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Philologie und
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Philolooie und Schulreform.
Festrede
im Namen
der Georg- Augusts -Universität
zur
Akadeiiiisclieii Preisverteilung
am 1. Jimi 1892
gehalten von
U. von Wilamowitz - Moellendorflf,
Zweiter Abdruck.
Gröttingen,
Dieterich'sclie Uiiiversitäts - Buchhandlung
(L. Horstmann).
Philologie und Schulreform.
Festrede
im Namen
der Georg-Angnsts-Universität
Akademischen Preisverteilung
am 1. Juni 1892
gehalten von
U. von Wilamowitz-Moellendorfif,
d. z. Prorektor.
Zweiter Abdruck.
Gröttingen,
Dieterich'sche Universitäts - Buchhandlung
(L. Horstmanu).
1%
9 fl-7 0 0 h
Hochansehnliclie Yersammlung !
Wenn ein Philologe in diesem Jahre an dieser
Stelle zu reden berufen ist, so begegnet er der
Erwartung , dass er sich über die Revolution äus-
sere, die jüngst den Lehrplan der höheren Knaben-
schulen betroffen hat. Vollzogen ist die Revo-
lution schliesslich einfach durch eine Ministerial-
verfügung; denn die Executive ist bei uns zu so
einschneidenden Massregeln berechtigt und berufen:
aber sie hat sich dazu doch erst entschlossen unter
einem starken Drucke der s. g. öffentlichen Mei-
nung, und man wird nicht bestreiten können, dass
diese, so weit ihre Stimmen auch sonst auseinander-
gehen, darin ihre Hauptforderung erfüllt sieht,
dass das Latein aus seiner beherrschenden Stel-
lung verdrängt, das Grriechische noch weiter be-
schränkt ist. Da liegt es nahe, dass jemand, der
Anm. In diesem Abdrucke habe ich einige Sätze wieder
eingefügt , die ich mit Rücksicht auf die zugemessene Zeit
nicht gesprochen hatte und demgemäss in dem officiellen
Drucke unterdrücken musste.
1*
diese Spraclien an der Universität lelirt und über
die wissenschaftliche Lehrbefähigung der Schul-
amtskandidaten für diese Fächer entscheidet, sich
zu den Neuerungen äussere. Um so näher liegt
das , weil bei der Vorbereitung dieser Revolution
zwar — ich will gar nicht sagen, wer, alles um
seine Meinung und Mitwirkung ersucht ist, aber
kein Philologe von Beruf. Dies Mistrauen gegen
uns ist schon von älterem Datum , und die öffent-
liche Meinung ist auch mit ihm ganz einverstan-
den. "Wir stehen nun einmal in dem Verdachte,
dass wir die Scheuklappen unserer Fachbildung
abzulegen unfähig seien , eingefleischte Pedanten,
grau und veraltet wie das Altertum, in dem wir
leben. An dieser Stelle brauche ich mich am we-
nigsten um die öffentliche Meinung zu kümmern;
aber ich verzichte darauf, über die Jugendbildung
vom allgemeinen Standpunkte aus, der allein be-
rechtigt ist, reden zu wollen : es erscheint mir an-
gemessen, nun einmal von dem auszugehen, was
Dank unserem fachmässigen Sachverständnisse wir
Philologen wissen müssen, wir allein beurteilen
können.
Welche Kenntnisse im Griechischen und Latei-
nischen bringen die Studenten noch von der Schule
mit? Sie bringen das Reifezeugnis mit; offiziell
sind ihnen also die Kenntnisse verbrieft, welche
reglementarisch für die Reife gefordert sind. Aber
sie besitzen diese Kenntnisse in "Wirklichkeit clurch-
ans nicht mehi*. Die Fähigkeit des Verständnisses
beider Sprachen ist seit Jahren stetig herunterge-
gangen. Der 'Primaner, der angeblich den Tacitus
und Sophokles mit Verständnis gelesen hat , tritt
unmittelbar in unser Proseminar herüber und über-
zeugt sich bald, dass der ganze Zuschnitt der
Uebungen von der Voraussetzung ausgeht, dass er
jeden noch so leichten Schriftsteller , der gerade
behandelt wird , zunächst nicht versteht. Eben
mit Rücksicht auf die tatsächlich vorhandenen Vor-
kenntnisse habe ich den Uebungen allmählich diesen
Zuschnitt gegeben , und erst seit ich dahin ge-
kommen bin, keinem Ankömmling keine Unwissen-
heit irgend zu verübeln, sondern ruhig die Endun-
gen des Plusquamperfectums , die Bedingungssätze
und die Cäsuren des Hexameters zu erklären,
machen mir die Stunden wieder Freude , und die
tätige Teilnahme der Studierenden ist seitdem un-
zweifelhaft gewachsen. Meine Erfahrungen er-
strecken sich über 17 Jahre, über viele Personen,
die von vielen Schulen der verschiedensten Gegen-
den stammen. Ich zweifle nicht, dass meine Col-
legen dasselbe bezeugen können; am wenigsten
aber fürchte ich Widerspruch von seiten derer,
die es an sich selbst erfahren haben, und die es
manche Stunde harter Arbeit gekostet hat, das
fehlende nachzuholen. Wir machen nicht viel
6
Redensarten mit einander , ■ aber es wäre undank-
bar, wenn ich heute hier meinen lieben Schülern
nicht meinen Dank aussprechen wollte für all die
herzliche Freude, die sie mir bereitet haben durch
ihre hingebende Liebe zur Arbeit und zur Wissen-
schaft. Dass sie zunächst den Glauben verlieren
mussten, sie wüssten etwas ordentliches, war ja
nicht ihre Schuld, auch nicht die ihrer Lehrer oder
Schulen-, überhaupt keines einzelnen Menschen
Schuld. Die Verhältnisse sind eben stärker als
die Menschen. Wenn sich die Forderungen , die
auf dem geduldigen Papiere stehn , wirklich nicht
mehr erfüllen lassen, dann muss man sich wol
oder übel mit einer Fiction behelfen. Gewiss giebt
es noch besonders bevorzugte Schulen , besonders
begabte Lehrer und Schüler : aber im allgemeinen
werden bereits jetzt dier Ziele des Unterrichtes im
Lateinischen und Griechischen nur noch durch eine
Fiction erreicht. Die Lehrpläne von 1892 haben
die Forderungen nicht wesentlich herabgesetzt: es
sollen noch immer ziemlich dieselben Schriftsteller
gelesen werden. Was zu deren Verständnis nötig
ist, das ist einmal nötig: keine Macht der Welt
kann etwas davon abdingen. Folglich wird auch
keine Macht der Welt das mit stark verkürzter
Arbeitszeit beschaffen, was jetzt schon nicht be-
schafft wird.
