimmt, indem 8ccm 
Blut mit 1 ccm Hirudinlösung und 1 ccm Luft in eine Spritze aufgesogen 
und durchgemischt und die Luft nachher analysiert wurde. Um Ände- 
rungen der Cy- und der CO,-Spannung des Blutes zu bewirken, injizierte 
Winterstein in die Vena jugularis innerhalb 1—2 Minuten 10—15 eem 
Säure in der Konzentration von "/,, bis ”/,, in physiologischer Koch- 
salzlösung. Die verwendeten Säuren waren Salzsäure, Schwefelsäure, 
Phosphorsäure, Essigsäure, Milchsäure und Kohlensäure. Es ergab sich 
dabei, daß die bei Säureinjektion zu beobachtende Steigerung der Lungen- 
ventilation stets mit einer gleichsinnigen Änderung der Cy- des Blutes 
einhergeht, während die CO,-Tension sich ungleichmäßig verhält, indem 
diese bei Säureinjektion meistens, aber durchaus nicht immer, geringer 
wird. 

Die zitierten Untersuchungen von Hasselbalch und von Winter- 
stein bilden gewichtige Argumente dafür, daß die Cy-. das regula- 
rische Agens der Atmung sei. 

Ein weiteres Argument für die Richtigkeit dieser Auffassung bilden 
die folgenden Versuche, bei denen durch intravenöse Säurezufuhr ein 
Steigen der Ventilationsgröße und der Cy- des arteriellen Blutes erzeugt 
wurde. Besondere Beachtung wurde dabei der Bestimmung der CO,- 
Spannung im arteriellen Blute gegeben. Das Vorgehen von Winterstein 
mit rascher intravenöser Injektion von Säure schien mir wenig günstig, 
da durch diese plötzlich in die Blutbahn eingeführte große Säuremenge 
die heterogensten Reize ausgelöst werden müssen. So beobachtete ich 
bei anderer Gelegenheit, daß bei mittelstark narkotisierten Kaninchen 
die intravenöse Injektion von 5 cem !/,g-Mol primärem Phosphat zu 


!) H. Winterstein, Neue Untersuchungen über die physikalisch-chemische 
Regulierung der Atmung. Biochem. Zeitschr. %0, 45. 1915. Daselbst Besprechung 
der neueren Literatur. Vgl. ferner: H. Winterstein, Die Reaktionstheorie 
der Atmungsregulation. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 18%, 293. 1921. Ältere 
Literatur bei ©. G. Douglas, Die Regulation der Atmung beim Menschen. 
Ergebn. d. Physiol. 14, 338. 1914. 


Die Wasserstoffionenkonzentration als Regulator der Atemgröße, 275 


intensiven Zuckungen des Tieres führte, die zweifellos als Schmerzreak- 
tion zu deuten waren. Aus diesem Grunde wählte ich eine schwache 
Säure, die im Verlauf von etwa einer Stunde ganz langsam infun- 
diert wurde. 

Methodik. 


Mit Urethan schwach narkotisierıte Kaninchen werden tracheotomiert. Im 
Beginne des Experimentes wird unter normalen Bedingungen die Ventilationsgröße 
pro 15 Sek., die CO,-Spannung und die Cy- im arteriellen Blute gemessen. Danach 
wird während längerer Zeit (etwa 1 Stunde) eine sehr langsame intravenöse Dauer- 
infusion von primärem Natriumphosphat in die Vena jugularis ausgeführt. Die 
Ventilationsgröße wird dabei hin und wieder bestimmt. Nach etwa einer Stunde 
wird wiederum, wie im Beginn des Experimentes, die Ventilationsgröße, die 
CO,-Spannung und die Cy- im arteriellen Blute gemessen. 

Für die Registrierung der Ventilationsgröße atmen die Tiere durch 
ein Atemventil, das In- und Exspirationsluft trennt. Die Exspirationsluft von 
15 Sek. wird von Zeit zu Zeit über Wasser (unter Innehaltung des hydrostatischen 
Druckes Null) aufgefangen und gemessen. 

Für die Dauerinfusion von Säure wurde primäres Natriumphosphat 
gewäblt, einmal weil Natriumphosphate im Blutserum vorhanden sind und anderer- 
seits weil das primäre Phosphat, welches sich im Blute teilweise zu sekundärem 
Phosphat umwandelt, mit diesem ein Puffergemisch bildet, das die Cu- des Blutes 
aufrecht zu erhalten bestrebt ist. Dies erschien wünschenswert, weil die Kon- 


CO, 
NaHCO, 
durch die Einführung des sauren Phosphates reduziert wird. Eine gute Pufferung 
des Blutes ist aber vorteilhaft, damit kleine Schwankungen in der intravenösen 
Säurezufuhr direkt vor der Bestimmung der CO,-Spannung und der Cn- diese 
Werte nicht merklich beeinflussen. Primäres Natriumphosphat ist auch wegen 
seiner mäßig sauren Reaktion (pr- = etwa 4,5) für eine intravenöse Infusion ge- 
eigneter als eine starke Säure. Die Konzentration des NaH,PO, ist mit !/,; g-Mol 
so gewählt, daß der osmotische Druck ungefähr gleich demjenigen des Blutes ist. 
Die im Verlauf von einer Stunde infundierte Menge betrug 10—15 ccm der !/, g-Mol- 
Lösung. Dabei ist zu berücksichtigen, daß von dieser Menge während der ver- 
hältnismäßig langen Zeitdauer des Experimentes ein Teil, der allerdings nicht 
bestimmt wurde, durch die Nieren ausgeschieden wird. 

Die Bestimmung der CO,-Spannung desarteriellen Blutes wurde mit dem 
Mikrotonometer vonKrogh!) ausgeführt, bei welcher Methode einige Kubikzenti- 
meter Blut für eine Bestimmung genügen, indem der Gasaustausch nur mit einer 
kleinen Gasblase von großer spezifischer Oberfläche stattzufinden hat. Da Hirudin 
für mich unerhältlich war, mußte ich als gerinnungshemmende Substanz Natrium- 
oxalat verwenden. Dieses wurde als 2proz. Lösung direkt in die Arterienkanüle 
in solchem Strome geleitet, daß dem aus der Carotis austretenden Blut etwa 5—10%, 
der Natriumoxalatlösung zugesetzt wurde. Auf diese Weise gelang es ziemlich 
gut, zu frühe Gerinnung zu verhindern. Bei länger dauerndem Abklemmen der 
Schlauchleitung zum Tonometer trat hingegen gewöhnlich Gerinnung auf. Nach 
der Vorschrift von Krogh war das Tonometer während des Gasaustausches in 
ein Wasserbad von 38° untergetaucht, und das zur Gasblase strömende Blut 
war ebenfalls auf dieser Temperatur gehalten. 


zentration des normaliter stark wirksamen Puffergemisches des Blutes 


1) A. Krogh, Some New Methode for the Tonometrie Determination of Gas- 
Tensions in Fluids. Skänd. Archiv f. Physiol. 20, 259. 1908; On Micro-Analysis 
of Gases. Skand. Archiv f. Physiol. %0, 279. 1908. 


18* 


276 A. Fleisch: 


. Für die Bestimmung der Cz- des arteriellen Blutes verwendete ich die 
von Hasselbalch!) eingeführte Methode, wonach die Cz- aus der freien und der 
gebundenen CO, berechnet wird nach der Gleichung 
[Bicarbonat] 
Pr = Pr, + log [c0,) - 

Dabei ist p,, gleich der Summe aus dem negativen Logarithmus der Disso- 
ziationskonstante der Kohlensäure und dem Logarithmus des Dissoziationsgrades 
des Bica:bonates. Wenn die CO,-Spannung p und die Volumprozente der gebun- 
denen CO, s bekannt sind, so lautet die Gleichung nach Hasselbalch 

S - 
tu = Pr + 1085 a 100 - p .& los; > —, 
760 
wobei & (= 0,511) der Absorptionskoeffizient der Kohlensäure im Blute bei 38° ist. 
Nach den Untersuchungen von Hasselbalch ändert sich der Wert von 9,, in 
umgekehrtem Sinne wie die Konzentration des Bicarbonates. Für diese Ab- 
hängigkeit hat Hasselbalch eine graphische Darstellung gegeben, aus welcher 
ich meine Werte für p,, entnommen habe. 

Dieser Berechnungsmodus wurde von Hasselbalch an Hand einer reinen 
CO,-Bicarbonatlösung abgeleitet. Nach neuesten Untersuchungen von C. L. 
Evans?) ist aber ?p- im Plasma um 0,3 tiefer als in einer Bicarbonatlösung von 
gleichem NaHCO,-Gehalt. Diese Differenz wird aber in der Hasselbalchschen 
Berechnung nach Evans kompensiert, indem Hasselbalch für die Berechnung 
ae verwendet, anstatt BSD ; 

760 760 


der freien Kohlensäure die Formel 


was richtig sein würde. 

Da die Kohlensäurespannung des Blutes in unseren Versuchen sowieso be- 
stimmt werden mußte, war für die Berechnung der Cy- nur noch notwendig, 
die gebundene Kohlensäure festzustellen. Dies wurde nach der Methode 
von A. Krogh und G. Liljestrand?°) ausgeführt unter Verwendung des Mikro- 
respirationsapparates von Krogh?). Für die Austreibung der Kohlensäure aus 
dem Blute wurde das von Krogh angegebene Salzsäure-Citratgemisch verwendet. 

Um die Gerinnung des Blutes bei der Bicarbonatbestimmung zu verhindern, 
wurde in den für das Blut bestimmten Behälter etwas Natriumoxalat in Substanz 
(neutral reagierend) gegeben. Blindversuche ohne Blut ergaben, daß durch das 
Natriumoxalat in Substanz mit Salzsäure-Citratgemisch keine Manometerdifferenz 
erzeugt wurde. 

Die Berechnung der Gesamtkohlensäure geschah nach der korrigierten Formel 
Kroghs°’). Von der in Volumprozent gefundenen Gesamtkohlensäure werden 
die Anzahl Volumprozent der freien Kohlensäure subtrahiert, wodurch die für die 
Berechnung der ?u notwendige gebundene CO, in Volumprozent erhalten wird. 


ı) K. A. Hasselbalch, Die Berechnung der Wasserstoffzahl des Blutes 
aus der freien und gebundenen Kohlensäure desselben usw. Biochem. Zeitschr, 
%8, 112. 1917. 

2) C. Lovatt Evans, On a probable error in Determinations by means of the 
hydrogen electrode. Journ. of physiol. 54, 353. 1921; The calculation of the 
hydrogenion concentration of plasma. Physiolog. Society London, 12. March 192j. 

®) A. Krogh u. G. Liljestrand, Eine Mikromethode zur Bestimmung der 
Kohlensäure des Blutes. Biochem. Zeitschr. 104, 300. 1920. 

*#) A. Krogh, Biochem. Zeitschr 62, 268. 1914 und 66, 512. 1914. 

5) A. Krogh, Biochem. Zeitschr. 66, 512. 1914. 


Die Wasserstoffionenkonzentration als Regulator der Atemgröße. 277 
Die Berechnung der freien Kohlensäure führt Hasselbalch in diesem Falle aber 
j 00pr302 
760 
und & der Absorptionskoeffizient der Kohlensäure im Blute bei 38° bedeutet. 


nach der richtigen Forme aus, wobei p die Kohlensäurespannung 


Experimentelle Resultate. 


Nachdem im Kapitel ‚Methodik‘ die Durchführung der Versuche 
beschrieben ist, können wir uns hier darauf beschränken, die Resultate 
einiger Versuche kurz zu referieren. 


Versuch 1 (Tabelle I): Weibliches Kaninchen, 1900 g schwer, mit Urethan 
subeutan schwach narkotisiert. Das Tier atmet während des ganzen Versuches 
durch das Atmungsventil. Da dieses einen gewissen toten Raum besitzt, so ist 
die Kohlensäureabgabe aus den Lungen etwas erschwert. Dies äußert sich darin, 
daß die Atmung während des ganzen Versuches etwas verstärkt ist. So ist die 
Ventilationsgröße im Beginn des Experimentes, direkt nach Anschluß an das 
Atmungsventil, 100 cem in 15 Sek., nach 45 Minuten hingegen, ohne daß Säure 
injiziert worden wäre, durchschnittlich 155 ccm. Die Atmungsbehinderung durch 
den toten Raum und den Widerstand des Ventiles ist wahrscheinlich die Ursache, 
daß die Wasserstoffzahlen des Blutes in diesem Versuch ziemlich hohe sind. 

Die folgende Tabelle I gibt über die Resultate dieses Versuches Aufschluß. 


Tabelle I (Versuch ]). 


Zugeflossene | 
A Ventilation | Säure in cem | CO,-Spannung | Gebundene CO, c 
Zeit i : - ; | H 
in 15Sek. | !/;, g-Mol prim. in mm Hg in Volumproz. 
Phosphat | 
337 155 0 30,42 30,165 7,3 0,5 - 10° 
4h 30’ 208 | 14 25,14 18,07 76162. 0,6921 02 


In Versuch 1 sind im Verlaufe einer Stunde 14 ccm !/, g-Mol primäres 
Natriumphosphat intravenös infundiert worden. Dabei ist die Ventila- 
tionsgröße von durchschnittlich 155 ccm in 15 Sek. vor der Säureinfusion 
auf durchschnittlich 208 ccm während und nach der Infusion gestiegen. 
Durch die Säureinfusion hat im arteriellen Blute der Carotis eine Ab- 
nahme der CO,-Spannung von 30,42 mm Hg auf 25,14 mm Hg statt- 
gefunden bei gleichzeitiger Zunahme der Ventilationsgröße. Dies deutet 
darauf hin, daß nicht die CO,-Spannung des Blutes der Regulator der 
Atemgröße sein kann. 

Wie vorauszusehen war, sinkt infolge der Säureinfusion die Kon- 
zentration der im Blute gebundenen Kohlensäure, indem sich das im 
Blute vorhandene Gleichgewicht 

NaH,PO, + NaHCO, = Na,HPO, + H,C0, 
nach der rechten Seite verschiebt, wenn primäres Phosphat zugesetzt 
wird. Die CO,, die dadurch aus dem Bicarbonat freigemacht wird, ver- 
läßt den Körper aber infolge der verstärkten Ventilation. 


278 A. Fleisch: 


Während die CO,-Spannung durch Säureinfusion ab- 
nimmt, steigt dadurch die Wasserstoffzahl des Blutes, indem 
?p: von 7,3 auf 7,16 absinkt. Dieses Resultat kann aber nur 
so interpretiert werden, daß das regulatorische Agens der 
Atmung die Cy und nicht die CO,-Spannung ist. 

Versuch 2 (Tabelle II): 2000g schweres weibliches Kaninchen mit Urethan 
schwach narkotisiert. Das Tier atmet nur während der Bestimmung der Venti- 
lationsgröße (jeweils 15 Sek.) durch das Atmungsventil, während der ganzen übrigen 
Zeit frei durch die Trachealkanüle. Eine Kohlensäurestauung im Blute ist somit 


nicht vorhanden. 
Tabelle II (Versuch 2). 


Zugeflossene 
ee. Ventilation Säure in cem CO,-Spannung Gebundene [61073 Py- On: 
in 15 Sek. | !/,g-Mol prim . in mm Hg in Volumproz. 
Phosphat 
4h307 | 115 0 27,3 39,65 7,42 | 0,38 - 10-7 
6 154 15,0 25,08 27,59 7,32 | 0,48 - 10? 


Versuch 2 stimmt in seinem Resultat vollständig mit Versuch 1 über- 
ein. Auch hier nimmt infolge der Säureinfusion die CO,-Spannung im 
arteriellen Blute ab, während gleichzeitig die Cp: im arteriellen Blute 
ansteigt. 

Versuch 3 (Tabelle III): 2000 g schweres Kaninchen, mit Urethan schwach 


narkotisiert. Das Tier atmet frei durch die Trachealkanüle und nur während der 
Bestimmung der Ventilationsgröße durch das Atmungsventil. 


Tabelle III (Versuch 3). 


Zugeflossene 
Zeit Ventilation | Säure in ccm CO,-Spannung | Gebundene CO, Pa: Ca 
in 15 Sek. | !/, g-Mol prim. in mm Hg in Volumproz. 2 a 
Phosphat 
3b 45° 81,5 0 27,65 40,47 7,420, 37210 
4455 | 101,5 8 25,69 32,7 7237..040 100 
5h 35 | 120,0 17,0 23,1 27,35 7,43 | 0,44 - 10-7 


In Versuch 3 wurden 3 Serien von Bestimmungen ausgeführt, die 
erste wie gewohnt vor Beginn der Säureinfusion. Die zweite Serie, 70 Mi- 
nuten nach der ersten ausgeführt, ergibt bei einer in dieser Zeit zuge- 
flossenen Säuremenge von 8 ccm eine Abnahme der CO,-Spannung von 
27,65 auf 25,69 mm Hg. Die Ventilationsgröße steigt von durchschnitt- 
lich 81,5 auf 101,5 ccm in 15 Sek. Dementsprechend steigt auch, wie 
nach den vorhergehenden Versuchen zu erwarten ist, die Wasserstoff- 
zahl, nämlich von pp: = 7,42 auf pp = 7,37. In den nächsten 40 Mi- 
nuten fließen noch weitere 9 ccm !/, g-Mol primäres Phosphat in das 
Venensystem. Dadurch verändern sich die gewonnenen Daten noch 


Die Wasserstoffionenkonzentration als Regulator der Atemgröße. 279 


weiter in derselben Richtung: Die CO,-Spannung sinkt weiter auf 
23,1 mm, die Wasserstoffzahl steigt auf pp- = 7,35 und dementsprechend 
erhöht sich die Ventilationsgröße auf 120,0 ccm. 

