Skip to main content

Full text of "Philologie und Schulreform. 2. Abdruck"

See other formats


|oo 

ziD 
ICD 


:CD 


CO 


PA 

GtmWs 


wilamowitz-Koellen^orf f , 
rl  rieh  von 

Philologie  und 
oc}-  ''       ""rra«      2,   Aburuck 


Philolooie  und  Schulreform. 


Festrede 

im  Namen 

der  Georg- Augusts -Universität 

zur 

Akadeiiiisclieii  Preisverteilung 

am    1.  Jimi  1892 
gehalten  von 

U.  von  Wilamowitz  -  Moellendorflf, 


Zweiter  Abdruck. 


Gröttingen, 

Dieterich'sclie  Uiiiversitäts  -  Buchhandlung 
(L.  Horstmann). 


Philologie  und  Schulreform. 


Festrede 

im  Namen 


der  Georg-Angnsts-Universität 


Akademischen  Preisverteilung 

am   1.  Juni  1892 
gehalten  von 

U.  von  Wilamowitz-Moellendorfif, 

d.  z.  Prorektor. 

Zweiter  Abdruck. 


Gröttingen, 

Dieterich'sche  Universitäts  -  Buchhandlung 
(L.  Horstmanu). 


1% 


9  fl-7  0  0  h 


Hochansehnliclie  Yersammlung ! 

Wenn  ein  Philologe  in  diesem  Jahre  an  dieser 
Stelle  zu  reden  berufen  ist,  so  begegnet  er  der 
Erwartung ,  dass  er  sich  über  die  Revolution  äus- 
sere, die  jüngst  den  Lehrplan  der  höheren  Knaben- 
schulen betroffen  hat.  Vollzogen  ist  die  Revo- 
lution schliesslich  einfach  durch  eine  Ministerial- 
verfügung;  denn  die  Executive  ist  bei  uns  zu  so 
einschneidenden  Massregeln  berechtigt  und  berufen: 
aber  sie  hat  sich  dazu  doch  erst  entschlossen  unter 
einem  starken  Drucke  der  s.  g.  öffentlichen  Mei- 
nung, und  man  wird  nicht  bestreiten  können,  dass 
diese,  so  weit  ihre  Stimmen  auch  sonst  auseinander- 
gehen, darin  ihre  Hauptforderung  erfüllt  sieht, 
dass  das  Latein  aus  seiner  beherrschenden  Stel- 
lung verdrängt,  das  Grriechische  noch  weiter  be- 
schränkt ist.    Da  liegt  es  nahe,  dass  jemand,  der 

Anm.  In  diesem  Abdrucke  habe  ich  einige  Sätze  wieder 
eingefügt ,  die  ich  mit  Rücksicht  auf  die  zugemessene  Zeit 
nicht  gesprochen  hatte  und  demgemäss  in  dem  officiellen 
Drucke  unterdrücken  musste. 

1* 


diese  Spraclien  an  der  Universität  lelirt  und  über 
die  wissenschaftliche  Lehrbefähigung  der  Schul- 
amtskandidaten  für  diese  Fächer  entscheidet,  sich 
zu  den  Neuerungen  äussere.  Um  so  näher  liegt 
das ,  weil  bei  der  Vorbereitung  dieser  Revolution 
zwar  —  ich  will  gar  nicht  sagen,  wer, alles  um 
seine  Meinung  und  Mitwirkung  ersucht  ist,  aber 
kein  Philologe  von  Beruf.  Dies  Mistrauen  gegen 
uns  ist  schon  von  älterem  Datum ,  und  die  öffent- 
liche Meinung  ist  auch  mit  ihm  ganz  einverstan- 
den. "Wir  stehen  nun  einmal  in  dem  Verdachte, 
dass  wir  die  Scheuklappen  unserer  Fachbildung 
abzulegen  unfähig  seien ,  eingefleischte  Pedanten, 
grau  und  veraltet  wie  das  Altertum,  in  dem  wir 
leben.  An  dieser  Stelle  brauche  ich  mich  am  we- 
nigsten um  die  öffentliche  Meinung  zu  kümmern; 
aber  ich  verzichte  darauf,  über  die  Jugendbildung 
vom  allgemeinen  Standpunkte  aus,  der  allein  be- 
rechtigt ist,  reden  zu  wollen :  es  erscheint  mir  an- 
gemessen, nun  einmal  von  dem  auszugehen,  was 
Dank  unserem  fachmässigen  Sachverständnisse  wir 
Philologen  wissen  müssen,  wir  allein  beurteilen 
können. 

Welche  Kenntnisse  im  Griechischen  und  Latei- 
nischen bringen  die  Studenten  noch  von  der  Schule 
mit?  Sie  bringen  das  Reifezeugnis  mit;  offiziell 
sind  ihnen  also  die  Kenntnisse  verbrieft,  welche 
reglementarisch  für  die  Reife  gefordert  sind.   Aber 


sie  besitzen  diese  Kenntnisse  in  "Wirklichkeit  clurch- 
ans  nicht  mehi*.  Die  Fähigkeit  des  Verständnisses 
beider  Sprachen  ist  seit  Jahren  stetig  herunterge- 
gangen. Der 'Primaner,  der  angeblich  den  Tacitus 
und  Sophokles  mit  Verständnis  gelesen  hat ,  tritt 
unmittelbar  in  unser  Proseminar  herüber  und  über- 
zeugt sich  bald,  dass  der  ganze  Zuschnitt  der 
Uebungen  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  dass  er 
jeden  noch  so  leichten  Schriftsteller ,  der  gerade 
behandelt  wird ,  zunächst  nicht  versteht.  Eben 
mit  Rücksicht  auf  die  tatsächlich  vorhandenen  Vor- 
kenntnisse habe  ich  den  Uebungen  allmählich  diesen 
Zuschnitt  gegeben ,  und  erst  seit  ich  dahin  ge- 
kommen bin,  keinem  Ankömmling  keine  Unwissen- 
heit irgend  zu  verübeln,  sondern  ruhig  die  Endun- 
gen des  Plusquamperfectums ,  die  Bedingungssätze 
und  die  Cäsuren  des  Hexameters  zu  erklären, 
machen  mir  die  Stunden  wieder  Freude ,  und  die 
tätige  Teilnahme  der  Studierenden  ist  seitdem  un- 
zweifelhaft gewachsen.  Meine  Erfahrungen  er- 
strecken sich  über  17  Jahre,  über  viele  Personen, 
die  von  vielen  Schulen  der  verschiedensten  Gegen- 
den stammen.  Ich  zweifle  nicht,  dass  meine  Col- 
legen  dasselbe  bezeugen  können;  am  wenigsten 
aber  fürchte  ich  Widerspruch  von  seiten  derer, 
die  es  an  sich  selbst  erfahren  haben,  und  die  es 
manche  Stunde  harter  Arbeit  gekostet  hat,  das 
fehlende    nachzuholen.      Wir    machen    nicht    viel 


6 

Redensarten  mit  einander ,  ■  aber   es  wäre  undank- 
bar,  wenn  ich  heute   hier   meinen  lieben  Schülern 
nicht  meinen  Dank  aussprechen  wollte   für  all  die 
herzliche  Freude,  die  sie  mir  bereitet  haben  durch 
ihre  hingebende  Liebe  zur  Arbeit  und  zur  Wissen- 
schaft.    Dass   sie  zunächst  den  Glauben  verlieren 
mussten,   sie  wüssten   etwas  ordentliches,   war  ja 
nicht  ihre  Schuld,  auch  nicht  die  ihrer  Lehrer  oder 
Schulen-,    überhaupt    keines    einzelnen    Menschen 
Schuld.     Die    Verhältnisse   sind   eben  stärker   als 
die  Menschen.     Wenn  sich   die   Forderungen ,   die 
auf  dem  geduldigen  Papiere  stehn ,    wirklich  nicht 
mehr   erfüllen    lassen,    dann    muss  man   sich   wol 
oder  übel  mit  einer  Fiction  behelfen.    Gewiss  giebt 
es   noch  besonders  bevorzugte  Schulen ,    besonders 
begabte  Lehrer  und  Schüler :  aber  im  allgemeinen 
werden  bereits  jetzt  dier  Ziele  des  Unterrichtes  im 
Lateinischen  und  Griechischen  nur  noch  durch  eine 
Fiction  erreicht.     Die   Lehrpläne   von  1892  haben 
die  Forderungen  nicht  wesentlich  herabgesetzt:  es 
sollen  noch  immer  ziemlich  dieselben  Schriftsteller 
gelesen  werden.     Was  zu  deren  Verständnis  nötig 
ist,   das  ist  einmal  nötig:   keine  Macht   der  Welt 
kann   etwas   davon  abdingen.     Folglich  wird  auch 
keine  Macht   der  Welt  das   mit   stark  verkürzter 
Arbeitszeit  beschaffen,   was  jetzt  schon  nicht  be- 
schafft wird. 