Die Hoffnung auf neue Methoden soll doch wol
nicht über das Elementare hinaus gelten. Die
Sprachkenntnis, die ein Portier in einem Schweizer
Hotel braucht, kann mau eintrichtern, und da mag
eine neue Methode ein par Lectionen sparen; aber
um die lebendige Rede eines Piaton oder Montes-
quieu oder- Goethe zu vergtehn , muss man sich
ihrer Sprache geistig bemächtigt haben, und in
die Seele reicht kein Nürnberger Trichter.
Vollends die Vereinfachung des Lernstoffes,
was soll das heissen? Wenn ein neues Exercier-
reglement den Griff 'Gewehr auf nicht mehr für
nötig hält, um dem Recruten Zucht, Haltung und
Aufmerksamkeit anzuerziehen, deren er bedarf, um
Soldat zu werden, gut: dann wird der Griff ab-
geschafft, er existirt nicht mehr, die ßecruten
praesentiren von 'Gewehr über', und werden darum
nicht minder stramme Soldaten werden. Ohne
Zweifel hat der Lehrplan die Macht, so und so
viele Tatsachen der Grammatik aus dem Unter-
richte zu verbannen: aber die Tatsachen kann er
nicht abschaffen. Es wäre gewiss für unsere Jun-
gen viel bequemer , wenn Homer nicht so entsetz-
lich reich an gleichberechtigten "Wortformen wäre:
aber so lange man Homer lesen will, hilft es
nichts, die Jungen müssen sie lernen.
Schwimmen lernt man im Wasser, reiten auf
dem Pferde, eine Sprache durch sprechen. Sprechen
aber lernt man in jeder gebildeten Rede, seit es
eine Schrift gibt, mit der Feder, nicht mit dem
Munde. Nur indem man die Gedanken aus dem
vertrauten heimischen Kleide herausnimmt und in
das der fremden Sprache kleidet, lernt man in
dieser denken. Das aber muss man können, wenn
man verstehn will, was ein anderer in dieser
Sprache gedacht und gesprochen hat. Wer das
umgekehrt machen will, der zäumt das Pferd von
hinten auf und wird höchstens reiten lernen, wie
der Abt von St. Gallen es sollte.
Ohne Bilder gesprochen, aber ohne Illusionen,
ruhig und ehrlich. Die Ziele, die sich der Unter-
richt auf der Schule noch immer steckt, werden
nicht erreicht und können beim besten "Willen
unter den jetzigen Verhältnissen nicht erreicht
werden. Es ist ein wichtiges Moment in dem An-
sturm gegen die beiden Sprachen gewesen, dass
sehr viele Männer sich bewus'st waren, die Schule
hätte ihnen für die grosse Mühe, die die Sprachen
ihnen verursachten, keinen entsprechenden Lohn
gebracht. Wenn man nicht bestreiten kann, dass
diese Empfindungen vielfach berechtigt waren : wie
viel stärker müssen sie werden, nachdem die
Schule gezwungen ist, noch viel weniger zu leisten.
Eine Weile mag man sich und andere ja damit
täuschen, dass man die Früchte durch paedago-
gische Hexereien billiger beschaffen werde; aber
in dem Augenblicke, wo die Wahi-heit an den Tag
kommt, dass es nur unreife Früchte sein können,
oder vielmehr Früchte , die faulen , ehe man sie
bricht , wird sich ein noch viel stärkerer Sturm
erheben, und die unerbittliche Consequenz wird
und muss dann eine ehrliche Entscheidung erzwin-
gen. Was kann uns jener Tag anderes bringen
als Abschaffung des Grriechischen und Beschrän-
kung des Lateinischen auf einen elementaren
Sprachunterricht ?
Mir schwebt der Wunsch auf der Lippe: möge
dieser Tag bald kommen. Aber wenn ich ihn aus-
sprechen will, so hemmt die Erinnerung an meine
eigene Schule, an meine eigenen lieben Lehrer
meine Zunge, gleich als wellte ich der weihevollen
Stunden vergessen, in denen sie die Liebe zum
Ideale in dem Herzen des Knaben weckten , als
wollte ich ihnen die Treue brechen. Und auch
der manchen Edelen denke ich, die jetzt noch
selbstverleugnend den schweren Kampf für das
Ideal, das mir heilig ist wie ihnen, als Lehrer an
der verwüsteten Schule kämpfen. ' In der Tat, es
wäre ein lästerlicher Wunsch, wenn die Verzweif-
lung ihn mir eingäbe, wenn ich es für unvermeid-
lich hielte, dass unser Volk den Bruch mit der
Geschichte und der Cultur endgiltig vollzöge. Es
ist aber vielmehr der fröhliche Grlaube au die
Sonne meines Ideals, der mich vor der Nacht nicht
bangen lässt: 'von Osten, hoffe nur, sie kehrt zu-
10
rück.' Daneben aber kann und will ich mich nicht
der Wahrheit und der Wirklichkeit verschliessen,
dass das Leben ewig neu ist, und das Lebende alle-
zeit recht hat : neuem Leben gebühren neue Formen :
'Wie es auch sei, das Leben, es ist gut.'
Da hätte ich doch beinahe schon vergessen, dass
ich die philologischen Scheuklappen trage. Nur
als Philologe will ich reden, und da sag' ich:
mögen andere Disciplinen und Berufe schreien, dass
sie nicht bestehen können, wenn nicht dies und
das auf der Schule schon gelernt würde: um der
Philologie willen , um unsertwillen die wir sie
lehren , oder gar um der Wissenschaft willen,
mögen die beiden Sprachen, denen Europa seine
Cultur verdankt , ruhig aus dem obligatorischen
Jugendunterrichte verschwinden. Wie Deutschlands
Zukunft dabei fahren wird, das frag' ich nicht:
die Philologie kann es ruhig -wagen.
Es werden dann freilich schwierige organisa-
torische Umgestaltungen nötig werden; aber das
wird sich finden , sobald man der Wahrheit ins
Auge sehn muss, über die man sich schon jetzt
nur hinwegtäuscht. Lateinische Matrikeln und Di-
plome wird es dann nicht mehr geben können:
aber verstehen denn jetzt noch alle Studenten ihre
Matrikel? Jetzt, wo ein Junge, dem seine Mittel
den Eintritt in die Obersecunda eines Gymnasiums
nicht gestatten, statt dessen bequem als Student
11
immatriculiert werden kann. Jetzt, wo bereits
viele als Doctoren der Philosophie ein Gelöbnis
unterschreiben, das sie nicht entfernt verstehn. Es
wird vielleicht nicht ganz leicht sein, einen ge-
wissen feierlich ornamentalen Stil zu erfinden ; aber
das sind schliesslich Bagatellen, und wol nur ihre
Bedeutungslosigkeit hat die Trümmer einer ver-
gangenen Zeit, da es noch eine allgemeine Ge-
lehrtensprache gab, bis jetzt bestehn lassen. Um
diese ist es doch einmal geschehn; und ich klage
ihr nicht nach, im Gegenteil: dass lediglich der
Betrieb einer Specialgelehrsamkeit jeden Gelehrten
jedes Volkes zwingt, vier bis fünf lebende Cultur-
sprachen zu lernen, befördert die gegenseitige An-
erkennung der nationalen Culturen und ist ein viel
wirksameres Mittel gegen den hässlichen nationalen
Dünkel als es die Zunftsprache sein könnte.