Diese drei aufgeführten und noch weitere gleiche Versuche stimmen 
sämtliche darin überein, daß die Vergrößerung der Lungenventi- 
lation einhergeht mit einem Anstieg der Wasserstoffzahl des 
arteriellen Blutes. Durch die hier angewandten Versuchsbedingun- 
gen wurde erreicht, daß die Vergrößerung der Wasserstoffzahl begleitet 
ist von einer Verminderung der CO,-Spannung im arteriellen Blute. Da 
aber Zunahme der Lungenventilation eintritt bei Abnahme 
der CO,-Spannung, so kann mit Sicherheit gefolgert werden, 
daß es nicht die CO,-Spannungim Blute ist, durch welche die 
Intensität der Atmung reguliert wird. Das regulatorische 
Agensdesrespiratorischen Luftwechselsistsomitdie Wasser- 
stoffionenkonzentration im arteriellen Blutebzw. im Atem- 
zentrum. 

Zusammenfassung. 


Zur Entscheidung der Frage, ob die CO, oder die H-Ionenkonzen- 
tration (Cp-) des Blutes das regulatorische Agens der Atemgröße dar- 
stellt, werden an Kaninchen Versuche ausgeführt mit sehr langsamer 
etwa 1 Stunde dauernder intravenöser Infusion von primären Natrium- 
phosphat. Vor und nach der Säureinfusion wird die Atemgröße, die CO,- 
Spannung und die Cy- des arteriellen Blutes gemessen. Die Bestimmung 
der Op: geschieht nach der Methode von Hasselbalch durch Berech- 
nung aus der freien und der gebundenen CO, des Blutes. 

Sämtliche Versuche ergeben, daß durch die Säureinfusion ein An- 
stieg der Cp- des arteriellen Blutes bewirkt wird, der begleitet ist von 
einer Steigerung der Ventilationsgröße. Da die CO,-Spannung im arte- 
riellen Blute aber gleichzeitig sinkt, so ist damit bewiesen, daß die 
Atemgröße nicht durch die CO,-Spannung reguliert wird, 
sondern daß dieCy-des Blutes bzw. die Cg im Atemzentrum' 
der Regulator des respiratorischen Luftwechsels ist. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. 
III. Mitteilung. 


Die Beteiligung des Cholins an der Wirkung verschiedener organischer 
Säuren auf den Darm. 


Von 
Dr. J. W. Le Heux. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht.) 


Mit 19 Textabbildungen. 


(Eingegangen am 30. Mai 1921.) 


In der ersten Mitteilung!) dieser Untersuchungsreihe konnte ich mit 
chemischen und physiologischen Methoden beweisen, daß im überleben- 
den Dünndarm Cholin in freiem diffusibelem Zustande in solchen Mengen 
vorhanden ist, daß es durch seine erregende Wirkung auf den Auerbach- 
schen Plexus von wesentlicher Bedeutung für das Zustandekommen der 
automatischen Darmbewegungen sein muß. 

In der zweiten Mitteilung?) konnte ich das verschiedene Verhalten, 
das der Darm unter wechselnden Bedingungen gegenüber Atropin zeigt, 
auf die Menge des in der Darmwand vorhandenen Cholin zurückführen. 
Es ließ sich zeigen, daß Atropin an sich ein den Darm reizendes Gift ist, 
daß dagegen die Hemmung, welche Atropin häufig auf die Darmbewe- 
gungen ausübt, als eine antagonistische Wirkung gegen das in diesen 
Fällen in größeren Mengen in der Darmwand vorhandene Cholin auf- 
gefaßt werden muß. 

Es fragt sich nun weiter, ob nicht vielleicht das Cholin auch bei der 
Wirkung verschiedener anderer Stoffe auf die Darmbewegungen eine 
Rolle spielt. 

Die in der vorliegenden Mitteilung geschilderten Versuche knüpfen 
an die Beobachtungen von Neukirch und Rona}) an, welche eine große 
Reihe von organischen Stoffen von sehr verschiedener chemischer Zu- 


!) Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 173, 8. 1919. 
) Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%9, 177. 1920. 
) P.Ronaund P. Neukirch, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 146, 371. 1912. 


2 
6} 
o 


J. W. Le Heux: Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 281 


sammensetzung auf ihre Wirksamkeit am isolierten Darme untersuchten 
' und die Mehrzahl von ihnen unwirksam oder schwach wirksam fanden, 
während außer zwei Zuckern (d-Glukose und d-Mannose) nur die 
Natriumsalze von einigen wenigen organischen Säuren der 
Fettreihe schon in kleinen Dosen den isolierten Darm er- 
regen. Unter diesen stehen Brenztraubensäure und Essigsäure an 
erster Stelle. 

Infolge seiner Alkoholfunktion ist Cholin imstande, Ester zu bilden. 
Der Essigsäureester, das Acetylcholin, besitzt bekanntlich (Hunt!), 
Dale?) u. a.) eine außerordentlich große Wirksamkeit auf den Darm, 
welche vielfach größer ist, als die des Cholins selber. Es ergab sich 
hieraus die Fragestellung, ob nicht die auffallende und sonst nicht leicht 
zu erklärende Reizwirkung dieser wenigen Salze im Gegensatz zu vielen 
unwirksamen Verbindungen erklärt werden könnte durch eine Reaktion 
mit dem in der Darmwand vorhandenen Cholin, wobei die Darmwand 
aus der Säure und dem Cholin (mit Hilfe eines synthetischen Fermentes) 
die entsprechenden Ester bildet. Die Reizwirkung des Natrium- 
acetates würde demnach beruhen müssen auf einer Wirkung des hier- 
bei gebildeten stark erregenden Acetylcholins. (Ob auch dem Brenz- 
traubensäure-Cholinester eine verstärkte Erregungswirkung zukommt, 
war bisher nicht bekannt.) 

Wir haben diese Frage näher untersucht, und sind hierbei von folgen- 
den Überlegungen ausgegangen. 

1. Wenn wirklich die erregende Wirkung, welche Salze wie Na-acetat 
auf den überlebenden Darm ausüben, auf der Bildung des entsprechen- 
den Cholinesters in der Darmwand beruht, dann muß zunächst gezeigt 
werden können, daß die Cholinester der betreffenden Säure stärker 
wirken als Cholin selbst. Dagegen dürfen die Cholinester der Säuren, 
deren Salze den Darm nicht reizen, keine deutlich stärkere Wirkung am 
Darme besitzen als das Cholin selber (letzteres natürlich allein in dem 
Falle, daß die Darmwand auch wirklich die angenommene Estersynthese 
ausführen kann). 

2. Muß die anfänglich vorhandene erregende Wirkung der betreffen- 
den Salze verschwinden, wenn das Cholin durch Auswaschen aus der 
Darmwand ausgespült wird. 

3. Jedoch muß, wenn keine anderen für die Estersynthese nötigen 
Faktoren durch das Auswaschen mit entfernt werden, nach dem Wieder- 
zufügen von Cholin die erregende Wirkung der Salze wieder auftreten. 

4. Muß, wenn die erregende Wirkung des Cholinesters durch Atropin 
 antagonistisch aufgehoben wird, das ebenfalls mit der Wirkung der ver- 
schiedenen Salze selbst der Fall sein. 


!) Reid Hunt,‘Journ. of pharmacol. a. exp. therap. %, 301. 1915. 
®2) H. H. Dale, Journ. of pharmacol. a. exp. therap. 6, 146, 1914. 


282 J.W. Le Heux: 


WirkungverschiedenerorganischerSalzeaufdenKaninchen- 
dünndarm. 


Zunächst haben wir für unsere Versuche zwei organische Säuren 
ausgesucht, welche nach der Tabelle von Neukirch und Rona 
‘die Darmbewegungen erregen: die Brenztraubensäure und 
die Essigsäure. Als Säure, welche wenigstens in der Konzen- 
tration !), in welcher es in meinen Versuchen verwendet wurde, keine 
Wirkung auf die Darmbewegungen ausübt, wurde Bernsteinsäure 
genommen. 

Sämtliche Versuche wurden am überlebenden Kaninchendünndarm 
in 75 cem Tyrodelösung angestellt, worin derselbe sehr regelmäßige Be- 
wegungen ausführt, so daß Erregungen und Hemmungen mit der größten 
Deutlichkeit festgestellt werden können. Die Versuchsanordnung war 
die gleiche, wie sie in unseren früheren Versuchen über Atropinwirkung 
benutzt wurde. Wurden nun zu derartigen Schlingen Mengen von 
6—20 mg essigsaures oder brenztraubensaures Na gesetzt, dann ließ 
sich ausnahmslos, in Übereinstimmung mit den Angaben von Neukirch 
und Rona, eine deutliche bis sehr starke Reizwirkung dieser Salze fest- 
stellen, die sich in den Einzelversuchen manchmal als eine Vergrößerung 
der Kontraktionen, manchmal als Tonussteigerung, häufig auch als 
Kombination beider Wirkungen äußerte. In vielen Fällen war die Er- 
regung durch Brenztraubensäure eine stärkere als die durch Essigsäure, 
aber auch das Umgekehrte wurde mehrfach beobachtet. Daß eine Er- 
höhung des osmotischen Druckes der Außenflüssigkeit hierbei keine 
Rolle spielt, ergibt sich daraus, daß Zusatz einer äquivalenten Kochsalz- 
menge keine deutliche Wirkung hatte. 

Auffallend war, daß nach Zusatz von Na-acetat meistens (auch bei 
brenztraubensaurem Na kam dies manchmal vor) eine kurz vorüber- 
gehende Hemmung der Bewegungen auftrat, so daß die erste Kontrak- 
tion nach dem Zusatz der Salze kleiner war als die vorhergehende, um 
darauf beträchtlich an Größe zuzunehmen. 

Wurde an Stelle von Na-acetat oder Na-pyruviat eine äquivalente 
Menge von bernsteinsaurem Na zugesetzt, dann trat keine deutliche 
Erregung auf; in keinem Falle war diese stärker als nach Zusatz einer 
äquivalenten Menge Kochsalz. 

Ein Beispiel hierfür gibt Abb. 1. 


!) Salant, Mitchell und Schwartze, ‚Journ. of pharmacol. a. exp. therap. 
9, 511. 1917, geben an, daß bernsteinsaures Natrium in großen Konzentrationen 
(!/io normal) auf bestimmte Teile des Kaninchendünndarms erregend wirkt. 
Kleinere Konzentrationen haben geringeren bzw. keinen Effekt. Auch ich habe 
gefunden, daß erst große Mengen (0,4 g) bernsteinsaures Natrium in 75 ccm 
Tyrodelösung den Darm stark erregen, wobei nachweislich die Höhe des osmo- 
tischen Druckes der Lösung eine wesentliche Rolle spielt. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 283 


Werden diese selben Versuche an Darmschlingen ausgeführt, welche 
sich in Ringer- oder Tyrodelösung ohne Zucker befinden, dann war 


a | | EN, r 
NEIN | 3 
| \ 


20 mg brenztraubensaures Na 20 mg essigsaures Na 
Abb.1la. Zeigt die erregende Wirkung von 20 mg Abb. 1b. Dasselbe bei Zusatz von 20mg essig- 
brenztraubensaurem Natron an einer frischen saurem Natron. In beiden Fällen starke Ver- 
Kaninchendünndarmschlinge in Ringerlösung. größerung der Bewegungen und Tonuserhöhung. 


. das Ergebnis im Prinzip das gleiche. Bernstein- 
saures Na istwirkungslos, dagegen ist der Effekt 
der zwei anderen Salze meistens größer als 
in den Versuchen mit normaler Tyrodelösung. 
Dieses ist leicht zu verstehen, da nach den 

£ 42 mg 

Untersuchungen von Neukirch und Rona ers 
Traubenzucker bereits für sich allein erregend Abb. 1c. Zeigt, daß 42mg 

% em Kamin ad ale ah 1 bernsteinsaures Natron die Be- 
auf den Kaninchendarm wirkt, und in normaler erinsen unbesiniaßt laßt: 
Tyrodelösung infolge des vorhandenen Zuckers 
der Darm sich bereits in einem erhöhten Erregungszustande befindet. 

Nachdem die Wirkung dieser Salze in zahlreichen Versuchen fest- 
gestellt war, wurde nunmehr untersucht, wie die korrespondierenden 
Cholinester sich gegenüber dem Darme verhalten. 


Wirkung der Ester auf den Kaninchendünndarm. 


Von dem Essigsäureester des Cholins war bereits bekannt, daß seine 
Wirksamkeit auf den überlebenden Dünndarm vielfach stärker ist, als 
die des Cholins selbst. Der Brenztraubensäureester des Cholins und der 
Ester der Bernsteinsäure sind, soweit mir bekannt, in dieser Hinsicht 
noch nicht untersucht. 


Der Essigsäureester wurde bereitet durch Behandlung von Cholin mit Ace- 
tylchlorid oder Essigsäure-Anhydrid. 

Der Bernsteinsäureester wurde auf die gewöhnliche Weise aus dem Säure- 
chlorid und dem salzsauren Salze des Cholins bereitet und in Form seiner Platin- 
doppelverbindung abgeschieden. Diese ist in kaltem Wasser schwer löslich, doch 
kann aus warmem Wasser umkrystallisiert werden. Sie krystallisiert in hellgelben 
Nädelchen (sternförniig gruppiert). Im Capillarröhrchen wird sie bei langsamer 

- Erwärmung bei der Temperatur von ungefähr 215° zersetzt. 


284 J. W. Le Heux: 


Die Platinbestimmung gab folgenden Wert: 


Gefunden Me 27,17%, Pt. 
Berechnet . ..... DI SEE: 


Zur Darstellung des Brenztraubensäureesters wurde eine abgewogene Menge 
salzsaures Cholin mit einem Überschuß von frisch im Vakuum destillierter Brenz- 
traubensäure in einem Kolben 5 Stunden lang bei 80° im Wasserbade erwärmt 
und danach unter stark vermindertem Druck die überschüssige Brenztraubensäure 
abdestilliert. 

Der leichtgelb gefärbte sirupartige Rückstand wurde darauf mehrmals mit 
reinem Äther gewaschen, und im Vakuumexsikkator über Schwefelsäure gebracht. 
“ Krystallbildung tritt nicht auf, auch nicht beim Abkühlen in Eis-Kochsalzmischung. 
Im Wasser und Alkohol ist der Sirup leicht löslich, die wässerige Lösung reagiert 
sehr schwach sauer. 

Goldchlorid gab in der wässerigen Lösung einen gelben krystallinischen 
Niederschlag, der sich sehr schnell unter Grün-, später Violettfärbung zersetzt. 
Platinchlorid gibt in der wässerigen Lösung keinen Niederschlag, nach Zusatz 
von Alkohol entsteht ein gelber Niederschlag. Dieser wurde mehrmals mit Wasser 
unter Zusatz von Alkohol umkrystallisiert, gab aber trotzdem kein reines Produkt. 
Ebensowenig glückte es, ein krystallinisches Pikrat abzuscheiden. 

Ich habe darum für meine Versuche die sirupöse Flüssigkeit genommen, 
welche durch Erwärmen von Cholin mit Brenztraubensäure erhalten und danach 
mit Äther gewaschen war, und hieraus, berechnet nach der Menge des verwendeten 
Cholins, wässerige Lösungen von bestimmter Konzentration bereitet, welche mit 
NaHCO, neutralisiert wurden. 

Die Lösung des Bernsteinsäureesters wurde bereitet, indem eine gewogene 
Menge des Platinsalzes mit H,S zersetzt, der überschüssige H,S durch einen Luft- 
strom vertrieben und die darauf klarfiltrierte Flüssigkeit mit NaHCO, neutralisiert 
wurde. 


Die Wirkung des Essigsäure- und Brenztraubensäureesters des 
Cholins auf den überlebenden Kaninchendünndarm war beträchtlich stär- 
‚ker, als die des Cholins selbst. Acetylcholin wirkt, wie bekannt ist, mehr 
als 1000 mal stärker als Cholin (Abb. 3). Die Wirkungssteigerung des 
Brenztraubensäurenesters ergab sich in einer Reihe von Versuchen als 
50—100fach (Abb. 2). Hierzu muß bemerkt werden, daß die verhältnis- 
mäßig großen Unterschiede, die in den Einzelversuchen für die Wir- 
kungssteigerung des Cholins durch Esterbildung mit Brenztraubensäure 
gefunden wurden, nicht allein auf der bei den verschiedenen Darstel- 
lungen mehr oder weniger vollständigen Esterbildung beruhen kann, 
sondern daß außerdem noch eine Verseifung des Esters in der wässrigen 
Lösung eine Rolle spielt. Dieses ergab sich z. B. in einem Versuche, in 
welchem sich anfangs eine 100fache Verstärkung der Cholinwirkung 
fand, während nach mehrstündigem Stehen der Lösung diese nur noch 
50 mal stärker wirkte. 

Wurde im Gegensatz hierzu die Wirkung des Cholins und des Bern- 
steinsäure-Cholinesters miteinander verglichen, dann ergab sich, daß beide 
ungefähr gleich stark wirkten (Abb. 4). Von einer Wirkungssteigerung 
durch die Esterbildung ließ sich in keinem Falle etwas nachweisen. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung, III. 285 


Es ergibt sich also ein deutlicher Parallelismus in der Wirkungsstärke 
der Salze von Essigsäure und Brenztraubensäure mit den entsprechen- 
den Estern einerseits, und der Bernsteinsäure und dem Bernsteinsäure- 
ester andererseits (s. Abb. 2, 3 und 4). 


a) c) 
‘1 mg Cholin, 2 mg Cholin, Yo mg U, mg 
brenztraubeun-aures brenztraubensaures Cholin- 
Cholinester esten, 


Abb. 2a—c. Zeigt die verstärkte Wirkung des Cholins an einer Kaninchendünndarmschlinge nach 

der Veresterung mit Brenztraubensäure. img Cholin erregt den Dünndarm ungefähr ebenso stark 

wie ?/,0o mg brenztraubensaures Cholin. 2 mg Cholin wirken etwas stärker als !/,, mg des Esters, 
also eine 75—100 fache Verstärkung. 


b) 
1 ms 0,001 mg : img Cholin 1,3 mg 
Cholin Acetylcholin brenztraubensaures Cholinester 
Abb.3. Zeigt die ungefähr 1000- entsprechend 1 mg Cholin. 
fache Wirkungszunahme des Cho- Abb.4a u. b. Zeigt die Wirkung vonlmg Cholin und von Img Cholin als 
lins am Darme nach der Ace- Bernsteinsäureester am Darme. Eine Wirkungssteigerung ist nicht ein- 
tylierung. getreten. 


