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Full text of "Philologus"

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PHILOLOGÜS 


ZEITSCHEIFT 


FÜR 


DAS  CLA8SISCHE  ALTERTHUM 

BEGRÜNDET 

VON  F.  W.  SCHNEIDEWIN  und  E.  v.  LEUTSCH 

HERAUSGEGEBEN 


OTTO  CBUSIUS 

IN  MÜNCHEN 

Band  LXVIII. 

(N.  F.  Bd.  XXII). 


LEIPZIG 

DIETERICH'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG. 

THEODOR     WEICHER 

INSELSTRASSE  10 

1909. 


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Druck  von  H.  Laupp  jr  in  Tübingen. 


Inhalt  des  achtundsechzigsten  (zweiundzwan- 
zigsten) Bandes*). 

De  Mercurio  Aristophaneo.     Scr.  S.  FAtreni      ....  344 

Zu  Lykopbrons  Nachleben.     Von  B.  A.  Müller 578 

Zu  Demokritos  nspi  eu9-u(iiY]g.    Von  K.  LincJce 57o 

Zu  Thukyd.  I,  24,  3.    Von  Johannes  Baunack 446 

Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gast- 
mahl (cap.  24—29).     Von   W.  Gilbert      ....  52 

Platonica.     Von  Constantin  Bitter 332 

Die    politischen    Grundanschauungen    Piatons.     Von    C. 

Bitter 229 

Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.     Von  Otto  Gilbert     .  368 
Ein  Bruckstück  des  Anonymus  lamblichi.    Von  K.  Bit- 
terauf    501 

Da?  Verhältnis   des   Lucretius    Carus    zur  Musik.     Von 

K.  Hartmann 529 

Zu  Vergils  Eclog.  I  59,  69.    Von  Max  Schneider 447 

Ueber  zwei  Horazstellen.     Von  Ä.  Buppersberg    .     .     .  523 

Zu  Martial.     Von  Gustav  Friedrich 88 

Zu  Martial  m  58.    Von  Otto  Frohst 319 

Noch  einmal  De  divinatione.     Von  D.  Heeringa  .     .     .  560 
Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite.    Von  Walter 

Anderson 537 

Priscianus.     Von  Ludivig  Jeep 1 

Glossen  aus  Cassius  Felix.     Von  0.  Probst      ....  550 


*)  Die  Titel  der  Miscellen  sind  mit  kleinerer  Schrift  gedruckt. 


IV       Inhalt  des  achtundsechzigsten  (zweiundzwanzigsten)  Bandes. 

Bobiensia.    Neue  Beiträge  zu  den  Bobienser  Ciceroscho- 

lien.     Von  Th.  Stmujl 71 

Erchanberts    von    Freising    Donatcommenfcar.     Von   M. 

Manitiiis 396 

Karer  und  Leleger.     Von    Wolf  Aly 428 

Der  Koer  Kadmos.     Von  J.  Sitsler 321 

Zwei  attische  Dekrete.     Von  J.  Sundwall 569 

Die  Weltkarte  des  Agrippa.    Von  Erich  Gleye 318 

Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.    Von  Albert 

3Iüller 464 

'Pwiiog  und  Remus.    Von   W.  Soltan 154 

Der  erste  punische  Krieg.  Von  Friedrich  Eeuss  .  .  410 
Der  Quincunx  im  römischen  Heere  zur  Zeit  der  Mauipu- 

larstellung.     Von  Th.  Stebnvender 260 

Studien    zu    den   Acta    Imperator  um  Romanorum.     Von 

Odilo  Haberleitner 271 

Mythographiscbes.     Von  G.  Lippold 152 

Herakles  am  Scheidewege.     Von    W.  Schultz    ....  489 

Kuba-Kybele.     Von  Eobert  Eisler 118.  161 

Zum  Pariser  Zauberpapyrus   der  bibl.  nat.  suppl.  gr.  574.     Von 

K.  Preisendanz 575 

'Ecpsaca  und  AeXcptxa  ypccixiaata.  Von  Wolfgang  Schultz  210 
Astrologisches  in  der  griechisch-orthodoxen  Liturgie?     Von   W. 

Weyh 572 

Vetulam  facere  und  die  dies  vetttlae.  Von  0.  Crusius  •  -  •  579 
Spiritus  asper  und  lenis  in  der  Umschreibung  hebräischer 

Wörter.     Von  Eb.  Nestle 456 

Griechischer  Sprachbrauch.  Von  L.  Badermacher  .  .  449 
Kurz-  und  Langzeile  in  der  Auspicianischen  Strophe.    Von  Paul 

Maas 157 

YtäxTi.     Zu  dem  Schifterlied  aus  Oxyrhynchos.    Von  Paul  Maas  445 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter  und  ihrer  Beiträge  '). 


Aly,   Wolf,   Karer   und  Leieger  p. 

428. 
Anderson,  Walter,  Zu  Apuleius  No- 
velle vom  Tode  der  Charite  p.  537. 
Assmann,  Ernst,  XXI  p.  161. 
Bammele,  Johannes,  XXI  p.  473;  Zu 

Thuk.  I,  24,  3  p.  446. 
Bitterauf,  K.,  Die  Bruchstücke  des 

Anonymus  lamblichi  p.  500. 
BonUffer,  Adolf,  XXI  p.  582. 
Borinski,  Karl,  XXI  p.  606. 
Brieger,  Adolf,  XXI  p.  279. 
Crusius,  Otto,  XXI  p.  612  ;  Vetulam 

facere    und   die    dies  vetulae  p. 

579. 
Domaszewslii,  A.  v.,  XXI  p.  1. 
Eisler,  Robert,  Kuba-Kybele  p.  118; 

161. 
Eurem,  S.,  De  Mercurio  Aristopha- 

neo  p.  i3-14. 
Friedrich,  Gustav,    Zu  Martial    p. 

88. 
Gilbert,  Otto,    Aristoteles   und  die 

Vorsokratiker  p.  368. 
Gilbert,  W. ,    Der  zvreite  Teil    des 

Logos     der    Diotima    in    Piatos 

Gastmahl     (cap.    24 — 29 ,     pag. 

204  C— 212  A)  p.  52. 
Gleye,  Carl  Erich,   Die  Weltkarte 

des  Agrippa  p.  318. 
Haberleitner,  Odilo,  Studien  zu  den 

Acta   Imperatorum   Romanorum 

p.  271. 
Hagen,  Benno  v.,  XXI  p.  113;  475. 
Hartmann,   Karl,    Das  Verhältnis 

des    Lucretius  Carus   zur  Musik 

p.  529. 


Heringa,  D.,  Noch  einmal  de  Divi- 
natione  p.  560. 

Jacobsohn,  Hermann,  XXI  p.  325; 
481. 

Jeep,  Ludwig,  XXI  p.  12;  Priscia- 
nus  p.  1, 

Kornemann,  E.,  XXI  p.  321. 

Lehnen,  G.,  XXI  p.  479. 

Linke,  K,  Zu  Demokritos  rcspl  sü- 
9-L)[ii7jg  p.  573. 

Lippold,  G.,  Mythographisches  p. 
152. 

Maas,  Paul,  Kurz-  und  Langzeile 
in  der  Auspicianischen  Strophe 
p.  157;  TSäxT]  p.  445. 

Manitius,  M.,  Erchanberts  von  Frei- 
j        sing  Donatkommentar  p.  396. 
i    Meiser,  Karl,  XXI  p.  314. 

Müller,  Albert,  XXI  p.  134;  316; 
Die  Neujahrsfeier  im  römischen 
Kaiserreiche  p.  464. 

Müller,  B.  A. ,  Zu  Lykophrons 
Nachleben  p.  578. 

Nestle,  Eb.,  XXI  p.  477. 

Nestle,  W.,  XXI  p.  531  ;  612;  Spi- 
ritus asper  und  lenis  in  der  Um- 
schreibung hebräischer  Wörter 
p.  456. 

Oldfather,  William  Abbott,  XXI  p. 
411. 

Praechter,  Karl,  XXI  p.  154. 

Preisendanz,  Karl,  XXI  p.  68;  474; 
Zum  Pariser  Zauberpapyrus  der 
bibl.  nat.  suppl.  gr.  574  p.  575. 

Probst,  Otto,  XXI  p.  319 ;  Zu  Mar- 
tial III  58,  12  ff.  p.  319;  Glossen 
aus  Cassius  Felix  p.  550. 


*)  Die  Zahlen  und  Titel  beziehen  sich  auf  den  laufenden  LXVIIL 
(N.  F.  XXII.)  Band.  Ein  Verzeichnis  der  Mitarbeiter  und  ihrer  Beiträge 
findet  sich  für  N.  F.  Band  I— X  in  Bd.  LVI  (X)  und  für  Bd.  XI— XX 
in  Bd.  LXVI  (XX). 


VI 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter  und  ihrer  Beiträge. 


Badennacher,  L ,  Griech.  Sprach- 
gebrauch p.  449. 

mtter,  C,  XXI  p.  311;  Die  politi- 
schen Grundanschauungen  Pia- 
tons p.  229 ;  Platonica  p.  332. 

Beuss,  Friedr.,  Der  erste  punische 
Krieg  p.  410. 

Boemer,  Ä.,  XXI  p.  288;  366. 

Boscher,   W.  H.,  XXI  p.  158. 

Buppersberg ,  Albert,  Ueber  zwei 
Horazstellen  p.  523. 

Sauer,  Br.,  XXI  p.  804. 

Schneider,  Max,  Zu  Vergils  Eclog. 
I  59.  60  p.  447. 

Schöne,  A.  E.,  XXI  p.  480. 

Schultz,  Wolfgang,  'Ecp soia  und  AsX- 


cpixä  ypä\i.\iixzo(.  p.  210;    Herakles 

am  Scheidewege  p.  488. 
Sitder,  J.,  Der  Koer  Kadmos  p.  321. 
Soltau,    Wilhelm,    '^Pö3|j.og  und  Re- 

mus  p.  154. 
Stangl,  Th.,  Bobiensia  p.  71. 
Steiger,  Hugo,  XXI  p.  202. 
Steinwender,  Th.,  Der  Quincunx  im 

römischen    Heere    zur    Zeit    der 

Manipularstellung  p.  260. 
Sundwall,  J.,  Zwei  attische  Dekrete 

p.  569. 
Thielscher,  Paul,  XXI  p.  52. 
Weyh,   W.,    Astrologisches  in  der 

griechisch-orthodoxen  Liturgie  ? 

p.  572. 


I. 
Priscianus. 

Beiträge  zur  Ueberlieferungsgescliichte  der 
Römischen   Literatur. 

II. 

Nach  der  Prüfung  derjenigen  Zitate  in  Priscian's  In- 
stitutionen, welche  aus  der  Zeit  nach  FL  Caper  sind,  wenden 
wir  uns  zu  dem  weit  wichtigeren  und  bedeutend  umfang- 
reicheren Teil  der  Zitate  bei  Priscian,  die  über  die  Lebens- 
zeit des  Caper,  d.  h.  über  das  zweite  Jahrhundert  p.  Chr., 
nicht  hinausreichen  und  infolge  dessen  von  diesem  Grammatiker 
selbst  gesammelt  sein  könnten. 

Diese  Zitate  beginnen  mit  Stellen  aus  der  Odyssee  des 
Livius  Andronicus,  ja  sogar  zwei  Verse  aus  den  'sententiae' 
des  Appius  Claudius  finden  wir  angeführt,  sodaß  wir  hier  ein 
Zurückgreifen  auf  die  Anfänge  der  Römischen  Literatur  haben. 
Zu  den  bei  Priscian  angeführten  Autoren,  welche,  der  an- 
genommenen Zeit  des  Caper  entsprechend,  von  diesem  als  letzte 
hätten  zitiert  werden  können,  gehört  zunächst  A.  Grellius,  dessen 
'Noctes  Atticae'  gegen  Ende  der  Regierung  des  Marc  Aurel 
(f  180)  vollendet  wurden. 

Prise.  GLK.  II,  246,  6  finden  wir  eine  Stelle  aus  dem 
verlorenen  lib.  VIII.  Ibid.,  259,  23  entspricht  nach  einer  kleinen 
Ergänzung  durch  Hertz  genau  der  aus  Noct.  Att.  angeführten 
Stelle.  Ibid.  355,  19  'nox  etiam  a  nocte  noctium,  unde 
A.  Gellius  noctium  Atticarum  inscripsit'  dürfte  sich  nicht 
nur  im  Allgemeinen  auf  den  von  Gellius  gebrauchten  Titel 
beziehen,  sondern  vielmehr  auf  praef.  §  4  'sed  quoniam  lon- 
ginquis  per  hiemem  noctibus  in  agro,  sicut  dixi,  terrae  Atticae 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  l.  1 


2  LudwigJeep, 

commentationes  hasce  ludere  ac  facere  exorsi  sumus,  idcirco 
eas  inscripsimus  noctium  esse  Atticarum',  im  ausdrücklichen 
Gegensatze  zu  andern  damals  beliebten,  §  6  angeführten  Titeln. 

Prise.  135,  14  wird  bei  Besprechung  nominaler  Weiter- 
bildungen auf  -ins  neben  einem  'servus  Servius,  servilis  Servilius' 
u.  dgl.  auch  'agellus  Agellius'  erwähnt.  Hertz  scheint  auch  hier  an 
'Aulus  Gellius'  gedacht  zu  haben,  den  er  mit  den  Handschriften 
in  philiströser  Weise  auch  in  den  angeführten  Zitaten  'Agellius' 
schreibt.  Ich  halte  das  aber  für  gänzlich  ausgeschlossen  und 
führe  jene  Ableitung  auf  das  gentile  'Agellius'  zurück,  welches 
CIL.  VI,  1.  N.  1056,  b,  2  Z.  33  für  das  Jahr  205  p.  Chr. 
bezeugt  ist.  Es  kann  sich  a.  a.  0.  nur  um  eine  Her- 
leitung der  Art  und  nicht  um  einen  falsch  geschriebenen 
Namen  handeln. 

Apuleius  gehört  in  dieselbe  Zeit,  wie  Gellius.  Aus  jenes 
Schriften  haben  wir  bei  Priscian  elf  Zitate,  mit  einer  Ausnahme 
alle  aus  verlorenen  Schriften.  Prise.  509, 9  führt  'Apuleius 
in  dialogo,  qui  est  de  deo  Socratis'  an;  ibid.  85,13;  111,2; 
279,  13;  528, 24  erscheint  'Apuleius  in  I  Hermagorae'  oder 
wie  135,16  'Ap.  in  primo  Hermagorae'.  Hinter  der  letzten 
Angabe  ist  aber  die  eigentliche  Stelle,  wohl  durch  Schuld 
der  TJeberlieferung,  verloren  gegangen').  Außerdem  zitiert 
Prise,  250,18  Apuleius  'in  epitoma:  sed  tum  sestertius 
dipondium  semissem,  quinarius  quinquessis,  denarius  decussis 
valebat',  eine  Stelle,  welche  in  des  Priscian  Schrift  de  fig. 
num.  GLK.  III,  408,  1  in  ähnlicher  Form  folgendermaßen 
wiederkehrt  'sestertius  quasi  semis  tertius,  de  quo  Arruntius 
haec  ait,  sestertius  olim  dupundius  et  semis,  quasi  semis 
tertius,  quo  tempore  denarius  decussis  valebat';  ferner  III,  482,  2 
mit  vollständigerem  Titel  'in  epitomis  historiarum:  Aeneanica 
gens',  II,  203,14  in  medicinalibus,  511,18  in  Phaedone  und 
ebenso  520,20. 

In  die  Aera  des  Marc  Aurel  gehört  auch  Aemilius  Asper, 


')  Es  heißt  a.  a.  0.:  *Apnleius  in  primo  Hermagorae  et  Pacuvius 
in  Teucro:  Postquam  defessus'  u.  s.  w.  Nicht  ganz  sicher  erscheint 
mir  die  Anführung  279,  13  'nix  nivis  —  antiqui  tarnen  etiam  ninguis 
dicebant,  unde  Apuleius  in  I  Herrn. :  aspera  hiems  erat,  omnia  ningue 
canebant'.  Hier  scheint  mir  vor  der  Apuleiusstelle  ein  älterer  Beleg 
ausgefallen  zu  sein.     Vgl.  damit  Prise.  528,  21. 


Priscianus.  3 

der  bei  Prisciau,  499,  18,  536, 5  und  auch  in  den  partitt. 
(III,  489, 36)  zitiert  ist.  An  erster  Stelle  tritt  er  als  Ver- 
mittler einer  Meinung  des  Varro  auf;  die  zweite  Anführung 
(Asper  tarnen  'pectui')  ist  ohne  Frage  identisch  mit  der  dritten  -). 
Die  angegebene  Lebenszeit  hat  kürzlich  gegenüber  einer  älteren 
Datierung  sorgfältig  festgestellt  Wessner,  Aemilius  Asper. 
Halle  (Progr.  der  Latina)   1905. 

Schon  längst  hat  man  nach  richtiger  Datierung  der  Lebens- 
zeit des  Petronius,  der  von  Terentianus  Maurus  angeführt 
wird,  die  zu  späte  Ansetzung  des  letztern  durch  Lachmann  auf- 
gegeben und  unter  sorgfältiger  Beobachtung  seiner  literarischen 
und  spi-achlichen  Beziehungen  ihn  gleichfalls  dem  Zeitalter 
des  Marc  Aurel  zugewiesen.  Viermal  finden  wir  Stellen 
bei  Priscian  zitiert^).  Auch  der  Jurist  Gaius,  aus  dem  sich 
beim  Prise,  282,  8  zwei  Stellen  finden,  lebte  noch  unter  dem- 
selben Kaiser. 

Von  den  Juristen  kommt  hier  noch  Ulpianus  in  Frage '^). 
Aus  lib.  XLVI  ad  edictum  liegt  bei  Prise.  97,  18  ein 
Beleg  für  'proximior'  und  aus  dem  Werke  ad  Sabinum  ibid., 
506,  3  ein  solcher  für  'fruiturum'  vor. 

Ulpian  ist  228  ermordet,  seine  Werke  ad  edictum  prae- 
toris  und  ad  Masurium  Sabinum  sind  aber  in  der  später 
weiter  überlieferten  Bearbeitung  unter  Caracalla  (211 — 217) 
nach  dem  Tode  des  Septimius  Severus  (211)  in  die  Oeff'entlichkeit 
gekommen.  Daher  können  wir  die  Benutzung  dieser  Werke 
durch  Caper,  wenn  wir  die  angenommene  Lebenszeit  desselben 
festhalten  wollen,  selbstverständlich  ohne  weiteres  nicht  voraus- 
setzen. 

Diese  Frage  wird  dadurch  gelöst,  daß  sich  von  beiden 
Werken  frühere  Bearbeitungen  nachweisen  lassen.  Für  die 
Bücher  ad  Sabinum  ist  solch  eine  frühere  Bearbeitung  bezeugt. 
Vgl.    Jörs   REW.   s.   V.     Domitius  Ulpianus,  V,  p.  1441  ;  für 

*)  Prise,  III,  489,  36  heißt  es  'pecto,  pexui  vel  pectui :  sie  Äsper 
de  verbo.  Entweder  muß  536,  5  'plerique  pexui.  Asper  tarnen  (etiam) 
pectui  gelesen  werden,  wie  z.  B.  516  'vetustissimi  tarnen  etiam  'acicidi' 
(vgl.  367,  9;  349.  9,  333,  9;  320,  15  u.  s.  w.),  oder  es  ist  'sie  Asp.  de 
verbo'  a.  a.  O.  nur  auf  pectui  zu  beziehen. 

^)  Dazu  kommt  noch  Prise.  III,  419,  17  de  metr.  Ter.;  darüber 
siehe  unten  p.  12. 

*)  Vgl.  auch  unten  p.  28. 

1* 


4  LudwigJeep, 

die  Bücher  ad  edictum  praetoris  ist  sie  mit  bewundernswertem 
Scharfsinn  erwiesen  worden  von  demselben  Juristen  ibid., 
1505  ff.  Ob  diese  frühere  Bearbeitung  ad  edictum  wirklich 
herausgegeben  sei,  entweder  ganz,  oder  teilweise,  d.  h.  Buch 
1 — 52  —  also  auch  B.  46,  das  bei  Priscian  zitiert  wird  — , 
sei,  meint  Jörs,  eine  Frage,  auf  die  man,  wenn  mau  das  Gebiet 
der  bloßen  Vermutungen  vermeiden  wolle,  keine  Antwort  zu 
geben  v-ermöge.  Es  liegt  aber  auch  kein  Grund  vor,  weshalb 
für  ad  edictum  eine  andere  Art  der  Herausgabe  anzunehmen 
sei,  wie  für  die  Bücher  ad  Sabinum.  Und  in  der  Tat  urteilt 
auch  Jörs  p.  1507,  daß  die  Herausgabe  der  frühern  Bearbeitung 
ad  edictum  das  wahrscheinlichste  sei. 

Diese  erste  Bearbeitung  von  ad  edictum  fällt  nach  Jörs' 
vortrefflicher  Untersuchung  vornehmlich  in  die  Zeit  der  Allein- 
herrschaft des  Septimius  Severus  (193 — 198).  Wir  brauchen 
uns  daher  nicht  zu  wundern,  daß  Caper  schon  am  Ende  des 
zweiten  Jahrhunderts  das  Werk  ad  edictum  praetoris  zitieren 
konnte.  Die  erste  Bearbeitung  des  Werkes  ad  Sabinum  ist 
aber  auch  bei  Lebzeiten  des  Severus  verfaßt.  Vgl.  Jörs  a.  a.  0. 
p.  1508.  Somit  hat  Caper  das  betreffende  Zitat  daraus  gleich- 
falls  aus    der    ersten  Ausgabe  jenes  Werkes  nehmen  können. 

Da  die  Anführung  bei  Prise.  97,15  übrigens  charakteristisch 
ist,  setze  ich  dieselbe  im  größern  Zusammeaihange  hierher: 
'proximus',  quod  tamen  quando  pro  'cognato'  accipitur,  positivi 
significationem  habet  ideoque  a  legis  latoribus  etiam  comparative 
profertur,  apud  quos  saepe  invenitur  'proximiores  cognati',  ut 
Ulpianus  libro  XLVI,  ad  edictum:  si  quis  proximior  cognatus 
nasceretur.  Vegetius  Renatus  rei  militaris  libro  primo :  sed 
latera  eorum  subducantur  ab  hostibus,  ne  possint  vulnus  accipere, 
et  proximior  dextra  sit,  quae  plagam  possit  inferre'.  nee  mirum, 
cum  apudGraecos  quoque  inveniuntur  huiuscemodi,  ut  Aristoteles 
arcö  xoö  eaxato?  eaxaxwxavog  dixit,  cum  eaxaxos  sit  super- 
lativus'. 

Die  Anführung  aus  Ulpian  belegt  die  Aussage,  daß  bei 
den  Juristen  'proximior'  in  bestimmter  Bedeutung  angewendet 
sei.  Daß  dies  in  der  Tat  häufiger  geschah,  sehen  wir  aus 
Neue  Forml.  ^  II,  243  f.  Die  Stelle  aus  Vegetius  hat  mit 
den    Juristen    aber    nichts    zu    tun     und    zeigt    dadurch    die 


Priscianus.  5 

spätere  Hinzufügung  von  Priscian  selbst,  von  der  wir  schon 
Abhandig.  I  Philol.  N.  F.  XXI,  21  (1908)  gesprochen  haben. 
Auch  die  griechische  Bildung  einer  ähnlichen  Form, 
welche  zur  Erörterung  hinzugefügt  ist,  weist  auf  Priscian,  in- 
sofern er  offenbar  seine  grammatischen  Institutionen  zunächst 
für  griechisch  sprechende  Leute  geschrieben  hat,  eine  Tatsache, 
auf  die  hier  im  Vorübergehen  hingewiesen  werden  mag,  die 
aber  gelegentlich  einer  genaueren  Auseinandersetzung  bedarf. 
Eine  gleiche  Tendenz  auch  bei  Charisius  hat  eingehender 
Tülkiehn  nachgewiesen  W.  f.  kl.  Phil.  XXIV  (1907),  1020  ff. 

In  die  Zeit  gegen  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  hat 
man  auch  Arruntius  Celsus  gesetzt,  welcher  bei  Priscian  wieder- 
holt, sowohl  als  Arruntius,  wie  auch  als  Celsus  angeführt  ist. 
Allerdings  weiß  man  mit  Bestimmtheit  nur,  daß  Arruntius 
vor  Julius  Romanus  gelebt  hat,  da  er  von  letzterem  bei 
Charisius,  beiläufig  gesagt  auch  als  Arruntius  Celsus,  zitiert 
ist.  Ein  terminus  post  quem  ist  bisher  nicht  gefunden  worden» 
jedoch  schien  nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  obige  Ansetzung 
die  richtige  zu  sein. 

Zunächst  möchte  ich  zwei  Stellen  bei  Priscian,  welche 
sich  auf  Arruntius  berufen,  vorführen  und  besprechen. 

Prise,  199,  14 — 201,  6  'neutra  eiusdem  terminationis 
{i.  e.  in  a)  graeca  sunt  et  addita  tis  faciunt  genetivum,  ut 
peripetasma  huius  peripetasmatis,  hoc  poema  huius  poematis. 
haec  tarnen  antiquissimi  secundum  primam  declinationem  saepe 
protulerunt  et  generis  feminini,  ut  Plautus  in  Amphitrione  ^) 
'servili  Schema'  pro  'schemate'  (v.  116 — 117),  Valerius  in 
Phormione  (syrmä),  Plautus  in  Persa  (schemä),  Caecilius 
in  hypobolimaeo  (schemä),  Pomponius  in  satura  (diademam), 
Laberius  in  cancro  (dogmam),  Plautus  in  milite  glorioso 
(glaucumam).  quidam  autem  in  usu  etiam  teste  Celso  huiusmodi 
nominum  protulerunt  nominativos:  hoc  emblematum  huius 
emblemati,  hoc  toreumatum  huius  toreumati  declinantes.  unde 
frequens  usus  eorum  dativos  et  ablativos  plurales  in  is  terminat: 
his  et  ab  his  schematis,  emblematis,  peripetasmatis,  toreumatis, 
quibus  frequenter  casibus  in  Verrinis  utitur  Cicero'. 


*)  Cf.  Charis.  GLK  I,  53,  15  und  die  ganze  Partie  daselbst. 


6  LudwigJeep, 

Die  Quelle  obiger  Stelle,  teils  kürzend,  teils  vollständiger 
wiedergebend,  schreibt  Prise,  356,  25  'in  huiuscemodi  tarnen, 
id  est  neutris  'a'  finitis,  quae  sunt  graeca,  frequenter  inve- 
nimus  antiquos  dativum  et  ablativnm  plurales  in  is  productam 
proferentes  contra  regulam  tertiae  declinationis,  quam  servant 
in  ceteris  casibus  supra  dictorum  nominum.  ut  Cicero  fre- 
quenter in  Verrinis  toreumatis  dicit  et  peripetasmatis  et 
emblematis.  in  libro  de  signis  {§  28):  nunc  de  peripetasmatis 
quemadmodum  te  expedias  non  habes.  in  eodem  (§  37) : 
scaphia  cum  emblematis.  idem  ad  Herennium  IV  (4,  7) :  de 
orationibus  aut  poematis,  quamvis  neutro  genere  hoc  ubique 
profert.  si  enim,  sicut  Plautus  et  alii  vetustissimi  femininum  hoc 
protulisset,  pares  syllabas  omni  casui  servasset  absque  genetivo 
plurali  secundum  analogiam  primae  declinationis.  est  igitur 
magis  apud  Ciceronem  et  eos,  qui  similiter  in  huiuscemodi 
proferunt,  heterocliton  vel,  ut  Celso  videtur,  a  nominativo  hoc 
peripetasmatum,  hoc  emblematum'. 

Da  die  hier  abgeschriebene  Quelle,  wie  wir  unten  (p.  40) 
noch  zeigen  werden,  Caper  ist,  so  können  wir  die  Lebenszeit 
des  Arruntius  bis  etwa  in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts 
zurückrücken  ^).  Einen  'terminus  post  quem'  aber  gibt  vielleicht 
folgende  Erwägung  an  die  Hand,  welche  ich  bei  dem  Fehlen 
sonstiger  Anknüpfungspunkte  nicht  unterdrücken  will. 

Schon  oben  (p.  2)  habe  ich  eine  Stelle  des  Apuleius  bei 
Priscian,  250,  18  mit  einer  andern  ibid.  III,  408,  1,  die  sich 
auf  Arruntius  bezieht,  zusammengestellt  und  auf  ihre  Aehnlich- 
keit  hingewiesen.  Es  sieht  die  letztere  in  der  Tat  wie  eine 
freie  Wiedergabe  der  erstem  aus.  Wäre  das  richtig,  so  läge 
die  Zeit  der  Schriftstellerei  des  Arruntius  zwischen  Apuleius 
und  Caper.  An  sich  würde  es  auch  nicht  wunderbar  sein, 
wenn  ein  Grarumatikus,  welcher  zur  Zeit  eines  vielgelesenen 
Autors   lebte,    wie  Apuleius    einer  war,    denselben  gelegentlich 

8)  Man  kann  nicht  annehmen,  dass  die  Erwähnung  von  Celsus  an 
den  beiden  Stellen  später,  etwa  von  Prise,  selbst,  hineingebracht  sei, 
da  sie,  wie  schon  oben  angedeutet,  aus  einer  Quelle  sind  und  nicht 
eine  von  der  andern  abhängt.  Es  zeigt  dies  klar  der  Umstand,  daß 
an  der  erstem  Stelle  Plautus  u.  a.  ausgeschrieben,  an  der  andern  nur 
'Plautus  et  alii  vetustissimi'  genannt  sind,  umgekehrt  aber  in  der  letz- 
tern Cicero's  Verrinen  ausgeschrieben  werden,  an  der  erstem  jedoch 
nur  'in  Verrinis  utitur  Cicero'  gesagt  wird. 


Priscianus.  7 

ausgeschrieben  hätte.  Und  daß  im  Fall  einer  zwischen  den 
beiden  Stellen  vorhandenen  näheren  Beziehung  die  Stelle  des 
Arruntius  als  eine  Nachschreibung  der  Stelle  des  Apuleius  an- 
gesehen werden  müsste,  liegt  auf  der  Hand^). 

Beiläufig  möchte  ich  mich  auch  hier  zu  dem  Arruntius 
Claudius  bei  Diomedes  GLK.  I,  321,  11  äußern^).  Es  wird 
an  dieser  Stelle  nämlich  auf  die  Autorität  eines  'Arruntius 
Claudius'  die  Behauptung  aufgestellt,  daß  die  römische  drei- 
fache Namensetzung  aus  dem  Griechischen  herzuleiten  sei, 
da  auch  die  alten  griechischen  Helden  diese  dreifache  Be- 
nennung gehabt  hätten.  Es  erscheinen  dann  zur  Belegung 
Zusammenstellungen,  wie  Achilles  Aeacides  Podoces,  Pyrrus 
Aeacides  Neoptolemus,    Alexander  Dardanius  Paris  u.  dgl.  m. 

Unbegreiflich  ist  mir  immer  gewesen,  wie  man  hier  ohne 
weiteres  einen  Schreibfehler  für  'Arruntius  Celsus'  annehmen 
wollte.  Der  Versuch,  in  jener  für  uns  jetzt  lächerlichen 
Weise,  eine  römische  Sitte  aus  dem  Griechischen  herzuleiten, 
führt  auf  des  Claudius  Didymus  Bestreben,  welches  ich  Aufs.  I 
(Philol.  LXVII,  n.  F.  XXI,  42)  besprochen  habe.  Prise.  III, 
408,  6  folgt  aber  dem  oben  besprochenen  Zitat  aus  Arruntius 
unmittelbar  eine  Berufung  auf  jenen  Didymus  gerade  im 
Sinne  der  Tendenz  desselben,  alles  Römische  aus  dem  Grie- 
chischen herzuleiten.  Ibid.,  411, 9  finden  wir  wieder  den 
Didymus  angeführt  und  hier  sogar  mit  einer  längern  Stelle.  Da 
diese  aber  nach  der  Einführung  'Didymus  autem  ea^)  confirmet' 
beginnt  'xac  AtSu|xo5  ev  xw  nepi  zfic,  Tiapa  TwfjLatot?  dvaAGyia?' 
etc.,  so  ist  dies  Zitat  offenbar  von  Priscian  nicht  unmittelbar 
aus  Didymus  genommen,  sondern  durch  eine  Vermittlung, 
die  wir  im  Arruntius  zu  suchen  berechtigt  sein  dürften.  Und 
so  neige  ich  zu  der  Annahme,  daß  bei  Diomedes  a.  a.  0.  ein 
Irrtum  vorliegt,  indem  —  einerlei,  durch  wessen  Schuld  — 
eine  sich  auf  Claudius  Didymus  stützende  Angabe  des  Arruntius 
über    die    Herkunft    der    dreifachen    Namensführung    bei    den 


')  Man  vergleiche  Charis.  GLK  I,  76,  3  ff.,  welche  Stelle  ich  leider 
nicht  auf  ihre  Quelle  zurückzuführen  vermag;  ferner  Varro  d.  1.  1.  V, 
169—173,  dazu  auch  Prise.  III,  410,  9. 

8)  Vgl.  m.  Redeth.  p.  126,  1  (dazu  p.  60). 

*)  Es  bezieht  sich  dies  auf  die  Stelle  des  Varro  d.  1.  1.  V,  169  bis 
174,  die  unmittelbar  vorher  abgeschrieben  ist. 


8  LudwigJeep, 

Römern  einem  'Arruntius  Claudius',  der  nicht  existiert,  zuge- 
teilt wurde'''). 

Den  obigen  Autoren  füge  ich  auch  noch  diejenigen  hinzu, 
die  zwar  unter  der  Regierung  des  Hadrian  (117 — 138)  bezeugt 
sind,  deren  Lebensdauer  aber  auch  noch  in  die  des  Caper 
gereicht  haben  kann.  Jedenfalls  lebten  sie  unmittelbar  vor 
dem  letztern  und  ihre  Anführung  ist  daher  für  die  Grenz- 
bestimmung der  Tätigkeit  des  Caper  gleichfalls  von  Wert. 

Es  gehören  hierher  Terentius  Scaurus,  der  'divi  Hadriani 
temporibus  grammaticus  vel  nobilissimus'  und  Velius  Celer, 
beide  allerdings  bei  Prise,  nur  einmal  547, 11  f.  notiert  betreffs 
'ambltus',  und  'ambitus',  worüber  Celer  dem  Hadrian  schrieb. 
Vgl.  Charis.,  209, 12.  Auch  Caesellius  Vindex  (so  Prise.  229,  10 
zitiert,  230,  11  Caesellius  in  stromateo),  hat  man  mit  Recht 
in  diese  Zeit  gesetzt,  da  die  von  Gellius  bezeugte  Opposition 
des  Scaurus  gegen  ihn  nur  verständlich  erscheint,  wenn  sie 
gegen  einen  Zeitgenossen  stattfand.  Die  Gegnerschaft  des 
Sulpicius  Apollinaris,  Lehrers  des  Gellius,  gegen  Caesellius 
hat  man  richtig  ebenso  aufgefaßt'^).  Da  aber  Gellius  nach 
Friedländer  Sitteng.  IIP,  504  zwischen  130  und  134  geboren 
wurde,  wird  des  Gellius  Lehrer  auch  noch  über  die  Regierungs- 
zeit des  Hadrian  gelebt  haben. 

Ich  führe  ferner  den  Alfius  Avitus  hier  an,  welcher 
einige  Zeit  vor  Terentianus  lebte  und  aus  dessen  'II  excellentium' 
in  Gemeinschaft  mit  einer  Juvenalstelle  (I,  3,  282)  eine  mehr 
oder  weniger  vollständige  Stelle  zum  Belege  für  'spatiandö' 
wiederholt  zitiert  wird  (II,  409,19;  426,23;  III  233,  21)  »2). 
Außerdem  finden  wir  bei  Prise,  II,  591,  14  noch  zwei  andere 
Verse  aus  demselben  Buche,  um  'tute'  zu  belegen. 

1")  Die  Stelle  des  Diomedes,  321,  11  beginnt  'huius  modi  autem 
Dominum  ordinatio,  sicut  Arruntius  Claudius  asserit,  a  Graecis  tracta 
demonstratur'.  Die  folgende  Auseinandersetzung  umfaßt  Diom.  321, 
12 — 322,  5.  In  der  Vodage  krinnte  man  von  Arruntius  teste  Claudio 
(Didymo)  voraussetzen.     Vgl.  Prise.  1.  I. 

'')  Die  erregte  Parteinahme  des  Gellius  hat  man  nicht  ohne  Grund 
als  Bestätigung  aufgefaßt.  Man  lese  Gell.  VIT,  2,  1  Turpe  erratum  of- 
fendimus  in  illis  celebratissimis  commentariis  lectionum  antiquarum 
Caesellii  Vindicia  cet.,  ibid.  XVIII,  11,  1  Non  hercle  idem  sentio  cum 
Caesellio  Vindice  grammatico,  ut  mea  opinio  est,  hautquaquam  ine- 
rudito.  Verum  hoc  tarnen  petulanter  insciteque,  quod  Furium  veterera 
poetam  dedecorasse  linguam  latinam  scripsit. 

^^)  Auch  die  Juvenalstelle  ist    verschieden   vollständig   angegeben. 


Priscianus.  9 

Von  einem  Albinus  hat  uns  Prise,  II,  304,  20  drei 
Hexameter  aus  'rerum  Romanarum  I'  erhalten,  deren  zwei  die 
jambische  Messung  von  'cui'  beweisen.  L.  Müller,  d.  r.  m.'-, 
318  f.  setzt  diesen  Albinus  deswegen  in  das  III.  saec.  p.  Chr. 
Dieser  Machtspruch  ist  aber  nicht  zutreffend,  da  er  die  An- 
nahme, daß  'inde  a  III  s.  in  utroque  pronomine  (cui  huic) 
voluerunt  i  communem',  durch  Beispiele  aus  Terentianus,  der, 
wie  wir  jetzt  wissen,  schon  im  II.  saec.  p.  Chr.  lebte,  erhärten 
zu  können  glaubte.  Wir  sind  daher  berechtigt,  Albinus  ein 
Jahrhundert  früher  zu  setzen  und  ihn  an  dieser  Stelle  anzu- 
führen. 

Schließlich  ziehe  ich  noch  Suetonius  heran,  dessen  Leben 
sich  ja  auch  bis  in  die  Regierung  des  Hadrian  und  vielleicht 
noch  darüber  hinaus  erstreckte.  Zwei  Mal  (II,  387,  23  u. 
III,  275,  13)  ist  bei  Prise,  eine  Stelle  aus  IUI  pratorum'  an- 
geführt, an  ersterem  Orte  genauer  wiedergegeben,  dann  387,  2 
eine  Stelle  aus  'VIII  pratorum;  außerdem  ist  II,  231,8  auf 
den  4iber,  qui  est  de  institutione  officiorum'  hingewiesen, 
ohne  daß  etwas  daraus  mitgeteilt  wäre. 

Die  letzte  Stelle  ist  wegen  der  Zusammentragung  der 
Belege  seitens  des  Priscian  bemerkenswert.  Es  handelt  sich 
um  die  Belegung  von  'puera  bei  den  'antiquissimi'.  Diese 
Belege  sind  aber  davon  durch  7 — 8  Zeilen  anderen  Inhalts 
getrennt.  Erst  nach  letzteren  kommen  die  zu  'puera'  gehörigen 
Belege:  Livius  Ändronicus  (puera)  (cf.  aber  Charis.,  84,6), 
idem  (puerarum).  Und  diesen  Belegen  schließen  sich  passend 
an  Nachweise  aus  den  'vetustissimi'  für  'puerus,  puellus,  haec 
puer':  Lucilius  (puellus),  Caecilius  (puere),  Afranius  (puere), 
Plautus  (puellus),  Lucilius  (puellus),  Livius  in  Odyssia  (sancta 
puer),  Naevius  (Cereris  Proserpina  puer),  Varro  in  satura 
äXkoc,  ouxoc,  lipa%kfiq  (puellum).  Das  ist  von  'puera'  an  eine 
in  sich  geschlossene,  Avenn  auch  offenbar  nicht  mehr  voll- 
ständige und    verwirrte  Partie  ^^),    in  welche  jene  7 — 8  Zeilen 


*3)  Die  ünvollständigkeit  zeigt  sich  sofort  darin,  daß  auch  neben 
'puellus'  bei  den  vetustissimi  'puella'  angeführt  wird  (231,  14),  ein  Be- 
leg aus  denselben  aber  fehlt.  Die  Anordnung  ergibt  sich  von  selbst. 
Man  vgl.  übrigens  Prise.  110,  17  'puer,  puera'  antiqui,  ex  quo  puella' 
und  562,  8  'licet  inveniantur  vetustissimi  protulisse  et  haec  puera  et 
hie  et  haec  puer'. 


10  LudwigJeep, 

hineingezwängt  sind,  mit  dem  hierher  nicht  gehörigen  'puerpera' 
und  seiner  Erklärung,  mit  der  Erklärung  von  'puella'  ^*) 
und  der  dort  gänzlich  überflüssigen,  durch  Ovid.  met.  V,  (400) 
belegten  Beziehung  von  'puerilis'  ('puerilibus  annis')  auf  ein 
weibliches  Wesen,  welche  nur  möglich  erscheine,  'nisi  etiam 
'puera'  esset  dictum,  quod  tarnen  comprobat  etiam  Suetonius 
diversos  ponens  usus  in  libro,  qui  est  de  inst,  oif.' 

Die  oben  aufgezählte  Reihe  von  Autoren,  Gellius,  Apuleius, 
Asper,  Terentianus,  Gaius,  Ulpianus,  Arruntius,  Scaurus,  Velins 
Celer,  Vindex,  Alfius,  Albinus,  Suetonius,  welche  wir  als  die 
letzten  bezeichnen  müssen,  die  Fl.  Caper  möglicher  Weise 
noch  selbst  eingesehen  haben  könnte,  bildet  so  zu  sagen  den 
Strich  unter  einem  auch  äußerlich  sich  sehr  hervorragend 
geltend  machenden  Abschnitte  in  der  Grammatik  des  Priscian. 
Nach  diesem  Abschnitte  tritt  nämlich  hinsichtlich  der  Be- 
nutzung der  Literatur  in  derselben  die  traurige  Oede  ein,  von 
der  wir  in  Aufsatz  I  bereits  gesprochen  haben. 

Man  kann  diese  Erscheinung  nicht  aus  dem  eintretenden 
Rückgang  der  römischen  Literatur  in  jener  Zeit  erklären. 
Es  gab  noch  manches,  was  die  Aufmerksamkeit  eines 
Grammatikers  fesseln  konnte  und  mußte,  wenn  er  die  Literatur 
nur  annähernd  mit  der  Gründlichkeit  ausbeutete,  wie  es  vor 
dem  bezeichneten  Abschnitte  in  Priscian  geschehen  ist. 

Ich  weise,  um  einiges  zur  Bestätigung  hervorzuheben, 
auf  Marius  Maximus  hin,  den  vielgelesenen  und  auf  die  da- 
malige Historiographie  lange  hervorragend  wirkenden  Geschichts- 
schreiber, den  Fortsetzer  des  Suetonius,  noch  unter  Alexander 
Severus  lebend.  Er  war  eine  Hauptquelle  namentlich  der 
scriptores  historiae  Augustae,  neben  denen  übrigens  außer- 
dem noch  eine  lange  Reihe  von  Historikern  existierte,  welche 
die  Kaisergeschichte  behandelt  hatten.  Es  fehlte  außerdem 
keineswegs  immer  an  Anregung  zu  literarischen  Studien  von 
Seiten  der  höchsten  Stelle  im  Staate.  Alexander  Severus 
pflegte  griechische  und  römische  Literatur.  Er  las  außer 
Plato  den  Cicero,  Horatius,  liebte  die  Beredsamkeit  und  förderte 
die  zeitgenössischen  Dichter,  von  denen  er  Serenus  Sammonicus 

*■•)  Vgl.  zu  der  hier  angegebenen  Parallelbildung  (capella,  tenella 
cet.)  Prise.  110,  16  und  18,  ferner  562,  6. 


Priscianus.  11 

kannte  und  liebte.  Auch  Maximinus  iunior  kümmerte  sich 
um  die  Literatur  seiner  Zeit.  Wir  sehen  ihn  für  Grammatik, 
Jurisprudenz  und  Rhetorik  und  deren  Vertreter  interessiert. 
Nicht  minder  förderten  Gordianus  I  und  II  die  Literatur. 
Ersterer  war  selbst  Dichter,  letzterer  ein  Schüler  des  Dichters 
Serenus  Sammonicus  und  diesem  gleichfalls  befreundet.  Später 
war  noch  Gallienus  ein  Freund  der  Dichtkunst,  in  der  er  sich 
auch  selbst  versuchte.  Des  Kaisers  Tacitus  Bemühen,  die 
Werke  des  Cornelius  Tacitus  zu  verbreiten  und  zu  erhalten, 
ist  allbekannt.  Auch  Numerianus  ist  in  der  Literatur  tätig 
gewesen;  ja  er  trat  sogar  mit  dem  Dichter  Olympius  Nemesianus 
in  einen  Wettstreit.  Es  fehlte  so  in  verschiedenen  Zeiten 
zu  literarischen  Studien  nicht  die  Anregung.  Natürlich  war 
die  überschrittene  Höhe  in  der  Literatur  nicht  wieder  zu  ge- 
winnen. Aber  außer  den  schon  genannten  Autoren  haben 
wir  doch  noch  einige  von  anerkennenswertem  Range  zu  nennen 
für  besondere  Fächer,  wie  für  Jurisprudenz  den  Paulus,  für 
Landwirtschaft  den  Gargilius  Martialis  ^^),  für  Grammatik  den 
Julius  Romanus,  von  Charisius  abgeschrieben,  den  Sacerdos, 
den  Metriker  Aphthonius,  den  Marius  Victorinus  ausschrieb. 
Dies  mag  genügen,  um  zu  zeigen,  daß  kein  Grund  vorlag, 
die  Sammlung  von  literarischen  Belegen  nach  dem  Tode  des 
Caper  abzubrechen,  falls  man  nur  selbst  sammeln  wollte  und 
zu  sammeln  verstand.  Die  nach  der  Zeit  des  Caper  eintretende 
Leere  bei  Priscian  lehrt  uns,  daß  die  Quelle  versiegt  war,  die 
bisher  in  bequemer  Weise  ausgeschrieben  wurde.  Die  jammer- 
vollen Zusammentragungen  aus  Grammatikern  von  Donat  an, 
welche  uns  allein  noch  von  Priscian  aufgetischt  werden,  be- 
weisen uns  dasselbe;  denn  auch  in  dem  vierten  Jahrhundert 
fehlte  es  keineswegs  an  bemerkenswertem  Material,  jeden- 
falls nicht  an  viel  bemerkenswerterem,  als  z.  T.  das  ist,  aus 
dem  Priscian  zusammengeschrieben  hat.  Ich  nenne  nur  Avienus, 
Ausonius,  Cl.  Claudianus,  RutiliusNamatianus,  Julius  Valerius^*'), 
von  denen  z.  T.  auch  in  der  erhaltenen  grammatischen  Ueber- 


15)  Der  Kaiser  Clodius  Albmus  (193—197)  war  sebr  der  Landwirt- 
schaft kundig  'ita  ut  etiam  Georgica  scripserit'  (Capitolin.  Alb.). 

1*)  Ich  erinnere  daran,  daß  Alexander  Severus  gern  das  Leben  Ale- 
xanders las,  'quem  praecipue  imitatus  est'  (Lamprid.  Alex.  Sev.). 


12  LudwigJeep, 

lieferung  Notiz  genommen  wird.  So  von  Avienus  bei 
Serv.  Aen.  X,  272  u.  X,  388,  Georg.  I,  488;  von  Ausonius 
in  der  Schrift  de  dubiis  nominibus  GLK  V,  579  fif.  (vgl. 
Schenkl,  Auson.  p.  XVIII);  von  Claudianus  ibid.,  589,  3 1^); 
von  Julius  Valerius,  ohne  Nennung  seines  Namens,  in  den 
Explan.  11  in  Donat.  GLK.  IV,  557,24,  unter  dem  Titel 
'historia    Alexandri    Magni'    (cf.    Kübl.,    Jul.    Val.    p.   3,  18). 

Uebrigens  möge  auch  noch  auf  die  Zitierung  des  Olympius 
Nemesianus  aufmerksam  gemacht  werden,  bei  dem  Scholiasten 
Statins  Theb.  V,  389  (Jahnke,  p.  282, 12)  u.  II,  58  (p.  83,  8) 
und  auf  die  des  Gargilius  bei  Serv.  Verg.   Georg.,  IV,  148. 

Demnach  kann  jenes  Zusammentreffen  des  Aufhörens  einer 
eingehendem  und  reichlichem  Literaturauführung  bei  Priscian 
mit  dem  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts,  d.  h.  mit  dem  Tode 
des  Caper,  nicht  als  etwas  Zufälliges  betrachtet  werden.  Es 
ergibt  sich  vielmehr,  wie  schon  gesagt,  daß  das  Ende  der 
Weisheit  des  Priscian  die  Folge  von  dem  Ende  seiner  Quelle  war. 

Wir  sind  wieder  zu  einem  Ruhepunkte  gekommen;  aber 
ehe  wir  einen  neuen  Schritt  vorwärts  zu  machen  versuchen 
werden,  wollen  wir  noch  einige  Punkte  besprechen,  die  wir 
bisher  übergangen  haben,  um  nicht  den  stetigen  Gang  der 
Untersuchung  zu  stören. 

Eine  Frage  von  Wichtigkeit  ist  für  unsere  Untersuchung, 
ob  Keil  GL  III,  395  mit  Recht  angenommen  hat,  Prise, 
d.  m.  Ter.  GLK  III,  419,  17  habe  die  dortige  Stelle  aus 
Terentianus  2228 — 2242,  direkt  aus  demselben  in  seine  eben 
genannte  Schrift  übertragen.  Da  es  ganz  ausgeschlossen  er- 
scheint, daß  Prise,  in  seinen  grammatischen  Institutionen  den 
Terentian  direkt  benutzt  hat,  so  ist  von  vornherein  keine 
große  Wahrscheinlichkeit  für  eine  derartige  Benutzung  in 
einer  andern  Schrift  des  Prise.  III,  419,  17.  Doch  sehen  wir 
die  Stelle  an.  Nachdem  der  Passus  aus  Terentian  angeführt, 
heißt  es  daselbst  Z.  33  weiter :  'vide  Terentianum  quoque  scire, 
quod  non  penitus  caruerint  hoc  Graeci,  ut  'sccundo  et  talibus' 
ponerent  spondeos  vel  dactylos,  quod  ostendit  dicendo  'magis 
nostri'  et  'fere  Graecis  tenax'.   Asmonius  etiam  idem  confirmat 


•')  Die  aus  Ausonius,  Avienus,  Claudianus  angeführten  Stellen  sind 
jetzt  nicht  mehr  erhalten. 


Priscianus.  J3 

his  verbis'  cet.  Den  dann  folgenden  Worten  des  Asmonius 
schließen  sich  zwei  Zitate  aus  dem  Metriker  Juba  an,  das 
erstere,  längere,  nur  durch  den  Namen  'Juba'  gekennzeichnet, 
das  andere,  weit  kürzere,  nach  einem  dem  oben  mitgeteilten 
Passus  gleichenden  Zwischensätze  'attende  Jubam  quoque  scire 
inveniri  quosdam  iambos,  in  quibus  secundus  et  quartus 
absque  observatione  ponitur,  quos  xaxojjtexpouig  vocat',  mit 
'idem  in  octavo'  eingeführt. 

lieber  diese  Jubazitate  ist  schon  öfter  gesprochen ;  jedoch 
woher  sie  dem  Prise,  zugeflossen  sind,  darüber  scheint  man 
sich  keine  Sorge  gemacht  zu  haben.  Es  ist  ganz  ausgeschlossen, 
dass  Prise,  den  Juba  studiert  und  ausgeschrieben  habe.  Wohl 
aber  können  jene  Stellen  aus  der  Ars  des  Asmonius  ^^)  von 
Prise,  mit  übernommen  sein,  in  welcher  auch  eingehendere 
metrische  Erörterungen  enthalten  sein  konnten.  Man  denke 
nur  an  Diomedes  und  Sacerdos  ^^). 

Ich  vermute  auch,  daß  die  Terentianstelle  auf  demselben 
Wege  in  die  in  Frage  stehende  Schrift  des  Prise,  gekommen 
ist.  Dieselbe  scheint  es  uns,  natürlich  unfreiwillig,  selbst  zu 
verraten;  denn  jenes  'Asmonius  etiam  idem  confirmat  his 
verbis'  scheint  nichts  anderes  zu  heißen,  als  daß  'Asmonius  auch 
noch  dasselbe  mit  den  folgenden  Worten  erhärtet'  oder,  um 
etwas  weitläufiger  zu  reden,  daß  Asmonius  dasselbe,  was  er 
schon  vorher  durch  Anführung  der  betreffenden  Verse  aus 
Terentianus  dargetan  habe,  auch  noch  in  anderen  Worten, 
welche  folgen,  gleichfalls  auseinandersetzte  ^°). 

Uebrigens  hat  Cybulla  a.  a.  0.  60  f.  darauf  hingewiesen, 
daß  auch  eine  Entnahme  der  Terentianstelle  bei  Prise,  aus 
dem  Commentarium  des  Rufinus  nicht  unmöglich  sei.  Aller- 
dings haben  wir  keinen  Anhalt,  die  Veröffentlichung  desselben 
zeitlich  festzustellen ;  aber  auch  keinen  Grund,  diese  Ver- 
öffentlichung erst  nach  der  Zeit  des  Prise,  anzunehmen.  Jeden- 
falls sehen  wir  aus  der  wiederholten  Angabe  der  betreffenden 


18)  Vgl.  Aufsatz  I,  15  und  19. 

18)  Vgl.  m.  Redeteile  p.  73  f. 

-")  Man  vgl.  Prise.  GLK  III,  45,  25  'quod  Censorinus  quoque  de  ac- 
centibus  approbat'  ...  46,  7  'idem  Censorinus  haec  etiam  hubiungit' 
cet.  Vgl.  auch  Prise.  III,  408,  6  und  411,  9  Didymus  etiam  ea  con- 
firmet. 


14  LudwigJeep, 

Terentianstelle,  daß  dieselbe  in  der  grammatischen  Tradition 
in  jener  Weise  gesondert  weiter  getragen  wurde,  ohne  daß 
wir  bei  deren  Anführung  an  ein  direktes  Studium  desTerentianus 
zu  denken  brauchen. 

Es  mag  noch  angeführt  werden,  das  Cybulla  a.  a.  0. 
61  f.  für  die  der  besprochenen  Stelle  des  Prise,  III,  419  f. 
folgende  Partie  (p.  422  u.  423)  eine  Abhängigkeit,  wenn 
vielleicht  auch  keine  unmittelbare  Abhängigkeit  von  Caesius 
Bassus  nachgewiesen  hat.  Natürlich  kann  durch  diese  Quelle 
nicht  eine  Stelle  aus  Terentianus  vermittelt  worden  sein,  wohl 
aber  durch  eine  zwischen  Caesius  Bassus  und  Prise,  stehende 
Zwischenquelle,  welche  auch  schon  Cybulla  p.  63  ins  Auge 
gefaßt  hat  und  deren  Vorhandensein  ich  für  sehr  wahrschein- 
lich halte.     Möglich,  daß  sie  in  Asmonius  zu  sehen  ist. 

Von  besonderer  Bedeutung  für  unsere  Untersuchung  er- 
scheint mir  auch  Prise,  II,  228,13 — 16:  'propria  eiusdem 
(id  est  in  er  terminationis)  nomina  si  sint  appellationis  similia, 
eorum  sequuntur  regulam,  utAsper  proprium Aspri,  appellativum 
asperi  et  aspri  per  syncopam  ^^)  liber  proprium  et  appellativum 
liberi,  caper  similiter  capri'^^). 

Da  die  Grammatiker  mit  Vorliebe  in  ihren  Schriften  zu 
Beispielen  ihre  eigenen  Namen  gebrauchen,  so  ist  anzunehrnen, 
daß  auch  hier  in  dem  'caper -^)  similiter  capri'  eine  An- 
spielung auf  den  Fl.  Caper  versteckt  ist  und  dadurch  auf  den 
Autor  der  ausgeschriebeneu  Quelle  hingewiesen  wird.  Das 
Fehlen  von  Belegen  aus  Autoren  ist  kein  Grund  dagegen; 
denn  wir  werden  weiter  unten  genug  Stellen  nachweisen, 
welche  sicherlich  auf  Caper  zurückgehen,  aber  durch  Prise, 
ihrer  literarischen  Belege  beraubt  worden  sind. 

Ferner  müssen  wir  uns  hier  noch  über  den  öfters  bei 
Prise,  angeführten  Censorinus  aussprechen.  Dieser  erscheint 
bei  Prise.  II,  13,  19  als  'doetissimus  artis  grammaticae', 
welcher  auch  ibid.,  13,  9  Varro  und  Macer,  vermutlich  Pompeius 
Macer,    der    Ordner    der  Bibliotheken    unter   Augustus    (Suet. 