Weit ernsthafter wird die Schwierigkeit, dass
wichtige, und gerade für das praktische Leben wich-
tige Berufe bei ihrer wissenschaftlichen Vorbildung
der beiden alten Sprachen, in Wahrheit eines tieferen
Einblickes in die antike Cultur, nicht entbehren
können. Ich will nur zwei Beispiele geben. So
lange die Juristen noch zum Studium des Römi-
schen Rechtes verpflichtet sind, müssen sie Latein
lernen: dafür muss dann Vorsorge getroffen wer-
den. Aber schwerlich bestreitet jemand , dass
gerade der wissenschaftliche Betrieb des Römischen
12
Rechtes an der Universität schon jetzt schwer
krank ist. "Wenn ein Referendar Magnificenz mit
einem Schluss-s schreibt, so dürfte ihm sein latei-
nisches Sprachgefühl die Leetüre Ulpians schwer-
lich gestatten. Die Institutionen des Graius sind
ein hübsches Buch , aus dem der frische Geist
eines lebendigen Rechtes dem Leser entgegenweht.
Aber wie soll jemand den Hauch dieses Geistes
verspüren, der von der Gesellschaft, die sich dieses
Recht erzeugt hat und nach ihm lebt, ihrer
Structur und ihren Bedürfnissen , keine Ahnung
hat? Diese Vorbedingung fehlt dem angehenden
Juristen schon jetzt: ich kann's ihm nicht ver-
denken, wenn ihm der Gaius ein totes Buch bleibt.
Die protestantische Theologie würde sich selbst
aufgeben, wenn sie auf das Studium des heiligen
Originales verzichtete. Niemand kann die gross-
artigen Leistungen, die sie' gerade jetzt auf alt-
christlichem Gebiete hervorbringt, mehr bewundern
als ich : aber ich habe mir sagen lassen, und glaube
es selbst zu bemerken, dass die wirkliche Kennt-
nis des neuen Testamentes, von Philo und Jose-
phus ganz zu schweigen, bei der Menge der Theo-
logiestudierenden sehr viel zu wünschen übrig lässt.
Die Theologie kann höchstens dabei gewinnen,
wenn sie sich eingesteht, dass das nötige Grie-
chisch, die eindringende Kenntnis von griechischer
Geschichte und Philosophie, ohne die das Christen-
13
tum und die alte Kirche nicht verstanden werden
können, auf der Schule weder gelehrt wird noch
gelehrt werden kann.
Und wir Philologen? Hängt unser Leben und
unsere Existenzberechtigung etwa an der Ausbil-
dung der Lehrer? Uns kann es nur recht sein,
wenn es mit dieser Misdeutung endlich ein Ende
hat. Es sind uns jüngst von sehr geschätzter
Seite recht unhöfliche Zurechtweisungen über die
Art zu Teil geworden, wie wir angeblich unseren
Unterricht erteilten, die wir höflich aber entschie-
den zurückweisen müssen. Wer überhaupt weiss,
was "Wissenschaft ist, kann sich mit niemandem
auf eine Debatte einlassen , der wissenschaftlichen |
Unterricht mit der Abrichtung für irgend einen f
Beruf verwechselt. Uns hat der Staat angestellt
Philologie zu lehren : wie wir das tun , darüber
legen wir vor keinem irdischen Tribunale Rechen-
schaft ab. Der Staat bindet die Zulassung zu
bestimmten Berufen an ein Universitätsstudium,
für das er die Minimalfrist fixiert, ausserdem an
den Nachweis bestimmter Kenntnisse, deren Höhe
er normiert und die er durch eine besondere Be-
hörde prüfen lässt. Das ist weise und billig an-
geordnet, und die Forderungen des Staates vertra-
gen sich durchaus mit denen der Wissenschaft.
Doch jedes Examen ist nicht mehr als ein not-
wendiges Uebel, und die selige goldene Zeit sollte
14
der schwarze Scliatten der Examensfurcht nimmer
trüben. Deshalb ist allerdings zu fordern, dass
wer die nötige Zeit, für den Philologen jetzt schon
tatsächlich 4 — 5 Jahre, seiner "Wissenschaft redlich
und fröhlich gedient hat, das staatliche Examen
bequem und sicher besteht, Obwol der Staat
meines Erachtens keineswegs zu viel, aber zu
vielerlei verlangt, ist das bei uns in Göttingen
auch die Regel.
Und wenn wir nun keine Schulamtscandidaten
mehr unter unseren Zuhörern haben sollten — ja,
Schulamtscandidaten kennen wir auch jetzt nicht
darunter: wir kennen nur Studierende der Philo-
logie ; wenn es deren künftig weniger sein werden,
zunächst wenigstens , wäre das ein Unglück für
uns ? eine Stellung wie sie die Collegen einnehmen,
die die semitischen Sprachen oder das Indische
lehren ? Sie ertragen es auch, dass sie die elemen-
tare Grammatik lehren müssen, wie wir es dann
tun müssten. Ob die Schule an der Philologie
hängt, ist die Frage, die ich nicht erörtere: dass
die Philologie nicht an der Schule hängt, steht
doch wol ausser Frage.
Die Philologie, was ist sie? Es ist nicht
schön, dass man's nach F. A. "Wolf noch sagen
muss; aber es ist nötig. Ich verzichte darauf,
eine Definition logisch zu praepariren , wie ich
mich auch des alten Namens bediene, so verkehrt
15
oder vielmehr leer er ist : wir wollen die "Wissen-
schaft durch ihr Objekt bestimmen. Mit Homer i
beginnt eine continuirliche und ihrer Continuität '
sich stets bewusste Culturentwicklung , die immer
weitere Gebiete umspannt, erst ganz Hellas, dann
durch Alexander den Orient, dann durch Eom das
gesammte Mittelmeergebiet. Mit dem Zerfall des
römischen Reiches hört die Einheitlichkeit und die
Continuität dieser Cultur auf. Die Barbaren eman-
cipiren sich; das Christentum, obwohl aus jener
Cultur erwachsen, verläugnet sie. Weil diese
Cultur eine Einheit ist, trotz all der Wandlungen
des Lebens und des Geistes, kann eine jede ihrer
Erscheinungen in ihrem individuellen Leben voll-
kommen nur vom Ganzen her verstanden werden,
und trägt jede kleinste Erscheinung ihren Zug bei
zu dem Verständnisse des Ganzen, aus dem sie
ward, in dem sie fortwirkt. Weil das Objekt
eines ist, ist die Philologie eine Einheit. Die
Partikel av und die Entelechie des Aristoteles,
die heiligen Grotten Apollons und der Götze
Besas, das Lied der Sappho und die Predigt der
heiligen Thekla, die Metrik Pindars und der Mess-
tisch von Pompeji, die Fratzen der Dipylonvasen
und die Thermen Caracallas, die Amtsbefugnisse
der Schultheissen von Abdera und die Taten des
göttlichen Augustus, die Kegelschnitte des Apol-
lonios und die Astrologie des Petosiris : alles, alles
16
gehört zur Philologie, denn es gehört zu dem
Objecte, das sie verstehen will, auch nicht eines
kann sie missen.