Auswaschversuche. 


Ein weiterer Beweis für die Annahme, daß die Wirkung der Salze 
auf der Bildung und Wirkung der entsprechenden Cholinester beruht, 
würde sich ergeben, wenn nach Entfernung (bzw. Verminderung) des 
Cholingehaltes der, Darmwand auch die erregende Wirkung des essig- 

sauren und brenztraubensauren Natriums verschwinden würde. In der 


286 J. W. Le Heux: 


zweiten Mitteilung konnte ich zeigen, daß durch wiederholtes Auswaschen 
des Darmes mit Tyrodelösung dieser so arm an Cholin gemacht werden 
kann, daß die hemmende Wirkung kleiner Atropindosen, welche am An- 
fang der Versuche vorhanden war, dann nicht mehr auftritt. 

Genau in derselben Weise ließ sich nun auch hier zeigen, daß nach 
wiederholtem Auswaschen die anfänglich vorhandene Er- 
regungswirkung des essigsauren und brenztraubensauren 


— 


b) 
20 mg brenztraubensaures Na 230 mg brenztraubensaures Na 


Abb. 5a u. b. a) Zeigt die [anfängliche erregende Wirkung des brenztraubensauren Natriums 
an einer Kaninchendünndarmschlinge in Tyrode. b) Zeigt das Ausbleiben der Wirkung nach 
mehrmaligem Auswaschen am zweiten Tage des Versuches am selben Darme. 


IMMMMMNN eng 


a) b) 
20 mg essigsaures Na 20 mg essigsauress Na 
Abb. 6a und b. Dasselbe wie in Abb. 5a und b für Natriumacetat am Kaninchendarm in 
Tyrodelösung ohne Zucker. 


Natriums verschwindet. Hierzu wurden verschiedene Schlingen 
desselben Kaninchendarmes in Tyrodelösung aufgehängt und die er- 
regende Wirkung der beiden Salze Na-Acetat und Na-Pyruviat fest- 
gestellt. Der Rest des Dünndarmes wurde in Pferdeserum im Eisschrank 
aufbewahrt und dieses Serum am gleichen Tage wiederholt gewechselt. 
Die Tyrodelösung in sämtlichen Gefäßen, in welchen sich Darmschlingen 
befanden, wurde regelmäßig alle 10 Minuten erneuert und von Zeit zu 
Zeit untersucht, wie sich die Därme gegenüber den Salzen verhielten. 

Wenn genügend oft ausgewaschen war, verschwand die anfänglich 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 287 


stets vorhandene Erregungswirkung, und die Darmschlingen blieben 
jetzt nach Zusatz der Salze vollständig unbeeinflußt. 

Falls es am ersten Versuchstage nicht glückte, den Darm durch 
Auswaschen in diesen Zustand zu bringen, dann wurden am folgenden 
Tage einige neue Darmschlingen, welche mehrfach mit Pferdeserum aus- 
gewaschen und des Nachts im Eisschrank gelegen waren, aufgespannt 
und hiermit der Versuch fortgesetzt. Manchmal wurden die Versuche 


b) c) 
9mg benztraubensaures Na 9mg essigsaures Na 0,01 mg Atropin 


Abb. 7. Zeigt die anfängliche erregende Wirkung von brenztraubensaurem und essigsaurem 
Natrium und die Anfangshemmung durch eine kleine Dose Atropin am Darm in Tyrodelösung, 


I 


j 


) 
9mg essigsaures Na 9 mg brenztraubens. Na 0,01 mg Atropin 
Abb. 8. Zeigt das Verschwinden der Salzwirkungen und die gleichzeitig auftretende Vermin- 
derung der Atropinhemmung nach dem Auswaschen am zweiten Versuchstage. Die Schlingen 
sind von demselben Kaninchendarm wie in Abb. 7. 


auch so angestellt, daß von einer Anzahl aufgespannter Darmschlingen, 
welche auf gleiche Weise ausgewaschen wurden, eine Schlinge als Kon- 
trollobjekt diente, an welchem von Zeit zu Zeit während des Auswaschens 
das Verhalten gegen Atropin untersucht wurde. Reagierte diese Schlinge 
nicht mehr auf kleine Atropinmengen oder wurde sie wenigstens nur 
noch sehr wenig gehemmt, dann wurden zu den anderen Darmschlingen 
essigsaures und brenztraubensaures Natrium zugesetzt, welche dann auf 
diese Salze nicht mehr reagierten. Abb. 5—8 zeigen dieses Verhalten. 


288 J. W. Le Heux: 


Es hat sich also ergeben, daß durch wiederholtes Auswaschen 
des Darmes, wobei Cholin aus der Darmwand entfernt wird, das 
Verhalten des Darmes gegenüber den untersuchten Salzen sich 
ändert, und daß, ungefähr gleichzeitig mit dem Verschwinden der 
Reaktion des Darmes gegen kleinste Atropinmengen, die anfänglich 
erregende Wirkung des brenztraubensauren und essigsauren Natriums 
verloren geht. 

Wenn die Hypothese richtig ist, daß auch hier, ebenso wie ich das 
früher für die Atropinwirkung zeigen konnte, das Ausbleiben der Er- 
regungswirkung von essigsaurem und brenztraubensaurem Natrium ver- 
ursacht wird durch das Verschwinden bzw. die Abnahme des Cholin- 
gehaltes im Darme, dann sollte man erwarten, daß auch in diesem Falle 
durch Zusatz von Cholin der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt 
werden kann, so daß die Erregungswirkung beider Salze wieder auftritt. 

Um dieses festzustellen, wurden Kaninchendarmschlingen so lange 
mit Tyrodelösung ausgewaschen, bis essigsaures und brenztraubensaures 
Natrium keine Erregung mehr bewirkte. Darauf wurde eine Cholinmenge 
(1 mg) zugefügt, auf welche die Därme gut reagierten, und darauf wieder 
brenztraubensaures oder essigsaures Natrium zugesetzt, In einzelnen 
Fällen trat nun wirklich eine, wenn auch schwache Erregung wieder auf, 
meistens waren aber auch nun (also nach Zusatz von Cholin) die Salze 
ohne Wirkung. In einer Reihe von 15 Versuchen blieb in 10 Fällen 
nach Zusatz von Cholin die Wirkung der Salze vollständig aus, in 
2 Fällen trat eine schwache, und in 3 Fällen eine deutliche Wirkung 
auf. Es ergab sich also nur in etwa !/, der Versuche ein positives Ergeb- 
nis; meist war das Verhalten so, daß, wenn der Darm so weit ausge» 
waschen war, daß er nicht mehr auf Zusatz der Salze reagierte, dann 
auch in der Mehrzahl der Fälle nach Cholinzusatz die Wirkung ausblieb. 
Dieses Verhalten, welches so sehr im Gegensatz steht zu den Erfahrungen, 
die ich früher beim Studium der Atropinwirkung am Darme gewonnen 
hatte, ist nicht unerklärlich; man muß doch voraussetzen, daß beim 
Auswaschen des Darmes nicht allein Cholin, sondern auch noch andere 
Stoffe, welche für die angenommene Synthese der Cholinester in der 
Darmwand nötig sind, mitausgewaschen werden, und man muß an 
erster Stelle hierbei an ein eventuell vorhandenes synthetisches Ferment 
denken. 

Wenn demnach nach dieser Annahme durch das Auswaschen außer 
Cholin auch noch ein Stoff von Fermentcharakter aus der Darmwand 
entfernt wird, dann müßte die Waschflüssigkeit, oder die Flüssigkeit, in 
welcher eine Darmschlinge einige Zeit gelegen hat, außer Cholin auch 
noch dieses Ferment enthalten, und es müßte möglich sein, durch Zusatz 
dieser Flüssigkeit den ursprünglichen Zustand des Darmes wiederherzu- 
stellen. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 289 


Um dieses zu untersuchen, wurde wieder eine Reihe von Darmschlingen 
ausgewaschen, bis sie nicht mehr auf essigsaures oder brenztrauben- 
saures Natrium reagierten. Hierauf wurde ein Teil der Tyrodeflüssigkeit 
zugesetzt, in welcher eine Stunde lang ein Darm gelegen hatte, in ein- 
zelnen Versuchen unter Zusatz von einer geringen Öholinmenge (!/, mg). 
Die Darmschlingen reagierten auf diesen Zusatz meist mit schwacher 
Erregung, jedoch wurden die Bewegungen bald wieder regelmäßig. Wurde 
nun daraufhin essigsaures Natrium zugesetzt, dann trat in einer Reihe 
von Versuchen, jedoch auch jetzt nicht in allen Fällen, die erregende 
Wirkung der Salze mehr oder weniger deutlich wieder ein. 

Eine Übersicht über die Ergebnisse gibt die folgende Tabelle. 


Tabelle 1. 
Zahl der Versuche 169. 


In 69 Fällen (41%) keine Wirkung. 

DR ( 9%) zweifelhaft. 

„ 43 , (25%) schwache Wirkung. 

BR DN (19%) sehr deutliche Wirkung. 
IE 5, ( 6%) starke Wirkung. 


Es ist also im ganzen in 85 Einzelversuchen gelungen, die durch Aus- 
waschen verschwundene Wirkung der Salze durch Zusatz des Wasch- 
wassers wieder zurückzubringen. Der Erfolg tritt etwa in der Hälfte 
der Fälle ein. Berücksichtigt man die bekannte Schwierigkeit, synthe- 
tische Fermentwirkungen außerhalb des Körpers hervorzurufen, so ist 
das Ergebnis immerhin auffallend und macht es in hohem Grade wahr- 
scheinlich, daß durch das Auswaschen außer dem Cholin noch ein anderer 
Darmbestandteil entfernt wird, welcher ebenfalls zur Estersynthese nötig 
ist. Ob wir es hier mit einem Stoffe von Fermentcharakter zu tun haben, 
würde dann an Wahrscheinlichkeit gewinnen, wenn das Vermögen der 
Flüssigkeit zur Estersynthese durch Kochen verloren geht. 

Tatsächlich ist es uns in einer Reihe von Versuchen geglückt, dieses 
wirklich zu zeigen. Die Waschflüssigkeit eines Darmes, welche unge- 
kocht an dem ausgewaschenen Darme die erregende Wirkung von Na- 
triumacetat wieder zum Vorschein rief, war nach dem Kochen hierzu 
nicht mehr imstande. Ein Beispiel hiervon gibt Abb. 9 (s. S. 290). 


Es sei jedoch bemerkt, daß dieses Ergebnis nicht in allen Fällen erhalten 
wurde, denn da, wie oben mitgeteilt wurde, in einer beschränkten Anzahl von 
Fällen (33%) bereits Cholinzusatz allein die Salzwirkung wieder zum Vorschein 
ruft, muß das Gleiche auch nach dem Zusatz der cholinhaltigen Flüssigkeit 
der Fall sein, und diese Cholinwirkung wird natürlich durch Kochen nicht 
zerstört. 

Unter 40 derartigen Versuchen, in welchen nach "Zusatz von ungekochter 
Waschflüssigkeit eine deutliche bis starke Salzwirkung wieder eingetreten war, 
ergab sich nach Zusatz der gleichen Mengen desselben Darmextraktes, welcher 
gekocht war, folgendes: 


Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 1%. 19 


290 J. W. Le Heux: 


In 21 Fällen (52!/,%) blieb die Salzwirkung vollständig aus. 

In 3 Fällen (71/;,%) war diese sehr zweifelhaft. 

In 16 Fällen (25%) noch schwach vorhanden. 

In 3 Fällen (71/,%) deutlich vorhanden. 

In 3 Fällen (7!/;%) stark vorhanden. (In allen diesen Fällen war auch die 
ursprüngliche ungekochte Waschflüssigkeit stark wirksam.) 


20 mg essigsaures Na Ext. 20 mg essigsaures Na 
Abb. 9a. Zeigt das Ausbleiben der Acetatwirkung am dritten Versuchstage bei einem Kaninchen- 
dünndarme in Tyrode ohne Zucker nach vielfachem Auswaschen, und weiter das Wieder- 


auftreten der Salzwirkung nach Zusatz der frischen wäßrigen Außenflüssigkeit von !/,, Teil 
eines Kaninchendarms (Extr.). 


20 mg essigsaures Na Ext. gek. 20 mg essigsaures Na 
Abb. 9b. Zeigt ebenfalls aas Ausbleiben der Acetatwirkung an einer ausgewaschenen Schlinge 
desselben Darmes wie in Abb. 9a. Nach Zusatz von einer gleichen Menge Darmaußentlüssigkeit 
wie in Abb. 9a, die zum Kochen erhitzt war (Extr. gek.), bleibt jetzt die Erregungswirkung 
eines nachherigen Salzzusatzes aus. 


Von besonderer Wichtigkeit ist die Tatsache, daß in keinem einzigen Falle 
gefunden wurde, daß eine ausgewaschene Darmschlinge nach Zusatz der un- 
gekochten Flüssigkeit nicht, dagegen nach Zusatz der gekochten wohl reagierte. 


Das Ergebnis aller Versuche läßt sich folgendermaßen zusammen- 
fassen: Wird durch Auswaschen die Erregungswirkung von essigsaurem 
oder brenztraubensaurem Natrium aufgehoben, so läßt sich nur in einer 
Minderzahl der Versuche (!/,) diese Wirkung allein durch Cholinzusatz 
wieder herstellen. Dagegen gelingt es in der Hälfte der Fälle, den ur- 
sprünglichen Zustand durch Zusatz von Waschflüssigkeit zum Darme 
wieder zurück zu bringen. In etwa 38% dieser letzteren Fälle gelingt das 
auch schon durch Cholin allein, in den übrigen 62%, muß auch noch ein 
anderer Bestandteil der Waschflüssigkeit dabei sein. Dieser ist durch 
Kochen zerstörbar und wird also vermutlich das hypothetische synthe- 
tische Ferment sein müssen. 


Ich habe versucht, durch Änderung der Versuchsbedingungen das Phänomen 
in allen Fällen zum Vorschein zu rufen, jedoch ist dieses bisher nicht geglückt. 
Die Änderung der Salzlösung (Tyrodelösung ohne Glucose oder Ringerlösung 
— veränderte H-Ionenkonzentration) führte nicht zum erwünschten Ergebnis, 
ebensowenig hatte die Verwendung von aus der Darmwand bereitetem Preßsaft 
Vorteil, in welchem ich eine größere Menge des Fermentes vermutete. Auch wurde 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 291 


vergebens versucht, in das Versuchsgefäß, in welchem die ausgewaschene Darn:- 
schlinge sich befindet, frische, also noch fermenthaltige Darmschlingen zu bringen. 

Ferner habe ich noch versucht, ob vielleicht andere Organe, z. B. die Leber 
imstande sind, die Synthese der Cholinester zu bewirken. Wurden die Versuche 
so angestellt, daß zu dem ausgewaschenen Darme ein wenig Preßsaft aus frischer 
Leber und eine geringe Cholinmenge gesetzt wurde, dann trat auch hier, aber auch 
wieder nicht in allen Fällen, die Reizwirkung des Natriumacetats wieder zum Vor- 
schein. 

Obschon es nicht in allen Fällen glückte, an ausgewaschenen Därmen, 
welche nicht mehr auf Na-acetat und Na-pyruviat reagierten, die Wir- 
kung wieder herzustellen, so ist die Zahl der positiven Versuche groß 
genug, um die anfangs aufgestellte Hypothese, wenn auch nicht zu be- 
weisen, so doch höchst wahrscheinlich zu machen. 


Antagonistische Wirkung von Atropin. 


Auch die folgende Beobachtung ist durchaus in Übereinstimmung 
mit unserer Hypothese. Wenn die Erregungswirkung des essigsauren 
und brenztraubensauren Natriums auf der Bildung der starkwirkenden 
Cholinester beruht, dann muß, ebenso wie die Wirkung dieser Ester durch 
Atropin antagonistisch aufgehoben wird, das auch der Fall sein mit der 
Wirkung der Salze. Abb. 10 macht dies ohne weiteres deutlich. 


| n 


| 


ur i 


ut 


b) 


15 mg 0,005 mg 0,001 mg 0,01 mg 15 mg 0,01mg 
essigs. Na Atropin Acetylcholin Atropin Brenztraubens.Cholin Atropin 


Abb. 10. Ist ein Beispiel der übereinstimmenden antagonistischen Aufhebung der erregenden 

Wirkungen der Salze und der Cholinester. a) Die Wirkung von l5mg Na Acetat wird durch 

0,005 mg Atropin aufgehoben. b) Die Wirkung von 0,001 mg Acetylcholin wird durch 0,01 me 

Atropin aufgehoben. c) Die Wirkung von 15 mg brenztraubensaurem Natrium wird durch 0,01 mg 
Atropin gleichfalls aufgehoben. 


Vergleichende Untersuchungen über die Darmwirkung 
sonstiger Säuren und Cholinester. 