21)  Vgl.  Prise.  225,  14. 

")  Vgl.  Cybulla,  de  Rufini  Ant.  comm.  1907,  35,  1. 

2')  Mit  Recht  hat  Hertz  hier  'nomen  proprium'  getilgt;  denn  'si- 
militer' weist  auf  das  vorhergehende  'liber  proprium  et  appellativum' 
und  'nom  propr.'  ist  daher  hinter  'caper'  sinnlos. 


Priscianus.  15 

Caes.  56)  zitierte.  Prise.  III,  27, 23  wird  sein  'über  de 
accentibus'  angeführt,  ebenso  ibid.  45,  25  (vgl.  47, 3).  Die 
grosse  ibid.  46, 7  angeführte  Stelle  aus  Censorinus  ist,  wie 
der  Zusammenhang  lehrt,  gleichfalls  aus  'de  accentibus'. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  obiger  Censorinus  der- 
selbe ist,  dessen  Büchelchen  'de  die  natali'  wir  noch  besitzen. 
Cassiodorius  spricht  von  ihm  in  dem  Abschnitte  'de  musica', 
cap.  V  de  artibus  et  disciplinis  liberalium  litterarum  (Migne, 
patrol.  lat.  70,  2,  586,  D),  als  dem  Verfasser  des  Buches  'ad 
Q,  Cerellium  de  die  natali'  und  am  Ende  dieses  Kapitels 
(588,  C)  fügt  er  hinzu  'Censorinus  quoque  de  accentibus  voci 
nostrae  adnecessariis  subtiliter  disputavit,  pertinere  dicens  ad 
musicam  disciplinam'^*).  Sowohl  die  obigen  Erwähnungen  des 
Censorinus,  als  auch  die  Erwähnung  desselben  ibid.  cap.  I 
(559  C)  und  GLK  VII,  214,  25,  unter  denen,  die  'suis  saeculis 
honoris  decus  habuerunt' -^),  lassen  erkennen,  daß  unser  Cen- 
sorinus z.  Z.  des  Cassiodorius  hoch  angesehen  war  und  demnach 
auch  zu  den  Grammatikern  gehörte,  die  man  in  der  Hand 
des  Priscian  voraussetzen  könnte,  wenn  auch  Cassiodorius  a.  a.  0. 
schließlich  auf  den  Donat  hinweist. 

Die  Lebenszeit  des  Censorinus  wird  durch  den  49sten 
Geburtstag  des  Q.  Caerellius  238  p.  Chr.,  zu  dem  jener  'de  die 
natali'  schrieb,  wie  bekannt  ist,  in  einem  Punkte  sicher  be- 
stimmt. Jedoch  haben  wir  keine  sichere  Handhabe,  das  Alter 
des  Censorinus  in  jenem  Jahre  näher  zu  berechnen.  Eine 
solche  Berechnung  wäre  aber  für  unsere  Zwecke  sehr  er- 
wünscht; denn  wenn  Censorinus  im  J.  238  bereits  ein  alter 
Mann,  etwa  von  60 — 65  Jahren  gewesen  wäre,  so  würde 
es  möglich  sein,  daß  derselbe  die  Schrift  'de  accentibus'  zu 
einer  Zeit  veröflentlicht  habe,  in  welcher  sie  Fl.  Caper  schon 
hätte  benutzen  können.  Wäre  dagegen  Censorinus  in  dem 
genannten  Jahre  noch  in  Jüngern  Jahren  gewesen,  so  würde 
jene  Annahme   nicht   statthaft   sein.      Censorinus  würde   dann 


^*)  Er  fügt  dann  nocb  hinzu  'quem  vobis  inter  ceteros  transcrip- 
tum  reliqui. 

^5)  Die  Stelle  lautet  im  Zusammenhange  'sed  quamvis  auctores 
temporum  superiorum  de  arte  grammatica  ordine  diverso  tractaverint 
suisque  saeculis  honoris  decus  habuerint,  ut  Palaemon,  Phocas,  Probus 
et  Censorinus,  nobis  tarnen  placet  in  medium  Donatum   deducere'  cet. 


16  LudwigJeep, 

zu  denjenigen  gerechnet  werden  müssen,  die  Prise,  selbst  ein- 
gesehen hätte.  Da  wir  gehört  haben,  daß  Censorinus  z.  Z. 
des  Cassiodorius  in  Ehren  gehalten  wurde,  so  würde  er  in  dem 
letztern  Falle  dem  Prise,  gegenüber  eine  Stellung  einnehmen, 
wie  wir  sie  für  Solinus  Aufs.  I,  49  f.  nachgewiesen  haben. 
Auf  diese  Frage  werden  wir  später  zurückkommen. 

Unsere  nächste  Aufgabe  wird  es  nach  obigem  Intermezzo 
sein,  diejenigen  Zitate  zu  prüfen,  welche  sich  bei  Priscian 
aus  der  Zeit  vor  Caper  finden. 

Vereinzelt  steht  das  schon  p.  1  erwähnte  Zitat  aus  den 
sententiae  des  Appius  Claudius  Prise.  II,  384,3-^). 

Livius  Andronicus  erseheint  nur  mit  einer  Reihe  von 
Stellen  aus  seiner  Uebersetzung  der  Odyssee.  Naevius  ist 
vertreten  mit  einigen  Zitaten  aus  dem  bellum  Punicum.  Die 
Bevorzugung  der  Komödien  des  Naevius  vor  den  Tragödien 
entspricht  der  uns  bekannten  größern  Anzahl  von  Komödien- 
titeln und  Komödienstellen.  Ennius  ist  im  Wesentlichen  den 
hervorragendsten  Seiten  seiner  dichterischen  Tätigkeit  ent- 
sprechend angeführt.  Bei  weitem  am  meisten  finden  wir  daher 
die  Annalen  zitiert.  Aus  den  Tragödien  des  Ennius  sind  nur 
wenige  Belege  genommen.  Besonders  hervorzuheben  sind  die 
beiden  Verse  aus  der  Medea  desselben  (Prise.  II,  320,  16), 
da  sie  bei  Prise,  d.  metr.  Terent.  (GLK.  III,  424,  1)  nochmals 
angeführt  werden  und  zwar,  abgesehen  von  Abweichungen  im 
zweiten  Verse,  unter  Hinzufügung  einer  Fortsetzung  von  sechs 
Versen  ^'^).  Komödien  des  Ennius  sind  nicht  angeführt.  Von 
den  andern  Werken  desselben  kommen  nur  noch  je  einmal  die 
praeeepta  und  der  Epieharm  vor.  Wahrscheinlich  gehört  eine 
Stelle  (Prise.  II,  434, 8)  einer  Satura  des  Ennius  an.  Vgl. 
Enn.  ed.  Vahlen^,  p.  210,  V  u.  ed.  L.  Müller,  p.  73,111. 

28)  Die  einzelnen  Belege  werde  ich  nicht  notieren,  da  ich  voraus- 
setzen muß,  daß  sie  gegebenenfalls  nach  den  Indices  von  Keil  GL 
aufgesucht  werden.  Nur  bei  Auslassungen  in  denselben  oder  bei  be- 
sonderer sonstiger  Veranlassung  gebe  ich  einzelne  Stellen  an.  Zu  Liv. 
Andr.  cf.  Tolkiehn,  Festb.  f.  Schade,  18i)6  p.  '288. 

")  Gleich  nach  der  Stelle  aus  Ennii  Medea  folgt  bei  Prise,  eine 
längere  Stelle  aus  Accius  und  zwar,  wie  es  heißt,  aus  den  'Argonautae'. 
Dieser  Titel  ist  falsch  und  beruht  auf  einem  Mißverstehen  von  Cicero 
d.  n.  d.  II,  89,  wo  die  Acciusanfülirung,  allerdings  in  größerer  Aus- 
dehnung und  anderer  Versanordnung,  gleichfalls  steht.  Demnach  ist 
diese  Stelle  aus  Cicero  genommen  und  es  dürfte  hier  auch  die  Stelle 
der  Medea  von  Ennius  aus  der  Rhetorik   ad  Herennium  II,  34  stammen 


Priscianus.  17 

Es  bleibt  hier  noch  zu  besprechen  übrig  Prise.  237, 9 
(cf.  372, 20),  wo  wir  unter  dem  handschriftlich  überlieferten 
Namen  'Gannius'  drei  Hexameter  aus  drei  verschiedenen 
Büchern  (I,  II,  III)  desselben  lesen.  Man  hat  an  dem  Namen 
viel  herumgemodelt ;  aber  weder  C^  Fannius,  noch  G.  Annius 
oder  Caniiis,  noch  Granius  wollten  schließlich  passen.  Am 
besten  erschien  mir  stets  der  Vorschlag  Bergk's,  opusc.  I, 
480,8  'Ennius'^^)  zu  schreiben.  Wir  haben  es  hier  jedenfalls 
mit  Belegen  aus  einem  älteren  Dichter  zu  tun;  denn  es  soll 
durch  diese  bewiesen  werden,  daß  'apud  quosdam  veterum' 
der  Genetiv  von  'ador'  sowohl  'adöris',  als  'adöris'  laute.  Leider 
sind  die  Herausgeber  des  Ennius  an  obiger  Vermutung  still- 
schweigend vorübergegangen. 

Sehr  reichlich,  viel  reichlicher  als  die  eben  genannten 
Dichter  ist  Plautus  und  Terenz  herangezogen.  Jenes  Var- 
ronianischen  Stücke  sind  alle  benutzt,  außerdem  auch  einige 
von  den  andern,  Carbonnaria,  Commorientes,  Frivolaria,  Lenones 
gemini,  Lipargus,  Medicus,  aber  nur  mit  je  einer  Stelle. 

Von  den  altern  Tragödiendichtern  finden  wir  Pacuvius  mit 
sieben  Tragödien,  Accius  mit  siebzehn,  vielfach  aber  nur  ein 
Zitat  aus  je  einem  Stücke.  Von  Accius  werden  auch  die 
Annalen,  die  Didascalica  und  Sotadicorum  I  angeführt.  Julius 
Caesar  Strabo,  der  jüngere  Zeitgenosse  des  Accius,  wird  nicht 
als  Tragiker  benutzt,  sondern  es  wird  nur  aus  seiner  Rede 
'contra  Sulpicium'  eine  Stelle  angeführt-^).  Aus  der  Zeit 
des  Augustus  treten  uns  die  beiden  Tragödien  Atalante  und 
Thyest  von  Gracchus  entgegen.  Von  dem  Tragiker  Pomponius 
Seeundus  z.  Z.  des  Tiberius  wird  aber  kein  Stück,  sondern 
nur  eine  'epistula  ad  Thraseam'  zitiert.  Aus  den  Tragödien 
des  Seneca  lesen  wir  Prise.  II,  253,  7  zwei  Stellen,  eine  aus 
Phaed.,  v.  710  (Leo)  eine  aus  Agamem.  v.  379,  letztere  jedoch 
fälschlich  gleichfalls  der  Phaedra  zugeteilt. 

Als  Vertreter  der    griechischen  Komödie    erscheint   neben 

-*)  Ich  würde  'Q.  Ennius  empfehlen.  Sonst  hat  Prise,  allerdings 
nur  'Ennius'  geschrieben;  auch  ist  er  immer  unter  die  'vetustissimi' 
gerechnet.  Jedoch  beides  ist  ohne  Bedeutung.  Der  Unterschied  zwischen 
'veteres'  und  'vetustissimi'  u.  dgl.  wird  bei  Prise,  nicht  immer  streng 
festgehalten.     Vgl.  Anm.  64. 

28)  Vgl.  unten  p.  21. 

Philologus  LXYIII  (N.  F.  XXII),  1.  2 


\Q  LudwigJeep, 

Plautus  und  Terentius  noch  Caecilius  und  Turpilius,  der  in 
den  Institut,  nur  einmal  angeführt  wird,  aus  dem  aber  d.  m. 
Terent.  GLK  III,  425,  1  f.  noch  vier  andere  Zitate  gegeben 
werden  ^°).  Bndlich  ist  auch  noch  Valerius  mit  seinem  'Phormio' 
einmal  angeführt,  den  Ribb.  com.  rom.  frg.  ^  p.  367  mir 
wenig  glaubhaft  zu  einem  Mimus  machen  will. 

Die  togata  ist  bei  Priscian  durch  Belege  aus  Afranius, 
Titinius  und  Atta  vertreten.  Wie  wir  von  Afranius  auch 
sonst  die  meisten  Titel  kennen,  so  ist  er  auch  bei  Prise, 
am  meisten  von  jenen  drei  herangezogen.  Wir  finden  aber 
bei  Prise,  auch  Belege  aus  verschiedenen  Atellanen  der  Haupt- 
vertreter  dieser  Dramengattung  Pomponius  und  Novius  und 
einen  Beleg  (p.  546,  17)  aus  einer  nicht  genannten  Atellane 
von  'Mumraius,  qui  post  Noviura  et  Pomponium  diu  iacentem 
artem  Atellaniam  suscitavit'  (Macrob.).  Aus  drei  Mimen  des 
Laberius  und  aus  einem  des  Publilius  (p.  532,  25)  sind  gleich- 
falls bei  Prise.  Belege  entnommen ^^). 

Wenn  wir  auf  die  Autoren,  aus  denen  nach  den  obigen 
Angaben  Belege  zitiert  sind,  zurückblicken,  so  erkennen  wir 
sofort,  daß  wir  eine  wohl  bedachte  Sammlung  vor  uns  haben, 
welche,  wenn  sie  auch  wahrscheinlich  vielfach  lückenhaft  bei 
Prise,  vorliegt,  sehen  läßt,  daß  der  Verfertiger  dieser  Sammlung 
für  seine  Zwecke  die  hauptsächlichsten  Werke  der  altern 
römischen  Poesie,  besonders  die  dramatischen  Werke  durch- 
forscht und  verwertet  hat.  Von  einer  zufällig  zusammen- 
gekommenen Sammlung  kann  hier  keine  Rede  sein.  Um  so 
weniger  kann  davon  die  Rede  sein,  da  obige  Annahme  bestätigt 
wird  durch  eine  gleiche  Prüfung  auch  anderer  Zitate  bei  Prise. 

In  freier  Weise  gehe  ich  zunächst  zu  einem  Teile  der 
Prosa,  nämlich  der  Geschichte,  über. 

Der  Ausgangspunkt  ist  Cato  mit  seinen  Origines,  daneben 
werden  aber  namentlich  seine  Reden  zitiert,  auch  vereinzelt 
Briefe  an  seinen  Sohn.     Der  einmal  (Prise.  380,  9)  angeführte 


3")  Ich  mache  darauf  aufmerksam^  daß  die  davon  Turpiliuscitate 
an  die  Citate  aus  Accius  anschließen,  von  denen  wir  das  erste  oben 
Anm.  27  besprochen  haben. 

31)  Die  codd.  bieten  'Publius'  und  einen  verderbten  Titel  des 
Stückes.  Es  ist  auch  viel  geraten  worden;  das  Rätsel  scheint  mir 
aber  noch  nicht  gelöst  zu  sein. 


Priscianus.  J9 

Fabius  Maximus  dürfte  jetzt  mit  Recht  für  den  Q.  Fabius 
Maximus  Servilianus  gehalten  werden,  welcher  in  Schol.  Veron. 
als  historiarum  scriptor  bezeichnet  wird  und  den  Dion.  Hai.  I,  7 
in  der  Reihe  seiner  Quellen  nennt  ^-).  Dann  wird  zu  Belegen 
herangezogen  Cassius  Heniina,  Calpurnius  Piso  Frugi,  Cn. 
Gellius,  Gaius  Fannius,  Caelius  Antipater,  Sempronius  Asellio, 
ferner  Claudius  Quadrigarius,  Valerius  Antias,  Licinius  Macer  ^^), 
daneben  Sisenna,  Sulla.  Von  C.  Julius  Caesar  ist  mehrfach 
'de  analogia'  und  viermal  dieselbe  Stelle  aus  dem  'Anticato 
prior'  herangezogen,  'de  hello  Gallico'  aber  nur  einmal  (p.  352,6) 
und  auch  da  ist  diese  Stelle  nicht  im  richtigen  Zusammen- 
hange ^*).  Auch  Cornelius  Nepos  ist  einmal  angeführt,  jedoch 
ist  es  nicht  klar,  aus  welchem  Buche  dies  Zitat  genommen 
ist  (vergl.  Halm  Com.  Nep.  frg.  13  ex  libris  exemplorum.) 
Ueber  Asinius  Pollio  vgl.  p.  22. 

Sind  vorher  aus  den  genannten  Autoren  öfters  nur  sehr 
wenige  Stellen,  zuweilen  auch  nur  eine,  bei  Prise,  zitiert,  so 
ist  Sallustius  dagegen  in  allen  seinen  Schriften  reichlicher  be- 
nutzt worden.  Verhältnismässig  wenig  ist  Titus  Livius  notiert. 
Fast  ausschliesslich  finden  wir  Zitate  aus  den  auch  jetzt  noch 
erhaltenen  Büchern.  Aus  allen  diesen,  mit  Ausnahme  aus 
B.  H,  VI,  X,  XXVH— XXX,  XXXH— XXXHI,  XXXVI, 
XLII — XLV,  sind  bei  Prise.  Belege  erhalten. 

Es  ist  wichtig,  hier  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Angaben 
aus  Livius  vielfach  ganz  ungenau  gemacht  sind.  Man  vgl. 
z.  B.  die  Notizen  von  Hertz  im  app.  crit.,  II,  299,  19  ff., 
134,12;  in,  72,26;  293,9.  Angesichts  solcher  Stellen  ist 
es  in  der  Tat  auch  möglich,  Prise.  III,  69,  5  'Livius  in 
XIII  privato  nos  tenuissemus'  für  eine  verdrehte  Wiedergabe 
von  Liv.  XXIII,  7  'privato  se  tenuit'  aufzufassen.  Bedenklich 
ist  auch    Prise.  III,  44,  23    'Cicero    in   I   invectivarum :    pridie 


^^)  nöpxiög  TS  xal  $äß'.os  Mägiiiog  otal  OüaXeptog  'AvTLsüg  xal  Acackoc, 
Mccxsp,  ATXioi  xs  xal  FeX^ioi  xal  Ktx.Xuo'jpvioi'  cet. 

^3)  Prise.  II ,  52-5,  3  ist  ftllschlich  'Aemilius  Macer'  geschrieben. 
Vgl.  Diom.  GLK  I,  369,  15. 

^*)  Es  wird  a.  a.  0.  durch  eine  Stelle  aus  des  Naevius  bell,  punic. 
'marum'  pro  'marium'  belegt.  Daran  schließt  sich  ohne  Vermittlung 
'eius  ablativum  Caesar  in  V  belli  Gallici  ponit:  'paulo  latiores  quam 
quibus  in  reliquis  utimur  maribus'.  Ich  vermute,  daß  vor  diesem  Pas- 
sus etwas  fehlt. 

2* 


20  LudwigJeep, 

Kalendas  Januarias,  pridie  Nonas,  pridie  Idus,  Livius  ab  urbe 
condita  XVIF.  Pr.  kal.  Jan.  ist  aus  Cicero,  Catil.,  I,  §  15. 
Die  beiden  folgenden  Daten  ohne  Monatsbezeichnungen  sind 
nach  dem  Gebrauch  des  Prise,  offenbar  auch  auf  Cicero  zu 
beziehen.  Man  kann  daher  mit  Wahrscheinlichkeit  annehmen, 
daß  vor  'pridie  Nonas'  ein  'idem'  (=  Cicero)  ausgelassen  ist. 
Diese  Beziehung  auf  Cicero  ist  um  so  näher,  als  genug  Belege 
für  obige  Datierungen  in  Cicero's  Briefen  zu  finden  sind. 
Nehmen  wir  z.  B.  ad  famil.,  14,12  (Ende):  'pridie  Nonas 
Novembris;  14,  23:  'pridie  Idus  Sextilis'.  Die  Briefe  des 
Cicero  sind  auch  anderswo,  wenn  auch  nicht  oft,  bei  Prise, 
angeführt.  'Livius'  kann  mau  nicht  auf  jene  Daten  beziehen, 
und  Hertz  hat  sich  geirrt,  als  er  dies  zu  tun  versuchte.  Es 
ist  vielmehr  ein  Ausfall  des  eigentlichen  Zitats  aus  Livius 
am  Ende  jenes  Paragraphen  des  Prise,  anzunehmen.  Bei  der 
Verlodderung  der  ganzen  Partie  ist  auf  die  Buchzahl  XVII 
auch  nicht  viel  zu  geben.  Man  erinnere  sich  an  die  Buch- 
verschreibungen bei  den  Liviuszitaten ,  die  nachgewiesen  werden 
können    Prise.   II,    253,6;   208,22;   281,18;   388,1;  299,21. 

Außerdem  findet  sich  aus  jetzt  verlorenen  Büchern  des 
Livius  noch  je  ein  Zitat  aus  LVI  (Prise.  III,  344, 5)  und 
aus  CXVIII  (Prise,  II,  477,2);  ferner  bezeugt  'Livius  in 
centesimo  quarto  decimo'  bei  Prise.  146,  17  den  Genetiv 
'Bogudis'  zu  'Bogud'  und  außerdem  behauptet  Prise.  213, 14 
"inveni  (!)  ^^)  apud  Livium  in  CXII  ab  urbe  condita  in  d  desinens 
barbarum  nomen  regis  Maurorum  'Bogud',  cuius  genetivum 
secundum  tertiam  declinationem  'Bogudis'  protulit'.  Endlich 
wird  auch  CXIII  der  Städtenamen  'Pulpud'  bezeugt  und  der 
Accusativ  'Bogudem'  im  Anschluss  an  die  Belege  213,  14  ff. 
Zu  der  Angabe  p.  146, 17  ist  eine  weitere  Anführung  nicht 
gegeben.  Ich  möchte  vermuten,  daß  alle  jene  Angaben  über 
Bogud  auf  ein  und  dasselbe  Buch  des  Livius  zurückgehen. 

Die  Stellen  aus  Livius,  die  bei  Prise,  ohne  Buchbezeichnung 

angeführt  werden,  beziehen  sich  auf  Stellen  erhaltener  Bücher, 

sind  aber    nicht   genau    mitgeteilt.     Vgl.    Prise.   III,    286, 22 ; 

323,  1 ;  365,  9  und  Hertz,  app.  crit.  ad  11.  11. 

3°)  Kein  Mensch  wird  das  noch  ernstlich  auf  Priscian  selbst  be- 
ziehen nach  unsern  Ausführungen  Aufs.  I.  Vgl.  daselbst  p.  51,  ef.  Tol- 
kiehn  a.  a.  0.,  295. 


Priscianus.  21 

Neben  Livius  ist  auch  Trogus  Pompeius  vertreten,  aller- 
dings nur  mit  zwei  Belegen.  Vgl.  Gutschmid,  Jahrb.  Suppl. 
2  (1856—57)  p.  180.  Auch  aus  M.  Velleius  Paterculus 
(Prise.  II,  248,4  im  Anschluß  an  Trogus),  aus  Valerius 
Maximus  (p.  195,  24)  und  Fenestella  (38(5,  13)  wird  je  eine  Stelle 
angeführt.  Endlich  lesen  wir  Prise.  205,  6  Traianus  in 
I  Dacicorum  cet.,  also  ein  Zitat  aus  einem  Werke,  welches, 
da  die  Dacischen  Kriege  erst  um  106  beendet  waren,  in  den 
letzten  Jahren  jenes  Kaisers  verfaßt  ist. 

Die  Benutzung  der  Historiker  für  die  in  Frage  stehende 
Zeit  ist  demnach  bei  Prise,  ähnlich  der  Benutzung  der  drama- 
tischen Dichter,  wenn  auch  verschieden  in  der  Häufigkeit 
hinsichtlich  der  Heranziehung  der  einzelnen  Autoren,  immerhin 
eine  solche,  daß  uns  daraus  eine  gewisse  Geschlossenheit  ent- 
gegentritt, die  nicht  dem  Zufall  entsprossen  sein  kann. 

Bei  der  Benutzung  der  Redner  finden  wir  nicht  dasselbe 
Verhältnis.  Jedoch  man  muß  in  Betracht  ziehen,  daß  der 
Glanz  des  Cicero  schon  zu  seinen  Lebzeiten  die  andern  Redner 
in  den  Schatten  stellte  und  sich  diese  Stellung  nach  seinem 
Tode  noch  befestigte.  Cicero  bildet  auch  bei  Prise,  mit  den 
seinen  Reden  entnommenen  Belegen  nicht  nur  den  Mittelpunkt 
in  der  Vertretung  der  Beredsamkeit,  sondern  fast  die  alleinige 
Quelle  für  dieselbe.  Nur  die  Reden  des  alten  Cato  sind  noch 
verhältnismäßig  zahlreich  angeführt  (vgl.  oben  p.  18),  sonst 
aber  sind  wenige  Reden  aus  der  Zeit  vor  Cicero  und  aus 
dessen  eigener  Zeit  benutzt. 

Es  sind  von  diesen  als  benutzt  zu  nennen  zunächst 
Gaii  Gracchi  oratio  contra  Q.  Aelium  Tuberonem  (Prise.  II, 
88,4),  pro  se  (513,17)  und  eine  nicht  näher  bestimmte  Rede 
desselben  (386,3),  Lucii  Crassi  legis  Serviliae  suasio  (428,  16), 
Aemilii  Porcinae  oratio,  ut  lex  Aemilia  abrogetur  (474, 20), 
Metelli  Numidici  oratio,  qua  apud  populum  G.  Manlio  tribuno 
plebis  respondit  (382,  6),  Catonis  ^^)  nepotis  or.  de  actionibus 
ad  populum,  ne  lex  sua  abrogaretur  (90,  12),  Caesaris  Strabonis 
or.,  qua  Sulpicio  respondet,  resp.  contra  Sulpiciura  tribunum 
plebis  (zwei  Mal  dieselbe  Stelle  170,  21  u.  261,  4).   Ausserdem 

^^)  Filius    M.    Porcii  Catonis  Liciniani,  Catonis   Censorini  filii    ante 
patreni  mortui. 


22  LudwigJeep, 

sind  verschiedene  Stellen  aus  Rednern  angeführt  ohne  die 
Titel  der  betreffenden  Reden.  Hierher  gehört  Curio  pater 
(385, 11),  Cannutius  (381,  12),  Hortensius  (381,  10),  ein  Curio 
ohne  nähere  Bezeichnung  (384,  13),  wohl  auch  einer  aus  der 
'una  familia  Curionuro,  in  qua  tres  continua  serie  oratores 
exstiterint'  (Plin.  H,  N.  VII,  133),  jedenfalls  dann  aber  nicht 
Curio  avus,  dessen  Reden  schon  z.  Z.  des  Cicero  in  der  Flut 
der  neuen  Bücher  untergingen  (Brut.  122),  sondern  entweder 
wieder  Curio  pater  oder  Curio  nepos^').  Die  dem  Asinius 
Pollio  383, 14  zugeteilte  Stelle  entstammt,  wie  die  Form  zeigt, 
sicherlich  auch  einer  Rede;  jedoch  386,9  ist  aus  dessen  bellum 
civile  (cf.  Peter  bist.  rom.  p.  265)  und  das  'Pollioni  placet' 
in  Gemeinschaft  mit  Probus  und  Caper  (513,  7)  bezieht  sich 
auf  grammatische  Schriftstellerei,  wie  Charis,  84,  11.  Dazu 
kommen  noch  G.  Memmius  und  Visellius  (386,  4  u.  7),  nach 
meiner  Meinung  ohne  Frage  der  Brutus  §  264  genannte 
C.  Visellius  Varro  und  nicht  der  spätere  Rhetoriker  Visellius 
mit  seinem  opus  de  figuris,  den  Quintilian  anführt,  Quintus 
Pompeius  385,  10,  auch  wohl  Aurelius  ^^).  Das  Zitat  des 
Gaius  Fannius:  'haec  apiscuntur',  in  passivem  Sinne,  hat  Peter 
a,  a.  0.  89  zu  den  Stellen  aus  den  Annalen  des  Fannius  ge- 
stellt, wohl  weil  die  andere  Stelle  aus  dem  G.  Fannius  bei  Prise, 
III,  8,  15  besonders  als  'I  annalium'  angehörig  bezeichnet  ist. 
Cf.  Orat.  rom.  frg.  H.  Meyer  2,  201. 

Von  den  näher  bezeichneten  Reden  ist  noch  Donatianus 
in  senatu  pro  se  (225, 10)  zu  nennen.  Schon  Aufs.  I,  19  habe 
ich  auf  die  Unsicherheit  dieser  Person  hingewiesen.  Ich  muß 
meine  Zweifel  wiederholen,  daß  wir  es  hier  mit  dem  späteren 
Grammatiker  zu  tun  haben.  Aber  durch  eine  Veränderung 
in  'Domitianus'  wird  nichts  gewonnen.  Vgl.  H.  Meyer,  Or. 
rom.  frg.  2,  606.  Demnach  wird  man  besser  sich  mit  Nicht- 
wissen trösten. 


37)  M.  Schanz  I^  316. 

38)  So,  ohne  andere  Bezeichnung,  wird  obiger  Aurelius  381,  8  mit 
dieser  Stelle  angeführt:  'ab  his  Gallos  adortos,  ex  insidiis  plurimos  ne- 
catos'.  Man  suchte  dafür  einen  Historiker.  Solch  eine  Wendung  kann 
aber  ebenso  gut  in  einer  Rede  vorgekommen  sein,  weshalb  ich  an  einen 
der  'Aureliorum  Orestarum,  qui  aliquo  in  numero  oratorum  fuerunt, 
(Brut.  §  94)  denke.  Lucius  war  126  a.  Chr.  mit  M.  Aemilius  Lepidus 
Consul  (Brut.  109). 


PriscianuB.  23 

Mit  Recht  dürfte  man  hier  aber  den  Cassius  Severus 
hinsetzen,  welcher  als  Cassius  p.  380,  1  zum  Belege  passiver 
Bedeutung  von  Deponentien  zitiert  wird  (adulatique  erant  ab 
aniicis  et  adhortati).  Hertz  hat  bereits  diese  Meinung  ver- 
treten, während  andere,  auch  Peter  a.  a.  0.,  74,  unter  ihm 
den  Annalisten  Lucius  Cassius  Hemina  verstehen  wollen.  Je- 
doch ist  dieser  bei  Prise,  meist  mit  doppeltem  Namen  Cassius 
Hemina  genannt,  p.  482,  15  L.  Cassius  Hemina  und  294,  5  nur 
Hemina,  ferner  ist  überall  der  Titel  der  Annalen  angegeben. 
Die  eine  von  den  beiden  andern  Anführungen  eines  alleinigen 
'Cassius'  bei  Prise,  333,11  'Cassius  ad  Maecenatem :  gausapo 
purpureo  salutatus'  teilt  aber  Charisius,  104,  11  dem  Cassius 
Severus  zu.  Die  andere  Stelle  489,  3  'Cassius  ad  Tiberium  II:  at 
contra  Aegyptiis  sacrificium,  ubi  integrum  anserem  adoleverunt' 
hat  man  gleichfalls  auf  ihn  bezogen.  Und  in  der  Tat  weist 
das  'ad  Tiberium'  darauf  hin,  wie  oben  das  'ad  Maecenatem'. 
Diese  zweite  Stelle  steht  auch  Diom.,  373, 19  in  folgender 
Form:  'sed  et  in  sacrificio  Accius  Cassius  ad  Tiberium  secundo 
adolevi  dicit  sie:  est  contra  Aegyptiis  maximum  sacrificium' 
cet.  Daß  'Accius'  richtig  sei  und  eine  Lücke  hinter  diesem 
Namen  anzunehmen  sei,  weist  die  Einleitung  des  Zitates  'in 
sacrificio'  zurück.  Dieselbe  bezieht  sich  offenbar  schon  auf 
den  Inhalt  des  Cassiuszitates.  'Accius'  erscheint  mir  daher  als 
eine  Verschreibung  für  'Cassius',  die  vom  Korrektor  korrigiert 
wurde,  dann  in  den  Text  drang,  ohne  daß  die  Korruptel 
ausgemerzt  wurde,  und  ich  sehe  keinen  Grund  mehr,  weswegen 
man  diesen  'Cassius'  nicht,  dem  'Cassius  ad  Maecenatem'  ent- 
sprechend, gleichfalls  für  'Cassius  Severus'  halten  sollte'''^). 
Der  Inhalt  jener  Schriften  'ad  Maecenatem'  und  'ad  Tiberium' 
sind  außerdem  schwerlich  einfache  Briefe  gewesen,  sondern 
rhetorisch  gehaltene  Ansprachen  an  die  Genannten,  die  mög- 
licherweise auch  einmal  vorgetragen  waren. 

Blicken  wir  auf  die  bei  Prise,  angeführten  Redner  zurück, 


39)  Weichert,  de  Varii  et  Cassii  Parm.  vit.  1836,  205  meint  'for- 
tasse  latet  Severus  Cassius',  sicherlich  unrichtig.  Höchstens  könnte 
man  annehmen,  daß  die  übergeschriebene  oder  am  Rande  stehende 
Correktur  'Cassius'  fälschlich  ein  'Severus'  verdrängt  hätte.  Jedoch 
da  Prise.  333,  11  auch  allein  'Cassius'  steht,  ziehe  ich  vor  bei  Obigem 
zu  bleiben. 


24  LudwigJeep, 

so  finden  wir  zunächst  durchaus  richtig  betont,  den  Cato  als 
einen  der  hauptsächlichsten  Anfänger  und  Cicero  als  Culmen. 
Die  dazwischen  liegenden  sind  im  Verhältnis  zu  der  Zahl  der 
uns  bekannten  Redner  nicht  gerade  zahlreich  genannt.  Es 
werden  ja  manche,  die  in  der  Quelle  des  Prise,  genannt  waren, 
unterdrückt  sein,  jedoch  allzuviele  möchte  ich  als  auf  diese 
Weise  verschwunden,  nicht  annehmen.  Man  muß  aber  be- 
denken, daß  von  manclien  Rednern  der  guten  Zeit,  die  Cicero, 
gekannt  hatte,  keine  Reden  oder  sehr  wenige  herausgegeben 
waren  ^^)  und  viele  schon  früh,  schon  z.  Z.  des  Cicero,  vergessen 
wurden  und  verloren  gingen. 

Cicero  erscheint  bei  Prise,  in  weit  überlegener  Weise  mit 
Belegen  aus  seinen  Reden.  Nicht  angeführt  sind  pro  Rose,  com., 
Quinetio,  Tullio.,  Fonteio,  die  Agrarreden,  pro  Rabirio,  Sulla, 
Flacco,  Arch.,  die  Reden  post  reditum,  pro  Scauro,  in  Vatinium, 
de  prov.  eonsul.,  pro  Balbo,  Rabir.  post.  Die  Divinatio  in  Caeci- 
lium  und  die  Reden  in  Verrem  liefern  rund  etwa  die  Hafte  aller 
Belege  aus  den  Reden  des  Cicero.  Von  den  Verrinen  hat 
aber  wieder  die  Actio  II,  1  ungefähr  die  Hälfte  aller  Verrinen- 
zitate  geliefert.  Das  kommt  daher,  weil  Prise,  III,  257 — 264 
in  der  Syntax  eine  Unsumme  von  Belegen  für  den  Gebrauch 
des  Coniunctivus  im  Latein  mit  Vorbedacht  aus  dieser  Rede^^) 
beigebracht  hat,  um  die  Häufigkeit  jenes  Modus,  worin  er  eine 
Nachahmung  der  Griechen  sieht,  nachzuweisen.  Cf.  1.  e. 
p.  264,  16. 

Von  den  Philosophiea  des  Cicero  sind  bei  Prise,  benutzt 
Disputationes  Tuscul.,  de  nat.  deor.,  de  divin.,  de  senect.,  de 
^e  publ.,  Timaeus,  Hortensius,  von  den  Rhetorica  de  invent., 
de  orat. ,  orator,  topica.  Unter  Cicero's  Namen  geht  dann 
auch  noch  die  Rhetorik  ad  Herennium.     Einige  Belege  finden 

*°)  Cic,  orat.,  132  Crassi  perpauca  sunt  nee  ea  iudiciorum,  nihil 
Antonii,  nihil  Cottae,  nihil  Sulpicii  (cf.  Brut.  205).  Brut.  122  Curio 
(avus)  fuit  eiusdem  aetatis  fere  sane  illustris  orator  .  .  .  sunt  enim  et 
aliae  et  pro  Ser.  Fulvio  de  incestu  nobilis  oratio.  Nobis  quidem  pueris 
haec  omnium  optima  putabatur,  quae  vix  iam  comparet  in  hac  turba 
novorum  voluminum.  Brut.  129  C.  Fimbi-iae  oratt.  pueri  legebamus, 
quas  iam  reperire  vix  possumus. 

*^)  Es  wird  nacheinander  von  p.  2-57,  11  an  benutzt:  In  Verr.  U, 
1,  141—157;  90—154;  1—9.  Dazu  sind  öfters  kurze  griech.  Ueberset- 
zungen  gegeben,  um  zu  zeigen,  daß  'in  hoc  quoque  Latini  Atticos  imi- 
tati'  (261,   18). 


Priscianus.  25 

sich  ferner  noch  aus  jetzt  nicht  mehr  erhaltenen  Briefen  — 
davon  die  Stelle  aus  dem  Briefe  'ad  Pansam  V  (Prise.  III, 
70,  13)  aus  Nonius  übernommen  —  aus  dem  Cato,  den  Aratea, 
der  cliorographia,  dem  Oeconomicus  und  Protagoras.  ^^) 

Wenn  wir  auf  die  Benutzung  der  Beredsamkeit  in  den 
Belegen  bei  Prise,  zurückblicken,  so  werden  wir  schließlich 
nicht  umhin  können,  anzuerkennen,  daß  auch  hier  die  Spur 
eines  überlegten  Planes  vorzuliegen  scheint,  trotzdem  wir 
oben    die    Lückenhaftigkeit    gebührend    hervorgehoben    haben- 

Es  möge,  ehe  wir  weiter  gehen,  gestattet  sein,  im  An- 
schluß an  die  Zitate  aus  Cicero's  Briefen  bei  Prise,  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  daß  eine  Benutzung  von  Brief- 
sammlungen bei  Prise,  sonst  nicht  vorliegt.  Nur  wird,  außer 
dem  Schreiben  des  Pomponius  (ob.  p.  17)  und  des  Cassius 
Severus  (ob.  p.  23),  noch  ein  Schreiben  des  August  an 
Vergilius  augeführt  533,  13  (Caesar  ad  Vergilium :  excucurristi 
a  Napoli)*^). 

Aehnlich,  wie  bei  den  Rednern  steht  es  bei  Prise,  mit 
den  Belegen  aus  den  Epikern.  Das  Epos,  welches,  wie  ob. 
p.  16  besprochen  ist,  für  die  älteste  Zeit  durch  Livius  Andro- 
nicus,  Naevius,  Ennius  vertreten  ist,  wird  in  seinem  weitern 
Verlaufe  durch  Hostius  (I  annalis),  Varro  Atacinus  (bellum 
Sequanicum),  Cinna  (Smyrna)  vertreten.  Wie  Cicero  bei  Prise, 
betreffs  der  Beredsamkeit  am  meisten  benutzt  ist,  so  ist 
Vergilius  als  Höhepunkt  im  römischen  Epos  bei  Prise,  auch 
der  meist  ausgeschriebene  Epiker.  Von  spätem  haben  wir 
oben  p.  9  den  Albinus  angeführt.  Vielleicht  haben  wir  auch 
hierher  Prise,  546, 21  Cornelius  Severus  'de  statu  suo'  zu 
ziehen,  Lucan  und  Statins,  dessen  Silven,  außer  Thebais 
und  Achilleis,  auch  zwei  Mal  angeführt  werden,  nehmen  mit 
ihren  zahlreichen  Belegen  eine  besondere  Position  ein,  über  die 
unten  p.  43  ff.  gehandelt  ist.  Aber  wenn  wir  diese  auch 
ausschalten,  so  erkennen  wir  doch  auf  dem  Gebiete  des  Epos 
denselben  Zug  in  der  Benutzung,  wie  bei  der  Beredsamkeit  — 
älteste    Zeit    und    klassische    Höhe,    daneben    und    dazwischen 


*-)  Bei  Cicero  habe  ich  auf  alle  Bücher  des  Prise.    Rücksicht    ge- 
nommen ohne  Ausschluß  der  Syntax. 

")  Von  poetischen  Briefen  sind  die  Briefe  des  Horatius  zu  nennen. 


26  LudwigJeep, 

einige  Bei-  und  Nachläufer.  Diese  Sichtung  läßt  sich  auch 
bei  der  Benutzung  der  folgenden  Literaturzweige  erkennen. 

Von  der  didaktischen  Poesie  sind  bei  Prise,  zitiert  die 
Didascalica  des  Accius  (ob.  p.  17),  Cicero's  u.  Caesar's  Aratea 
Lucretius'  Gedicht,  chorographia  des  Varro  Atacinus,  am  aus- 
gedehntesten die  Georgica  des  Vergil,  dazu  Ovids*^)  Meta- 
morphosen und  Fasten,  wie  der  schon  angeführte  Lucretius, 
verhältnismässig  häufig,  vereinzelt  nur  Remedia  amoris  — 
hier  bei  Prise.  96,  19  eine  Verwechslung  mit  einer  Stelle  aus 
den   Fasten  —  und  Ars  amatoria. 

Die  Lyriker  sind  vertreten  durch  Laevius  hinsichtlich  der 
altern  Lyrik,  dann  durch  Catullus,  Licinius  Calvus,  Propertius, 
Ticidas,  Caesius  Bassus.  Bei  weitem  am  meisten  ist  aber 
Horatius  herangezogen. 

Ennius  (ob.  p.  16),  Lucilius,  Varro  und  Horatius,  letzterer 
hauptsächlich,  geben  Belege  aus  der  Satura,  daneben  Persius 
und  luvenalis,  von  denen  Juvenalis  aber,  wie  beim  Epos  Lucan 
und  Statins,  bei  der  didaktischen  Poesie  Ovidius  (siehe  oben), 
jedenfalls  auch  eine  besondere  Stelle  einnimmt.  Dem  obigen 
Kreise  dürfen  wir  auch  den  Petronius  anschließen,  welcher 
zwei  Mal  (p.  381,2  u.  567,19)  mit  demselben  Belege  an- 
geführt ist. 

Das  Epigramm  ist  durch  (Domitius)  Marsus  vertreten 
und  durch  Martialis,  letzterer  durch  einige  Zitate,  die  nicht 
über  lib.  III  hinausreichen,  ersterer  durch  nur  eine  Stelle,  die 
man  nicht  einmal  zu  einem  Epigramm  gehörig  ansehen  wollte, 
in  der  man  aber  nach  meiner  Meinung  ohne  jegliche  Phantasie 
der  Neuzeit   den  Rest  eines  Epigramm's  erkennen  kann. 

Gut  gewählt  sind  auch  die  benutzten  Antiquare,  in  sach- 
licher wie  sprachlicher  Beziehung.  An  der  Spitze  steht  natürlich 
Varro  mit  Zitaten  aus  den  antiquitates  rerum  humanarum 
et  divinarum,  de  antiquitate  litterarum,  de  origine  linguae 
latinae,  de  lingua  latina,  de  poetis,  aus  den  rhetoricorum  libri, 
den  logistorici,  de  actionibus  scaenicis,  de  vita  populi  Romani, 
de  mensuris. 

Neben    Varro    finden    wir    Nigidius    Figulus,     wie    auch 


")  üeber  Ovid's  Stellung  in  den  Citaten  cf.  unten  p.  44  ff. 


Priscianus.  27 

Verrius  Flaccus,  der  bei  Prise,  212,  15  als  Quelle  des  Caper 
erscheint.  Ferner  ist  zu  verweisen  auf  Apuleius  (ob.  p.  2) 
und  Suetonius  (ob.  p.  9). 

Die  Rhetorik  ist  mehrfach  durch  die  Rhetorik  ad  Herennium, 
bei  Prise,  noch  unter  dem  Namen  des  Cicero  segelnd,  vertreten 
und  durch  Cicero  selbst.  Quintilian  ist  aber  nur  einmal  notiert. 
Vgl.  Aufs.  I,  p.  15,  5. 

Rein  grammatische  Belehrung  spendet  bei  Prise.  Caesar 
(de  analogia),  Asinius  Pollio  (ob.  p.  22),  Staberius  (Eros)  de 
proportione,  Macer,  dessen  Persönlichkeit  oben  p.  14  besprochen 
ist,  Remmius  Palaemon,  Probus  Berytius,  Nisus,  Plinius^^)  und 
die  oben  p.  6  ff.  besprochenen  Grammatiker.  Vgl.  auch 
p.   15  ff.  über  Censorinus. 

Außerdem  sind  die  Schriften  einiger  Grammatiker  zu 
Belegen  benutzt,  so  wie  die  Donats  (vgl.  Aufs.  I,  27).  Es  ge- 
hören hierher  Cornificius  [Longus]  (vgl.  REW  s.  h.  v.  Nil) 
mit  einer  Stelle  aus  I  de  etymis  deorum  für  'lectus'  nach  der 
vierten  Declination,  Orbilius  mit  einem  Belege  für  passives 
'consequi',  Aufustius*^)  mit  einem  solchen  für  passives  'argu- 
mentari'  aus  näher  bezeichneten  Schriften,  auch  Ateius 
philologus  —  so  ohne  Frage  für  'Alpheus  philologus'  zu 
schreiben  —  für  passives  'adsectari'. 

Prise,  382,  1  ist  'Aelius :  inpubes  libripens  esse  non  potest 
neque  antestari'  angeführt.  Mir  scheint  die  Vermutung,  es  sei 
C.  Aelius  Gallus,  unzweifelhaft  zu  sein.  Das  angeführte  exemplum 
scheint  mir  ausgezeichnet  zu  einem  Werke  zu  passen,  das  er 
unter  dem  Titel  'de  verborum  quae  ad  ins  civile  pertinent 
significatione'  veröffentlicht  hatte. 

Diesem  philologisch  angehauchten  Juristen  dürfen  wir 
wohl  Lucius  Caesar  (p.  380,3)  hinzufügen,  der  für  passives 
'augurantur'    angeführt    ist.       In    diesem    Worte    steckt    auch 


*^)  Ich  erinnere  bei  dieser  Gelegenheit  daran,  daß  Prise,  594,  25  fälsch- 
lich die  Stelle  des  Plinius  dem  Cicero  zuteilt.  Vgl.  Neumann,  de  Plin. 
dub.  serm.  p.  39  u.  Plin.  dub.  serm.  ed.  Beck,  33. 

*«)  Aufustius  ist  auch  von  Usener  richtig  hergestellt  GLK  VII,  35,  2 
und  daraus  ergibt  sich,  daß  jener  einen  'liber  grammaticus  ad  Asinium 
PoUionem'  verfaßt  hatte. 


28  LudwigJeep, 

i 

seine  literarische  Tätigkeit;  denn,    wie  Prise,  270,5   bezeugt, 
schrieb  er  'auguralia'  *'). 

Es  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  daß  P.  Aufidius  bei 
Prise,  384,  8  der  Jurist  Aufidius  Chius  ist,  welchen  Martialis 
V,  61,10  als  Aufidius  Chius  *^)  (hoc  Chius  non  erit  Aufidius) 
anführt.  Das  ihm  von  Prise,  zugeteilte  Zitat  'siquis  alio 
vocitatur  nomine  tum  cum  lis  contestatur,  atque  olim  vocitabatur' 
tis  jedenfalls  juristischen  Inhalts. 

Von  andern  Fachschriftstellern  ist  dann  endlich  auch 
noch  einmal  Varro  mit  seinem  Werke  'de  re  rustica'  zu 
nennen.  Die  Abweichungen  von  der  Lesung  unserer  Hand- 
schriften des  Varro  sind  in  einer  ganz  aufi^allenden  Weise 
groß  und  bedürfen  einer  besondern  Erläuterung,  die  hier 
jetzt  nicht  stattfinden  kann. 

Wenn  wir  die  obige  Literaturübersicht  ins  Auge  fassen, 
ferner  bedenken,  daß,  wie  wir  p.  10  gezeigt  haben,  bei  Prise, 
das  Aufhören  fortlaufender  Benutzung  der  Literatur  mit  dem 
Zeitpunkte  zusammenfällt,  in  welchem  das  von  Caper  bei- 
gebrachte Material  sein  Ende  erreicht  haben  muß,  auch  Caper 
von  Prise,  selbst  wiederholt  als  seine  Quelle  angegeben  ist, 
so  liegt  es  sehr  nahe,  daß  auch  die  z.  T.  deutlich  hervor- 
tretende Planmäßigkeit  in  der  Heranziehung  der  Literatur  bis 
Caper  mit  diesem  letztern  in  irgend  einer  Verbindung  steht. 
Das  erste  muß  daher  sein,  nach  dieser  Seite  hin  eine  genauere 
Nachforschung  anzustellen.  Das  Resultat  wird  sein,  daß  sich 
große  Partien  von  Belegen  bei  Priscian  als  auf  Caper  zurück- 
gehend erweisen  lassen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  diejenigen  Stellen  die 
sichersten  sind,  welche  für  Caper  bei  Prise,  ausdrücklich  be- 
zeugt sind.  Ich  werde  sie  zusammentragen  mit  Angabe  des 
Standortes,  des  zu  belegenden  Wortes  und  der  Autoren  der 
Belege,  denen  ich  nach  Bedarf  noch  in  Klammern  die  be- 
zeugten Wörter  und  Formen  hinzufügen  werde. 
Prise.  II,  188,  22  une  —  Caper  doctissimus  antiquitatis  perscru- 


*')  Es  ist  bekannt,  daß  von  Macrobius  I,  16.  29  'Julius  Caesar  sexto 
decinio  auspiciorum'  citiert  wird. 

*8)  Yg\.  Jörs  REW  s.  h.  v.  II,  p.  2291,  wo  allerdings  auf  unser  Citat 
nicht  Rücksicht  genommen  ist. 


Priscianus.  29 

tator  ostendit  hoc  usum  Catullum  et  Plautum.  Vgl.  305,  9. 
354,  8  hie,  haec  memoris,  hoc  memore  —  testis  est  Caper  anti- 

quitatis    doctissimus    inqiiisitor.    ostendit   enim    Caecilium 

in  epiclero  sie  protulisse  (inmemoris).  Vergl,  341,  3. 
97,  7  veter  —  quod  Capri  quoque  approbat  auctoritas   et  usus 

antiquissimorum :  Ennius  —  veterior:  Plautus. 
264,  14  veter  —   quod    Capro    quoque    prudentissime    videtur, 

cum   comparativus    'veterior'    et    superlativus    'veterrimus' 

'veter'    desiderent    positivum    —  Accius    (veter),    Plautus 

(veterior)  ■^^). 
129,  7  Arpinatis  —  testis  eins  Caper,  qui  diversorum  de  huius- 

cemodi   nominibus   ponit   usus    auctorum    confirmans   tarn 

in  'is'  quam  in    'as'    huiuscemodi  nomina  solere  proferri: 

Cato  3  mal,  Titinius. 
212, 15  haec  allex  —  quod  Caper  ostendit  de  dubiis  generibus, 

Verrium  Flaccum  posuisse  allecem  hanc  dicens. 
212,  4  hoc  lacte   —   antiquissimi   protulisse    inveniuntur   teste 

Capro  apud  quem  exempla  invenis:  Plautus. 
321,25    hie,    haec,    hoc   ops    —    Accius    de   Hercule    dicens: 

'quorum  genitor  fertur  esse  ops  gentibus'  pro  'opem  ferens 

et  auxilium  gentibus',  sie  Caper. 
500,6  sapii   sapivi  (499,17)    —    Caper  utrumque  in  usu   esse 

eontendit:  Afranius,  Plautus^"). 
508,  27  unum  invenitur  in  'sco'  desinens  verbum   apud  vetus- 

tissimos,    cuius  praeteritum   perfeetum  in  'xi'  protulerunt 

teste  Capro:  'conquiniseo  conquexi'.  est  autem  'conquinisco' 

Caput  inclino.    Pomponius  in  vacca. 
260, 17  hie,  haec,  hoc  penus,  resp.  hoc  penum  —  teste  Donato^^) 

et   Capro:     Plautus,     Lncilius,    Horatius,    Caesar    Strabo, 

Afranius  (penum). 
509, 22ieo    in    praesente    teste  Capro,    sed    Tci    in  praeterito 

perfecto.  .  .  .    Cato  Censorius,  Caelius,  Lucretius. 
85,  4  vetussissimi  'citer' :  Cato.    citimus  quoque  dicebant  teste 

Capro  (cf.  98,5). 

*®)  Diese  Plautusstelle  ist  identisch  mit  der  unter  97,  7. 

50)  Offenbar  gehört  Prise.  500,  2  die  Terenzstelle  für  'resipisse' 
hinter  die  obige  Plautusstelle,  so  daß  auch  oben  eigentlich  noch  hinter 
'Plautus'  der  Name  'Terentius'  hinzugefügt  werden  sollte. 

61)  Vgl.  Aufs.  I,  26. 


30  LudwigJeep, 

III,  40,30  citer  citerior  et  citimus  teste  Capro:  Cato. 

II,  96,  2  nuperus  —  ut  Capro  videtur,  dazu:  ut  'super  siiperus'. 

'nuper  nuperus':  Plautus  Livius  Andr,  (inferus  an  superus). 

Vgl.  III,  44,  9  nuperus  approbat  Caper  (ohne  Belege). 
530,  18   Caper:    ut   'sino  Situs',    sie    'nequeo  nequitus'  corripit 

paenultimam,  quod  usus  ubique  approbat :  Cicero. 

Ohne  Belege :  204,  6  Caper  tarnen  et  'cepicius'  et  'cepicium' 
veteres  dixisse  ostendit.  524,  11  repungo  repupugi,  quod  Capro 
videtur;  436,7  remedior  remediaris  teste  Capro;  134,  1  siehe 
p.  32;  163,22  teste  Capro:  hoc  pecus  pecoris;  561,9  haec 
omnia  inveniuntur  perfectorum  declinationem  habentia  in  usu 
veterum  teste  Capro :  pigeo,  taedeo  cet. ;  390,  26  vetustissimi 
multa  sie  protulerunt  confusa  terminatione  teste  Capro:  adiutor 
pro  adiuto  cet. 

Hierzu  kommen  Stellen,  in  welchen  Caper  gemeinsam  mit 
Probus  als  Quelle  angegeben  wird.  Wir  beginnen  mit  Prise, 
171,  14:  'supra  dictorum  tarnen  nominum  usus  et  apud  Caprum 
et  apud  Probum   de  dubiis  generibus  invenis'. 

In  obiger  Angabe  ist  der  Titel  'de  dubiis  generibus' 
sowohl  auf  Caper,  als  auf  Probus,  unzweifelhaft  den  Berytier^-) 
bezogen  worden,  nach  unserer  Kenntnis  mit  Recht  zunächst 
nur  auf  Caper,  der  uns  als  Autor  eines  Werkes  'de  dubiis 
generibus'  durch  Prise,  selbst  (212,  15)  bekannt  ist.  Gottfried 
Keil  hat  daher  in  seiner  Dissertation  über  Caper  p.  8, 1 
die  Uebertragung  jenes  Titels  auch  auf  Probus  für  irrtümlich 
erklärt,  insofern  gewiß  richtig,  als  Probus  kein  Buch  dieses 
Titels  geschrieben  haben  dürfte.  Andererseits  sehen  wir  aber, 
daß  Prise,  541, 19  'Probus  de  dubio  perfecto'  angeführt  wird, 
wo  zweifellos  gleichfalls  der  Valerius  Probus  gemeint  ist.  Vgl. 
Aufs.  I,  37.  Es  geht  daraus  hervor,  daß  Probus  seine  Com- 
mentationes  unter  einzelnen  Titeln  vortrug,  und  es  ist  daher 
keineswegs  unwahrscheinlich,  daß  ein  Titel  'de  dubiis  generibus' 
auch  von  ihm  angewendet  worden  sei.  Dabei  ist  zwar  fest- 
zuhalten, daß  Prise,  der  die  verschiedenen  Probi  nicht  einmal 
unterscheiden  konnte  (vgl.  Aufs.  I,  51  u.  31  ff.),  den  Probus 
nur   durch  Caper   kennen    lernte,    welcher   ihn  seinerseits  aus- 


*)  Vgl.  Aufs.  I,  39. 


Priscianus.  31 

schrieb  (ibid.,  35,41);  aber  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß 
Caper  jenen  Titel  mit  übernahm,  so  daß  die  Beziehung  a.  a.  0. 
doch  richtig  sein  könnte. 

Worauf  aber  bezieht  sich  'nupra  dictorum  nominum  usus'  ? 

Die  vorhin  angeführte  Caperstelle  Prise,  260, 17  hat  eine 
Entsprechung  in  Prise,  170,  13.  Es  handelt  sich  hier  um 
dieselbe  Sache  (hie,  haec,  hoc  penus;  hoc  penum),  belegt 
durch  dieselben  Belege  in  derselben  Reihenfolge,  nur  ist  für 
die  Horazstelle  eine  Stelle  aus  Plautus  gesetzt.  Außerdem 
sind  die  Zitate  aus  Plautus  und  Afranius  vollständiger^^). 
Eine  einfache  Wiederholung  der  Stelle  170,  13  ff.  durch 
260,  17  ff.  hat  demnach  nicht  stattgefunden.  Wohl  aber  ist 
die  gemeinsame  Quelle  nicht  zu  verkennen  ^*).  Da  diese  Caper 
ist,  wie  260,  18  uns  gezeigt  hat,  so  ergiebt  sich  ganz  von 
selbst,  daß  die  Beziehung  des  'supra  dictorum  nominum  usus' 
sich  sicherlich  auf  170,  13  ff.  erstreckt. 