Die  Hoffnung  auf  neue  Methoden  soll  doch  wol 


nicht  über  das  Elementare  hinaus  gelten.  Die 
Sprachkenntnis,  die  ein  Portier  in  einem  Schweizer 
Hotel  braucht,  kann  mau  eintrichtern,  und  da  mag 
eine  neue  Methode  ein  par  Lectionen  sparen;  aber 
um  die  lebendige  Rede  eines  Piaton  oder  Montes- 
quieu oder-  Goethe  zu  vergtehn ,  muss  man  sich 
ihrer  Sprache  geistig  bemächtigt  haben,  und  in 
die  Seele  reicht  kein  Nürnberger  Trichter. 

Vollends  die  Vereinfachung  des  Lernstoffes, 
was  soll  das  heissen?  Wenn  ein  neues  Exercier- 
reglement  den  Griff  'Gewehr  auf  nicht  mehr  für 
nötig  hält,  um  dem  Recruten  Zucht,  Haltung  und 
Aufmerksamkeit  anzuerziehen,  deren  er  bedarf,  um 
Soldat  zu  werden,  gut:  dann  wird  der  Griff  ab- 
geschafft, er  existirt  nicht  mehr,  die  ßecruten 
praesentiren  von  'Gewehr  über',  und  werden  darum 
nicht  minder  stramme  Soldaten  werden.  Ohne 
Zweifel  hat  der  Lehrplan  die  Macht,  so  und  so 
viele  Tatsachen  der  Grammatik  aus  dem  Unter- 
richte zu  verbannen:  aber  die  Tatsachen  kann  er 
nicht  abschaffen.  Es  wäre  gewiss  für  unsere  Jun- 
gen viel  bequemer ,  wenn  Homer  nicht  so  entsetz- 
lich reich  an  gleichberechtigten  "Wortformen  wäre: 
aber  so  lange  man  Homer  lesen  will,  hilft  es 
nichts,  die  Jungen  müssen  sie  lernen. 

Schwimmen  lernt  man  im  Wasser,  reiten  auf 
dem  Pferde,  eine  Sprache  durch  sprechen.  Sprechen 
aber  lernt  man  in  jeder  gebildeten  Rede,   seit  es 


eine  Schrift  gibt,  mit  der  Feder,  nicht  mit  dem 
Munde.  Nur  indem  man  die  Gedanken  aus  dem 
vertrauten  heimischen  Kleide  herausnimmt  und  in 
das  der  fremden  Sprache  kleidet,  lernt  man  in 
dieser  denken.  Das  aber  muss  man  können,  wenn 
man  verstehn  will,  was  ein  anderer  in  dieser 
Sprache  gedacht  und  gesprochen  hat.  Wer  das 
umgekehrt  machen  will,  der  zäumt  das  Pferd  von 
hinten  auf  und  wird  höchstens  reiten  lernen,  wie 
der  Abt  von  St.  Gallen  es  sollte. 

Ohne  Bilder  gesprochen,  aber  ohne  Illusionen, 
ruhig  und  ehrlich.  Die  Ziele,  die  sich  der  Unter- 
richt auf  der  Schule  noch  immer  steckt,  werden 
nicht  erreicht  und  können  beim  besten  "Willen 
unter  den  jetzigen  Verhältnissen  nicht  erreicht 
werden.  Es  ist  ein  wichtiges  Moment  in  dem  An- 
sturm gegen  die  beiden  Sprachen  gewesen,  dass 
sehr  viele  Männer  sich  bewus'st  waren,  die  Schule 
hätte  ihnen  für  die  grosse  Mühe,  die  die  Sprachen 
ihnen  verursachten,  keinen  entsprechenden  Lohn 
gebracht.  Wenn  man  nicht  bestreiten  kann,  dass 
diese  Empfindungen  vielfach  berechtigt  waren :  wie 
viel  stärker  müssen  sie  werden,  nachdem  die 
Schule  gezwungen  ist,  noch  viel  weniger  zu  leisten. 
Eine  Weile  mag  man  sich  und  andere  ja  damit 
täuschen,  dass  man  die  Früchte  durch  paedago- 
gische  Hexereien  billiger  beschaffen  werde;  aber 
in  dem  Augenblicke,  wo  die  Wahi-heit  an  den  Tag 


kommt,  dass  es  nur  unreife  Früchte  sein  können, 
oder  vielmehr  Früchte ,  die  faulen ,  ehe  man  sie 
bricht ,  wird  sich  ein  noch  viel  stärkerer  Sturm 
erheben,  und  die  unerbittliche  Consequenz  wird 
und  muss  dann  eine  ehrliche  Entscheidung  erzwin- 
gen. Was  kann  uns  jener  Tag  anderes  bringen 
als  Abschaffung  des  Grriechischen  und  Beschrän- 
kung des  Lateinischen  auf  einen  elementaren 
Sprachunterricht  ? 

Mir  schwebt  der  Wunsch  auf  der  Lippe:  möge 
dieser  Tag  bald  kommen.  Aber  wenn  ich  ihn  aus- 
sprechen will,  so  hemmt  die  Erinnerung  an  meine 
eigene  Schule,  an  meine  eigenen  lieben  Lehrer 
meine  Zunge,  gleich  als  wellte  ich  der  weihevollen 
Stunden  vergessen,  in  denen  sie  die  Liebe  zum 
Ideale  in  dem  Herzen  des  Knaben  weckten ,  als 
wollte  ich  ihnen  die  Treue  brechen.  Und  auch 
der  manchen  Edelen  denke  ich,  die  jetzt  noch 
selbstverleugnend  den  schweren  Kampf  für  das 
Ideal,  das  mir  heilig  ist  wie  ihnen,  als  Lehrer  an 
der  verwüsteten  Schule  kämpfen.  '  In  der  Tat,  es 
wäre  ein  lästerlicher  Wunsch,  wenn  die  Verzweif- 
lung ihn  mir  eingäbe,  wenn  ich  es  für  unvermeid- 
lich hielte,  dass  unser  Volk  den  Bruch  mit  der 
Geschichte  und  der  Cultur  endgiltig  vollzöge.  Es 
ist  aber  vielmehr  der  fröhliche  Grlaube  au  die 
Sonne  meines  Ideals,  der  mich  vor  der  Nacht  nicht 
bangen  lässt:  'von  Osten,  hoffe  nur,  sie  kehrt  zu- 


10 

rück.'  Daneben  aber  kann  und  will  ich  mich  nicht 
der  Wahrheit  und  der  Wirklichkeit  verschliessen, 
dass  das  Leben  ewig  neu  ist,  und  das  Lebende  alle- 
zeit recht  hat :  neuem  Leben  gebühren  neue  Formen : 
'Wie  es  auch  sei,  das  Leben,  es  ist  gut.' 

Da  hätte  ich  doch  beinahe  schon  vergessen,  dass 
ich  die  philologischen  Scheuklappen  trage.  Nur 
als  Philologe  will  ich  reden,  und  da  sag'  ich: 
mögen  andere  Disciplinen  und  Berufe  schreien,  dass 
sie  nicht  bestehen  können,  wenn  nicht  dies  und 
das  auf  der  Schule  schon  gelernt  würde:  um  der 
Philologie  willen ,  um  unsertwillen  die  wir  sie 
lehren ,  oder  gar  um  der  Wissenschaft  willen, 
mögen  die  beiden  Sprachen,  denen  Europa  seine 
Cultur  verdankt ,  ruhig  aus  dem  obligatorischen 
Jugendunterrichte  verschwinden.  Wie  Deutschlands 
Zukunft  dabei  fahren  wird,  das  frag'  ich  nicht: 
die  Philologie  kann  es  ruhig  -wagen. 

Es  werden  dann  freilich  schwierige  organisa- 
torische Umgestaltungen  nötig  werden;  aber  das 
wird  sich  finden ,  sobald  man  der  Wahrheit  ins 
Auge  sehn  muss,  über  die  man  sich  schon  jetzt 
nur  hinwegtäuscht.  Lateinische  Matrikeln  und  Di- 
plome wird  es  dann  nicht  mehr  geben  können: 
aber  verstehen  denn  jetzt  noch  alle  Studenten  ihre 
Matrikel?  Jetzt,  wo  ein  Junge,  dem  seine  Mittel 
den  Eintritt  in  die  Obersecunda  eines  Gymnasiums 
nicht  gestatten,   statt  dessen  bequem  als  Student 


11 

immatriculiert  werden  kann.  Jetzt,  wo  bereits 
viele  als  Doctoren  der  Philosophie  ein  Gelöbnis 
unterschreiben,  das  sie  nicht  entfernt  verstehn.  Es 
wird  vielleicht  nicht  ganz  leicht  sein,  einen  ge- 
wissen feierlich  ornamentalen  Stil  zu  erfinden ;  aber 
das  sind  schliesslich  Bagatellen,  und  wol  nur  ihre 
Bedeutungslosigkeit  hat  die  Trümmer  einer  ver- 
gangenen Zeit,  da  es  noch  eine  allgemeine  Ge- 
lehrtensprache gab,  bis  jetzt  bestehn  lassen.  Um 
diese  ist  es  doch  einmal  geschehn;  und  ich  klage 
ihr  nicht  nach,  im  Gegenteil:  dass  lediglich  der 
Betrieb  einer  Specialgelehrsamkeit  jeden  Gelehrten 
jedes  Volkes  zwingt,  vier  bis  fünf  lebende  Cultur- 
sprachen  zu  lernen,  befördert  die  gegenseitige  An- 
erkennung der  nationalen  Culturen  und  ist  ein  viel 
wirksameres  Mittel  gegen  den  hässlichen  nationalen 
Dünkel  als  es  die  Zunftsprache  sein  könnte. 