Nachdem sich aus dem Vorhergehenden mit großer Wahrscheinlich- 
keit ergeben hat, daß die Reizwirkung, welche brenztraubensaures und 
essigsaures Natrium auf den Darm ausüben, zustande kommt durch die 
Bildung der Cholinester dieser Säuren, habe ich untersucht, ob dieses 
auch durch das Verhälten einer Reihe von Salzen anderer Säuren gegen- 
über dem Darme bestätigt wird, ob also auch in anderen Fällen die 


195 


2923 J. W. Le Heux: 


Wirkung, welche Salze organischer Säuren in kleinen Konzentrationen 
auf die Darmbewegungen ausüben, im Prinzip auf der Wirkung der Cholin- 
ester dieser Säuren beruht. Ist dieses so, dann muß sich auch hier ein 
gewisser Grad von Parallelismus finden, zwischen der Wirkung dieser 
Salze und der der entsprechenden Cholinester. 

Ich habe dieses bei den folgenden Säuren der Fettreihe geprüft: 

Ameisensäure, 

Propionsäure, 

Normal-Buttersäure, 

Iso-Valeriansäure, 

und bei der aromatischen Säure: Benzoösäure. 

Zum Vergleich wurden in jeder Versuchsreihe außerdem noch die 
stark wirksame Essigsäure und die unwirksame Bernsteinsäure geprüft. 


Die Säuren wurden stets in Form ihrer Natriumsalze in äquivalenten Mengen 
zugefügt. Die Konzentration der Lösungen war so gewählt, daß stets ein gleiches 
Flüssigkeitsvolum zugesetzt werden mußte. Die Lösungen wurden nötigenfalls 
mit verdünnter Salzsäure gegen Lackmus neutralisiert. 

Die Cholinester wurden aus salzsaurem Cholin einerseits und aus Säuren oder 
Säurechlorid andererseits bereitet und mit Hilfe ihrer Platindoppelsalze gereinigt. 

Darstellung der Ester. Salzsaures Cholin wurde mit der betretfenden 
Säure im Überschuß 5 Stunden lang in einem Kölbchen auf dem Sandbade zum 
Kochen erhitzt, und darauf der Überschuß der Säure abdestilliert, zum Schlusse 
unter vermindertem Druck. Der Rückstand im Kölbchen wurde mit Äther einige 
Male gewaschen, um zurückgebliebene Säurereste zu entfernen, darauf in Alkohol 
aufgenommen, und hierzu eine alkoholische Lösung von Platinchlorid gesetzt. 
Der hierauf entstandene Niederschlag wurde abgesogen, mit möglichst wenig 
Wasser umkrystallisiert. 

Falls die Ester aus Cholin und den Säurechloriden bereitet wurden, wurde 
salzsaures Cholin mit dem Säurechlorid im Überschuß im zugeschmolzenen Röhr- 
chen einige Stunden im kochenden Wasserbade erhitzt, der Überschuß Säure- 
chlorid darauf im Vakuum abdestilliert, der Rückstand mit Äther gewaschen, in 
Alkohol aufgenommen, und mit einer alkoholischen Platinchloridlösung die Platin- 
doppelsalze abgeschieden. Die Platindoppelsalze sind mit Ausnahme des Salzes 
von Benzoyl-Cholin in Wasser sehr leicht löslich, alle krystallisieren sehr gut, scharfe 
Schmelzpunkte besitzen sie nicht, beim Erhitzen zersetzen sie sich nach vorher- 
gehender Dunkelfärbung. Die Platinbestimmungen gaben folgende Werte: 


Ameisensäure-Cholin-Pt. Salz. . . gefunden 29,00% Pt., berechnet, 29,05% Pt. 
Propionsäure-Cholin-Pt. Salz. . . a 26,80%, = 26.1096 5 
Normal-Buttersäure-Cholin-Pt. Salz. 2 25,900 5 SU 
Isovaleriansäure-Cholin-Pt. Salz. . A 24,81%, ” 24,850 00, 
Benzoesäure-Cholin-Pt.Salz . . . 3 23,61% 3 23. 0D 


Um aus den Platinsalzen die zu den Versuchen nötigen Lösungen der Ester 
zu bereiten, wurden abgewogene Mengen der Platinsalze in Wasser gelöst und mit 
Schwefelwasserstoff zersetzt; der Überschuß H,S wurde mit dem Luiftstrom voll- 
ständig verjagt, und die Lösung filtriert. Die Lösungen, welche durch die frei- 
gewordene Salzsäure sauer reagierten, wurden mit NaHCO, gegenüber Lackmus 
neutral gemacht und auf das gewünschte Volum gebracht. Eine geringe Verseifung 
der Ester ist hierbei natürlich nicht auszuschließen, stark ist diese aber in der 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 293 


Mehrzahl der Fälle nicht, da die freiwerdenden Säuren sich leicht durch ihren Ge- 
ruch verraten. Beim Isovaleriansäureester war dies in geringem, beim Buttersäure- 
ester dagegen sehr deutlich der Fall, so daß, wie schon an dieser Stelle bemerkt 
werden muß, das Ergebnis im Falle des Buttersäureesters hierdurch deutlich 
beeinflußt wird. 

Die Wirkungsstärke der Salze und der entsprechenden Cholinester auf den 
überlebenden Kaninchendünndarm wurde in Tyrodelösung, in zuckerfreier Ringer- 
und zuckerfreier Tyrodelösung bestimmt. Stets betrug die Menge der Außen- 
flüssigkeit 75 cem. In der Mehrzahl der Versuche betrugen die Mengen der zu- 
gesetzten Salze (äquivalente Mengen): 


Ameisensaures Na 17,5 mg. 
Essigsaures Na 21 mg 
Propionsaures Na 24 mg. 
Buttersaures Na 28 mg. 
Isovaleriansaures Na 31,5 mg. 
Bernsteinsaures Na 28 ng. 
Benzoesaures Na 35 mg. 


Die Säuren, aus welchen die Salze und Ester bereitet wurden, wurden sorg- 
fältig fraktioniert, die Salze mehrfach aus Wasser umkrystallisiert. Die normale 
Buttersäure wurde über ihr Ca-Salz gereinigt. 

In dieser quantitativ vergleichenden Versuchsreihe konnte natürlich das 
brenztraubensaure Natrium und der Brenztraubensäure-Cholinester nicht mit- 
geprüft werden, weil der letztere nicht in chemisch reinem Zustand dargestellt 
werden konnte (siehe oben). 


Wirkung der Salze auf den überlebenden Kaninchendarm. 


Die Wirkung dieser Salze veranschaulichen folgende Abbildungen 
(s. S. 294 u. 295). 

Im allgemeinen war die Wirkung der Salze in zuckerfreier Ringer- 
oder Tyrodelösung größer, als in normaler Tyrodelösung. Das gegen- 
seitige Verhältnis in der Wirkungsstärke war jedoch in den verschiedenen 
Flüssigkeiten dasselbe. Außer dem Na-Acetat wurde in Übereinstim- 
mung mit Neukirch und Rona auch das buttersaure Na konstant 
und verhältnismäßig stark wirksam gefunden; das buttersaure Salz 
wirkte aber doch stets schwächer als das Acetat. In allen Fällen war das 
bernsteinsaure Na unwirksam. Benzoösaures Natrium rief keine, in 
Einzelfällen höchstens eine sehr schwache Erregung hervor. Diese 
war nicht deutlich größer als die einer äquivalenten Menge Kochsalz. 

In bezug auf die Wirksamkeit der anderen Säuren: Ameisensäure, 
Propionsäure und Isovaleriansäure ist folgendes zu bemerken. In weit- 
aus den meisten Fällen hatten die Salze dieser Säuren eine deutliche 
Reizwirkung auf den Darm. Sie lassen sich nach ihrer Wirkungsstärke 
in folgende Reihe ordnen: 

Propionsäure (am wirksamsten), 

Ameisensäure, 

Isovaleriansäure. 


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Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 295 


Eigenartig ist jedoch, daß die verschiedenen Därme sich gegenüber 
diesen Säuren (im Gegensatz zu den anderen untersuchten Säuren) ver- 
schieden verhalten. Während in vielen Fällen propionsaures Natrium 
besonders stark wirksam war und an Wirkungsstärke manchmal dem 
Acetat nahe kam, war in anderen Fällen die Wirkung des propionsauren 
Natriums viel schwächer als die des Acetats und konnte in Einzelfällen 
selbst negativ genannt werden. 

Auch Ameisensäure und Isovaleriansäure, obgleich im allgemeinen 
weniger wirksam als Propionsäure, zeigten ähnliche Unterschiede. Meist 
waren sie deutlich wirksam, am stärksten von ihnen die Ameisensäure, 
in anderen Fällen dagegen unwirksam. 

Auch bei Schlingen von ein und demselben Darme traten deutliche 
Unterschiede auf. Während z. B. bei einer Schlinge Propionsäure stark 


a) b) 
31,5 mg lmg 17,5 mg 

isovalerians. Na Cholin ameisensaures Na 
Abb. 14a u. b. Zeigt die schwach erregende Abb. 15. Zeigt die erregende 
Wirkung des isovaleriansauren Na a) auf eine Wirkung von 17!/,mg ameisen- 
Darmschlinge in Ringer, welche auf Cholin b) saurem Natrium an einer 
mit starker Vergrößerung der Bewegungen Tea- Darmschlinge in 75cem Ty- 

giert. rode ohne Zucker. 


wirksam war, und Isovaleriansäure schwach, war an einer anderen 
Darmschlinge die Wirkung von beiden ungefähr gleich. Dieses inkon- 
stante Verhalten der Därme macht es schwierig, die Wirkung der Salze in 
Zahlen auszudrücken, doch läßt sich unschwierig aus der großen Anzahl 
der angestellten Versuche die Reihenfolge ihrer Wirksamkeit aufstellen. 

Wir bekommen dann nach abnehmender Wirksamkeit geordnet die 
folgende Reihe: 

Essigsäure, 

n-Buttersäure, 

Propionsäure, 

ÄAmeisensäure, 

lsovaleriansäure, 

Benzo&säure, 

Bernsteinsäure. 


296 J. W. Le Heux: 


Wirkung der Cholinester auf den überlebenden Kaninchen- 
dünndarm. 


Die Wirkung der Cholinester auf den Dünndarm wurde in der Weise 
geprüft, daß erst die Empfindlichkeit der schreibenden Darmschlingen 
gegen Cholin (Zusatz von !/,—1 mg Cholin) bestimmt wurde. Darauf 


a) b) 
img Cholin 1/00 mg propions. Cholinester 


Abb. 16a u. b. Zeigt die erregende Wirkung von img Cholin a) an einem Kaninchendarme in 
Ringer und die ungefähr gleiche Wirkung von 0,002 mg Propionsäure-Cholinester b) am selben 
Darme. Die Wirkungssteigerung ist in diesem Falle eine nahezu 500 fache. 


a) b) 
img Cholin 1/,, mg butters. Cholinester 


Abb. 17 au.b. Zeigt dasselbe für Cholin a) und Buttersäure-Cholinester b).. 1 mg Cholin wirkt 
etwas schwächer als !/,, mg Buttersäure-Cholinester; also eine Wirkungszunahme um etwas mehr 
als das 40 fache. 


wurde die Außenflüssigkeit 2—3mal gewechselt, und danach möglichst 
genau festgestellt, welche Mengen der verschiedenen Ester die gleiche 
Wirkung ausübten, wie die anfangs zugefügte Cholinmenge. Außerdem 
wurden an derselben Schlinge die Wirksamkeit der entsprechenden 
Natriumsalze festgestellt. Nach jedem Zusatz wurde natürlich wieder 
einige Male die Außenflüssigkeit erneuert, und am Schluß der ganzen 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 297 


Versuchsreihe festgestellt, ob die Empfindlichkeit des Darmes gegen 
Cholin ungefähr unverändert geblieben war. Um den Einfluß, welchen 
die Verseifung der Ester beim Stehen in wässeriger Lösung auf das Er- 


img Cholin 1/,, mg isovalerians. Cholinester 
Abb.18au.b. Hier sind die Wirkungen von Cholin a) und Isovaleriansäure-Cholinester b) mitein- 
ander verglichen am Darme in Tyrode. img Cholin wirkt ungefähr gleich stark als 0,05 mg 
des Esters, also eine 20fache Zunahme der Wirkung. 


b) e) 


0,5 mg 0,01 mg 0,5 mg 
Cholin ameisens. Cholinester benzo&s. Cholinester 


Abb. 19a—c. Darm in Tyrode. Bei diesem Darme gibt 0,5 mg Cholin a) eine starke, 0,01 mg 

Ameisensäure-Cholinester b) gibt eine etwas stärkere, 0,5 mg Benzo&säure-Cholinester c) eine 

ungefähr gleich starke Erregung. Bei der Veresterung mit Ameisensäure ist in diesem Falle 

eine Wirkungssteigerung um mehr als das 50fache eingetreten; Veresterung mit Benzo&ösäure 
hat keine verstärkte Wirkung zur Folge. 


gebnis haben konnte, möglichst auszuschließen, wurden vor jeder Ver- 
suchsreihe die Ester von neuem aus ihren Platinsalzen dargestellt. Eine 
Übersicht über die Wirkung der Ester geben die Abbildungen 16—19. 


298 J.W. Le Heux: 


ud 


Die Wirkungsstärke der Ester ist hinreichend voneinander ver- 
schieden, daß die sich ohne Mühe in eine Reihe ordnen lassen. Gleich- 
zeitig ist angegeben, in welchem Grade ihre Wirkung stärker ist, als die 
des Cholin?). 


Cholinester der Essigsäure. . . .. . 1000 mal, 
5 „ Propionsäure. .... 300 „ 
er Ameisensäures 02 2.210086 
Br „ n-Buttersäure . ... 40 „ 
„ Isovaleriansäure ... 15 „ 
; „ Benzoösäure . .... DS 
: „ Bernsteinsäure . . . . 1, 


Die angegebenen Zahlen entsprechen den Mittelwerten aus sämtlichen 
Versuchen. Wie man sieht, ist das Acetylcholin bei weitem am wirksam- 
sten von allen, während die Cholinwirkung durch Veresterung mit Pro- 
pionsäure im Mittel 300 mal, mit Ameisensäure 100 mal, mit Buttersäure 
40 mal, mit Isovaleriansäure 15mal verstärkt wird, ist die Wirkungs- 
steigerung bei Benzoesäure, wenn überhaupt vorhanden, minimal, die 
von Bernsteinsäure, wie bereits oben gezeigt, null. 

Vergleicht man die Reihe der Ester mit der der Salze, so sieht man, 
daß mit alleiniger Ausnahme der Buttersäure die Reihenfolge der Salze 
genau die gleiche ist wie die der Ester: m. a. W.daßdie Reizwirkung, 
welche diese Säuren aufden Darm ausüben, parallel geht mit, 
dem Grade der Wirkungssteigerung, welche Cholin durch 
Veresterung mit den betr. Säuren erfährt. 

Allein die Buttersäure macht hiervon eine Ausnahme, das butter- 
saure Natron kommt ın der Reihe der Salze unmittelbar nach der Essig- 
säure, in der Esterreihe dagegen erst nach der Ameisensäure. Dieses 
Verhalten der Buttersäure läßt sich sicherlich wenigstens teilweise da- 
durch erklären, daß, wie oben gezeigt wurde, der Buttersäure-Cholinester 
in wässriger Lösung bereits deutliche Verseifung zeigt, so daß Lösungen 
des Esters deutlich nach Buttersäure riechen. Die Wirkung des Esters 
muß infolgedessen verhältnismäßig zu schwach befunden werden. Ob 
hierdurch die ganze Differenz erklärt wird, läßt sich natürlich ohne 
genauere quantitative Versuche nicht sagen. 

Auffallend ist ferner, daß das Verhältnis, in welcher Propionsäure 
verglichen z. B. mit der Isovaleriansäure die Wirkung des Cholins ver- 
stärkt, größer ist als wir aus der Wirkung der Salze erwarten sollten. 
Auch für den Isovaleriansäure-Ester des Cholins wurde oben gezeigt, 
daß er in wässriger Lösung sich in geringem Grade verseift, so daß hier- 
durch die relativ schwächere Wirkung des Isovaleriansäure-Esters er- 
klärt werden könnte. 


!) In dieser Tabelle ist der Brenztraubensäureester nicht mit aufgenommen, 
da dieser (wie oben erwähnt) nicht in reinem Zustand abgeschieden werden konnte. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 2399 


Die Übereinstimmung der beiden Reihen ist alles in allem über- 
raschend genug, zeigen doch die Salze deutliche Unterschiede in der 
Diffusionsgeschwindigkeit, und sicherlich wird auch die Esterbildung in 
der Darmwand selbst bei den verschiedenen Säuren mit verschiedener 
Geschwindigkeit vor sich gehen. Beide Vorgänge müssen Verschiebun- 
gen in der Salzreihe zustande bringen, während die verschiedene Ver- 
seifungsgeschwindigkeit der Ester Verschiebungen in der Esterreihe be- 
wirken muß. 

Der Parallelismus jedoch, derin weitaus den meisten der 
untersuchten Fälle zwischen der Wirkung des Salzes und der 
verstärkten Wirkung des entsprechenden Cholinesters auf- 
tritt, mußsicherlich alsein weitererschwerwiegender Beweis 
geltend gemacht werden für die oben aufgestellte Hypothese 
über die Wirkungsweise dieser Salze auf den überlebenden 
Darm. 

Zusammenfassung. 

Im Anschluß an frühere Mitteilungen, in denen die Rolle des Cholins 
' als Hormon der Darmbewegung aufgeklärt wurde, und als Ursache für 
die verschiedene Wirkungsweise des Atropins auf den Darm das Vor- 
handensein größerer oder kleinerer Cholinmengen in der Darmwand 
nachgewiesen werden konnte, ist es jetzt geglückt, eine Erklärung zu 
geben für das eigenartige Verhalten einer Reihe von Salzen organischer 
Säuren auf den überlebenden Dünndarm. Die Reizwirkung, welche diese 
Salze auf den Darm ausüben, soll nach dieser Erklärung dadurch zu- 
standekommen, daß die Darmwand das Vermögen besitzt, aus diesen 
Salzen mit dem in der Darmwand vorhandenen Cholin unter Zuhilfe- 
nahme eines synthetischen Fermentes Cholinester zu bilden, welche 
stärker als das Cholin selbst auf den Darm wirken und diesen dadurch 
zu erhöhter Bewegungstätigkeit veranlassen. 