Auch  die  Fortsetzung  von  170,  13  ff',  (cf.  171,  4)  'hie, 
haec,  hoc  pecus'.  'Ennius  in  Nemea:  Pecudi  dare  viva 
marito'  darf  dem  Caper  zugerechnet  werden,  ganz  abgesehen 
von  dem  Alter  des  Zitats,  weil  wir  bei  Prise,  163, 22  das 
dreigeschlechtrige  'pecus'  mit  dem  Zusätze  'teste  Capro  neu- 
trum'  angeführt  finden,  woraus  wir  sehen,  daß  Caper  dies 
Wort  behandelt  hatte.  Prise,  171,  7  folgt  dann  'hie,  haec, 
retis  et  hoc  rete,  hie,  hoc  sexus,  hie,  haec,  hoc  specus,  hie,  hoc 
sal.  Cato  (hie  sal),  Afranius  (hoc  sal);  —  hoc  sale:  Ennius.  Da 
'sal'  mit  seinen  alten  Belegen  unmittelbar  vor  der  Quellenangabe 
(171,14  f.)  steht,  so  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  diese  selbst- 
verständlich auf  Caper  zurückzuführen  sind.  Es  bezieht  sich 
aber    offenbar    auch    Prise,     147, 6    'inveniuntur    vetustissimi 


^^)  An  der  Stelle  170,  13  hat  das  erste  Plautuscitat  aus  PseudoL, 
179  mehr  als  die  Stelle  260,  17,  ebenso  in  dem  Afraniuscitat,  wo  260, 
17  ff.  nur  'in  penum  herile',  170.  13  tf.  aber  'vos  quibus  cordi  est  intra 
tunicam  laeva,  dextra  intra  penum'  hat.  Diesem  Citat  des  Afranius  ist  hier 
auch  'in  talione'  hinzugefügt.  Ferner  stimmt  der  Titel  der  Rede  von 
Strabo  an  den  beiden  Stellen  nicht  ganz  überein.  —  Aehnlich  332,  20 
Plautus]  500,  6  Caper:  Afranius,  Plautus;  544,  26  desitus  Cicero  (bis)] 
530,  18  Caper:  Cicero;  805,  8  filie  Liv.  Andr.,  fili  CatuUns,  Teren- 
tianus]  188,  22  Caper:  'une'  CatuUus,  Plautus. 

5*j  Die  Verschiedenheit  der  obigen  Stellen  erklärt  sich  daraus,  daß 
die  Citate  bei  Caper  in  vollständigerer  Form  vorlagen,  und  auch  Horaz 
angeführt  wrar,  Prise,  aber  nach  Willkür  auswählte. 


32  LudwigJeep, 

quidam  etiam  neutro  genere  hoc  (i.  e.  sal)  protulisse'  darauf; 
denn  die  'vetustissimi'  weisen,  wie  wir  unten  sehen  werden, 
auf  Caper.  Die  Quellenangabe  kann  jedoch  auch  ohne  An- 
stand auf  die  'retis,  sexus,  specus'  bezogen  werden,  welche 
ohne  Belege  bei  Prise,  stehen,  da  nach  jener  Angabe  (Prise, 
171,  14)  ebenso  gut  bei  Prise,  nicht  belegte  Wörter  in  Ver- 
bindung mit  Caper  und  Probus  und  unter  ihrer  Zeugenschaft 
erwartet  werden  können.  Es  kann  dies  hier  um  so  mehr 
vorausgesetzt  werden,  als  die  Reihe  von  Wörtern,  die  von 
170,  13  an  aufgezählt  werden,  'per  litteras'  aufgezählt  sind: 
penus,  pecus,  retis,  sexus,  specus,  sal',  eine  Anordnung,  die 
von  Caper  beliebt  war^^).  Daß  aber  wirklich  bei  Prise,  ge- 
legentlich die  Belege,  die  Caper  gegeben  hatte,  ausgelassen 
wurden,  beweist  uns  133, 25  'Samnitis,  Laurentis,  Tiburtis 
teste  Capro',  welche  Stelle  eine  beleglose  Wiedergabe  der 
Stelle  337,  22 — 338,  1  ist.  Hier  werden  jene  Formen  als  dem 
'vetustissimorum  usus'  entsprechend  aus  Cato  und  Ennius 
nachgewiesen  und  129, 7  erfahren  wir  ihre  Herkunft  aus 
Caper.  Derartige  Auslassungen  bestätigt  auch  Prise.  393,  13 
mit  den  Worten:  'auctores  apud  Caprum  legant,  qui  eos  scire 
desiderant',  nachdem  mehrere  Verbalbildungen  ohne  Belege 
dem  Gebrauch  der  antiquissimi  zugeteilt  sind.  Ibid.,  8  schreibt 
Prise,  gleichfalls  im  Hinblick  auf  nicht  belegte  Verben  'sed 
et  eorum  et  superiorum  omnium  usus  apud  Caprum,  Plinium 
et  Probum  invenies',  wo  nicht  nur  Probus,  sondern  auch  Plinius, 
den  Prise,  sicher  nicht  gelesen  hat  (cf.  Neumann  a.  a.  0.  p.  30), 
aus  Caper  übernommen  ist.  Es  ist  daher  wohl  möglich,  daß 
die  oben  aus  Prise,  171,  7  angeführten  Wörter  ohne  Belege 
doch  mit  unter  der  folgenden  Quellenangabe  inbegriffen  sind, 
zumal  bei  Prise,  332,  15  einige  Stellen  vorliegen,  welche  sich 
auf  'retis'  und  'rete'  beziehen.  Es  sind  dies  Plaut.  Rud.,  942 
für  'hie  retis' ^®)  und  ibid.,  984  für  'hoc  rete',  wo  Hertz  aller- 
dings   mit   den    Handschriften    des   Prise,    'retem'    schreibt^'). 

55)  V^l.  Neumann,    de   Plin.  dub.  serm.  libris  1881,   50  u.  bes.  51. 

5»)  Allerdings  ist  diese  Stelle  bei  Prise,  nicht  richtig  notirt ;  denn 
es  heisst  nicht  'uvidum  retem'  bei  Plautus  a.  a.  0.,  sondern  'uvidum 
rete',  wie  dies  auch  richtig  Prise.  270,  16  bei  Anführung  desselben  Verses 
geschrieben  ist.  Für  unsere  obige  Folgerung  ist  das  einerlei,  soll  aber 
bemerkt  werden. 

^'j  Die   richtige   Lesart  ist   'rete'   mit  B.,   'retem'   haben  übrigens 


Priscianus.  33 

Außerdem  ist  auch  noch  a.  a.  0.  Plaut.  Rud.,  900  zitiert 
für  falsches  'retiam' ''^).  Diese  letztere  Stelle  wird  uns  aber 
Prise,  500,10^^)  als  aus  Caper  genommen  bezeichnet. 
Prise.,  162,  7  wird  'hoc  sexus'  durch  Plaut.  Rnd.,  107,  Prise, 
260, 2  'haec  specus'  aus  Ennius  und  Pacuvius,  'hie  specus' 
Prise,  259,  21  aus  Horaz  belegt.  Ueber  'hoc  specus'  und  die 
Quelle  obiger  Angaben,  den  Caper,  siehe  Aufs.  I,  43  f.  Auch 
dürfte  vor  Prise,  170,13  noch  die  Partie  170,6—12  dem 
Caper  zuzusprechen  sein.  Hier  ist  'hie,  hoc  iubar'  mit  Be- 
legen aus  Ennius  und  Calvus,  'hie,  hoc  liquor'  und  'hie,  hoc 
papaver'  ohne  Nachweise  erwähnt.  'Iubar,  liquor,  papaver' 
fügen  sich  der  folgenden  alphabetischen  Reihe  'penus,  pecus 
cet.,  welche  eben  angeführt  ist,  vorn  an,  wie  dies  schon  Neu- 
mann a.  a.  0.  gesehen  hat.  Auch  findet  sich  GLK.  V,  581,  7 
de  dub.  nom.  'iubar  splendidus'  leider  ohne  Namen  des  Ge- 
währsmannes. In  diesem  Traktat  hat  aber  Keil  Reste  von 
Caper  nachgewiesen.  Ibid.,  586,  23  wird  'hie  papaver'  durch 
Varro :  'infricasse  papaverem'  belegt.  Diese  Stelle  gibt  auch 
Nonius,  220  für  denselben  Zweck  an,  noch  den  Titel  der 
Schrift  des  Varro  'Admirandis'  hinzufügend.  Um  so  mehr 
dürfen  wir  also  hier  gleichfalls  an  Caper  denken.  Wir  finden 
jene  Varrostelle  aus  demselben  Grunde,  wie  oben,  auch 
Charis.,  83,  28.  Daselbst  ist  auch  in  dieser  Sache  Plaut. 
Trin.  410  angeführt  und  eine  Stelle  aus  Cato's  Origines.  Die 
Plautusstelle  steht  aber  auch  bei  Nonius  a.  a.  0.  zum  selbigen 
Zweck.  Da  nun  Charisius  mannigfach  auf  Caper  zurückgeht 
wie  Nonius  '^°),  so  dürfte  auch  in  jenem  Verhältnis  der  Stellen 
eine  Hinweisung  auf  die  Behandlung  von  'papaver'  bei  Caper 
liegen.  Ueber  'liquor'  kann  ich  näheres  nicht  beibringen; 
daß  es  aber  nicht  auszuschalten  ist,  beweist  die  Einfüsfung 
in  die  alphabetische  Reihe. 

auch  CD. 

5*)  Hertz  schreibt  hier  unbegreiflicherweise  das  unrichtige  'retiam' 
für  'retia',  ohne  auf  die  Verwirrung,  die  Prise,  angerichtet  hat,  aufklä- 
rend hinzuweisen.  Zu  'haec  retis'  sehe  man  Charis.  33,  20  in  consue- 
tudine  dicimus:  in  retes  meas  incidisti',  'retia'  enim  si  dixeris,  plura- 
lem  facis  a  nominativo  'rete'  cet.  Gegen  'haec  retis'  entscheidet  Cha- 
ris. 61,  15  ff. 

^ä)  Daß  hier  nur  der  erste  Vers  von  der  Stelle  Prise.  332,  21  an- 
gegeben wird,  tut  nichts  zur  Sache. 

^°)  Vgl.  Aufs.  I,  35,   wo  meine  Meinung  über  Lindsay's  Marcellus. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  l.  3 


34  LudwigJeep, 

Nachdem  wir  die  Beziehungen  von  Prise,  171,14  'supra 
dictorum  nomiuum  usus'  cet.  klar  gelegt  haben,  können  wir 
die  vorhin  schon  angeführte  Stelle  bei  Prise,  393,  8  'sed  et 
et  eorum  superiorum  omnium  usus  tarn  apud  Caprum  quam 
Plinium  et  Probum  invenies'  in  ihren  Beziehungen  leicht 
gleichfalls  bestimmen. 

Zunächst  geht  jene  Angabe  natürlich  auf  die  unmittel- 
barvorhergehenden, nicht  belegten  Verben  'amplecto,  complecto', 
dann  aber  auch  ebenso  natürlich  auf  alle  vorhergehenden,  auf 
die  eine  Beziehung  überhaupt  möglich  erscheint,  namentlich 
auf  die  Verben  p.  392,  6  ff.,  die  jetzt  ohne  Belege  sind,  und 
da  diese  in  Prise,  396,10  ff.  offenbar  eine  Fortsetzung  haben^ 
auch  auf  die  letztern.  Wir  haben  aber  schon  oben  gesagt,  daß 
weder  Probus,  noch  Plinius  anders  als  durch  Caper  dem  Prise, 
zugegangen  ist,  so  daß  wir  auch  hier  nur  mit  Caper  als 
Quelle  zu  tun  haben.  Damit  stimmen  auch  die  deutlichen 
Spuren  alphabetischer  Anordnung.  Spuren  der  von  Prise- 
ausgelassenen  Belege  werden  wir  noch  bei  anderer  Gelegenheit 
nachweisen.  Uebrigens  liegt  an  sich  kein  Grund  vor,  die 
vereinzelten  Belege,  welche  sich  hier  finden,  von  der  Beziehung 
mit  der  angegebenen  Quelle  auszuschließen,  falls  nicht  ganz 
besondere  Gründe  dagegen  sprechen.  Jedoch  breche  ich  jetzt 
diese  Erörterungen  ab,  nachdem  ich  gezeigt  habe,  in  welcher 
Weise  derartige  Rückblicke  bei  Prise,  benutzt  werden  können, 
dessen  Quelle  in   weiterem  Kreise  zu  erschließen. 

Auf  Caper  ist  natürlich  auch  zurückzuführen  Prise.  490,  9 
a  delino  delitum  nascitur,  quod  Probus  et  Caper  comprobant 
usu  quoque  adiuvante :  Vergilius,  Cicero  ad  Calvum,  Cicero 
in  Verrem,  Accius;  nicht  minder  Prise,  513,  7  nanciscor  nactum 
facit  absque  n,  ut  Probo  et  Capro  et  Pollioni  et  Plinio  placet. 
Auch  Pollio  ist  nicht  von  Priscian  gelesen,  sondern  offenbar 
aus  Caper  mit  übernommen. 

Da  Priscian  den  Valerius  Probus  nur  aus  Caper  kennt 
und  nicht  selbst  gelesen  hat,  so  sind  die  allein  mit  jenem 
Namen  versehenen  Belege  bei  Prise  natürlich  auch  auf  Caper 
zurückzuführen.  Die  hierher  gehörenden  Stellen  sind  bereits 
in  Aufs.  I,  35  ff.  behandelt  worden. 

Bei  den  oben  p.  28  f.  angeführten   Caperzitaten  tritt  uns 


Priscianus.  35 

fast  überall  die  Bezeiclinung  des  Altertümlichen  entgegen. 
In  den  beiden  ersten  erscheint  Caper  als  Erforscher  des  Alter- 
tums ^^),  in  andern  wird  der  Gebrauch  der  'antiqiiissimi'  oder 
•vetustissimi'  u.  dgl.  hervorgehoben,  wie  p.  97,  7,  212, 4, 
508,27,  85,4,  390,26,  204,6  u.  561,9  (veteres).  Dasselbe 
gilt  auch  von  p.  129,7,  321,25,  96,2;  nur  finden  sich  die 
Angaben  über  die  'antiquissimi'  cet.  nicht  unmittelbar  neben 
der  Anführung  des  Caper  und  sind  daher  von  mir  oben  weg- 
gelassen worden.  Es  ist  daher  auch  schon  von  mir  im  Vorüber- 
gehen (ob.  p.  32)  bemerkt  worden,  daß  derartige  Hinzufügungen 
zu  den  altern  Belegen  selbst  ohne  Nennung  des  Caper  uns 
auf  diese  Quelle  hinlenken. 

BeAviesen  wird  dies  durch  die  Stelle  aus  Caper  bei  Prise, 
129, 9  (diese  oben  p.  29)  und  ihre  Wiederholung  337,  19 
nicht  unter  dem  Namen  des  Caper,  sondern  niu-  als  Darlegung 
des  'usus  vetustissimorum".  Allerdings  weicht  die  letztere 
Stelle  von  der  ersteren  in  unwichtigen  Dingen  ab  und  geht 
in  der  Anzahl  der  Belege  über  sie  hinaus ;  aber  dennnoch  liegt 
eine  Wiederholung  vor**^)  und  die  Herkunft  aus  Caper  kann 
nicht  bezweifelt  werden. 

Ein  ähnliches  Beispiel  solcher  Besprechung  haben  wir 
Prise,  354, 8,  welche  Stelle  oben  p.  29  mitgeteilt  ist,  und 
235,  11.  An  ersterera  Orte  wird  Caper  als  Quelle  genannt; 
an  dem  andern  steht  dasselbe,  nur  im  Allgemeinen  auf  die 
'vetustissimi'  bezogen.  Hierzu  ist  auch  zu  vergleichen  Prise, 
341, 2    'antiquissirai    hie    et    haec    memoris    et    hoc    memore 


^1)  P.  3ö4,  7  ist  auch  noch  gesagt,  daß  es  sich  um  den  Gebrauch 
'apud  antiquos'  handele. 

^-)  Wiederholt  sind  die  drei  Catostellen,  nur  ist  die  zweite  nicht 
so  vollständig  wiederholt,  wie  sie  p.  129,  11  steht,  auch  wird  hier  'hi 
populi  communiter  Tuicalanus'  gelesen,  p.  337,  22  'populus  commu- 
iiiter    Tusculanus';    endlich    setzt  p.  129,  11    am    Ende    'Rutulus',    was 

337,  22  fehlt.  P.  337,  24  bringt  dann  vor  der  Titiniusstelle  noch  ein 
viertes  Catocitat,  ferner  je  ein  Citat  aus  Ennius,  Naevius,  [Lucan],  Luci- 
lius.  Hinter  Titinius  kommt  auch  noch  ein  Citat  aus  Plautus.  Lucan 
ist  falsche  Uebertragung  aus  Prise,  248.  19.  Hier  steht  auch  (249,  7) 
dieselbe  Beziehung  auf  Naevius,  wie  338,  2.  Die  Stelle  aus  Lucilius 
ist  338,  7  auch  nicht  an  ihrer  Stelle.  Das  Plautuscitat  338,  11  (für 
'infimatis')  gehört  zu  dem  Kreis,  der  587,  3  berührt  wird  —  nostratis 
vestratis,  nostrate,  vestrate.     Hier  ist   auch  dieselbe  Plautusstelle,   wie 

338,  11  angeführt  und  ganz  an  ihrem  Platze. 


36  LudwigJeep, 

proferebant'.  An  den  beiden  letzten  Stellen  sind  verkehrt  von 
Hertz  Einklammerungen  vorgenommen. 

Beiläufig  bietet  p.  235, 11  den  Beweis,  daß  die  asyndetisch 
angeknüpften  Belege  wirklich  als  Angaben  Caper's  aufgefaßt 
werden  dürfen,  da  p.  354,  8  dies  ausdrücklich  ausgesprochen 
wird.    Vgl.  p.  203,16;  541,18. 

Man  vergleiche  ferner  Prise,  96,  2  oben  p.  30  mit  Prise, 
III,  80,  10  'antiqui  nuperns  nuperior  nuperrimus'  (cf.  auch 
Prise.  95,  18).  Es  ist  auch  hinzuweisen  auf  Prise,  170,  6  ff., 
welche  Partie  wir  oben  p.  31  f.  u.  32  als  dem  Caper  zu- 
gehörig erwiesen  haben.  Audi  sie  ist  dem  Kreise  der 
'vetustissimi'  (p.  169,  19)  angegliedert.  Probus  de  dubio 
perfecto  bei  Prise,  541,  19  (vgl.  Aufs.  I,  37),  d.  h.  für  uns 
nichts  anderes,  als  Caper,  hat  eine  Entsprechung  494^  14 
in  dem  Zitat  aus  Naevius  zu  Diensten  der  Konjugation  von 
'aio'  und  in  dem  vorhergehenden,  dazu  gehörigen  Passus 
klingt  die  'prima  persona  i  loco  consonantis  habens  duplicis, 
quae  et  geminabatur  a  vetustissimis  'aiio'  an  die  ähnliche 
Ausdrucksweise  p.  542,  6  an. 

Wenn  daher  diejenigen  Stellen,  an  denen  Belege  aus 
'vetustissimi,  antiquissimi'  u.  dgl.  angeführt  werden,  den  aus- 
drücklich dem  Caper  zugeteilten  Zitaten  gleichen,  so  sind  wir 
ohne  Frage  berechtigt,  diese  auch  dem  Caper  zuzuschreiben  ^^). 

Wir  sind  hiermit  einen  großen  Schritt  vorwärts  gekommen 
in  der  Erkenntnis  der  Herkunft  des  von  Prise  benutzten 
literarischen    Materials,    das   bis   zum    Ende    des  Caper  reicht. 

Die  Aehnlichkeit  aber  zwischen  den  festen  Caperstellen 
und  den  'vetustissimi'  cet,  werden  wir  natürlich  aus  den  zu 
den  Belegen  benutzten  Autoren  herleiten. 

In  den  von  uns  angeführten  Caperstellen  sind  folgende 
Autoren  gebraucht  Livius  Andronicus,  Naevius,  Ennius,  Pacuvius, 
Accius,  Caesar  Strabo,  Plautus,  Caecilius,  Afranius,  Titinius, 
Pomponius,  Cato  Censorius,  Caelius,  Lucilius,  Lucretius,  Varro, 
Cicero,  Calvus,  Catullus,  Vergilius,  Horatius,  Verrius  Flaccus. 
Diese  Reihe  läßt  sich  wesentlich  vermehren,  wenn  wir  die  bei 
Diomedes  auf  Probus  resp.  Caper  zurückgehenden  Zitate,  über 

*^)  Man  vgl.  auch  Prise.  357,  8  Plautus  et  alii  vetustissimi. 


Pi'iscianus.  37 

die  wir  später  genauer  handeln  werden,  heranziehen.  Da 
kommen  hinzu  Terentius,  Gracchus,  Brutus,  Sallustius,  Caesar, 
Laberius,  Cassius  Hemina,  Quadrigarius,  Titus  Livius,  Maecenas, 
Cornelius  Severus,  Cassius  Severus,  Fenestella  u.  a.,  welche 
uns  auch  bei  Prise,  begegnen. 

Im  Folgenden  stelle  ich  eine  Auswahl  von  den  in  Frage 
stehenden  Stellen  zusammen,  indem  ich  dabei  zunächst  nach 
derselben  Weise  verfahre,  wie  bei  den  auf  Caper  bezüglichen 
Stellen.  Die  Stichwörter  und  Zusätze  antiquissimi  cet.  lasse 
ich  nach  den  ersten  Angaben  der  Kürze  wegen  weg. 

Prise,  91,25  beneficissimus  et  similia,  apud  vetustissimos : 

Cato,  Terentius,  Accius. 
98, 8  dextimus,    extimus,    antiqui :    Varro,    Caelius,    Sallustius, 

Plinius,   vgl.  95, 5  Sallust. 
168,  15  adeps,  forceps,  femin.,  veteres :  Varro,  Marsus,  Novius. 
182,1  altera    utra,    plerus,    vetustissimi :    Cicero,    Cato    (bis), 

Pacuvius  (bis),   Asellio. 
196,3  antiquissimi  .  .  .  proferebant  caprigenus,  sim.:  Pacuvius, 

Cicero,  Virgilias  (bis),  Accius. 
197,13  huius,    huic   unae,    sim.,  in  usu  antiquiore;  Cicero,  ad 

Herennium,  Terentius  (bis),  Caelius. 
226,8  altera    utra,    veteres:    Cicero,    Cato.    Vgl.  182,1. 
226,16    uni    pro    unius,    sim.,    vetustissimi:    Cato,     Caelius, 

G.  Licinius,  Caesar,    Titinius,    Afranius  (bis),    Cato   (bis), 

Terentius,  Plautus,  Cato  (bis). 

Von  nun  an  gebe  ich  nur  noch  die  Autoren  dieser  Serie  an : 
229,  1  Plautus,  Naevius ;  229,  1 1  Caecilius,  Accius,  Plautus, 
vgl.  189,5;  242,9  Afranius,  Laevius;  254,6  Pacuvius,  Accius, 
Cato,  vgl.  318,4;  257,5  Comificius,  Plautus;  266,  3  Titinius, 
Afranius,  Cato,  Plautus,  Caelius,  Caesar,  Cato,  G.  Licinius,  vgl. 
226, 16;  268, 16  Accius,  Cato,  Cinna;  269,  5  Laevius,  Gracchus; 
271,1  Plautus,  Cato;  280,15  Plautus  (bis),  vgl.  105,19 
Plautus;  281,2  Laevius,  Ennius;  282, 12  Caecilius,  Pomponius; 
301,20  Livius  Andronicus,  Laevius;  303,21  Caesar,  Caelius, 
vgl  266,16;  308,23  Plautus  (ter);  347,2  Valerius  Antias, 
Cassius  Hemina,  Claudius  (bis);  348,17  Cicero  (ter);  350,11 
Terentius,  Cicero  (ter);  351,2  Cicero,  Caesar;  433,2  Cato, 
Atta;    471,3   Plautus,  Vergilius    (bis);    473,23   Ennius   (bis). 


38  LudwigJeep, 

Accius.  Lucretius,  vgl.  445,  7  Ennius,  Lucretius ;  474,  19 
Aemilius  Porcina,  Brutus;  475,20  Cato,  Lncilius,  Sulla; 
478,11  Ninnius  Crassus,  Turpiliiis;  482,3  Ennius,  Varro : 
ibid.,  8  Cato,  Livius  Andronicus,  L.  Cassiiis  Hemina;  483,  24  ff. 
CatulL,  Sallust.,  Caelius,  Claud.,  Laevius,  Lucilius;  496, 27 Laevius, 
Terentius,  Piso,  P.  Varro ;  500,  19  Ennius,  Terentius  (bis) ; 
512,25  Lucilius,  Caecilius;  518,14  Ennius  (ter):  528,26 
Varro,  Lucretius;  536,  16  Laevius,  Terentius,  vgl.  399,  19 
Terentius;  587,5  Cassius  Hemina,  Cato,  Plautus,  338,11, 
ob.  Anm.  62;  Prise.  III,  7,  5 — 9,  2  muß  besonders  hervorgehoben 
werden.  In  diesem  Abschnitte  ist  alles  auf  die  Belege  der 
vetustissimi  gestützt:  7,11  Terentius  (ter),  Cicero;  7,23 
Plautus  und  8, 6  Cato,  G.  Licinius,  Caelius  (bis),  Caesar, 
Fannius,  Caelius,  (vgl.  IT,  226,  16) ;  8,  21  Terentius,  Plautus. 
Die  merkwürdigste  Stelle  aber  setze  ich  an  das  Ende  obiger 
Reihe. 

Diese  Stelle  steht  Prise,  379,  2,  wo  eine  Reihe  von  pas- 
siven Verbalbildungen  aufgezählt  wird,  welche  die  'antiqui'  ''*) 
in  aktiver  und  in  passiver  Bedeutung  anwendeten.  Längst 
hat  Neumann  a.  a.  0.  auf  die  hier  klar  hervortretende  alpha- 
betische Anordnung  hingewiesen,  welcher  Caper  sich  zu  be- 
dienen pflegte.  Die  dieser  Reihe  folgenden  Belege  bestätigen 
die  Herkunft  von  Caper,  Ich  führe  die  Autoren  derselben  in 
der  Reihe  au,  wie  sie  379, 16  ff.  sich  bei  Prise,  finden,  ohne  auf 
die  zu  belegenden  Verben  Rücksicht  zu  nehmen :  Lucilius, 
Cassius,  Varro,  Lucius  Caesar,  Vergilius,  Cicero,  Gaius  Fannius, 
Fabius  Maximus,  Verrius,  Orbilius,  Petronius,  Lucilius,  Cicero, 
Aurelius,  Q.  Hortensius,  Varro,  Cannutius,  Cicero,  Aelius,  Cato, 
Sallustius,  Metellus  Numidicus,  Cicero  ad  Nepotem  (bis), 
Nepos,  Ennius,  Ateius  philologus,  Aufustius,  Caelius,  Verrius, 
Asinius,  Varro,  Appius  Caecus,  Varro,  P.  Aufidius,  Laberius, 
Curio,  Staberius,  Sisenna,  Cicero,  Horatius,  Quintus  Pompeius, 
Curio  pater,  Terentius,  Nigidius,  Lucius  Caelius,  Gaius  Gracchus, 


^*)  Man  stoße  sich  niclit  an  dem  Positiv.  Die  Altersbezeichnungen 
sind  bei  Prise,  nicht  ohne  Sclnvankungen  in  den  Gradbezeichnungen, 
wiewohl  der  Superlativ  für  hohes  Alter  das  gewöhnlichste  ist.  Die  Be- 
lege zu  obiger  Stelle  beweisen,  daß  jenes  'antiqui'  dem  Sinne  nach 
ein  vollgültiges  'antiquissimi'  bedeutet. 


Priscianus.  39 

Gaius  Memmius,  Cicero,  "Visellius,  Nigidins,  Asinius,  Accius, 
Fenestella,  Laberins,  Varro,  Suetonius,  Vergilius,  Horatius. 

Selbstversfändlicli  gehören  zu  dieser  Reihe  von  Caper- 
stellen  auch  diejenigen  Stellen,  welche  nur  einen  Autor  als 
Belea*  für  den  Grebranch  der  'vetustissimi'  cet.  notierten. 
Prise.  90,  1  hie  et  haec  senex  vetustissimi  proferebant. 
Poiupilius  in  epigrammate,  quod  M.  Varro  ....  refert;  169,  6 
vetustissimi  ....  z.  13  latex:  Accius;  189,  2  Ticidas;  215,  7 
hilum  pro  uUum  vetustissimi:  Lucilius;  230,  17  Cato;  230,22 
Cato;  235,11  Caecilius,  vgl.  354,9;  239,10  Plautus;  256,2 
Plautus;  258,22  Plautus;  262,1  Plautus;  264,2  ff.  Sisenna, 
81,6  Varro;  148,23  Plautus;  233,7  Accius;  318,4  Gellius, 
vgl.  254,6;  362,24  Terentius;  367,22  Cato;  320,  15  Ennius; 
377,16  Plautus,  vgl.  370,8;  398,20  Titinius,  (vgl.  376,24, 
Varro,  Titinius);  401,  3  Ennius,  vgl.  500,  20,  540,  6  u.  438,  23; 
432,11  Caelius;  499,7  Lucretius;  504,23  Ennius;  532,16 
Ennius;  529,25  Varro;  Prise,  III,  30,3  Cicero,  vgl.  55,25; 
77,  7  Pomponius,  vgl.  Nonius  514. 

Schon  oben  haben  wir  gelegentlich  (z.  B.  p.  37  Prise, 
91,  25  u.  98,  8)  gefunden,  daß  ähnliche  Bildungen  zusammen- 
gefaßt wurden,  unter  dem  Begriff  des  usus  der  'vetustissimi'  cet. 

Dergleichen  haben  wir  bei  Prise,  noch  mehrfach,  so  daß 
sozusagen  kleinere  oder  grössere  Reihen  entstehen,  deren  jede 
selbstverständlich  als  Ganzes  dem  Caper  zugeteilt  werden 
muß.  Es  folgt  in  derselben  Weise,  wie  oben,  eine  Aus- 
wahl von  Beispielen,  die  ich  ohne  Altersbezeichnung  notiere. 
Prise,  198,  7  escas  Livius  Andronicus,  Monetas  Livius  An- 
dronicus,  Latonas  Livius  Andronicus,  Terras  Naevius,  fortunas 
Naevius,  vias  Ennius,  matres  familias  Cicero,  patres  familiae 
Marcus  Brutus,  filii  familiarum  Sallustius,  patribus  familiis 
Cicero;  199,  16  schemä  Plautus,  syrmä,  Valerius  in  Phormione, 
Schema  Plautus  ^^),  schemä  Caecilius,  diademam  Pomponius, 
dogmam  Laberius,  glaucumam  Plautus ;  483,  24  senetCatullus, 
senecto  corpore  Sallustius,  custodibus  discessis  Caelius,  multis 
interitis  Claudius,  miserulo  obito  Laevius,  sole  occaso  Lucilius, 


*^)  In  den  codd.  Plautinis  steht  an  der  hier  in  Frage  kommenden 
Stelle  Persa  463  'schemä'  nicht.  Die  gr.  Ritschi.  ed.  schreibt  mit  Priscian, 
Schoell  und  üoetz  ed.  min.  folgen  den  codd. 


40  L  u  d  w  i  g   J  e  e  p , 

decretum  et  aucfcum  Laevius;  567,  13  meditatus  Teren- 
tius,  auxiliatus  Luciliiis,  amplexus  Petronius  (vgl.  381,  2), 
complexus  Cicero,  adminiculatus  Varro;  523,24  pago  Ad 
Herennium,  taugo,  pungo  Yarro  (bis)  Naevius ;  84,  5  Punior 
Plautus,  ipsissimus  Plautus;  152,8  paupera  Plautus,  pauper 
Tereiitius,  degener,  über  Lucretius,  Cato ;  206,  22  liomo  ho- 
monis  Ennius,  nemo  neminis  Lucilius ,  Titinius ,  Terentius ; 
208,  18  liaec  carnis  Livius  Andronicus,  Titus  Livius,  caro 
caruncula  Varro ;  250,9  huius  lapis  Ennius,  sanguis  sanguinis, 
veteres  hoc  sanguen,  Ennius  (bis)  ex  Cicerone;  279,  15  haec 
supellectis  Cato,  senex  senecis  Plautus,  vgl.  111,  6  Plautus; 
357,  1  toreumatis  Cicero ^*^),  peripetasmatis  Cicero,  emblematis 
Cicero,  poematis  Ad  Herennium  ^^). 

Wenn  wir  uns  daran  erinnern,  daß  bei  Prise,  verschiedenen 
Caperanführungen  keine  Belege  beigegeben  sind  (vgl.  oben  p.30), 
daß  aber  solche  gelegentlich  nachweislich  weggelassen  sind 
(vgl.  oben  p.  32),  dürfen  wir  auch  andere  Zitate  der  'vetustissimi' 
u.  dgl.  'ohne'  Belege  auf  Caper  zurückführen,  zumal  sich 
öfters  anderswo  eine  Bestätigung  dafür  findet.  Derartige 
Stellen  liefert  die  folgende  Zusammenstellung. 

Prise,  23,  2  'antiquissimi  etiam  'scindo  scicidi'  dicebant, 
quod  iuniores  'scidi'  dixerunt,  ut  in  praeterito  perfecto  verbi 
ostendemus'.  Die  in  Aussicht  genommene  Ausführung  lesen 
wir  516,  14  'scindo  scidi'  vetustissimi  tarnen  etiam  'scicidi' 
proferebant.  Die  dazu  gehörigen  alten  Belege  befinden  sich 
jetzt  Prise,  517,3:  Afranius,  Accius,  Naevius,  Ennius.  Man 
vgl.  hiermit  Gell.  N.  A.  VI  (VIT),  9,15  f.,  wo  zum  selbigen 
Zwecke  die  bei  Prise,  angegebeneu  Belege  aus  Accius  und 
Ennius  gleichfalls  mitgeteilt  sind.  25,  15  antiqui  quoque 
'amplocti'  pro  'amplecti'  dicebant.  Diom.,  384,  7  sagt  in  dem 
auf  Probus,  resp.  Caper  zurückgehenden  Passus  'vulgo  dicimus 
amplector,  veteres  immutaverunt  amploctor  crebro  dictitantes 
ut  Livius  in  Odyssea'  cet.  312,  11  antiquissimi  tarnen  et 
Graeca   in   o    productam    desinentia    per    lianc    declinationem 


*^)  Ueber  die  Ungenauigkeiten  der  Angaben  des  Prise,  a.  a.  0. 
Vgl.  Hertz  app.  erit.  a.  h.  1. 

*').  Man  denke  übrigens  an  schon  besprochene  Stellen,  wie  Prise. 
170,  öff.;  230,  27  ff.;  129,  9  ff. 


Priscianus.  41 

proferebant ,  ut  Sappho  Sapphonis,  Dido  Didonis.  Vgl. 
209,  17  lo,  Calypso:  Accius,  Pacuvius,  Plautus ;  dazu  210,6 
quod  autem  Jovis  et  Calypsonis  et  Didonis  dicitur,  ostendit 
hoc  etiam  Caesellius  Vindex  in  stromateo  bis  verbis:  Caly- 
psonem;  ita  declinatum  est  apud  antiquos;  Livius  Andr., 
Ennius  (Didone),  Accius  (Tone).  Man  vgl.  auch  Cbaris.,  63,  20 
u.  24''^'').  326,25  'hoc  lacte'  enim  dicebant  antiqui.  Vgl. 
oben  p.  29.  355,  13  invenitur  tarnen  apud  veteres  eins  sin- 
gulare 'hie  penatis  huius  penatis'.  Vergl.  Festus,  253, 9 
penatis  singulariter  Labeo  Antistius  posse  dici  putat.  160, 16 
multa  tarnen  ....  confudisse  genera  inveniuntur  vetustissimi, 
quos  non  sequimur,  ut  haec  amnis,  funis,  anguis'.  Vgl.  Serv. 
Aen.  IX,  122  hie  et  haec  amnis  u.  ibid.,  467,  welche  Stelle 
sich  auf  die  vorige  bezieht,  ausserdem  Non.,  191,  der  für 
'haec  amnis'  Plaut,  merc,  859,  Naevius  und  Accius  zitiert.  Das 
nahe  Verhältnis  des  Servius  und  Nonius  zu  Caper  ist  bekannt. 
Daher  vgl.  man  auch  zu  'haec  funis'  Nonius  205  mit  Lucr. 
II,  1154  und  für  'haec  anguis'  wiederum  Non.,  191  mit 
Plaut.  Amph.  1108  u.  Varro  Atacinus.  419,  11  cerno  crevi 
apud  vetustissimos  invenitur.  Vgl.  529,  11  cerno  crevi  .... 
Titinius,  Plautus.  437,  17  alteriusutrius,  qui  tamen  gene- 
tivus  vetustissimis  fuit  in  usu.  Vgl.  226,8;  182,1  und  dazu 
oben  p.  37.  438, 23  veteres  enim  et  'pario'  qiiavta  coniugatione 
deelinabant.  Vgl,  401,  3  'pario'  .  .  .  apud  vetustissimos  quartae 
coniugationis  declinationem  habebat:  Ennius  (oben  39);  500,19 
(vgl.  ob.  p.  38) ;  540,  6.  562,  8  licet  inveniantur  vetustissimi 
protulisse  et  haec  puera  et  hie  et  haec  puer  u.  110,  17  puer, 
puera  antiqui,  ex  quo  puella.  Vgl.  230,  27—232,  7.  566,  19 
vetustissimi  protulisse  inveniuntur,  ut  discessus,  interitus,  obitus, 
oecasus,  potus,  senectus  (dazu  512,  15  veteres  ....  pransus, 
caenatus,  plaeitus,  meritus,  passus,  cassus,  potus  cet.  u.  565, 26 ff.). 
Vgl.  483,21  ff.  570,3  antiqui  tamen  et  'sepelitus'  dicebant 
et  sallivi  sallitus  et  salsus.  Vgl.  546,  1 — 547,  1  u.  Diom. 
375,  16.  420,  11  antiquissimi  solebant  etiam  praeteritum 
perfectum  proferre  hoc  modo:  gaudeo  gavisi,  audeo  ausi.  Vgl. 
482,  9  ff.    402,  9  'facio'  et  'facior',  ut  ostendimus,  vetustissimi 


8)  Man  vergleiche   überhaupt  Charis.  63  f.  mit  Prise,  206—210. 


42  LudwigJeeio, 

proferebant.  Vgl.  398, 20  'facio,  quamvis  vetustissimi  etiam 
passive  hoc  protulisse  inveniantur:  Titinius  u.  376,24  quamvis 
'facitur'  quoque  a  'facio'  pro  'fit'  protulerunt  auctores:  Varro, 
Titinius.  572, 15  quamvis  vetustissimi  'novus  nuptus'  protulisse 
inveniantur.  Vgl.  377,  15  quamvis  antiquissimi  etiam  activa 
significatione  'nubo  te'  dicebant,  unde  Plautus  in  Casina  .... 
'novum  nuptum'  u.  370,  8.  Außerdem  vergleiche  man  573, 24 
u.  483,21;  357,8  (vgl.  oben  p.  40)  sicut  Plautus  et  alii 
vetustissimi.  Vgl.  199,  16  f.  Ferner  beachte  26,25;  24,6 
(vgl.  36,17  ff.);  27,10;  29,6;  294,8  ff. 

Nach  den  bisherigen  Folgerungen  dürfen  wir  jetzt  auch 
noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  auch  Belege  aus  dem 
Kreise  der  Autoren,  welche  wir  in  den  Sammlungen  des  Caper 
vorgefunden  haben,  selbst  wenn  sie  keine  Altersbezeichnungen 
führen,  als  aus  jenen  genommen  ansehen.  Auch  von  diesen 
mögen  einige  Beispiele  angeführt  werden. 

Prise,  90,  12  saepissimus:  Cato  (vgl.  III,  80,  5  f.);  100,15 
extimus:  Varro  Atacinus,  Plautus;  152,18  acer  u.  153,6: 
Naevius,  Ennius  (bis),  (vgl.  230, 2) ;  301, 2  puere :  Plautus 
(bis);  352,1  marum:  Naevius;  377,  10  fitur:  Cato  (bis);  399, 12 
assentior,  dissentior:  Cicero,  Lucilius,  Caelius;  469,  16  nexo 
nexis:  Livius  Andr.,  Accius  (vgl.  538,11);  469,6  adplicavi: 
Pacuvius,  Cicero,  Varro ;  488,  22  olui  et  olevi :  Horatius,  Lu- 
cilius, damit  in  Verbindung  488,  26  'adolevi'  u.  'adolui',  simi- 
lia:  Vergilius,  Varro,  Cassius,  Antias  (vgl.  Diom.  373,17  u. 
oben  p.  23  f.);  489,7  obsolevi,  sim. :  Sallustius,  Cicero  (ter); 
exolevi,  sim, :  Plautus,  Titus  Livius,  Persius,  Cicero ;  502,  20 
potitur:  Lucilius,  Ninnius,  'potiri'  semper:  Cicero.  510,16 
nosco  cet. :  Terentius,  Cicero,  Cato,  Piso  Frugi  (vgl.  Diom., 
388,3);  511,23  parsurus:  Varro  in  Laterensi  (Diom.,  368, 10), 
Titus  Livius;  512,3  seneo:  Accius,  Pacuvius;  532,24  verri: 
Macer,  Publilius,  Anf.  I,  43 ;  533,  2  'cucurri'  in  compositione : 
Vergilius,  Titus  Livius  (bis),  Cato,  Terentius^  Caesar  ad  Vergi- 
lium,  Plautus;  537,7  messui:  Cato,  Cassius  Hemina;  419,13 
mandi  Livius  Andr.,  419,  16  stridi:  Ennius.  Reihen  mäßig 
sind  : 

Prise,  278,  12  frux  Ennius,  frugi  Ennius,  fallax,  lux,  vox 
nex  Cicero.    Dies  wird  fortgesetzt  durch  279,  13  antiqui  ninguis, 


Priscianus.  43 

cet.,  siehe  p.  40  (supellectilis ,  senecis) ''•') ;  444,  17  olo  olis 
Afranius,  Plautus,  ölet  Terentius,  excello  et  excelleo,  Lucretius, 
Cicero  .  .  .  fulgo  fulgis  Vergilius,  sono  sonis  Emiius,  Lucretius. 
Vgl.  die  ähnliche  Reihe  in  der  Perfektbildung  478,  11. 

Dem  bisher  in  diesem  Teile  behandelten  Kreise  fast  durch- 
geheuds  älterer  Belege  steht  eine  ganz  andere  Reihe  von 
Zitaten  zur  Seite.  Wir  gehen  zunächst  von  einzelnen  Stellen 
aus,  in  denen  wir  diesen  Gegensatz  auch  bei  Prise,  deutlich 
ausgesprochen  finden.  Prise,  233, 5  'socer',  cuius  femin. 
'socera'  esse  deberet,  'haec  socrus'  in  usu  est:  Juvenalis  (salvä 
socru).  vetustissimi  tarnen  comnmniter  'hie,  haec  socrus': 
Accius;  254,3  'ös'  correptum  'ossis' :  Ovidius  (ex  osse), 
quidam  tamen  veterum  et  'hoc  ossu'  et  'hocossum':  Pacuvius 
(ossuum),  Accius  (ossis),  Cato  tamen  'os'  protulit  fcf.  318,4); 
30, 1  finalis  m  in  metro  subtrahitur,  si  a  vocali  incipit  seqaens 
dictio:  Vergilius;  vetustissimi  tamen  non  semper  eam  sub- 
trahebant:  Ennius;  301,  20  antiquissimi  'Virgilie'  cet.:  Livius 
Andr.,  Laevius:  iuniores  antem  gaudentes  brevitate  'Virgili' 
cet. :  Horatius  (bis) ;  147,  2  'hie  sal' :  Terent.  Sali. ;  inveniuntur 
tamen  vetustissimi  quidam  etiam  neutro  genere  hoc  protulisse. 
Die  Belege  aus  Cato,  Afranius,  Ennius  Prise,  171, 8  (vgl. 
oben  p.  31);  367,  4  veteres  inveniuntur  ablativo  quintae 
declinationis  etiam  pro  genetivo  usi,  ut  Vergilius  (die),  Sallustius 
(acie),  id*m  (requie).  quidam  tam  in  antiquissimorum  etiam 
similem  nominativo  genetivum  protulerunt  eius  declinationis'"); 
529,  18  lino  levi:  Juvenalis,  Terentius;  vetustissimi  tamen 
etiam  'lini'  in  praeterito  protulisse  inveniuntur:  Varro  (ob- 
linerunt) ;  516,  15  vetustissimi  tamen  etiam  'scicidi'  proferebant, 
quod  solum  quoque  in  usu  esse  putat  Asmonius,  sed  errat; 
nam  'scidit'  Lucanus,  Statius  (bis),  Martialis,  sed  more  antiquo 
'scicidi'  Afranius,  Accius,  Naevius,  Ennius.  Ueber  Asmonius  v. 
Aufs.  I,  15  u.  19;  die  alten  Zitate  gehören,  wie  schon  p.  40 
gesagt,  natürlich  zu  den  vetustissimi,  von  denen  Lucan, 
Statius,    Martialis    sich    als    eine   andere  Reihe,    die   dort   ein- 


®*)  Man  übersehe  nicht  die  Reihe  'frux  frugi  follax  lux  [vox]  nex 
supellex  senex',  die  offenbar  zusammengehört  und  noch  deutlich  alpha- 
betische Folge  zeigt. 

'»)  Vgl.  Chans.,  31,  18. 


44  L  u  d  w  i  g   J  e  e  p, 

geschoben  ist.  klar  abheben'^).  Prise.  308.5  genet. 
plur.  sec.  fleclin  in  -'um' :  Vergilius  (bis)  'socium,  Rutulum', 
Terentius  'iniquum,  aequum'.  Statins  'parvum',  Virg.  (bis) 
'magnanimum',  antiqui  "meum'  sim. :  Plautus  (ter).  Die  Ver- 
schiedenheit spiegeln  auch  wider  Reihen  wie  540,  15  salui 
salii:  Vergilius  (ter),  Lucamis,  Statius  (bis),  Ovidius  (bis),  — 
Quadrigarius ;  481,  13  strido  stridis,  stridi :  Vergilius,  Lucanus, 
Statius,  —  Accius  '-)  u.  s.  w. 

Die  zweite  Reihe  von  Belegen,  auf  die  wir  von  Prise, 
selbst  geführt  sind,  erscheint  nun  aber  auch  selbständig.  Wir 
sehen  das  klar  aus  folgenden  Zusammenstellungen,  die  sich 
auf  B.  m — VI  beziehen.  Der  Kürze  wegen  nenne  ich  nur 
die  Autoren. 

Prise.  85,6  Statius,  Virgilius;  92.6  Verg.  (ter);  101.18 
Sallustius.  Juvenalis:  113,2  Verg.,  Juv.  (bis);  124,  20  Lucanus 
(ter)  ;  144. 10  Verg.  (bis),  Horatius  (bis);  149,  10  Verg.,  Luc, 
Verg.:  152,  1  Ovidius.  Terentius;  156,  22  Luc,  Verg.,  Luc,  Ov. 
(Vgl.  316, 16);  157,  14  Verg.,  Juv.,  Luc  (vgl.  316, 19  u.  342, 18). 
SaU.,  158,  12  Ter.,  Verg.,  Luc,  Stat.,  Ter.,  160,  11  Juv.,  Hör.. 
162,10  Luc  Juv.  (bis);  163,11  Verg..  Ter.,  Hör.  (vgl.  oben 
p.  31);  164, 13  Juv.,  Ov.,  Verg.  (quater),  Juv. ;  165,  11  Verg.. 
Luc.  (bis),  Verg.,  —  Luc;  167,  10  Verg.,  luv.;  176,  16  Verg., 
Stat.,  Verg.  (bis);  188,  4  Ter.,  Verg.;  201,18  Sali.,  Luc.  (bis), 
Verg.  (bis).  Sali.,  Luc,  dann  gleich  202,  20  Stat.  (bis),  vgl. 
286,  26  f.;  203,3  Ov.,  Hör.,  Verg.;  208,15  Stat.,  Juv.  (vgl 
145,25);  212,10  Martialis,  Hör.;  219,14  Luc,  Ov.,  Stat., 
Verg.;  222,6  Hör..  Verg.:  222,12  Ov.  (bis),  Luc;  233,20 
Luc.  (bis),  (vgl.  295, 2)  u.  234,  3  nochmals  Luc  (bis),  (vgl. 
150,1  u.  327,18);  237,22  Luc,  Ter.;  238,9  Hör.,  Verg.: 
239,16  Verg.  (bis);  241,2  Ov.,  Stat.,  —Juv.,  Verg.,  Hör. 
[Probus];  243,12  Verg.,  Juv.  (bis),  vgl.  349,13  ff.;  244,5 
Ter.    (bis);    257,11   Martialis,   Ov.;    259,10   Luc,  Juv.  (bis); 


'*)  Man  vgl.  Prise.  23,  2  antiquisimi  etiain  'scindo  scicidi'  dice- 
bant,  quod  iuniores  'scidi'  dixerunt,  ut  in  praeterito  perfecto  verbi 
ostendemus  (=  p.  516,  15).  Man  sehe  übrigens  auch  212,  '•'  allec :  Mar- 
tialis, Horatius  und  dem  gegenüber  'inveniuntur  tarnen  quidatn  veterum 
etiam  'haec  allex'  feminino  genere  protulisse,  quod  Caper  ostendit  de 
dubiis  generibus. 

")  Vgl.  521,  21  Statius-Accius. 


Priscianus.  45 

265, 17  Verg.,  Hör. ;  269,  10  Ter.,  Verg.,  Ov.,  —  Verg.,  Stat.; 
273,1  Hör.,  Verg.  (bis),  vgl.  295,15;  274,1  Luc,  Juv.; 
277,  3  Ov.,  Hör.  (bis),  Ov.,  Luc. 

Aus  den  obigen  Angaben  geht  deutlich  hervor,  daß  die 
Autoren  der  zweiten  Reihe,  soweit  wir  jetzt  sehen  können, 
Juvenalis,  Ovidius,  Vergilius,  Horatius,  Terentius,  Sallustius, 
Lucanus,  Statins  und  auch  Martialis  sind. 

Leider  kann  es  uns  nicht  erspart  werden,  auch  die  andern 
Bücher  des  Prise,  nach  dieser  Richtung  hin  zu  untersuchen 
und  es  bleibt  mir  daher  nichts  übrig,  als  noch  eine  Zeit  lang  bei 
dem    trübseligen  Zusammenstellen    von   Stellen    zu    verharren. 

In  den  folgenden  Büchern  des  Prise,  steht  zunächst  die 
Sache  ebenso.  Der  Kürze  wegen  muß  ich  mich  aber  öfters 
auf  Angabe  der  Seitenzahlen  beschränken.  So  Prise.  VII, 
285,16;  286,5;  287,  5  (vgl.  290, 9  u.  203, 1) ;  288,3;  288,15; 
290,15  (vgl.  349,5);  291,3;  296,9  (vgl.  590,11);  297,13; 
298,7  u.  15;  300,11  u.  19;  301,7;  302,7;  304,11  (vgL 
298,15);  305,17;  306,14;  308,6;  309,18  Juv.,  Verg.  (bis), 
Sali.,  Ter.,  Verg.;  310,11;  310,23;  314,9;  315,1  Verg., 
Juv.;  315,16  Ter.,  Verg.,  Hör.  (vgl.  350,12  u.  361,16); 
316,14  Ov.,  Verg.,  Juv.,  Luc,  Verg.,  Ov.,  Stat.  (vgl.  156,16; 
157,  15). 

Ich  füge  außerdem  noch  eine  etwas  genauere  Uebersicht 
über  einige  Partien  der  Casus  und  zwar  aus  der  dritten 
Deklination  im  1.  VII  hinzu.  Dadurch  wird  unsere  Auf- 
fassung noch  besonders  bestätigt. 

Prise,  327, 12 — 329,  2  quaedam  noraina  accusativum  'im' 
finientia  .  .  plerumque  Graeca  .  .  Luc,  Verg.  (septies),  Luc,  Juv., 
Luc  (bis);  329,3 — 329,22  praeterea  Latina  in  'im'  terminantia 
accusativum,  Verg.  (quinquies),  Ter.,  Verg.  —  Plautus  (vgl. 
ob.  p.  44;  330,  1 — 7  quorundam  ex  eis  in  'em'  invenitur 
accusativus,  Luc,  Verg.,  Juv.;  330,20 — 331,10  Graeca,  quae 
vocativum  Graecum  servant,  Verg.  (ter),  Ov.,  Stat.;  334,7 
masculina  vel  communia  in  'er'  vel  in  'is'  desinentia,  si 
faciunt  in  e  neutra,  ablativum  in  i  efferunt,  'salubri'  Verg. 
und  dann  dazu  weiter  335, 6  'celeri'  Ter.,  Verg.  (bis),  Luc. 
(vgl.  360,1  u.  4);  335,21 — 336,5  in  i  terminant  ablativum 
omnia,   quae   in   'im'    habent    accusativum,    A'erg.    (bis),   Juv. ; 


46  LudwigJeep, 

336,  6 — 337,  6  quae  et  in  'im'  et  in  'em'  haec  tarn  in  i  quam 
in  e :  puppim  et  puppem  ab  liac  pnppi  et  puppe,  Verg.  (ter) 
Luc.  (bis),  turrim  et  turrem  ab  hac  turri  et  turre  —  Accius  (!), 
(vgl.  ob.  44),  Verg.;  sitim,  siti,  Verg.  (ter)  —  Cato  (!); 
338,15—369,7  mensium  nomina  in  'is'  vel  in  'er'  desinentia 
ablativum  per  i  finiunt,  Juv.  (bis),  simplex  'imber'  (!)  (\^g]. 
150,19,  230,15),  Stat.,  Cic.  in  Verr.  (bis);  339,7  bipennis 
bipenni,  Verg.  (vgl.  160,6);  339,11  in  e  et  i  indifferenter 
desinunt  in  ablativo  omnia,  quae  sunt  communia  triura 
generum,  nt  pare  vel  pari,  Verg.,  Luc. ;  vetere  vel  veteri, 
Juv.,  Cicero  pro  Murena,  Stat.  (ter);  340,4  audace  vel  audaci, 
triplice  vel  triplici,  artifice  vel  artifici,  nur  die  beiden  letzten 
in  'i'  belegt,  Verg.,  Stat. ;  340,11  duplice  vel  duplici,  supplice 
vel  supplici.  Hör.,  Ter.,  Luc,  Sali.;  340,20  memore  vel 
memori,  Juv.,  Hör.,  Ov.  (nur  Belege  für  Ablat.  in  'i');  342,2 
vigile  vel   vigili,    Juv..    Stat.,    terete    vel  tereti,  Verg.  ")  (ter); 

342,  13  hebete  vel  hebeti,  Juv.  Diese  Reihe  von  Ablativen 
wird  erst  wieder  aufgenommen  343,  15.  Dazwischen  liegt 
jetzt  eine  Partie  (342,  11 — 343,  14)  über  'bic,  baec,  hoc  hospes 
et  sospes,  resp.  bospita  et  sospita  und  nur  beiläufig  342,  25 
wird  gefragt,  ob  die  beiden  Wörter  'e'  und  'i'  im  Ablat. 
haben  könnten  oder  nur  'e'.  Letzteres  wird  gebilligt  und 
belegt  durch  Verg.  (343,  1).  Den  communen  Gebrauch  obiger 
Wörter   belegt   342.  17   Luc,    Stat.,  Juv.,  bospita  und  sospita 

343,  6  Verg.  (bis),  Ov.,  Cicero  pro  Murena.  Dann  gehts  im 
alten  Gang  weiter  343,  15  tridens  a  tridente  vel  tridenti,  Verg. 
(nur  für  tridenti),  locuplete  vel  locupleti,  Cicero  in  Verr.  (nur 
für  locupleti) ;  343,  26  in  e  et  in  i  faciunt  ablativum  in  'vis, 
guis,  ctis,  ranis,  gnis'  terminantia  nomina,  344,  3  ff.  ave  vel 
avi.  Hör.  (avi);  nave  vel  navi,  Cic,  Ter.  (ter)  (navi),  Verg. 
(nave);  cive  vel  civi,  Juv.  (cive),  Cicero  in  Verr.  (civi); 
345,  5  S.  vecte  vel  vecti,  Ter.  (vecti) ;  igne  vel  igni,  Verg. 
(bis)  für  igni,  Juv.,  Luc.  (igne);  amne  vel  amni,  Verg.  (bis) 
für  amni,  Luc  (amne);  346,  2  ff.  angue  vel  angui,  Stat.  (angue)i 
Hör.  (angui);  ungue  vel  ungui,  Hör.  (ungui) ;  minore  vel 
minori,  Juv.,  Stat.  (minori);  leviori  Juv.,  maiori  Luc 


")  Vgl.  zu  dieser  Partie  p.  316,  10  tf. 