Weit  ernsthafter  wird  die  Schwierigkeit,  dass 
wichtige,  und  gerade  für  das  praktische  Leben  wich- 
tige Berufe  bei  ihrer  wissenschaftlichen  Vorbildung 
der  beiden  alten  Sprachen,  in  Wahrheit  eines  tieferen 
Einblickes  in  die  antike  Cultur,  nicht  entbehren 
können.  Ich  will  nur  zwei  Beispiele  geben.  So 
lange  die  Juristen  noch  zum  Studium  des  Römi- 
schen Rechtes  verpflichtet  sind,  müssen  sie  Latein 
lernen:  dafür  muss  dann  Vorsorge  getroffen  wer- 
den. Aber  schwerlich  bestreitet  jemand ,  dass 
gerade  der  wissenschaftliche  Betrieb  des  Römischen 


12 

Rechtes  an  der  Universität  schon  jetzt  schwer 
krank  ist.  "Wenn  ein  Referendar  Magnificenz  mit 
einem  Schluss-s  schreibt,  so  dürfte  ihm  sein  latei- 
nisches Sprachgefühl  die  Leetüre  Ulpians  schwer- 
lich gestatten.  Die  Institutionen  des  Graius  sind 
ein  hübsches  Buch ,  aus  dem  der  frische  Geist 
eines  lebendigen  Rechtes  dem  Leser  entgegenweht. 
Aber  wie  soll  jemand  den  Hauch  dieses  Geistes 
verspüren,  der  von  der  Gesellschaft,  die  sich  dieses 
Recht  erzeugt  hat  und  nach  ihm  lebt,  ihrer 
Structur  und  ihren  Bedürfnissen ,  keine  Ahnung 
hat?  Diese  Vorbedingung  fehlt  dem  angehenden 
Juristen  schon  jetzt:  ich  kann's  ihm  nicht  ver- 
denken, wenn  ihm  der  Gaius  ein  totes  Buch  bleibt. 
Die  protestantische  Theologie  würde  sich  selbst 
aufgeben,  wenn  sie  auf  das  Studium  des  heiligen 
Originales  verzichtete.  Niemand  kann  die  gross- 
artigen Leistungen,  die  sie' gerade  jetzt  auf  alt- 
christlichem Gebiete  hervorbringt,  mehr  bewundern 
als  ich :  aber  ich  habe  mir  sagen  lassen,  und  glaube 
es  selbst  zu  bemerken,  dass  die  wirkliche  Kennt- 
nis des  neuen  Testamentes,  von  Philo  und  Jose- 
phus  ganz  zu  schweigen,  bei  der  Menge  der  Theo- 
logiestudierenden sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lässt. 
Die  Theologie  kann  höchstens  dabei  gewinnen, 
wenn  sie  sich  eingesteht,  dass  das  nötige  Grie- 
chisch, die  eindringende  Kenntnis  von  griechischer 
Geschichte  und  Philosophie,  ohne  die  das  Christen- 


13 

tum  und  die  alte  Kirche  nicht  verstanden  werden 
können,  auf  der  Schule  weder  gelehrt  wird  noch 
gelehrt  werden  kann. 

Und  wir  Philologen?  Hängt  unser  Leben  und 
unsere  Existenzberechtigung  etwa  an  der  Ausbil- 
dung der  Lehrer?  Uns  kann  es  nur  recht  sein, 
wenn  es  mit  dieser  Misdeutung  endlich  ein  Ende 
hat.  Es  sind  uns  jüngst  von  sehr  geschätzter 
Seite  recht  unhöfliche  Zurechtweisungen  über  die 
Art  zu  Teil  geworden,  wie  wir  angeblich  unseren 
Unterricht  erteilten,  die  wir  höflich  aber  entschie- 
den zurückweisen  müssen.  Wer  überhaupt  weiss, 
was  "Wissenschaft  ist,  kann  sich  mit  niemandem 
auf  eine  Debatte  einlassen ,  der  wissenschaftlichen  | 
Unterricht  mit  der  Abrichtung  für  irgend  einen  f 
Beruf  verwechselt.  Uns  hat  der  Staat  angestellt 
Philologie  zu  lehren :  wie  wir  das  tun ,  darüber 
legen  wir  vor  keinem  irdischen  Tribunale  Rechen- 
schaft ab.  Der  Staat  bindet  die  Zulassung  zu 
bestimmten  Berufen  an  ein  Universitätsstudium, 
für  das  er  die  Minimalfrist  fixiert,  ausserdem  an 
den  Nachweis  bestimmter  Kenntnisse,  deren  Höhe 
er  normiert  und  die  er  durch  eine  besondere  Be- 
hörde prüfen  lässt.  Das  ist  weise  und  billig  an- 
geordnet, und  die  Forderungen  des  Staates  vertra- 
gen sich  durchaus  mit  denen  der  Wissenschaft. 
Doch  jedes  Examen  ist  nicht  mehr  als  ein  not- 
wendiges Uebel,  und  die  selige  goldene  Zeit  sollte 


14 

der  schwarze  Scliatten  der  Examensfurcht  nimmer 
trüben.  Deshalb  ist  allerdings  zu  fordern,  dass 
wer  die  nötige  Zeit,  für  den  Philologen  jetzt  schon 
tatsächlich  4 — 5  Jahre,  seiner  "Wissenschaft  redlich 
und  fröhlich  gedient  hat,  das  staatliche  Examen 
bequem  und  sicher  besteht,  Obwol  der  Staat 
meines  Erachtens  keineswegs  zu  viel,  aber  zu 
vielerlei  verlangt,  ist  das  bei  uns  in  Göttingen 
auch  die  Regel. 

Und  wenn  wir  nun  keine  Schulamtscandidaten 
mehr  unter  unseren  Zuhörern  haben  sollten  —  ja, 
Schulamtscandidaten  kennen  wir  auch  jetzt  nicht 
darunter:  wir  kennen  nur  Studierende  der  Philo- 
logie ;  wenn  es  deren  künftig  weniger  sein  werden, 
zunächst  wenigstens ,  wäre  das  ein  Unglück  für 
uns  ?  eine  Stellung  wie  sie  die  Collegen  einnehmen, 
die  die  semitischen  Sprachen  oder  das  Indische 
lehren  ?  Sie  ertragen  es  auch,  dass  sie  die  elemen- 
tare Grammatik  lehren  müssen,  wie  wir  es  dann 
tun  müssten.  Ob  die  Schule  an  der  Philologie 
hängt,  ist  die  Frage,  die  ich  nicht  erörtere:  dass 
die  Philologie  nicht  an  der  Schule  hängt,  steht 
doch  wol  ausser  Frage. 

Die  Philologie,  was  ist  sie?  Es  ist  nicht 
schön,  dass  man's  nach  F.  A.  "Wolf  noch  sagen 
muss;  aber  es  ist  nötig.  Ich  verzichte  darauf, 
eine  Definition  logisch  zu  praepariren ,  wie  ich 
mich  auch  des  alten  Namens  bediene,   so  verkehrt 


15 

oder  vielmehr  leer  er  ist :  wir  wollen  die  "Wissen- 
schaft durch  ihr  Objekt  bestimmen.  Mit  Homer  i 
beginnt  eine  continuirliche  und  ihrer  Continuität  ' 
sich  stets  bewusste  Culturentwicklung ,  die  immer 
weitere  Gebiete  umspannt,  erst  ganz  Hellas,  dann 
durch  Alexander  den  Orient,  dann  durch  Eom  das 
gesammte  Mittelmeergebiet.  Mit  dem  Zerfall  des 
römischen  Reiches  hört  die  Einheitlichkeit  und  die 
Continuität  dieser  Cultur  auf.  Die  Barbaren  eman- 
cipiren  sich;  das  Christentum,  obwohl  aus  jener 
Cultur  erwachsen,  verläugnet  sie.  Weil  diese 
Cultur  eine  Einheit  ist,  trotz  all  der  Wandlungen 
des  Lebens  und  des  Geistes,  kann  eine  jede  ihrer 
Erscheinungen  in  ihrem  individuellen  Leben  voll- 
kommen nur  vom  Ganzen  her  verstanden  werden, 
und  trägt  jede  kleinste  Erscheinung  ihren  Zug  bei 
zu  dem  Verständnisse  des  Ganzen,  aus  dem  sie 
ward,  in  dem  sie  fortwirkt.  Weil  das  Objekt 
eines  ist,  ist  die  Philologie  eine  Einheit.  Die 
Partikel  av  und  die  Entelechie  des  Aristoteles, 
die  heiligen  Grotten  Apollons  und  der  Götze 
Besas,  das  Lied  der  Sappho  und  die  Predigt  der 
heiligen  Thekla,  die  Metrik  Pindars  und  der  Mess- 
tisch von  Pompeji,  die  Fratzen  der  Dipylonvasen 
und  die  Thermen  Caracallas,  die  Amtsbefugnisse 
der  Schultheissen  von  Abdera  und  die  Taten  des 
göttlichen  Augustus,  die  Kegelschnitte  des  Apol- 
lonios  und  die  Astrologie  des  Petosiris :  alles,  alles 


16 

gehört  zur  Philologie,  denn  es  gehört  zu  dem 
Objecte,  das  sie  verstehen  will,  auch  nicht  eines 
kann  sie  missen. 