In dieses ungeheure Wissensgebiet so einzufüh-
ren, dass sich der junge Philologe nach dem Ab-
schlüsse seiner Studienzeit selbst zurecht finden
könne, ist die Aufgabe unseres Unterrichtes. Wir
sollen ihm zeigen, was zu lernen ist, worauf es
ankommt, und wie man's macht. Das A und 0 ist und
1 bleibt die lebendige Herrschaft über die Sprache.
Nur kann man diese Kunst am wenigsten lehren, wird
auch selbst durch den sichersten Prüfstein, die
Grammatik, alle Tage nachdrücklich daran erin-
nert, wie kläglich das eigne Können immer bleibt.
Aber es reicht hin, wenn der Student die beiden
Wahrheiten voll erkennt, erstens, dass ohne Sprach-
I kenntnis jede Philologie oder Historie oder Archaeo-
I logie eine nicht einmal kling'ende Schelle sein muss,
und zweitens, dass jedes Philologen Sprachkennt-
nis nur durch unausgesetzte Uebung einigermassen
leistungsfähig gemacht werden kann. Das nächste
ist, das rechte und gerechte, das ist das geschicht-
liche Verständnis zu zeigen und zu lehren. Das
kann nur an einem concreten Objecte geschehn;
es kommt nicht viel darauf an, welches dieses ist;
wenn wir auch natürlich am liebsten eins wählen
werden, dessen Verständnis einen absoluten Genuss
und eine an sich bedeutende Belehrung verschafft.
17
Es kann ein Schriftwerk sein, eine spraclilielie
Erscheinung, ein Gremälde, eine Individualität, sei es
Grott oder Mensch oder Volkstamm oder Cultur-
kreis , ein Satz eines bestimmten Rechtes oder
eines philosophischen Systemes , kurz jede in sich
abgeschlossene Einzelerscheinung; nur muss sich
die Aufgabe lösen lassen, dieses Einzelne an seiner
Stelle in der grossen Culturentwickelung voll zu
begreifen , wie es ward , was es wollte , was es
wirkte. Dass die schriftstellerischen Kunstwerke
mit Vorliebe hierzu gewählt werden, wir durch
das eigne Beispiel ihrer Erläuterung und durch
die Stellung entsprechender Aufgaben an unsere
Schüler vorwiegend wirken, ist vielleicht selbst
durch die praktischen Rücksichten nicht ganz ge-
rechtfertigt, und der archaeologische Unterricht
ist schon deshalb für die philologische Ausbildung
unentbehrlich. Das dritte ist, eine Uebersicht über
die Gesammtentwickelung der Cultur jener andert-
halb Jahrtausende zu geben , über ihre treibenden
Kräfte, die Ziele, denen sie bewusst oder unbe-
wusst zustrebte, die Phasen der Entwickelung,
die Wandlungen des Lebens und des Greistes, die
verschiedenen Sphären, in denen Gleist und Leben
des Volkes sich offenbart haben. Dabei ergiebt
sich von selbst eine Orientirung über die Quellen
und über die Mittel, durch die wir zu ihnen gelan-
gen. Diese allgemeinen Ueberblicke sind unerlässlich,
2
18
und der Docent soll sich die Mühe nicht verdriessen
lassen, obwol er immer von dem Bewusstsein be-
drückt sein wird, höchst unzulängliches zu bieten,
nicht selten auch unzulänglich verstanden zu wer-
den. Für den Studenten ist diese allgemeine Ein-
führung ungleich wichtiger als die Anleitung zur
eigenen Arbeit, die für den Lehrer freilich das reiz-
vollste ist, aber doch erst in letzter Linie in Be-
tracht gezogen werden darf. Es würde den schärf-
sten Tadel verdienen, wenn irgendwo der Anreiz
zur Production auf Kosten der individuellen Durch-
bildung gepflegt, wol gar der Student zum wissen-
schaftlichen Handlanger verwandt werden sollte,
"da doch seine Seele genau dasselbe Recht auf in-
dividuelles Leben und auf Freiheit hat wie die
des Lehrers. Ich glaube aber nicht, dass zur Zeit
noch irgendwo in Deutschland ein solcher Mis-
brauch besteht. Der Studeht kann freilich neben
der receptiven Tätigkeit , die ins Weite geht , die
Versuche der Production nicht entbehren , schon
weil er ja lernen muss, wie die Wahrheit gefunden
wird , um über anderer Production urteilen zu
können. Unsere Seminararbeiten und Doctordisser-
tationen sind mit nichten der Zweck der Studien,
sie sind vielmehr das bewährte Mittel zu dem
wahren Zwecke, der wissenschaftlichen Durchbil-
dung. Die Dissertation ist im alten und echten
Sinne das Meisterstück, mit dem der Lehrling vor
19
der Welt sein Recht beweist, frei und selbständig
sein Handwerk zu üben. Nur so betrachtet hat
sie ihre Berechtigung. Dass sie nicht uner-
lässlich ist, liegt auf der Hand, während die
Geiste sübung, die unsere Seminararbeiten fördern,
nicht entbehrt werden kann. Die Gefahr, dass
die Concentration auf ein notwendig enges Gebiet
ein beschränktes Specialistentum erzeuge, ist vor-
handen; aber sie ist nicht schlimmer als die Gefahr
für den Lehrer, in seinen Vorlesungen ein gleiches
zu tun. Das erfährt man ja auf dem Katheder, \
dass man die tiefste Wirkung erzielt, wenn man l
die frischen Früchte eigener neuer Production dar- 1
bietet, also notwendig etwas sehr specielles, oft
geringfügiges, und noch viel öfter sehr unvollkom-
menes. Darauf wollen wir nimmermehr verzichten:
aber wir verwirken die innere Berechtigung . zu
lehren, wenn wir darüber den Blick ins weite
vergessen, oder gar versäumen, den Blick unse-
rer Schüler ins weite zu lenken, immer und immer
wieder die Forderung der einen unteilbaren Wis-
senschaft zu erheben , eine Forderung , die darum
nicht minder gerecht und unerbittlich ist, dass wir
sie selbst im Grunde nicht besser erfüllen als der
jüngste Student.