Priscianus.  47 

Ich  glaube  hier  abbrechen  zu  sollen,  um  auch  das  Vor- 
handensein jener  zweiten  Belegreihe  in  den  folgenden  Büchern 
des  Prise  kurz  zu  zeigen. 

Prise,  1.  VIII,  369,  10  Verg.,  Ter.  (bis) ;  375, 25  Juv. 
(ter);  387,11  Juv.,  Verg.  (bis);  388,17  Verg.  (bis),  Ter.; 
389,  19  Juv.,  Ter.,  Verg. ;  393,  22  Verg.  (bis),  Ter. ;  398,  25 
Ov.,  Juv.,  Verg.,  403,  18  Verg.,  Luc. ;  404,  2  Juv.  (bis),  — 
Juv.,  —  Sali.,  Juv.;  430,19  Juv.,  Verg. 

Schon  in  1.  VIII  sind  roanche  Seiten,  auf  denen  sich  gar 
keine  oder  nur  vereinzelte  Belege  notiert  finden.  Noch  mehr  ist 
das  der  Fall  im  Anfange  von  1.  IX.  Mit  p.  469  wird  dies 
aber  wieder  anders  und  es  treten  dann  auch  wieder  Belege 
der  zweiten  Reihe  auf,  wie  Prise,  485,  21  Juv.  (bis),  Hör.,  Ter.; 
475,  7  Verg.,  Ter.,  Verg.  (bis),  Luc.  (vgl.  558,  21).  Aus  1.  X 
notieren  wir  zur  Probe  514,  23  Luc,  —  Hör.  (bis),  —  Luc, 
Verg.,  Stat.;  516,17  vgl  ob.  43;  521,5  Verg.,  Luc,  Juv., 
Her.,  Stat.  (bis);  521,25  Luc,  Stat.;  529,21  Juv.,  Ter.; 
530,  23  Verg.  (bis),  Ov.,  Ter.,  Luc.  (bis),  Verg. ;  540, 15  vgl. 
ob.  44;  543,21'*)  Verg.  (quater),  Ov.  (bis),  Ter.,  Juv.,  Verg., 
Luc,  cet. 

Im  1.  XI  finden  wir  548  —  557  gleichfalls  Seiten  lang 
keine  Belege;  dann  werden  sie  stellenweise  wieder  zahlreicher. 
Die  Spuren  der  zweiten  Reihe  treten  uns  p.  558  f.  deutlich 
entgegen  (vgl.  dazu  p.  475,  483,  501  u.  502).  Sie  finden 
sich  auch  561  (vgl.  375,25;  378,8);  570,22  u.  574,11.  Die 
Reihe  der  vetustissimi  und  antiquissimi  tritt  immer  mehr 
zurück.  Die  meisten  der  letztern  sind  nur  W^iederholung 
früherer  Anführungen.  Wenn  auch  in  vorhergehenden  Büchern 
derartige  Wiederholungen  vorkommen,  so  wird  neben  den- 
selben stets  auch  viel  Neues  geboten.  In  1.  XI  aber  ist 
567, 15  Ter.  =  385,  13  Lucilius  =  379,  15,  Petronius  =  381,  2, 
Cicero  pro  Roscio  Am.  =  381,  7,  Varro  =  380,  3.  Hier  ist 
auch  am  Ende  dieser  Reihe  ausdrücklich  auf  379  hingewiesen. 
Dazu  kommt  eine  Anzahl  von  Hinweisen  auf  die  vetustissimi, 
wobei  die  Belege  weggelassen.  Auch  das  sind  Wieder- 
holungen.     So  562,  8   licet   inveniantur  vetustissimi   protulisse 


*)  Vgl.  p.  530  u.  531. 


48  LudwigJeep, 

et  liaec  puera,  et  hie  et  liaec  puer,  vgl.  231,  1  ff.  (oben  p.  9) 
u.  110,  17;  566,  19  vetustissimi  'discessus,  interitus,  obitus'  cet., 
vgl.  483,  24  ff.  (oben  p.  38) ;  570,  4  antiqui  'sepelitus',  vgl. 
546,1;  572  vetustissimi  'novus  nuptus',  vgl.  377,17,  370,10, 
565, 28  (oben  p.  39) ;  573, 3  torsus  et  tortus  antique,  vgl. 
487,  9.  Hier  ist  auch  'torsores'  angeführt,  wozu  man  in 
diesem  Buche  560,  20  'osorem'  heranziehen  mag.  lieber  der- 
artige nominale  Formen,  als  Verbalformen  aufgefaßt,  sehe 
man  m.  Redet.,  255.  Außerdem  ist  noch  573,  24  anzuführen, 
wo  nochmals  hingewiesen  wird  auf  die  vetustissimi,  die,  wie- 
wohl 'neutra',  dennoch  participia  praeteriti  bildeten.  Das 
weist  natürlich  wieder  auf  p.  483.  Betreffs  571, 25  'apud 
antiquiores  tamen  etiam  ab  hoc  (i.  e.  'ruo')  compositum  producit 
paenultimam  'diruo,  dirui,  dirutum'  ist  zu  weisen  auf  504,  25, 
wo  geschützt  durch  die  vetustissimi  'eruo  erüi'  u.  dgl.  an- 
gegeben ist,  dessen  Richtigkeit,  wie  bekannt,  kein  geringerer 
als  Varro  d.  1.  1.  IX,  104  bestätigt.  Aus  der  altern  Reihe 
wird  neu  nur  560,  15  Plautus  (osa),  Plaut,  (osorem),  Laevius 
(meminens),  Plautus  (puditum)  und  564,  16  Plautus  (abiendi) 
selbständig  geboten. 

Buch  XII  unterscheidet  sich  nicht  viel  von  dem  vorher- 
gehenden. Die  zweite  Reihe  der  Belege  zeigt  uns  589,  16 
Verg.,  Juv.;  590,3  Juv.,  Verg.  (bis),  Juv.  (vgh  296,10  ff., 
298,  15).  Von  den  vetustissimi  ist  587,  5  (vgl.  ob.  Anm.  62) 
Cassius  Hemina,  Cato,  Plautus  (vgl.  338,  11);  591,  7  Lucretius 
(bis),  Ennius,  Alphius  Avitus  (vgl.  ob.  8),  eine  Stelle,  die 
in  der  Zusammensetzung  305, 9  gleicht,  zu  nennen.  Der 
größte  Teil  von  B.  XIII  ist  gleichfalls  dürftig  ausgestattet. 
Von  den  vetustissimi  sind  die  Terenzstellen  GLK.  III,  7  Wieder- 
holungen aus  II,  227,15;  197,18;  198,3.  Die  große  Stelle 
8,  5  (vgl.  ob.  38)  entspricht  II,  226,  19,  nur  ist  dort  die  Vor- 
lage etwas  anders,  z.  T.  vollständiger,  als  hier  abgeschrieben. 
P.  III,  9,  14  'ques'  belegt  aus  Pacuvius  und  Cato  findet  sich 
auch  Charis.,  91,  17  (vgl.  133, 3),  aber  länger,  so  daß  die 
gemeinsame  Quelle  sich  von  selbst  ergibt.  Sonst  finden  sich 
ein  vereinzeltes  Zitat  aus  Ennius  3,  6,  einige  Belege  aus 
Plautus ,  von  denen  das  7,  25  aus  II,  224,  4  wiederholt  ist, 
die  andern  8,22;  9,2  (vetustissimi)  und  10,  16  (antiqui).    Ob 


Priscianus.  49 

das  'vetustissimi'  6,25  sich  auf  die  folgenden  Terenz- 
zitate  bezieht,  scheint  mir  nicht  sicher.  Ein  'vetustissimi' 
ohne  Belege  11,17  führt  auf  II,  587,1,  ein  anderes  5,24 
auf  592,  16,  wo  aber  auch  keine  dementsprechende  Belege. 
Die  zweite  Belegreihe  tritt  klar  hervor  III,  2,  11  Verg.,  Ter.; 
9.  8  Verg.,  Ter.;  10,  18  Juv.,  Stat.  (bis) ;  16,  4  Verg.,  Ter.  (ter). 
Außer  der  Wiederholung  der  Caperstellen  III,  4U,  30  u. 
44, 9  aus  II,  85,  5  u.  96, 2,  scheint  in  1.  XIIII,  wenn  nicht 
auch  III,  55,  24  dazu  gehört,  nichts  zu  sein,  was  der  Reihe  der 
vetustissimi  mit  Sicherheit  zugeschrieben  werden  kann.  Reichlich 
und  unverfälscht  treten  uns  aber  dafür  die  Belege  der  zweiten 
Reihe  entgegen.  Das  letztere  gilt  auch  ebenso  von  1.  XV 
u.  XVI.  Ich  kann  mir  bei  der  Augenfälligkeit  dieser  Tat- 
sache jedes  Beispiel  sparen.  Jedoch  muß  ich  noch  darauf 
hinweisen,  daß  in  lib.  XIIII  der  bemerkenswerte  Passus  aus 
Censorinus  steht  (vgl.  ob.  14)  und  daß  in  1.  XV  einige  alte 
Belege  aus  Nonius  Marcellus  genommen  sind  (vgl.  Aufs.  I,  46). 
Von  altern  Belegen  ist  vermutlich  im  1.  XV,  67, 2  die 
Plautusstelle  doch  wohl  interpoliert,  eine  andere  67,  8  ist  eine 
Wiederholung  aus  II,  99,  17;  III,  77,  7  ist  Pomponius  noch 
auf  Nonius,  p.  514,  23,  trotz  der  Abweichung,  zurückzuführen. 
Die  sich  auf  die  'antiqui'  berufende  Stelle  III,  80,  5  (saepior 
saepissimus)  dürfte  sich  auf  II,  90,  1 1  beziehen  '°),  wie  sich 
'nuperus'  III,  80,  10  natürlich  auf  II,  95, 18  f.  bezieht.  Neu 
bleiben  von  den  alten  demnach  nur  im  1.  XV  die  Plautuszitate 
III,  75,  12,  19, 22.  Die  Angabe  III,  104, 23  'autem,  quod 
tamen  antiqui  solebant  etiam  praeponere'  findet  allerdings 
GLK.  V  Cledonius,  74,  12  eine  Bestätigung  durch  die  Worte 
*autem  secundum  licentiam  antiquorum  etiam  praeponitur,  ut 
Plautus  'autem  fac'  et  'autem  haec  mulier',  kann  aber  durch 
wirklich  sichere  Belege  nicht  dargetan  werden.  Für  eine 
ursprünglich  durch  Belege  der  altern  Reihe  nachgewiesene 
Anführung  vermag  ich   daher,    trotz  des  'antiqui',  jenes  nicht 


'^)  Allerdings  heißt  es  hier  'a  saepe  adverbio  positivum  vel  com- 
parativum  uomen  non  legi,  superlativum  posuit  Cato'  cet.,  jedenfalls 
ganz  so  in  der  ersten  Person  aus  der  Quelle  von  Prise,  hinübergenom- 
men ;  jedoch  ist  damit  der  comparativus  keineswegs  geleugnet.  Cf. 
p.  342,  25. 

Philologua  LXVIII  (N.  F.  XXII),  1.  4 


50  L u  d  w ig  Jeep, 

zu   halten.     In  1.  XVII  findet  sich  gar  nichts  von  der  älteren 
Reihe,  sondern  nur  Belege  der  zweiten  Reihe. 

Betreffs  des  Liber  I  hatten  wir  schon  oben  p.  40 — 42 
Gelegenheit,  darauf  hinzuweisen,  daß  es  Teil  habe  an  den 
Belegen  der  altern  Reihe.  Ich  füge  hier  noch  hinzu  die  An- 
führung des  Ennius  30, 4  als  Vertreters  der  'vetustissimi' 
gegenüber  dem  Vergil.  ferner  weise  ich  auf  die  Plautusstellen 
31,  19;  38,  2.  So  finden  wir  auch  in  1.  II  Zitate  aus  Plautus 
50,7;  62,9;  76,2;  79,18  und  aus  Varro  81.  6.  In  beiden 
Büchern,  namentlich  im  ersten,  sind  auch  sonst  noch  Beziehungen 
auf  die  'antiquissimi.  vetustissimi,  antiqui'  u.  dgl.,  von  denen 
48,  17  'gnotus'  antique.  unde  'ignotns,  nosco  gnosco'  auf 
510,  16  ff.  (vgl.  Diora.,  383,  17  u.  388,  3)  zu  weisen  scheint. 
Die  Hauptstelle  nehmen  aber  die  Belege  der  zweiten  Reihe 
ein.  Um  dies  nachzuweisen,  verbinden  wir  gleich  die  Be- 
handlung der  beiden  Bücher. 

P.  40,  17  werden  Belege  für  griechische  Wörter  im  Latein 
angeführt:  Stat.  (Lampia),  Stat.  (Langia),  Stat.  (ArgTa).  Verg. 
(Typhoea).  Die  Masculine  Achilleus,  Alpheus,  spondeus  folgen 
41.  13  ohne  Belege,  ebenso  Chius,  dia.  aber  Lycius  wird  41,19 
belegt  aus  Statius. 

In  1.  II  lesen  wir  in  der  Besprechung  der  possessiva  71, 1 
ähnliches.  Wir  stossen  da  wieder  auf  die  eben  angeführten 
Bildungen  in  -eus  und  71,16  auch  auf  dieselben  in  -lus. 
Während  die  erstere  auch  hier  ohne  Belege  sind  ''®),  haben  die 
letztern  solche:  71,  17  Verg.  (dla)^'),  Verg.  (Sperchlus)  Hör.. 
(Chlum).  daneben  primitivum  'Chius'  aus  Luc.  Stat.  (Lycla), 
dieselbe  Stelle,  wie  p.  41,  19 ;  daneben  Lyrclus,  gleichfalls  aus 
Stat.  Es  folgen  darauf  von  Neuem  Belege  für  Argia  und 
Langia.  P.  72,  15  Stat.  (ArgTa),  Stat.  (Arglan),  Stat.  (Langia) 
letzteres  Zitat  dasselbe,  wie  p.  41,  aber  p.  72  ein  Vers  mehr. 
Zum  Schluß  dieser  Reihe  kommt  eine  Rückkehr  zu  denen  in 
-lus  mit  Arlus  aus  Luc.  Man  merke  ferner  46,  19  omitto, 
Ter.,  Hör. ;  47,  10  Verg.  (reddidit),  Ter.  (redducere).  Hör. 
(reducet),  Verg.  (reduxi) ;  63, 11  abusive  etiam  a  matribus  et 
regibus    sive    conditoribus    et    a    fratribus    etiam    patrouymica 

]^)  Siehe  aber  p.  73,  15. 

")  Vgl.  den  app.  crit.  bei  Hertz  p.  41,  4. 


Priscianus.  51 

solere  formari  :  Ov.  (Iliades  =  Romulus);  Ov.  (Coronides 
=  Aesculapius) ;  Maiades  =  Mercurius  ohne  Beleg ;  ab  avis 
quoque  maternis  Ov.  (Atlantides  =  Mercurins) ;  Ov.  (Inachides 
r=  Epaphus);  a  regibus:  Verg.  (Thesidae),  Verg.  (Cecropidae), 
cet.  Aeneadae  (bis),  Romulidae,  Phaethontiades  aus  Verg. ; 
66,17  Verg.  (Pelidae),  Ov.  (Promethidps);  70,12  iligneus 
(tarnen  et  iliceus)  Ter..  Stat. ;  76,  26  derivativa  a  numeris 
etiam  singularia :  Luc.  (gurgite  septeno),  Verg.  (centenaque 
arbore). 

Von  einer  Zusammenstellung  von  Belegen,  wie  sie  die 
von  uns  sogenannte  zweite  Reihe  bei  Prise,  darstellt,  haben 
sich  auch  außerhalb  des  Prise.  Spuren  erhalten.  GLK.  VII, 
541, 26  ff.  ist  ein  kleines  Stück  einer  ähnlichen  Zusammen- 
stellung aus  einem  codex  Vindobonensis ,  früher  Bobiensis 
saec.  VIII — IX  herausgegeben.  Es  ist  darin  Verschiedenes, 
welches  sachlich  weiter  keinen  Zusammenhang  mit  dem  In- 
halte Priscians  hat,  angeführt  und  kurz  erklärt.  Die  heran- 
gezogenen Wörter,  die  erklärt  werden,  sind  aus  Terentius, 
Vergilius,  Horatius,  Lucanus,  Statins'®),  luvenalis,  Sallustius. 
Wenn  auch  Virgil  der  weit  meistzitierte  ist,  Horaz  dann  erst 
mit  weniger  als  der  Hälfte  von  Stellen  folgt,  Juvenal  wieder 
weniger  und  Lucan  noch  weniger  zitiert  wird,  Sallust  nur 
mit  einem  paar  Stellen,  Statins  und  Terentius  aber  nur  mit 
je  einer  Stelle  vorkommen,  so  sehen  wir  doch,  daß  eine  der- 
artige Zusammenstellung  von  Autoren  zu  grammatischen 
Zwecken,  wie  unsere  Reihe  eine  bietet,  auch  sonst  gebräuchlich 
war.  Doch  wir  müssen  das,  was  hier  noch  zu  sagen  ist,  dem 
folgenden  Aufsatze  überlassen. 

Königsberg  i.  Pr.  Ludwig  Jeep. 

(F.  f.) 

'*)  Es  ist  sehr  merkwürdig,  daß  K.  den  Terentius  und  Statius  sowohl 
in  der  Behandlung  der  Ueberlief'erung  VII,  537,  als  auch  im  Index 
ibid.,  676  vergessen  hat. 


4* 


II. 

Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons 
Gastmahl  (cap.  24—29,  pag.  204  C— 212  A). 

Nicht  die  Erwartung,  allen  Lesern  etwas  Neues  sagen  zu 
können,  hat  die  folgenden  Zeilen  bestimmt,  die  ohne  eine  um- 
fassende Kenntnis  der  Literatur  über  Piaton  geschrieben  sind, 
wohl  aber  die  Wahrnehmung ,  daß  die  zu  Gebote  stehenden 
bewährten  Bücher  als  Hilfsmittel  für  den  Gedankengang  der 
so  bedeutsamen  Kapitel  24 — 29  nicht  völlig  ausreichen.  Diese 
Kapitel  entwickeln  des  Eros  Wirken  (epY«)  oder  Nutzen  (xpsc'a), 
des  Eros  Ziel,  nachdem  in  den  vorhergehenden  Kapiteln 
Eigenschaften  und  Erscheinung  behandelt  waren.  Es  soll  hier 
(I)  ihr  Gedankengang  skizziert  und  sodann  (II)  einiges  der 
Beleuchtung  bedürfende  beleuchtet  werden. 

I. 

1.  Die  weitere  B  e  d  e  u  t  u  n  g  ('etvai)  und  der  engere 

Gebrauch  [v.  ocX  elo  ^ai)  des  Wortes  epws: 

cap.  24.  25  (pag.  204  C-207  A). 

a)  pag.  204  D— 205  A  dnov  eyw:  Für  eptac,  wird  zunächst 
die  weitere  Bedeutung  festgestellt,  er  sei  nämlich  „das 
Verlangen  nach  dem  Besitze  des  Guten  (xwv 
dyaö-wv  epöc  yeveaO-at  abzCo)  als  der  Quelle  des  höch- 
sten Glückes  (suoat'iJLWV  eatat) ". 

b)  pag.  205  A  TauxrjV  oe — 205  D  eyü),  Xeyeiv:  Dieser  wei- 
teren B  edeutung,  nach  welcher  epws  ein  Zustand  aller  Men- 
schen ist  (205  A  xotvöv  .  .  .  Ttavxwv,  205  B  eluEp  ye  Ttavxec) 
und  ein  immerwährender  (205  B  el'ixep  ye  .  .  xac  det,  und  so 
gehört  gewiß  auch  205  A  de:  zu  ßouXeaO-at,    nicht   zu  xdyaö-d 


W.  Gilbert,  Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  etc.        53 

auTot^  sovac),  wird  die  Tatsache  eines  nicht  so  weiten  Ge- 
brauches des  Wortes  (cpajxev)  gegenübergestellt;  erläutert 
wird  dies  an  dem  analogen  Gegensatze  zwischen  Bedeutung 
(etvaO  und  engerem  Gebrauch  (xaXeta^a:)  von  uoiTjat?  und 
uoirixiic,  ^). 

c)  pag.  205  D  xa:  Xeyexat  [Jtsv — 206  A  r^v  5' syci):  Bei  der 
Frage  nach  diesem  £V  xt  zloo^  ((xopcov),  das  Liebe  nicht  nur 
sei,  sondern  auch  heiße,  wird  zunächst  mit  Bezug  auf  den 
Logos  des  Aristophanes  hervorgehoben,  daß  es  das  Verlangen 
nach  dem  Zugehörigen  (T^jfiiaeoc;  oder  öXou)  nicht  sein 
könne,  sofern  nicht  das  Gute  das  sei,  was  man  zugehörig 
(oiy.Bl  0  V  X  a  :  §  a  u  x  o  0)  nenne.  Ueber  diesen  Abschnitt 
wird  noch  eingehend  zu  sprechen  sein. 

d)  pag.  206  A :  Ehe  nun  Diotima  einen  anderen  Inhalt  für 
den  (engeren)  Gebrauch  von  epto;  aufstellt,  wird  in  Wie- 
deraufnahme von  pag.  204  D — 205  E  die  weitere  Bedeu- 
tung von  'ipiüc,  in  der  Weise  rekapituliert^),  daß 
noch  ein  aec  hinzugefügt  wird,  es  sei  also  (bezeichnend 
saxcv  apa  ^i»XX7]ßorjV,  nicht  etwa  xaXstxat)  Eros  das  Verlangen 
nach  dem  ewigen  Besitze  des  Guten  (xoO  xö  aya^öv 
auxqi  ecvac  aet).  —  Daß  eine  solche  Rekapitulation  vorliegt, 
wird  dadurch  besonders  deutlich,  daß  der  bereits  204  D  und 
204  E  geraachte  Schritt  von  xwv  xaXwv  oder  xwv  dyatiwv  zu 
yeveafi-ac  aoxtj)  (zu  xat  stvat  xö  aya^öv  auxot<;)  hier  ausdrück- 
lich nochmals  gemacht  wird.  Anderseits  werden  wir  den  neuen 
Schritt,  die  Hinzunahme  eines  asi,    hier  nicht  dadurch  verun- 

^)  205  D  TÖ  [i£v  xscpäXaiöv  („im  allgemeinen"  wie  sv  xsccaXatcp  196  E) 
£OTt  TZoLoa  7j  Tcöv  äya^a-wv  iTn&ujiia  xal  xoö  ei)8aL|jL0V£!v  ö  [ley  t.  oz  o  (;  xac 
SoXepög  '^P  oi  Q  Tiavxi  ist  kritisch  viel  behandelt  teils  durch  Konjek- 
turen für  boXspbq,  teils  durch  Zusammenstreichen  teils  (Hieronymus 
Müller  und  K.  Fr.  Hermann)  durch  Versuch  neuer  Interpungierung. 
Mit  Unrecht.  Es  stimmt  vielmehr  trefflich  zu  Piatons  Gedankengang, 
daß  hiei'  bereits  der  allgemeineren  Bedeutung  von  ipwc.  (vermutlich 
einer  Dichterstelle  entlehnte)  Prädikate  beigelegt  werden,  die  nur  für 
den  eben  noch  zu  definierenden  engeren  Gebrauch  des  Wortes  (zunächst 
das  sinnliche  Liebesverlangen)  gelten. 

^)  Besonders  mit  diesem  Verhältnis  zwischen  p.  206  A  und  p.  206  B 
scheint  die  Gedankenentwickelung  von  Gomperz  Griechische  Denker 
{S.  314)  und  von  Steinhart  Einleitung  zur  Uebersetzung  des  Gastmahls 
(S.  248  f.)  sowie  die  Dispositiousskizze  in  der  Ausgabe  des  Symposion 
von  Hug^  (S.  126)  nebst  seiner  Anm.  zu  206  B  1  (S.  143)  nicht  verein- 
bar. In  der  Einleitung  (S.  LVI)  giebt  Hug-  überhaupt  kein  klares 
Bild  der  dialektischen  Entwickelung. 


54  W.  Gilbert, 

deutlichen  dürfen,    daß   wir  bereits  205  A  del  mit  ab-zoiq  sivac 
verbinden  (statt  mit  ßouXeaiV.:). 

e)  pag.  206B:  Abermals  wird  nun  der  weiteren  Be- 
deutung gegenüber  (ox£  Syj  toutou  ö  Ipw?  eaxcv  äzl^))  die 
Frage  nach  dem  engeren  Gebrauch  des  Wortes  epwc;  ge- 
stellt (epw;  av  xocXolzo);  wie  hierbei  der  Gegensatz  zwischen 
elvai  und  ■/.a.lelox^ot.i  an  205  D  erinnert,  so  erinnern  im  Aus- 
druck auch  xwv  Ttva  Tpouov  ocw/wOVtcdv  an  205  D  ol  oe  xatcc 
£V  Tc  doo;,  lovxe;  und  ■/]  aTiouoyj  an  205  D  eoTrouSaxote?.  Die 
Antwort  wird  nicht  durch  den  bisherigen  Gedankengang  ver- 
mittelt, sondern  aus  der  Empirie  des  (animalischen)  Lie- 
beslebens entnommen.  Als  Gegenstand  des  Ipw?  wird  also 
naturgemäß  x  qy.o  <;  aufgestellt,  jedoch  erhält  xcy.oc,  schon  bei 
dieser  Aufstellung  die  Einschränkung  e  v  x  a  A  qj  und  die  zu- 
nächst befremdende  (deshalb  Mavtetac;  ozlrai)  Erweiterung  xac 
xaxa  oö)[xa  xac  xaxa  '^tuyjfj. 

f)  pag.  206  C— 206  E  Ilavu  jjiev  o5v,  scprj:  Die  Ein- 
schränkung £V  xaAw  wird  dadurch  begründet, 
daß  die  menschliche  Natur  nur  im  Schönen  zu  zeugen  ver- 
mag. —  Diese  Tatsache  selbst  wieder  zu  begründen  dient  zu- 
nächst als  Beweis  eine  kürzere  Gedankenreihe  y)  yap  avopo; 
xac  yuvacxos  .  .  .  i]  xaXXoviQ  eaxt  xfj  yeveaei.  Das  yap  ihres 
ersten  Satzes  gehört  nicht  zu  diesem,  sondern  zu  der  ganzen 
Gedankenreihe.  Es  kann  nicht  entbehrt  werden.  Daher  ist 
es  unzulässig,  den  ersten  Satz  (i^  yap  avSpog  xac  yuvatXG? 
ouvouota  xoxoc,  saxt'v)  zu  streichen  (so  zuerst  Ast).  Auch  ist 
er  durchaus  unanstößig :  es  ist  gewiß  berechtigt,  daß  trotz  des 
vorausgehenden  xat  xaxa  xb  o&\ia,  xa:  xaxa  xy]v  4^uyjjV  (außer 
206  B  auch  206  C)  der  Beweis  sich  zunächst  auf  die  leibliche 
Zeugung  zwischen  Mann  und  Weib  beschränkt,  wie  denn  der 
geistigen  Zeugung  bis  zu  dem  neuen  Anheben  (Cap.  26,  p.  207) 
überhaupt  nicht  wieder  ausdrücklich  gedacht  wird ;  und  daß 
Zweck  und  Wesen  der  geschlechtlichen  Vereinigung  nicht  sie 
selbst,  sondern  die  in  ihr  erfolgende  Zeugung  sei,  durfte  doch 


')  äsl,  das  eine  Zeile  vorher  in  ganz  anderer  Beziehung  gebraucht 
war,  mag  ein  kleiner  Schönheitsfehler  sein,  aber  gegen  Streichen  (so 
zuerst  Bekker)  wird  es  doch  wohl  dadurch  gesichert,  daß  es  auch  205  A 
und  205  B  hinzugefügt  ist:  Tiävxag  lä.'fa.^ä.  ßo-iXeod-at  auxctg  sTvai.  äel 
und  einsp  ys.  nävceg  twv  aüxcöv  sptüO'.  vtal  ä  e  (. 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       55 

gewiß  gegenüber  der  entgegengesetzten  Auffassung  so  vieler 
ausdrücklich  ausgesprochen  werden.  —  An  diesen  Beweis  wird 
eine  breitere  Ausführung  angeschlossen.  O'.cc  laüta,  mit  dem 
sie  beginnt,  ist  zurückweisend  „Also";  dem  vielgebilligten 
Kolon  hinter  d:a,  taüta  und  der  Annahme  eines  vielmehr  das 
folgende  ankündigenden  ota  xaüTa  (=  oicc  xaos)  widerstrebt 
besonders  auch  der  Gedankengang. 

g)  pag.  206  E  xi  Sy)  oöv  zfic,  ysvvrjaEw; —  207  A :  Die 
engere,  aus  der  Empirie  entnommene  Definition  wird 
durch  Zurückführ  ung  auf  einen  epw?  dO-ava- 
o  i  oc  q  ,  auf  ein  Verlangen  nach  Verewigung  des  Daseins,  mit 
der  weiteren  Bedeutung  von  spot);  (pag.  206  A)  ver- 
knüpft, oder  richtiger  gesagt,  diese  Verknüpfung  wird  ab- 
geschlossen. —  Durch  die  Beschränkung  iv  xaXw  zu  rcxoc, 
war  bei  der  sokratisch- platonischen  Identität  von  '/.ocXoq  und 
äyaO-o^  die  engere  Definition  (wie  mit  der  ursprünglichen,  noch 
204  D  gegebenen  Aufstellung  epw;  xwv  xaAwv)  mit  dem  dya- 
^6v  der  weiteren  Bedeutung  von  sptoc  (p.  204 E  und  206  A)  ver- 
knüpft, freilich  nach  unserem  Gefühl  etwas  locker.  Mit  dem  dsc 
der  weiteren  Bedeutung  von  ipoic,  (p.  206  A)  verknüpft  die  Defi- 
nition der  Begriff  der  d  i}  a  v  a  a  c  a.  Ausgesprochen  war  dieser 
Begriff'  schon  206  C,  aber  da  war  es  (eaxc  be  xoöio  %-  eloy  xö 
7ipay|Jia,  y.a.1  xoOxo  £V  •9'vyjxw  övxt  xö)  I^4)cü  d'8-dvaxov  eveaxiv, 
1^  xurjac^)  ein  Satz  inmitten  der  oben  besprochenen,  mit  r]  yocp 
x'jopbi  beginnenden  Beweiskette.  Hier  wird  diese  Verknüpfung 
mit  der  weitereu  Bedeutung  von  ipw;  (p.  206  A)  in  abschließen- 
der Zu  rückführ  ung  auf  einen  epw?  d-ö-avaaia^ 
gegeben  :  „Warum  nun  ist  die  Liebe  auf  die  Zeugung  gerich- 
tet ?  Weil  [erste  Prämisse  der  Verknüpfung :]  die  Zeugung 
Verewigung  und  Unsterblichkeit  ist,  soweit  Sterbliches  sie 
haben  kann.  [Zweite  Prämisse  der  Verknüpfung :]  Daß  man 
aber  außer  nach  Gutem  auch  nach  Unsterblichkeit  begehre 
(seil,  damit  das  Gute  und  Schöne,  das  man  hat,  ewig  bestehen 
könne),  das  ist  nach  dem  Vereinbarten  (p.  206  A)  notwendig, 
sofern  nämlich  (p.  206  A)  Liebe  auf  ewigen  Besitz  des  Guten 
gerichtet  ist.  [Wiederholung  der  zweiten  Prämisse  als  eines 
selbständigen  Ergebnisses,  das  ja  nun  auch  die  folgenden  Ka- 
pitel bestimmt:]    Notwendig    ist    es  also  nach  dieser  Begriffs- 


56  W.  Gilbert, 

bestimmung,    daß  auch    auf  die  Unsterblichkeit  die  Liebe  ge- 
richtet sei". 

2.  Die  (relative)  irdische  Unsterblichkeit    als  Ge- 
genstand des  menschlichen  Strebens  nicht   nur   in 
der  materiellen  Welt,  sondern  auch  in  der  Geiste s- 
welt:  cap.  26.  27  (pag.  207  A— 209  E). 

a)  Cap.  26,  pag.  207  A — 208  B  6  epwc  'dizsiai:  der  spw; 
d  \)'  a  va  a  c  a  5  wird  im  animalischen  'ipo)(;  toxou  der 
Tiere  erwiesen ,  besonders  als  einzige  Erklärung  der  Auf- 
opferung für  die  Jungen, 

Dabei  eingeschaltet  pag.  207  D  ercsc  xat — 208  B  aSuvaxov 
Ss  cüXliQ :  der  Wert  der  relativen  dO-avaata  durch 
Sprößlinge  wird  daran  erwiesen,  daß  ein  gleicher  Wechsel 
auch  beim  Fortleben  desselben  Individuums  stattfindet, 
nicht  nur  im  Körper  als  Stoffwechsel,  sondern  auch  im  Gei- 
stigen. 

b)  pag.  208  B — 208  E  tgO  yäp  dO-avatou  kpGioiv:  An  den 
Menschen  wird  £  p  w  ;  a.  {)•  a  v  a.  o  i  oc  c.  zunächst  in  dem 
£  p  (D  ;  [x  V  rj  [X  7]  ;  erwiesen ,  in  den  Betätigungen  der  cp  :  X  o- 
X  c  tx  ''  a. 

Dieser  Abschnitt  ist  nur  vorbereitend, 
obwohl  gerade  hier  in  der  Darstellung  die  neue  Form  be- 
ginnt und  Diotima  von  der  dialektischen  Entwickelung  in 
Frage  und  Antwort  zum  zusammenhängenden  Vortrag  der  dog- 
matisch mit  Weisheit  belehrenden  Vortragskünstler  (woTiep  o: 
tIaeo:  aocpcaiai)  übergeht.  Sehr  verschieden  wertiges 
fließt  in  der  [J-VTifirj  zusammen:  von  denen  an,  die  in  herrlichen 
für  immer  vorbildlichen  Handlungen  fortleben  (208  E  r.dvca 
TxotoOacv,  öaw  dv  d[X£cvouc;  (Lac,  toooutw  (jtdXXov)  und  von  den 
Dichtern  herrlicher  Worte  an  (209  D  dildvaxov  y.Xioi  xal  pLvy,- 
jjirjv  des  Homer  und  Hesiod,  bei  denen  jedoch  nicht  von  einem 
ipai;,  [jivYj[xrjg  gesprochen  wird)  bis  hinunter  zu  dem  Fortleben 
eines  persönlichen  Bildes  oder  auch  nur  des  Namens  im  engen 
Kreise  leiblicher  Nachkommen  (208  E  oia,  iza'.ooyovix:;  dil-ava- 
at'av  xac  [jLvy]|xy]v  -/.cd  £uoat[xov:av  cog  ocovxat  .  .  ,  7roptJ^ö[jL£Vo:,  wo 
die  Einschränkung  und  Anzweifelung  w;  cilovxac  natürlich  nur 
zu  £u5at[i,ovtav    zu   beziehen    ist).     In   letzterem   Falle   ist    der 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       57 

epws  fiVTj[JLr;c;  sogar  mit  leiblichem  epw^  löy.ou*)  verbunden,  wie 
umgedreht  in  dem  Falle  Homers  und  Hesiods  die  |J.vyj(jir/  mit 
geistigem  epw;  tcxod  verbunden  ist.  In  anderen  Beispielen 
dagegen  steht  |i  v  yj  (ji  v]  und  £  p  w  ;  n  v  rj  [x  tj  ;  weder  mit 
physischem  noch  mit  geistigem  spcoc  xöxou 
in  Beziehung,  so  gerade  in  denen,  die  in  Gegensatz  zum 
Logos  des  Phaidros  von  Diotima  auf  bloße  q3'.Xoxt(jLca,  auf  ipoj? 
jxvYjiJiy];,  zurückgeführt  werden:  bei  Alkestis  und  bei  Achill. 
Denn  Piaton  erweitert  stark  den  Bereich,  in  welchem  er  epw: 
fjLvrj[ir;;  und  somit  cpcXoxt[i,ia  als  Motiv  sieht.  Aber  nicht  in 
reiner  Anerkennung  solchen  Strebens.  Vielmehr  blickt  er  von 
der  Höhe  seiner  philosophischen  Warte  darauf  fast  wie  auf 
ein  Gehudel  der  Menschen  hinab.  Das  glauben  wir  schon  zu 
empfinden,  wenn  er  bei  Beginn  der  Besprechung  das  Getriebe 
als  „an  sich"  (a  eyw  dptjxx  d  (jlyj  Ivvos!;)  „sonderbar  und 
widersinnig"  (O-aujjia^o:^  av  ttj;  dXoy'a?  Tiepi)  bezeichnet.  Je- 
denfalls aber  spiegelt  sich  p.  208  C  D  und  auch  noch  208  E 
Ironie  über  den  Gegensatz  zwischen  dem  ausposaunten  und 
dem  wirklichen  Werte  von  '/.Hoc,  xai  [Jivrj|jirj  in  der  Fülle  der 
Dichtercitate :  xac  xXioq  elc,  zbv  ocel  yjpbvov  aO-avaiov  xaxa^e- 
af)'at ,  aO-avaxov  (xvYj[jirjv  dpsxfj;  Tiepi ,  So^tjc;  eOxXeoO? ,  dz  xöv 
STiscta  }(p6vov  T:avxa  7ioptt^6|xevo:. 

c)  pag.  208  E  Ol  (jlsv  o5v  b{v.\j\xovtc, — 209  E:  Der  eigent- 
liche Erweis :  Der  spwc;  dBavaaca-  betätigt  sich 
bei  den  %-tloi  ovxs?  und  deshalb  £yx6[jiov£;  xaxa  xr^v  4'^X'^''' 
als  ein  spw^  Toy^oxi  xaxä  (];uyTjV.  Der  von  ihm  er- 
faßte erzeugt  unter  Bevorzugung  auch  schöner  Körper  in  einer 
schönen  Seele  Geisteskinder  und  zieht  sie  dann  mit  heran, 
nämlich  cppovy^aiv  x£  xa:  xy]v  dXXrjv  aptx'fiv  (was  z.  B.  auch  die 
Srjfi'.oupyo:  Eupcxtxo:  bewirken,  d.  h.  der  neue  Kunstübung  und 
also  auch  neue  Kunsterkenntnis  erfindende  Künstler),  beson- 
ders aber  acocppoauvyjv  x£  xai  ocxa:oauv-/]v. 


*)  In  dem  Beispiele  des  Kodros  208  D  hat  die  erstrebte  |j.vv;ij,yj  eine 
weitere  Ausdehnung.  Aber  die  eigenartige  Begründung  der  Tat  (uTsäp 
Tf(5  ßaai/lsta;  -c  w  v  ii  a  £  §  o)  v)  dürfte  sich  wohl  gerade  dadurch  erklären, 
daß  Piaton  neben  spwg  [ivr;[iY;g  hier  einen  leiblichen  spwg  xöy.OLt,  Auf- 
opferung für  die  Nachkommenschaft,  stellen  wollte. 


58  W.  Gilbert, 

3.  Der  Stufeugang   im  Eros  des  Lehrers   und  das 
Aufsteigen  zur  höchsten  Weihe:  cap.  28.29 

(pag.  209  E— 212  B). 
Diotima  stellt  eine  höchste  Weihe  im  Eros  auf,  die  So- 
krates  vielleicht  nicht  begreifen  werde.  Der  Eros  höchster 
Weihe  wird  nachdrücklich  als  das  Ziel  bezeichnet,  um 
dessen  willen  allein  dem  edleren  Menschen  der 
Drang  nach  einem  geistigen  xöxo?  ev  xaXw  gegeben 
sei:  p.  210  A  ü)v  evexa  xa:  xaOxa  (der  Drang  nach  geistigem 
x6v.oc,  £v  xaXcj))  saxiv,  sav  xt;  op^w?  [JLsxtT]  (betreibt)  und  p.  210E 
cö  Srj  evcxsv  xai  ol  E|X7tpoa9^£v  T^avxeg  novo;  -^aav.  Der  durch 
den  Stufengang  bis  zur  höchsten  Weihe  führende 
(210  A  (JLUTji^-cirj;  und  r(-{r(Zoi.;  ö  T^youpisvo;,  210  C  in!  xa^  sttl- 
axrj[ia;  dyaycLV,  210  E  Tipö;  xa  Ipwxtxä  -a'.oaywyvji)"/] ,  211  C 
livcci  y)  OTt'  ÄAAou  ayeaöat)  ist  die  Gottheit  oder  der  dunkle 
göttliche  Drang  im  Menschen,  der  ihn  auch  zunächst 
zu  dem  Sinnlich- schönen,  einem  letzten  Abglanze  des  Ewig- 
schönen zieht;  daß  auch  in  diesem  Zug  zum  Sinnlich-schönen 
das  Ewig-schöne  wirke  durch  eine  Erinnerung  der  Seele  aus 
früherem  Schauen,  wird  im  Symposion,  das  ja  in  der  Begriffs- 
entwickelung andere  Zusammenhänge  aufstellt,  nicht  ausge- 
sprochen, wohl  aber  im  Phaidros  cap.  30  f. 

a)  pag.  210  A — 210  C  ßsXxiou;  xohc,  viou::  Der  bereits  in 
cap.  27  behandelte  Drang  nach  geistigem  xoxo?  svxaXw 
(cap.  28  p.  210  A  epav  xcd  evxaöS-a  yevvccv  Xo^omc,  xaXou^)  wird 
nachträglich  in  3  Stufen  ausgeführt:  a)  svö^ 
acb|JLaxo;.  ß)  ticcvxwv  xwv  xaAöv  atofxaxwv,  worin  unausgespro- 
chen auch  der  Fortschritt  liegt,  daß  zwischen  den  verschie- 
denen schönen  Jünglingen  nach  der  Schönheit  der  Seele  ent- 
schieden werde,  y)  x6  e;  xai;  4^'JXai?  v.ocXloc,  xifjLiwxepov  T^yrj- 
aaa^ac  xoö  ev  tw  awfxaxt,  welche  Stufe  zwar  nicht  über  den 
Geist,  wohl  aber  über  den  Wortlaut  von  cap.  27  schon  etwas 
hinausgeht,  indem  sie  die  echt  griechische  Bedingung  der  ge- 
winnenden Erscheinung  fallen  läßt  (xa:  £av  .  .  .  a|x:xp6v  avöo; 

b)  pag.  210  C  Iva  avayxaaöfj — 210  D  ev  cptXoaocpca  acp8-6vq): 
Im  weiteren  Fortschreiten  verschlingt  sich  mit  dem 
Lehren    ein   Lernen,    mit  dem  Einsenken    in   Jüngerer 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       59 

Seelen  eigener  geistiger  Fortschritt,  der  zugleich  völlig  über 
den  Einfluß  des  Sinnlich-schönen  hinaushebt.  Der  Lehrende 
erschaut,  durch  sein  Lehren  dazu  gezwungen :  a)  das  Schöne 
im  ethischen  H  a  n  d  e  1  n  (£7ictrjOs6piaa:)  und  in  den  sitt- 
lichen Anschauungen  (vofxocg.  auch  im  Logos  des  Pau- 
sanias  wiederholt  so  gebraucht) ;  ß)  hiernach  auf  weiterer  Stufe 
xö  Twv  eTicaxrjixwv  xaXXog. 

c)  pag.  210  D  £0);  av  evxaöO-a  pcoa9-£is — 211  B:  Nun  erst 
folgt  als  letzte  Stufe  die  höchste  Weihe,  die  Dio- 
tima für  Sokrates  als  vielleicht  nicht  begreifbar  bezeichnet 
hatte;  besonders  kenntlich  gemacht  wird  dies  auch  dadurch, 
daß  der  sie  als  das  einzige  Ziel  hervorhebende  Relativsatz  nach 
210  A  nochmals  mit  Nachdruck  wiederholt  wird  (210  E  ou  Srj 
£V£X£V  xao  ol  EfJLT^p&aO-Ev  Travx£5  TiövGt  -^aav).  Diese  letzte  Stufe 
ist  das  Schauen  der  ewigen  reinen  Idee  des 
Schönen. 

d)  pag.  211  BC:  Der  Stufengang  wird  kurz  rekapituliert. 

e)  pag.  211  D— 212  A :  Die  H  e  r  r  1  i  c  h  k  e  i  t  d  e  s  L  e- 
bens  auf  dieser  letzten  Stufe  wird  ausgeführt  und 
die  Rede  so  beschlossen:  „Nur  auf  dieser  Stufe  wird  es  dem 
Menschen  gelingen ,  das  Schöne  mit  dem  Organe  (d.  i.  dem 
Geiste  statt  dem  Augs)  erschauend,  für  das  es  erschaubar  ist, 
nicht  Scheinbilder  von  Tugend  zu  erzeugen  (d.  h.  in  Jüngerer 
Seelen  einzusenken),  da  er  ja  auch  nicht  an  einem  Scheinbilde 
haftet,  sondern  wahre  Tugeud,  da  er  an  dem  Wahren  haftet; 
und  da  er  wahre  Tugend  erzeugt  und  heranzieht,  so  wird  ihm 
zu  teil ,  daß  er  Gottesfreund  wird  und ,  wenn  irgend  ein  an- 
derer der  Menschen,  unsterblich  auch  er". 

Wie  Goethes  Faust,  steigt  tiefsinnig  in  dem  Stufengang, 
den  so  Diotima  bietet,  der  platonische  Eros  aus  dem  leiden- 
schaftlichen Drang  einer  sinnlichen,  allen  sinnlichen  Wirkungen 
der  Scbönheit  ausgesetzten  Jugend  (für  den  besonders  auch  die 
Rede  des  Pausanias  die  Beleuchtung  giebt)  zu  immer  höherer 
Läuterung  und  immer  reinerer  Vergeistigung  auf:  zunächst 
(p.  210  C  D)  zu  der  Hingabe  an  das  in  irdischer  (relativer) 
Vollkommenheit  Gute  (xö  £v  xoic,  eKixrpt{)\i.oc(Ji  xac  lolc,  vö\iO',q 
xaXcv)  und  Wahre  (£7itaxr;|Ji,ü)v  xaXXoc) ;  schließlich  aber  verklärt 
er  sich  zu  einem  Streben  nach  dem  Ewigen  (auxö  x6  xaXcv)  und 


60  W.  Gilbert, 

einem    seligen  Schauen   und  Aufgehen   im   Ewigen   (p.  211  D 
•ö-sccad-ac  \i6vov  xa.1  ^uvscvac). 

Wohl  wird  auch  auf  der  letzten  Stufe  (bei  der  'höchsten 
Weihe')  noch  das  Einsenken  in  die  Seelen  Jünge- 
rer (der  geistige  x  oxo ;)  als  Begründung  der 
a  •8-  a  V  a  a  c  a  genannt:  212  A  „zu  erzeugen  (x  t  %  x  e  i  v) 
nicht  Scheinbilder  der  Tugend"  und  „da  er  wahre  Tugend 
erzeugt  und  heranzieht".  Aber,  wir  empfinden  es,  das  ist  nur 
noch  ein  Rudiment,  nur  noch  festgehalten  wegen  der  Parallele 
mit  den  früheren  Stufen.  Die  athavaaca  ist  nicht  mehr 
(als  eine  irdische  und  relative)  vermittelt  durch  den 
zo-KOi;.  Ausdrücklich  ist  auch,  worüber  noch  zu  sprechen 
sein  wird,  die  neue  Ve  r  mittel  ung  der  a^avaaca 
daneben  eingeschoben:  bndpy  ei  •8'  £  o  cp  c  X  £  t  ^evio^-a.'. 
„wird  zu  teil,  daß  er  Gottesfreund  wird".  Für  die  reine 
platonische  Lehre  (im  Logos  der  Diotima  des  Symposions 
eben  nur  die  Andeutungen  der  'höchsten  Weihe')  ist  es  tat- 
sächlich sehr  zutreffend,  wenn  Ed.  Zeller  die  niedrigeren  Stu- 
fen der  Liebe  nicht  nur  als  Vorstufen  bezeichnet,  sondern  auch 
als  Mißverständnisse,  als  unklare  und  unreife  Versuche,  die 
Idee  in  ihren  Abbildern  zu  ergreifen ,  und  wenn  er  bei 
der  Begründung  betont,  daß  ja  auch  die  (wirkliche,  trans- 
scendentale)  Unsterblichkeit,  der  nach  Plato 
alle,  auch  die  sinnliche,  Liebe  gelte,  nur  durch  ein  philo- 
sophisches  Leben  wirklich  zu  erlangen  sei. 

IL 

Das  Symposion  zeigt  Piaton  im  vollen  Besitz  der  Ideen- 
lehre, aber  es  schweigt  davon  außer  in  Cap.  29  und  den  drei 
letzten  Zeilen  von  Cap.  28.  Es  deutet  Piatons  Glauben  an 
eine  wirkliche,  jenseitige,  transscendentale  Unsterblichkeit  der 
Seele  an,  aber  ebenfalls  nur  in  Cap.  29  und  kaum  verständ- 
lich: durch  das  vermittelnde  S' £  o  cp  t  X  £  i  (p.  212  A,  die  An- 
deutung eines  göttlichen  Urteils,  also  wohl  eines 
Gerichtes  wie  in  Phaedr.  cap.  29)  und  außerdem  durch  das 
selige  Schauen  der  ewigen  reinen  Idee  (bes.  p.  211  D  ^£aaO-a: 
[lovov  y.7.1  ^uvscvat),  das  der  Piatons  kundige  Leser,  die  Worte 
des  Symposion  ergänzend,   über  das  Diesseits  auf  ein  Jenseits 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       61 

ausdehnt.  Es  ist  daher  von  jeher  hergebracht,  daß  man  das 
Platonische  Symposion  durch  den  Platonischen  Phaidros  (cap. 
24 — 38)  ergänzt  und  die  jenseitige  Unsterblichkeit  der  Philo- 
sophenseele besonders  durch  den  Anfang  von  cap.  29  (p.  248  EfF.) 
und  den  Anfang  von  cap.  37  (p.  256  B)  des  Phaidros  be- 
leuchtet. 

Der  Grrund,  weshalb  Piaton  im  Symposion  die  Ideenlehre 
zurücktreten  lassen  und  den  Jenseitsglauben  verhüllen  mußte, 
ist  jedem  bekannt.  Piaton,  der  sonst  unbedenklich  seine  per- 
sönlichen Erkenntnisse  Sokrates  in  den  Mund  legt,  mußte  ge- 
rade im  Symposion  sich  in  einer  für  Sokrates  passenden  Geistes- 
sphäre halten.  Denn  die  Person  des  Sokrates  selbst  steht  im 
Mittelpunkte  des  Dialoges,  so  auch  unverkennbar  durch  Dio- 
timas  Zeichnung  von  Eigenschaften  und  Erscheinung  des  Eros 
(cap.  22.  23)  und  durch  des  Alkibiades  ausgeführte  Schilderung 
seines  großen  Lehrers  (cap.  30  ff.).  Der  Eros  eines  So- 
krates ist  der  eigentliche  Gegenstand ,  der  Eros  des 
großen  Lehrers,  ein  Verlangen  nach  geistiger 
Unsterblichkeit    ohne  Jenseitsglauben. 

Daraus  folgte  für  die  Eigenart  des  Symposion :  1)  an  die 
Stelle  transscendentaler  Unsterblichkeit  der  Seele  mußte  (re- 
lative) irdische  Unsterblichkeit  treten.  2)  Der  Eros  des  Phi- 
losophen mußte  genetisch  aus  dem  Eros  des  Lehrers  hervor- 
gehen, vs^enn  auch  (vgl.  den  Anfang  von  Abschnitt  I  3  S.  58) 
in  der  Weise,  daß  dennoch  ersterer  von  Anfang  an,  ja  schon 
in  dem  sinnlichen  Zuge  zu  der  schönen  Person,  als  das  dem 
strebenden  Menschen  in  seinem  dunkeln  Drange  zunächst  un- 
bewußte eigentliche  Ziel  seines  Strebens  zu  fassen  ist.  3)  Die 
dialektische,  begriffliche  Entwickelung  konnte  nur  für  einen 
epw?  ä%'(xvixcsla,c,  ohne  Jenseitsglauben  gegeben  werden  (durch 
Toxo?  £v  xaXw),  für  den  rein  platonischen  epo)^  dagegen  nicht 
zutreffen ;  ob  auch  für  diesen  der  Weg  begrifflicher  Entwicke- 
lung wenigstens  angedeutet  wird,  ist  eine  hiernach  sich  er- 
hebende Frage. 

1.  Die  (relative)  irdische  Unsterblichkeit. 

Die  Unsterblichkeit,  die  allein  im  Logos  der  Diotima 
entwickelt  wird,  ist  die  irdische.    Und  genießen  müssen  wir 


62  W.  Gilbert, 

doch  in  ihm  das,  was  er  sagt,  mehr  als  das,  was  er  verschweigt 
oder  wenigstens  verhüllt.  Ja  vielleicht  ist  gerade  durch  dies 
Hinabsteigen  und  liebevolle  Verweilen  in  einer  irdischen  Sphäre 
Piaton  im  Symposion  der  Nachwelt  so  besonders  wert  ge- 
worden. 

Diese  relative  irdische  Unsterbliclikeit  ist  zunächst  die 
physische,  die  Unsterblichkeit  in  der  materiellen  Welt. 
In  tief  in  die  Seele  dringender  Weise  führt  Piaton  sie  aus. 
Und  er  dai'f  es.  Uns  Deutschen  ist  Schiller  typisch  für 
Geringacbtung  des  Physischen  und  des  Materiellen  und  für 
das  stolze  Bewußtsein  in  der  Geisteswelt  fortleben  und  sich 
fortpflanzen  zu  müssen.  Aber  in  den  Musenalmanach  für  1797 
schrieb  er  nicht  nur  die  stolze  Votivtafel  'die  verschiedene  Be- 
stimmung' („Millionen  beschäftigen  sich,  daß  die  Gattung  be- 
stehe ;  Aber  durch  wenige  nur  pflanzet  die  Menschheit  sich 
fort",  d.  h.  die  menschliche  Geisteswelt),  sondern  ebenso  auch 
das  Epigramm  'Der  Vater':  „Wirke,  so  viel  du  willst,  du 
stehst  doch  ewig  allein  da,  Bis  an  das  All  die  Natur  dich, 
die  gewaltige,  knüpft".  Es  ist  ein  Nachklang  der  tief  er- 
greifenden Gefühle,  die  ihn  bei  Erwartung  des  ersten  Kindes 
unter  dem  Ausblicke  auf  nahen  eigenen  Tod  bewegt  hatten: 
An  Körner  3.  Juli  1793  „und  aus  der  anderen  [Hälfte  meines 
Leidens],  die  mich  selbst  betrifi"t  (der  Gefährdung  meines  Le- 
bens), mache  ich  mir  jetzt  auch  viel  weniger.  Es  ist  mir,  als 
wenn  ich  die  auslöschende  Fackel  meines  Lebens  in  einem  an- 
deren wieder  angezündet  sähe,  und  ich  bin  ausgesöhnt 
mit  meinem  Schicksal".  So  durfte  denn  auch  ein 
P 1  a  t  o  n  über  das  (relative)  physische  Fortleben  des  Indivi- 
dimms  in  den  Kindern  bedeutende  Gedanken  aussprechen.  Wie 
Piaton  (cap.  26)  hierauf  das  Altruistische  der  Geschöpfe,  die 
Aufopferung  für  die  Sprößlinge,  zurückführt,  so  ist  für  die 
moderne  evolutionistische  Ethik,  die  bei  den  Menschen  alles 
Altruistische  teils  aus  Anerziehung  teils  aus  Empflnden  des 
Fremden  als  eines  Eigenen  (auch  im  Mitleid)  ableitet,  diese 
Zurechnung  des  Kindes  zur  eignen  Person  eine  Voraussetzung. 
Und  wie  hebt  Piaton  den  Wert  dieses  physischen  Fortlebens 
in  Kindern  durch  den  Nachweis  (cap.  26  p.  207  D— 208  B), 
daß  es  von  dem  Fortleben  des  gleichen  Individuums  nicht  dem 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       63 

Wesen  nach  verschieden  sei,  vielmehr  auch  bei  dem  gleichen 
Individuum  dieser  Wechsel  unausgesetzt  stattfinde,  nicht  nur 
im  Körper  als  Stoffwechsel,  sondern  auch  im  Geistigen! 