In  dieses  ungeheure  Wissensgebiet  so  einzufüh- 
ren, dass  sich  der  junge  Philologe  nach  dem  Ab- 
schlüsse seiner  Studienzeit  selbst  zurecht  finden 
könne,  ist  die  Aufgabe  unseres  Unterrichtes.  Wir 
sollen  ihm  zeigen,  was  zu  lernen  ist,  worauf  es 
ankommt,  und  wie  man's  macht.  Das  A  und  0  ist  und 
1  bleibt  die  lebendige  Herrschaft  über  die  Sprache. 
Nur  kann  man  diese  Kunst  am  wenigsten  lehren,  wird 
auch  selbst  durch  den  sichersten  Prüfstein,  die 
Grammatik,  alle  Tage  nachdrücklich  daran  erin- 
nert, wie  kläglich  das  eigne  Können  immer  bleibt. 
Aber  es  reicht  hin,  wenn  der  Student  die  beiden 
Wahrheiten  voll  erkennt,  erstens,  dass  ohne  Sprach- 
I  kenntnis  jede  Philologie  oder  Historie  oder  Archaeo- 
I  logie  eine  nicht  einmal  kling'ende  Schelle  sein  muss, 
und  zweitens,  dass  jedes  Philologen  Sprachkennt- 
nis nur  durch  unausgesetzte  Uebung  einigermassen 
leistungsfähig  gemacht  werden  kann.  Das  nächste 
ist,  das  rechte  und  gerechte,  das  ist  das  geschicht- 
liche Verständnis  zu  zeigen  und  zu  lehren.  Das 
kann  nur  an  einem  concreten  Objecte  geschehn; 
es  kommt  nicht  viel  darauf  an,  welches  dieses  ist; 
wenn  wir  auch  natürlich  am  liebsten  eins  wählen 
werden,  dessen  Verständnis  einen  absoluten  Genuss 
und  eine  an  sich  bedeutende  Belehrung  verschafft. 


17 

Es  kann  ein  Schriftwerk  sein,  eine  spraclilielie 
Erscheinung,  ein  Gremälde,  eine  Individualität,  sei  es 
Grott  oder  Mensch  oder  Volkstamm  oder  Cultur- 
kreis ,  ein  Satz  eines  bestimmten  Rechtes  oder 
eines  philosophischen  Systemes  ,  kurz  jede  in  sich 
abgeschlossene  Einzelerscheinung;  nur  muss  sich 
die  Aufgabe  lösen  lassen,  dieses  Einzelne  an  seiner 
Stelle  in  der  grossen  Culturentwickelung  voll  zu 
begreifen ,  wie  es  ward ,  was  es  wollte ,  was  es 
wirkte.  Dass  die  schriftstellerischen  Kunstwerke 
mit  Vorliebe  hierzu  gewählt  werden,  wir  durch 
das  eigne  Beispiel  ihrer  Erläuterung  und  durch 
die  Stellung  entsprechender  Aufgaben  an  unsere 
Schüler  vorwiegend  wirken,  ist  vielleicht  selbst 
durch  die  praktischen  Rücksichten  nicht  ganz  ge- 
rechtfertigt, und  der  archaeologische  Unterricht 
ist  schon  deshalb  für  die  philologische  Ausbildung 
unentbehrlich.  Das  dritte  ist,  eine  Uebersicht  über 
die  Gesammtentwickelung  der  Cultur  jener  andert- 
halb Jahrtausende  zu  geben ,  über  ihre  treibenden 
Kräfte,  die  Ziele,  denen  sie  bewusst  oder  unbe- 
wusst  zustrebte,  die  Phasen  der  Entwickelung, 
die  Wandlungen  des  Lebens  und  des  Greistes,  die 
verschiedenen  Sphären,  in  denen  Gleist  und  Leben 
des  Volkes  sich  offenbart  haben.  Dabei  ergiebt 
sich  von  selbst  eine  Orientirung  über  die  Quellen 
und  über  die  Mittel,  durch  die  wir  zu  ihnen  gelan- 
gen. Diese  allgemeinen  Ueberblicke  sind  unerlässlich, 

2 


18 

und  der  Docent  soll  sich  die  Mühe  nicht  verdriessen 
lassen,  obwol  er  immer  von  dem  Bewusstsein  be- 
drückt sein  wird,  höchst  unzulängliches  zu  bieten, 
nicht  selten  auch  unzulänglich  verstanden  zu  wer- 
den. Für  den  Studenten  ist  diese  allgemeine  Ein- 
führung ungleich  wichtiger  als  die  Anleitung  zur 
eigenen  Arbeit,  die  für  den  Lehrer  freilich  das  reiz- 
vollste ist,  aber  doch  erst  in  letzter  Linie  in  Be- 
tracht gezogen  werden  darf.  Es  würde  den  schärf- 
sten Tadel  verdienen,  wenn  irgendwo  der  Anreiz 
zur  Production  auf  Kosten  der  individuellen  Durch- 
bildung gepflegt,  wol  gar  der  Student  zum  wissen- 
schaftlichen Handlanger  verwandt  werden  sollte, 
"da  doch  seine  Seele  genau  dasselbe  Recht  auf  in- 
dividuelles Leben  und  auf  Freiheit  hat  wie  die 
des  Lehrers.  Ich  glaube  aber  nicht,  dass  zur  Zeit 
noch  irgendwo  in  Deutschland  ein  solcher  Mis- 
brauch  besteht.  Der  Studeht  kann  freilich  neben 
der  receptiven  Tätigkeit ,  die  ins  Weite  geht ,  die 
Versuche  der  Production  nicht  entbehren ,  schon 
weil  er  ja  lernen  muss,  wie  die  Wahrheit  gefunden 
wird ,  um  über  anderer  Production  urteilen  zu 
können.  Unsere  Seminararbeiten  und  Doctordisser- 
tationen  sind  mit  nichten  der  Zweck  der  Studien, 
sie  sind  vielmehr  das  bewährte  Mittel  zu  dem 
wahren  Zwecke,  der  wissenschaftlichen  Durchbil- 
dung. Die  Dissertation  ist  im  alten  und  echten 
Sinne  das  Meisterstück,  mit  dem  der  Lehrling  vor 


19 

der  Welt  sein  Recht  beweist,  frei  und  selbständig 
sein  Handwerk  zu  üben.  Nur  so  betrachtet  hat 
sie  ihre  Berechtigung.  Dass  sie  nicht  uner- 
lässlich  ist,  liegt  auf  der  Hand,  während  die 
Geiste sübung,  die  unsere  Seminararbeiten  fördern, 
nicht  entbehrt  werden  kann.  Die  Gefahr,  dass 
die  Concentration  auf  ein  notwendig  enges  Gebiet 
ein  beschränktes  Specialistentum  erzeuge,  ist  vor- 
handen; aber  sie  ist  nicht  schlimmer  als  die  Gefahr 
für  den  Lehrer,  in  seinen  Vorlesungen  ein  gleiches 
zu  tun.  Das  erfährt  man  ja  auf  dem  Katheder,  \ 
dass  man  die  tiefste  Wirkung  erzielt,  wenn  man  l 
die  frischen  Früchte  eigener  neuer  Production  dar-  1 
bietet,  also  notwendig  etwas  sehr  specielles,  oft 
geringfügiges,  und  noch  viel  öfter  sehr  unvollkom- 
menes. Darauf  wollen  wir  nimmermehr  verzichten: 
aber  wir  verwirken  die  innere  Berechtigung  .  zu 
lehren,  wenn  wir  darüber  den  Blick  ins  weite 
vergessen,  oder  gar  versäumen,  den  Blick  unse- 
rer Schüler  ins  weite  zu  lenken,  immer  und  immer 
wieder  die  Forderung  der  einen  unteilbaren  Wis- 
senschaft zu  erheben ,  eine  Forderung ,  die  darum 
nicht  minder  gerecht  und  unerbittlich  ist,  dass  wir 
sie  selbst  im  Grunde  nicht  besser  erfüllen  als  der 
jüngste  Student. 