Von der Unzulänglichkeit der Fassungs- und
Lernkraft des einzelneu Menschen gegenüber der
ungeheuren Grosso des Objektes auch nur zu reden
2*
20
scheut man sich fast: denn was gehn die Philo-
logen die Philologie an ? Soll sich das Ewige nach
dem Sterblichen richten? Grerade in dem Misver-
hältnis des eigenen Wissens zu unserer Wissen-
schaft liegt ein grosser Segen für unser sittliches
Leben: und in Wahrheit ist ja jede tüchtige Lei-
stung, auch die wissenschaftliche, viel mehr ein
Werk des Charakters denn des Talentes. Wenn
der Philologe von seiner kleinlichen Werkeltags-
arbeit das Auge aufschlägt zu der Majestät der
Wissenschaft , dann wird ihm zu Mute wie in der
heiligen Stille sternheller Nacht. Die Empfindung
der Herrlichkeit und der Unendlichkeit und der
Einheit des Allganzen zieht durch seine Seele.
Demütig muss er sich sagen 'du armselig Menschen-
\kind, was bist du? was kannst du?' Aber wenn
I tönend dann der junge Tag geboren wird, ruft der
ihm zu 'steh auf, du Menschenkind, steh auf und
wirke, was dein Tag von dir verlangt , wozu Gott
in deine Seele die lebendige Schaffenskraft gelegt
hat: erwirb dir durch Arbeit einen Anteil am
Ewigen und Unendlichen.' Beides, den Hochgenuss
des demütigen Anschauens und den Stolz der hin-
gebenden Arbeit soll jeder Philologe, auch jeder
Student der Philologie erfahren, erleben. Erreichen
wird er's nur durch eigne Kraft, und keine Facul-
tät und keine Behörde , nur das eigne Herz kann
ihm das Zeugnis ausstellen: du bist ein Philologe.
21
Aber die Wege ihm zu weisen , die Hand zu rei-
chen, auf dass er sich selbst helfe: dazu sind wir
da, seine Lehrer, die Grenossen seiner Arbeit. Dies
unser Lehramt, dies unser gemeinsames Lernen
wird uns keine Schulreform und keine Universitäts-
reform zerstören noch verleiden.
Meine verehrten Herrn Collegen werden den
Preis meiner Wissenschaft nicht ohne den stillen
Protest angehört haben, dass ich der Philologie zu-
schreibe, was doch der Wissenschaft im Ganzen
erst gebühre, in jener idealen Einheit, die der Name
Philosophie allein richtig bezeichnet, seiner Her-
kunft nach, und so wie er noch jetzt die philo-
sophische Facultät ziert. Bereitwillig gebe ich
das zu; um so lieber, da ich die Ehre habe, einer
philosophischen Facultät anzugehören, in welcher
die Einheit und die Eintracht aller philosophischen
Einzelwissenschaften eine anerkannte Herrschaft
übt. Gewiss, das was gross und erhaben ist in
dem was jeder von uns treibt, ist das was uns
allen gemeinsam ist, die rein wissenschaftliclie
philosophische Arbeit ; aber dass das Bewusstsein
der Einheit unter den Philologen mächtiger, in
der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Einzelar-
beiten der centripetale Zug stärker ist als sonst
irgendwo, das behaupte ich, weil es eine Tatsache
ist, eine offenkundige, und wie mich dünkt, eine
merkwürdige. Offenkundig ist sie, denn obgleich
22
in der philosophischen Facultät eine Anzahl Ver-
treter der philologischen Disciplinen sitzen, einige
unterschieden durch einen besonderen Lehrauftrag,
aber auch die übrigen in Lehre und eigner Arbeit
nicht minder auf einen kleinen besonderen Teil
beschränkt, so erkennen wir uns doch alle als
gleichberechtigte Vertreter derselben "Wissenschaft
au, und wenn z. B. zwei von uns neben einander
prüfen , so tun sie das im Bewusstsein , dass sie
beide in beidem sachverständig sind, und weil sie
es sind, ist, soweit meine persönliche Erfahrung
reicht, eine Meinungsverschiedenheit in keinem
Falle hervorgetreten. Das liegt nicht an unseren
Personen, sondern an unserer Wissenschaft. Und
merkwürdig ist es wahrhaftig, dass für die Philo-
logie schlechthin unerträglich ist , was die Natur-
wissenschaft nicht blos verträgt , sondern zu ver-
langen scheint, in der sich gegenwärtig immer noch
neue Disciplinen abgliedern , deren Vertreter sehr
bald ein gesondertes Sachverständnis beanspruchen
und anerkannt erhalten. Nicht bei diesem Gegen-
satze verweile ich ; aber ein Blick auf die uns be-
nachbarten Teile der Geisteswissenschaft darf ge-
wagt werden.
Der Orientalist, mit dem wir in enger Fühlung
leben, muss sehr viele Sprachen kennen, und er
betrachtet es als selbstverständlich, dass ausser
deren Grammatik und Schriftwerken auch alle an-
23
dern Lebensäusseriingen der Cnltur jener Völker,
ihre Religiouen und ihre Geschichte in seinem
Arbeitsbereiche liegen ; ob die Denkmäler auf Stein
oder Ziegel oder Papier überliefert sind, macht
vollends keinen Unterschied. Er ist genau in dem
Sinne für seine Sphäre Philologe oder Historiker
oder Archaeologe, wie man's nennen will, wie wir
für die unsere. Die einzelne Person vermag auch
dort nur einzelner verhältnismässig kleiner Teile
sich so weit zu bemächtigen, dass sie zu produc-
tiver Arbeit fortschritte , und so findet auch dort
die Arbeitsteilung tatsächlich statt. Es fällt nur
weniger ins Auge, weil selten eine grössere Zahl
von Orientalisten neben einander wirken.
Das Studium des Indischen hat vor etwa 100
Jahren begonnen mit der wunderbaren Sprache und
wenigen Hauptschriften ; jetzt sehen wir es voll-
kommen ausgewachsen zu einer Philologie , genau
so allumfassend, also auch genau so grossartig
wie die unsere.