Aber  denjenigen  Seelen,    die  das  Gepräge    des  göttlichen 
Ursprunges  tragen  (p.  207  B  %•  zlc  c,  wv  mit  scharfem  Gegen- 
satz zum  animalischen  physischen  Zeugungstrieb),  genügt  diese 
physische  Unsterblichkeit   nicht,    sie  verlangen  vielmehr  nach 
einer    geistigen    irdischen    Unsterblichkeit.      Die 
zweite  Hälfte  von  cap.  27  (p.  209  A — E)  des  platonischen  Sym- 
posion ist  hierfür  der  große  klassische  erste  Ausdruck    in  der 
Weltliteratur.     In    moderner  Formung    der   Gedanken   würden 
wir  hierfür  etwa  so  sagen:  Neben  und  über  der  körperlichen 
Welt,  mit  dieser  durch  zahllose  Fäden  eng  verschlungen,  viel- 
fach von  ihr  abhängig  und  anderseits  auf  sie  einwirkend  und 
sie  gestaltend,  ist  auch  auf  Erden  eine  Geisteswelt,  die  Welt 
auf  Erden,    die  allein  der  Mensch    nicht   mit  dem  Tiere  teilt. 
Gebunden  an  das  menschliche  Denken  und  mit  diesem  an  die 
menschliche  Sprache ,    ihren  Trägern ,    setzt    sie  die  Gedanken 
früherer  Generationen    in  steter  Umformung  und  unter  steten 
Neubildungen   fort.     Der   Mensch ,    der    sich    der  Hoheit    des 
Menschentums  bewußt    ist,    wurzelt    in    ihr   mehr  als  in    der 
materiellen  Welt.    Wie  er  von  ihr  empfängt,  entnimmt  er  von 
ihr  seine  Aufgaben  und  weiß,    daß  er  in  ihr  fortzeugen  muß 
und  über  sein  Erdenleben  hinaus  fortwirken  und  fortleben  soll, 
wenn  auch  in  den  meisten  Fällen  nur  in  Wellen,   die  sich  in 
weiterer  Entfernung  von  diesem  Mittelpunkte   aus    allmählich 
immer  mehr  abflachen. 

Eine  beabsichtigte  Einseitigkeit  ist  in  der  platonischen 
Darstellung  bemerkenswert.  Als  eine  besondere  und  als  eine 
besonders  hohe  Form  des  Fortlebens  von  Geisteskindern  muß 
es  uns  erscheinen,  wenn  einzelne  Gebilde  durch  Zuhilfenahme 
der  materiellen  Welt,  als  Bücher  mittels  der  Schrift,  aber  auch 
als  Künstler  werke,  einmal  die  Wirkung  auf  weiteste  Kreise 
und  in  fernste  Zeiten  erhalten  und  anderseits  vor  Untergang, 
vor  Umbildung,  vor  Verblassen  bewahrt  werden.  Piaton  ver- 
zichtet auf  diese  Absonderung,  die  zu  seinem  Gedankengange 
und  zu  dem  Eros  des  unmittelbar  von  Mensch  zu  Mensch 
durch  das  gesprochene  Wort  (durch  unmittelbaren  xixoz)  wir- 


64  W.  Gilbert, 

kenden  Lehrers  nicht  paßte.  Auch  bei  Homer  und  Hesiod 
(p.  209  D)  und  überhaupt  allen  Dichtern  (p.  209  A)  sind,  wie 
sowohl  p.  209  A  als  auch  der  Gedankengang  in  p.  209  C  D 
zeigt,  die  'Geisteskinder'  (p.  209  D  o!a  sxyova  eauxwv  xata- 
Xetuouaiv)  nicht  die  in  fester  Form  fortlebenden  ganzen  Dicht- 
werke selbst,  sondern  die  einzelnen  ethischen  Gedanken,  die 
diese  in  Menschenseelen  noch  jetzt  erzeugen.  Und  an  Meister- 
werke eines  Phidias  oder  Polygnot  als  'fortlebende  Geistes- 
kinder' denkt  Piaton  so  wenig,  daß  er  p.  209  A  als  STjfAtoupyo: 
nicht  die  Schöpfer  unvergänglicher  Meisterwerke  nennt,  son- 
dern die  eupextxor,  welche  neue  Gedanken  in  der  Kunsterkennt- 
nis (und  dadurch  auch  in  der  Kunstübung)  erzeugen  und  fort- 
pflanzen. 

2.  Der  Uebergang  des  Eros  des  Lehrers  in  den 
philosophischen  Eros. 

Aus  dem  Eros  des  Lehrers,  dem  begeisterten  Lehrerdrang, 
geht  schließlich  (p.  210  D  ff.)  der  philosophische  Eros  hervor, 
der  Drang  nach  dem  Schauen  der  ewigen  Idee,  die  letzte  Stufe, 
die  'höchste  Weihe'.  Vermittelnd  zwischen  beiden  steht  (210  C) 
Iva  dvayxaaO-^ — 210  D  ev  cpdoao^cqc  acpO-ovw)  das  Lernen  beim 
Lehren,  der  Zwang  zu  eigenem  geistigem  Fortschritt  in  ethi- 
scher Betrachtung  und  in  der  Herrlichkeit  der  Wissenschaften. 
Mit  meisterhafter  Darstellungskunst  ist  dies  Mittelglied  einge- 
fügt: wie  an  sein  Ende  in  einem  Nebensatze  (ew;  av  etc.)  der 
Uebergang  zur  'höchsten  Weihe'  sich  anschließt,  so  setzt  es 
an  seinem  Anfange  mit  einem  Ruck  als  Nebensatz  ein  (l'va 
avayxaaö"^).  Wir  empfinden  hier  tief  die  tatsächlich  unlös- 
bare Verschlingung  des  Lehrens  mit  einem  Lernen :  erst,  wenn 
er  zu  lehren  hat  und  dafür  das  einzelne  sich  voll  klar  zu 
machen  und  zurechtzulegen  sucht,  erblickt  der  Lehrer  bisher 
nicht  geahnte  Tiefen  und  lernt  er  neue  Zusammenhänge  und 
Herrlichkeiten  zu  durchdringen  und  zu  verstehen;  und,  was 
anfänglich  nur  das  Mittel  für  das  Lehren  war,  erhebt  sich 
allmählich  in  einer  Verschiebung  der  Bedeutung  und  des  In- 
teresses zum  Selbstzweck. 

Diese  Verschiebung  aber,  das  sei  nochmals  nach- 
drücklich   betont,     sprengt     auch    die     dialektische 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       65 

Grundlage,  die  Piaton  seinem  Eros  des  Lehrers  gegeben 
hatte  :  durch  Einsenken  in  die  Seelen  Jüngerer  (durch  xoxo?, 
durch  Ttxxe'.v  Aoyou;)  nach  einer  relativen  Unsterblichkeit, 
nach  einem  Fortleben  in  anderen  Individuen  zu  streben.  In 
der  letzten  Stufe  empfinden  -wir  Tcxtetv  und  xexovxc  ....  xa: 
9-p£4»a[i£vw  (p.  212  A)  nur  noch  als  ein  von  früher  her  bei- 
behaltenes Rudiment  und  ahnen  wir  die  Vermittlung  einer 
Unsterblichkeit,  und  zwar  einer  höheren  Unsterblichkeit,  viel- 
mehr in  d-eo^iiXei  (p.  212  A).  Aber  auch  schon  beim  Mittel- 
glied muß  vor  seinem  Anfange  zu  xat  Tcxtetv  Xöyouc,  TOtouxou? 
ein  (zweifellos  mit  Unrecht  ganz  oder  zur  Hälfte  athetiertes) 
xat  t^rjxelv  (p.  210  C)  treten  und  wirkt  an  seinem  Ende  xtxxr/ 
(p.  210  D)  innerhalb  des  Zusammenhanges  so  überraschend, 
daß  der  Leser  bei  diesem  Xöyoug  ....  xcxxttj  xac  §:avoYj[Jiaxa 
fast  versucht  wäre,  nur  eigenes  Denken  statt  Einsenken  von 
Gedanken  in  andere  Seelen  zu  verstehen.  Besonders  aber 
überrascht^)  an  diesem  Ende  des  Mittelglieds  ev  cpiXoaocpt'a 
acp&6v(p  (p.  210  D)  trotz  seiner  Notwendigkeit  für  diese  Stufe 
und  trotz  seines  Uebereinstimmens  mit  cpiXoaocpefv  in  der 
Zeichnung  des  Eros  in  cap.  23  p.  203  D  bis  204  B. 
Denn  bei  der  begrifflichen  Grundlage  für  den  auf 
körperliches  oder  auf  geistiges  Zeugen  ausgehenden  Eros  (also 
eben  auch  für  den  Eros  des  Lehrers)  war  die  cpcXoaocpca  (und 
zwar  ebenfalls  mit  Notwendigkeit)  ausdrücklich  ausgeschlossen 
worden :  cap.  24  p.  205  D  dXX'  ol  [jlev  dXXri  xp£7;6|ji£vot  txoX- 
Xa/^  Iti'  auxö  (i.  e.  etic  xö  £uSac|jLov£Cv) ,  t)  xaxd  .  .  .  .  Y] 
xaxa  cp  t  X  0  a  0  9  t  a  V ,    oux'  dpäv  xaXoüvxac  oux'  ipaaxac. 

3.  Die  Andeutung  für  die  dialektische  Ent- 
wickeln ng  des  Begriffs  des  philosophischen 
(des  reinplatonischen)  Eros. 
Innerhalb  des  ganzen  Platonischen  Denkens  wird  die 
Entwickelung  des  Eros  im  Logos  der  Diotima  zu  einem  Beweis 
für  den  platonischen  (jenseitigen,  transscendentalen)  Unsterb- 
lichkeitsglauben: Ein  Streben  (epw?)  nach  dO-avaata  geht  durch 

°)  Beachtet  haben  diesen  Wechsel  betreffs  der  Philosophie  und 
seine  Erklärung,  die  sich  aus  der  genetischen  Umwandlung  des  Eros 
ergiebt,  natürlich  z,  B.  auch  Schleiermacher  (S.  878  der  2.  Ausg.)  und 
Steinhart  (S.  189). 

Philologus  LXVJII  (N.  F.  XXII),  1.  5 


66  W.  G  i  1  b  e  r  t , 

das  physische  Leben,  ja  das  Tierleben,  wie  durch  den  höheren 
geistigen  Drang  des  Lehrers.  Aber  verwirklichen  läßt  es  sich 
in  dem,  worauf  es  in  diesen  niederen  Stufen  gerichtet  ist, 
nur  relativ.  Auch  hier  ist  (vgl.  den  Anfang  von  Abschnitt  I 
3  S.  58)  alles  Vergängliche  nur  ein  Gleichnis ;  das  Streben 
nach  Ewigkeit  im  Vergänglichen,  das  der  physische  Liebes- 
drang und  der  Lehrerdrang  zeigt,  ist  nur  eine  Seitenbahn  der 
nach  dem  wirklich  Ewigen  sich  sehnenden  Seele  (zu  verglei- 
chen ist  vielleicht  Symp.  p.  192  CD  dXA'  aXXo  xi  ßouXo(ji,£vrj 
sxaiepou  r;  ^uyj]  StjXtj  eotiv,  B  oO  ouvaxa:  sct^scv,  aXXa  [xav- 
Tsuetat,  8  ßouXexa'.,  xa:  aJvc'xxexaL  und  p.  193  C  x6  xo6xgu 
£YYuxax(D,  beide  Stellen  bezeichnenderweise  im  Logos  des  Ari- 
stophanes),  wird  nur  erregt  durch  den  Abglanz  des  Ewig- 
schönen (vgl.  Phaedr.  cap.  30  p.  249  D.  250  B),  der  noch 
im  Sinnlich-schönen  ist  und  so  die  Erinnerung  an  das  einst 
geschaute  Ewig-schöne  weckt.  Erst,  wenn  der  Mensch  zum 
philosophischen  Eros,  zum  Streben  nach  dem  wirklich  Ewigen 
selbst,  gelangt,  hat  er  den  wahren  Eros, 

Geht  dieser  philosophische  Eros,  das  Streben  nach  dem 
wirklich  Ewigen,  auch  genetisch  aus  den  niederen  Stufen 
des  Eros  hervor,  so  ist  doch,  wie  wir  soeben  (in  Abschnitt  II 
2  S.  64  f.)  sahen,  für  die  dialektische  Entwicklung  seines 
Begriffs  der  z6-/.oc,  das  leibliche  oder  geistige  Zeugen, 
nicht  mehr  die  Grundlage.  Haben  wir  für  die  dialektische 
Entwicklung  auch  seines  Begriffes  im  Symposion  Andeutungen? 

Bestimmen  wir  zunächst  durch  die  sich  bietenden  An- 
haltepunkte  klarer,  was  am  Ziele  seiner  Entwick- 
lung der  Begriff  des  Strebens  nach  dem  Ewigen  enthalten 
muss.  Das  Ewige,  die  reine  Idee,  heißt  p.  211  E  auxo  xo 
^  £  i  0  V  xaXöv,  der  Mensch,  der  sich  nicht  mit  dem  niedrig- 
sten Epw;  begnügt,  trägt  dafür  den  Grund  in  sich  als  0-  £ :  o  c 
Ol)  V  (p.  209  B) ;  hiernach  ist  das  Streben  nach  dem  Ewigen 
nicht  nur  das  Streben  nach  dem  Göttlichen,  sondern  zu- 
gleich das  Streben  der  Seele  nach  ihrem  Ursprung, 
nach  dem,  wovon  sie  ausgegangen,  nach  dem,  dem  sie  in 
Wahrheit  zugehört.  Das  Streben  verlangt  nach  einem 
d-exa  %-a.i  x  a  c  ^  u  v  £  i  v  a  t  (p.  211  D  und  212  A),  das  ver- 
langte   Schauen    ist    also    eine    Vereinigung    und    zwar 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       (57 

(nach  dem  eben  Bemerkten)  Vereinigung  mit  dem, 
dem  sie  in  Wahrheit  zugehört^).  Haben  wir  im 
Symposion  Andeutungen  über  den  Weg,  auf  welchem  dialek- 
tisch zu  diesem  Ziele  der  Begriffsentwicklung  zu  gelangen  ist? 
Der  Anfang  der  von  Piaton  für  den  Begriif  der  niederen 
Formen  des  Eros  gegebenen  Entwickelung,  die  Feststellung 
der  weiteren  Bedeutung  eines  „Verlangens 
nach  dem  Besitze  des  Guten"  (cap.  24  p.  204  D  bis 
205  A)  und  die  Frage  nach  dem  unterscheidenden  Merkmal 
für  den  engeren  Gebrauch  des  Wortes  (cap.  24  p.  205 
A— D)  ist  zugleich  Begriffsentwicklung  für  den  philosophischen 
Eros.  Das  ist  obne  weiteres  zweifellos.  Ja  nur  um  des 
philosophischen  Eros  willen,  oder  wenigstens 
nur  zur  Darlegung  des  Gemeinsamen  der  beiderlei  Formen 
des  Eros,  hat  Piaton  diese  beiden  Abschnitte  geschrieben. 
Hätte  Piaton  nur  das  gewollt,  für  die  niederen  Formen  des 
Eros  den  Begriff  zu  bestimmen,  so  brauchte  er  die  ganzen 
Umschweife  des  cap.  24  nicht,  weder  die  Aufstellung  einer 
weiteren  Bedeutung,  auf  welche  sowohl  der  Begriff  des  philo- 
sophischen Eros  Avie  der  seiner  niederen  Formen  zurückgeht, 
noch  die  Einsetzung  von  aya^a  für  xaXd.  Er  hätte  vielmehr 
mit  cap.  25,  also  damit,  aus  der  Empirie  des  tatsächlichen 
Liebeslebens  spto?  als  „Verlangen  nach  Zeugung"  zu  bestim- 
men, die  Begriffsentwickelung  begonnen,  um  sodann  in 
diesem    Eros    das    Verlangen    nach    Unsterblichkeit     nachzu- 


^)  Zweifelhafter  dagegen  erscheint  die  Aufnahme  eines  a  s  l  als 
Eigenschaft  dieser  Vereinigung.  Freilich  für  die  ersehnte  Vereini- 
gung ergibt  sich  die  {"Eigenschaft  einer  ewigen  Vereinigung  ebenso 
leicht  von  selbst  wie  pag.  '106  A  für  das  Verlangen  nach  dem  (ewigen) 
Besitze  des  Guten  (vgl.  die  Skizzierung  des  Gedankengangs,  Abschnitt 
1  Id  S.  5;5).  Auch  für  die  erfüllte  Vereinigung  ei-giebt  sie  eigent- 
lich der  strenge  Wortlaut  p.  "212  A  äflaväxqj  /cai  sxsivcp.  Aber  auch 
Phaedr.  c.  20  p.  246  B— D  wird  das  Wort  anders  von  Piaton  selbst 
interpretiert.  Und  sodann  ist  doch  beim  philosophischen  Eros  die  Ewig- 
keit inhärierende  Eigenschaft  des  erstrebten  Gegenstandes  (der  reinen 
Idee),  während  die  Vereinigung  damit  der  Ewigkeit  im  vollsten  Sinne 
des  Wortes  entbehren  kann.  Wird  doch  nach  dem  platonischen  Glau- 
ben an  Seelenwanderung  und  den  im  Phaidros  (cap.  29  und  37)  auf- 
gestellten Zeiträumen  die  Erfüllung  des  Sehnens  zwar  in  ewiger  Wie- 
derholung, aber  doch  in  jedem  einzelnen  Falle  nur  für  einen  begrenz- 
ten Zeitraum  von  der  richtenden  Gottheit  (vgl.  Phaedr.  cap.  29  und 
Symposion  p.  212  A  ö-socptXsi)  gewährt.  —  Vgl.  den  Text  zu  Anni.  7. 

5* 


68  W.  Gilbert, 

weisen  und  weiterhin  ihn  vom  Physischen  auf  das  Geistige 
auszudehnen. 

Außer  diesen  2  ersten  Abschnitten  enthält  cap.  24  noch 
2  Abschnitte.  Der  letzte  Abschnitt  (cap.  24  p.  206  A),  der 
die  weitere  Bedeutung  von  spo);  rekapituliert,  aber  so,  daß  er 
sie  unter  Einfügung  eines  aec  als  „Verlangen  nach  dem  ewigen 
Besitze  des  Guten"  bestimmt,  gehört  n  u  r  ^)  zu  der  Begriffs- 
entwickelung für  die  niederen  Formen  des  Eros,  die  er  einleitet. 
Denn  andernfalls  hätte  Piaton  ein  Abändern  beim  Rekapitu- 
lieren vermieden  und  das  det  vielmehr  schon  in  dem  ersten 
Abschnitt  (p.  204  D — 205  A)  ergänzend  in  den  aufgestellten 
Begriff  eingefügt. 

Der  vorletzteAbschnitt  von  cap.  24  (p.  205  E), 
der  somit  die  Stelle  ist,  wo  sich  die  Wege  für  die 
Begriffe  des  niederen  und  des  philosophi- 
schen Eros  trennen,  nennt  einen  ersten  Versuch,  statt 
der  weiteren  Bedeutung  des  Wortes  durch  Aufstellen 
des  engeren  Begriffs  den  engeren  Gebrauch  von  spco; 
zu  bestimmen :  für  dyaö-ov  werde  aufgestellt  (xaS  Xeyexa:  |X£V 
ys  xic,  16y°^)  ^Is  öi"^  Engeres  r]  [i  i  o  \j  sauxöv  oder  6X  ov  . 
wofür  im  weitereu  Verlauf  oSxstov  y.  ocl  eauxoO  eintritt. 
Hierin  hat  man  wohl  vielfach  einen  von  Platon-Diotima 
zurückgewiesenen  Irrweg  gesehen ;  auch  von  Ed.  Zeller 
könnte'  man  dies  annehmen,  der  auch  d  |i.'/j  (xi<;  xö  {xev  dya- 
^öv  oiv.eiov  xals-i  v.ixi  iauxoö)  mit  „man  müßte  denn"  über- 
setzt und  als  Anmerkung  zu  seiner  Uebersetzung  gibt  „wie 
dies  (das  Gute  ein  Eigenes  zu  nennen)  dem  Charmides  163  C  f. 
zufolge  wirklich,  vielleicht  von  Prodikus,  geschehen  war". 
Aber  zur  Annahme  einer  Ablehnung  nötigt  weder  der  Satz 
über  das  Abschneiden  der  untüchtig  und  schlecht  (rcovr^pd) 
gewordenen  eigenen  Glieder  noch  das  ei  (xy)  (es  sei  denn 
daß);  auch  Hug  bemerkt  dies  richtig  zu  205  E  4,  nur  zieht 
er  nicht  ausreichend  die  erforderlichen  Konsequenzen,  vielleicht 
beeinflußt  durch  die  schiefe  Behandlung  bei  Schleiermacher 
(S.  378  der  2.  Aufl.). 

Aber  überhaupt  erwartet  man  gerade  im  Symposion  nicht 

')  Vgl.  Anm.  6. 


Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  in  Piatons  Gastmahl.       69 

beiläufige  Polemik  gegen  eine  Begriffsbestimmung.  Am  wenig- 
sten aber  kann  p.  205  E  eine  solche  Polemik  sein.  Der  Ge- 
danke ist  vielmehr  von  Piaton  klar  als  ein  bedeutungs- 
voller und  in  weiterer  Erörterung  zu  verfol- 
gender gekennzeichnet:  wie  er  unverkennbar  'auf 
den  Logos  des  Aristophanes  (cap.  14 — 16)  und  sein  so  einzig 
aus  tiefsinnigem  Ernst  und  aus  sprudelnder  Laune  gemischtes 
Märchen  zurückweist,  so  folgt  unmittelbar  auf  den  Logos  des 
Sokrates  (cap.  30  p.  212  C)  „sitiovxo?  oh  xaüxa  xoö  llmxpdzoö!; 
xo'j;  |JL£v  STiatvecv,  xöv  oh  'Apcaxocpavyj  Xeyscv  xc  ETit/eipeiv,  öxc 
£(xvTjay-r]  aöxoö  Xeywv  6  Swxpdcxvj;  uepc  xoO  Xoyou",  nur  das 
Eindringen  des  Alkibiades  bricht  alles  weitere  ab.  Ein  solcher 
Zug  in  der  Erzählung  Piatons  kann  nicht  zwecklos  sein  (rich- 
tig auch   Hugs  Anm.  zu  212  C  5). 

Und  tatsächlich  bietet  das  „Streben  zum  Ganzen" 
des  Logos  des  Aristophanes  (p.  192  E  xoö  61  o  u  oöv  x  fj 
£  7ü  c  b'  u  {X  c  a  y,  ocl  6  c  u)  ^  e  t  spw;  övojjia)  in  der  pag.  205  E 
gegebenen  Auslegung  als  Verlangen  nach  einem  oi- 
Y.  el  ov  und  zwar  einem  zugleich  als  xö  aycc^-öv 
bestimmten  oiy.zi  ov  das,  was  sich  uns  soeben  (S.  G6  f.) 
als  das  Ziel  der  Begriffsentwickelung  für  den  philosophischen 
Eros  ergab:  Eros  ist  das  Streben  nach  dem  Besitze  des  (nach 
der  Vereinigung  mit  dem)  Guten  (Göttlichen,  der  Idee)  in  der 
Verengung,  daß  dieses  als  das  olv^elo'/  (das  Zugehörige,  der 
Ursprung)  der  Seele  bezeichnet  wird.  Oder  kurz  gesagt: 
Eros  ist  das  Streben  der  ihres  Ursprungs 
sich  erinnernden  Seele  nach  der  Wiederver- 
einigung mit  dem  Göttlichen, 

Die  fehlende  weitere  Erörterung,  auf  die  des  Aristophanes 
Wort  p.  212  C  sich  bezieht,  ersetzt  einigermaßen  der  Schluß 
des  Logos  des  Aristophanes,  den  z.  B.  auch  Steinhart  (Ein- 
leitung zum  Gastmahl  S.  235)  als  eine  unverkennbare  Ahnung 
bezeichnet,  daß  die  höhere  Liebe  sich  über  das  Irdische  zu 
der  Anschauung  des  göttlichen  Lebens  der  Ideenwelt  erhebe. 
Er  muß  die  letzten  Zweifel  beheben,  wenn  man  ihn  losgelöst 
vom  Märchen  und  den  Blick  auf  die  dargelegten  Zusammen- 
hänge gerichtet  liest:  cap.  16  p.  193  D  ....  "Epwxa,  c; 
£V  xw  Tcapovxt  fj[i.ä^  Tzlelaza.  ovcvTjacv  tic,  xö  oix  zl  o^ 
(vgl.  schon  p.  192  C  otxs'.öxrjxc)  aywv  xa:  elc,  xö  STietxa 
iXKioac,  [iByiaxac,  7iap£)(£xac,  ri\iGiy  Tiapsxojjtlvwv  Tzpbc,  ■9'£0u^ 
cua£ß£iav  (vgl.  schon  p.  193  A  £ija£ß£öv  nebst  der  längeren 
Ausführung  in  193  B),  xaxaaxrjaa;  ri\i.äq  elc,  xr]V  dpx*''^«^ 
cp  u  a  i  V  xac  {aaa[i£vo?  [xaxapc'ou;  xac  £uSa''(i.ovai;  (vgL 
schon  p.  189  D  £uoa'.^ovia  und  p.  193  C  EüSatpiov)  rzoifiaocL 
Fast   ohne  jede  Abänderung    des  Wortlautes   läßt  sich   dieser 


70       W.  Gilbert,  Der  zweite  Teil  des  Logos  der  Diotima  etc. 

herrliche  Schlußsatz,  dadurch  gewissermaßen  der  Schlüssel 
zum  Rätsel  des  Märchens,  auf  die  Wirkungen  des  philo- 
sophischen Eros  auslegen  und  mit  den  einzelnen  An- 
deutungen, die  über  diesen  Diotima  gibt,  in  Parallele  stellen®). 
Das  OAOv  der  kizi^-uiiia.  xoü  oXou  ist  durch  oixelov  ersetzt, 
wie  bei  Diotima  p.  205  E.  Unterschieden  werden  Wirkungen 
für  das  gegenwärtige  Leben  in  den  jetzigen  (eben  den 
irdischen)  Menschenleibern  und  Wirkungen  für  einen  künf- 
tigen vollkommeneren  Zustand,  wie  auch  in  Diotimas  , höch- 
ster Weihe'  (p.  210  D — 212  A)  diese  beiden  Wirkungen  trotz 
des  scheinbaren  Zusammenfließens  für  den  nachdenkenden 
Leser  sich  sondern.  Das  Erreichen  des  künftigen  vollkomme- 
neren Zustandes  ist  nachdrücklich  an  die  £  u  a  1  ß  e  ta  geknüpft, 
wie  bei  Diotima  p.  212  A  die  (jenseitige)  aO-avaat'a  durch 
üicapxs'  ■8-EocpcXs!:  yevea^aL  vermittelt  wird.  Freilich  zu 
der  Wiederherstellung  der  dpyaia  cpuat?  und 
der  dadurch  erfolgenden  Heilung  durfte  der 
Logos  der  Diotima  die  Parallelen  nicht  bieten,  aber  hier  be- 
dürfen wir  sie  auch  nicht ;  wohl  aber  nehmen  wir  hier  auch 
das  Märchen  des  Aristophanes  selbst  zu  Hilfe:  in  der  Wie- 
derherstellung des  früheren  vollkommeneren  Zustandes,  des  jen- 
seitigen Zustandes,  ist  der  Mensch  oder  die  dem  Göttlichen 
zustrebende  Menschenseele  geheilt  von  all  dem  sinnlichen 
Liebesdrang,  von  den  ,Leiden'  der  mit  einem  irdischen  Men- 
schenleibe verbundenen  Menschenseele,  die  sie  im  reinen  Ge- 
nüsse des  Göttlichen  hemmen.  Daß  aber  diese  Wiederher- 
stellung des  früheren  reinen  Schauens  die  höchste  e  u  S  a  :  - 
|j,  0  V  i  a  ist,  führt  Diotima  p.  211  E — 212  A  aus;  und  gerade 
um  deswillen,  scheint  es,  ist  auch  die  erste  Feststellung  der 
dialektischen  Begriffsentwicklung,  die  Bestimmung  der  weiteren 
Bedeutung  von  ipwc,  (cap.  24  p.  204  D — 205  A),  durch  Fort- 
schreiten zu  £u5a''[i,ti)v  eaz  ai  erweitert  zu  „Verlangen 
nach  dem  Besitze  des  Guten  als  der  Quelle  des  höch- 
sten Glückes". 

So  hat  Piaton  (vgl.  p.  223  D)  auch  die  Komödiendichtung 
für  den  Ausdruck  seiner  ernstesten  und  tiefsten  Gedanken 
verwendet. 

Grimma.  W.   Gilbert. 


®)  Vergleichungspunkte  in  den  gewählten  Worten  bietet  allerdings 
auch  bereits  der  letzte  Teil  der  Rede  desEryximachos. 
Jedoch  sollen  Opfer  und  Mantik  in  der  Rede  des  Eryxiraachos 
ebenso  wie  in  cap.  23  (p.  202  E.  203  A)  unverkennbar  eben  nur  als  ein 
wohlgemeinter  Irrweg  zur  Gottgeliebtheit  erscheinen,  wozu 
der  Platonische  Euthyphron  verglichen  werden  kann. 


III. 
B  0  b  i  e  n  s  i  a. 

Neue  Beiträge  zu  den  Bobienser  Ciceroscholien. 

Für  die  Bobienser  Scliolien  zu  den  Ciceroredeu,  die  von 
A.  Mai  seit  1814  aus  einem  jetzt  teils  in  der  Vatikana  teils 
in  der  Ambrosiana  aufbewahrten  Palimpseste  erstmals  ver- 
öffentlicht und  1833  in  Orellis  Ciceroausgabe  nachgedruckt 
wurden,  liegt  seit  kurzem  eine  T  e  u  b  n  e  r  i  a  n  a  vor.  Wie 
bedenklich  vom  sittlichen  Standpunkt  aus  die  Mittel  sind,  wo- 
mit der  Berliner  Oberlehrer  Paul  Hildebrandt  die  Aus- 
gabe zuwege  brachte,  wie  unzuverlässig  betreffs  des  hand- 
schriftlichen Befundes,  der  textkritischen  Vorarbeiten  und  der 
Testimonia  der  Apparat  sich  erweist,  wie  wenig  endlich  Hilde- 
brandt das  Zeug  hat  zur  Feststellung  eines  spätlateinischen 
Textes  oder  auch  nur  zur  Anfertigung  eines  genauen  Wort- 
iudex,  das  ist  von  mir  dargetan  in  der  Berl.  ph.  W.  1907 
Sp.  1501—4  und  1908  Sp.  38— 49 1),  nicht  minder  von  zwei 
anderen  Mitforschern,  nämlich  von  Bernhard  Schilling  in  der 
Wochenschr.  f.  kl.  Ph.  1908  Sp.  158  —  161  und  von  Corne- 
lius Brakman  in  der  Revue  de  l'instr.  publ.  en  Belgique  1908 
S.  35—37. 

Hier  soll  eine  allgemeine  Frage,  die  um  die  Ueberlieferung 
sich  dreht,  uns  beschäftigen,  im  Rhein.  Museum  1909  eine 
Reihe  von  Lesarten,  die  nie  oder  auch  mit  Unrecht  beanstandet 
worden  sind. 

Die  in    den    Vatikanischen  Blättern   von   der 
zweiten  Hand  angebrachten  Nachträge  stam- 
men aus  einer  Handschrift. 

An  rund  zwei  Dutzend  Stellen  der  ungefähr  dem  fünften 

')  Vgl.  jetzt  noch  Berl.  ph.  W.  1908  Sp.  473-480. 


72  Th.   Stangl, 

Jahrhundert  angehörenden  Vatikanischen  Blätter  liest  man 
zwischen  den  Zeilen  oder  am  Rande  Berichtigungen  oder  auch 
erklärende  Zeichen,  die  eine  von  L.  Traube  dem  sechsten  Jahr- 
hundert zugeschriebene  Hand  in  italischer  Semiunziale  ange- 
bracht hat.  Wenn  diese  Einträge  ausschließlich  in  der  Mi- 
loniana  vorkommen,  so  erklärt  sich  das  vielleicht  aus  der  Tat- 
sache, daß  diese  Rede,  die  nie  gehalten  worden  ist  und  vom 
verurteilten  Milo  mit  einer  derben  Bemerkung  erwidert  wurde, 
nicht  erst  seit  Quintilian  (4,  2,  25),  sondern  schon  in  der  Zeit 
des  Asconius  'mit  Recht  als  die  vortrefflichste'  galt  (p.  42,  3 
Clark).  Nimmt  man  einen  einzigen  Vermerk  aus,  nämlich  den  zu 
282,  25  Or.  (=  71,  11  bez.  Praef.  p.  XV  Nr.  18  der  Teubner.), 
so  beziehen  sich  alle  auf  den  Text  der  Schollen,  nicht  der 
Lemmata:  sie  rühren  demgemäß  nicht  aus  scholienlosen  Hss. 
der  Ciceroreden  her.  Die  Frage  nach  der  Autorität  der  Nach- 
träge wurde  von  Mai,  dem  Orelli  sich  anschloß,  theoretisch 
gar  nicht  aufgeworfen,  praktisch  aber  mit  Ausnahme  einer 
einzigen  Stelle  (277,  21  =  63,  17)  in  der  Weise  durchgeführt, 
daß  die  Vermerke,  die  überhaupt  die  eigentliche  Textgestalt- 
ung unmittelbar  berühren,  entweder  schlechthin  als  maßge- 
bend oder  doch  als  Grundlage  für  die  Emendation  betrachtet 
wurden.  Die  Teubneriana  verhält  sich  gegen  diese  am  Text 
der  ersten  Hand  vorgenommenen  Aenderuugen  subjektiv:  wo 
immer  der  Herausgeber  ohne  sie  auskommen  zu  können  meint, 
lehnt  er  sie  ab.  Zufolge  Praef.  p.  XVII  sind  sie  ihm  Nichts 
als  Konjekturen,  denen  er  die  der  neuzeitlichen  Kritiker  als 
gleichberechtigt  gegenüberstellt,  z.  B.  die  eigene  zu  276,  26 
(62,  11). 

Woher  wird  die  Berechtigung  zu  diesem  Verfahren  ge- 
leitet? Erstens  aus  dem  Scholion  282,  18  (71,  3),  zweitens 
aus  281,  18  (69,  14),  wo  C-  über  das  n  von  conititur  ein 
zweites  n  setzt,  drittens  aus  281.  21  (69,  16),  wo  C-  das  vom 
Scholiasten  'sonst  nicht  verwendete'  tenus  einführt.  Die  Be- 
langlosigkeit des  zweiten  und  dritten  Argumentes,  von  denen 
das  eine  die  orthographische,  das  andere  die  lexikalische 
Korrektheit  auf  die  Spitze  treibt,  liegt  auf  der  Hand,  soll  aber 
weiterhin  nichtsdestoweniger  beleuchtet  werden.  Das  erste 
Beweismittel    aber    erheischt,    zumal    es    mit    Zuversicht    als 


Bobiensia.  73 

durchschlagend  hingestellt  und  bei  der  Textgestaltung  und  im 
Wortindex  verwirklicht  wird,  eine  sorgfältige  Prüfung. 

1.  Es  bemerkt  also  der  Scholiast  zum  Lemma  'At  enim 
Cn.  Pompeius  rogatione  sua  de  re  et  de  causa  iudicavit'  aus 
§15  der  Miloniana  383,  18:  AUerum  {Aliud  C^)  praeiudici- 
um  discutit,  ad  utilitatem  suam  revocaturus  ipsam  rogationis 
Pompeianae  lationem.  Qua  cum  vellent  accusatores  videri  prae- 
damnatum  Milonem,  TuUius  in  respondendo  satis  vivaciter 
argumentatur :  cum  caedes  in  confesso  teneretur,  numquam 
laturum  fuisse  Cn.  Pompeium  consulem  huiusmodi  rogationem, 
ut  de  eodem  facinore  quaereretur,  nisi  animadverteret  aequi- 
tatem  subesse,  quae  facile  pro  reo  posset  aput  iudices  op- 
tinere.  Der  Diegesis  ist  in  der  Miloniana  —  so  argumentiert 
Hildebrandt  —  nur  die  Widerlegung  von  2  praeiudicia,  die 
Milos  Ankläger  ausgebeutet  hatten,  vorausgeschickt,  nämlich 
die  des  allbekannten  S.C.  und  die  der  rogatio  Pompeiana.  Den 
Senatsbeschluß  bespricht  der  Scholiast  von  280,  22  an,  den 
Volksbeschluß  von  den  oben  ausgeschriebenen  Worten  an: 
folglich  verstoße  Aliud  gegen  die  Latinität ;  die  Aenderung 
aber  aus  Alterum  gehe  nicht  auf  eine  handschriftliche  Vorlage 
zurück,  sondern  auf  einen  ungelehrten  und  eigenmächtigen 
Leser. 

Was  die  logische  Korrektheit  der  Pronomina  betrifft,  so 
ist  aliud,  selbst  wenn  man  nur  2  praeiudicia  gelten  läßt, 
nicht  nur  im  Spätlatein  möglich,  sondern  auch  im  archaischen, 
ja  klassischen.  Das  ersieht  man  aus  dem  Thes.  1.  L.  I  1623, 
83;  vollends  macht  man  auf  den  im  Thes.  I  1735,  7 — 37  be- 
legten Ersatz  des  Genetivs  alius  durch  alterius  (anderwärts 
durch  alienus)  schon  Anfänger  im  Lateinischen  aufmerksam. 
Wer  sich  an  unser  Schullatein  hielte,  müßte  ja  auch  schol. 
Bob.  342,  25  anfechten:  hier  beginnt  mit  Nunc  ad  aliud  transit 
ein  Scholion,  das  auf  den  zweiten  von  drei  Punkten  zurück- 
greift, die  im  zweitvorhergehenden  der  erhaltenen  Lemmata 
(bei  Orelli  unrichtig  345,  9  eingereiht)  aufgezählt  sind. 

Für  die  Zweigliederung  aber  der  Präjudizien  wird  als 
Zeuge  Quintilian  aufgerufen,  und  zwar  erstens  mit  5;  2,  1 : 
praeiudiciorum  vis  omnis  tribus  in  generibus  versatur:  (I) 
rebus  quae  aliquando   ex  paribus    causis   sunt   iudicatae,    quae 


74  Th.   Stang], 

cxenipla  rectius  dicuntur,  ut  de  rescissis  patrum  testamentis 
vel  contra  filios  confirmatis ;  (II)  iudiciis  ad  ipsam  causam 
pertinentibus,  unde  etiam  nomen  ductum  est,  qualia  in  Oppia- 
nicum  facta  dicuntur  et  a  senatu  adversus  Müonem ;  (III)  aut 
cum  de  eadem  causa  pronuntiatum  est,  ut  in  reis  deportatis  .  .  . 
Zweitens  mit  4,  2,  24:  hier  spricht  sich  Quintilian  über  die 
Frage  „an  sit  utique  narratio  prooemio  subicienda"  mit  den 
Worten  aus  :  protinus  iudex  notitia  rerum  instruendus  videtur. 
Sed  hoc  quoque  interim  (^bisweilen')  mutat  condicio  causarum; 
nisi  forte  M.  Tullius  in  oratione  .  .  .  pro  Milane  .  .  .  male 
distulisse  narrationem  videtur  tribus  praepositis  qnaestionibus ; 
(I)  aut  profuisset  exponere  quomodo  insidias  Miloni  fecisset 
Clodius,  si  reum,  qui  a  se  Jiominem  occisum  fateretiir,  defendi 
omnino  fas  non  fuisset,  (II)  aut  si  iam  praemdicio  senatns 
damnatus  esset  Milo,  (III)  aut  si  Cn.  Pompeius^  qui  propter 
aliquam  gratiam  iudicium  etiam  militibus  armatis  clauserat, 
tamquam  adversus  ei  timeretur.  Die  Hervorhebung  der  wich- 
tigsten Ausdrücke  und  die  Nummerierung  der  Gedankenglieder 
rührt  von  mir  her;  der  Leser  selbst  aber  hat  sich  längst  schon 
gesagt,  was  hier  zu  allem  Ueberfluß  ausgesprochen  wird: 
beweiskräftigere  Stellen  für  das  schnurgerade  Gegenteil  der 
von  Hildebrandt  gewollten  Zweigliederung  gibt  es  nicht.  Nicht 
anders  dachte  R.  Volkmanu,  der  in  seiner  Rhetorik^  §  17 
S.  180  f.  Quintilian  5,  2  übersetzt,  erläutert  und  dabei  betont, 
daß  im  dritten  Falle  zwar  vor  dem  gleichen  Gerichtshofe  be- 
reits entschieden  sein  darf,  aber  nicht  von  den  gleichen  Rich- 
tern. Und  der  Bobienser  Scholiast?  Wie  Quintilian  5,  2,  1, 
ist  auch  er  sich  klar  bewußt,  daß  einzig  die  zweite 
und  dritte  Art  der  praeiudicia  eigentliche  Yor- 
erkenntnisse  sind,  während  die  erste  Art  auf  mehr 
oder  minder  ähnliche  Beispiele  hinausläuft,  die  nur  die  Ohren 
der  Menge  füllen,  dagegen  für  den  im  Denken  Geschulten 
wiegen  der  niemals  völligen  Gleichheit  sämtlicher  Voraus- 
setzungen nichts  beweisen. 

Daher  liest  man    exemplum  278,  4.  278,  6  ;    nur  279,  3 
(confirmaturus  alio   exemplo  et  iudicato)  -)  wird  an   das    yevo? 

^)  Statt  des  tadellosen  et  iudicato  =  et  iudicata  causa,  et  praeiu- 
dicio   wollte  L.  Ziegler  ex  i.    Aber  vgl.   die  Definition   bei   Cornificius 


Bobiensia.  75 

exemplum  das  etoo;  iiidicatum  gereiht.  Eingeleitet  aber  wird 
die  Besprechung  des  ersten  der  drei  praeiudicia  mit  den  Worten : 
Hoc  primum  adgressus  refutare,  in  omnibus  caedibus  non 
confessiones  esse  damnandas,  sed  causas  potissimum  requi- 
rendas.  Für  das  senatorische  Vorerkenntnis  sind  bezeichnend 
280,  22.  28.  33  K£xpt[X£Vw  utebatur  accusator,  ex  eo  videlicet 
adseverans  vere  hanc  a  senatu  caedem  praedamnatam,  cum 
decreverit  .  .,  281,  17  adversus  propositionem  partis  adversae 
facta  responsio  est  tenuiter  et  anguste.  Hoc  enim  illo  decreto 
senatus  probare  conititur,  non  factum  Milonis  praedamnatum, 
sed  generaliter  ipsam  vim  notatam,  281,  30  und  35  ab  senatu 
nihil  contra  Milonem  statutum.  Die  Erörterung  über  das  von 
Pompeius  veraulaßte  Plebiszit  setzt  mit  282,  18  ein,  also  bei 
der  Stelle,  von  der  wir  ausgegangen  sind.  Daran  schließen 
sich  282,  28.  31  Et  in  hac  responsione  contra  praeiudicium 
(ohne  Attribut!)  multis  et  fovtibus  exemplis  inmoratur,  284, 
19.  26.  33.  Endlich  wird  285,  4  zum  Lemma  aus  §  23  be- 
merkt: Hoc  et  re(licum  .  ,  .  .)^)  quam  brevissime,  quae  supra 
in  illarum  quaestionum  (also  der  exempla  und  der  eigentlichen 
zwei  praeiudicia)  refutatione  disseruit,  ti-ansitum  sibi  ad  narra- 
tionem  parans,  cui  hie  locus  oportunior  dabitur.  Der  Gedanke 
des  Schlußkolons  erinnert  an  Quintilian  4,  2,  25.  Die  im 
Lemma  ausgezogenen  Ciceroworte  aber,  die  mittels  einer  ava- 
xscpaXatwa:?  der  von  Cicero  widerlegten  Vorentscheidungen 
zur  Aufstellung  des  xpovojJtevov  überleiten  und  die  diesseitige 
o'.rjyrjac^  als  unmittelbar  bevorstehend  ankündigen,  sind  für 
die  Entscheidung  unserer  Frage  maßgebend ;  deshalb  folgt 
ihr  voller  Wortlaut:    Quare,  iudices,    ut  aliquando  ad  causam 

2,  19  und  Mar.  Victorinus  zu  Cic.  de  inv.  1,  30  p.  238,  17  ludicatum 
est  ubi  res  adsensione  aut  auctoritate  aut  iudicio  alicuius  aut  aliquo- 
rum  comprobatur.  Andere  Stellen,  besonders  über  die  'a  iudicato  ar- 
gumentatio'  in  Halms  Klietores  S.  643  und  bei  Volkmann. 

*)  Mit  et  relicum  schließt  der  Scholiast,  wie  1894  in  den  Bobiensia 
S.  12  erinnert  wurde,  fünfmal  abgekürzte  Lemmata  ab.  Mit  Hoc 
et  relicum  de  P.  Clodio  dicitur  beginnt  304,  23  ein  Scholion  zu 
2  Perioden,  von  denen  als  erstes  Lemma  nur  4  Wörter  mitgeteilt  wer- 
den. Wie  passend  diese  Einleitungsformel  285,  4  ist,  sieht  man  daraus, 
daß  von  je  2  Gliedern  des  Cicerotextes  mit  neque  und  et  der  Scholiast 
nur  das  erste  der  2  Glieder  mit  neque  auszieht.  Die  Hs.  hat  Hoc  et 
re  -f-  reichlich  1  cm  -(-  volle  4  Kolumnenzeilen  (bei  78  Bebst.)  freien 
Eaumes,  nicht  mit  Orelli  Hoc  est  rep.  noch  mit  der  Teubneriana 
Hoc  et  rei. 


76  Th.  Stangl, 

crimenque  veniaraus:  (§  7—11:  1)  si  neque  confessio  facti 
est  inusitata,  (12 — 14 :  II)  neque  de  causa  nostra  quicquam 
aliter  ac  nos  vellemus  a  scnatu  iudicatum  est,  (15 — 21:  III  a) 
et  lator  ipse  legis  (Fompeius),  cum  esset  controversia  nuUa 
facti,  iuris  tarnen  disceptationem  esse  voluit,  (22:  III  b)  et  ei 
lecti  iudices  isque  praepositus  quaestioni,  qui  haec  iuste  sapien- 
terque  disceptet:  reliquum  est,  iudices,  ut  nihil  iam  quaerere 
aliud  debeatis  nisi  uter  utri  insidias  fecerit. 

Das  ist  die  Stoffgliederung  Ciceros.  Als  Dreigliede- 
rung hat  sie  der  einsichtsvollste  aller  lateinischen  Rhetoren 
und  nicht  minder  der  Scholiast  verstanden.  Sie  bleibt  es  auch 
für  uns.  Ja  mit  dieser  Dreigliederung  wird  auch  in  §  7  die 
dvaaxeuif]  eingeleitet,  nur  in  der  Reihenfolge  II III  I,  vpeil  sofort 
chiastisch  an  I  als  an  den  schvrächsten  Einwand  angeknüpft 
wird :  Sed  antequam  ad  eam  orationem  venio  quae  est  propria 
vestrae  quaestionis,  videntur  ea  esse  refutanda,  (II)  quae  et 
in  senatu  ab  inimicis  saepe  iactata  sunt,  (III)  et  i-n  contione  ab 
inprobis,  (I)  et  paulo  ante  ab  accusatorihus :  ut  omni  errore 
sublato  rem  plane,  quae  veniat  in  iudicium,  videre  possitis 
(1).  Negant  intueri  lucem  esse  fas  ei,  qui  a  se  lionmiem  occisum 
esse  fatcatur  ....  (vgl.  dazu  schol.  Bob.  276,  22  ff.).  Die  Be- 
deutung der  confessio  facti  für  Ciceros  Entschluß,  die  Ver- 
teidigung nicht  etwa,  wie  ihm  M.  Brutus  geraten  hatte,  xax' 
avTfaxaatv,  sondern  xax'  dvxeyxXTjjxa  und  hiemit  in  der  qualitas 
compensativa  durchzuführen  (276,  16  ff.),  erhellt  ohne  weiteres 
und  wird  überdies  vom  Scholiasten  immer  wieder  betont  und 
zwar  sowohl  für  den  streitigen  Fall  wie  für  die  früher  ent- 
schiedenen: 276,  6  quoniam  erat  confessa  caedes  .  .,  perferri 
defensio  ista  non  potuit,  277,  12  in  omnibus  caedibus  non 
confessiones  esse  daninandas,  sed  causas  potissimum  requiren- 
das,  277,  16  confessum  absolvi  tamen  probata  aequitate  me- 
ruisse,  278,  1  non  nuuiquam  caedes  optimo  iure  fieri  posse, 
279,  5.  282,  21.  Trotzdem  heißt  es  in  der  Teubneriaua  p.  XVI: 
Neque  enim,  quod  accusatores  negaverant  Milonem  vivere 
posse,  quia  hominem  occiderat,  id  „praeiudicium"  scholiasta 
appellare  potuit.  Wer  so  etwas  drucken  läßt,  ist  sich  weder 
klar  über  den  Grundgedanken  der  §^5  7 — 22  noch  über  das 
Wesen  der  constitutio  iuridicialis  absoluta.    Ueber  diesen  Ele- 


Bobiensia.  77 

mentarbegriff  der  Rhetorik  konnte  er  sich  unterrichten  aus 
Volkmann  §  7 ;  vortrefflich  disponiert  aber  ist  die  Miloniana 
in  Meusbergers  Programm  von  Ried  (Oesterreich)  1882  und 
in  Alb.  Clarks  Ausg.  v.  J.  1895  S.  LI.  An  der  Dreigliederung 
zu  rütteln  ist  weder  diesen  zwei  Gelehrten  eingefallen  noch 
einem  anderen  Herausgeber  seit  der  Humanistenzeit. 

Aus  dem  Beweise,  daß  das  dritte  praeiudicium  weder  mit 
dem  zweiten  noch  mit  dem  ersten  sich  deckt,  folgt,  daß  282,  18 
sachlich  unanfechtbar  ist  der  von  C^  herrührende  Wort- 
laut Alind  praeiudicium  discutit,  ad  utilitatem  suam  revocaturus 
ipsam  ('sogar')  rogationis  Pompeianae  lationem.  In  sprach- 
licher Beziehung  genügt  der  Hinweis  auf  den  Thes.  I.  L.  I 
1652,  39  ff.,  wo  für  alius  =  diversus,  novus,  ja  für  die  Pleo- 
nasmen alius  diversus,  a.  novus,  a.  sequens  reichlich  Beispiele 
gesammelt  sind,  die  der  ersten  Art  aus  Autoren,  bei  denen  man- 
cher sie  nicht  erwarten  mag*). 

2.  Als  zweites  Beweismittel,  womit  sämtliche  Vermerke 
des  Korrektors  als  nicht  autoritär  dargetan  werden  sollen,  gilt 
der  Zusatz  von  n  über  der  Präposition  von  conititur  281,  18. 
Daß  diese  Schreibung  der  vom  ersten  Schreiber  bei  coniti 
(conectere,  conexio)  stets  befolgten  widerspreche,  wird  p.  XVII 
der  Teubneriana  aus  Zieglers  Aufsatz  im  Hermes  31  (1896),  48 
ausgeschrieben,  von  diesem  aus  meinen  Bobiensia  v.  J.  1894 
S.  8,  beidemal  ohne  Angabe  der  Quelle.  Gewiß  werden  wir 
connititur  trotz  C  ^  ablehnen,  nachdem  Ritschi  opusc.  II  449  ge- 
zeigt hat,  und  zwar  aus  Inschriften  und  alten  Hss.,  daß  die 
Unterdrückung  des  einen  n  allein  schriftgerecht  sei.  Aber 
deutet  es  denn  auf  persönliche  Willkür  unseres  Mannes  hin, 
wenn  er  in  unserer  Miloniana  282,  5  conexio  nicht  antastete? 
Ist  ferner  jede  Möglichkeit  ausgeschlossen,  daß  der  Mann,  den 
Hildebrandt  zwischen  saec.  V  und  VII/VIII  setzt,  jenen  Kon- 
sonanten aus  einer  Schwesterhs.  des  Bobienser  Palimpsestes 
oder  geradezu  aus  einem  jüngeren  Ableger  derselben  entnommen 
habe?      War   die   Vorlage    von    einem   Romanen   geschrieben: 


*)  Zur  Variante  als  solcher  vgl.  Gregor  Turon.  h.  Franc.  3,  15  p. 
125,  4  unum  .  .  .  alium  (alterum  B  c)  und,  für  die  Richtigkeit  von  alium 
Bonnet  Le  Latin  de  Gregoire  de  Tours  1890  S.  278  A.  5.  Im  Romani- 
schen wurde  alius  durch  alter  verdrängt. 


78  Th.    Stangl, 

konnte  dieser  nicht  ebensogut,  wie  es  C-  getan  haben  soll, 
die  ihm  geläufige  volkstümliche  Schreibung,  welche  die  roma- 
nischen Mundarten  beibehalten  haben,  einführen?  Setzen  wir 
aber,  obwohl  das  282,  5  von  C-  nicht  angetastete  conexio  da- 
gegen spricht,  den  Fall,  connititur  sei  eine  eigenmächtige 
Aenderung:  ist  mit  dieser  orthographischen  Nichtigkeit  auch 
schon  über  die  Lückenergänzungen  und  sonstigen  Berichtigungen 
abgeurteilt  ?  ^) 

3.  p.  Milone  13  heißt  es:  Cuius  enim  de  illo  incesto  stupro 
iudicium  decernendi  senatui  potestas  esset  erepta,  de  eius  interitu 
quis  potest  credere  senatum  iudicium  novum  constituendum 
putasse  ?  Cur  igitur  incendium  curiae,  oppugnationem  M.  Lepidi, 
caedem  hanc  ipsam  contra  rem  p.  senatus  factam  esse  decrevit? 
Quia  nulla  vis  umquam  est  in  libera  civitate  suscepta  inter 
civis  non  contra  rem  p.  Non  enim  est  illa  defensio  contra  vim 
umquam  optanda,  sed  nonnumquam  est  necessaria;  nisi  vero  aut 
ille  dies,  quo  Ti.  Gracchus  est  caesus,  aut  ille,  quo  Gaius,  aut  quo 
arma  Saturnini,  etiamsi  e  re  p.  oppressa  sunt,  rem  p.  tamen 
non    vulnerarunt.     Zu    Quia    —    contra   rem    p.    bemerkt   der 


^)  Die  Schlußfolgerung  ist  soviel  wert  wie  zwei  andere,  die  in  deu 
Teubneriana  zum  besten  gegeben  werden.  Die  Silbentrennung 
in  C  steht  näher  der  Regellosigkeit  der  vor  Priscian  üblichen  als  jener, 
die  dieser  Philbellene  im  Anschluß  an  die  griechischen  Theoretiker  in 
B.  II  K.  1,  2  lehrt.  Deshalb  sei  C  sicher  vor  Priscian  geschrieben.  Als 
ob  der  Mauretanier  bloß  aufzutreten  brauchte,  um  alle  Schreiberschulen 
und  den  ganzen  Schulbetrieb  autokratisch  zu  behen-schen. 

Con  s  ulibus  wird  253,  17.  291,  28.  353,  11  im  Ai-gumentum  mit 
cos.  abgekürzt,  dagegen  im  Scholion  269,16  mit  cons.,  sonst  aus- 
geschrieben. Diese  notae  können  zufolge  der  Teubneriana  p.  XXIII 
nur  aus  dem  Archetypus  stanimen,  dieser  selbst  aber  muß  eben  deshalb 
dem  Ende  des  3.  oder  höchstens  dem  Anfang  des  4.  Jhr.s  zugeschrie- 
ben werden.  Denn:  scimus  notam  'cos.'  post  saeculum  quartum  neque 
in  titulis  neque  in  manuscriptis  (!)  inveniri,  ipso  saeculo  quarto  perraro, 
primo  secundo  tertio  saepissime.  Notam  'cons.'  vero  aetate  Diocletiana 
ita  geminatam  esse  constat,  ut  postea  'cons.'  imum,  'conss.'  duo  con- 
sules  significaret.  Sehen  wir  davon  ab,  daß  der  zweite  Satz  durch 
den  Thes.  1.  L.  IV  562,  50  zu  'cons.'  tarn  numero  singulari  quam  plu- 
rali  berichtigt  wird:  was  schloße  Hildebrandt  ans  der  im  Thes.  IV" 
562,  64  mitgeteilten  Beobachtung,  daß  in  der  dem  Jahi-e  ^'rib  angehö- 
renden Inschrift  des  CILXIV  2934  pluralisches  conss.  und  coss.  sich 
findet? 

Endlich  haben  L.  Gurlitt  und  Bernhard  Schilling 
mühelos  den  luftigen  Bau  zerstört,  der  über  die  Entstehungsweise  und 
EntstehungszeitderScholien  1 894  in  Hildebrandts  Göttinger 
Dissertation  aufgerichtet  worden  war.  Die  Teubneriana  findet  p.  XLIII 
keine  Gegengründe,  sondern  bloß  ein  Nein. 