Von  der  Unzulänglichkeit  der  Fassungs-  und 
Lernkraft  des  einzelneu  Menschen  gegenüber  der 
ungeheuren  Grosso  des  Objektes  auch  nur  zu  reden 

2* 


20 

scheut  man  sich  fast:  denn  was  gehn  die  Philo- 
logen die  Philologie  an  ?  Soll  sich  das  Ewige  nach 
dem  Sterblichen  richten?  Grerade  in  dem  Misver- 
hältnis  des  eigenen  Wissens  zu  unserer  Wissen- 
schaft liegt  ein  grosser  Segen  für  unser  sittliches 
Leben:  und  in  Wahrheit  ist  ja  jede  tüchtige  Lei- 
stung, auch  die  wissenschaftliche,  viel  mehr  ein 
Werk  des  Charakters  denn  des  Talentes.  Wenn 
der  Philologe  von  seiner  kleinlichen  Werkeltags- 
arbeit  das  Auge  aufschlägt  zu  der  Majestät  der 
Wissenschaft ,  dann  wird  ihm  zu  Mute  wie  in  der 
heiligen  Stille  sternheller  Nacht.  Die  Empfindung 
der  Herrlichkeit  und  der  Unendlichkeit  und  der 
Einheit  des  Allganzen  zieht  durch  seine  Seele. 
Demütig  muss  er  sich  sagen  'du  armselig  Menschen- 
\kind,  was  bist  du?  was  kannst  du?'  Aber  wenn 
I  tönend  dann  der  junge  Tag  geboren  wird,  ruft  der 
ihm  zu  'steh  auf,  du  Menschenkind,  steh  auf  und 
wirke,  was  dein  Tag  von  dir  verlangt ,  wozu  Gott 
in  deine  Seele  die  lebendige  Schaffenskraft  gelegt 
hat:  erwirb  dir  durch  Arbeit  einen  Anteil  am 
Ewigen  und  Unendlichen.'  Beides,  den  Hochgenuss 
des  demütigen  Anschauens  und  den  Stolz  der  hin- 
gebenden Arbeit  soll  jeder  Philologe,  auch  jeder 
Student  der  Philologie  erfahren,  erleben.  Erreichen 
wird  er's  nur  durch  eigne  Kraft,  und  keine  Facul- 
tät  und  keine  Behörde ,  nur  das  eigne  Herz  kann 
ihm  das  Zeugnis  ausstellen:  du  bist  ein  Philologe. 


21 

Aber  die  Wege  ihm  zu  weisen ,  die  Hand  zu  rei- 
chen, auf  dass  er  sich  selbst  helfe:  dazu  sind  wir 
da,  seine  Lehrer,  die  Grenossen  seiner  Arbeit.  Dies 
unser  Lehramt,  dies  unser  gemeinsames  Lernen 
wird  uns  keine  Schulreform  und  keine  Universitäts- 
reform zerstören  noch  verleiden. 

Meine  verehrten  Herrn  Collegen  werden  den 
Preis  meiner  Wissenschaft  nicht  ohne  den  stillen 
Protest  angehört  haben,  dass  ich  der  Philologie  zu- 
schreibe, was  doch  der  Wissenschaft  im  Ganzen 
erst  gebühre,  in  jener  idealen  Einheit,  die  der  Name 
Philosophie  allein  richtig  bezeichnet,  seiner  Her- 
kunft nach,  und  so  wie  er  noch  jetzt  die  philo- 
sophische Facultät  ziert.  Bereitwillig  gebe  ich 
das  zu;  um  so  lieber,  da  ich  die  Ehre  habe,  einer 
philosophischen  Facultät  anzugehören,  in  welcher 
die  Einheit  und  die  Eintracht  aller  philosophischen 
Einzelwissenschaften  eine  anerkannte  Herrschaft 
übt.  Gewiss,  das  was  gross  und  erhaben  ist  in 
dem  was  jeder  von  uns  treibt,  ist  das  was  uns 
allen  gemeinsam  ist,  die  rein  wissenschaftliclie 
philosophische  Arbeit ;  aber  dass  das  Bewusstsein 
der  Einheit  unter  den  Philologen  mächtiger,  in 
der  verwirrenden  Mannigfaltigkeit  der  Einzelar- 
beiten der  centripetale  Zug  stärker  ist  als  sonst 
irgendwo,  das  behaupte  ich,  weil  es  eine  Tatsache 
ist,  eine  offenkundige,  und  wie  mich  dünkt,  eine 
merkwürdige.    Offenkundig  ist  sie,  denn  obgleich 


22 

in  der  philosophischen  Facultät  eine  Anzahl  Ver- 
treter der  philologischen  Disciplinen  sitzen,  einige 
unterschieden  durch  einen  besonderen  Lehrauftrag, 
aber  auch  die  übrigen  in  Lehre  und  eigner  Arbeit 
nicht  minder  auf  einen  kleinen  besonderen  Teil 
beschränkt,  so  erkennen  wir  uns  doch  alle  als 
gleichberechtigte  Vertreter  derselben  "Wissenschaft 
au,  und  wenn  z.  B.  zwei  von  uns  neben  einander 
prüfen ,  so  tun  sie  das  im  Bewusstsein ,  dass  sie 
beide  in  beidem  sachverständig  sind,  und  weil  sie 
es  sind,  ist,  soweit  meine  persönliche  Erfahrung 
reicht,  eine  Meinungsverschiedenheit  in  keinem 
Falle  hervorgetreten.  Das  liegt  nicht  an  unseren 
Personen,  sondern  an  unserer  Wissenschaft.  Und 
merkwürdig  ist  es  wahrhaftig,  dass  für  die  Philo- 
logie schlechthin  unerträglich  ist ,  was  die  Natur- 
wissenschaft nicht  blos  verträgt ,  sondern  zu  ver- 
langen scheint,  in  der  sich  gegenwärtig  immer  noch 
neue  Disciplinen  abgliedern ,  deren  Vertreter  sehr 
bald  ein  gesondertes  Sachverständnis  beanspruchen 
und  anerkannt  erhalten.  Nicht  bei  diesem  Gegen- 
satze verweile  ich ;  aber  ein  Blick  auf  die  uns  be- 
nachbarten Teile  der  Geisteswissenschaft  darf  ge- 
wagt werden. 

Der  Orientalist,  mit  dem  wir  in  enger  Fühlung 
leben,  muss  sehr  viele  Sprachen  kennen,  und  er 
betrachtet  es  als  selbstverständlich,  dass  ausser 
deren  Grammatik  und  Schriftwerken  auch  alle  an- 


23 

dern  Lebensäusseriingen  der  Cnltur  jener  Völker, 
ihre  Religiouen  und  ihre  Geschichte  in  seinem 
Arbeitsbereiche  liegen ;  ob  die  Denkmäler  auf  Stein 
oder  Ziegel  oder  Papier  überliefert  sind,  macht 
vollends  keinen  Unterschied.  Er  ist  genau  in  dem 
Sinne  für  seine  Sphäre  Philologe  oder  Historiker 
oder  Archaeologe,  wie  man's  nennen  will,  wie  wir 
für  die  unsere.  Die  einzelne  Person  vermag  auch 
dort  nur  einzelner  verhältnismässig  kleiner  Teile 
sich  so  weit  zu  bemächtigen,  dass  sie  zu  produc- 
tiver  Arbeit  fortschritte ,  und  so  findet  auch  dort 
die  Arbeitsteilung  tatsächlich  statt.  Es  fällt  nur 
weniger  ins  Auge,  weil  selten  eine  grössere  Zahl 
von  Orientalisten  neben  einander  wirken. 

Das  Studium  des  Indischen  hat  vor  etwa  100 
Jahren  begonnen  mit  der  wunderbaren  Sprache  und 
wenigen  Hauptschriften ;  jetzt  sehen  wir  es  voll- 
kommen ausgewachsen  zu  einer  Philologie ,  genau 
so  allumfassend,  also  auch  genau  so  grossartig 
wie  die  unsere. 