Das Studium der Zeiten, die auf den Sturz des
römischen Reiches folgen, ist dadurch erschwert,
dass die Einheit und das Bewusstsein der Zusam-
mengehörigkeit der Cultur dem älteren Mittelalter
gebricht, und später zwar eine Cultur erwächst,
die in der wesentlichsten Grundlage eine Einheit
hat, aber gebildet wird durch das Zusammenwir-
ken vieler gleichberechtigter nationaler Culturen,
24
eben deshalb unendlicli reicher denn die Antike,
aber kaum noch wie jene als eine Einheit zu er-
fassen: es ist die Cultur in der wir leben. Nur
wo sich wieder ein in sich wirklich abgeschlossenes
Culturgebiet abzweigen lässt, tritt auch der Be-
griff der Philologie in seiner Ganzheit mächtig
hervor. Das gilt von dem byzantinischen Grie-
chentume, das Europa wesentlich aus Unkenntnis
zu verachten pflegt. Jüngst hat nun ein ener-
gischer deutscher Gelehrter den schönen "Wage-
mut der Tat gehabt und für dieses Gebiet die
Selbständigkeit und die Gleichberechtigung gefor-
dert. Sein wird der Ruhm sein, die byzantinische
Philologie gegründet zu haben, denn er hat sie
sofort in dem echten Sinne gefasst, so dass neben
der Sprache die Geschichte, neben der Poesie die
bildende Kunst, und Recht und Sitte und Religion
auftritt. Auch darin hat er sich als wahrer Philo-
loge erwiesen , dass er alle Nationen gleicher-
massen zur Mitarbeit berufen hat. In allen an-
deren Gebieten der jüngeren Cultur Europas ist
es herkömmlich, dass die Erforschung von Sprache
und Litteratur, die sich dann Philologie nennt,
sich von der Geschichte scheidet. Und dann
scheiden sich die Sprachen, und dann will die
Kunstgeschichte für sich stehn , und so geht es
weiter. Es wird das ja wol notwendig sein, denn
es ist. Ich will von einzelnen bedenklichen Er-
25
scheinungen nicht reden, die man geneigt sein
könnte auf diese Scheidung zurückzuführen : lieber
weise ich auf den gigantischen Torso von MüUen-
hoffs Deutscher Altertumskunde hin. Dieser grosse
Mann hat seine Philologie als ganzes erfasst, wie
Boeckh sie uns zu fassen gelehrt hat, und er hat
sich an ein "Werk gewagt, wie Boeckh in den
Blütenträumen seiner Jugend einen 'Hellen' zu
schreiben sich vorsetzte. MüUenhoffs "Werk ist nicht
vollendet, und keiner wird es zu vollenden ver-
suchen, so wenig wie Boeckh seinen Hellen ge-
schrieben hat, oder irgendjemand das Vollbild des
Hellenentums liefern wird. Aber eine ideale For-
derung der Wissenschaft bleibt dieses Vollbild ; in
der Seele sollen wir es alle tragen, und diese For-
derung gilt für das Studium jeder in sich abge-
schlossenen Culturwelt. Weil die Wissenschaft sich
selbst die Ziele setzt, mag sie auch die Wege
weisen. Ich rechte nicht mit der Scheidung von
Philologie und Geschichte für die modernen Zeiten ;
es mag der rechte Weg sein, wenn nur das Ziel
bleibt, das notwendig eines ist und nicht niedriger
gesteckt werden darf. Unmöglich können wir um
der Analogie der modernen Sprachen willen bei
uns den Emancipationsgelüsten einzelner Disciplinen,
oder besser vereinzelter Historiker, Grammatiker,
Archaeologen nachgeben, die alle an der Wert-
losigkeit ihrer Früchte bald erkannt worden sind,
26
oder es in bälde werden: ich glaube vielmehr, die
gleichberechtigten aber jüngeren "Wissenschaften
würden sich nichts vergeben , wenn sie von den
Erfahrungen der ältesten Schwester etwas mehr
Notiz nehmen wollten.
Es war eigentlich meine Absicht gewesen, heute
an einer Anzahl bezeichnender Beispiele zu zeigen,
dass diese modernen Philologien, das Wort in
unserem Sinne gebraucht, meine "Wissenschaft und
ihr Object, das Hellenentum, zu ihrem eignen
Schaden häufig ignorieren; etwa die modernste
Theorie der Lyrik mit der geschichtlichen Darle-
gung des "Werdens des griechischen Liedes und
Chorgesanges ad absurdum zu führen; oder im
Gregensatze zu modernen Debatten über politische,
Litteratur- und Culturgeschichte vorzuführen , wie
diese Fragen theoretisch und praktisch von Leuten
behandelt worden sind, deren Namen doch noch
einigen Klang haben , Herodotos und Aristoteles,
Dikaiarchos und Poseidonios. Wenn die beiden
letzten minder klingen, so sind doch erst sie For-
scher im modernen Sinne. Aristoteles ist das noch
nicht gewesen; ich erinnere mich wol, wie sehr
es mich einst befremdete, als ich jemanden, dem ich
die Berechtigung nicht absprechen konnte, dies für
die Naturwissenschaft dem Aristoteles abstreiten
hörte: jetzt habe ich es auf dem geschichtlichen
Gebiete selbst bestätigt gefunden.
27
Auch (las hatte mich stark gereizt, auf Fragen
und Einwürfe zu antworten, die mir von natur-
wissenschaftlichen Collegen gelegentlich gemacht
sind; wofür ich immer besonders empfänglich bin.
"Wie ist es möglich, dass das heliocentrische Sy-
stem entdeckt ist und vergessen wird? Wie
konnte unter den acht naturwissenschaftlichem
Denken abholden Hellenen ein Archimedes erstehn ?
Ist nicht die antike Cultur zu Grrunde gegangen,
weil man nicht einmal das wenige , was man von
Naturwissenschaft besass, praktisch anzuwenden
wusste; die Leute hatten ja nicht einmal Uhren.
Das wäre einer Antwort wol wert gewesen , auch
an dieser Stelle. Vieles ist bloss ein Vorurteil ;
das Gehäuse der Normaluhr von Athen steht noch
auf dem Markte, der Turm der Winde. Und wenn
jetzt der Automat Nasch werk oder derlei Tand
für einen eingeworfenen G-roschen spendet , so lie-
ferte er damals in genau derselben "Weise das
Weihwasser an der Tempeltür. Das Volk, das
den Wandel der Erde um die Sonne entdeckt hat
und in dem Archimedes keine vereinzelte Erschei-
nung ist , war wirklich der Naturwissenschaft
nicht abhold : die Zeiten und Personen und Werke,
in denen diese Geisteswirkung dominirt, sind nur
sehr schwer zu erforschen und sehr wenig er-
forscht; dass das besser werde, dazu müssen uns
Philologen, weil wir begreiflicherweise das sach-
28
liehe Verständnis nicht besitzen, unsere naturwis-
senschaftlichen CoUegen helfen. Dass aber die
Naturwissenschaft das Hellenentum nicht vor der
Barbarei bewahrt hat, ist allerdings sehi' bemer-
kenswert. Sie kann das eben nicht besser als
die Poesie oder Sculptur oder Grammatik. Der
Untergang aller "Wissenschaften ist bei den Hel-
lenen- eine Folge des Unterganges der politischen
Freiheit , und dieser ist eine Folge der gesell-
schaftlichen und sittlichen Zersetzung des Volkes.
Das lehrt die hellenische G-eschichte; eine ernste
Lehre, deren Begründung wol auch für unsere
Zeit und diesen Platz getaugt hätte.