Diese Erklärungsweise wird durch die in der vorliegenden Unter- 
suchung erhaltenen Resultate, wenn auch nicht absolut bewiesen, so 
doch in hohem Grade wahrscheinlich gemacht. 

Aus der Reihe der untersuchten Salze sind unwirksam bzw. äußerst 
schwach wirksam Bernsteinsäure und Benzoösäure. In Übereinstim- 
mung hiermit sind die entsprechenden Cholinester nicht deutlich stärker 
wirksam als Cholin selbst. 

Die anderen untersuchten Salze organischer Säuren erregen in kleinen 
Mengen den Darm mehr oder weniger stark. In Übereinstimmung damit 
sind die entsprechenden Cholinester mehr oder weniger stärker wirksam 
als Cholin selbst, und es besteht ein deutlicher Parallelismus zwischen 
der Wirkungsstärke dieser Salze und dem Grade, in welchem die Säuren 
durch Esterbildung die Wirkung des Cholins verstärken. Die Erregungs- 
wirkung dieser Salze auf den Darm geht verloren, wenn das Cholin vorher 


300 J. W. Le Heux: Cholin als Hormon der Darmbewegung. III. 


durch Auswaschen aus dem Darme entfernt wird. In einigen Fällen 
glückte es durch Zusatz des einen für die angenommene Synthese nötigen 
Bestandteils, nämlich des Cholins, die Wirkung der Salze wieder zum 
Vorschein zu rufen, in der Mehrzahl der Fälle erwies sich dieses jedoch 
nicht als hinreichend. In der Hälfte der Fälle glückte es jedoch, die durch 
Auswaschen aufgehobene Reizwirkung der Salze wieder herzustellen, 
wenn außerdem noch ein anderer, durch das Auswaschen aus dem Darm 
entfernter Bestandteil wieder zugesetzt wurde, der durch Kochen un- 
wirksam gemacht wird, und dem man deshalb Fermentcharakter zu- 
schreiben kann. 

Die Wirkung der verschiedenen untersuchten Cholinester wird durch 
Atropin antagonistisch aufgehoben. Hiermit steht in Einklang, daß 
Atropin auch die Wirkung der Salze in gleichem Sinne beeinflußt. 

Auf Grund dieser Ergebnisse können wir annehmen, daß es geglückt 
ist, als Angriffspunkt einer Reihe von physiologisch wirksamen Stoffen 
in einem Organ einen Stoff von bekannter chemischer Zusammenstellung 
(Cholin) nachzuweisen. 

Anhangsweise sei noch auf folgendes aufmerksam gemacht: Neu- 
kirch und Rona haben die Meinung ausgesprochen, daß der Abbau 
derjenigen Zucker, welche die Darmbewegungen erregen, auf dem Wege 
über Brenztraubensäure erfolgt. Wenn dieses richtig ist, dann würde 
die erregende Wirkung, welche diese Zucker auf die Darmbewegung be- 
sitzen, in einem anderen Lichte erscheinen, als das bisher geschehen ist. 
Man hat bisher vielfach angenommen, daß die Erregung darauf beruht, daß 
die Zucker verbrennen, und daß die dabei freiwerdende Energie für die 
verstärkte Muskelarbeit verwendet wird. Die hier mitgeteilten Ver- 
suche legen eine andere Erklärung nahe. Wenn der Darm imstande ist, 
Brenztraubensäure zu machen, so muß diese Brenztraubensäure ihrer- 
seits wieder mit dem Cholin verestert werden, und die erregende Wirkung 
der Zucker beruht demnach auf dem (intramediären ?) Auftreten der 
Brenztraubensäure-Cholinesters. Man braucht also aus der Erregungs- 
wirkung der Zucker nicht zu schließen, daß die bei ihrer Verbrennung 
freiwerdende Energie als direkte Kraftquelle für die Muskelkontraktion 
benutzt werden kann. Vielmehr würde es sich dann um das Auftreten 
einer „Erregungssubstanz“ für die Darmbewegungen handeln. 

Hiermit steht im Einklang, daß nach den Feststellungen von Neu- 
kirch und Rona die Größe der Zuckerzersetzung durch den überleben- 
den Darm unabhängig davon ist, ob der Darm lebhafte oder gar keine 
Bewegungen ausführt. Der hier vorgetragene Gedanke regt dazu an, 
auch den wirkungssteigernden Einfluß, den der Zucker noch auf andere 
Organe (Herz usw.) ausübt, unter dem hier erörterten Gesichtspunkt 
neu zu bearbeiten. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. 
IV. Mitteilung. 


Über den Einfluß des Cholins auf die normale Magen- 
Darmbewegung. 


Von 
Dr. J. W. Le Heux. 


(Aus dem Pharmakologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht.) 
Mit 2 Textabbildungen. 
(Eingegangen am 30. Mai 1921). 


Die verwickelten Bewegungen, welche der Magen-Darmkanal bei der 
Verdauung ausführt, können auch ohne die Herrschaft des Zentralnerven- 
systems in nahezu normaler Weise ablaufen. Aus den Untersuchungen 
von Magnus!) wissen wir, daß sie vom Auerbachschen Plexus ab- 
hängig sind. Die rhythmischen Darmbewegungen kommen auch zu- 
stande, wenn sowohl die Serosa wie die Mucosa entfernt sind, also unab- 
hängig von den Erregungen, welche von den beiden äußeren Oberflächen 
des Darmes ausgehen. Über die Frage, auf welche Weise denn in diesen 
peripheren Nervenzentren die Erregungen zu stande kommen, wurde 
durch Magnus die Vermutung geäußert, daß hier ein chemischer Reiz 
wirksam ist, und daß die Darmnervenzentren oder die Darmmuskulatur 
selbst Stoffe enthalten bzw. bilden, welche imstande sind, den Auerbach- 
schen Plexus in Dauererregung zu versetzen. 

Durch eine Untersuchung, welche Weiland?) im Jahre 1912 im 
Pharmakologischen Institut zu Utrecht anstellte, gewann diese Annahme 
in hohem Maße an Wahrscheinlichkeit. Weiland fand nämlich, daß, 
wenn man eine Darmschlinge einige Zeit in Salzlösung liegen läßt, durch 
die Serosa hin ein Stoff in die Außenflüssigkeit diffundiert (Biodialyse), 
welcher die Eigenschaft besitzt, die Darmbewegungen hochgradig zu 
erregen. Die Darmwand enthält also einen Stoff in freiem diffusabelem 
Zustand, der als Reizmittel für ihre eigenen Bewegungen dient. 

Es ergab sich, daß dieser Stoff in den verschiedenen Abschnitten 
des Magen-Darmkanals zu finden ist, kochbeständig ist und keine Art- 


ı) R. Magnus,’ Versuche am beskiberden Dünndarm von Säugetieren. 
II. Mitt. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 102, 349. 1904. 
5 ®2) W. Weiland, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 14%, 171. 1912. 


302 J. W. Le Heux: 


spezifität besitzt; der Angriffspunkt der Wirkung liegt im Auerbach- 
schen Plexus; die Erregung kann durch kleine Atropinmengen antagoni- 
stisch aufgehoben werden. 

Weitere Versuche!) zeigten, daß dieser wirksame Bestandteil Cholin 
ist. Es ließ sich feststellen, daß mehr als 3/, von dem durch Biodialyse 
erhaltenen wirksamen Prinzip in der Form von chemisch reinem Cholin 
isoliert werden konnte. Die Schmelzpunkte der Gold- und Platindoppel- 
salze stimmten genau mit den entsprechenden Verbindungen aus reinem 
Cholin überein, auch durch mikrochemische Reaktionen konnte die Iden- 
tität festgestellt werden. Die Wirkung auf verschiedene Organe war 
qualitativ und quantitativ die des Cholins. Durch Azetylieren der aus 
dem Darm erhaltenen Substanz und von Cholinpräparaten ließ sich 
genau die gleiche Zunahme der Wirkung erhalten. Aus dem Vorkommen 
von Cholin in der Darmwand in freiem diffusibelem Zustande in solchen 
Mengen, daß es den Auerbachschen Plexus erregen muß, kann man 
schließen, daß es eine der Bedingungen für das Zustandekommen der 
normalen Magen-Darmbewegungen ist, und wir haben darum Cholin 
als Hormon der Darmbewegung bezeichnet. 

Da der Magen-Darmkanal unter dem Einfluß des hierin normal vor- 
kommenden Cholins seine rhythmischen Bewegungen ausführt und wir 
am isolierten Dünndarm wiederholt feststellen konnten, daß durch Zusatz 
von kleinen Cholinmengen die Bewegungen beträchtlich verstärkt wer- 
den, haben wir uns die Frage gestellt, wie beim intakten Tier unter dem 
Einfluß von Cholin der Ablauf der Magen-Darmbewegungen und die 
Geschwindigkeit, womit die Nahrung die verschiedenen Abschnitte des 
Verdauunsgkanales durchläuft, beeinflußt wird. 

Die beste Methode, mit der man am intakten Tier den ungestörten Ablauf 
dieser Bewegungen studieren kann, ist das Röntgenverfahren, welches durch 
Cannon?) bei seinen Studien über die normalen Magen-Darmbewegungen und im 
Anschluß hieran vonMagnus®), Padtberg*) und anderen bei ihren Untersuchungen 
über die Wirkungsweise von Stopf- und Abführmittel angewendet und in ihren 
Arbeiten genau beschrieben wurde. Als Versuchstiere benutzten wir weibliche 
Katzen von 1,6—2,2 kg Körpergewicht. Vor dem Versuche hungerten die Tiere 
mindestens 24 Stunden lang, so daß der Magen-Darmkanal praktisch leer ist 
Sie erhielten dann am Morgen 25 ccm Kartoffelbrei und 10 g Bariumsulfat, welche 
mit Wasser zu einem Brei von geeigneter Konsistenz verrührt wurden. Die Tiere 
fraßen entweder spontan oder wurden in einer Katzenkiste mit dem Spatel ge- 
füttert. Danach blieben sie 1/,—!/, Stunde ruhig sitzen, wurden dann aufgespannt 
und durchleuchtet?). Man sieht dann den Magen im Fundus- und Pylorusteil 
stark gefüllt und kann mehr oder weniger deutliche Antrumperistaltik erkennen. 


1) J. W. Le Heux, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 1%3, 8. 1919. 


) 
) R. Magnus, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 122, 210. 1908. 

4) J. H. Padtberg, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 129, 476. 1909. 
) 

2 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. IV. 303 


Meistens zeigen leichte Schatten beginnende Füllung des Duodenums und des 
Dünndarmes an. Dieses Bild wird auf ein Stück Pauspapier möglichst genau 
abgezeichnet und die Länge der Dünndarmschatten mit einem Kurvimeter ge- 
messen. 

Nach !/, Stunde wird das Tier wieder aufgespannt und durchleuchtet; das 
Magenbild ist dann noch wenig verändert, der Fundusteil meist etwas kleiner 
geworden, die Dünndarmschatten haben an Ausdehnung zugenommen, in ihnen 
ist manchmal rhythmische Segmentierung oder Peristaltik zu sehen. 

Nach einer weiteren halben Stunde hat sich der Fundus noch weiter verkleinert, 
die Dünndarmschlingen werden meistens in der linken Bauchhälfte in größerer 
Ausdehnung sichtbar. Die Katze wird von jetzt ab in einstündigen Zwischen- 
räumen durchleuchtet. Von jeder Durchleuchtung wird eine Zeichnung gemacht, 
die Länge der Dünndarmschatten gemessen und die Zeit festgestellt, nach welcher 
der Magen praktisch leer ist, die ersten Schatten im Beginn des Kolons auftreten 
und der Inhalt zuerst im distalen Kolonteile sichtbar wird. 

Auf diese Weise wurde bei einer Anzahl von Tieren die normale Passage der 
Nahrung durch den Magen-Darmkanal festgestellt. Man bekommt ein übersicht- 
liches Bild hiervon, wenn man. 
diese Daten in Kurvenform 
bringt, wobei auf der Abseisse 
- die Zeit in Stunden nach ‘der 
Fütterung, auf der Ordinate die 
mittlere Länge der Dünndarm- 
schatten in Zentimetern auf- 
getragen wird. Durch Pfeile 
wird das erste Auftreten von 
schattengebender Substanz im 
proximalen (,) und distalen ($) 
Kolon angegeben, die horizon- 
tale Linie am unteren Rande 
entspricht der Dauer der Magen- 
füllung. Auf diese Weise erhält 
man folgendes Bild (Abb. 1 WE, 

: RE 3 4 
punktierte Linien). Stunden 

Man sieht, daß der Dünn- 
darm sich schnell füllt und im 
Mittel nach 2!/, Stunde das 
Maximum der Füllung erreicht hat, welche dann allmählich abnimmt, so daß 
nach 7 Stunden die Dünndarmschatten auf etwa !/, abgenommen haben. Der 
Magen ist ungefähr 3!/, Stunden nach der Fütterung leer. Das erste Auftreten 
von Darminhalt im Coecum wird nach 31/, Stunden sichtbar; in den darauf folgen- 
den Stunden füllt sich der Diekdarm stets mehr, und 3!/, Stunden später treten 
die ersten Schatten im distalen Kolon auf. 


Nachdem auf diese Weise die Normalkurve festgestellt war, welche mit 
den Ergebnissen von Cannon, Magnus und den übrigen Untersuchern 
im hiesigen Institut befriedigend übereinstimmte, wurde untersucht, 
wie dieses Bild sich unter dem Einfluß von Cholineinspritzungen ändert. 

Die Versuche gliedern sich in 3 Reihen, nämlich in; 

a) Versuche, in welchen das Cholin am Anfang der Verdauungs- 
periode gegeben wurde, um den Einfluß auf die Magenbewegungen, die 
Magenentleerung und die Dünndarmfüllung zu studieren; 


S 


o& 
S 


N 
SQ 


länge der Dünndarmschartter ir cm 
[8% 
S 


6 Zr 


Abb.1. - - -— Normalversuchee ——— Cholinversuche. 


304 J. W. Le Heux: 


b) Versuche, in denen ungefähr 2!/, Stunde nach der Fütterung 
Cholin eingespritzt wurde, um den Einfluß auf die Bewegungen und die 
Entleerung des Dünndarmes und die Füllung des Diekdarmes zu sehen; 

c) Versuche, in welchen Cholin erst dann eingespritzt wurde, wenn 
der ganze Nahrungsbrei in den Dickdarm übergetreten war, um eine 
etwaige Beeinflussung der Dickdarmbewegungen festzustellen. Wir 
konnten schon von vornherein vermuten, daß diese verhältnismäßig 
wenig verändert sein würden, weil bei fast allen Versuchen von Serie b 
die Kotentleerung nicht beschleunigt auftrat und Fäces von normaler 
Konsistenz entleert wurden. 

Das Cholin wurde stets intravenös eingespritzt, weil auf diese Weise das Gift 
schnell zur Wirkung kommt und wechselnde Resorptionsgeschwindigkeit das 
Resultat nicht beeinträchtigen kann. Es wurden Mengen von 4—10 mg salzsaures 
Cholin pro Tier eingespritzt, die Flüssigkeitsmenge betrug 1 cem, die Dauer der 
Injektion etwa ?/, Minuten. Diese Dosen wurden von den Tieren ohne jeden Nach- 
teil vertragen, nur manchmal trat während der Einspritzung etwas Speichelfluß 
und eine sehr schnell vorübergehende geringe Pulsverlangsamung auf. 

Die Tiere waren in genau derselben Weise vorbehandelt wie in den Normal- 
versuchen, nur wurde am Tage vorher in leichter Athernarkose eine Kanüle in 
die Vena jugularis eingeführt, welche die Tiere kaum belästigte. In einigen der 
letzten Versuche wurde direkt in die freigelegte Vena saphena eingespritzt. 


A. Versuche, in welchen Cholin kurze Zeitnach der Fütterung 
eingespritzt wurde. 


Bei den Tieren dieser Versuchsreihe wurde !/,—!/, Stunde nach der 
Fütterung die erste Röntgendurchleuchtung vorgenommen. Man sieht 
dann das normale Bild: meistens deutliche, aber nicht sehr lebhafte 
Antrumperistaltik mit geringer Dünndarmfüllung. 

Wird nun langsam Cholin eingespritzt, dann verändert sich das Bild 
in den ersten 1—2 Minuten nur wenig, hierauf tritt jedoch eine sehr 
starke Zunahme der Antrumperistaltik auf. Die peristaltischen Wellen, 
von denen unter normalen Bedingungen nur 2—3 gleichzeitig zu sehen 
sind, die etwa an der Grenze zwischen Fundus- und Pylorusteil ihren 
Anfang nehmen, werden zahlreicher, so daß häufig 4—5 Wellen gleich- 
zeitig zu sehen sind, welche viel höher im Fundusteile entstehen. Die 
Einschnürungen zwischen den einzelnen Wellen sind viel tiefer, wodurch 
der Inhalt des Pylorusteils in getrennte Ballen geschieden scheint. 

Fast ohne Ausnahme kann man jetzt in ziemlich schnell auf einandeı 
folgenden Zwischenräumen den schußweisen Übergang ins Duodenum 
sehen, was in Normalversuchen viel seltener festgestellt werden kann. 
Im Duodenum bleibt manchmal der Speisebrei einige Zeit liegen und 
wird hier einer kräftigen rhythmischen Segmentierung unterworfen, 
manchmal bleibt er nur kurz im Duodenum und wird schnell nach unten 
oder nach der anderen Seite des Bauches fortbewegt, während wieder 
neuer Mageninhalt in das Duodenum übertritt. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. IV. 305 


Auch im Dünndarme erfolgt unter dem Einfluß des Cholins eine 
deutliche Zunahme der Bewegungen. Lebhafte Pendelbewegungen rufen 
dauernd Formveränderungen des Dünndarminhaltes hervor, häufig ist 
Peristaltik zu sehen, wodurch das Bild während der Röntgendurchleuch- 
tung sich fortwährend verändert. 