Bobiensia.  79 

Scholiast  281,17  Nimium  ((xetpcü);) ").  Adversus  propositio- 
nem  partis  adversae  facta  responsio  est  tenuiter  et  anguste. 
Hoc  enim  probare  conititur,  illo  decreto  senatus  non  factum 
Milonis  praedamnatura,  set  generaliter  ipsam  vim  notatam, 
quae  inter  duos  evenerat,  [281,  20]  ut,  remota  faciendi  causa, 
fade  tenus  displicuerit  senatui  aliquid  per  vim  inter  cives  esse 
commissum,  ita  tamen  ut  non  ademerit  Miloni  facultatem  red- 
dendae  rationis,  cur  ab  se  facinus  illud  admissum  sit.  Et  hoc 
munit  exemplis  pluribus  eorum,  quos  ex  usu  rei  p.  constabat 
occisos.  {281,  24]  Et  nihüominus  in  hisdem  caedibus  vis  exe- 
cranda  fuerit,  licet  pro  communi  utilitate  suscepta.  An  der 
ersten  der  zwei  Stellen,  die  hier  gegen  die  Teubneriana  zu 
verteidigen  sind,  hat  die  Hs.  (die  Angabe  in  Hildebrandts 
Apparat  ist  unrichtig,  die  in  den  Addenda  p.  XLIV  richtig) 
faciendi  causa  faciens  |  (also  Zeilenschluß) ,  während  C  ^  über 
und  hinter  den  zwei  letzten  Buchstaben  der  Zeile  tenus  schrieb. 
Von  Mai,  im  Text  auch  von  Orelli  und  im  Archiv  f.  1. 
L.  I  416  und  419  von  Wölfflin  wurde  facie  tenus  aufgenom- 
men; für  mich  ist  bloß  die  von  C-  mit  tenus  vollzogene  Be- 
richtigung maßgebend  '),  nicht  aber  facie,  dessen  letzter  Buch- 
stabe ein  Rest  des  ursprünglichen  tenus  ist  wie  ns.  Was  facie 
tenus  allein  bedeutet,  zeigt  Apul.  met.  10,  23  f.  t.  praetendens 
humanitatem.  Solin.  51,  11  f.  t.  hirsuti.  Firm.  Matern,  math. 
4,  22,  22  quos  f.  t.  pallor  inficiat  (Variante :  quorum  faciem 
tenuis  p.  i.),  Rufinus  apol.  2,  15  quos  ne  f.  q.  nosti,  Cassiodor. 
psalt.  76,  14  f.  t.  sciebant  eum.     Nie  aber  wurde  die  Formel 


'^)  Die  2  lateinischen  Adverbia,  zu  denen  ein  Synonym  von  etwa 
6  Bebst,  zu  ergänzen  ist,  bezieben  sieb  weder  auf  die  Xdgtg  layyyi  oder 
ä^zX-f^c,  der  Antwort  Cieeros  noeb  vollends  auf  den  geringen  äußern 
Umfang,  sondern  auf  den  Mangel  an  Zuversiebt,  Kraft  und  Scbärfe ; 
vgl.  acuta  responsio  267,  27.  B60,  7,  valida  argumentatio  240,  29,  v. 
ratiocinatio  289,  17.  Sie  sind  also  nabe  verwandt  mit  humiliter,  timide, 
demisse,  und  als  ibre  Gegensätze  darf  man  congeste,  presse  und  dgl. 
bezeicbnen ;  vgl.  auch  Tbes.  1.  L.  II  64,  19.  Desbalb  glaube  icb  weder 
281,  17  an  Hildebrandts  Nimium  (loyy&c,)  noch  254,  30  an  (l'tXcög  Tispi 
auToO),  sed  de  C.  Mario  multo  liberius  et  erectius;  ex  quo  etiam  suo 
bonori  plurimum  dedit,  de  quo  aliquanto  demissius  et  verecundius 
dixerat,  sondern  an  M  s  -  p  i  o)  c  ('A  x  6  [i  '4'  w  g,  T  a  t:  t  v  w  g)  mpi  auxo'j.  . 
Kein  Raum  wäre  in  der  Iß  Bebst,  fassenden  Lücke  für  AiSrjjjLdvcos  Tispl 
aÖTOö.     Zur  Schreibung  xanivög  vgl.  294,  16  \ib-oc,  xoAa-/.iag. 

')  317,30  trägt  C  (nicht  C ')  Fannius  autem  non  erat  ali  ohne 
fas  vor  autem  nach. 


80  Th.    Stangl, 

verwendet  wie  verbo  tenus  'auf  das  bloße  Wort  beschränkt', 
so  daß  sie  im  Gegensatz  zu  re  vera  bedeutet  hätte  'nur  zum 
Scheine" :  das  erhellt  klar  aus  der  Geschichte  von  tenus,  die 
im  Archiv  I  415 — 426  vorliegt  und  im  Antibarbarus  ausge- 
zogen ist.  Nicht  minder  läßt  die  Entwicklungsgeschichte  von 
facies^),  wofür  die  von  Georges  genannten,  aber  nicht  ausge- 
nützten Nachweise  Mützells  zu  Curtius  3,  11,  22  zu  beachten 
sind,  keinen  Zweifel  zu,  daß  facie  tenus  in  einem  derartigen 
Zusammenhancre,  vornehmlich  ohne  Genetiv,  nicht  bedeuten 
kann  'mit  Beschränkung  auf  den  äußern  Vorgang'.  Dem 
entspricht,  wenn  wir  von  paläographisch  ferner  liegenden 
Ausdrücken  absehen,  nur  facto  tenus,  das  Orelli  im  Apparat 
empfahl  (=  quod  ad  factum  ipsum  attinet),  und  ebensogut 
facti  tenus  ^),  also  die  Genetivkonstruktion,  die  das  Spätlatein 
mit  Catull,  Lukrez  und  vor  allem  mit  Vergil  gemeint  hat. 
Wöllflins  Beobachtung,  daß  tenus  gerne  mit  singularischem 
Ablativ  und  mit  pluralischem  Genetiv  verbunden  wird,  kann 
uns  nicht  hindern,  facti  t.  dem  paläographisch  weniger  wahr- 
scheinlichen facto  t.  vorzuziehen;  schreibt  doch  schon  Livius 
26,  24,  11  Corryrae  t. 

Der  Begriff  'nur  scheinbar'  paßt  in  unsere  Gedankenreihe 
gar  nicht.  Im  Senatsbeschluß  gegen  Clodius'  Ermordung  sah 
Cicero  keine  Vorentscheidung  gegen  Milos  Tat,  er  betrachtete 
ihn  aber  auch  nicht  als  eine  nicht  ernstgemeinte  Maßregel  zu 
gunsten  der  durch  Milo  gestörten  öffentlichen  Ruhe  und 
Sicherheit.  Wie  in  der  Rede,  so  hatte  er  —  zufolge  §  15, 
und  zwar  zufolge  einer  Aeußerung,  die  unmittelbar  an  das 
obige  Zitat  sich  anschließt  —  schon  im  Senate  die  Sache  als 
eine  solche  gekennzeichnet,  bei  der  Gewalt  und  Nachstellung 
im  Spiele  war,  und  hatte  eben  deshalb  die  gegen  Milo  er- 
hobene Anschuldigung   der   gerichtlichen  Entscheidung  vorbe- 


*)  Beim  Scholiasten  kommen  in  Betracht  279,  8  liberali  f.  (facile 
C)  praeditum,  :n(t,  28  struraosa  f.,  322,  14  festa  f.  (facere  C)  religiosas 
probasse  supplicationes,  S51,  15  obiecta  quadam  senatui  f.  turpitudinis. 

»)  Orelli  schon  erinnerte  an  28ö,2,  wo  im  Lemma  die  Cicerohss.  rich- 
tig confessio  facti  est  inusitata  haben,  unser  Palimpsest  facie  sit.  Viele 
derbe  Angleichungen  und  Verstümmlungen  des  Textes,  die  C  unter  der 
Einwirkung  vorhergehender  oder  auch  nachfolgender  Wörter  unterlaufen 
sind,  besonders  am  Zeilenschluß,  sind  in  den  ßobiensia  v.  J.  1894 
S.  5 — 8  besprochen. 


Bobiensia.  gl 

halten,  um  beidemal  auf  Notwehr  zu  plaidieren.  Dagegen  ist 
durchaus  angemessen  der  Ausdruck  'mit  Beschränkung  auf  die 
Tat  als  solche',  sowohl  was  die  Stellung  unmittelbar  neben 
dem  Gegensatze  'ohne  Rücksicht  auf  die  Ursache  zum  Tun'  ^^) 
anlangt  als  betreffs  der  Stellung  beider  vor  dem  wenig  be- 
tonten, weil  selbstverständlichen  Verbum.  Wenn  aber  Hilde- 
brandt tenus  ein  'verbum  omnino  non  a  scholiasta  usurpatum' 
nennt,  so  übersieht  er  eatenus-quatenus  300,  15,  clementior 
aliquatenus  269,  17  (=  aliquanto  236,  9.  255,  1.  265,  26. 
271,  3.  285,  35.  361.  31,  ebenso  beim  Komparativ  aliquantum 
262,  15.  304,  16),  hactenus  330,  7. 

Nachdem  der  Scholiast  mit  Hoc  enim  probare  conititur  — 
admissum  sit  die  dialektische  Beweisführung  Ciceros,  mit  Et  hoc 
munit  exemplis  —  occisos  die  paradigmatische  beleuchtet  hat  — 
Ciceros  Worte,  die  den  2.  Punkt  betreffen,  sind  im  Lemma 
nicht  berücksichtigt  — ,  schließt  er  281,  24  also :  'Und  trotz- 
dem dürfte  bei  eben  diesen  Totschlägen  die  Gewalttätigkeit, 
selbst  wenn  sie  zum  Gemeinwohle  geübt  wurde,  verwerflich 
gewesen  sein'.  Es  endet  also  mit  occisos  der  Bericht  und  es 
beginnt  mit  Et  nihilominus,  das  statt  Ac  tamen  gut  lateinisch 
ist,  die  Kritik,  und  zwar  in  einem  Sinne,  daß  die  Schlußworte 
zusammenfallen  mit  den  kritisierenden  Adverbien  tenuiter  et 
anguste,  mit  denen  der  allererste  Satz  nachdrücklich  endet. 
Folglich  ist  ut  nihilominus  der  Teubneriana  unmöglich.  Der 
Modus  der  Urbanität  wurde  nicht  bloß  in  execranda  fuerit 
verkannt,  sondern,  wie  wir  später  sehen  werden,  auch  in  exi- 
stimetur  360,  26.  Hildebrandt  übersah  eben  248,  16  quoniam 
plurimae  (orationes  Ciceronis)  consequentur,  in  quibus  paene 
(eadem)  omnia  dicturus  est,  eximendam  numero  arbitratns 
sum  (orationem  'Si  eum  P.  Clodius  legibus  interrogasset'), 
quando  rebus  nihil  depereat :  quae  sine  dubio  in  aliarura  trac- 
tatione  reddentur,  267,  18  quos  (versus)  intempestivum  sit  in 
iudiciali    disceptatione  recitare  (wieder  in  einer  Kritik  von  Ci- 


*•)  Vgl.  Cic.  de  or.  1,  35  remoto  foro  contioiie  iudiciis  senatu  sta- 
tuisti  oratorem  in  omni  genere  sermonis  et  humanitatis  esse  perfec- 
tum,  dazu  Sorof;  ep.  7,  11,  3  remoto  ioco  tibi  hoc  praecipio,  ut  .  .,  Pseu- 
doasconius  99,  5  bis  remotis  ('mit  Beiseitelassung  diesei-  Punkte')  ar- 
gumenta sola  sequantur  iudices,  schol.  Bob.  285,  13  causas  faciendi  vali- 
disaime  instruat. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  1.  6 


82  Th.   Stangl, 

ceros  Verfahren).  346,  21  las  ich  in  C  und  ursprünglich  auch 
Ziegler:  Cetera  hie  explananda  non  sint:  quae  satis  in  prae- 
cedentibus  dixiraus;  im  Hermes  31,  294  hingegen  schweigt  er 
zur  Vulgata  sunt  und  eben  deshalb  auch  die  Teubneriana 
157,  5.  Rückhaltsloser  urteilt  der  Scholiast  anderwärts,  z.  B. 
in  der  Miloniana  276,  6  quoniam  erat  confessa  caedes,  perferri 
defensio  ista  non  potuit,  278,  15  Btacw;  auctoritatem  XII  tabu- 
larum  ad  defendendam  confessionem  Milonis  trahit,  286,  10 
'Evapyeta  coacervatur  plena  sine  dubio  falsae  adseverationis. 
4.  Wenn  sich  für  den  umfangreichsten  Nachtrag  von 
C  ^  nachweisen  läßt,  daß  die  ergänzten  Worte  vom 
eigentlichen  librarius  infolge  eines  Homoio- 
teleutons  übersehen  worden  waren ,  so  wird  wohl 
selbst  Hildebrandt  jeden  Widerspruch  gegen  die  Herleitung 
der  Nachträge  aus  einer  Hs.  aufgeben.  Dieser  Beweis  läßt 
sich  für  J276,  23  (62,  10)  haarscharf  führen.  Der  Rest  des 
jetzt  verstümmelten  Miloniana- Argumentums  und  die  Scholien 
zu  §  1 — 6  und  zum  Anfang  von  §  7  füllten,  zufolge  A.  Mais 
Berechnungen,  8  Palimpsestseiten.  Das  erste  der  erhaltenen 
Scholien  bezieht  sich  auf  die  Worte  in  §  7  sed  antequam  ad 
eam  orationem  venio,  quae  est  propria  vestrae  quaestionis, 
videntur  ea  esse  refutanda,  quae  et  in  senatu  ab  inimicis  saepe 
iactata  sunt  et  in  contione  ab  inprobis  et  paulo  ante  ab  ac- 
cusatoribus,  ut  omni  errore  sublato  rem  plane,  quae  veniat  in 
iudicium,  videre  possitis.  Die  Vulgata  lautet  bei  Orelli  276, 
22 — 277,  9:  quod  autem  (Tullius  'antequam  ad  eam  oratio- 
nem venio,  quae  est  propria  ves)trae  quaestionis,  videntur  ea 
esse  refutanda,  quae  et  in  senatu  saepe  ab  inimicis"  dixit:  iam 
detraxit  illi  decreto  auctoritatem,  cui  potest  propter  simultates 
inesse  Studium  malevolentiae'.  Et  quod  addidit  statim  'iac- 
tata sunt',  non  'decreta',  non  'statuta',  non  'iudicata':  verbo 
usus  est  efficaciter  ad  detrahendum  pondus  illi  senatus  consulto, 
quo  reus  gravabatur.  Post  haec  etiam  significaturus  legem 
Pompeiam  'et  in  contione  ab  inprobis'  inquit;  molestum 
namque  fuisset,  si  'a  populo'  adiceret;  'ab  inprobis'  maluit, 
ut  ne  illud  plebiscitum  pro  gravissimo  ducendum  sit,  quod  in- 
probi  et  studentes  iniuriae  conceperint.  Ad  extreraum  tertio 
gradu  in  hunc  exitum  desinit:    'et  paulo    ante   ab    accusatori- 


Bobiensia.  83 

bus' ;  omne  enim  quod  accusatores  coraminiscuntur,  non  aequi- 
tatis  iudicio,  sed  nocendi  proposito  moliuntur.  Haec  itaque 
vivacitas  (C  qualitas  v)  M.  Tullio  propria  est,  ut,  antequam 
argumentationes  impleat,  victoriam  praelibet  in  ipsis  proposi- 
tionibus.  Der  Schlußsatz  des  Scholions  übersetzt  die  Schluß- 
worte Ciceros  ersichtlich  in  die  Sprache  der  Rhetoren.  Zieg- 
ler empfahl  1896  im  Hermes  31,  44:  Nam  quod  (TuUius, 
'antequam  ad  eam  orationem,  quae  est  propria  ves)trae  quae- 
stionis,  videntur  ea  esse  refutanda,  quae  et  in  senatu  ab  ini- 
micis  saepe  iactata  sunt'  dixit:  iam  detraxit  illi  decreto,  cui 
potest  propter  simultates  inesse  studium  malevolentiae,  aucto- 
ritatem.  Sehen  wir  vom  Tonfall  der  Klauseln  ganz  ab:  eine 
so  schwerfällige  Wortstellung,  wie  jene,  derzufolge  dixit  durch 
23  Wörter  von  Nam  quod  Tullius  getrennt  wird,  gibt  es  im 
ganzen  Scholiasten  nicht.  Warum  ?  Weil  er  als  geborner 
Römer  nicht  so  unlateinisch  dachte  wie  die  Vorkämpfer  unsers 
Schullateins.  Bis  zu  völliger  Unverständliclikeit  verstümmelt 
die  Teubneriana  62,  9  ff.  die  Ueberlieferung  durch  Ableh- 
nung der  Nachträge  von  C^. 

Das  Verdienst,  den  handschriftlichen  Befund  erstmals  ver- 
lässig festgestellt  zu  haben,  und  zwar  aus  dem  Facsimile-Exem- 
plar  der  Münchener  Staatsbibliothek,  gebührt  dem  geprüften 
Gymnasialpraktikanten  Jos.  H  ö  f  1  i  n  g  e  r.  Ihm  zufolge  hat 
C^  die  Zeilenschlüsse  mit  senkrechtem  Strich  bezeichnet:  TRAE 
QÜAESTIONISUIDE"  |  TUREAESSEREFUTANDA  |  QUAE 
ETINSENATÜAB")  1  INIMICISDIXITIAMDE ;  TRAXITILL 
IDECRETOAUC  |  TORITATEMMALAEÜO  t  LENTIAE.  Be- 
ginnend oberhalb  der   3  letzten  Buchstaben   von  senatu,    trug 


")  An  der  völlig  verdunkelten  Stelle  nach  senatu,  wo  man  zufolge 
der  Buchstabenzahl  der  umgebenden  Zeilen  mindestens  2  Buchstaben 
erwartet,  lasen  Ziegler  und  Hildebrandt  AB.  Höflinger  meinte  die 
Umrisse  von  DE  zu  erkennen,  und  zwar  D  verbunden  mit  dem  2.  senk- 
rechten Strich  von  U,  Da  man  nur  inimicos  oder  ab  inimicis  erwartet, 
ließe  sich  DE  nur  als  Anfang  eines  Lückenzeichens  verstehen,  das  C^ 
aus  seiner  Vorlage  oder  aus  sich  selbst  hinzugefügt  hätte.  Indes  wüßte 
ich  für  saec.  VI  nicht  die  Abkürzung  de  [e]  =  deest  zu  belegen,  son- 
dern nur  solche  wie  h  d  (=  hie  deest):  Dieses  Zeichen  hat  C  317,  30 
am  Rande  vor  dem  Nachtrag  Fannius  (ohne  fas  !)  autem  non  erat  ali 
und  an  der  entsprechenden  Stelle  zwischen  den  Zeilen.  Eine  2.  Mög- 
lichkeit wäre,  daß  ab  inimicis  von  C'  als  Citat  verkannt  und  wegen 
dixit  zu  de  inimicis  umgestaltet  wurde. 

6* 


84  '  Th.  Stangl, 

C^  zwischen  den  Zeilen  und  am  rechten  Rande  nach:  ab  ini- 
micis  saepe  iac,  darunter  am  Rande  tata  sunt,  hierunter  als 
noch  tiefer  stehendes  Zeilchen  nam  quod.  Vom  gleichen  Kor- 
rektor rührt  her  der  Satz  Cui  potest  propter  simultates  ]  in- 
esse  stu  dium,  und  zwar  sind  die  ersten  4  Wörter  oberhalb 
MMALAEUO  und  am  rechten  Rande  ergänzt,  inesse  stu  und 
dium  in  je  einem  tiefer  stehenden  Zeilchen  am  gleichen  Rande. 
Durch  diesen  handschriftlichen  Befund  wird  folgende  Form  des 
Scholions  verbürgt,  die  von  allen  bisherigen  Gestaltungen  wesent- 
lich abweicht:  (.  .  .  'Sed  antequam  ad  eam  orationem  venio, 
quae  est  propria  ves/trae  quaestionis,  videntur  ea  esse  refutanda, 
quae  et  in  senatu  ab  immicis  saepe  iadata  sunt'.  Nam  quod 
^ab  inimicis'  dixit:  iam  ('ohne  weiters')  detraxit  illi  decreto  aucto- 
ritatem,  cui  potest  propter  simultates  inesse  Studium  male- 
volentiae.  Et  quod  addidit  statim  'iactata  sunt'  .  .  .:  verbo  usus 
est  efficaciter  ad  detrahendum  pondus  illi  senatus  consulto,  quo 
reus  gravabatur  (—-——-  mit  C  - ;  die  Teubneriana  gravatur 
mit  C).  Rhythmus  und  Wortschatz,  Satzbau  und  Gedanke  sind 
tadellos;  der  librarius  war  von  ab  inimicis  saepe  iactata  sunt 
nam  quod  zum  folgenden  ab  inimicis  abgeirrt. 

Es  ist  klar,  daß  wir  bis  jetzt  nur  den  Rumpf  des  ersten 
Scholions  wiedergewonnen  haben:  der  Scholiast  umschreibt 
damit  den  ersten  Teil  der  ersten  Periode  von  §  7  der  Milo- 
niana.  Den  Kopf  bildete  ein  Gedanke,  der  dem  2.  Teile 
entsprach,  also  den  Worten  ut  omni  error e  suhlato  rem  plane, 
quae  veniat  in  iudicium,  videre  possitis.  Diese  Annahme  er- 
gibt sich  mit  Bestimmtheit  aus  dem  Schlußsatze  des  Scholions. 
Haec  itaque  vivacitas  (vgl.  276,  28  efficaciter)  M.  Tullio 
propria  est,  ut,  antequam  argumentationes  impleat,  victoriam 
praelibet  in  ipsis  propositionihus.  Denn  es  weiß  Jeder,  dem 
die  Technik  der  Bobienser  Scholien  nicht  fremd  ist,  daß  unser 
Mann,  wenn  er  rhetorische  Kunstgriffe  des  Autors  eingehend 
und  nachdrücklich  aufzeigt,  einerseits  mit  dem  Schlußgedanken 
gerne  zum  Gedanken  des  Eingangs  zurückkehrt,  andrerseits 
im  Eingang  mit  den  griechischen  Bezeichungen  für  rhetorische 
Begriffe  zu  prunken  liebt,  die  er  hernach  lateinisch  wiedergibt. 
Darnach  wäre,  wenn  man  vom  Rhythmus,  jedoch  nicht  vom 
individuellen  Wortschatz   und  Satzbau  absieht,    stilgerecht  ein 


Bobiensia.  85 

Eingang  wie:  Consideremus  quanta  acpo^poir^TC  TuUius  ante 
argumentationes  victoriara  praelibet  in  ipsis  propositionibus, 
ita  dicendo:  'Sed  antequam  .  .  .  iactata  sunt'.  Nam  quod  'ab 
inimicis'  dixit:  .  .  .  Oder:  Animadvertamus  quam  •öuji.oecoö); 
(öpw:)  praeiudicia  ab  adversariis  adlata  in  ipsis  propositioni- 
bus elevet  TuUius,  ita  dicens:  .  .  .  'Sed  antequam  .  .  .  iacta- 
ta sunt'.  .  . 

Die  Anschauung,  daß  C  -  ein  Konjekturenjäger  sei,  dürfte 
hiermit  ein  für  alleraal  widerlegt  sein.  Nicht  eingegangen 
wird  hier  auf  jene  Stellen,  an  denen  Hildebrandt  dem  C  Laa. 
zuschreibt,  die  zufolge  Ziegler  von  C^  stammen,  oder  auf 
283,  14  (72,  15),  wo  Ziegler  von  tarn  als  einem  Nachtrag  des 
C^  spricht,  die  Teubneriana  aber  von  einem  Zusatz  Zieglers. 
Noch  weniger  berühren  uns  die  kleinen  Widersprüche  des 
Teubnerapparates  mit  der  Praef.  p.  XIV  unter  Nr.  1  und 
p.  XV  unter  der  vorletzten  Nummer.  Dagegen  ist  für  unsern 
Zweck  von  Belang  281,  8—9  (69,  1—2),  d.  h.  jene  Stelle,  für 
die  Ziegler  (im  Hermes  31,  48)  und  Hildebrandt  behaupten, 
im  Satzgefüge  Et  erat  in  vetere  consuetudine,  ut  uon  is 
<^qui  primus  interrex,  sed)>  qui  loco  secundo  crearetur,  <(comitia 
haberet)  seien  die  in  Klammern  gesetzten  Worte  nicht  von 
C^  nachgetragen,  sondern  von  Mai  hinzugefügt,  und  zwar  aus 
Asconius.  In  WirkHchkeit  aber  war  der  erste  Schreiber 
vom  ersten  qiii  zum  zweiten  abgeirrt  und  ebenso 
hatte  er  com itia  haberet  übersehen  nach  crearetur,  so  daß  wir 
zum  zweiten  Male  mindestens  ein  Versehen  des  librarius  vor 
ims  haben,  das  aus  einem  reinen  Homoioteleuton  sich  erklärt. 
Es  las  nämlicli  J.  H  ö  f  1  i  n  g  e  r  im  Münchener  Exemplar  des 
Facsimile  auf  Quaternio  224  im  Text  der  1.  Kolumne  ET 
ERATINUETERECO-  j  SÜETUDINEUTNONIS  |  QUILOCO 
SECÜNDOCREA  |  RETURNONOBSEQUENS  | :  nach  CREA  ist 
Schluß  der  eisten  Kolumne.  Dagegen  las  er  am  rechten 
Rande,  also  zwischen   beiden  Kolumnen,  als  Nachtrag  von  C^ 

neben    der    vorletzten    Zeile    der    1.    Kolumne   qui,    neben    der 

letzten  ....  us,  tiefer rex,  noch  tiefer  sed.     Mai  hatte 

im  Original  noch  alle  Buchstaben  zu  erkennen  geglaubt, 
außerdem    comitia    haberet.      Von    einem    Einweisungszeichen 


86  Th.    Stangl, 

spricht  Mai  Aveder  hier  noch  anderwärts :  heute  ist  ein 
solches  nicht  mehr  zu  erkennen;  daß  Mai  hinsichtlich  der 
Nachtragsstelle  einem  arj|jielov  von  C^  folgte,  kann  weder  be- 
wiesen noch  widerlegt  werden  ;  comitia  haberet  ließe  sich 
grammatisch  jedenfalls  nur  nach  ut  non  is  unterbringen  ^-). 
Ziegler  und  Hildebrandt  hatten  am  linken  Rand  der  1.  Ko- 
lumne gesucht  und,  als  sie  hier  Mais  Text  nicht  fanden,  von 
Zusätzen  Mais  gesprochen. 

Der  Streit  über  den  Wert  der  Korrekturen  zweiter  Hand 
ist  damit  für  uns  erledigt.  Bei  der  zweiten  Stelle  mit  der 
durch  ein  vollkommenes  Homoioteleuton  hervorgerufenen  Lücke 
verweilen  wir  nur  deshalb  länger,  weil  der  ganze  Satz  Et 
erat  in  vetere  consuetudine,  ut  non  is  qui  primus  interrex, 
sed  qui  loco  secundo  crearetur,  comitia  haberet  nicht  aus  der 
Urfassung  der  ßobienser  Scholien  herzurühren ,  sondern  ein 
Nachtrag  eines  jüngeren  Diaskeu  asten  zu 
sein  scheint.  Darauf  deuten  die  teils  fehlenden  teils  schlech- 
ten Rhythmen,  darauf  die  zerstückelte  Ueberlieferung  im  Pa- 
limpsest,  die  man  am  leichtesten  aus  einem  Nachtrag  begrifie, 
der  in  der  Vorlage  zwischen  den  Zeilen  und  am  Rande  ange- 
bracht war.  Das  entscheidende  Bedenken  jedoch  leitet  sich 
aus  dem  Zusammenhange  her.  Man  lese,  was  zu  p.  Mil.  13 
'Cur  igitur  incendium  curiae,  oppugnationem  aedium  M.  Lepidi, 
caedem  hanc  ipsam  contra  rem  p.  senatus  factam  esse  decrevit? 
43,  3  jBF.  Asconius  bemerkt:  Post  biduum  medium,  cjuam  Clo- 
dius  occisus  erat,  interrex  primus  proditus  est  M.  Aemilius 
Lepidus.  Non  fuit  autem  moris  ab  eo,  qui  primus  interrex 
proditus  erat,  comitia  haheri.  Sed  Scipionis  et  Hypsaei  factio- 
nes,  quia  recens  invidia  Milonis  erat,  cum  contra  ius  postula- 
rent,  ut  interrex  ad  comitia  consulum  creandorum  descenderet, 
idque  ipse  non  faceret,  domum  eins  per  omnes  interregni  dies 
.  .   .  quinque    obsederunt  .  .  .     Post    quae    supervenit   Milonis 


'^)  Mit  einer  Umstellurof  und  mit  einer  Interpolation  lautet  der 
Text  in  der  Teubneriana  69,  1:  ut  non  is,  (qui  primus  interrex  eaaet, 
comitia  haberet,  sed)  qui  loco  secundo  crearetur.  Aber  wie  es  unmit- 
telbar vorher  heißt  quoniam  primus  interrex  illo  tempore  esset  prodi- 
tus (M.  Lepidus)  und  wie  Asconius  zwischen  prodere  und  creare, 
die  Kunstausdrücke  sind,  wechselt,  so  steht  auch  interrex  crearetur  d;i6 
xoLvo'j  zu  primus  und  zu  secundo  loco. 


Bobiensia.  S7 

maims,  et  ipsa  postulans  comitia:  cuius  adventus  fuit  saluti 
Lepido ;  in  se  enim  ipsae  conversae  sunt  factiones  inimicae,  at- 
que  ita  oppugnatio  domus  interregis  omissa  est.  Dieser  Bericht 
hängt  in  sich  zusammen;  dagegen  wird  durch  den  fraglichen 
Satz  unterbrochen  die  Reihe  der  Bemerkungen,  die  zum  glei- 
chen Lemma  ^^)  in  den  Bohienser  Scholien  280,  21  ff.  zu  lesen 
sind :  KsxpLjjLivw  utebatur  accusator ,  ex  eo  videlicet  adseve- 
rans  vere  hanc  a  senatu  caedem  praedamnatam,  cum  decreverit 
contra  rem  p.  commissum  videri,  quod  exarsisset  curia  quod- 
que  domus  M.  Lepidi  oppugnata  esset.  Nam  M.  Aemilius 
Lepidus,  cum  interregno  fungeretur  et  plerique  inita  conspira- 
tione  hoc  ab  eo  postularent  (conspiraret  C),  maxime  urguenti- 
bus  Milonis  competitoribus,  ut  haberet  ^*)  comitia  consularia, 
respondit  civiliter  non  posse  per  se  comitia  haberi,  quoniam 
primus  interrex  illo  tempore  esset  proditus  biduo  post  inter- 
emptionem  P.  Clodii.  Et  erat  in  vetere  consuetudine^  ut  non 
15,  qui  primus  interrex,  sed  qiii  loco  secundo  crearetur,  comi- 
tia haberet.  Non  obsequens  tarnen  illi  conspiratae  multitudini, 
quam  Plautius  Hypsaeus  et  Metellus  Scipio  concitaverant,  in 
periculum  deductus  est ,  ut  domus  eins  inpugnaretur  et  obsi- 
dionem  dierum  quinque  pateretur.  Cui  ad  extremum  sola 
factio  Milonis  auxilio  fuit:  qua  decertante  cum  adversaria  per- 
fectum  est,  ut  exueretur  periculo,  quo  artissime  premebatur. 
Der  Gedanke  jenes  Satzes  ist  vorweggenommen  in  civiliter 
('nach  bürgerlichem  Herkommen'  =  more  maiorum)  non  posse 
per  se  comitia  haberi  bis  P.  Clodii.  Den  Anlaß  zur  Erwei- 
terung des  ursprünglichen  Scholions  bot  der  Wunsch,  den 
schon  ausgesprochenen  Gedanken  unzweideutiger  und  generell 
zu  fassen  durch  die  Bezeichnung  jedes  zweiten  interrex  als 
des  zur  Vornahme  der  Konsulwahlen  allein  Befugten.  Der 
zweite  Diaskeuast  meinte  noch  enger  an  Asconius  sich  an- 
schließen zu  sollen  als  es  der  erste  schon  getan  hatte.  Der 
Nachtrag  ist  aber  mit  den  alten  Bestandteilen  des  Scholions 
nicht  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zusammengefügt:  die  Fu- 
gen  klaffen^  die  Ueberarbeitung  ist  unzulänglich  verdeckt. 

Würzburg.  TJi.  Stangl. 


*')  Daß  in  C  hanc  ipsani  nicht  steht  und  senatus  contra  rem  p. 
gestellt  ist,  fällt  nicht  auf;  daß  der  Cicerotext  des  Scholiasten  nainde- 
stens  hanc  hatte  und  von  ihm  nicht  mißverstanden  wurde,  bevveist  das 
Scholion. 

")  Das  darnach  überlieferte  et  läßt  sich  vielleicht  im  Sinne  von 
,au  ch'  halten. 


Zu   MartiaS. 

1. 

Spect.  21: 

Quidquid  in  Orpheo  Rhodope  spectasse  theatro 

Dicitur,  exliibuit,  Caesar,  harena  tibi. 
Repserunt  scopuli  mirandaque  silua  cucurrit, 

Quäle  fuisse  uemus  creditur  Hesperidum. 
Adfuit  iumixtum  pecori  genus  omne  ferarum 

Et  supra  uatera  multa  pependit  auis, 
Ipse  sed  ingrato  iacuit  laceratus  ab  urso. 
Haec  tarnen  res  est  facta  ita  pictoria. 
So  lautet  V.  8  in  HT.  Lindsay   und  Duff   schreiben  nach 
Housman : 

Haec  tantum  res  est  facta  ^ap'  loxopiav. 
Ilap'  loxopiav  „gegen  den  Wortlaut  der  Sage".  Aber  laxopia, 
kann  kaum  vom  Mythus  gebraucht  werden:  iaxopicc  ist  im  Ge- 
gensatz zu  dicitur  (2),  creditur  (4)  das  von  Zeugen  urkundlich 
Dokumentierte;  taxopca  wird  durch  xlia,  lazopf^oai  durch  ösaaaa- 
•i)ai,  u.  dgl.  geradezu  erklärt  (z.  B.  Suid.  Phot.).  So  Bflcheler  bei 
Friedländer  Martial  II  S.  542.  Wenn  daher  nach  Housman's 
Konjektur  die  Zerfleischung  des  Orpheus  des  Schauspiels  izocp' 
tatop^av  ist,  so  sagt  die  Bücheler's  genau  das  Gegenteil:  haec 
tarnen,  haec  res  est  facta,  mS'  ioxopiac:  tao'  laizpia  =  haec  res 
facta  est.  Hiergegen  wendet  Friedländer  mit  Recht  ein,  die 
Anwendung  einer  griechischen  Phrase  in  einem  nicht  im  Kon- 
versationstone gehaltenen  Gedicht  sei  bei  M.  ausgeschlossen. 
In  der  Tat  findet  sich  kein  andres  Beispiel.  Diese  Bemerkung 
trifft  natürlich  auch  Housman's  Konjektur  mit.     Außerdem  ist 


Gustav  Friedrich,  Zu  Martial.  39 

es  unzulässig,  wenn  dieser  das  an  sich  vollständig  passende  ta- 
rnen ohne  Aveiteres  in  tantiim  verwandelt. 

Im  Aroiidellianus  (Q)  steht:  haec  tarnen  ut  res  est  facta 
ita  ficta  alia.  Daraus  machte  Schneidewin  mit  Berücksichti- 
gung von  pictoria  HT :  haec  tarnen,  haec  res  est  facta  ita,  ficta 
prior.  Die  Lesart  von  Q  ist,  nur  mit  Aenderung  von  ut  in 
haec,  beizubehalten :  haec  tamen,  haec  res  est  facta  ita,  ficta 
alia.  Das  Wortspiel  facta-ficta  macht  von  vornherein  den 
Eindruck  der  Echtheit :  vgl.  z.B.  IX  21,  4  Artemidorus  amat, 
Calliodorus  arat;  XI  18,25  errasti,  Lupe,  littera  sed  una :  nam 
quo  tempore  praedium  dedisti,  mallem  tu  mihi  prandium  de- 
disses.  —  Haec  tamen,  haec  res  ist  ebenso  in  der  Manier  des 
M. :  vgl.  VIII  1,4  tu  mihi,  tu  Pallas  Caesariana,  ueni;  X 
41,  3  quid,  rogo,  quid  factum  est?  IX  2,  14  haec  erat,  haec 
cultris  mentula  digna  tuis.  —  Zu  dem  ita  in  res  est  facta 
ita  vgl.  Liv.  21,  29,  wo  Livius,  nachdem  er  das  erste  Gefecht 
zwischen  den  Reitern  Hannibals  und  Scipios  geschildert,  fort- 
fährt: ut  re  ita  gesta  ad  utrumque  ducem  sui  redierunt.  — 
Der  Sinn  unseres  Gedichtes  ist  also :  „Dies  (das  Zerfleischen 
des  Orpheus  durch  den  Bären)  ist  Avirklich  so  geschehen,  das 
übrige  war  Schauspiel".  Alia  ist  nämlich  =  cetera.  Durch  die 
ganze  Latinität  findet  sich  alius  so  gebraucht:  Plaut.  Trin. 
943  Eho,  an  tu  etiam  uidisti  louem?  :^  Alii  di  isse  ad  uillara 
aiebant ;  Caes.  b.  c.  III  94,  5  sed  Pompeius  ut  equitatum  su- 
um  pulsum  uidit  atque  eam  partem,  cui  maxime  confidebat, 
perterritam  animum  aduertit,  aliis  quoque  diffisus  acie  exces- 
sit;  oft  bei  Sallust,  oft  bei  Livius,  z.  B.  21,  11,  3  stationibus 
ad  custodiam  uinearum  aliorumque  operum  dispositis;  aus  den 
Tagen  des  M.  vgl.  Tacit.  ann.  III  42.  —  Die  Entstehung  von 
pictoria  HT  aus  picta  alia  erklärt  sich  leicht.  In  den  Hand- 
schriften des  M.  ist  p  oft  mit  f  verwechselt  worden:  vgl. 
XII  94,  9  fingere)  pingere  C^;  III  19,  2  fictae)  pictae  B^. 
Aus  pictalia  machte  H  das  nächste  lateinische  Wort:  vgl.  IX 
81,  3  curo:  nam)  coronam  T;  I  68,  7  accipe,  care)  acum  pe- 
core  T;  XII  48,  6  immo  hodie)  in  medio  T, 

Es  ist  richtig,  alius  findet  sich  sonst  nicht  so  bei  M.  Me- 
thodisch liegt  die  Sache  in  diesem  Falle  so :  in  einen  Schrift- 
steller darf  man  ein  Wort,  das  sonst  nicht  bei  ihm  vorkommt 


90  Gustav  Friedrich, 

oder  nicht  in  der  besonderen  Bedeutung  vorkommt,  nicht  hinein- 
konjizieren;  ist  es  aber  überliefert  und  sonst  mit  dem  zeitge- 
nössischen Sprachgebrauch  in  Einklang,  so  ist  es  nicht  zu 
beseitigen.  Und  dann  sind  die  Zeiten  bei  einem  Dichter  zu 
unterscheiden,  dessen  Produktion  sich  über  einen  so  langen 
Zeitraum  erstreckt,  wie  bei  M.  Auch  Cicero  bedient  sich  in 
den  philippischen  Reden  einer  ganzen  Reihe  von  Worten  und 
Wendungen,  die  er  früher  vermied.  So  hat  man  beobachtet 
(Friedländer  zu  I  26,7),  daß  Martial  meist  den  Genetiv 
der  Wörter  auf  -ius  und  -ium  auf  -i  (nicht  auf  -ii)  bil- 
det. Danach  schreibt  man  ohne  weiteres  XII  25,  6  exilio 
comitem  quaeris:  agellus  eat,  obwohl  überliefert  ist  ex  illi  T 
(,exili  C^');  obwohl  II  24,  4  steht:  exulis  ibo  comes;  VII 
44,  5  magnus  comes  exulis  isti.  XI  2,  1  ist  überliefert:  triste 
supercilium  durique  seuera  Catonis  frons  et  aratoris  filia  Fa- 
bricii.  Man  schreibt  Fabricia,  obwohl  Catonis  den  Genetiv 
Fabricii  verlangt.  Cybii  XI  27,  3  (uel  duo  frusta  rogat  cybii 
tenuemue  lacertum)  und  XI  31,  14  (et  caudam  cybii  breues- 
que  maenas)  läßt  sich  nicht  wohl  ändern:  schön,  man  ent- 
schuldigt den  Genetiv  damit,  daß  cybium  ein  griechisches 
Wort  ist.  Aber  exilii,  Fabricii  sind  ebenso  richtig  wie  cybii; 
richtig  ist  auch  iudicii  (C'^^)  XII  praef.:  accedit  his  munici- 
palium  robigo  dentium  et  iudicii  loco  liuor.  Das  letzte  Bei- 
spiel des  Genetivs  auf  -i  steht  IX  76,  1  (Caraoni).  Exilii, 
Fabricii,  cybii,  iudicii  fallen  in  die  Zeit  der  seconda  maniera.  — 
Nun  behauptet  Lindsay  freilich,  die  Spectacula  im  Aron- 
dellianus  beruhten  nicht  auf  guter,  alter  Ueberlieferung.  Aber 
sie  sind  von  derselben  Hand  geschrieben  wie  die  übrigen 
Bücher;  und  vor  ihnen  steht  des  Gennadius:  Epigrammaton 
M.  Valerii  Julii  Martialis  Li.  Ius  incipit.  Ego  Torquatus  Gen- 
nadius emendavi  etc.  Gennadius  zog  die  Spectacula  zum  ersten 
Buche.  Und  Spect.  21,  8  haec  tarnen,  haec  res  est  facta  ita, 
ficta  alia,  wie  Q  überliefert,  macht  durchaus  den  Eindruck 
der  Echtheit.     Dasselbe  gilt  von  Spect.   19: 


")  Mit  A-\  BA  C-f^  bezeichne  ich  mit  und  nach  Lindsay,  soweit  ich 
derselben  Ansicht  bin,  die  mutmaßliche  Lesart  der  Codices  archetypi 
der  drei  Familien,  wie  sie  sich  aus  der  Uebereinstimmung  der  Hand- 
schriften ergibt. 


Zu  Martial.  9X 

Qui  modo  per  totam  flatumis  stimulatus  harenam 
Susfculerat  raptas  taurus  in  astra  pilas, 

Occubuit  tandem,  cornuto  ardore  petitns, 
Dum  facilem  tolli  sie  elephanta  putat. 

Q  hat  cornuto  ardore,  HT  haben  cornuto  adore.  Das  ist 
auch  ardore,  nämlich  ädore.  Das  Kompendium  ist,  wie  so 
unendlich  oft,  weggelassen  worden:  I  43,  10  armato]>  amato 
T,  d.  i.  äraato;  IX  60,  1  aruis)  auis  T,  d.  i,  äuis.  Ardore 
petitus  steht,  es  überbietend,  im  Gegensatz  zu  flammis  stimu- 
latus. Cornuto  ist  zu  verstehen  von  den  Zähnen  des  Elefan- 
ten, die  von  manchen,  z.  B.  von  Juba,  für  Hörner  gehalten 
wurden:  Plin.  n.  h.  VIII  7;  Mart.  I  72,  4  Indicoque  cornu 
(Friedländer).  Es  ist  nun  an  Stellen  zu  denken  wie  Ovid  met. 
10,  550  fulmen  habent  acres  in  aduncis  dentibus  apri ;  Mart. 
XI  69,  9  f  u  1  m  i  n  e  o  spumantis  apri  sum  deute  perempta. 
Da  sind  wir  dicht  bei  unsrem  cornuto  ardore  (=  ardore  den- 
tium).  Das  blitzschnelle  Einschlagen  der  Aveißen  Elefanten- 
zähne macht  dem  M.  den  Eindruck  eines  niederfahrenden 
Feuers.  Ueberhaupt  geht  der  Begriff  einer  „raschen  Bewe- 
gung" leicht  in  den  Begriff  des  „Glänzens,  Schimmerns,  Strah- 
lens"  über:  vgl.  mico  .,zittern,  zucken",  aber  auch  „schim- 
mern, blitzen,  funkeln"  (sol,  ensis) ;  eclater  (eclat)  „bersten, 
zerspringen",  aber  auch  „blitzen,  glänzen"  (Thurab:  Indo- 
germ.  Forsch.  14,  343).  Instruktiv  für  unsre  Stelle  ist  auch 
Catull  64,  340  qui  persaepe  uago  uictor  certamine  cursus 
f  1  a  m  m  e  a  praeuertet  celeris  uestigia  ceruae.  —  Zu- 
gleich soll  wohl  bei  cornuto  ardore  in  ardor  noch  die  Bedeu- 
tung „Kampfeseifer"  anklingen:  vgl.  VI  25,  5  cauta  sit  ut 
uirtus,  nee  te  temerarius  ardor  in  medios  enses  saeuaque  tela 
ferat. 

2. 

I  67  schreibt  Friedländer  nach  C^  mit  E.  Wagner: 

Liber  homo  es  nimium.  dicis  mihi,  Ceryie,  semper. 
In  te  quis  dicit,  Ceryie,  liber  homo  es? 

Homo  es  v.  2  hat  C-^,  während  T  und  B^  bieten  homo 
est.  Das  letztere  ist  also  besser  bezeugt;  es  ist  allein  be- 
zeugt. DennC''  ist  hierin  ohne  jede  Autorität:  vgl.  X  83,2 
caluae  campum  temporibus  tegis  comatis)  tegit  C-*^;    X  32,  5 


92  GustavFriedrich, 

ars  utinam  mores  animuraque  effingere  posset!)  possis  C^; 
V  61,  7  'uxoris  res  agit'  inquis  'iste  meae'.^  agis  C^;  VIII 
7,  40  0  quantum,  Cinna,  tacere  potes!)  potest  C^;  und  so 
unaufhörlich.  Es  fehlt  sogar  nicht  an  Fällen  wie  XIV  107,  2 
perfusos  domini  lambere  docta  pedes)  pedet  C^;  VI  78,  3 
huie  Heras  medicus)  erat  C^  ^). 

Duff  schreibt  nach  Lindsay  : 

'Liber  homo  es  nimium'  dicis  mihi,   Ceryle,  semper. 
In  te  qui  dicit,  Ceryle,  liber  homo  est? 

Das  ergibt  aber  einen  dürftigen  Sinn.  Es  ist  zu  schrei- 
ben: 

'Liber  homo  es  nimium'  dicis  mihi,  Ceryle,  semper. 
In  te  qui  dicit,  Ceryle:   'liber  homo  est'? 

Das  einhellig  überlieferte  qui  steht  für  quis :  vgl.  Plaut. 
Amph.  1046  qui  me  Thebis  alter  uiuit  miserior?  Sali.  Cat, 
44  qui  sim,  ex  eo,  quem  ad  te  misi,  cognosces;  Catull  66,  42 
sed  qui  se  ferro  postulet  esse  parem  ?  Martial  selbst  hat  V 
33,  1  carpere  causidicus  fertur  mea  carmina:  qui  sit,  nescio. 
Qui  sit  schreiben  die  Herausgeber  in  Uebereinstimmung  mit 
der  Ueberlieferung.  IX  95  b,  2  si  scio ,  dispeream ,  qui  sit 
Athenagoras)  quid  A"^  qui  B^C^:  die  Herausgeber  schreiben 
qui;  ebenso  mit  B-^  II  23,  2  qui  sit  Postumus  in  meo  libello. 
IV  3,  7  ist  einheUig  überliefert:  qui  siccis  lasciuit  aquis  et 
ab  aethere  ludit?  Die  Herausgeber  schreiben  quis.  Man  be- 
merkt: in  indirekten  Fragen  lassen  sie  substantivisches  qui 
gelten,  in  direkten  widerstrebt  es  ihnen.  Mit  welchem  Rechte? 
Qui  (=  quis)  ist  an  unserer  Stelle  ebenso  richtig  wie  IV  3,  7. 

M.  hat,  wie  öfter,  einen  bekannten  Namen  der  Vergangen- 
heit gewählt,  um  sofort  ein  deutliches,  typisches  Bild  im  Geiste 
des  Lesers  hervorzurufen.  Belehrend  in  dieser  Hinsicht  ist 
III  9:  uersiculos  in  me  narratur  scribere  Cinna:  non  scribit, 
cuius  carmina  nemo  legit.  Weshalb  man  diese  Verse  nicht 
las,  begriff  der  Leser  sofort  aus  dem  Namen:  er  dachte  an 
Helvius  Cinna,  dessen  Zmyrna  wegen  ihrer  Dunkelheit  berüch- 
tigt war:  X  21,  3  von  lectore  tuis  opus  est,  sed  Apolline  lib- 
ris:  iudice  te  maior  Cinna  Marone  fuit.     So  führt  hier  M.  den 


2)  Hiernach  ist  X  30,  25  zu  schreiben :  frni  sed  istis  quando  Roma 
permittit?     Permittit  B^.,  permittis  C^'^. 


Zu  Martial.  93 

Cerylus  ein,  einen  Freigelassenen  des  Vespasian,  qui  diues  ad- 
modum  ob  subterfugiendum  quandoque  ius  fisci  ingenuum  se  et 
Lacheteni  mutato  nomine  coeperat  ferre  (Suet.  Vesp.  23).  —  In 
te  dicit  ist  nicht  =  contra  te  dicit,  sondern  te  ist  Ablativ :  in  te 
„bei  dir,  in  deinem  Falle".  Vgl.  I  10,  4  quid  ergo  in  illa  pe- 
titur  et  placet?  Tussit.  Caes.  b.  G.  VII  21,  1  conclamat  omnis 
multitudo  .  .,  quod  t'acere  in  e  o  consuerunt,  cuius  orationem 
approbant.  Sali.  Cat.  51,  35  atque  ego  haec  non  in  M.  Tul- 
lio  neque  bis  temporibus  uereor.  —  Der  Sinn  ist:  „du  nimmst 
dir  zu  viel  heraus,  du  bist  zu  frei",  sagst  du  mir  immer,  Cery- 

Wer,  Cerylus,  sagt  von  dir:  „ er  ist  frei " ?  Der  Witz  beruht 
auf  dem  Doppelsinn  von  liber.  Es  gibt  sehr  viele  Epigramme 
dieser  Art:  z,  B.  VII  75  uis  futui  gratis,  cum  sis  deformis 
anusque:  res  perridicula  est:  uis  dare  nee  dare  uis.  —  Zur 
Gestaltung  des  Ausdrucks :  in  te  qui  dicit,  Ceryle :  'liber  homo 
est'?  vgl.  VII  99,  5:  dicere  de  nobis  ut  lector  candidus  aude: 
'Temporibus  praestat  non  nihil  iste  tuis,  nee  Marso  nimium 
minor  est  doctoque  Catullo'.  —  Der  Vorwurf  des  Cerylus,  M. 
sei  zu  ungeniert,  geht  nicht  etwa  auf  dessen  Gedichte,  wie 
man  zunächst  denken  sollte.  Was  gemeint  ist,  zeigt  VI  88: 
Mane  salutaui  uero  te  nomine  casu  nee  dixi  dominum,  Caeci- 
liane,  meum.  Quanti  libertas  constat  mihi  tanta  („ eine 
so  geringe"),  requiris?     Centum  quadrantes  abstulit  illa  mihi. 

Um  die  ganze  Bosheit  unseres  Epigramms  zu  genießen 
und  um  zu  begreifen,  wie  gründlich  Cerylus  abgetrumpft  wird, 
muß  man  sich  an  die  soziale  Lage  des  Freigelassenen  erinnern. 
Mochte  der  Freigelassene  (Friedländer,  Sittengesch. ^  I  198) 
noch  so  reich  sein,  es  kam  nie  dahin,  daß  er  dem  Freien  als 
ebenbürtig  galt.  „An  deinem  Geburtstag",  sagt  M.  X  27  zu 
einem  Freigelassenen,  „speist  der  ganze  Senat  und  eine  große 
Anzahl  von  Rittern  bei  dir.  Nemo  tarnen  natum  te,  Diodore, 
putat".  Gern  nahm  daher  der  Freigelassene  einen  andern  Na- 
men an,  um  sein  Herkommen  vergessen  zu  machen:  \1  17 
Cinnam,  Cinname,  te  iubes  uocari.  Non  est  hie  rogo,  Cinna, 
barbarismus?  ^).     In  I  67   liegt    noch    eine    besondere   Bosheit 


')  Die  Pointe  des  Epigramms  liegt  aber  erst  in  den  Schlußzeilen: 
tu  si  Furius  ante  dictus  esses ,  für  ista  ratione  dicereris.  Cinnamus 
war  ein  bekannter  Wucherer  (IX  92,  8). 


94  GustavFriedrich, 

darin,   daß  M.  nicht  den  Namen  Ladies   wählt,    sondern    den 
früheren,    den  der  Angeredete  als  unfreier  Mann  geführt  hat. 

Von  hier  aus  erhält  nun  Licht  das  rätselhafte  XI  94,  5  fg. : 
Illud  me  cruciat,  Solymis  quod  natus  in  ipsis 

Paedicas  puerum,  uerpe  poeta,  meum. 
Ecce  negas  iurasque  mihi  per  templa  Tonantis: 
Non  credo:  iura,  uerpe,  per  Anchialum. 

Anchialus  ist  ein  gar  nicht  seltener  Name:  IL  5,  608  ev9-' 
"ExTwp  oüo  cpwxe  xatexxavev  eidoxe  y^dpiirjC,  slv  sv:  occppw  eovxe, 
Mevsa^rjv  "Ayx^a^o^  ^^e;  Od.  1,  180  Uivz-qc,  ''Ayx^dXaio  Saf(ppo- 
V05  euy^o\).a.i  etvat  oloc,;  vor  allem  Cic.  fam.  13,  45  L.  Egnatio 
uno  equite  Romano  familiarissime  utor.  Eins  Anchialum 
s  e  r  u  u  m  .  .  tibi  commendo  (Höfer  und  Klebs  in  Pauly-Wis- 
sowa's  Reallex.).  Der  Angeredete  ist  in  Rom  als  freigeborener 
Mann  aufgetreten  und  hat  dafür  gegolten.  Da  schleudert 
ihm  plötzlich  M.  seinen  früheren  Sklavennamen  ins  Gesicht: 
„Schwöre  nicht  beim  Tempel  des  Jupiter,  schwöre  bei  dem, 
was  du  früher  warst,  schwöre  bei  —  Anchialus."  Nach  römi- 
schen Anschauungen  war  das  die  furchtbarste  Rache,  die  M. 
nehmen  konnte.  —  Trotz  seinem  griechischen  Namen  konnte 
Anchialus  sehr  wohl  Jude  sein.  Lucian  hat  auch  einen  west- 
lichen Namen  und  ist  trotzdem  Semit  (Jude  oder  Syrer) :  der 
jüdische  Reporterstil,    der  semitische  Witz  sind  unverkennbar. 

In  I  67  und  noch  mehr  III  9  (uersiculos  in  me  narratur 
scribere  Cinna:  non  scribit,  cuius  carmina  nemo  legit)  ist  der 
Name  nicht  gleichgültig;  er  gehört  vielmehr  notwendig  zum 
Gedicht,  von  ihm  aus  wird  es  erst  ganz  verständlich.  Einen 
solch  erklärenden  Namen  sollte  man  auch  erwarten  II  82 : 
Abscisa  seruum  quid  figis,  Pontice,  lingua? 
Nescis  tu  populum,  quod  tacet  ille,  loqui? 

Aber  aus  keinem  Epigramm,  in  dem  sonst  M.  von  Ponti- 
cus  redet,  ergibt  sich,  welche  Schandtaten  ihm  vorgeworfen 
wurden  (Friedländer).  Und  doch  muß  es  sich  hier  um  eine 
wirkliche  Person  handeln  und  um  notorische  Schandtaten:  vgl. 
V  69,  7  quid  prosunt  sacrae  pretiosa  silentia  linguae?  Inci- 
pient  omnes  pro  Cicerone  (an  Stelle  des  Cicero)  loqui.  — 
Oefter  ist  in  den  codd.  des  M.  a  mit  ci  und  ic  verwechselt 
worden:    II  praef.    dicturus)    daturus    PQ;    VIII  3,  12   ages) 


Zu  Martial.  95 

cites  T;  IV  75,  2  Latias)  latices  T,  Dies  latices  ist  ent- 
standen aus  laticis.  Wenden  wir  die  Folge  Latias:  laticis: 
latices  auf  Pontia  an,  so  erhalten  wir:  Pontia:  Pontici:  Pon- 
tice.  Wie  leicht  Pontice  aus  Pontia  werden  konnte,  beweist 
auch  n  34,  6  o  mater,  qua  nee  Pontia  deterior)  pontica  B^. 
Da  haben  wir  jedenfalls  die  notorische  Verbrecherin.  Da  ha- 
ben wir  die  Verbrechen,  die  doch  im  Schöße  der  Familie 
begangen  sein  müssen,  da  die  Anzeige  eines  Sklaven  gefürch- 
tet wird.  Vgl.  Juven.  6,  638  sed  clamat  Pontia  'feci,  confi- 
teor,  puerisque  meis  aconita  paraui'.  Dazu  der  Scholiast: 
Pontia,  Publi  Petroni  filia,  quem  Nero  conuictum  in  crimine 
coniurationis  danmauit,  defuncto  marito  filios  suos  ueneno  ne- 
casse  conuicta  .  .  uenis  incisis  .  .  extincta  est. 