Das  Studium  der  Zeiten,  die  auf  den  Sturz  des 
römischen  Reiches  folgen,  ist  dadurch  erschwert, 
dass  die  Einheit  und  das  Bewusstsein  der  Zusam- 
mengehörigkeit der  Cultur  dem  älteren  Mittelalter 
gebricht,  und  später  zwar  eine  Cultur  erwächst, 
die  in  der  wesentlichsten  Grundlage  eine  Einheit 
hat,  aber  gebildet  wird  durch  das  Zusammenwir- 
ken vieler  gleichberechtigter  nationaler  Culturen, 


24 

eben  deshalb  unendlicli  reicher  denn  die  Antike, 
aber  kaum  noch  wie  jene  als  eine  Einheit  zu  er- 
fassen: es  ist  die  Cultur  in  der  wir  leben.  Nur 
wo  sich  wieder  ein  in  sich  wirklich  abgeschlossenes 
Culturgebiet  abzweigen  lässt,  tritt  auch  der  Be- 
griff der  Philologie  in  seiner  Ganzheit  mächtig 
hervor.  Das  gilt  von  dem  byzantinischen  Grie- 
chentume,  das  Europa  wesentlich  aus  Unkenntnis 
zu  verachten  pflegt.  Jüngst  hat  nun  ein  ener- 
gischer deutscher  Gelehrter  den  schönen  "Wage- 
mut der  Tat  gehabt  und  für  dieses  Gebiet  die 
Selbständigkeit  und  die  Gleichberechtigung  gefor- 
dert. Sein  wird  der  Ruhm  sein,  die  byzantinische 
Philologie  gegründet  zu  haben,  denn  er  hat  sie 
sofort  in  dem  echten  Sinne  gefasst,  so  dass  neben 
der  Sprache  die  Geschichte,  neben  der  Poesie  die 
bildende  Kunst,  und  Recht  und  Sitte  und  Religion 
auftritt.  Auch  darin  hat  er  sich  als  wahrer  Philo- 
loge erwiesen ,  dass  er  alle  Nationen  gleicher- 
massen  zur  Mitarbeit  berufen  hat.  In  allen  an- 
deren Gebieten  der  jüngeren  Cultur  Europas  ist 
es  herkömmlich,  dass  die  Erforschung  von  Sprache 
und  Litteratur,  die  sich  dann  Philologie  nennt, 
sich  von  der  Geschichte  scheidet.  Und  dann 
scheiden  sich  die  Sprachen,  und  dann  will  die 
Kunstgeschichte  für  sich  stehn ,  und  so  geht  es 
weiter.  Es  wird  das  ja  wol  notwendig  sein,  denn 
es  ist.    Ich  will   von  einzelnen   bedenklichen  Er- 


25 

scheinungen  nicht  reden,  die  man  geneigt  sein 
könnte  auf  diese  Scheidung  zurückzuführen :  lieber 
weise  ich  auf  den  gigantischen  Torso  von  MüUen- 
hoffs  Deutscher  Altertumskunde  hin.  Dieser  grosse 
Mann  hat  seine  Philologie  als  ganzes  erfasst,  wie 
Boeckh  sie  uns  zu  fassen  gelehrt  hat,  und  er  hat 
sich  an  ein  "Werk  gewagt,  wie  Boeckh  in  den 
Blütenträumen  seiner  Jugend  einen  'Hellen'  zu 
schreiben  sich  vorsetzte.  MüUenhoffs  "Werk  ist  nicht 
vollendet,  und  keiner  wird  es  zu  vollenden  ver- 
suchen, so  wenig  wie  Boeckh  seinen  Hellen  ge- 
schrieben hat,  oder  irgendjemand  das  Vollbild  des 
Hellenentums  liefern  wird.  Aber  eine  ideale  For- 
derung der  Wissenschaft  bleibt  dieses  Vollbild ;  in 
der  Seele  sollen  wir  es  alle  tragen,  und  diese  For- 
derung gilt  für  das  Studium  jeder  in  sich  abge- 
schlossenen Culturwelt.  Weil  die  Wissenschaft  sich 
selbst  die  Ziele  setzt,  mag  sie  auch  die  Wege 
weisen.  Ich  rechte  nicht  mit  der  Scheidung  von 
Philologie  und  Geschichte  für  die  modernen  Zeiten ; 
es  mag  der  rechte  Weg  sein,  wenn  nur  das  Ziel 
bleibt,  das  notwendig  eines  ist  und  nicht  niedriger 
gesteckt  werden  darf.  Unmöglich  können  wir  um 
der  Analogie  der  modernen  Sprachen  willen  bei 
uns  den  Emancipationsgelüsten  einzelner  Disciplinen, 
oder  besser  vereinzelter  Historiker,  Grammatiker, 
Archaeologen  nachgeben,  die  alle  an  der  Wert- 
losigkeit ihrer  Früchte  bald  erkannt  worden  sind, 


26 

oder  es  in  bälde  werden:  ich  glaube  vielmehr,  die 
gleichberechtigten  aber  jüngeren  "Wissenschaften 
würden  sich  nichts  vergeben ,  wenn  sie  von  den 
Erfahrungen  der  ältesten  Schwester  etwas  mehr 
Notiz  nehmen  wollten. 

Es  war  eigentlich  meine  Absicht  gewesen,  heute 
an  einer  Anzahl  bezeichnender  Beispiele  zu  zeigen, 
dass  diese  modernen  Philologien,  das  Wort  in 
unserem  Sinne  gebraucht,  meine  "Wissenschaft  und 
ihr  Object,  das  Hellenentum,  zu  ihrem  eignen 
Schaden  häufig  ignorieren;  etwa  die  modernste 
Theorie  der  Lyrik  mit  der  geschichtlichen  Darle- 
gung des  "Werdens  des  griechischen  Liedes  und 
Chorgesanges  ad  absurdum  zu  führen;  oder  im 
Gregensatze  zu  modernen  Debatten  über  politische, 
Litteratur-  und  Culturgeschichte  vorzuführen ,  wie 
diese  Fragen  theoretisch  und  praktisch  von  Leuten 
behandelt  worden  sind,  deren  Namen  doch  noch 
einigen  Klang  haben ,  Herodotos  und  Aristoteles, 
Dikaiarchos  und  Poseidonios.  Wenn  die  beiden 
letzten  minder  klingen,  so  sind  doch  erst  sie  For- 
scher im  modernen  Sinne.  Aristoteles  ist  das  noch 
nicht  gewesen;  ich  erinnere  mich  wol,  wie  sehr 
es  mich  einst  befremdete,  als  ich  jemanden,  dem  ich 
die  Berechtigung  nicht  absprechen  konnte,  dies  für 
die  Naturwissenschaft  dem  Aristoteles  abstreiten 
hörte:  jetzt  habe  ich  es  auf  dem  geschichtlichen 
Gebiete  selbst  bestätigt  gefunden. 


27 

Auch  (las  hatte  mich  stark  gereizt,  auf  Fragen 
und  Einwürfe  zu  antworten,  die  mir  von  natur- 
wissenschaftlichen Collegen  gelegentlich  gemacht 
sind;  wofür  ich  immer  besonders  empfänglich  bin. 
"Wie  ist  es  möglich,  dass  das  heliocentrische  Sy- 
stem entdeckt  ist  und  vergessen  wird?  Wie 
konnte  unter  den  acht  naturwissenschaftlichem 
Denken  abholden  Hellenen  ein  Archimedes  erstehn  ? 
Ist  nicht  die  antike  Cultur  zu  Grrunde  gegangen, 
weil  man  nicht  einmal  das  wenige  ,  was  man  von 
Naturwissenschaft  besass,  praktisch  anzuwenden 
wusste;  die  Leute  hatten  ja  nicht  einmal  Uhren. 
Das  wäre  einer  Antwort  wol  wert  gewesen ,  auch 
an  dieser  Stelle.  Vieles  ist  bloss  ein  Vorurteil ; 
das  Gehäuse  der  Normaluhr  von  Athen  steht  noch 
auf  dem  Markte,  der  Turm  der  Winde.  Und  wenn 
jetzt  der  Automat  Nasch  werk  oder  derlei  Tand 
für  einen  eingeworfenen  G-roschen  spendet ,  so  lie- 
ferte er  damals  in  genau  derselben  "Weise  das 
Weihwasser  an  der  Tempeltür.  Das  Volk,  das 
den  Wandel  der  Erde  um  die  Sonne  entdeckt  hat 
und  in  dem  Archimedes  keine  vereinzelte  Erschei- 
nung ist ,  war  wirklich  der  Naturwissenschaft 
nicht  abhold :  die  Zeiten  und  Personen  und  Werke, 
in  denen  diese  Geisteswirkung  dominirt,  sind  nur 
sehr  schwer  zu  erforschen  und  sehr  wenig  er- 
forscht; dass  das  besser  werde,  dazu  müssen  uns 
Philologen,  weil  wir  begreiflicherweise  das   sach- 


28 

liehe  Verständnis  nicht  besitzen,  unsere  naturwis- 
senschaftlichen CoUegen  helfen.  Dass  aber  die 
Naturwissenschaft  das  Hellenentum  nicht  vor  der 
Barbarei  bewahrt  hat,  ist  allerdings  sehi'  bemer- 
kenswert. Sie  kann  das  eben  nicht  besser  als 
die  Poesie  oder  Sculptur  oder  Grammatik.  Der 
Untergang  aller  "Wissenschaften  ist  bei  den  Hel- 
lenen- eine  Folge  des  Unterganges  der  politischen 
Freiheit ,  und  dieser  ist  eine  Folge  der  gesell- 
schaftlichen und  sittlichen  Zersetzung  des  Volkes. 
Das  lehrt  die  hellenische  G-eschichte;  eine  ernste 
Lehre,  deren  Begründung  wol  auch  für  unsere 
Zeit  und  diesen  Platz  getaugt  hätte. 