Eine Stunde nach der Einspritzung ist meist noch eine deutlich 
verstärkte Bewegung des Magens und Dünndarmes zu sehen. Der 
Einfluß, welcher hierdurch auf die Passage des Nahrungsbreies durch 
den Darmkanal ausgeübt wird, ist in Abb. 1 (ausgezogene Kurve) 
zu sehen. 

Unter dem Einfluß des Cholins tritt eine geringe Beschleunigung der 
Magenentleerung auf (3 statt 31/, Stunden in den Normalversuchen). Die 
Dünndarmfüllung und vor allem die Fortbewegung durch den Darm ist 
beträchtlich beschleunigt, so daß das Maximum der Dünndarmfüllung, 
welches in den Normalversuchen 57 cm beträgt und nach 2!/, Stunde 
eintritt, in den Cholinversuchen schon nach 1!/, Stunde erreicht wird 
und lange nicht die normale Höhe erreicht. 

Sehr deutlich sieht man die starke Beschleunigung der Dünndarm- 
entleerung, wenn man den Zustand 6 Stunden nach der Fütterung in 
beiden Versuchsreihen miteinander vergleicht. Während in den Normal- 
versuchen (- ---) der Dünndarm dann noch ungefähr die Hälfte seiner 
maximalen Füllung enthält, ist in den Cholinversuchen (——) der Darm- 
nur noch in einer Länge von 5 cm gefüllt. Nach 7 Stunden ist er prak- 
tisch leer, während in den Normalversuchen dann noch etwa 15 cm 
Dünndarminhalt vorhanden ist. 

Infolgedessen ist dann auch das erste Auftreten von Schatten im 
Colon asc. deutlich beschleunigt. In den Normalversuchen ist dieses 
ungefähr 3!1/, Stunde nach der Fütterung zu sehen, während nach 
Cholineinspritzung bereits nach 2 Stunden 10 Minuten der Dickdarm 
sich zu füllen beginnt. 

Einen Versuch, in welchem die Magenentleerung anfänglich stark verzögert 
war und die Wirkung der Cholineinspritzung besonders deutlich zum Vorschein 
kam, will ich hier noch besonders beschreiben. 

Die Katze, welche sich während der Fütterung heftig gesträubt hatte, wurde 
28 Minuten später durchleuchtet. Der Magen war im Fundus und Pylorusteil 
stark gefüllt und vollständig schlaff, nur sehr geringe Antrumbewegungen waren 
zu sehen; der Dünndarm war noch vollständig leer. Unmittelbar danach wurden 
10 mg Cholin eingespritzt, ‘wobei das Tier sich ebenfalls heftig sträubte. Erst 
5 Minuten später trat lebendige Antrumperistaltik auf (5 Antrumwellen gleich- 
zeitig zu sehen), aber es war noch kein Übertritt des Speisebreies in den 
Dünndarm sichtbar. 15’ nach der Fütterung wurde wieder durchleuchtet, 
die Dünndarmfüllung betrug nunmehr 28 cm, nach 155° war dieselbe bereits 
auf 58cm gestiegen. Danach (2 30’) trat Abnahme der Dünndarmfüllung 
auf (42cm), und 3h5’ Yliach der Fütterung betrug diese nur noch 29 cm, 
während der Magen vollständig leer und eine beträchtliche Diekdarmfüllung 
eingetreten war. 

Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 190. 20 


306 J. W. Le Heux: 


B. Versuche, in welchen Cholin 2!/, bis 3 Stunden nach der 
Fütterung eingespritzt wurde. 


In dieser Versuchsreihe wurde der Einfluß der Cholineinspritzung 
untersucht, wenn der Dünndarm ungefähr seine maximale Füllung er- 
reicht hatte, der Magen noch nicht vollständig leer war und noch keine 
Diekdarmfüllung eingetreten war. 

Die erste Durchleuchtung wurde 21/, bis 3 Stunden nach der Fütte- 
rung vorgenommen, wobei sich dann also noch das normale Bild zeigte. 
Darauf wurden 4—10 mg Cholin intravenös eingespritzt, und anfangs 
wieder in halbstündigen, danach in einstündigen Pausen durchleuchtet. 

Wenige Minuten nach der Einspritzung nehmen die Bewegungen von 
Magen und Dünndarm sehr beträchtlich zu; im Magen, welcher noch 
schwach gefüllt ist, tritt deutlich verstärkte Antrumperistaltik auf, wo- 
durch der Dünndarminhalt, welcher in den Normalversuchen in diesem 
Zeitpunkte gewöhnlich schon abnimmt, jetzt zunächst wieder ansteigt, 
um sich danach um so schneller zu vermindern. 

Die Bewegungen im Dünndarme werden ebenfalls viel lebhafter, 
deutliche rhythmische Segmentierung ist zu sehen, und die meist an 
verschiedenen Stellen gleichzeitig wahrnehmbare Peristaltik führt den 
Dünndarminhalt schnell nach dem Coecum. Im Mittel 20 Minuten nach 
der Einspritzung sieht man 
die ersten Schatten im An- 
fangsteil des Kolons auf- 
treten. Bei den Normal- 
versuchen liegt dieser Zeit- 
punkt !/, Stunde später. 
Auch in diesem Falle ist 


SQ 
SQ 


oa 
Q 


darmschalten im cm 
R 
S 


4Umg 
2  Chohi 
der beschleunigte Transport N N AR 
59 "I | 
durch den Dünndarm nach _S Do 
ö Q 
dem Coecumdirektzusehen. 
Dieses wird noch deut- 970 
licher, wenn man in Abb.2 
den absteigenden Meilyder 0 : — 5 —— J 
Normalkurve mit dem der Stunden 
Cholinkurve vergleicht; der Abb.2. ------- Normalversuche.e ——— Cholinversuche. 


steilere Verlauf der letzteren 

fällt deutlich ins Auge. Die Dünndarmfüllung, welche normaliter 3 Stun- 
den nach der Fütterung 40 cm beträgt, war bei den Cholinversuchen 
43 cm, also etwas höher. 3 Stunden später, also 6 Stunden nach der 
Fütterung, ist dieses verändert, so daß die Dünndarmfüllung nun nur 
noch 11 cm statt 25 cm beträgt. Auffallend ist auch, daß die beschleunigte 
Dünndarmbewegung sich bereits ganz kurze Zeit nach der Einspritzung 
in einer, wenn auch geringen Beschleunigung der Dickdarmfüllung äußert. 


Cholin als Hormon der I)armbewegung. IV. 307 


Die Cholinwirkung tritt also auch in diesen Versuchen sehr deutlich 
zutage. Sie äußert sich vor allem in einer stark beschleunigten Dünn- 
darmentleerung und infolgedessen einer verfrühten Füllung des Dick- 
darmes. 

In einem Falle war die schnellere Füllung des Dickdarmes sehr deutlich 
sichtbar. Bei der Durchleuchtung unmittelbar nach der Cholineinspritzung trat 
plötzlich ein dicker schwarzer Fleck an der Stelle des Coecums auf, und im Laufe 
von einer Minute floß der Dünndarminhalt in breitem Strome in den Dickdarm 
hinein und füllte das Colon asc. bis zu einer Länge von etwa 4 cm mit schatten- 
gebendem Inhalt. In einem anderen Versuche, in welchem die Bewegungen an- 
fangs sehr gering gewesen waren, so daß 2 Stunden nach der Fütterung der Magen 
noch stark gefüllt, der Fundus als ein schlaffer Sack sichtbar war, und, der Dünn- 
darm nur etwa 11 cm weit gefüllt war (statt 50 ccm in der Norm), trat nach der 
Cholineinspritzung eine sehr schnelle Dünndarmfüllung auf, so daß nach wenigen 
Minuten dieser bereits in einer Länge von 26 cm gefüllt war und einige Minuten 
später die Füllung 36 cm betrug. Nach 45 Minuten war die Schattenlänge 50 cm 
und nach 2h 15° war das Colon asc. zum größten Teile gefüllt. 

Auch in dieser Verdauungsperiode tritt also nach Einspritzung von 
Cholin ein deutlicher Einfluß auf den Magen-Darmbewegungen hervor. 


©. Versuche, in denen das Cholin etwa 15 Stunden nach der. 
Fütterung eingespritzt wurde. 


In dieser Versuchsreihe, in welcher der Einfluß von Cholin auf die 
Dickdarmbewegungen studiert werden sollte, wurde gewartet, bis aller 
Darminhalt in den Diekdarm übergetreten war und dieser nahezu in 
seiner ganzen Länge gefüllt war. 

Die Katzen wurden am Abend vorher (um 6R) gefüttert. Am folgenden 
Morgen um 9% war bei der Durchleuchtung aller Inhalt in den Dickdarm über- 
getreten. 

Darauf wurden Dosen von 4—10 mg Cholin eingespritzt und danach in Ab- 
ständen von einer Stunde festgestellt, ob Diekdarmbewegungen zu sehen waren 
und eine deutliche Verschiebung des Inhaltes eintrat. 

Von Diekdarmbewegungen war in meinen Versuchen nur wenig zu 
sehen. In einem Falle war vielleicht eine geringe Antiperistaltik im An- 
fangsteile des Kolons direkt nach der Einspritzung sichtbar, in einem 
anderen Versuche wurde während der Durchleuchtung das Auftreten 
einer Einschnürung am Anfang des distalen Kolons wahrgenommen, 
aber zu deutlichen Bewegungen und sichtbaren Inhaltsverschiebungen 
kam es in keinem einzigen Falle. Stundenlang blieb das Bild nahezu 
unverändert, wobei nur eine langsame Verschiebung nach dem Rektum 
zu, gerade wie in den Normalversuchen, zu sehen war. 

Cholineinspritzungen von 4—10 mg haben also keinen direkt 
sichtbaren Einfluß auf die normalen Diekdarmbewegungen. 

Diese Feststellung wird ferner gestützt durch die Tatsache, daß nach 
‚Cholineinspritzung nur selten vorzeitige Kotentleerung auftrat. 


20* 


308 J. W. Le Heux: 


Dennoch lassen Cholineinspritzungen die Passage des Darminhaltes 
durch das proximale Kolon nicht vollständig unbeeinflußt. Betrachten 
wir hierfür Abb. 1 und 2 genauer, in welchen durch Pfeile () ,) der Zeit- 
punkt angegeben wird, wann in den Normalversuchen und den Ver- 
suchen nach Cholineinspritzung zuerst ein Schatten im Anfangsteil des 
Kolons auftritt. Die Pfeile (\,) geben den Augenblick an, in welchem 
der Dickdarminhalt in das distale Kolon übertritt. 

Während in den Normalversuchen ungefähr ein Zeitraum von 31/, 
Stunde verstreicht zwischen dem Anfang der Füllung des proximalen 
und dem des distalen Kolons, beträgt diese Zeit in den Cholinversuchen 
von Abb. 2 nur 2!/, Stunde und in denen von Abb. 1 nur 2 Stunden. 
Wir sehen also, daß unter dem Einfluß des Cholins der Darminhalt das 
proximale Kolon schneller passiert als normal. Jedoch ist diese Zeit 
nach Einspritzung von Cholinmengen, welche die Bewegungen des 
Magens und Dünndarms beträchtlich beschleunigen, immer noch länger, 
als z. B. nach Einnahme von Abführmitteln der Fall ist, wobei z. B. nach 
Kalomel !/, Stunde nach dem Übertritt von Dünndarminhalt in das 
proximale Kolon bereits Kot im distalen Kolon sichtbar wird!). In 
diesem letzteren Falle kann im proximalen Kolon keine hinreichende 
Eindickung des flüssigen Dünndarminhaltes eintreten, so daß nach 
kurzer Zeit flüssige Kotentleerung erfolgt. In den Cholinversuchen ist 
dagegen offenbar die Zeit, während welcher der Darminhalt im proxi- 
malen Kolon sich aufhält, hinreichend, um normale Kotbildung zu er- 
möglichen, so daß sich die Wirkung des Cholins scharf von der der Ab- 
führmittel unterscheidet. 

Die Ursache für diese beschleunigte Passage des Darminhaltes durch 
das proximale Kolon liegt wahrscheinlich zum Teil darin, daß durch die 
vermehrte Dünndarmperistaltik das proximale Kolon so schnell ge- 
füllt wird, daß hierdurch sein Inhalt schneller in der Richtung nach 
dem distalen Kolon passiv vorgeschoben wird. Ein direkter Einfluß 
des Cholins auf die Bewegung des proximalen Kolons läßt sich daneben 
nicht völlig ausschließen, war aber auf dem Röntgenschirme in meinen 
Versuchen und nach den verwendeten Dosen nicht sichtbar. 

Die im vorstehenden gemachten Feststellungen über die Wirkung 
des Cholins auf die normalen Magen-Darmbewegungen gewinnen noch an 
Interesse, wenn man sie mit dem vergleicht, was über die Wirkung 
von Pilocarpin und Physostigmin auf die Darmbewegungen bekannt 
geworden ist; gehören doch beide zur gleichen pharmakologischen 
Gruppe wie das Cholin. Aus den Beschreibungen, welche Katsch?) 

!)A.M.M.v.d. Willigen, Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. 186, 185. 1921. 

2) G. Katsch, Pharmakologische Einflüsse auf den Darm bei physiologischer 
Versuchsanordnung. Zeitschr. f. exp. Pathol. u. Therap. 1%, 253. 1913; Der mensch- 


liche Darm bei pharmakologischer Beeinflussung seiner Innervation. Fortschr. 
a. d. Geb. d. Röntgenstr. 21, 159. 1913. 


Cholin als Hormon der Darmbewegung. IV. 309 


von seinen Beobachtungen am Bauchfenster des Kaninchens und von 
Röntgendurchleuchtungen am Menschen gibt, folgt, daß unter der Ein- 
wirkung des Pilocarpins und Physostigmins ebenfalls eine beträchtliche 
Erregung der Magen- und Dünndarmbewegungen eintritt, daß aber 
außerdem sich das Kolon sehr stark beteiligt. Ausdrücklich macht 
aber Katsch darauf aufmerksam, daß die nach Pilocarpin- und Physo- 
stigmineinspritzung auftretenden Magen-Darmbewegungen nicht nor- 
mal sind, sondern krampfartigen Charakter zeigen. Das geht beson- 
ders deutlich auch aus den gegebenen Abbildungen hervor. Die Folge 
ist, daß der Ablauf der Magen-Darmbewegungen und infolgedessen der 
Transport der Nahrung durch den Darmkanal unter der Einwirkung 
von Pilocarpin und Physostigmin nicht in normaler, sondern in deutlich 
pathologischer Weise erfolgt. Katsch weist denn auch darauf hin, daß 
aus diesem Grunde sich Pilocarpin und Physostigmin nicht als Anregungs- 
mittel für normale Verdauungsbewegungen und als Abführmittel eignen. 

Vergleicht man hiermit die in der vorliegenden Arbeit gegebene 
Schilderung, so ergibt sich, daß die Cholinwirkung sich von der der 
beiden anderen Alkaloide beträchtlich unterscheidet. Erstens dadurch, 
daß das Cholin sehr viel weniger und jedenfalls nicht spastisch auf den 
Dickdarm wirkt, und zweitens dadurch, daß die Bewegungen des Magens 
und Dünndarmes nach den verwendeten Dosen allerdings beträchtlich 
gesteigert werden, daß aber dabei keine pathologische ‚„‚krampfartige“ 
Bewegungsformen auftreten. Die Folge ist denn auch eine deutliche 
Beschleunigung der Fortbewegungen durch die beiden ersten Abschnitte 
des Darmkanals. Sollte sich also herausstellen, daß aus irgendwelchen 
Gründen das Cholin als Arzneimittel zur Verbesserung der Magen-Darm- 
tätigkeit verwendet werden kann, so ist aus dem Wirkungstypus kein 
Gegengrund zu entnehmen; pathologische Bewegungsformen werden, 
wenigstens nach den hier verwendeten Dosen, nicht zur Beobachtung 
kommen. 


Zusammenfassung. 


- Die Ergebnisse dieser Untersuchung, in welcher der Einfluß des 
Cholins auf die normalen Magen-Darmbewegungen an der intakten Katze 
mit Röntgenstrahlen festgestellt wurde, sind folgende: 

Intravenöse Einspritzungen von 4—10 mg salzsaures Cholin, welche 
Mengen von den Katzen gut vertragen werden, üben einen deutlichen 
Einfluß auf die Magenbewegungen aus. Sie verstärken die Antrumperi- 
staltik, indem sowohl Zahl als Tiefe der gleichzeitig sichtbaren Wellen 
zunimmt. Häufig konnte der Übertritt von Mageninhalt in das Duo- 
denum gesehen werden, was bei normalen Tieren nur selten der Fall ist. 

Die verstärkte Magenmotilität verursacht eine schnellere Füllung 
.des Dünndarmes, welche eher als in den Normalversuchen ihr Maximum 


310 J. W. Le Heux: Cholin als Hormon der Darmbewegung. IV. 


erreicht. Auch das Ende der Magenentleerung liest etwas früher als in 
den Normalversuchen. | 

Am Dünndarm ist nach Cholineinspritzung eine Zunahme der Pendel- 
bewegungen zu sehen, wodurch kräftige rhythmische Segmentierung des 
Inhaltes erfolgt. Durch die ebenfalls verstärkte Peristaltik wird der 
Dünndarminhalt schneller nach unten fortbewegt, so daß eine gegen- 
über den Normalversuchen beträchtlich verfrühte Füllung des Dick- 
"darmes eintritt und der Dünndarm zu einer Zeit, in welcher er in den 
Normalversuchen noch beinahe die Hälfte seiner Maximalfüllung be- 
- sitzt, bereits fast leer ist. 