Aber alle diese reizvolleren Gegenstände habe
ich fahren lassen und erwähne sie nur im Vor-
beigehen, weil alle auf dieselbe Tatsache deuten,
deren Hervorhebung mich zu meinem Ausgangs-
punkte zurückführt. Selbst' die ernsten Männer in
Deutschland wissen vom Altertume überaus wenig
und wollen noch weniger von ihm wissen. Sie
identificiren es so ziemlich mit dem was die Schule
ihnen davon geboten hat. Ein wenig ist daran
die Schule wirklich schuld. Wie oft hört man
' den eben so anmasslichen wie grellen Unsinn, dass
die Schule in den Geist des Altertums einführe.
Als ob das Altertum einen einzigen Geist gehabt
hätte, die Schulschriftsteller alle denselben hätten
(Homer etwa und Ovid, oder auch Piaton und
29
Demostlienes) , und gar die nicht für die Knaben
ausgewählten auch denselben ; wo dann freilich
der Materialismus Demokrits, die kritische Skepsis
des Karneades und sämmtliche exacte Wissenschaf-
ten als unantik erscheinen müssen. Wahrhaftig,
wenn das Altertum nicht mehr und nicht anderen
Geist gehabt hätte, als ein Knabe fassen kann und
darf, so soll man Männer mit ihm verschonen.
Ein zweites ist was die Schule ohne Verschuldung
wirkt , dasselbe was jetzt leider unsere grossen
Dichter auch erfahren. Weil sie so viel zur Schul-
lectüre verwandt werden , meint man leicht , man
kenne sie damit genug und hält sie bald für blosse
Schülerlectüre. Es leuchtet ein, dass diese Vorur-
theile beseitigt werden, sobald die alten Bücher
aus der Schule verschwinden. Wenn sie den Kna-
ben entzogen werden, werden die Männer sie viel-
leicht lieber aufsuchen ; oder besser die Erwach-
senen : denn ich bin zwar so unmodern , meine
Wissenschaft für mein Geschlecht zu reserviren,
aber das Hellenentum, nicht als Naschwerk, son-
dern als Nahrung der Seele , zur Erhebung und
Erbauung, gönne ich unsern Frauen und Töchtern
auch; sie sind nicht unempfänglich dafür: man
inuss es ihnen nur nahe bringen. Unser, der Phi-
lologen, Vermittleramt wird schwerer, aber auch
notwendiger und lohnender werden.
Das Hellenentum ist auf den Schild erhoben,
30
das Griechische zu einer bedeutenden Rolle im
Knabenunterrichte berufen erst in Folge der Gei-
stesrichtung, die im vorigen Jahrhundert das Eo-
cocco überwand und stürzte. Die grossen Lehr-
meister unseres Volkes haben es als aesthetisch
künstlerisches Ideal aufgerichtet, dem sich auch
Staat und Leben und Sittlichkeit unterordnen soll-
ten. Es ist nicht zu leugnen, dass die Imitation
des Hellenentumes in der bildenden Kunst des
Classicismus uns jetzt meistens widersteht. Aber
ein aesthetisch künstlerisches Ideal genügt uns
wirklich überhaupt nicht mehr ; wir fordern ,. wir
haben ein reicheres "Volksleben. Daher die Ab-
neigung gegen die Antike. Wenn sie in jenen
Idealen erschöpft wäre , so würde ich die Abnei-
gung nicht nur begreifen, sondern teilen. Aber so
wenig Polygnot gemalt hat wie Flaxman oder die
Gebrüder Riepenhausen , so' wenig hat den Helle-
nen eben der Reichtum des Lebens gefehlt, den
wir Modernen fordern. Das muss der Philologe
selbst sehen lernen und es dann den andern zei-
gen. Die Augen muss er offen halten und nach
allen Seiten umschauen , keiner Anregung darf
er sich verschliessen und soll wissen , dass er von
allen etwas lernen kann. Dann wird er auch in
dem Object seiner Wissenschaft tiefer und weiter
sehn , und davon den anderen mitteilen können.
Die anderen sind gai" nicht so böse. Sie wollen
31
das alte tote Zeug mir wegwerfen, weil es tot sei :
wenn es das ist, so haben sie ja recht. Beweisen
wir ihnen, dass es lebt, sorgen wir dafür, dass sie \
seine lebendige Kraft an sich selbst verspüren : :
dann werden sie es schon respektiren. Das ist es,
was ich sagen wollte ; dem Kleinmut und der Ver-
zagtheit der Philologen wollte ich entgegentreten.
Unserer Wissenschaft als Wissenschaft will nie-
mand etwas zu leide tun, am wenigsten der Staat,
der sie vielmehr fördert, so gut er kann. Sie wird
auch dadurch nicht schwer geschädigt werden,
wenn wir unsere Lehre einer veränderten Knaben-
bildung anpassen müssen. Der Glaube an die
Macht und den Wert der Antike ist allerdings
bedroht, und wir, die wir ihn hochhalten, sehen
darin eine schwere Gefahr für die geistige und sitt-
liche Gesundheit unseres Volkes, oder vielmehr der
gesammten menschlichen Cultur : denn die ist trotz
allem Nationalitätenhader eine, und darum geht
der Kampf der Barbarei und des Banausentumes
gegen das Ideal auch über die ganze Erde, In
diesem Kampfe stehen wir: wolan denn, so wollen
wir unsern Mann stehen. Denn wenn die Cultur,
an die wir glauben , untergeht , so ist's unsere
Schuld : keine Ausrede kann sie von unserem Ge-
wissen abwälzen. Mag e^s gegenwärtig in Deutsch-
land trüb für uns aussehn , das ist doch nur
Schein, denn unsere Wissenschaft — ich täusche
micli nicht — ist stärker und gesünder denn vor
einem Menschenalter, und in andern Ländern ist
der Stern des Hellenentumes , der früher tief ge-
sunken war, mächtig im Steigen, Haben sich doch
in Frankreich und England, den alten Hochburgen
der Cultur, von denen wir Deutsche immer noch
lernen können, schon die Freunde der guten Sache
zu mächtigen Gesellschaften zusammengeschlossen;
Italien und Hellas können ihres eignen Adels
nimmermehr vergessen; stellt doch das kleine aber
in seiner Eigenart starke Dänemark eine Kern-
truppe von Meistern und Schülern; eine frische
Jugend rührt sich in Schweden und Finnland ;
und, wenn sie nicht in nationaler Tracht gehu
müssten, würden die russischen Mitarbeiter längst
den verdienten Platz in der vordersten Reihe ein-
nehmen; ja es gehen die philologischen Schützen-
schwärme schon von dem gesicherten Osten west-
wärts vordringend über das unendliche Gebiet des
Sternenbanners vor. Nein, wenn wir nur unserm
Ideale Treue halten , so können wir dem kom-
menden zwanzigsten Jahrhundert festen Auges ent-
gegenblicken. Was es auch den Völkern bringe :
die Sonne Homers wird leuchten über die weite
Welt, Licht und Leben spendend den Menschen-
seelen, herrlich wie am ersten Tag.