Aber  alle  diese  reizvolleren  Gegenstände  habe 
ich  fahren  lassen  und  erwähne  sie  nur  im  Vor- 
beigehen, weil  alle  auf  dieselbe  Tatsache  deuten, 
deren  Hervorhebung  mich  zu  meinem  Ausgangs- 
punkte zurückführt.  Selbst'  die  ernsten  Männer  in 
Deutschland  wissen  vom  Altertume  überaus  wenig 
und  wollen  noch  weniger  von  ihm  wissen.  Sie 
identificiren  es  so  ziemlich  mit  dem  was  die  Schule 
ihnen  davon  geboten  hat.  Ein  wenig  ist  daran 
die  Schule  wirklich  schuld.  Wie  oft  hört  man 
'  den  eben  so  anmasslichen  wie  grellen  Unsinn,  dass 
die  Schule  in  den  Geist  des  Altertums  einführe. 
Als  ob  das  Altertum  einen  einzigen  Geist  gehabt 
hätte,  die  Schulschriftsteller  alle  denselben  hätten 
(Homer   etwa  und  Ovid,   oder    auch  Piaton    und 


29 

Demostlienes) ,  und  gar  die  nicht  für  die  Knaben 
ausgewählten  auch  denselben ;  wo  dann  freilich 
der  Materialismus  Demokrits,  die  kritische  Skepsis 
des  Karneades  und  sämmtliche  exacte  Wissenschaf- 
ten als  unantik  erscheinen  müssen.  Wahrhaftig, 
wenn  das  Altertum  nicht  mehr  und  nicht  anderen 
Geist  gehabt  hätte,  als  ein  Knabe  fassen  kann  und 
darf,  so  soll  man  Männer  mit  ihm  verschonen. 
Ein  zweites  ist  was  die  Schule  ohne  Verschuldung 
wirkt ,  dasselbe  was  jetzt  leider  unsere  grossen 
Dichter  auch  erfahren.  Weil  sie  so  viel  zur  Schul- 
lectüre  verwandt  werden ,  meint  man  leicht ,  man 
kenne  sie  damit  genug  und  hält  sie  bald  für  blosse 
Schülerlectüre.  Es  leuchtet  ein,  dass  diese  Vorur- 
theile  beseitigt  werden,  sobald  die  alten  Bücher 
aus  der  Schule  verschwinden.  Wenn  sie  den  Kna- 
ben entzogen  werden,  werden  die  Männer  sie  viel- 
leicht lieber  aufsuchen  ;  oder  besser  die  Erwach- 
senen :  denn  ich  bin  zwar  so  unmodern ,  meine 
Wissenschaft  für  mein  Geschlecht  zu  reserviren, 
aber  das  Hellenentum,  nicht  als  Naschwerk,  son- 
dern als  Nahrung  der  Seele  ,  zur  Erhebung  und 
Erbauung,  gönne  ich  unsern  Frauen  und  Töchtern 
auch;  sie  sind  nicht  unempfänglich  dafür:  man 
inuss  es  ihnen  nur  nahe  bringen.  Unser,  der  Phi- 
lologen, Vermittleramt  wird  schwerer,  aber  auch 
notwendiger  und  lohnender  werden. 

Das  Hellenentum  ist   auf  den  Schild  erhoben, 


30 

das  Griechische  zu  einer  bedeutenden  Rolle  im 
Knabenunterrichte  berufen  erst  in  Folge  der  Gei- 
stesrichtung, die  im  vorigen  Jahrhundert  das  Eo- 
cocco  überwand  und  stürzte.  Die  grossen  Lehr- 
meister unseres  Volkes  haben  es  als  aesthetisch 
künstlerisches  Ideal  aufgerichtet,  dem  sich  auch 
Staat  und  Leben  und  Sittlichkeit  unterordnen  soll- 
ten. Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Imitation 
des  Hellenentumes  in  der  bildenden  Kunst  des 
Classicismus  uns  jetzt  meistens  widersteht.  Aber 
ein  aesthetisch  künstlerisches  Ideal  genügt  uns 
wirklich  überhaupt  nicht  mehr ;  wir  fordern ,.  wir 
haben  ein  reicheres  "Volksleben.  Daher  die  Ab- 
neigung gegen  die  Antike.  Wenn  sie  in  jenen 
Idealen  erschöpft  wäre ,  so  würde  ich  die  Abnei- 
gung nicht  nur  begreifen,  sondern  teilen.  Aber  so 
wenig  Polygnot  gemalt  hat  wie  Flaxman  oder  die 
Gebrüder  Riepenhausen ,  so'  wenig  hat  den  Helle- 
nen eben  der  Reichtum  des  Lebens  gefehlt,  den 
wir  Modernen  fordern.  Das  muss  der  Philologe 
selbst  sehen  lernen  und  es  dann  den  andern  zei- 
gen. Die  Augen  muss  er  offen  halten  und  nach 
allen  Seiten  umschauen ,  keiner  Anregung  darf 
er  sich  verschliessen  und  soll  wissen ,  dass  er  von 
allen  etwas  lernen  kann.  Dann  wird  er  auch  in 
dem  Object  seiner  Wissenschaft  tiefer  und  weiter 
sehn ,  und  davon  den  anderen  mitteilen  können. 
Die  anderen   sind   gai"   nicht   so   böse.     Sie  wollen 


31 

das  alte  tote  Zeug  mir  wegwerfen,  weil  es  tot  sei : 
wenn  es  das  ist,  so  haben  sie  ja  recht.  Beweisen 
wir  ihnen,  dass  es  lebt,  sorgen  wir  dafür,  dass  sie  \ 
seine  lebendige  Kraft  an  sich  selbst  verspüren  :  : 
dann  werden  sie  es  schon  respektiren.  Das  ist  es, 
was  ich  sagen  wollte ;  dem  Kleinmut  und  der  Ver- 
zagtheit der  Philologen  wollte  ich  entgegentreten. 
Unserer  Wissenschaft  als  Wissenschaft  will  nie- 
mand etwas  zu  leide  tun,  am  wenigsten  der  Staat, 
der  sie  vielmehr  fördert,  so  gut  er  kann.  Sie  wird 
auch  dadurch  nicht  schwer  geschädigt  werden, 
wenn  wir  unsere  Lehre  einer  veränderten  Knaben- 
bildung anpassen  müssen.  Der  Glaube  an  die 
Macht  und  den  Wert  der  Antike  ist  allerdings 
bedroht,  und  wir,  die  wir  ihn  hochhalten,  sehen 
darin  eine  schwere  Gefahr  für  die  geistige  und  sitt- 
liche Gesundheit  unseres  Volkes,  oder  vielmehr  der 
gesammten  menschlichen  Cultur :  denn  die  ist  trotz 
allem  Nationalitätenhader  eine,  und  darum  geht 
der  Kampf  der  Barbarei  und  des  Banausentumes 
gegen  das  Ideal  auch  über  die  ganze  Erde,  In 
diesem  Kampfe  stehen  wir:  wolan  denn,  so  wollen 
wir  unsern  Mann  stehen.  Denn  wenn  die  Cultur, 
an  die  wir  glauben ,  untergeht ,  so  ist's  unsere 
Schuld :  keine  Ausrede  kann  sie  von  unserem  Ge- 
wissen abwälzen.  Mag  e^s  gegenwärtig  in  Deutsch- 
land trüb  für  uns  aussehn ,  das  ist  doch  nur 
Schein,    denn  unsere  Wissenschaft  —  ich  täusche 


micli  nicht  —  ist  stärker  und  gesünder  denn  vor 
einem  Menschenalter,  und  in  andern  Ländern  ist 
der  Stern  des  Hellenentumes ,  der  früher  tief  ge- 
sunken war,  mächtig  im  Steigen,  Haben  sich  doch 
in  Frankreich  und  England,  den  alten  Hochburgen 
der  Cultur,  von  denen  wir  Deutsche  immer  noch 
lernen  können,  schon  die  Freunde  der  guten  Sache 
zu  mächtigen  Gesellschaften  zusammengeschlossen; 
Italien  und  Hellas  können  ihres  eignen  Adels 
nimmermehr  vergessen;  stellt  doch  das  kleine  aber 
in  seiner  Eigenart  starke  Dänemark  eine  Kern- 
truppe von  Meistern  und  Schülern;  eine  frische 
Jugend  rührt  sich  in  Schweden  und  Finnland ; 
und,  wenn  sie  nicht  in  nationaler  Tracht  gehu 
müssten,  würden  die  russischen  Mitarbeiter  längst 
den  verdienten  Platz  in  der  vordersten  Reihe  ein- 
nehmen; ja  es  gehen  die  philologischen  Schützen- 
schwärme schon  von  dem  gesicherten  Osten  west- 
wärts vordringend  über  das  unendliche  Gebiet  des 
Sternenbanners  vor.  Nein,  wenn  wir  nur  unserm 
Ideale  Treue  halten ,  so  können  wir  dem  kom- 
menden zwanzigsten  Jahrhundert  festen  Auges  ent- 
gegenblicken. Was  es  auch  den  Völkern  bringe : 
die  Sonne  Homers  wird  leuchten  über  die  weite 
Welt,  Licht  und  Leben  spendend  den  Menschen- 
seelen, herrlich  wie  am  ersten  Tag. 