Eine sichtbare Verstärkung der Diekdanmbördenigen war nicht 
festzustellen. Dagegen trat in den Cholinversuchen ein beschleunigter 
Übergang vom Darminhalt aus dem proximalen in das distale Kolon 
auf, jedoch lange nicht in dem Maße als nach der Verabreichung von 
Abführmitteln. Die Passage des Darminhaltes durch das distale Kolon 
wird bei normalen Tieren durch die verwendeten Cholindosen nicht be- 
einflußt. 

Es zeigt sich also, daß, wenn man den Cholingehalt des Körpers um 
einen geringen Betrag erhöht, die Rolle, welche das Cholin beim Ent- 
stehen der Magen-Darmbewegungen spielt, stundenlang in beträcht- 
lichem Maße verstärkt wird, so daß die Dauer der Verdauungsperiode, 
in welcher die Nahrung vom Magen nach dem Dickdarm befördert wird, 
deutlich verkürzt wird. 

Unter der Cholinwirkung behalten die Bewegungen des Magens und 
Darmes ihren normalen Charakter bei. Von krampfartigen Zuständen 
war nichts zu sehen. Infolgedessen tritt auch einfach eine Beschleunigung 
des Transportes ohne sonstige abnorme Erscheinungen auf. 


Die physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibilisation. 


Von 
Dr. Fritz Schanz, Augerarzt in Dresden. 


(Eingegangen am 1. Juni 1921). 


Als ich die Fluorescenz der Augenlinse zum ersten Male gesehen und 
mir klar gemacht hatte, daß diese während des ganzen Lebens unter 
Einwirkung des Tageslichtes fluoresciert, so drängte sich mir die Frage 
auf, wie kommt es, daß wir in der Linse keine Veränderungen kennen, 
die durch diesen Prozeß veranlaßt werden. Es ist doch physikalisch un- 
möglich, daß ein Substrat, das während cines so langen Zeitraumes in 
so hohem Maße die Umwandlungen einer Energieform in eine andere 
vermittelt, selbst dabei unverändert bleibt. Die Prüfung dieser Frage 
zeigte dann auch, daß tatsächlich dieser Prozeß in der Linse Veränderung 
erzeugt, nur hatte man diese Veränderungen bisher nicht richtig zu 
deuten vermocht. Ich konnte zeigen, daß es infolge der Lichtabsorption 
zu einer Verhärtung des Linsenkernes kommt, die sich an jedem Auge 
im Alter von 40-50 Jahren als Altersweitsichtigkeit geltend macht. 
Geht der Prozeß weiter, so führt er zur Trübung der Linse, zum Altersstar. 

In einer Arbeit: Wirkungen des Lichts auf die lebende Sub- 
stanz (Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 161) habe ich zu zeigen 
versucht, daß das Licht in derselben Weise wie auf die Augenlinse auch 
auf das Plasma der lebenden Zelle einwirkt. In der Arbeit: Licht- 
reaktion der Eiweißkörper (Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol., 
Bd. 164) habe ich dann ausgeführt, wie sich die Veränderung, die das 
Licht an Eiweißlösungen erzeugt, durch Y'ensibilisatoren beeinflussen 
läßt. Und in der Arbeit: Biochemische Wirkungen des Lichtes 
(Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 170) habe ich darzulegen versucht, 
wie sich vermittelst Lichts alle organischen Substanzen bis auf ihre 
Moleküle und Radikale abbauen lassen. 

In der vorliegenden Untersuchung möchte ich versuchen, diese 
Vorgänge noch von der physikalischen Seite zu klären. In der Physik 
beschäftigt man sich jetzt viel mit der lichtelektrischen Zerstreuung, 
dem sog. Hallwachs-Effekt. Läßt man kurzwelliges Licht auf eine 
Metallplatte fallen, so werden aus dem Metall Elektronen herausge- 
schleudert. Legt man an die Metallplatte ein negatives Potential und 
umgibt dieselbe mit einem Drahtnetz, so kann man die herausgeschleu- 


32 F. Schanz: 


derten Elektronen auffangen und mit einem Elektrometer messen. Die 
Physiker bedienen sich solcher Untersuchungen, um das Wesen des 
Lichts weiter aufzuklären. Von Astronomen wird mit Instrumenten, die 
nach diesem Prinzip aufgebaut sind, das Licht der Sterne gemessen. 
Auch zur Messung des Lichts unserer künstlichen Lichtquellen werden 
solche Instrumente verwandt. Ich habe ein solches Instrument ge- 
braucht, um das Ultraviolett des Sonnenlichtes spektral zu vergleichen 
mit dem Licht künstlicher Lichtquellen!). 

Die lichtelektrische Zerstreuung findet sich nicht nur bei den Metallen. 
Schon Hallwachs?) hat über lichtelektrische Zerstreuung organischer 
_ Substanzen Versuche angestellt. Stoletow®), G. ©. Schmidt!) und 
Knoblauch?) haben eine große Anzahl organischer Substanzen darauf- 
hin untersucht. Besonders eingehend haben sich Stark und Steubing®) 
mit dieser Frage beschäftigt in ihrer Arbeit: Fluoresienz und licht- 
elektrische Empfindlichkeit organischer Substanzen. 

Aus theoretischen Erwägungen kamen sie unter anderem zu der 
Folgerung: „Die Fluorescenz unterhalb A 0,5 u ist begleitet von einer 
Emission negativer Elektronen.‘ Durch diese Erwägung sahen sie sich 
veranlaßt zu einer erneuten Untersuchung fluorescierender Substanzen. 
Die Resultate, die sie dabei erzielten, machen es zum mindesten sehr 
wahrscheinlich, daß wenigstens bei den organischen Substanzen der licht- 
elektrische Effekt und die Fluorescenz mit einander verknüpft sind. 
Das Eiweiß fluoresciert, von den Sensibilisatoren wird angenommen, 
daß diejenigen am wirksamsten sind, die am stärksten fluorescieren. 
Bei den biologischen Lichtwirkungen muß daher auch die lichtelektri- 
sche Zerstreuung eine Rolle spielen. Um zu prüfen, welche Rolle ihr 
dabei zukommt, unternahm ich vorliegende Untersucuhng. 


Ich habe mir dazu denselben Apparat gebaut, den Stark und Steubing 
in ihrer Arbeit abbilden. Statt des Quadrantelektrometers verwandte ich ein 
Einfadenelektrometer nach Wulf. 15 mm über der isolierten Glasplatte befand 
sich das Netz, welches die ausgeschleuderten Elektronen auffing. Die Belichtung 
erfolgte mit der ‚Quarzlampe, die sich 15 cm über dem Apparat befand. Es wurde 
eine größere Anzahl Untersuchungen bei dieser Versuchsanordnung ausgeführt. 
Die Ergebnisse waren dieselben wie bei Stark und Steubing. Bei dieser Anord- 
nung hielt es schwer, immer eine gleichgroße Oberfläche der zu belichtenden Flüssig- 
keit herzustellen. Ich hielt es daher für praktischer, statt der Glasplatten Uhr- 
schälehen zu verwenden, eintauchende Platindrähte bewerkstellisten die Ver- 
bindung mit dem Elektrometer, die Platindrähte waren so geformt, daß sie längs 
des Randes der Flüssigkeit auflagen. Sie waren angelötet an einen Kupferdraht- 
bügel, der in einen Quecksilberkontakt eintauchte. So war es möglich, nach jeder 


t) Graefes Arch. f. Ophthalmol. 103. 

?2) Hallwachs, Wied. Annalen 3%. 1889. 

3) Stoletow, Cpt. rend. des seances de la soc. de biol. 106. 1888. 
2) G. C. Schmidt, Wied. Annalen 64. 1898. 

5) Zeitschr. f. physikal. Chemie 29. 1899. 

6) Zeitschr. f. physikal. Chemie 9. 1908. 


Die physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibilisation. 313 


Untersuchung die Platindrähte herauszunehmen und zu reinigen. Über dem Netz 
war aus schwarzem Papier eine Blende angebracht, durch die garantiert war, dab 
immer eine gleichgroße Oberfläche belichtet wurde. Die Blende wurde immer so 
gelegt, daß die Platindrähte bei den Belichtungen beschattet waren. Der Abstand, 
des Drahtnetzes von der Oberfläche der zu untersuchenden Flüssigkeit wurde auf 
8 mm reduziert. Die mühsamste Arbeit bei der ganzen Untersuchung war das 
Reinigen der Uhrschälchen. Um Nachuntersuchern dieselbe zu erleichtern, möchte 
ich hier mitteilen, wie ich dabei verfahren. Aus einer größeren Serie von Uhr- 
schälchen wurden zwei ausgesucht, die den geringsten lichtelektrischen Effekt 
zeigten. Nach jeder Untersuchung geschah ihre Reinigung mechanisch in reinem 
Wasser mit zwei frischen Tupfenmullappen. Der eine diente zum Halten des 
Uhrschälchens, der andere zum Reinigen. Jede Berührung mit den Händen wurde 
bei allen Manipulationen vermieden, mit Pinzetten, von denen jede immer nur für 
ein und dieselbe Manipulation bestimmt war, wurden sie umgelegt. Zuerst 
kamen sie in salzsauren Alkokol, hierauf in destilliertes Wasser und dann in ab- 
soluten Alkohol. Getrocknet wurden sie über einer Glühlampe. Der Platindraht 
wurde nach jeder Untersuchung nach Eintauchen in salzsauren Alkohol mehrmals 
ausgeglüht. Die Uhrschälchen wurden unmittelbar vor jedem Versuch licht- 
elektrisch auf ihre Reinheit geprüft. Zeigten sich.am Elektrometer bei einer Be- 
lichtung von einer Minute ein Ausschlag von mehr als 3 Skalenteile, so wurden 
sie von neuem der Reinigung unterworfen. 


Bei Beginn des Versuches wurde das Uhrschälchen mit der zu unter- 
suchenden Flüssigkeit soweit gefüllt, daß der Rand der Flüssigkeit in 
den Schatten der Blende fiel, dann wurde der Platindraht aufgelegt und 
der Kontakt mit dem Elektrometer hergestellt. Nach genau 3 Minuten 
Belichtung wurde die erste Ablesung an dem Elektrometer vorgenommen. 
3 Minuten nach der ersten Ablesung eine zweite. Der Strom wurde ge- 
messen durch Feststellung der Zeit mittels einer Stoppuhr, die der Faden 
brauchte, um 100 Skalenteile zu. durchlaufen. Wurden die Ergebnisse 
umgerechnet und ermittelt, wieviel Skalenteile in der Sekunde vom Faden 
durchlaufen wurden, so ergaben sich folgende Werte: 


1. Ablesung 2, Ablesung 

IHluorescemaer 4,31 5,49 
OSImUn Vor E LE: 3,31 4,35 
Nein are 0,31 1,20 
Methylenplausse ne... 19,31 32,68 
Anylınsultatgesene 4,56 16,01 
Chinnemuna een 3,01 3,05 
Huch singe en 49,31 54,35 
Naphtholeelbe Pre: 0,61 1,0 
Naphtholsehwarz .. .. .. all 1,18 
Chlorophyll (Gehe) .... . . 24,31 27,94 
Sulfocyanına a2 2.2.20, 22100.0 

Avosäureblaus sr >00‘ 

Chryeidine 2, 202 102.2 020351000, 

ikürkısplaune en el 
Neredinorange 2.2222. .22°°>221000 

IERIecaSB extra >00‘ 

Janusblauf . . . . 2... 2.0... > 100,0 


Dıamımnrote a 31,25 45,46 


314 F. Schanz: 


i 1.Ablesung - 2. Ablesung 

Diamnsrunae nr ee 31,25. 45,46 
Aura De 83,33 > 100,0 

Hichtrot Asa et ee 11,63 222 
Oxammyıeletan ner 20,00 25,00 
Dianilcelpe ann a Por 20,00 IR 
Chieasoblauss 6,76 9,80 
Tartracıns ee 0,15 0,25 


Wie diese Tabelle zeigt, ergaben alle diese Farbstoffe einen deut- 
lichen lichtelektrischen Effekt. Die Konzentration der Farbstoffe war 
beliebig gewählt, sie waren in doppelt und selbst destillierten Wasser 
gelöst, da 2 aus der Apotheke bezogene Proben dest. Wassers deutlich 
lichtelektrische Zerstreuung zeigten. Bei einem Teil der Farbstoffe 
durchlief der Faden im Elektrometer in weniger als 1 Sekunde die ganze 
Skala. Bei Farbstoffen, bei denen sich meßbare Geschwindigkeiten fan- 
den, nahm der lichtelektrische Effekt mit der Belichtungszeit zu. Darum 
war es notwendig, Ablesungen immer nach genau gemessenen Belichtungs- 
zeiten vorzunehmen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung decken sich mit 
denjenigen früherer Forscher. Es erschien daher nicht erforderlich, die 
Serie noch weiter auszudehnen. 

Die früheren Forscher hatten auch Stoffe gefunden, die keinen licht- 
elektrischen Effekt lieferten. Vor allem sind es Stoffe, die leicht ver- 
dampfen: Ich habe :Alkohol, Aceton, Benzin, Xylol, Äther darauf mitdem 
gleichen negativen Ergebnis geprüft. Die Dampfschicht, die sich bei der 
Belichtung über solchen Substanzen bildet, verhindert augenscheinlich 
die Wahrnehmung des lichtelektrischen Effektes. Auch Oberflächen- 
wirkungen können in gleicher Weise wirken. Beim übermangansauren 
Kali fehlt bei dieser Versuchsanordnung der Effekt. Dies ist schon 
von früheren Forschern festgestellt und darauf aufmerksam gemacht 
worden, daß die lichtelektrische Zerstreuung mit der Oxydation zusam- 
menhängt (Knoblauch). Der Umstand, daß bei einer Reihe von Sub- 
stanzen der lichtelektrische Effekt nicht festzustellen war, beweist nicht, 
daß bei diesen Substanzen derselbe fehlt. Es gibt eben Umstände, die 
diesen verdecken, und deren Klärung erst noch des weiteren Studiums 
bedarf. 

Zu einer besonderen Untersuchung wurde noch das elementarste Pigment, 
der Ruß, verwandt. Ein Uhrschälchen wurde über der Flamme einer Paraffinkerze 
mit einer dicken Rußschicht überzogen und dann in gleicher Weise wie die oben 
angegebenen Farbstofflösungen der Prüfung unterzogen. In weniger als einer 
Sekunde hatte der Faden des Elektrometers 100 Skalenteile durchlaufen. Die 
Reaktion war intensiver als bei allen oben geprüften Farbstofflösungen. Es kann 
dahingestellt bleiben, ob es die absorbierten Gase, Verunreinigungen oder der 
Kohlenstoff selbst ist, von dem die Elektronen stammen. Wie noch später gezeigt 
werden wird, ist der lichtelektrische Effekt der Ausdruck von chemischen Ver- 


änderungen, die in der belichteten Substanz auftreten. Darum kommt der Fest- 
stellung, daß Ruß eine sehr intensive lichtelektrische Zerstreuung zeigt, eine 


Die physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibilisation. 315 


besondere Bedeutung zu. In der Physik ist es üblich, Energiemessungen mittels 
der Thermosäule auszuführen. Diese Messungen haben zur Voraussetzung, daß 
die auffallende Energie im Ruß gleichmäßig in Wärme umgesetzt wird. Das ist 
nach obiger Feststellung nicht zutreffend. Man kann daher die im Ultraviolett 
gemessene Energie nicht mit der am roten Ende des Spektrums gemessenen in 
Vergleich stellen!). 

Die Resultate dieser Untersuchung decken sich mit denen von Stark 
und Steubing und den früheren Forschern. Um zu prüfen, wie das 
Quarzlicht auf die Substanzen wirkt, wenn man ihm durch ein Glasfilter 
bestimmte Spektralteile entzieht, brachte ich zwischen Quarzlampe und 
der zu untersuchenden Substanz eine Glasplatte von 1 mm Dicke. Mit 
einem Schlag stand der Faden im Elektrometer. Bei allen Substanzen, 
die ich untersuchte, fand sich dasselbe Resultat. Wurde ein Stück 
schwarzes Papier statt der Glasplatte in den Strahlengang gebracht, so 
ging der Faden im Elektrometer immer langsam zurück. Die Aufladung 
am Elektrometer wurde infolge Isolationsmängel geringer, wenn gar kein 
Licht zur untersuchenden Substanz gelangen konnte. Daß sich bei Vor- 
. schaltung des Glases die Aufladung hielt, ist ein Beweis, daß von den 
Strahlen von mehr als A 300 wu. immer noch eine geringe lichtelektrische 
Zerstreuung veranlaßt wurde. Dieser Versuch zeigt daher, daß die 
lichtelektrische Zerstreuung zunimmt, je kürzer die Wellen des erregen- 
den Lichtes. Es ist dieselbe Erscheinung wie bei den photochemischen 
Vorgängen. Nach der sichtbaren Fluorescenz zu urteilen, hatte ich von 
den Strahlen von mehr als A 300 u eine höhere lichtelektrische Zer- 
streuung erwartet. Ich hatte erwartet, daß Stoffe, die eine lebhafte Fluor- 
escenz dem Auge bieten, auch einen erhöhten lichtelektrischen Effekt 
zeigen würden. Das war nicht festzustellen. Zu bedenken ist dabei, daß 
nur ein Teil der Fluorescenz sichtbar ist. Von dem Fluorescenzlicht gehört 
sicher ein erheblicher Teil der Strahlen in das Ultraviolett und entzieht 
sich unserer direkten Beobachtung. Bei den Metallen ist erwiesen, daß 
sich die Grenze, an der die lichtelektrische Zerstreuung beginnt, in ver- 


!) Von dieser Erwägung ausgehend, habe ich in meiner Arbeit: Der Gehalt 
des Lichtes an Ultraviolett (Graefes Arch. f. Ophthalmol. 103) absichtlich 
unterlassen, die mit dem Demberschen Photometer im Ultraviolett gemessene 
Energie auf Grund der Messungen mittels der Thermosäule in absolute Energie 
umzurechnen. Das hat den Physiker Prof. Dorno, der sich in Davos viel mit 
der Physik der Sonnenstrahlung befaßt, veranlaßt, mir in einer Erwiderung (Graefes 
Arch. f. Ophthalmol. 104) eine Belehrung zu erteilen. Er bezieht sich dabei auch 
auf die calorimetrischen Messungen der Sonnenenergie, die am Weltmusterinstitut, 
dem Astrophysical Observatory of the Smithsonion Institution der Vereinigten 
Staaten ausgeführt werden. Er zitiert auch in seinen Arbeiten vielfach die dort 
gewonnenen Kurven. Diese Kurven geben ebenso wie seine eigenen Unter- 
suchungen ein falsches Bild über die Energieverteilung im Sonnenlicht. Dorno 
meint, daß der Arzt hierin an die Feststellung des Physikers gebunden sei. Ich 
bin der Ansicht, daß Hier das Auge des Arztes besser gemessen als Dorno und 
“die Physiker des Weltmusterinstituts mit ihren Instrumenten. 