3. 
IV  25,  5 : 

Et  tu  Ledaco  felix  Aquileia  Timauo, 
Hie  ubi  septenas  Cyllarus  hausit  aquas. 
So  schreibt  man  allgemein.  Hausit  PQ  (=  B^);  haurit 
EXA.BF  (=  C^);  aurit  T  (=  A^).  Hausit  ist  also  schlech- 
ter bezeugt  als  haurit.  Ferner:  gerade  B-^  setzt  oft  das  Per- 
fektum  für  das  Präsens :  I  praef.  sie  scribit  Catullus)  scribit 
C"^  scripsit  B^;  IV  89,  7  iam  lector  queriturque  deficitque) 
defecitque  B^^;  VI  13,  3  Candida  non  tacita  respondet  imagine 
lygdos)  respondit  B'^;  XII  81,  2  mittebat  Umber  aliculam 
mihi  pauper,  nunc  mittit  alicam)  misitB^;  IV  13,  1  Claudia, 
Rufe,  meo  nubit  Peregriua  Pudenti)  nubit  A"^  C^,  nupsitB^; 
XI  77,  1  in  Omnibus  Vacerra  quod  conclauibus  consumit  ho- 
ras)  consumit  C^,  consumpsit  B-^.  Hausit  ist  also  nicht  nur 
schlechter  bezeugt  als  haurit,  sondern  es  ist  schlecht  bezeugt. 
Und  nun  kommt  die  Grammatik.  Gerade  in  Relativsätzen  ist  das 
Präsens  statt  eines  Präteritums  überaus  häufig:  Hör.  sat.  I  6,  12 
contra  Laeuinum,  Valeri  genus,  unde  Superbus  Tarquinius 
regno  pulsus  fügit,  unius  assis  non  umquam  pretio  pluris 
licuisse;  Virg.  Aen.  9,266  (dabo)  cratera  antiquum,  quem  dat 
Sidonia  Dido;  Prop.  IV  4,  53  te  toga  picta  decet,  non  quem 
sine  matris  honore  n  u  t  r  i  t  inhumanae  dura  papilla  lupae ; 
Stat.  silv.  I  6,  101  dumque  terris  quod  r  e  d  d  i  s  (=  reddidisti) 


96  GustavPriedrich, 

Capitolium  manebit ;  und  so  noch  sehr  oft.  M.  selbst  hat  IX 
43,  7  hoc  habuit  numen  Pellaei  mensa  tyranni,  qui  cito  per- 
domito  uictor  in  orbe  iacet  (=  iacuit) ;  VII  55,  6  linges  non 
mihi  —  nara  proba  et  pusilla  est  —  sed  quae  de  Solymis 
uenit  perustis  damnatam  modo  mentulam  tributis  (uenit  statt 
uenit).  Das  gut  überlieferte  haurit  ist  entschieden  richtig,  das 
schlecht  überlieferte  hausit  ist  entschieden  falsch.  Uebrigens 
zweifle  ich  nicht,  daß  auch  VIII  28,  7  an  tua  multifidum  nu- 
merauit  lana  Timauum,  quem  pius  astrifero  Cyllarus  ore  bi- 
bit  von  M.  bibit  als  Präsens  gedacht  ist. 

4. 

IV  58  lautet  bei  allen  Herausgebern: 

In  tenebris  luges  amissum,  Galla,  maritum. 
Nam  plorare  pudet  te,  puto,  Galla,  uirum. 

Galla  kommt  bei  M.  nur  in  obscönen  Gedichten  vor:  sie 
ist  ihm  der  Typus  der  liederlichen,  ja  käuflichen  Ehebrecherin. 
Besonders  instruktiv  für  IV  58  ist  IX  78 :  funera  post  septem 
nupsit  tibi  Galla  uirorum,  Picentine:  sec[ui  uult,  puto,  Galla 
uiros.  Galla  hat  durch  ihr  Verhalten  wieder  einmal  einen 
Mann  unter  die  Erde  gebracht.  Sie  heuchelt  lauten  Schmerz, 
zeigt  sich  ganz  untröstlich ,  aber  jedermann  durchschaut  die 
Heuchlerin  imd  ist  über  ihr  Benehmen  empört.  Dazu  paßt 
nun  in  tenebris  luges  amissum  maritum  gar  nicht.  Denn  dann 
betrauerte  sie  den  Verstorbenen  wirklich ,  dann  wäre  ihr 
Schmerz  echt:  ille  dolet  uere,  qui  sine  teste  dolet  (T  33,  4). 
Das  kann  M.  nicht  sagen  wollen.  Es  kommt  hinzu,  daß  A"^ 
iam  hat,  B"^  und  C'^  non:  nam  ist  also  ohne  jede  handschrift- 
liche Unterlage.     Es  ist  zu  schreiben  : 

In  tenebris  luges  amissum,  Galla.  maritum  ? 
Iam  plorare  pudet  te,  puto,  Galla,  uirum. 

„Weil  dein  öffentliches  Wehklagen  verstummt  ist,  sollen 
wir  wohl  glauben,  daß  du  deinen  Mann  in  der  Stille,  also 
ernstlich  betrauerst?  Nein,  du  hast  nur  endlich  (iam)  be- 
griffen." Ganz  genau  so  ist  iam  gebraucht  I  87:  Ne  grauis 
hesterno  fragres,  Fescennia,  uino,  pastillos  Cosmi  luxuriosa 
uoras  .  .  Quid  quod  ölet  grauius  mixtum  diapasmate  uirus 
atque    duplex   animae    longius    exit    odor?     Notas    ergo  nimis 


Zu  Martial.  97 

fraudes  deprensaque  furta  i  a  m  t  o  1 1  a  s  et  sis  ebria  simpli- 
citer.  Man  beachte  die  Interpunktion :  longius  exit  odor  ?  iam 
tollas.  Das  ist  genau  unser  luges  maritum?  iam  plorare 
pudet. 

5. 

V  24,  11  fg.: 

Hermes  belligera  superbus  hasta,  11 

Hermes  aequoreo  minax  tridente, 

Hermes   casside  languida  timendus, 

Hermes  gloria  Martis  uniuersi: 

Hermes  omnia  solus  et  ter  unus.  15 

In  V.  11  wird  Hermes  deutlich  als  veles  bezeichnet:  Cic. 
Brut.  271  ut  hastae  uelitibus  amentatae;  Liv.  38,  21,  13  hie 
miles  (veles)  tripedalem  parmam  habet  et  in  dextera  hastas, 
quibus  eminus  utitur.  In  v.  12  ist  Hermes  ebenso  deutlich 
retiarius  (Fried).  Sittengesch.  II  480).  Der  retiarius  entbehrte 
des  Helmes,  wie  überhaupt  jeder  Kopfbedeckung.  Es  ist  nun 
ein  guter  Fortschritt  in  der  Darstellung,  wie  ein  zweckmäßiger 
Gegensatz  nach  dem  Sinn  des  Gedichtes  (v.  3  Hermes  Om- 
nibus eruditus  armis),  wenn  Hermes  auch  Gladiator  mit  dem 
Helm  war:  in  v.  13  ist  also  schwerlich  mit  Reitzenstein  (Hel- 
lenistische Wundererzählungen  S.  126)  und  DufF  casside  als  an- 
fechtbar anzusehen.  —  Bei  Juven.  8,  201  kämpft  ein  retiarius 
mit  einem  secutor,  der  einen  Helm  trug.  Hermes  hätte  dem- 
nach bald  als  retiarius  gegen  einen  secutor,  bald  als  secutor 
gegen  einen  retiarius  gekämpft.  Noch  besser  aber  denkt  man 
an  einen  Samnis,  bei  dem  der  Helm  ganz  besonders  ins  Auge 
fiel:  Liv.  9,  40,  3  (Samnitium)  galeae  cristatae  quae  speciem 
magnitudini  corporum  adderent.  Wenn  Hermes  als  Samnis 
durch  den  Helm  ein  martialischeres  Aussehn  bekam,  so  paßt 
dazu  vortrefflich  timendus,  nicht  aber  languida.  Es  ist  zu 
schreiben  casside  lucida.  Das  ist  sachlich  richtig:  lucidus 
findet  sich  von  Waffen  gebraucht  bei  Virg.  Aen.  5,  306 :  Gno- 
sia  bina  dabo  leuato  lucida  ferro  spicula.  Die  paläographische 
Ableitung  aber  ist  evident.  In  den  codd.  des  M.  sind  a  und 
u  oft  verwechselt  worden:  X  5,  5  buccas)  bacas  T;  X  48,  13 
Gustus)    Gastus    B^;    XI  100,  6    carnarius)    carnunarius   ß-^, 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  1.  7 


98  GustavFriedrich, 

na  u 

d.  i.  carnurius ;  VI  21,  3  nequius)  nequiaus  B"^,  d.  i.  nequias. 

•  u 

Genau  so  fand  der  Schreiber  in  unserm  Falle  lacida.  Weil 
aber  ferner  in  den  codd.  des  M.  oft  C  und  G  verwechselt  wor- 
den sind  (z.  B.  III  55,  3  Gellia)  cellia  B^;    IV  82,  4  tetrica) 

u  u 

tetriga  C'^;  XIII  81,  1  gerat)  cerat  T),  so  las  er  lacida  als  la- 

gida.  Er  nahm  nun  wie  VI  21,  3  (nequiaus  aus  nequias)  das 
u  in  das  Wort  hinter  g  und  schob  —  um  des  lateinischen  Wor- 
tes willen  —  ein  n  ein :  languida.  Vgl.  VII  64,  9  Siculis) 
singulis  C^;  VII  20,  8  placentae)  plangentem  B'"^.  Auch  da 
ist,  sobald  c  als  g  gelesen  wurde,  ohne  weiteres  ein  n  und 
zwar  vor  g  eingeschoben  worden. 

6. 
V  38  lautet  bei  Lindsay  wie  bei  Friedländer: 
Calliodorus  habet  censuui  —  quis  nescit?  —  equestrem, 

Sexte,  sed  et  fratrem  Calliodorus  habet. 
'Quadringenta  seca'  qui  dicit,  aöxa  [i.zpiZ,ei; 

Uno  credis  equo  posse  sedere  duos? 
Quid  cum  fratre  tibi,  quid  cum  Polluce  molesto?  5 

Non  esset  FoUux  si  tibi,  Castor  eras. 
Unus  cum  sitis,  duo,  Calliodore,  sedetis? 

Surge:  aoXotxca[xov,  Calliodore,  facis. 
Aut  imitare  genus  Ledae  —  cum  fratre  sedere 
Non  potes  — :  alternis,  Calliodore,  sede. 
In  V.  3  ist  zweimal  geändert:  mit  Rutgers  das  überlieferte 
secat  in  seca  und  mit  Paley  [lipi^s  in  [lepiZ^ei :  so  sei  zu  schrei- 
ben, da  durch  die  sprichwörtliche  Redensart  die  Aufforderung 
zur    Teilung    des    Rittercensus    als    ungereimt    charakterisiert 
werden  solle,    nicht  umgekehrt.     Aber  auch  schon  durch  seca 
wird  quadringenta    als    etwas  Einheitliches    und    eine  Teilung 
als  widernatürlich  bezeichnet.     Denn  secare  ist  nicht  „teilen" 
schlechthin,  sondern  „zerschneiden,  gewaltsam  zerlegen":    vgl. 
des  Quintilian  (IV  5,  25)    tadelndes:    quae    natura    singularia 
sunt,  secant.    In  der  Tat  ist  quadringenta  seca  so  widernatür- 
lich   wie   aüxa    [i-Ep^t^e;    das   letztere   ist   nur  drastischer.     Die 
beiden  Imperative  stehen  tautologisch  neben  einander,    wie  so 


Zu  Martial.  99 

oft  gleich  liegende  Satzglieder  bei  M. :  VIII  75,  5  quid  faceret 
Gallus,  qua  se  ratione  moueret;  XI  70,  9  uende  senes  seruos, 
ignoscent,  uende  paternos:  und  so  noch  sehr  oft.  —  Duff 
schreibt  nach  Postgate:  'Quadringenta  seca'  qui  dicis,  aöxa 
^l£pl^^£.  Also  zwei  Aenderungen  der  Ueberlieferung !  Zu  qui 
dicis  kann  nicht  Sextus  Subjekt  sein  (denn  dann  müßte  os 
heißen:  quadringenta  secet),  sondern  der  Bruder  Calliodorus. 
Der  soll  sagen :  'quadringenta  seca'  ?  Das  soll  er  ja  selbst 
tun.  —  Jedenfalls  erfordert  aüxa  \iipiL,e  die  Aenderung  von 
secat  in  seca,  das  an  dicit  leicht  angeglichen  wurde  *) ;  sonst 
aber  ist  die  Ueberlieferung  einwandsfrei.  Es  ist  zu  schreiben: 
Sexte,  sed  et  fratreni  Calliodorus  habet,  "quadringenta  seca' 
qui  dicit  'aüxa  [xip-.Ce'.  Uno  credis  equo  posse  sedere  duos? 
Qui  dicit  bezieht  sich  auf  fratrem,  und  credis  ist  an  Calliodo- 
rus gerichtet,  wie  sofort:  quid  cum  fratre  tibi,  quid  cum  Pol- 
luce  molesto?  Wenn  der  Bruder  so  brutal  auftritt,  erklärt 
sich  ganz  besonders  seine  Bezeichnung  als  Pollux  molestus: 
dann  erklärt  es  sich  auch,  wie  M.  dem  Calliodorus  die  harten 
Worte  zurufen  kann :  quid  cum  fratre  tibi  ?  Der  Bruder  be- 
nimmt sich  danach!  Man  muß  sich  daran  erinnern,  wie  M. 
gerade  die  sich  bescheidende  Bruderliebe  feiert:  z.  B.  XI  10: 
Contulit  ad  saturas  ingentia  pectora  Turnus.  Cur  non  ad  Me- 
moris  carmina  ?  Frater  erat.  Und  so  noch  oft.  Daß  sich 
qui  dicit  über  Calliodorus  hinweg  auf  fratrem  bezieht,  ist 
nicht  auffallend:  vgl.  V  3,  5  sors  mea  quam  fratris  melior. 
cui  (auf  mea,  nicht  auf  fratris  bezüglich)  tarn  prope  fas  est 
cernere,  tarn  longe  quem  colit  ille  deum.  Es  ist  richtig,  das 
Distichon  v,  3.  4  bildet  kein  einheitliches  Ganzes,  aber  das 
findet  sich  öfter,  z.  B.  I  31,  3.  4;  IX  8,  5.  6. 

V.  7.  8  schreiben  Duff  und  Lindsay  nach  Markland: 
Unus  cum  sitis,  duo,  Calliodore,  sedebis? 
Surge:  aoAO'.xta[x6v,  Calliodore,  facis. 

Also  sedebis  statt  des  überlieferten  sedetis.  Aber  da  surge 
folgt,  ist  das  Futurum  sedebis  falsch:  denn,  wenn  er  aufstehn 
soll,  muß  er  von  M.  schon  sitzend  gedacht  werden.    Duo  sedebis 


*)  Vgl.  IX  86,  4  'ipse  meum  fleui'  dixit  Apollo  'Linon'.)  fleuit  B-'^ 
VIII  43,  1  effert  uxores  Fabius,  Chrestilla  maritos  .  .  uictores  committe, 
Venus)  committit  B-^. 


100  Gustav   Friedrich, 

soll  vermutlich  der  aoXoixccjxo;  sein.  Duo  gehört  aber  durch- 
aus zu  sitis:  Caliiodorus  und  sein  Bruder  sind  eben  zwei. 
Aber  sie  steigen  zu  Pferde,  als  wären  sie  einer:  im  gewöhn- 
lichen Lauf  der  Dinge  ist  auf  dem  Rücken  eines  Pferdes  nur 
für  einen  Menschen  Platz.  Unus  gehört  mit  sedetis  zusammen, 
und  das  ist  der  aoXoix:a[i,cs ;  unus,  cum  sitis  duo,  Calliodore, 
sedetis?  Zu  der  Zusammengehörigkeit  des  ersten  und  letzten 
Wortes  im  Vers  vgl.  VII  35,  3  sed  mens,  ut  de  me  taceam, 
Laecania,  seruus. 

7. 

V  78  lädt  M.  einen  guten  Freund,  Toranius,  mit  außer- 
ordentlicher Herzlichkeit  zu  einem  einfachen  Mahle  ein:  pone- 
tur  digitis  tenendus  ustis  nigra  coliculus  uirens  pateJla  (6)  .  , 
mensae  munera  si  uoles  secundae,  marcentes  tibi  porrigentur 
uuae  (12)  .  .  uinum  tu  facies  bonum  bibendo  (16)  .  .  parua 
est  cenula  (quis  potest  negare  ?),  sed  finges  nihil  audiesue  Ac- 
tum et  uultu  placidus  tuo  recumbes  (22).  Dann  kommt  plötz- 
lich am  Schluß  v.  31 : 

Haec  est  cenula.     Claudiam  sequeris, 
Quam  nobis  cupis  esse  tu  priorem. 

„Eine  ganz  unverständliche  Stelle",  bemerkt  Friedländer. 
Zu  Claudiam  ist  aus  dem  Zusammenhang  zu  denken  cenam, 
und  cenam,  quam  nobis °)  cupis  esse  tu  priorem  ist  zu  ver- 
stehn  nach  Hör.  epp.  I  5,  27  et  nisi  cena  prior  potiorque 
puella  Sabinum  detinet  adsumam.  Cenam  sequi  ist  =:  cenam 
captare :  vgl.  Caesar  b.  c.  I  1,  3  sin  Caesarem  respiciant  atque 
eius  gratiam  sequantur;  Hoc.  c.  IV  11,  26  exemplum  graue 
praebet  ales  Pegasus  terrenum  equitem  grauatus  Bellerophon- 
tem,  semper  ut  te  digna  sequare.  Der  Sinn  ist  also:  „Das 
ist  die  Mahlzeit.  Klein,  reizend.  Natürlich  —  wirst  du  nach 
einer  andern  (etwa  bei  Claudius  Etruscus)  angeln,  von  der  du 
wünschest,  daß  sie  vor  der  meinigen  stattfinde".  Das  ist  bru- 
tal ,  aber  richtig  beobachtet.  Genau  wie  III  68 :  Exuimur : 
nudos  parce  uidere  uiros.  ...  Si  bene  te  noui,  longum  iam 
lassa  libellum  ponebas,  totum  nunc  studiosa  legis.  —  Uebrigens 


*)  Nobis  ist  abgekürzte  Vergleichung ,    wie  sie   sich  so  oft  findet: 
XII  44,  3  carinina  cum  facias  soli  cedentia  fratri  (=  carminibus  fratris). 


Zu  Martial.  101 

ist  der  Schluß,  so  verstanden,  schon  im  ersten  Vers  des  Epi- 
gramms angekündigt:  si  tristi  domicenio  laboras.  Vgl.  die 
sehr  ähnliche  Einladung  XI  52  :  Cenabis  belle,  luli  Cerealis, 
apud  me;  condicio  est  melior  si  tibi  nulla,  ueni.  Nur  kommt 
in  unsrem  Epigramm  der  Schluß  härter  und  —  wahrer  heraus. 
Und  —  Winterkohl,  in  Salpeter  gekocht,  ist  nicht  gerade 
verlockend;  ebenso  wenig  ein  Wein,  quod  tu  facies  bonum 
bibendo;  eine  andalusische  Tänzerin  ist  am  Ende  auch  amü- 
santer als  die  dünne  Musik  der  Rohrpfeife.  Ich  fürchte,  gar 
viele  unter  uns  würden  uns  verhalten,  wie  M.  hier  von  To- 
ranius  vermutet. 

8. 
VI  14: 

Versus  scribere  posse  te  disertos 
Affirmas,  Laberi:  quid  ergo  non  uis? 
Versus  scribere  qui  potest  disertos, 
Non  scribat,  Laberi :  uirum  putabo. 
Duff  bezeichnet  non  scribat  als  unecht;  Friedländer  und 
Lindsay  schreiben  nach  Schneidewin  conscribat.  Aber  M.  sagt 
nie  anders  als  uersus,  uersiculos,  epigrammata,  carmina  scri- 
bere. Conscribere  findet  sich  bei  ihm  überhaupt  nicht.  — 
Zu  Martials  Zeit  dichtete  alles,  alles  rezitierte.  M.  klagt  un- 
aufhörlich über  die  ewigen  Rezitationen.  XIV  10  preist  er 
einen  Dichter  als  Wohltäter,  der  unbeschriebene  Seiten  sendet: 
non  est,  munera  quod  putes  pusilla,  cum  donat  uacuas  poeta 
Chartas.  Unter  diesen  Umständen  ist  es  natürlicher  und  wahr- 
scheinlicher ,  daß  M.  jemanden ,  der,  wenn  es  ihn  dichterte, 
diesem  Drange  nicht  nachgab,  als  ganzen  Mann  ansah,  als 
wenn  der  Betreffende  Verse  machte.  —  Freilich  ist,  wenn 
man  das  überlieferte  non  scribat  beibehält,  die  Umbiegung  am 
Schlüsse  überraschend,  da  man  nach  den  beiden  ersten  Zeilen 
allerdings  erwartet:  conscribat.  Man  erwartet  es,  und  —  da- 
rum bringt  M.  es  eben  nicht.  Hierauf  beruht  die  Wirkung 
seines  Epigramms;  allein  darum  ist  es  ein  Epigramm.  Ganz 
genau  so  verblüffen  einige  andere  Vierzeiler  durch  ihren  Schluß 
(wir  befinden  uns  also  mit  non  scribat  in  einem  Mittelpunkt 
der  Epigrammenkunst  des  M.),  z.  B.  VI  51: 

Quod  conuiuaris  sine  me  tarn  saepe,  Luperce, 


102  Gustav    Friedrich, 

Inueni,  noceam  qua  ratione  tibi. 
Irascor:   licet  usque  uoces  mittasque  rogesque  — 
'Quid  facies?',  inquis '').     Quid  faciam?    ueiiiaiu. 
Fast  noch  ähnlicher  ist  XI  93: 

Pierios  uatis  Theodori  flamma  penates 

Abstulit.    Hoc  Musis  et  tibi,  Phoebe,  placet? 
0  scelus,  o  magnum  facinus  crimenque  deorum, 
Non  arsit  pariter  quod  domus  et  dominus. 
Man   hätte   sich    vielleicht    schon    längst    mit   non  scribat 
abgefunden,    wenn  nicht  das  non  wäre,    wofür  man  ne  erwar- 
tet.   Aber  non  findet  sich  so  Ovid.  a.  a.   1,  389  aut  non  temp- 
taris  aut  perfice ;  Pont.  I  2,  105  non  petito,  ut  bene  sit;  Hör. 
epp.    I    18,  72    non    ancilla    tuum    iecur    ulceret    ulla   puerue; 
Senec.  Phaedr.  946  non  cernat  ultra  lucidum  Hippolytus  diem; 
Juveu.   16,  28    non    sollicitemus    amicos.      Und   so    noch    sehr 
oft.     M.  selbst  hat  non  oft  so,    z,  B.  I  praef.  non  intret  Cato 
theatrum  meum  aut,  si  intrauerit,  spectet;  I  55,  13  non  amet 
hanc  uitam,  quisquis  me  non  amat,  opto.     Man  bemerkt:  non 
intret,  non  amet  — :  das  ist  genau  unser  non  scribat. 

y. 

VI  58,  1.  2  schreibt  man  allgemein: 

Cernere  Parrhasios  dum  te  iuuat,  Aule,  triones 
Cominus  et  Getici  sidera  pigra  poli. 
Pigra  B-^,  ferre  C^^.  Es  ist  zunächst  festzustellen,  daß 
cominus  vortrefflich  zu  cernere  gezogen  werden  kann:  gerade 
eins  der  hauptsächlichsten  Vorbilder  des  M.,  Ovid,  hat  Pont.  I 
5,  74  a  s  p  i  c  i  t  hirsutos  c  o  m  m  i  n  u  s  Ursa  Getas.  M.  selbst 
hat  V  3,  5  sors  mea  quam  fratris  melior,  cui  tam  prope 
fas  est  cernere,  tam  longe  quem  colit  ille  deum.  —  Das 
erste  Wort  des  Pentameters  gehört  bei  M.  unendlich  oft  zum 
Hexameter:  sofort  (v.  7)  kommt: 

Si  mihi  lanificae  ducunt  non  pulla  sorores 


^)  Liudsay  schreibt  inquit  mit  A^C-^;  B-^  hat  inquis.  Hierin  ist 
C^^  ohne  Autorität  (vgl.  S.  91).  Es  stehen  sich  nur  A^  und  B-^  ge- 
genüber: der  Sinn  des  Gedichtes  entscheidet  für  inquis.  Vgl.  einige 
andere  Fälle  dieser  Art,  wo  B-^  gegen  A-"^  und  C'^  das  Richtige  bie- 
tet: XII  53,6  sed  causa  .  .  dirae  filius  est  rapacitatis)  es  A-^  C-^:  est 
B^.  XII  94,9  quid  minus  esse  potest?)  potes  A-^  C-^:  potest  BA. 


Zu  Martial.  103 

Stamina  nee  surdos  uox  habet  ista  deos.  — 
Ferner     ist    sidera    ferre    in    der    Manier    des    M. :     vgl. 
IX  45,  1 : 

Miles  Hyperboreos  modo,  Marcelline,  triones 
Et  Getici  t  nie  ras  sidera  pigra  poli. 
Aus  dem  letzten  Pentameter  ist  entweder  ferre  von  C^'^ 
oder  pigra  von  B'^  in  den  unsrigen  interpoliert  worden.  Es 
versteht  sich  von  selbst,  daß  ein  Schreiber  eher  das  fertige 
sidera  pigra  herübernahm  als  sidera  ferre  aus  tuleras  sidera. 
—  Man  vergl.  ferner  I  116,  1  hoc  nemus  aeterno  cinerum 
sacrauit  honori  Faenius  et  culti  iugera  pulchra  soli.  lugera 
pulchra,  das  der  Sinn  des  Gedichtes  erfordert,  haben  A-^  C-^, 
dagegen  B"^  iugera  pauca:  das  stammt  aus  dem  beträchtlich 
späteren  VI  16,  2  iugera  sepositi  pauca  tuere  soli.  —  XII  33,  1 
ut  pueros  emeret  Labienus  uendidit  hortos.  So  hat  C"^,  ß"^ 
dagegen  uendidit  agros,  weil  es  IX  21,  1  (von  derselben  Sache) 
heißt:  Artemidorus  habet  puerum,  sed  uendidit  agrum.  — 
XII  11,  7.  8  quattuor  et  tantum  timidumque  breuemque  li- 
bellum  commendet  uerbis  ,Huuc  tua  Roma  legit'.  PQ  haben 
commenda.  Zunächst  glaubt  man,  das  sei  irrige  Angleichung 
an  v.  6:  tradat  ut  ipse  duci  carmina  nostra  roga.  Es 
stammt  aber  aus  dem  ganz  gleichartigen  IV  82,  1  hos  quoque 
commenda  Veuuleio,  Rufe,  libellos  inputet  et  nobis  otia 
parua  roga.  —  V  30,  5  sed  lege  fumoso  non  aspernanda 
Decembri  carmina,    mittuntur  quae  tibi  mense   suo.      B^  hat 

suo 

mense  nouo:  dies  stammt  aus  X  41,  1:  mense  nouo  lani 
ueterem,  Proculeia,  maritum  deseris.  —  1 108,9  ipse  salutabo  de- 
cuma  te  saepius  hora.  Te  saepius  hatC"^,  dagegen  B"^  uel  serius, 
und  das  stammt,  wie  Lindsay  gesehen,  aus  III  36,  5  lassus 
ut  in  thermas  decuma  uel  serius  hora  te  sequar  Agrippae.  — 
XII  97,  8  sed  (seil,  mentula)  nee  uocibus  excitata  blandis  molli 
pollice  nee  rogata  surgit.  Vocibus  excitata  blandis  hat  C"^, 
B^  uocibus  excitata  sentit:  dies  kuriose  sentit  stammt  aus 
XI  60,  7,  wo  es  in  verwandtem  Zusammenhang  steht:  at  Chione 
non  sentit  opus.  —  XII  61,  5  in  tauros  Libyci  ruunt  leones) 
ruunt  C-^  mit  A^^,  dagegen  fremunt  B"^:  das  stammt  aus  VIII 
55,  3,  wo  die  Wirkung  geschildert  wird,   die  ein  Löwe  durch 


104  Gustav   Friedrich, 

sein  Gebrüll  hervorbringt:  pallidus  attonitos  ad  Poena  mapalia 
pastor  cum  revocat  tauros  et  sine  mente  pecus :  tantus  in  An- 
sonia  f  r  e  m  u  i  t  modo  terror  barena.  —  Die  Beispiele  können 
vermehrt  werden.  Die  Nutzanwendung  für  unser  Gedicht  er- 
gibt sich  von  selbst:  B-^  bat  sidera  pigra  aus  dem  späteren 
Gedicht  interpoliert. 

Wir  sehen  überall  den  Interpolator  der  Fam.  B  eifrig  bei 
der  Arbeit.  Er  hat  auch  das  Wesen  der  Philologie  sofort  rich- 
tig erfasst:  er  macht  alles  gleich.  Es  ist  hiernach  klar,  daß  I 
76,  3  zu  lesen  ist  Pierios  differ  cantus  citharamque  sororum. 
Cantus  citharamque  hat  C-^,  cantusque  chorosque  B"^:  das 
stammt  aus  VII  69,  8  quamuis  Pierio  sit  bene  nota  choro  oder 
XII  3,  8  reddita  Pierio  sunt  ubi  templa  choro.  Es  kommt  hinzu, 
daß  B'^  noch  einmal  choros  falsch  eingesetzt  hat:  III  63,  6 
qui  mouet  in  uarios  bracchia  uolsa  modos)>  choros  B"^.  —  I 
111  ist  zu  lesen: 

Cum  tibi  sit  sophiae  par  fama  et  cura  laborum, 
Ingenio  pietas  nee  minor  ipsa  suo. 

Cura  laborum  hat  C'^,  dagegen  B^^  cura  deorum:  das 
stammt  aus  dem  ebenfalls  an  Regulas  gerichteten  Gedicht 
I  82,  10:  quis  curam  neget  esse  te  deorum.  Unser  cura  deo- 
rum ist  auch  sachlich  unrichtig:  es  kann  nur  heissen:  „Sorge 
um  die  Götter",  wäre  also  so  viel  wie  pietas,  die  aber  sofort 
besonders  erwähnt  wird.  Cura  laborum  fällt  zusammen  mit 
fama  sophiae  unter  den  Begriff  ingenium.  Es  kommt  hinzu, 
daß  B^  noch  einmal  laborum  durch  ein  anderes  Wort  ersetzt 
hat:  IV  32,  3  dignum  tantorum  pretium  tulit  illa  laborum) 
laborum  (-ri)  A'^  C'^:  malorum  B'^.  —  Wie  der  Interpolator 
verfuhr,  zeigt  VII  23.  1  (an  Polla,  die  Witwe  Lucan's): 
Phoebe,  ueni,  sed  quantus  eras  cum  bella  tonanti  ipse  dares 
Latiae  plectra  secunda  lyrae.  Bella  tonanti  hat  C"^,  und  das 
wird  bestätigt  durch  VIII  3,  14  aspera  uel  paribus  bella  tonare 
modis.  B^  hat  bella  canenti:  das  stammt  aus  einem  andern, 
späteren  Gedicht  an  Polla  X  64,  4:  Pieria  caneret  cum  fera 
bella  tuba. 

Verblüffend  ist  die  Behandlung  der  Eigennamen.  VI 
88,  1  mane  salutaui  uero  te  nomine  casu  nee  d  i  x  i  domi- 
num, Caeciliane,  meum.     Caeciliane  haben  A"^  C'\  dagegen 


Zu  Martial.  lOf» 

B '^  Sosibiane.  Das  stammt  aus  I  81,  2  cum  d  i  c  i  s  domi- 
num, Sosibiane,  patrem.  Unter  diesen  Umständen  muß  IX 
44  als  überliefert  angesehen  werden:  Aleiden  modo  Vindicem 
rogabam.  Vindicem  hat  C'^,  B"^  uindicis:  dies  stammt  aus 
dem  Schlußvers  des  vorhergehenden  Gedichtes  auf  dieselbe 
Statuette  des  Herkules  (IX  43,  14):  sie  noluit  docti  Vindicis 
esse  deus.  Hier  hat  B^  uindices.  Das  ist  durch  vulffäre 
Aussprache  entstellt  aus  Vindicis,  was  der  Interpolator  schrieb. 

X  33,  5  fg.  schreibt  man  allgemein: 

Ut  tu,  si  uiridi  tinctos  aerugine  uersus  5 

Forte  malus  liuor  dixerit  esse  meos, 
Ut  facis,  a  nobis  abigas,  nee  scribere  quemquam 
Talia  contendas  carmina,  qui  legitur. 

V.  7  hat  B"^  scribere,  dagegen  stringere  X,  strinxere  EA. 
fingere  F.  Dies  fingere  weist  (in  der  Kapitelschrift  wurden 
T  und  F  verwechselt)  auf  stringere:  vgl.  Catull  66,  49  et  qui 
principio  sub  terra  quaerere  uenas  iustitit  ac  ferri  stringere 
duritiem)  ferris  fringere  G,  ferris  fingere  0.  C^^  hatte  strin- 
gere. —  M.  schrieb  (vgl.  S.  101)  in  der  Regel  uersus,  carmina 
scribere.  Bei  seiner  nun  hinlänglich  konstatierten  Gleichma- 
cherei'^) setzte  daher  der  Interpolator  der  Fam.  B  in  unserer 
Stelle  scribere  für  stringere  ein.  Genau  so  machte  er  es  XII  94,  9 
epigrammata  fingere  coepi)  fingere  coepi  A"^;  pingere  possis  C^ 
(poscis  G);  aber  scribere  coepi  LQf  fingere  coepi  P,  d.  h.  B"^ 

fingere  suo 

hatte  scribere  coepi  (vgl.  oben  S.  103  mense  nouo  B^^).  So 
wenig  es  hier  jemandem  einfällt,  epigrammata  scribere  zu 
schreiben  (freilich  ist  es  auch  metrisch  unmöglich),  so  wenig 
sollte  man  an  unserer  Stelle  scribere  carmina  dem  exquisiten 
stringere  carmina  vorziehen.  —  Ganz  gleichartig  unserer  Stelle 
ist  VII  12,  5  quid  prodest,  cupiant  cum  quidam  nostra  uideri, 
si  qua  Lycambeo  sanguine  tela  madent.  Tela  und  stringere 
gehören  derselben  Sphäre  des  bildlichen  Ausdrucks  an,  wie 
denn  der  Vergleich  von  Wort  und  Wafi'e  den  römischen  Dich- 
tern   geläufig    war:    vgl.  Stat.  silv.  IV  5,  49  est  et  frequenti 


■')  Wie  weit  diese  geht,  zeigt  XII  57,  4  negant  uitam  ludi  magistri 
mane,  nocte  pistores.  Ludi  magistri  A^  C^-,  dagegen  B-^  ludi  magi- 
ster,  weil  dies  sonst  nur  so  im  Singular  bei  M.  vorkommt:  VII  64,  7; 
IX  68,  1 ;  X  62,  1. 


lOQ  Gustav    Friedrich, 

iiox  hilaris  foro,  uenale  sed  non  eloquium  tibi  ensisque  („dein 
scharfes  Wort"  Vollmer)  uagina  quiescit;  stringere  ne 
iubeant  aniici!  —  Endlich  hat  Ovid  rem.  377:  liber  in  audaces 
hostes  stringatur  iambus;  und  zwar  ist  sofort,  wie  an  unserer 
Stelle,  vom  liuor  die  Rede  (v.  389):  rumpere,  Liuor  edax. 
Bei  dem  literarischen  Verhältnis  des  M.  zu  Ovid  fällt  das  ins 
Gewicht^). 

10. 

VII  73: 

Esquiliis  domus  est,  domus  est  tibi  colle  Dianae 
Et  tua  patricius  culmina  uiciis  habet; 

Hinc  viduae  Cybeles,  illinc  sacraria  Vestae, 
Inde  nouum,  neterem  prospicis  inde  louem. 

Die,  ubi  conueniam,  die,  qua  te  parte  requiram: 
Quisquis  ubique  habitat,  Maxime,  nusquam  habitat. 

Friedländer  bemerkt  hierzu  nach  Jordan:  „Das  Gedicht 
sicher  zu  erklären,  ist  unmöglich.  Maximus  hat  drei  Wohn- 
häuser: auf  dem  Esquilin,  auf  dem  Aventin  (colle  Dianae: 
vgl.  XII  18,3)  und  im  vicus  patricius,  der  von  der  Subura 
nach  S.  Pudentiana  in  vico  patricio  führenden  Strasse  (Becker, 
Top.  II  593).  Man  sollte  meinen,  drei  Aussichten  müßten 
beschrieben  werden:  von  dem  einen  Hause  (hinc)  auf  den 
Cybele-,  von  dem  andern  (illinc)  auf  den  Vestatempel,  von 
dem  dritten  auf  den  alten  und  neuen  Jupiter.  Allein 
diese  letzte  ist  doppelt  (inde — inde)  und  vielleicht  gar 
nicht  eine  Aussicht  von  demselben  Punkte  aus.  Also  drei 
Häuser  und  vier  Aussichten?  Oder  wird  von  dem  einen  Hause 
die  Aussicht  gar  nicht  erwähnt,  von  den  beiden  andern  eine 
doppelte  jedes  einzelnen  beschrieben?  Die  Entscheidung  müßten 
die  Oertlichkeiten  geben:  allein  nur  das  kann  man  sagen,  daß 
vom  Aventin  aus  das  Vestaheiligtum  nicht,  sehr  wahrschein- 
lich dagegen  das  wohl  über  dem  Circus  stehende    der  Magna 

*)  Bei  Doppellesarten  pflegt  C  -^  sonst  nicht  so  gut  abzuschneiden. 
Besonders  auffallend  ist  I  13,  1  casta  suo  gladium  cum  traderet  Arria 
Paeto,  quem  de  uiaceribua  strinxerat  ipsa  suis)  traxerat  C^.  Arria 
zieht  das  Schwert  aus  ihrem  Leibe,  wie  aus  einer  Scheide:  non  dolet. 
Jenes  strinxerat  gehört  zum  Großartigsten,  was  M.  gesagt.  Man  denkt 
unwillkürlich  an  Marsyas,  ,,den  Apollo  aus  der  Scheide  seines  Leibes 
zog"  (Dante). 


Zu  Maitial.  107 

Mater  gesehen  werden  konnte;  von  dem  im  Tal  laufenden 
vicus  patricius  ebenfalls  nicht  das  Vestaheiligtum,  aucli  nicht 
der  Tempel  der  Magna  Mater;  und  wenn  man  mit  Becker 
(Top.  A.  1123)  in  dem  novus  und  uetus  Juppiter  das  Capito- 
lium  und  das  Capitolium  vetus  zu  verstehen  hat  (und  das  ist 
notwendig:  vgl.  V  22),  von  allen  genannten  Tempeln  nur  das 
Capitolium  vetus  auf  dem  Quirinal.  Das  Capitolium  konnte 
man  vom  Aventin,  das  Vestaheiligtum  vielleicht  vom  Esquiliu, 
richtiger  von  den  Carinen  aus  sehen.  Damit  wird  aber  eine 
auch  nur  leidliche  Klarheit  für  die  Grup})irung  der  Oertlich- 
keiten  nicht  erzielt". 

Die  Sache  ist  äusserst  einfach.  M.  wohnte  auf  dem  Quiri- 
nal im  Hause  „zur  Birne"  (I  117,  6  ;  VI  27,  1).  Von  dort  hat 
er  natürlich  den  Maximus  zuerst  im  nahen  vicus  patricius, 
dann  auf  dem  Esquilin  gesucht.  Als  er  ihn  auch  da  nicht 
antraf,  ist  er  nach  dessen  Hause  auf  dem  Aventin  gegangen. 
Es  ist  nun  tatsächlich,  wie  von  drei  Häusern,  so  nur  von  drei 
Aussichten  die  Rede.  Nur  geht  M.  jedes  Mal,  wie  es  in  seinem 
Falle  natürlich  ist,  vom  Aventin  aus;  dort  ist  gewissermaßen 
sein  Standort:  v.  8  (hinc)  vom  Aventin  aus  sieht  man  den 
Tempel  der  Cybele  auf  der  nach  dem  Eingange  des  Circus  hin 
gelegenen  Seite  des  Palatin,  (illinc)  vom  Esquilin,  genauer 
von  den  Carinen  aus  sieht  man  das  Vestaheiligtum  auf  dem 
Forum,  also  gei-ade  auf  der  andern  Seite  des  Palatin.  Weiter 
in  chiastischer  Folge  (M.  ist  gekommen  vicus  patricius,  Carinen, 
Aventin,  vergleicht  aber  in  der  Folge:  Aventin  —  Carinen; 
Aventin  —  vicus  patricius)  vergleicht  M.  v.  4  die  Aussicht 
vom  Aventin  aus  mit  der  von  dem  Hause  im  vicus  patricius: 
vom  Aventin  (inde)  sieht  man  —  etwa  in  derselben  Richtung 
wie  das  Heiligtum  der  Magna  Mater,  aber  natürlich  jenseits 
desselben  —  das  Capitolium,  vom  vicus  patricius  aus  (inde) 
das  Capitolium  vetus  auf  dem  Quirinal.  Vgl.  Varro  1.  L. 
V  158:  cliuus  proximus  a  Flora  (Floratempel  auf  dem  Quirinal) 
susus  uersus  Capitolium  vetus,  quod  ibi  sacellum  louis,  lunonis, 
Mineruae,  et  id  antiquius  quam  aedis  quae  in  Capitolio  facta. 

11. 
VIH  51: 

Quis  labor  in  phiala?  docti  Myos  anne  Myronos? 


108  Gustav    Friedrich, 

Mentoris  baec  raanus  est  an,  Polyclite,  tua? 
Liuescit  nulla  caligine  fusca  iiec  odit 

Exploratores  nubila  massa  focos. 
Vera  minus  flauo  radiant  electra  metallo,  5 

Et  niueum  felix  pustula  uincit  ebur. 
Materiae  uon  cedit  opus:  sie  alligat  orbem, 

Pbarima  cum  tota  lampade  luna  nitet. 
Stat  caper  Aeolio  Thebani  uellere  Phrixi 

Cultus:  ab  hoc  mallet  uecta  fuisse  soror.  10 

Terga  premit  pecudis  geminis  Amor  aureus  alis.  13 

Friedländer  meint,  die  Schale,  die  Instantius  Rufus  dem 
M.  geschenkt,  habe  teils  (3.  4)  aus  Elektrum  (einer  Mischung 
von  */5  Gold  und  Vs  Silber:  Plin.  n.  h.  9,  131),  teils  aus 
Gold,  teils  aus  Silber  bestanden.  Nach  "W.  Gilbert  (Pleckeis.  Jb. 
1887  S.  146)  bestand  sie  aus  Silber  und  Elektrum.  —  V.  3.  4  be- 
weist für  das  Elektrum  nicht.  Liuescit  nulla  caligine  fusca  heißt: 
„sie  oxydirt  nicht  im  Dunkeln,  in  der  Feuchtigkeit".  Nee  odit 
exploratores  nubila  massa  focos:  „die  zur  Schale  verwendeten 
Metalle  vertragen  die  Prüfung  ihrer  Echtheit  durch  das  Feuer": 
vgl.  (Otto,  Sprichw.  S.  170)  Cic.  fam.  9,  16,  2  ut,  quasi  aurum 
igni,  sie  beneuolentia  fidelis  periculo  aliquo  perspici  possit. 
—  Die  phiala  bestand  aus  Silber  (et  niueum  felix  pustula 
uincit  ebur)  und  zweitens  aus  Gold:  denn  v.  13  steht  deutlich 
da,  daß  der  Amor,  der  sicli  in  ihr  befand,  golden  war  (Amor 
aureus).  Ferner  wird  v.  9  ebenso  deutlich  gesagt,  der  Bock, 
auf  dem  Amor  saß,  habe  das  Vließ  des  Widders  des  Phrixus 
ofehabt;  dieses  Vließ  war  golden.  Endlich  heißt  es  v.  5: 
uera  minus  flauo  radiant  electra  metallo.  Flauus  ist  bei  M. 
durchaus  das  Attribut  des  Goldes,  z.  B.  XII  65,  6  an  de  moneta 
Caesaris  decem  flauos.  Das  uera  electra  steht  nicht  im  Ge- 
gensatz zu  flauo  metallo,  so  daß  dieses  die  Metallmischung 
Elektrum  sein  müßte,  sondern  uera  steht  bei  electra,  wie  im 
nächsten  Verse  niueum  bei  ebur.  Nicht  jedes  Elfenbein  ist 
weiß.  Weiß  wurde  und  blieb  nach  dem  Glauben  der  Alten 
besonders  solches,  das  sich  in  Tibur  befand  (Sil.  It.  12,229: 
Mart.  VIII  28,11).  So  soll  electra  im  Gegensatz  zu  der  auch 
electrura  genannten  Metallmischung   durch    das  Attribut    uera 


Zu  Martial.  109 

deutlich  als  Bernstein  bezeichnet  werden.  —  Die  Schale  be- 
stand aus  Silber;  darin  befand  sich  in  erhabener  Arbeit  aus 
Gold  ein  Amor  auf  einem  Bock. 

Det  luimerum  cyathis  Instanti  littera  Rufi:  21 

Auetor  enim  tanti  muneris  ille  mihi: 

Si  Telethusa  uenit  proraissaque  gaudia  portat, 
Seruabor  dominae,  Rufe,  triente  tuo; 

Si  dubia  est,  septunce  trahar;  si  fallit  amantem,  25 

ut  iugulem  curas,  nomen  utrumque  bibam. 

Gesundheiten  wurden  mit  so  vielen  cyatbi  getrunken,  als 
der  Name  dessen,  dem  sie  galten,  Buchstaben  enthielt:  I  71 
Laeuia  sex  cyathis,  septem  lustina  bibatur,  quinque  Lycas, 
Lyde  quattuor,  Ida  tribus.  Wie  man  sieht,  wurde  die  Zahl 
der  Buchstaben  sonst  durch  den  Nominativ  bestimmt,  hier 
ausnahmsweise  durch  den  Namen,  wie  er  im  Zusammenhang 
vorkommt,  durch  den  Genetiv:  Instanti  Rufi.  —  Wenn  Tele- 
thusa kommt,  willM.  nur  vier  cyathi  trinken:  seruabor  dominae, 
Rufe,  triente  tuo.  Si  dubia  est,  septunce  trahar:  man  er- 
wartet, den  8  Buchstaben  entsprechend,  den  bes.  Aber  M.  hat 
Istanti  gesprochen  (Munro).  Vgl.  aus  Britannien  CJL.  VII 
336,404  Istantis.  Friedländer  meint,  dann  sei  wohl  auch 
Istanti  zu  schreiben,  und  Lindsay  und  Duff  lassen  hier  und 
VIII  73, 1  Istanti  drucken,  während  sie  VII  68  und  XII  95. 
98  mit  den  codd.  Instanti,  Instantius  schreiben.  In  der  Tat 
hat  C-^  VIII  73,  1  Stant  (B^  Instani).  Lindsay  glaubt  offen- 
bar, der  Schreiber  von  C-^  habe  gefunden  Istanti,  habe  aber 
das  i  für  vulgär  gehalten  (man  findet  dies  i  häufig  in  den 
codd.,  z.  B.  im  Medicens  der  ciceronischen  Briefsammlungen: 
Fam.  VII  1,4  exispecto;  XVI  12,4  i  s  t  a  r  e)  und  habe  es  aus 
diesem  Grunde  weggelassen.  Die  Sache  verhält  sich  anders. 
C'^  hat  nämlich  die  erste  Silbe  eines  Wortes  sehr  oft  wegge- 
lassen: II  57,3  lacernis)  cernis:  VII  8,2  Odrysio)  drisio;  III 
45,6  boletos)  letos;  I  76,9  Helicon)  licon^).    Am  ähnlichsten 


®)  Besonders  interessant  ist  III  50,  7  et  quartum  recitas  et  quintnm 
denique  librum)  librum  B-^,  aber  die  Familie  C  hat  teils  bruma 
(EAGB-),  teils  broma  (CX).  W.  Gilbert  will  deshalb  schreiben  ßpc&iJia, 
auch  Lindsay  scheint  dem  nicht  abgeneigt.  Bruma,  broma  hat  mit  M. 
gar  nichts  zu  tan.  Vgl,  X  17,  5  libellis)  bellis  C-^.  So  hat  der  Schrei- 
ber bei  librum  die  erste  Silbe  weggelassen  und  schrieb  brum.     Daraus 


WQ  GustavFriedrich, 

ist  I  66,8  inhorruit)  horruit  C-^.  Genau  so  VIII  73, 1  Instanti) 
Stant  C"^:  der  Schreiber  hielt  Instanti  für  eine  Verbalform: 
vgl.  VIII  51,21  Instanti)  instantis  C^:  XII  98<5  Instantius) 
instantibiis  C'^.  —  Die  Ueberlieferung  spricht  also  nicht  für 
die  Schreibung  Istanti.  Allerdings  hat  M.  dem  Cestus  zuge- 
rufen: Istanti:  der  konnte  somit  auch  nur  mit  einem  septnnx 
aufwarten.  Geschrieben  aber  hat  M.  Instanti.  Wir  haben 
nämlich  noch  einen  Fall  dieser  Art:  III  78  Minxisti  currente 
semel.  Pauline,  carina.  Meiere  uis  iterum?  lam  Palinurus  eris. 
Der  Witz  war  sehr  dürftig,  wenn  M.  und  seine  Zeitgenossen 
nicht  aussprachen:  Paline.  Und  sie  haben  so  ausgesprochen. 
In  späterer  Zeit  sprach  man  bestimmt  au  wie  a  aus:  Catull 
61,86  Aurunculeia)  Arunculeia  G:  Varro  r.  r.  II  4,11  plaustrum) 
plastrum  codd.  Tacit.  ann.  XI  11  Augustus)  agustus  M.  Mehr 
Beispiele  bei  Schuchardt,  Vokalismus  des  Vulgärlateins  II  307 
und  Birt,  Rh.  Mus.  Suppl.  52  S.  89  fg.  Birt  führt  auch  an  Juven. 
8,21  Paulus)  Palus  P.  Aus  M.  vgl.  IX  22,5  Mauri)  mari  C^; 
IV  13,1  Claudia)  Ciadia  R;  IX  27,10  si  draucus)  sit  raccus 
B-^;  VII  51,3  Auctum)  actum  EX  i«).  Sommer,  Handbuch 
der  lat.  Laut-  und  Formenlehre  S.  124  bemerkt,  diese  Aus- 
sprache habe  erst  spät  und  nur  vor  folgendem  u  stattgefunden. 
Das  trifft  nicht  zu.  Denn  die  Spitznamen  des  Tiberius  Clau- 
dius Nero  (Suet.  Tib.  42)  Biberius  Caldius  Mero  waren  nur 
möglich,  wenn  man  Cladius  aussprach.  M.  sprach  zweifellos 
Paline.  Will  man  das  auch  in  den  Text  setzen?  Die  An- 
wendung auf  Instanti,  Istanti  ergibt  sich  von  selbst.  —  Uebri- 
gens  soll  in  v.  22  auctor  enim  tanti  muneris  ille  mihi  das 
enim  tanti  wahrscheinlich  anklingen  an  das  Instanti  des  vor- 
herorehenden    Verses.     Die    verschiedene  Betonung   enim    tanti 


machte  der  nächste  Schreiber  ein  lateinisches  Wort:  bruma,  das  rein 
mechanisch  (o  und  u  sind  in  den  codd.  des  M.  oft  verwechselt  worden, 
z.  B.  IX  18,  8  nobis)  nubis  CA;  IX  93,  2  cado)  cadu  CA;  X  10,  9  tu 
stas")  tostas  CA)  zu  broma  wurde.  Vgl.  VII  32,  4  sophos)  phos  E,  pho- 
sus  X,  Chorus  C. 

*")  Darnach  läßt  sich  die  richtige  Lesart  XIV  4  feststellen:  Quin- 
quiplices.  Caede  iuuencorum  domini  calet  area  felix.  quinquiplici  cera 
cum  datur  altus  bonos.  So  Lindsay.  Ueberliefert  ist  altus  (haltus). 
Aber  M  hat  auctus ,  und  so  iht  zu  schreiben.  Aus  auctus  bonos  ent- 
stand über  actus  bonos  notwendig  altus  bonos :  denn  actus  bonos  ist 
Unsinn.  Vgl.  zum  Verständnis  dieses  paläographiscben  Vorgangs  XIV 
45.  2  folle  minus  laxast  et  minus  arta  i)ila)  alta  pila  est  BA. 


Zu  Martial.  Hl 

neben  Instant!  ist  bekanntlich  die  bei  den  römischen  Dichtern 
in  solchen  Fällen  übliche.  Jedenfalls  wird  hierdurch  die  Schrei- 
bung Instanti  bestätigt. 

12. 

IX  61.5  fg.: 

Aedibus  in  mediis  totos  amplexa  penates  5 

Stat  platanus  densis  Caesariana  comis. 


Saepe  sub  hac  madidi  luserunt  arbore  Fauni.  11 

Terruit  et  tacitam  fistula  sera  domum.  12 

Dnmque  fugit  solos  nocturnum  Pana  per  agros,  13 

Saepe  sub  hac  latuit  rustica  fronde  Dryas.  14 

Atque  oluere  lares  comissatore  Lyaeo,  15 

Creuit  et  effuso  laetior  umbra  mero; 

Bester nisque  rubens  deiecta  est  herba  coronis, 
Atque  suas  potuit  dicere  nemo  rosas. 

Das  Gedicht  ist  verfaßt  auf  eine  in  einem  Hause  zu  Cor- 
duba  von  Cäsar  gepflanzte  Platane.  Aedibus  in  mediis  ver- 
steht Vollmer  (Stat.  S.  275)  vom  Atrium.  Es  ist  eher  an 
das  Cavaedium  zu  denken :  dorthin  konnten  auch  in  der  Fik- 
tion die  Dryaden  und  Faune  eher  gelangen  als  in  das  ge- 
schlossenere Atrium;  dort  ist  das  Gras  (17)  mehr  am  Platze; 
dort  konnte  man  an  heißen  Tagen,  in  heißen  Nächten  ein 
Gelage  abhalten,  wie  man  das  so  sehr  liebte:  vgl.  Stat.  silv. 
III  1,  18  fg.  Hör.  c.  II  11,  13  cur  nou  sub  alta  uel  platano 
uel  hac  pinu  iacentes  .   .  potamus  uncti? 

Munro  stellt  v.  13.  14  vor  v.  11.  12.  Friedländer  schließt 
sich  dem  an.  indem  er  bemerkt,  sonst  unterbrächen  v,  13.  14 
aufs  unpassendste  die  Schilderung  der  comissatio  des  Bacchus 
und  der  Faune.  Das  ist  ein  großer  Irrtuui.  M.  hat  v.  13.  14 
zwischen  12  und  15  gestellt,  um  gerade  die  comissatio  der 
Faune  von  der  andern  comissatio  zu  unterscheiden;  er  will 
gerade  dem  Mißverständnis  vorbeugen,  in  das  Munro  und 
Friedländer  verfallen.  Lindsay  ist  mit  Recht  zu  der  von  P 
Q  F  überlieferten  Reihenfolge  zurückgekehrt  (die  Reihenfolge 
in  den  übrigen  codd.  11.  14.  13.  12  ist  evident  falsch  und 
kommt  somit  gar  nicht  in  Betracht).     V.   15  ist  die  Rede  von 


112  Gustav    Friedrich, 

einem  Gelage,  das  der  Hausherr  gelegentlich   mit  Gästen  ab- 
hält unter  der  platanus  genialis,  die  geradezu   dazu    aufzufor- 
dern schien.     Comissatore  Lyaeo  ist  lediglich  metonymisch  zu 
verstehen  wie  X  19,  18  seras  tutior  ibis  ad  lucernas:  haec  hora 
est  tua,  cum  furit  Lyaeus ;  IV  82, 5  sed  nee  post  primum  legat 
haec  summumue  trientem,  sed  sua  cum  medius  proelia  Bacchus 
amat.     Nun  erklären  sich  auch  ungezwungen  v.  17.  18:  hester- 
nisque  rubens  deiecta  est  herba  coronis  atque  suas  potuit  dicere 
nemo  rosas.     V.  17  wird  von  Friedländer  erklärt:    „Von  den 
Rosenkränzen,  welche  die  Begleiter  des  Bacchus  dort  gelassen 
hatten,  war  das  Gras  niedergebogen  und  gerötet".     Die  Rosen 
sollen  wohl  abgefärbt  haben  ?     Wenn  antike  Dichter  die  Götter 
einführen,  sind    sie  Dekoration.     So   weit   zu   gehen,    daß  sie 
etwas  dagelassen   haben    sollen,    fällt   keinem  ein.     Besonders 
komisch  ist  es,  daß  Bacchus  und  seine  Begleiter  am  nächsten 
Tag  wiederkommen    und    sich    nach    ihren  Kränzen    umsehen 
sollen.     Vom  Hausherrn  ist  es  um  so  natürlicher,  daß  er  am 
nächsten  Tage  mit  seinen  Gästen    sich    zum    Schauplatz   ihrer 
Festesfreude  begibt.     Herba  deiecta    est  ist   zu   verstehen  von 
den  Stellen,    wo    der  Hausherr    und  seine  Gäste    gelegen:    da 
hatte    sich    das    Gras    am    nächsten  Tage    noch  nicht  wieder 
aufgerichtet.     Vgl.  ep.  Sapph.  147:  cognoui  pressas  noti  mihi 
caespitis  herbas:  de  nostro  curuum  pondere  gramen  erat.    He- 
sternis  rosis  aber  gehört  nur  zu  rubens,   nicht  zu  deiecta  est. 