33
Die eigentliche Aufgabe der heutigen Feier ist
die Verkündigung der Urteile der Facultäten über
die eingereichten Preisschriften und die Bekannt-
machung der neuen Preisaufgaben. Der erhabene
Stifter der Preise , dessen Gredächtnistag wir da-
dui'ch pietätvoll begehen, hat mit dieser Institu-
tion, die jetzt an allen Universitäten in Gebrauch
ist , den Anfang gemacht und verdient deshalb
doppelten Dank. Es muss aber die Frage aufge-
worfen werden, ob die Form und die Bedingungen
der Concurrenz noch den Bedürfnissen der Gregen-
wart entsprechen. Denn die Beteiligung ist schon
seit längerer Zeit leider keine starke mehr.
VerMndigung der Urteile der Facultäten über die ein-
geliefetien Freisarheiten und der neuen Aufgaben.
Die Universität schaut heute auf ein Jahr
zurück , das zwar im ganzen ein ruhiges war,
insbesondere durch das fast völlig tadellose Ver-
halten der Studentenschaft, der ich mit Freuden
den Dank der Universität aussprechen kann , das
aber in ihrem Lehrkörper sowol durch den Tod
wie durch andere Ursachen so bedeutende Verän-
derungen hervorgerufen hat, dass es nicht angeht,
ihrer aller einzeln zu gedenken. Nur an die
Wintersonnenwende will ich erinnern, wo wir einen
3
34
Collegen in die harte Erde betteten, den rasch und
grausam der Tod weggerissen hatte aus einem
Leben voll Arbeit, voll Streit. Die Universität
hat die Schwere dieses Verlustes empfunden , und
auch die versöhnende Kraft des Todes. Dem Toten
hat viel an der Erhaltung seines Namens gelegen,
aber auch unsere Universität und die "Wissen-
schaft hat er heiss geliebt. Möge ihm sein Wunsch
erfüllt werden, dass das Gedächtnis seines Namens
erhalten werde, wie er es verordnet, uns aber der
unsere , für den wir getan haben , was . wir ver-
mochten : dass ungestörter Friede dieses Grab um-
schwebe. Und nun denken Sie ein Halbjahr zurück,
an den sonnenhellen blühendprächtigen Mittsommer-
tag, da wir den ältesten und berühmtesten Göttin-
ger hinübertrugen auf den Gottesacker von der
friedlichen Gartenbank, auf der er den welken Leib
ohne Scheideschmerz verlassend hinüber geschlum-
mert war in das Reich des ewigen Lichtes : eines
sonnigen Lebens sonniger Abschluss. Aber auch
dieses Leben hatte seinen Kampfestag gesehen,
einen schöneren selbst und beneidenswerteren als
diesen schönen Scheidetag: den Tag, da er den
Mut hatte seinen Eid nicht zu brechen, den sein
Staat, auch seine Universität preisgaben. Der
sittliche Mut von sieben Professoren hat doch
gesiegt über Staatsraison und Weltklugheit, über
Fürstenwillkür und Beamtengefügigkeit, Gelehrten-
35
hoffart und die Dumpfheit der Masse. Den Wer-
ken des grossen Physikers wird die Pietät seiner
Nachfolger und CoUegen ein Ehrendenkmal stiften :
die Gewissenstat des mutigen Mannes sollen wir
uns alle tief ins Herz schreiben. Bewahre Gott
unser Vaterland und jeden von uns vor einem
solchen Conflicte; aber wenn er kommen sollte:
möge er nicht bloss sieben, nicht bloss GÖttinger,
nicht bloss Professoren finden , die ohne Furcht
und ohne Eitelkeit, einzig dem nimmer trügenden
Rufe eines lauteren Herzens folgend, für Recht
und Wahrheit handeln und leiden.
Die Georgia Augusta steht in cadente domo :
so sagen die Leute und schreiben die Zeitungen,
und die Statistik der Studentensummen scheint es
zu bestätigen. Auch in diesem Sommer ist die
Zahl bei uns um ein par Köpfe heruntergegangen.
Es würde viel leichter gewesen sein , diese Tat-
sache nur in der definitiven Feststellung hervor-
treten zu lassen, die niemand liest, als die Wahr-
heit schon jetzt festzustellen: unser Personalbe-
stand führt nicht nur keine toten Seelen, die de-
finitive Feststellung wird vielleicht eher ein Plus
ergeben. Wir suchen und sagen die Wahrheit,
mag sie uns erwünscht sein oder nicht. Erwünscht
ist im höchsten Grade , dass der Studenten in
Deutschland weniger werden; dass sie an Zahl in
Göttingen mehr zurückgehen als anderswo, ist für
36
uns zum mindesten unerwünscht. Aber in cadente
domo stehen wir deshalb noch lange nicht, und ich
glaube, das Ergebnis würde für uns ein wesent-
lich anderes sein, wenn man die Summe der affec-
tiv geleisteten Arbeit wägen, wenn man die durch
die Universität zum wissenschaftlichen Leben er-
weckten Seelen zählen könnte. Endlich fühle ich
mich hier dazu gedrängt, unserem Staate und un-
serem vorgesetzten hohen Ministerium den ganz
besonders warmen Dank auszusprechen, dass man
das Vertrauen in die Greorgia Augusta nicht ver-
liert: unzählbar sind die Beweise der sachlichen
und der persönlichen Förderung, die uns geworden
sind, unseren Wünschen ist die wolwollendste Be-
rücksichtigung niemals versagt , fast möchte ich
sagen, öfter als wir selbst zu hoffen wagten, Er-
füllung geworden. Nur die eine Bitte für unser
schönstes Kleinod, unsere Bibliothek, muss wieder
und wieder erschallen. Wir haben den sicheren
Beweis, dass der hohe Greist der Stifter dieser
Hochschule auch den preussischen Staat beseelt :
die Greorgia Augusta soll und wird eine Stätte
der Wissenschaftlichkeit , der ernsten und der
freien Wissenschaft bleiben.
In Dankbarkeit, Ehrfurcht und Treue kränzen
wir heute das Bild unseres Stifters und Paten, ge-
denken wir unseres erhabenen Rector magnificen-
tissimus, und erheben wir laut und freudig unsere
37
Stimme , huldigend und grüssend unseren aller-
gnädigsten Kaiser, König und Herrn.
"Wilhelm 11. Kaiser von Deutschland , König
von Preussen lebe hoch!
Göttingen , Druck der Dieterich'schen Univ. - Buclidruckorei (W. Fr. Kaestuer),
■«Ä'Ä^
MAP ' '
.^^
POCKET
LIBRARY
I
— .:il.:i.nowitz-LoGllendorff,
76 Ulrich von
G^V.'f. Fhilolo£,ie und
-ohulreform, 2. .'-.bdrack