316 F. Schanz: 


schiedenen Wellenlängenbereichen liegt. Daß sich bei mir die lichtelek- 
trische Zerstreuung bis zu der Wellenlänge von 4 300 wu immer gleich 
erschien, halte ich für einen Mangel meiner Versuchsanordnung. Die 
Physiker bedienen sich zu ihren Untersuchungen an den Metallen 
feinerer Methoden. Sie bringen dabei die Metalle in einen evakuierten 
oder mit besonders reinen Gasen gefüllten Raum. Mir bietet sich nicht 
die Möglichkeit, solche Versuche feiner durchzubilden, für die nach- 
folgenden Betrachtungen genügen auch die bereits vorliegenden Fest- 
stellungen. 


Wir können uns bereits jetzt die Frage vorlegen: Wie wirkt das Licht auf die 
Materie ? 

Das Lichö wirkt nur auf die Stoffe, von denen es absorbiert wird. Die Ab- 
sorption ist abhängig vom chemischen Aufbau der Stoffe. Von diesem wird es 
auch abhängen, ob die Lichtstrahlen in den Stoffen nur die Schwingungen der 
Moleküle erhöhen oder in deren Inneres eindringen. Die Strahlen jenseits von Rot 
scheinen nur die Schwingungen der Moleküle zu erhöhen und daher nur thermische 
Wirkungen hervorzubringen. Im sichtbaren Spektralteil sehen wir am augen- 
fälligsten, wie ungleich die Absorption des Lichtes erfolgt. Nur die zu der Farbe 
der Stoffe komplementären Strahlen werden von ihnen absorbiert. Zu den ther- 
mischen Wirkungen gesellen sich chemische, und je kurzwelliger die Strahlen 
werden, desto mehr steigert sich ihre chemische Wirksamkeit. Durch die Strahlen 
im äußeren Ultraviolett werden viele Stoffe rasch zerstört. Stark und Steubing 
bemerken ausdrücklich, daß schon während der kurzen Belichtungszeit an der 
Oberfläche mancher Stoffe Farbenwechsel zu erkennen war. In meiner Arbeit: 
Biochemische Wirkungen des Lichts, habe ich zu zeigen versucht, daß sich alle 
organischen Substanzen im Licht bis auf ihre Elemente und Radikale abbauen 
lassen. 

Mit den Veränderungen, die das Licht am Molekül erzeugt, sind aber auch 
Energieausstrahlungen verknüpft. Die Strahlen, die als Wärme wirken, erzeugen. 
wieder eine Wärmestrahlung. Die Strahlen, die chemisch wirken, erzeugen Flu- 
orescenz und lichtelektrische Zerstreuung. Bei der Fluorescenz und der licht- 
elektrischen Zerstreuung handelt es sich um Loslösung von negativen Elektronen. 
Bei der Fluorescenz fallen nach den jetzt geltenden Anschauungen die Elek- 
tronen wieder in das: Molekül zurück. Dabei erzeugen sie elektromagnetische 
Störungen, die als Fluorescenz sich bemerkbar machen. Sie gelangen bei dieser 
Umlagerung nicht wieder an dieselbe Stelle im Molekül, durch ihre veränderte 
Lagerung, verändert sich das Gefüge des Moleküls und schließlich sehen wir an 
demselben chemische Umwandlungen auftreten. Bei der lichtelektrischen Zer- 
streuung handelt es sich um denselben Prozeß, nur erfolgt die Loslösung der 
negativen Elektronen so energisch, daß sie nicht auf das Molekül zurückfallen 
können. Bei der Versuchsanordnung, wie sie Stark und Steubing getroffen, 
und wie ich sie nachgeprüft habe, wurden die Elektronen 15 mm weit aus der 
Subs tanz herausgeschleudert. Das bedingt rasche Umwandlungen im Aufbau 
des Moleküls. Der Umstand, daß wir im sichtbaren Spektralteil vielfach bei 
der Lichtabsorption keine Fluorescenz auftreten sehen, dürfte nichts an dieser 
Anschauung ändern, denn wir sind berechtigt anzunehmen, daß sie sich in solchen 
Fällen infolge des langsamen Verlaufes des chemischen Vorgangs unserer Be- 
obachtung entzieht. Daß auch dort mit der Lichtabsorption chemische Ver- 
änderungen verknüpft sind, ersehen wir daran, daß sich bei solchen Stoffen mit 
der Zeit das Lichtabsorptionsvermögen verändert. Sie verschießen. 


Die physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibilisation. 317 


Diese Betrachtungen haben uns gelehrt, daß der Lichtstrahl, der in ein Molekül 
eindringt, auch eine Ausstrahlung von Energie veranlaßt, und es ist nichts auf- 
fälliges, wenn die ausstrahlende Energie auf benachbarte Moleküle einwirkt, die 
“dieses Licht nicht zu absorbieren vermögen. Da die Veränderungen des absor- 
bierenden Moleküls chemischer Natur sind, so würde schon die Erhaltung des 
chemischen Gleichgewichtes Veränderungen am Nachbarmolekül erheischen. 
Aber das ist nicht der einzige Weg. In dem lichtabsorbierenden Molekül wird 
Fluorescenz und. lichtelektrische Zerstreuung ausgelöst. Das Fluorescenzlicht 
kann auf das Nachbarmolekül wirksam werden, während das erregende Licht 
nicht in dessen Struktur einzudringen vermag. Da, wo lichtelektrische Zerstreuung 
mit der Fluorescenz verknüpft ist, werden die aus dem lichtabsorbierenden Molekül 
herausgeschleuderten Elektronen von dem Nachbarmolekül aufgefangen. Auf 
diesem Weg können Lichtstrahlen Moleküle verändern, die das Licht direkt 
gar nicht zu absorbieren vermögen. Wir sehen hier den elementarsten Vorgang 
der optischen Sensibilisation. 


Ich habe die optische Sensibilisation an Eiweißlösungen eingehender 
studiert. Dialysierte Eiweißlösungen beginnen in Blau und Violett zu 
absorbieren und ihr Absorptionsvermögen wird besonders hoch im 
 Ultraviolett. Unter Einwirkung dieser Strahlen fluorescieren diese 
Lösungen und nur die Strahlen, die diese Fluorescenz erzeugen, sind im- 
stande, die von mir festgestellten Veränderungen zu erzeugen. Setzt 
man der Eiweißlösung Eosin oder einen anderen Farbstoff zu, der von 
ihr absorbiert wird, so wird die Lichtwirkung auf die Eiweißlösung er- 
höht. Es werden jetzt noch diejenigen sichtbaren Strahlen wirksam, 
die der Farbstoff absorbiert. Das von dem absorbierenden Molekül des 
Sensibilisators ausstrahlende Fluorescenzlicht bedingt in den Sensibili 
sationsversuchen, wie ich und viele andere sie ausgeführt haben, nicht 
die Veränderung an dem Eiweißmolekül, denn die Strahlen des Fluores- 
cenzlichtes waren, da meist mit Tageslicht bestrahlt wurde, auch im ein- 
fallenden Licht enthalten und in diesem auf die Eiweißmoleküle wir- 
kungslos. Es bleibt daher nur die Erklärung: Die aus dem Sensibili- 
sator herausgeschleuderten Elektronen werden von den 
benachbarten Eiweißmolekülen aufgefangen und verändern 
deren Gefüge. Diese Anschauung hat zur Voraussetzung, das mit der 
Fluorescenz immer auch lichtelektrische Zerstreuung verknüpft ist. 
Sollte dies nicht der Fall sein, sollte es Fluores enz auch ohne lichtelek- 
trische Zerstreuung geben, so würde diese Erklärung doch berechtigt 
sein. Bei der optischen Sensibilisation sind die Moleküle des Sensibili- 
sators mit dem Stoff, der sensibilisiert wird, eng verknüpft, sie sind ad- 
sorbiert. Bei dieser engen Verknüpfung der beiden Moleküle wäre ein 
Übertritt der Elektronen denkbar, die bei isolierter Belichtung auf das 
Molekül des Sensibilisators wieder zurückfallen. 

Zur Klärung dieser Frage habe ich eine Reihe von Versuchen aus- 
geführt. Zunächst wurde eine Lösung von Hühnereiweiß, wie ich sie 
bei meinen früheren Sensibilisationsversuchen verwandt, hergestellt und 


318 F. Schanz: 


auf ihre lichtelektrische Zerstreuung in derselben Weise wie die oben 
angeführten Farbstoffe geprüft. Es wurden nach je 3 Minuten Belich- 
tung 4 Ablesungen vorgenommen. In der Sekunde wurden bei der 

1. Ablesung 3,23 Skalenteile 


> DE 1,39 „ 
3. ir 1,18 2 
4. 45 Van aa, 


vom Faden im Elektrometer durchlaufen. Es zeigte sich hier ein Unter- 
schied mit den Ergebnissen bei den oben untersuchten Farbstoffen. Bei 
diesen nahm die lichtelektrische Zerstreuung mit der Dauer der Belich- 
tung zu, hier zeigte sich auch bei Wiederholung ganz gleichmäßig mit der 
Dauer der Belichtung eine deutliche Abnahme. Die Erklärung dieses 
Befundes entnehme ich meinen früheren Versuchen. In jenen Arbeiten 
habe ich gezeigt, daß sich unter Einwirkung von Licht aus leichtlös- 
lichen schwerer lösliche Eiweißkörper bilden. Diese Umwandlung der 
Eiweißkörper macht sich hier an der Oberfläche der Eiweißlösung gel- 
tend. Diese Verdichtung vermindert die lichtelektrische Zerstreuung. 

Um zu prüfen, ob bei der optischen Sensibilisation aus den Sensibili- 
satoren herausgeschleuderten Elektronen tatsächlich von den Eiweiß- 
körpern zurückgehalten werden, wurden weitere Versuche vorgenom- 
men. Es wurden von derartigen Farbstoffen Lösungen hergestellt. In 
dem einen Röhrchen wurden sie mit gleichen Teilen Wasser verdünnt, 
im anderen mit derselben Menge jener Eiweißlösung. Es wurde zunächst 
der mit Wasser, dann der mit der Eiweißlösung verdünnte Farbstoff in 
der angegebenen Weise auf die lichtelektrische Zerstreuung geprüft. 
Das Ergebnis war folgendes: 


1. Ablesung 2. Ablesung 
IHluoreseme SER ORE I 2,86 4,17 
Fluoresein + Eiweiß .... 2,63 2,38 
Huchsin 17ER Or 2 2291000 > 100,0 
Fuchsin + Eiweiß. . .... 40,0 39,0 
Azokuchsins- 1 SE Orr 1000 > 100,0 
Azofuchsin + Eiweiß . ... 0,96 0,93 
Phloxine SHE One 15,39 18,18 
Phloxin ZBiweiß. :. . ... 11,11 10,0 
Chinin. mur. +H,0 .... 4,0 4,76 
Chinin. mur. + Eiweiß ... 2,32 2,08 
Azeosin 17H, ON. 33,02 60,0 
Azeosin + Eiweiß. ..... Ju ıtıl 10,0 
Methylenblau + H,O ..... > 100,0 > 100,0 
Methylenblau + Eiweiß . . . 7,70 9,09 
Optochin. mur. +H,0 ... 8,33 10,0 
Optochin. mur. + Eiweiß . . 328 BAHy/ 
Bosın? HE OR 1,18 2,33 


Bosn -Bnıweibies ne 6,06 5,26 


Die physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibilisation. 319 


Diese Aufstellung zeigt, daß bei allen Farbstoffen, die mit H,O ver- 
dünnt waren, die lichtelektrische Zerstreuung mit der Dauer der Be- 
lichtungzunahm. Bei allen Farbstoffen war durch den Zusatz der Eiweiß- 
lösung der lichtelektrische Effekt vermindert und die lichtelektrische 
Zerstreuung nahm bei einigen Farbstofflösungen in Eiweiß ab, bei anderen 
etwas zu. Es dürfte dies an der verschiedenen Konzentration der Farb- 
stoffe liegen. Eine Verzögerung war augenscheinlich auch dabei durch 
den Zusatz der Eiweißlösung bedingt. 

Eine auffallende Abweichung bot das Eosin. Bei der deutlichen Fluo- 
rescenz hatte ich einen viel höheren lichtelektrischen Effekt erwartet 
und bei Zusatz von Eiweiß war die lichtelektrische Zerstreuung größer 
als bei Zusatz von Wasser. Nochmalige Untersuchungen ergaben das- 
selbe Resultat. Ich vermute, daß bei dem Eosin Oberflächenverände- 
rungen das abweichende Verhalten bedingen. 

Ich habe daran gedacht, daß der hohe Bromgehalt des Eosins dabei eine Rolle 
spielt und habe Bromkali auf seine lichtelektrische Zerstreuung untersucht, an 
demselben war kein lichtelektrischer Effekt festzustellen. Ich habe dann auch 

“einer Eiweißlösung Bromkali zugesetzt und nun geprüft, wie das Bromkali die 


lichtelektrische Zerstreuung der Eiweißlösung beeinflußt. Es wurden 4 Ablesungen 
vorgenommen: 


1. Abl. 2. Abl. 3. Abl. 4. Abl. 
Diwelße 2.1, 072 85 1,41 1,21 1, 
Eiweiß ISBr) 2 2227220221556 1,16 0,98 0,91 


Der Versuch zeigt deutlich, daß die lichtelektrische Zertreuung der Eiweißlösung 
durch KBr vermindert wird. Ob sich daraus die eigentümlichen Verhältnisse bei 
der Eosinlösung erklären lassen, müssen weitere Untersuchungen ergeben. 

Nach diesen Untersuchungen halte ich es für erwiesen, daß die aus 
dem Sensibilisator herausgeschleuderten Elektronen bei der optischen 
Sensibilisation von den Eiweißkörpern aufgefangen werden und an 
diesem die beobachteten Veränderungen erzeugen. 

So erkläre ich mir den Sensibilitätsvorgang, wie ich ihn am leblosen 
Eiweiß studiert habe. Die optische Sensibilisation bei Tier und Pflanze, 
von der Amoebe bis herauf zum Menschen beruht meiner Ansicht nach 
auf diesem Vorgang. 

Sehr lehrreich sind hier die Versuche Hertels!). Er hat Seeigeleier künstlich 
befruchtet. Ditfuses Tageslicht hatte auf den Zellteilungsprozeß keinen Einfluß, 
es zeigte sich aber eine deutliche Verzögerung der Furchungsphasen, wenn in 
Eosinwasser belichtet wurde. Setzte er die Eier der Einwirkung von grünem 
Licht von 4 523 uu aus, so hatte dieses Licht auf den Zellteilungsprozeß nur dann 
einen erheblichen Einfluß, wenn dem Seewasser etwas Eosin zugesetzt war. Ferner 
belichtete er Aufschwemmungen von Bakterien und Paramäcien mit spektral 
zerlegtem Licht. In der einen Versuchsreihe war kein Farbstoff, bei den anderen 
sehr schwache Eosin- und Erythrosinlösung zugesetzt. Die Eosinlösung absorbierte 
das Licht zwischen 4 535 bis 470 uu, die Erythrosinlösung von / 525 bis 485 au. 
Zur Belichtung verwandte er Licht von 4 518 wu und von 4448 uu. An den un- 


= 7 Aeitsche. 2 alles Physiol 4 ur >: 


320 F. Schanz: Die physikalischen Vorgänge bei der optischen Sensibilisation. 


gefärbten Aufschwemmungen waren mit beiden Lichtarten nach halbstündiger 
Belichtung keine Veränderungen festzustellen, an den gefärbten Aufschwemmungen 
aber wurde mit dem Licht von / 518 «u, das von beiden Farbstoffen absorbiert 
wurde, in der Zeit von 1—3 Minuten der Tod der Organismen bewirkt, während 
das Licht von / 448 uu, das von den Farbstoffen nicht absorbiert wurde, wirkungslos 
blieb. Bei diesen Versuchen wurde das zur Belichtung verwandte Licht nur von 
den Molekülen des Farbstoffes absorbiert. Von diesen Molekülen muß der Reiz 
ausgegangen sein, der das Zellplasma der Organismen so veränderte, daß in kürzester 
Zeit ihr Tod eintrat. Diese Versuche dürften zeigen, wie rasch und wie intensiv 
auf diesem Weg das Licht auf das Zellplasma einzuwirken vermag, das gar nicht 
imstande ist, dieses Licht zu absorbieren. Wie ich oben ausgeführt, können es 
nur die Elektronen sein, die das einfallende Licht aus den Molekülen des Sensi- 
bilisators herausschleudern und diese Veränderung bewirken. 


Autorenverzeichnis. 


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