33 

Die  eigentliche  Aufgabe  der  heutigen  Feier  ist 
die  Verkündigung  der  Urteile  der  Facultäten  über 
die  eingereichten  Preisschriften  und  die  Bekannt- 
machung der  neuen  Preisaufgaben.  Der  erhabene 
Stifter  der  Preise ,  dessen  Gredächtnistag  wir  da- 
dui'ch  pietätvoll  begehen,  hat  mit  dieser  Institu- 
tion, die  jetzt  an  allen  Universitäten  in  Gebrauch 
ist ,  den  Anfang  gemacht  und  verdient  deshalb 
doppelten  Dank.  Es  muss  aber  die  Frage  aufge- 
worfen werden,  ob  die  Form  und  die  Bedingungen 
der  Concurrenz  noch  den  Bedürfnissen  der  Gregen- 
wart  entsprechen.  Denn  die  Beteiligung  ist  schon 
seit  längerer  Zeit  leider  keine  starke  mehr. 

VerMndigung  der  Urteile  der  Facultäten  über  die  ein- 
geliefetien  Freisarheiten  und  der  neuen  Aufgaben. 


Die  Universität  schaut  heute  auf  ein  Jahr 
zurück ,  das  zwar  im  ganzen  ein  ruhiges  war, 
insbesondere  durch  das  fast  völlig  tadellose  Ver- 
halten der  Studentenschaft,  der  ich  mit  Freuden 
den  Dank  der  Universität  aussprechen  kann ,  das 
aber  in  ihrem  Lehrkörper  sowol  durch  den  Tod 
wie  durch  andere  Ursachen  so  bedeutende  Verän- 
derungen hervorgerufen  hat,  dass  es  nicht  angeht, 
ihrer  aller  einzeln  zu  gedenken.  Nur  an  die 
Wintersonnenwende  will  ich  erinnern,  wo  wir  einen 

3 


34 

Collegen  in  die  harte  Erde  betteten,  den  rasch  und 
grausam  der  Tod  weggerissen  hatte  aus  einem 
Leben  voll  Arbeit,  voll  Streit.  Die  Universität 
hat  die  Schwere  dieses  Verlustes  empfunden ,  und 
auch  die  versöhnende  Kraft  des  Todes.  Dem  Toten 
hat  viel  an  der  Erhaltung  seines  Namens  gelegen, 
aber  auch  unsere  Universität  und  die  "Wissen- 
schaft hat  er  heiss  geliebt.  Möge  ihm  sein  Wunsch 
erfüllt  werden,  dass  das  Gedächtnis  seines  Namens 
erhalten  werde,  wie  er  es  verordnet,  uns  aber  der 
unsere ,  für  den  wir  getan  haben ,  was .  wir  ver- 
mochten :  dass  ungestörter  Friede  dieses  Grab  um- 
schwebe. Und  nun  denken  Sie  ein  Halbjahr  zurück, 
an  den  sonnenhellen  blühendprächtigen  Mittsommer- 
tag, da  wir  den  ältesten  und  berühmtesten  Göttin- 
ger hinübertrugen  auf  den  Gottesacker  von  der 
friedlichen  Gartenbank,  auf  der  er  den  welken  Leib 
ohne  Scheideschmerz  verlassend  hinüber  geschlum- 
mert war  in  das  Reich  des  ewigen  Lichtes :  eines 
sonnigen  Lebens  sonniger  Abschluss.  Aber  auch 
dieses  Leben  hatte  seinen  Kampfestag  gesehen, 
einen  schöneren  selbst  und  beneidenswerteren  als 
diesen  schönen  Scheidetag:  den  Tag,  da  er  den 
Mut  hatte  seinen  Eid  nicht  zu  brechen,  den  sein 
Staat,  auch  seine  Universität  preisgaben.  Der 
sittliche  Mut  von  sieben  Professoren  hat  doch 
gesiegt  über  Staatsraison  und  Weltklugheit,  über 
Fürstenwillkür  und  Beamtengefügigkeit,  Gelehrten- 


35 

hoffart  und  die  Dumpfheit  der  Masse.  Den  Wer- 
ken des  grossen  Physikers  wird  die  Pietät  seiner 
Nachfolger  und  CoUegen  ein  Ehrendenkmal  stiften : 
die  Gewissenstat  des  mutigen  Mannes  sollen  wir 
uns  alle  tief  ins  Herz  schreiben.  Bewahre  Gott 
unser  Vaterland  und  jeden  von  uns  vor  einem 
solchen  Conflicte;  aber  wenn  er  kommen  sollte: 
möge  er  nicht  bloss  sieben,  nicht  bloss  GÖttinger, 
nicht  bloss  Professoren  finden ,  die  ohne  Furcht 
und  ohne  Eitelkeit,  einzig  dem  nimmer  trügenden 
Rufe  eines  lauteren  Herzens  folgend,  für  Recht 
und  Wahrheit  handeln  und  leiden. 

Die  Georgia  Augusta  steht  in  cadente  domo : 
so  sagen  die  Leute  und  schreiben  die  Zeitungen, 
und  die  Statistik  der  Studentensummen  scheint  es 
zu  bestätigen.  Auch  in  diesem  Sommer  ist  die 
Zahl  bei  uns  um  ein  par  Köpfe  heruntergegangen. 
Es  würde  viel  leichter  gewesen  sein  ,  diese  Tat- 
sache nur  in  der  definitiven  Feststellung  hervor- 
treten zu  lassen,  die  niemand  liest,  als  die  Wahr- 
heit schon  jetzt  festzustellen:  unser  Personalbe- 
stand führt  nicht  nur  keine  toten  Seelen,  die  de- 
finitive Feststellung  wird  vielleicht  eher  ein  Plus 
ergeben.  Wir  suchen  und  sagen  die  Wahrheit, 
mag  sie  uns  erwünscht  sein  oder  nicht.  Erwünscht 
ist  im  höchsten  Grade ,  dass  der  Studenten  in 
Deutschland  weniger  werden;  dass  sie  an  Zahl  in 
Göttingen  mehr  zurückgehen  als  anderswo,  ist  für 


36 

uns  zum  mindesten  unerwünscht.  Aber  in  cadente 
domo  stehen  wir  deshalb  noch  lange  nicht,  und  ich 
glaube,  das  Ergebnis  würde  für  uns  ein  wesent- 
lich anderes  sein,  wenn  man  die  Summe  der  affec- 
tiv geleisteten  Arbeit  wägen,  wenn  man  die  durch 
die  Universität  zum  wissenschaftlichen  Leben  er- 
weckten Seelen  zählen  könnte.  Endlich  fühle  ich 
mich  hier  dazu  gedrängt,  unserem  Staate  und  un- 
serem vorgesetzten  hohen  Ministerium  den  ganz 
besonders  warmen  Dank  auszusprechen,  dass  man 
das  Vertrauen  in  die  Greorgia  Augusta  nicht  ver- 
liert: unzählbar  sind  die  Beweise  der  sachlichen 
und  der  persönlichen  Förderung,  die  uns  geworden 
sind,  unseren  Wünschen  ist  die  wolwollendste  Be- 
rücksichtigung niemals  versagt ,  fast  möchte  ich 
sagen,  öfter  als  wir  selbst  zu  hoffen  wagten,  Er- 
füllung geworden.  Nur  die  eine  Bitte  für  unser 
schönstes  Kleinod,  unsere  Bibliothek,  muss  wieder 
und  wieder  erschallen.  Wir  haben  den  sicheren 
Beweis,  dass  der  hohe  Greist  der  Stifter  dieser 
Hochschule  auch  den  preussischen  Staat  beseelt : 
die  Greorgia  Augusta  soll  und  wird  eine  Stätte 
der  Wissenschaftlichkeit ,  der  ernsten  und  der 
freien  Wissenschaft  bleiben. 

In  Dankbarkeit,  Ehrfurcht  und  Treue  kränzen 
wir  heute  das  Bild  unseres  Stifters  und  Paten,  ge- 
denken wir  unseres  erhabenen  Rector  magnificen- 
tissimus,  und  erheben  wir  laut  und  freudig  unsere 


37 

Stimme ,    huldigend    und  grüssend  unseren   aller- 
gnädigsten  Kaiser,  König  und  Herrn. 

"Wilhelm  11.   Kaiser   von   Deutschland ,    König 
von  Preussen  lebe  hoch! 


Göttingen ,  Druck  der  Dieterich'schen  Univ.  -  Buclidruckorei  (W.  Fr.  Kaestuer), 


■«Ä'Ä^ 


MAP  '  ' 


.^^ 


POCKET 


LIBRARY 


I 


—  .:il.:i.nowitz-LoGllendorff, 

76  Ulrich  von 

G^V.'f.       Fhilolo£,ie  und 

-ohulreform,  2.  .'-.bdrack