13. 
XH  21: 

Municipem  rigidi  quis  te,  Marcella,  Salonis 
Et  genitam  nostris  quis  putet  esse  locis? 
Tarn  rarum,  tam  dulce  sapis:  Palatia  dicent, 

Audierint  si  te  uel  semel,  esse  suam; 
Nulla  nee  in  media  certabit  nata  Subura  5 

Nee  Capitolini  collis  alumna  tibi. 
Nee  cito  ridebit  peregrini  gloria  partus, 

Romanam  deceat  quam  magis  esse  nurum. 
So  bei  Friedländer  und  Lindsay.     Dutf  bezeichnet  ridebit 
V.  7  als    unecht.     Ridebit   ist    richtig :    vgl.  Hör.  c.  IV  4,  39 
pulcher  fugatis  ille  dies  Latio  tenebris,    qui  primus  alma  risit 


Zu  Martial.  113 

adorea ;  Lncr,  3,  22  (sedes  deorum)  large  diffuso  lumine  rident. 
Nee  cito  ist  nach  Friedläuder  (Ter.  Ad.  443;]  Cic.  Brut.  76,  264) 
=  non  facile.  Der  Sinn  von  v.  7  wäre  hiernach:  „Trotz  ihren 
vielen  Vorzügen  wird  der  Knhm  der  Marcella  nicht  leicht  er- 
strahlen". Aber  das  Erscheinen  der  Bücher  des  M.  war  stets 
ein  Ereignis:  wenn  man  in  dieser  Zeit  in  einen  Buchladen 
trat,  nahm  der  Händler  ohne  weiteres  an,  der  Kunde  komme 
wegen  des  eben  erschienenen  Gedichtbuches  des  M.  und  hielt 
es  ihm  unaufgefordert  hin  (I  117).  Ehe  solch  eine  neue  Samm- 
lung erschien,  schrieb  man  die  Epigramme  eifrig  ab  und  las 
sie  im  Theater  in  den  Pausen,  in  Gesellschaften  vor  (II  6). 
Rumpitur  inuidia  quidam,  quod  me  Roma  legit  heißt  es  IX  97. 
Manches  Jahr  früher  sagt  er  schon:  sed  toto  legor  orbe  fre- 
quens  V  13,3;  hie  est  quem  legis  ille,  quem  requiris,  toto  notus 
in  orbe  Martialis  I  1.  Unter  diesen  Umständen  mußte  aber 
jemand,  den  M.  feierte,  gerade  leicht  und  rasch  bekannt  werden. 
In  der  Tat  äußert  sich  M.  auch  sonst  in  diesem  Sinne:  V  25,5 
quem  chartis  famaeque  damus  populisque  loquendum?  VII 17,  9 
(an  die  Bibliothek  des  Julius  Martialis) :  at  tu  munere,  delicata, 
paruo  quae  cantaberis  orbe  nota  toto^^).  Dann  aber  sollte 
man  das  Gegenteil  von  nee  cito  ridebit  gloria  erwarten,  und 
Martial  schrieb  auch  wirklich:  Et  cito  ridebit  peregrini  gloria 
partus.  Nee  und  et  sind  nämlich  auch  sonst  verwechselt  wor- 
den: III  27,4  et  mihi  cor  non  est  et  tibi,  Galle,  pudor)  nee 
tibi  ABC;  XIV  92  puneta  notis  ilex  et  acuta  cuspide  clusa) 
nee  acuta  B"^;  IV  10,1  dum  nouus  est  nee  adhuc  rasa  mihi 
fronte  libellus)  et  adhuc  rasa  C"^;  X  9,  2  et  multo  sale  nee 
tarnen  proteruo)  nee  multo  C"^;  X  2,11  at  chartis  nee  furta 
nocent  et  saeeula  prosunt)  nee  saeeula  B"^  C^.  An  den  letzt- 
ten  Stellen  ist   nee  statt  et    gesehrieben  worden,  weil  ein  nee 


")  Nur  darf  man  nicht  mit  Friedländer  bei  munere  paruo  an  das 
Geschenk  der  sieben  ersten  Bücher  denken,  von  dem  in  dem  Epigramm 
auch  die  Rede  ist.  Diese  sieben  Bücher  waren  selbstverständlich  in 
gar  mancher  Bibliothek,  auch  von  M.  selbst  geschenkt,  ohne  daß  diese 
dadurch  orbe  toto  bekannt  wurde;  sie  wurde  das  aber,  wenn  M.  sie  in 
einem  Gedicht  verherrlichte.  „Infolge  dieses  kleinen,  an  dich  gerich- 
teten Gedichtes  (munere  paruo)  wird  die  ganze  Welt  dich  kennen  und 
von  dir  sprechen."  Genau  so  V  15,  o  gaudet  honorato  sed  multus 
nomine  lector,  cui  uictura  meo  munere  fama  datur.  —  Delicata 
hat  mit  munere  paruo  gar  nichts  zu  tun:  die  Bibliothek  ist  delicata, 
weil  der  ganze  Landsitz  das  ist:  ruris  bibliotheca  delicati  (v.   1). 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  1.  8 


114  Gustav    Friedrich, 

folgte  oder  vorherging.  Ebenso  erklärt  sich  unser  nee  cito: 
der  vorhergebende  Vers  beginnt:  nee  Capitolini. 

Aehnlich  liegt  die  Sache  V  82: 

Quid  promittebos  mihi  niilia,  Gaure,  ducenta, 

Si  dare  non  poteras  milia,  Gaure,  decem? 
An  potes  et  non  uis?  ßogo,  non  est  turpius  istud? 
f  I,  tibi  dispereas,  Gaure,  pusillus  homo  es. 

So  schreibt  Friedländer,  so  Lindsay  und  Duff,  nur  daß 
die  beiden  letzten  das  Kreuz  vor  I  weglassen.  Dann  sollten 
sie  den  Vers  auch  erklären.  Was  dasteht,  ist  Unsinn.  Ueber- 
liefert  ist  I  tibi  dispereas  PQEABCF;  Si  tibi  dispereas  TRX; 
Ve  (,al.  Sic')  G.  Dieses  ue  ist  so  töricht,  daß  etwas  Richtiges 
darin  stecken  muß.  Es  weist  eher  auf  ein  verschriebenes  ni 
(nämlich  ne),  als  auf  si.  Weiter  führt  XI  90,8  dispeream,  ni 
scis,  mentula  quid  sapiafc^  nescis  Vpr. ;  nisi  scis  ^ ;  nisi  corr. 
si  Q.  Vgl.  ferner  V  34,6  uixisset  totidem  ni  minus  illa  dies) 
ne  A^^  C'^.  Unser  Vers  ist  zu  schreiben:  ni  tu,  dispeream, 
Gaure,  pusillus  homo  es.  Ni  war  dem  Schreiber  nicht  sehr 
bekannt:  er  verwandelt  es  in  ne,  um  so  eher,  da  ein  Konjunk- 
tiv folgte.  Diesen  Konjunktiv  dispeream  glich  er  au  das 
folgende  homo  es  an,  indem  er  aus  dem  überflüssigen  tu  machte 
tibi^-):  ne  tibi  dispereas,  Gaure,  pusillus  homo  es  ^^).  Das  sah 
ganz  lateinisch  aus.  Dann  machte  ihn  das  ni  der  Vorlage 
doch    bedenklich,    und    als    gewissenhafter    Mann    schrieb    er: 

ne  tibi  dispereas.  Das  übergeschriebene  i  sahen  spätere  Schrei- 
ber als  Korrektur  des  Wortes  ne  an:  daher  stammt  das  rätsel- 
hafte I  tibi  dispereas  der  Handschriften.  —  Das  si  tibi  dispe- 
reas TRX  ist  gesetzt  worden  nach  v.  2  si  dare  non  poteras. 
Vgl.  IX  39,1: 

Prima  Palatino  lux  est  haec  orta  Tonanti, 
Optasset  Cybele  qua  peperisse  louem ; 

Hac  et  sancta  mei  genita  est  Caesonia  Rufi. 


'^)  Ein  solches  tibi  findet  sich  z.  B.  IV  66,  3  Idibus  et  raris  togula 
est  excussa  Kalendis)  tibi  sumpta  Kalendis  C-^;  I  lOo,  7  deque  decem 
plures  semper  seruantur  oliuae\  tibi  nunc  B^^  statt  semper.  Und  so 
noch  öfter. 

*^)  Daß  dergleichen  möglich  war,  zeigt  X  39,  3  namque,  ut  tua  sae- 
cula  narrant,  ficta  Prometheo  diceris  esse  luto)  namque,  ut  tua  saecula 
n  a  r  r  e  s  C  -^. 


Zu  Martial.  115 

B'^  bat  haec  et  sancta  nacli  v.  1  lux  est  haec  orta.  — 
Zur  sprachlichen  Gestaltung  von  ni  tu.  dispeream,  Gaure, 
pusillus  homo  es  vgl.  XI  97,2  si  possura,  peream,  te  Telesilla 
semel;  Catull  92,2  Lesbia  nie  dispeream  nisi  amat. 

Richtig  kann  auch  nicht  sein  VIII  30,  7.  Ein  Verbrecher 
muß  als  Mucius  Scaevola  die  Rechte  über  einem  Becken  mit 
glühenden  Kohlen  versengen  und  verbrennen  lassen.  Der  Ver- 
brecher freut  sich,  wie  M.  meint,  seiner  Strafe;  er  ist  stolz 
darauf. 

Ipse  sui  spectator  adest  et  nobile  dextrae  5 

Funus  amat:  Tuscis^*)  pascitur  illa  sacris; 

Quod  nisi  rapta  foret  nolenti  poena,  parabat 
Saeuior  in  lassos  ire  sinistra  focos. 

Nolenti  kann  nicht  auf  die  Linke  gehen.  Denn  diese  ist 
ja  bereit,  noch  viel  grimmiger,  noch  viel  schonungsloser  gegen 
sich  selbst  ins  Feuer  zu  gehen.  „Die  Rechte  weidet  sich  an 
ihrer  Hinopferung.  Und  wenn  ihr  —  die  das  aber  gar  nicht 
will,  die  sich  heftig  dagegen  sträubt  —  die  Strafe  nicht 
gewaltsam  weggenommen  würde,  dann  würde  sich  ihr  die 
Linke  mit  noch  größerem  Ungestüm  untei'ziehen. "  Das  ist 
aber  Unsinn;  es  muß  heißen:  „wenn  der  Rechten  die  Strafe 
weggenommen  würde".  Es  ist  zu  schreiben:  quod  si  rapta 
foret  nolenti  poena.  Si  und  nisi,  ni  sind  auch  sonst  vertauscht 
worden:  XI  90,8  dispeream,  ni  scis^  nisi  corr.  si  Q;  XIV  88, 1 
Femiueam  nobis  cherson   si  credis  inesse)>  nisi  FQ,  insi  f,  lusi 

ni  in 

L,  d.  i.  si,  gelesen  als  si:  im  Lucensis  ist  dann  i  mit  1  und 
n  mit  u  verwechselt  worden.  —  In  parabat  saeuior  in  lassos 
ire  sinistra  focos  ist  lassos  natürlich  proleptisch  zu  verstehen. 

1*)  Ueberliefert  ist  totis.  Ich  sclireibe  (vgl.  Rhein.  Mus.  1907  S.  376) 
Tuscis  sacris  (=  sacrificiis) :  ,  ein  Opfer  wie  in  der  Tuskerzeit".  Ebenso 
XII  .^2,  10  ridet  et  Iliacos  audit  Menelans  amores :  ,ein  Liebesverhält- 
nis wie  in  der  Troerzeit"*;  Stat.  silv.  III  1,157  seu  tibi  dulce  manu 
Libycas  nodare  palaestras  :  „einen  Ringkampf  wie  einst  in  Afrika  (mit 
Antaeus)"  Vollmer.  Zum  üebergange  von  Tuscis  zu  totis  vgl.  X  10,  9 
tu  stas)  tostas  C^;  IX  17,  6  tuta)  tota  C^;  VII  64,  5  inutilis)  inociis 
PL,  motuä  Q.  üeberhaupt  ist  der  Tebergang  von  Tuscis  zu  totis  einer 
der  leichtesten  dieser  Art.  Man  muß  nur  beobachten,  wie  die  Schreiber 
sonst  mit  Eigennamen  umgingen:  I  53,  9  Atthide)  alite  T;  XIII  23,  1 
Setia)  sedula  T;  III  66,  1  Phariis)  fartis  (-tus)  B^  paruis  CA;  XII 
52,6  Tyndaris\  sinthesis  C-^;  XII  8,5  Martiumque)  maritumque  B^; 
VII  63,  1  Sili)  soli  B-^;  und  so  immerfort. 

8* 


116  Gustav    Friedrich, 

Vgl.  IV  3  ,5  sidus  Hyperborei  solitns  lassare  Bootae:  Domitian 
soll  durch  seine  Standhaftigkeit  die  nordische  Kälte  ermüdet 
haben.  So  würde  in  unserem  Falle  nach  M.  das  Feuer  unter 
der  Standhaftigkeit  der  beiden  Hände  ermüden. 

14. 

In  XII  32,  einem  in  seiner  Art  bewundernswerten  Ge- 
dicht, schildert  M.  den  Umzug  des  Vacerra.     V.  11  fg.: 

Ibat  tripes  grabatus  et  bipes  mensa  11 

Et  cum  lucerna  corneoque  cratere 
Matella  curto  rupta  latere  meiebat ; 
Foco  uirenti  suberat  amphorae  ceruix. 

Zu  cratere  bemerkt  Friedländer:  „Könnte  ein  Oelgefäß 
sein  wie  Virg.  Aen.  VI  225,  und  dann  wäre  corneo  wohl  vom 
Holz  des  Kornelkirschenbaumes  zu  verstehen.  Doch  vielleicht 
schrieb  M.  corneaque  laterna.  Vgl.  XIV  61  und  62".  Die 
Alten  waren  allerdings  sehr  harthörig.  So  hat  sich  M.  ge- 
leistet XIII  91,  2  ambrosias  ornent  munera  rara  dapes:  das 
ra-ra-ra  ist  kostbar.  Schön  ist  auch  XIII  126, 2  haec  tibi 
tota  dato,  das  erinnert  an  Ovids  gleich  schönes  a.  a.  2,204 
tu  male  iactato,  tu  male  iacta  dato.  Aber  darüber  ginge  denn 
doch  hinaus:  et  cum  lucerna  corneaque  laterna. 

Aber  ganz  abgesehen  davon  bringt  Friedländer  den  M., 
wenn  er  ihm  corneoque  cratere  nimmt,  ohne  es  zu  ahnen, 
um  eine  „Schönheit".  Der  crater  ist  ans  Metall,  aber  er  ist 
trotzdem  corneus,  nämlich  „hornfarbig",  wegen  des  Schmutzes, 
mit  dem  er  bedeckt  ist,  genau  wie  v.  14  der  Heerd  grün  ist, 
weil  er  auch  nie  gereinigt  worden  ist  und  daher  mit  Grünspan 
tiberzogen  ist.  Corneus  „hornfarbig"  findet  sich  in  der  Zeit 
desM.  bei  Flin.  n.  h.  37,  89  hoc  in  Indicis  cereum  aut  corneum 
inuenitur,  iam  circuli  albi;  36,61  uitia  in  iis  corneus  colos 
aut  candidus. 

Etwas  Aehnliches  ist  Friedländer  widerfahren  II  14,  11: 
Nee  Fortunati  spernit  nee  balnea  Fausti, 
Nee  Grylli  tenebras  Aeoliamque  Lupi. 

Friedländer  bemerkt:  „Die  Aeolia  mag  den  Namen  von 
einem  Bilde  gehabt  haben,  das  die  Aeolusinsel  aus  der  Odyssee 
darstellte  und  vielleicht  auch  als  Aushängeschild  diente".     Das 


Zu  Martial.  117 

Aeoliamque  Lupi  ist  brillant.  Das  Bad  des  Gryllus  ist  finster, 
das  des  Lupus  windig,  zugig;  es  ist  ein  wahres  Aeolia:  der 
Windgott  Aeolus  selbst  scheint  dort  zu  hausen.  Dasselbe  Bild 
hat  M.  auch  VIII  14,5  at  mihi  cella  datur  non  tota  clusa 
fenestra,  in  qua  nee  Boreas  ipse  manere  uelit. 

15. 
XIII  65:    Perdices. 

Ponitur  Ausoniis  auis  haec  rarissima  mensis : 
Hanc  in  piscina  ludere  saepe  soles. 
Grerland,  lieber  die  Perdixsage  (Progr.  Halle  a.  S.  1871) 
S.  2  meint,  hier  könne  so  wenig  unter  perdix  das  Rebhuhn 
verstanden  werden  wie  XIII  76  (Rusticulae.  Rustica  sim  an 
perdix,  quid  refert,  si  sapor  idem  est?  Carior  est  perdix.  Sic 
sapit  illa  magis.)  und  III  58,12:  uagatur  omnis  turba  sordidae 
choi'tis,  argutus  anser  gemmeique  pauones  nomenque  debet 
quae  rubentibus  pinnis  (Flamingo)  et  picta  perdix  Nuuiidicaeque 
guttatae  (Perlhühner)  et  impiorum  phasiana  Colchorum  (Fasan). 
In  der  Tat  paßt  picta  in  der  letzten  Stelle  nicht  auf  das 
Rebhuhn  (perdix  cinerea:  Linne).  Vermutlich  ist  da 
wirklich,  wie  Gerland  glaubt,  der  Birkhahn  gemeint.  Wenn 
er  aber  annimmt,  XIII  65  und  76  könne  nur  auf  das  Schnee- 
huhn gehn,  so  irrt  er.  Er  versteht  nämlich  auis  rarissima 
als  „sehr  seltener  Vogel".  Rarus  heißt  auch  (Belege  sind 
überflüssig)  oft  „ausgezeichnet",  und  wenn  M.  das  Rebhuhn 
als  ein  ausgezeichnetes  Gericht  bezeichnet,  so  hat  er  recht. 
Aber  man  kann  auch  bei  rarus  „selten"  bleiben.  Auch  dann 
ist  das  Rebhuhn  rarissima  auis.  Wenigstens  ist  jetzt  das 
Rebhuhn  auf  der  Halbinsel  Italien  ungleich  seltener  als  in 
Oberitalien,  und  hier  wieder  in  demselben  Verhältnis  seltener 
als  bei  uns.  Damit  ist  im  Einklang  XIII  76  carior  est 
perdix;  und  hier  ist  um  so  eher  an  das  Rebhuhn  zu  denken, 
da  auch  sonst  Haselhuhn  und  Rebhuhn  nebeneinander  genannt 
werden:  Plin.  n.  h.  X  111  (aliae  aues)  currunt  ut  perdices, 
rusticulae  (Friedländer). 

Hanc  in  piscina  ludere  saepe  soles.  Die  Rebhühner  fliegen 
im  Frühling  paarweise  aus.  Sie  lassen  die  Fußgänger  ge- 
wöhnlich bis  ganz  dicht  herankommen  und  stoßen  dann  mit 
plötzlichem  Choe  empor.  Dieser  Choc  und  dann  die  eigen- 
tümlichen Geräusche  und  Töne,  mit  denen  sie  wegfliegen,  er- 
innern nicht  wenig  an  die  Art,  wie  ein  Mensch  sich  benimmt, 
dem  beim  Baden  plötzlich  Wasser  in  die  Nase  oder  in  die 
unrechte  Kehle  kommt  und  der  sich  nun  pustend  und  prustend 
hin  und  her  bewegt.  —  Zu  perdicem  ludere  vgl.  Cael.  fam. 
VIII  9,  1  ciuera  bonum  ludit. 

Schweidnitz.  Gustav  Friedrich. 


V. 

Kuba-Kybele. 

Vergleichende  Forschuiigen  zur  kleinasiatischen  Religionsgeschichte. 

Zu  den  allerbezeichnendsten  üeberresten  des  altheidni- 
schen, mekkanischen  Rituals  gehört  die  alljährliche  Beklei- 
dung der  Ka'aba  mit  einem  neuen,  sciiwarzsanimtenen  Ueber- 
zug.  In  goldgestickten  Lettern  prangt  auf  diesem  kostbaren, 
jeweils  vom  Khalifen  aus  Stambul  übersandten  Weihgeschenk 
das  Glaubensbekenntnis  Muhammeds  ^).  Aber  das  ist  auch 
alles,  was  diese  ehrwürdige  Festsitte  mit  dem  Islam  äußerlich 
verbindet:  der  rein  paganistische  Ursprung  und  Charakter  des 
Gebrauchs  ist  allgemein  anerkannt.  Wellhausen  ")  bemerkt 
zur  Erklärung  dieses  Herkommens:  „Die  Bekleidung  mit 
Zeugen  ist  alt ;  man  könnte  denken,  es  verrate  sich  darin,  wie 
bei  der  Stiftshütte,  der  Ursprung  aus  einem  Zelt.  Indessen 
ehrt  man  die  Heiligtümer  überhaupt  dadurch,  daß  man  sie 
bekleidet.  Auch  Muchtars  Bundeslade  war  auf  diese  Weise 
dekoriert  und  ebenso  das  Feldherrnzelt  Muavias".  Zweifellos 
steckt  ein  richtiger  Kern  in  diesen  Anmerkungen,  insofern 
nämlich  die  Begriffe  des  Zeltes  und  des  Umhangs  als 
Kleidung  auf  einer  gewissen  Kulturstufe  naturgemäß  aufs 
engste  zusammenhängen  ^). 

*)  Vgl.  Eugene  Damnas  und  Ausone  de  Chancel,  Itiueraire  d'une 
Caravane  etc.  Paris  1848  p.  127;  Vaujany,  le  Caire  etc.  p.  844;  die 
älteste  Erwähnung  dieses  Gebrauchs  findet  sich  m.  W.  in  einem  ai-ab. 
Ms.  der  Pariser  Nationalbibliothek  vom  Jahre  1137  cit.  bei  Giraud, 
Origines  de  la  soie  p.  67.  Die  Institution  des  Umhangsritus  selbst  — 
der  sog.  Kiswah  —  wird  auf  den  vorislamitischen  himyaritischen  Tobbä 
Asäd-Abu-Karib  zurückgeführt  (vgl.  ßurckhardt,  voy.  en  Arabie  t. 
I  p.  186  ff.;  Caussin  de  Perceval,  Histoire  des  Arabes  t.  I  p.  94;  Bur- 
ton, Pilgrimage  to  Medina  and  Mekka  t.  III  p.  29  e  ff.).  Das  Aufhängen 
der  neuen  Kiswah  wird  mit  dem  Anlegen  des  „ihram",  des  besonderen 
Pilgerkleides  durch  die  Wallfahrer  verglichen. 

'')  Reste  arab.  Heidentums^.    Berlin  1897  S.  73. 

^)  Vgl.   Echeziel    16,  16:    „Du  nahmst  von  deinen  Gewändern  und 


Kobert    Eisler,    Kuba-Kybele.  119 

So  läßt  sich  tatsächlich  zwischen  der  rituellen  Ueberzel- 
tung  und  der  Einkleidung  eines  Heiligtums  keine  scharfe  Grenz- 
linie ziehen:  11  Kön.  23,  7  weben  die  Hierodulen  „Häuser 
für  die  Ashera"  *)  im  Tempel  von  Jerusalem,  und  Paus.  HI,  16,  2 
heißt  es :  öcpatvouaiv  xax'  ixo^  ai  yuvacxss  xw  'AtcoXXcov:  'xi'^&va. 
Xü)  £v 'AjxuxXati;  xac  xö  otxr][xa  £v8-a  ucpatvouatv  yixGiVcc  xa- 
Xo^aiv.  Für  die  Erkenntnis  des  religiösen  Gehaltes  jenes 
Heiligtums,  auf  das  sich  der  fragliche  Ritus  bezieht,  macht 
es  auch  recht  wenig  Unterschied,  wofür  man  sich  schließlich 
entscheidet.  Beides,  Ueberzeltung  sowohl  als  auch  Einkleidung 
des  Fetischs  hat  nur  dann  eine  faßbare,  kultische  Bedeutung, 
wenn  der  Gebrauch  an  einem  persönlich  gedachten  Numen, 
wie  roh  auch  immer  seine  bildliche  Vergegenwärtigung  sein 
mag,  ausgeübt  wird.  Gerade  das  von  Wellhausen  angezogene 
Beispiel  der  Bundeslade  des  Muchtar  spricht  eine  deutliche 
Sprache  für  jeden,  der  einmal  einem  Judengottesdienst  beige- 
wohnt, und  gesehn  hat,  wie  die  Thorarolle  in  einen  gestickten 
Umhang  gehüllt,  mit  der  in  der  hl.  Schrift  für  den  Hochprie- 
ster vorgeschriebenen  Krone  gekrönt  ^),  mit  Neser,  Cic  und  den 
heiligen    Riramönim    Aarons    behängt'')    im    feierlichen    Um- 


macbtest  daraus  genähte  Höben(-zelte)".  Vgl.  dazu  den  Gebrauch  des 
altdeutschen  „umbihanc"  (amictus)  für  lat.  tabernaculum,  tentorium 
Steinmayer  I  489.  46;  Mönch  von  St.  Gallen  1,  4;  in  der  deutschen 
Genesis  (Fundgruben  2,  46,  9)  „in  sin  gezelt  er  gie,  niht  unversiiochtes 
er  da  lie,  do  er  da  niene  vant,  do  gienc  er  in  siner  tohter  umbehanch". 
Ebenso  das  spätlateinische  Wort  „casula"  (Isidor  origg.  „dicta  per 
diminutionem  a  casa,  quod  totum  hominem  tegat,  quasi  minor  casa"). 
Die  archäologischen  Voraussetzungen  dieser  semasiologischen  Beziehungen 
hoffe  ich  in  meinem  demnächst  bei  Beck  in  München  erscheinenden 
Buch:  „Weltenmantel  und  Himmelszelt"  erschöpfend  zu  behandeln. 

Hier  kann  ich  nur  flüchtig  auf  den  bezeichnenden  Parallelismus  mem- 
brorum  „Gehüllt  in  Licht,  wie  in  ein  Kleid,  spreitest  du  den  Himmel 
aus,  wie  einen  Zelt  Umhang"  (Ps.  104,  2);  „der  die  Himmel  ausdehnt, 
wie  einen  Schleier,  und  sie  ausspreitet,  wie  ein  Zelt  zum  Wohnen" 
(Jes.  40,  22)  „ .  .  .  .  diesen  Himmel  .  .  einem  Haus  vergleichbar 
.  .  den  sterngestickten  Mantel"  (Yasht  XIII  1)  usw.  verweisen. 

*)  Genauer  „Zelte"  mrxb  Q'n2.  Der  Text  ist  vollkommen  in  Ord- 
nung. Emendationen  aus  Unverständnis  des  Sachlichen ,  wie  sie  von 
verschiedener  Seite  vorgeschlagen  worden  sind,  sollten  füglich  unter- 
bleiben.    Vgl.  unten  Anm.  141. 

^)  Vgl.  das  berühmte  Sprichwort  von  den  drei  Kronen,  Aboth  4,  19 
„Es  giebt  drei  Kronen,  die  Krone  der  Thora,  die  Krone  etc." 

6)  Vgl.  Maimuni,  Sepher  Thora  10.  4  RGA,  Peer-ha-Door  N  91, 
Tur  T.  Dea  282.  Ben  Chan.  IV  (1H61)  .379.  Leopold  Low,  Kranz  und 
Krone  (ges.  Schriften  Szegedin  1893  III.  B.  S.  437). 


120  Robert  Eis  1er, 

gang  einhergetragen  und  mit  Kußfingern  begrüßt  wird.  Daß 
solche  Vorgänge  nur  aus  einer  mystischen  Personifikation 
der  Tliöra  —  ähnlich  den  Vorstellungen,  die  sich  in  helleni- 
stischer Zeit  an  die  Chokma-^ocpia  zu  knüpfen  begannen  ^),  — 
verstanden  werden  können,  liegt  auf  der  Hand.  Wenn  aber 
die  Annahme  solcher  —  halblatent  gewordener  —  Voraus- 
setzungen noch  für  eine  so  späte  Zeit  unvermeidlich  erscheint, 
wird  man  wohl  unbedenklich  auch  den  fraglichen  alt-mekka- 
nischen  Ritus  auf  die  Auffassung  der  Ka'aba  als  persönliche 
Gottheit  zurückbeziehen  müssen: 

Das  Wort  Ka'aba  selbst  ist  weiblich:  birgt  sich  also  —  wie 
längst  erkannt  worden  ist  —  eine  Göttin  hinter  dem  altehr- 
würdigen Aerolithfetisch,  dann  ist  der  Umhangritus  in  seinen 


')  Sap,  Salora.  72  ersehnt  der  Verfasser  die  göttliche  „Weisheit", 
die  Paredros  des  Schöpfers,  die  „auch  der  Herr  liebt"  als  „Braut". 
Späte,  grauenvolle,  aber  religionspsychologisch  höchst  interessante  .'Aus- 
wüchse dieses  erotischen,  diesmal  auf  die  heilige  „Lehre",  die  „Tora" 
gerichteten  Mysticismus  findet  man  im  Vorspiel  zu  Jacob  Wassermanns 
„Juden  von  Zirndorf"  geschildert.  Die  Samaritaner  sollen  nach  rabbi- 
nischer  Ueberlieferung  die  göttliche  „Weisheit"  in  Taubengestalt  ver- 
ehrt, genauer  gesagt,  wohl  bloß  vorgestellt  haben  (vgl.  Chulin  Via, 
Monumenta  talmudica,  Wien  19U7.  I  p.  21  Nr.  94;  dazu  Morgenstern, 
die  Verläumdungen  der  Juden  gegen  die  Samaritaner  Berlin,  sine  anno). 
Bei  den  Juden  ist  dieselbe  Vorstellung  von  der  Oberfläche  religiösen 
Bewußtseins  verdrängt,  jedoch  ursprünglich  sicher  ebenfalls  vorhan- 
den. Der  Ausdruck  m.iri  assyr.  tertu  selbst  wird  gewöhnlich  von  der 
j/waräwa,  hebr.  jarah  =  [Los]  „werfen"  abgeleitet  und  soll  demnach 
ursprünglich  „Losorakel"  bedeuten.  Einfacher  ist  es,  an  ein  regelmäßi- 
ges femin.  von  lin  tör  „Taube"  (zu  „tertü"  vgl.  „turtur",  alle  drei  For- 
men sind  onomatopoetisch)  zu  denken,  genau  wie  iat.  „auspicium",  griech. 
öpvcj;  semit.  ~i2l  =  „Biene"  und  =  „Wort",  wörtlich  „Lenkung",  „Be- 
fehl", ebenso  ~i)2X  =  „Schaf"  einerseits.  „Wort"  andrerseits;  das  letztere 
wegen  der  uralten  Extispicin  an  Schafen;  auf  den  analogen  Zusammen- 
hang von  hebr.  ti"";  =  „Schlange"  mit  dem  Verbum  Vm  =  „wahrsa- 
gen" (Gen.  0O27;  44  6, ir,;  Lev.  1926,  1  Kön.  '20s3)  hat  schon  Bochart, 
Hierozoikon  I  3  hingewiesen.  Dazu  Wellhausen  a.  a.  O.  147 1;  im  Apol- 
locult  (vgl.  unten  Anm.  200  über  dessen  orientalischen  Ursprung)  scheint 
man  mit  Absicht  die  semitische  Bezeichnung  der  Orakelschlange  „pa- 
thän",  griech.  „tujO-wv"  herübergenommen  zu  haben,  um  durch  Anleh- 
nung an  TTuvS-ävoiaa'.  dieses  Verhältnis  nachbilden  zu  können.  Ist  diese 
Erklärung  von  ,"niri  richtig,  dann  ist  „Thorah"  ursprünglich  die  tau- 
bengestaltige  Istar-Sophia ,  und  das  crud-geheimnisvoUe  Ritual  der 
Liebe.svereinigung  (Dietericli,  Mithraslitui\gie  131  f.)  mit  dieser  weibli- 
chen Gottheit  in  ihrer  mystischen  Bedeutung  ein  genaues  Gegenstück 
zur  Theophagie  des  Logos,  über  die  mein  Vortrag  „Origins  of  the  Eu- 
charist"  (s.  einstweilen  Transactions  of  the  III.  Internat.  Congr.  f.  the 
Hist.  of.  Rel.  Sect.  VllI  p.  352  und  Beil.  der  Münchn.  Neuest.  N.  "/lo. 
1908  S.  109;  Morris  Jastrow,  The  Nation,  New-York  1908  Nr.  2257 
p.  310)  zu  vergleichen  wäre. 


Kuba-Kybele.  121 

beiden  möglichen  Auffassungen  wohl  verständlich  :  Ueberzeltung 
eines  Weibes  muß  —  wie  W.  Robertson  Smith's^)  ausgezeichnete 
Nachweise  zu  dem  Ausdruck  „er  baut  ein  Zelt  über  ihr"  für 
die  consummatio  matrimonii  festzustellen  erlauben  —  als  Hoch- 
zeitsritus aufgefaßt  werden.  Dann  würde  die  Bekleidung  der 
Ka'aba  ■')  sich  als  Ueberrest  von  einer  alten  Feier  der  im  Hei- 
dentum aller  Völker  nachweisbaren  Hierogamie  der  Gottheit 
darstellen  ^"). 

Ist  jedoch  nicht  an  Ueberzeltung,  sondern  an  Bekleidung 
des  Fetischs  im  gewöhnlichen  Sinne  zu  denken,  dann  sind  die 
in  allen  Gülten  geübten,  jährlichen  oder  trieterischen,  sehr  oft 
mit  Hierogamiefesten  verbundenen  Bekleidungsceremonien  hoch- 
verehrter Götterbilder  ^')  zum  Vergleich  heranzuziehen  ^^). 
Allen  diesen  Schlußfolgerungen  wäre  auch  in  Ermanglung 
irgend  welcher  geschiciitlicher  Ueberlieferungen  über  die  Gott- 
heit, die  sich  hinter  den  durch  den  Islam  verdunkelten  Vor- 
stellungen vom  Wesen  der  Ka'aba  verbirgt,  nicht  auszuweichen. 

Nun  haben  jedoch  schon  Lenormant  ^  ^)  und  neuerdings  Blo- 
chet  ^'^)  eine  Reihe  vorislamitischer  Zeugnisse  aus  griechischen 


8)  Kinsiiip  und  Marriacfe  in  aiicient  Arabia.  Cambridge  1S85  S. 
1679  cf.  ZDMG  VI  215,  XXII  153. 

'•')  Der  Teil  des  Umhangs,  der  die  Thür  bedeckt,  wird  „bm-kah" 
geuannt,  genau  so  wie  der  Schleier,  den  die  Araberinnen  vor  dem  Ge- 
sicht tragen  (Burton,  tome  III  p.  295). 

'")  Tatsächlich  vergleichen  arabische  Mystiker  die  Ka'aba  einer 
Jungfrau  im  Schmuck  ihrer  schönsten  Brautkleider;  vgl.  den  bei 
Lenormant  am  unten  angegebenen  Ort  p.  154  citierten  Vers  des  Abd 
-er-Rahin  el  Buray  „und  die  Ka'aba,  die  Braut  von  Mekka  prangt 
neugeschmückt  mit  (Wunder)zeichen''.  Wem  die  Hierogamie  des  hl. 
Steines  zu  unwahrscheinlich  vorkommen  sollte,  der  erinnere  sich  etwa 
au  die  von  Heliogabal  gefeierte  Vermählung  der  Coelestis  von  Karthago 
mit  dem  ßaalsstein  von  Emesa  (Herodian  V  35,  Dio.  Cass.  79  12,  Domas- 
zewsky,  Arch.  f.  Rel.-Wiss.  1908  S.  226). 

")  Vieles  der  Art  vgl.  man  einstweilen  in  Frazers  Pausaniasaus- 
gabe  vol.  II  p.  592. 

*^)  Die  Ezech,  lös  erwähnte  Bedeckung  der  Braut  mit  einem  „Aba* 
genannten  Mantel,  wozu  der  Bräutigam  die  rituellen  Worte  spricht 
„niemand  soll  Dich  bedecken  als  ich",  ist  noch  heute  bei  den  Beduinen 
die  Hauptceremonie  ihrer  hochaltertümlichen  ßaubehe.  (Theoph.  Löbel, 
Hochzeitsbräuche  in  der  Türkei.  Amsterdam  1897  S.  41,  nach  Burck- 
hardt,  notes  on  the  Beduins  and  Wahabys,  London  1830). 

13)  Lettres  assyriologiques,  Tome  11  (1872)  p.  111—340  „sur  le  culte 
payen  de  la  Ka'aba  anterieurement  ä  1'  Islamisuie. 

")  Le  culte  d'Aphrodite  Anahita  chez  les  Arabes  du  paganisme, 
Revue  de  linguistique  XXXV.  B.  1902  S.  5  ff.  Ergänzend  vgl.  Roesch, 
Astarte-Maria,    ZDMG  XXXVIII  (1884)    S.  643—654.     Vorher   sind    die 


122  Robert  Eisler, 

und  orientalischen  Quellen  zusammengestellt^^),  aus  denen  mit 
Sieberiieit  hervorgebt,  daß  die  heidnischen  Araber  die  große  ma- 


Stellen  über  die  Venus  Xaßap  der  Araber  von  Gerhard  Voß,  de  origine 
et  processu  idolatriae  p.  467.  Lobeck,  Aglaopham.  p.  1227;  Movers, 
die  Phönizier  t.  I  p.  602  und  Melchior  de  Vogue,  Syrie  centrale,  In- 
seriptions  semitiques  p.   131   behandelt  worden. 

1=)  Niketas  Choniatas,  Migne  PG  GXL  c.  105  und  c.  132,  Nik. 
Byz.,  refut.  Moh  ,  Migne  PG  CV  c.  7D6  und  c.  797,  Glycas  ed.  Bonn  p.  514 
etc.  Dazu  kommt  eine  wichtige  Hauptstelle,  deren  Kenntnis  ich  der 
Erwähnung  von  Gruppe,  Hdb.  16132  verdanke,  bei  Epiphan.  (Oeliler 
corp.  haeresiolog.  vol.  II,  3  p.  633  add.).  Der  Kirchenvater  bespricht  die 
von  Usener  in  seinem  „Weihnachtsfest"  behandelte  Geburtsfeier  des 
Aion  aus  der  Köre  in  Alexandria  und  fährt  dann  fort:  Toöio  Se  xal 
£V  n  e  T  p  q:  tTj  ttcXsi,  ([iy]Tp6TzoXig  5s  äaxiv  xfjg  'Apaßiac;  r^zi^  daxLv  'ESö|jl  iv 
xaig  rpacpatg  YsypaiipiEVTi)  sv  xcp  exslas  siScoXitp  ouxdig  yivExat  xal  'A  p  a- 
ßix'^  SiaXixTcp  4^uiJtvouai,v  TT^vTxäp^evovxaXoövxsgauxYjv 
'Apaßiaxl  XaaßoO  xouxsoxiv  KöpYj  y]  y'  o5v  üäp'ö-svoc;  xal 
xöv  sg  ai)xf;s  ysYsvvYji^ievov  Aouaäpyjv  xoOtsaxiv  Movoysv^  xoö  Aeotxöxou".  Dazu 
vgl.  noch  Schol.  Gregor.  Bodley.  p.  43:  „xa'Jxvjv  lopxYjv"  (sc.  die  von 
den  Griechen  mit  dem  Ruf  ^-ri  ndp^-svoc,  xsxoxsv,  aijget.  cpög"  begangene 
Wintersonnwende)  „&c,  'Eutcfdcviog  ypdcpei,  "^yov  y.a.1  I^apaxTjvöl  TxäXat,  xtjv 
Txap'  aüxoig  osßo|i.svTjv  'AcppoSixrjv  r;v  Syj  Xaßxpa  x^  aüzrj  TxpogayopsiJouaLV 
yXwaaif/.  Usener  hat  sich  durch  die  Erwähnung  von  Kreuzeszeichen 
auf  dem  Götterbild  des  Aion  und  durch  das  Datum  ("./is.)  verleiten 
lassen,  bei  der  alexandrinischen  Feier  an  ein  von  Anfang  an  christliches 
(gnostisches)  Fest  zu  denken.  Aber  das  Kreuz  (Thav)  ist  ein  vorchrist- 
lich-heidnisches Symbol  und  die  Wintersonnenwende  war  „natalis  solis* 
schon  bei  den  alten  Babyloniern  (vgl.  Hommel ,  der  Geburtstag  des 
Tammuz,  Münchn.  N.  Nachr.  LVII  1!:'04  Nr.  597).  Höchst  wahrschein- 
lich ist  der  Cult  des  Alcov  -abl7,  ähnliche  etwa,  wie  der  des  syrophöni- 
zischen  Resef,  den  die  Aegypter  als  "Respu"  übernahmen,  schon  in  vor- 
christlicher Zeit  durch  die  tyrischen  Kolonisten  in  Alexandria  eingeführt 
worden.  Die  Erwähnung  eines  Sohnes  der  Xaaßoö  setzt  natürlich  eine 
Hierogamie  voraus,  was  zu  den  oben  gemachten  Annahmen  gut  stimmt. 
Ueberdies  heißt  es  bei  Niketas  Choniatas,  Thesaur.  orthodox,  ex  Ms. 
bei  Lenormant  126 1  nach  dem  sehr  gut  unterrichteten,  des  Arabischen 
kundigen  Euthymius  von  Zygabene:  „  dvaS-s^iaxt^cü  .  .  .  xöv  (sc.  iv  Mex-jj 
o'ixqj  TxpoasuxY;?  övxa)  Xid-ov  |isyav  £xx'J7LCüp.a  xTjg  'AcppoSixyjg  exovxa;  v.[ia,a- 
%(x.i  (cpaa'c)  §£  xo'jxov  (I)g  eTiävcüO-sv  auxoOx>5"Ayap  öfiiXT^oav- 
z  0  c,  xoö  'AßpaäiJL,  ri  wg  aöxcp  xtjv  >td[JLyjXov  TxpogSiQaavxos  öxe  xöv 
'loaäx  iusX/ls  O-üsiv."  Die  biblische,  auf  die  Hanifen  und  Mohammed 
zurückgehende  Uebertünchung  dieses  Berichtes  ist  leicht  zu  entfernen. 
„Ab-räm"  „Vater  des  Erhabenen"  ist  eine  alte  Epiklese  des  männlichen 
Paredros  der  mütterlichen  Göttin,  „Hagar"  —  in  der  Bibel  offenbar 
nach  ass.  agru,  agarru  =  Sklave  gedeutet  im  Gegensatz  zu  Sara  = 
„Herrin"  (vgl.  den  Gottesnamen  'Öbed  =  „Knecht")  —  heißt  arabisch 
einfach  „Stein";  vgl.  Galaterbrief  425:  „xö  Ss  "Ayap  Sivöc  ö  p  0  5"  —  die 
übliche  Gleichsetzung  von  hl.  Berg  und  hl.  Stein  —  eaxiv  iv  x^  'Apaßiqc 
Quazoiy^el  be  zrj  vöv  'IspouaaXTip."  ;  das  letztere  weil  „hagar"  mit  dem 
schwächeren  Hauchlaut  südarabisch  und  aethiopisch  „Stadt"  bedeutet 
(vgl.  Hommel,  Griindr.  163  3;  zur  richtigen  Würdigung  der  Deutung 
des  Namens  aus  dem  arabischen  bedenke  man,  daß  „Hagar  ham-Mis- 
rith"  Gen.  16 1  nach  Winckler's  glänzender  Entdeckung  des  Landes 
Musri  in  Nordarabien  nicht  mehr  „H.  die  Aegypterin",  sondern  „H. 


Kuba-Kybele.  123 

triarcbale  Göttin  der  Semiten  unter  einer  Reihe  von  Namen  verehrt 
haben,  die  lautlich  aufs  engste  mit  „Ka'aba"  zusammenhängen. 
Ueberliefert  sind  und  zwar  in  einer  durch  die  beigefügten  Deu- 
tungen ziemlich  gesicherten  Schreibung,  die  Formen  Xa[xap, 
"Ka^dp,  Xoußap,  KaßYjp,  XaaßoO  ^'^).  Trotz  des  Interesses, 
das  sich  an  die  Ka'aba  als  das  Centralheiligtum  des  Islam 
knüpft^'),  wäre  diese  Reihe  von  Epiklesen  für  die  antike 
Religionsgeschichte  von  sehr  untergeordneter  Bedeutung,  wenn 
es  sich  wirklich  nur  um  arabische  Namen  der  Göttin  von  be- 
schränkter localer  Geltung  handelte.  Das  ist  jedoch  keineswegs 
der  Fall.  Zweck  dieser  Zeilen  ist  vielmehr,  zu  zeigen,  daß 
diese  Cultnamen  einst  durch  den  ganzen  Geltungsbereich  west- 
semitischer Cultur  verbreitet  gewesen  sein  müssen  und  den 
Schlüssel  zum  Verständnis  des  Namens  sowohl,  als  auch  des 
ursprünglichen  Wesens  der  großen  Göttermutter  von  Klein- 
asien enthalten,  deren  Cult  schon  im  6.  Jhdt.  von  den  Grie- 
chen  und  —    als    erste   unter  allen  morgenländischen  Super- 


die  MuQriterin"  (=  Araberin)  übersetzt  werden  muß").  Hagar,  die 
mythische  Stammmutter  der  'Agarener  ist  also  einfach  die  mit  dem 
Vatergott  Ab-r  am  (nach  Jakut  s.v.  Hagar  und  'Ain  Muhallim  dagegen 
mit  dem  F  1  u  ß  gott  —  dazu  unten  Anm.  60  — ,  von  Bahrain  namens 
Muhallim)  vermählte  Göttin  des  heiligen  Steines  selbst.  (Das  An- 
binden des  Kamels  ist  natürlich  ein  Anbinden  des  Opfertiers,  wozu 
der  berühmte,  von  Robertson  Smith  erörterte  arabische  oia.oTta.'j^öq 
eines  Kamels  zu  Ehren  des  Morgensterns  in  der  Vita  des  hl. 
Nilus  zu  vgl.  wäre).  Endlich  ist  die  Legende,  daß  die  beiden  Steini- 
dole Asaph  und  Nailä  unweit  der  Ka'aba  die  Leiber  eines  Frevlerpaares 
seien,  das  durch  den  Zorn  der  Gottheit  wegen  einer  im  Tempel  selbst 
vollzogenen  \i.lz'-Z  iui  Actus  selbst  versteinert  worden  wäre  (Kazwini  und 
Jakut  bei  Lenormant  a.  a.  O.  235)  nur  ein  weiteres  Zeugnis  dafür,  daß 
eine  solche  Ceremonie  an  den  Steinidolen  der  Ka'aba  gefeiert  wurde. 
Dieselbe  Versteinerungslegende  wird  (Lenormant  a.  a.  0.)  auch  von  den 
beiden  Bergen  Adjä  und  Selmä  im  Nedjd  erzählt,  sodaß  wieder  die 
Entsprechung  von  Berg-  und  Steinfetisch  zu  Tage  tritt. 

>*)  Der  arabische  Stadtname  Chabuata,  Ptolem.  6,  7  p.  409  28  muß 
aus  dem  besprochenen  Xaaßoö  -j-  dem  u.  a.  für  Palinyra  vielfach  be- 
zeugten "nr(„Ati''  Göttin  von  Adiabene,  Pseudomeliton  Corp.  Apol. 
Christ.  Otto  IX  505;  426;  verschleierte  Göttin  auf  dem  Löwen  mit  der 
aramäischen  Beischrift  TS?  auf  den  kleina.siatischen  Münzen  bei  Head, 
bist.  numm.  616)  zusammengesetzt  sein.  (Während  der  Correctur  teilt 
mir  Hommel  freundlichst  mit.  daß  er  Chabuata  vielmehr  mit  '^Sabwat 
identifiziert;  dann  würde  das  Zeugnis  des  Namens  für  den  erörterten 
Synkretismus  entfallen). 

")  In  diesem  Sinne  haben  sich  Lenormant  und  Blochet  mit  der 
Frage  beschäftigt. 


124  Robert  Eis  1er, 

stitionen  —  auch  von  den  Römern  im  Jahr  204  v.  Chr.  über- 
nommen worden  ist  ^^). 

Die  Uebereinstimmungen  sind  zu  zahlreich  und  verschie- 
denartig, als  daß  der  Zufall  dabei  eine  Rolle  spielen  könnte: 
Die  Dinge  liegen  vielmehr  so,  daß  eine  Reihe  von  Epiklesen 
der  kleinasiatischen  Gröttiu,  die  griechisch  unverbunden  und  ohne 
ersichtlichen  Grund  neben  einander  liegen,  im  westsemitischen 
Sprachschatz  durch  das  Band  des  Gleichklangs  und  der  Buch- 
stabengleichheit, die  Basis  aller  morgenländischen  Wortmy- 
stik ^^)  und  religiösen  Begriflfsbildung,  sinnenfällig  verbunden 
sind.  Sich  über  diese  Tatsachen,  wenn  sie  einmal  beobachtet 
worden  sind,  hinwegzusetzen,  und  nach  wie  vor  selbständige 
Etymologien  der  kleinasiatischen,  bloß  übertragenen  Götterna- 
men einzeln  aus  dem  Aermel  zu  schütteln ,  wird  in  Zukunft 
wohl  nicht  mehr  angehn.  Ich  gebe  hier  kurz  und  hoffentlich 
übersichtlich  das  wesentliche  zur  selbständigen  Beurteilung  der 
Frage  erforderliche  Material.     Man  vergleiche: 

I.  zu  avab.  „ka'ab"  =  „Würfel",  wörtl.  „Knöchel",  griech. 
„xußos"  =  „Wirbelknochen",  „ Würfel "^o),  lat.  „cubus".  Beide 
Ausdrücke  dürfen  wohl  als  Lehnworte,  aus  Kleinasien  nach  Grie- 
chenland, und  über  Unteritalien  nach  Rom  eingeschleppt  durch 
die  alt-pythagoräische  Philosophie  der  Jonier  gelten.  Der  Name 
„Kybele",  in  phrygischen  Inschriften-^)   „Matar  Kubile",  also 


^^)  Vgl.  darüber  zuletzt  Fr.  Cumont,  les  religions  orientales  dans 
le  paganisme  romain.     Paris  1907  S.  57  ff. 

**)  Die  Ausdrücke  „Wortspiel"  und  „Volksetymologie"  vermeide 
ich  absichtlich,  da  die  Semiten,  die  für  „Wort"  und  „Sache"  denselben 
Ausdruck  "13T  gebraueben,  nur  allzu  geneigt  sind,  Gleichungen  und 
Deutungen  dieser  Art  blutig  ernst  zu  nehmen.  In  einzelnen  Fällen  hat 
schon  Lenormant  (a.  a.  0.  232  u.  256)  das  Prinzip  anerkannt  („la  pos- 
sibilite  d'  une  etymologie  multiple  a  souvent  e'te  voulue  et  recherchee 
dans  les  noms  religieux  et  niythologiques  des  peuples  de  l'antiquite"). 
Der  einfachste,  solchen  Speculationen  am  häufigsten  zugrundeliegende 
Tatbestand  sind  zufiiUige  oder  in  pi-ähistorischer  Semasiologie  begrün- 
dete Homonymien.  Dazu  kommt  noch  willkürliche  oder  systematische 
(nach  den  Prinzipien  des  Atbas  und  dergl.)  vorgenommene  Aenderung 
eines  Buchstabens,  die  „temura"  der  Kabbalisten.  Mystische  Er- 
klärungen von  der  im  Text  besprochenen  Art  nennen  die  Rabbinen  mit 
einem  küchenlateinisch-griecliischen  Ausdruck  „Notarikon"  von  „notare" 
■=  „buchstabieren". 

20)  Vgl  die  bei  Leo  Meyer  Hdb.  der  griech.  Etymologie,  Leipzig 
1901   n.  B.  S.  269  gesammelten  Stellen,  bes.  Rbian  bei  Pollux  II  180. 

^^)  Kretschmer,  aus  der  Anomia  20,  1. 


Kuba-Kybele.  125 

sprachlich  den  Formen  xu^oc-cubus  genau  entsprechend,  wird 
tatsächlich  von  den  Alten  ^^)  areö  xoö  xußtxoü  o/Vjfxaxog  ab- 
geleitet, eine  Etymologie,  die  viel  von  ihrer  barocken  Komik 
verliert,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt ,  daß  ihr  natürlich 
die  Form  des  altberühmten  Fetischs  der  Göttin  zu  Grunde 
liegt.  Für  den  pessinuntischen  Stein  ist  nun  allerdings  die 
Würfelform  nicht  ausdrücklich  überliefert.  Allein  dafür  ist  im 
arabischen  Petra  (Sela,  Zur,  Rekem?)^^),  das  seinen  Namen  doch 
zweifellos  von  dem  dortigen  heiligen  Stein  führt,  und  wo  sich 
nach  Epiphanius  ein  berühmter  Cult  der  Xaaßoö  befand,  aus- 
drücklich die  Verehrung  des  Xt'^os  (J-eXa^  TeTpaywvoi;  äxutiw- 
toc  -*)  bezeugt.  Ebenso  wie  der  schwarze  Stein  der  Ka'aba 
von  Mekka  ist  auch  der  kleinasiatische  Fetisch  ein  Aerolith  ^^). 
Zu  allem  Ueberflusse  aber  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  der 
Name  des  Hauptheiligtums  der  Göttermutter  „Pessinunt" 
mit  Hilfe  des  spezifisch  kleinasiatischen ,  von  Kretzschmer  ^^) 
zuerst     in     seiner    vollen     Bedeutsamkeit    erkannten    Suffixes 


■^^)  Vergl.  Laur.  Lydus  III.,  34;  myth.  Vatic.  III.  22.  Dazu  Cornu- 
tus,  nat.  deor.  ed.  Osann  p.  245  und  280  mit  den  Anmerkungen  von 
Villoison  zu  der  Stelle. 

■'^)  IldTpa  =^  Rekem  bieten  die  Onomastica  Sacra  des  Euseb  und 
Hieronymus  ed.  Lagarde  145,  und  p.  286 71  ;  cf.  Joseph.  Antiqq.  4?,  7i; 
dagegen  verwenden  die  griechischen  Versionen  des  AT  Ilsxpa  ständig 
für  Selah  (Fels)  des  Grundtextes.  „Zur"  :=  Fels,  altlat.  Sarra  endlich 
ist  bekanntlich  die  semitische  Originalforra  des  phönizischen  Stadtna- 
mens Tyrus.  Inschriftlich  ist  die  semitische  Benennung  von  Petra  bis 
jetzt  nicht  überliefert.  Ueber  die  dortigen  Culte  siehe  bisher  Brünnovr- 
Domaszewsky,  die  Provincia  Arabia  I  191. 

^*)  Suidas  s.  v.  %-ebc,  "Ap7]s.  Max.  Tyr.  Diss.  VIII  8.  Der  fragliche 
Stein  ^  wurde  zu  Ehren  des  Dusares  —  Aouaapyjg  =  Du'  sarä  =  Besitzer 
des  Sarä-Gebirges  (Seir  =  Edom)  d.  h.  des  ßa'al  von  Arabia  Peträa  — , 
also  vrohl  bei  dem  durch  Epiphanius  bezeugten  Fest  seiner  Geburt 
aus  der  Xaaßoü  mit  Blut  beschmiert.  Für  solche  parallellepipedische 
oder  -würfelige  Steine  ist  arab.  „nusb"  plur.  „angab"  terminus  technicus. 

'*)  Gruppe  Hdb.  773,  5.  Lenormant  a.  a.  0.  118.  Mit  Rücksicht 
darauf  wollte  man  den  Stadtnamen  „Pessinunt"  von  Trsaslv  ableiten, 
■was  wohl  nur  mittelbar  (s.  u.  Anm.  28)  das  richtige  trifft.  Ueber  den 
Fall  des  Steines  vgl.  Marmor  Parium  Z.  18;  Liv.  29,  11;  Appian  VII 
56;  Herodian  I  Ui;  Ammian.  Marc,  22,22;  Diod.  und  Dion.  bei  Tzet- 
zes  Lykophr.  855.  Einen  Meteorstein,  den  Pindar  fallen  sieht,  widmet 
er  der  Göttermutter  (Schol.  Pyth.  III  137).  Ebenso  waren  das  älteste 
Bild  der  Athene  in  Athen  (Paus.  I  26  6  vgl.  dazu  unten  Anm.  149),  die  Sta- 
tue der  Artemis  in  Tauris  (Eur.  Iph.  Taur.  977)  und  die  der  Artemis 
von  Ephesus  (Act.  Apost.  19  36)  StoTCötsig  XL%-oi. 

2^)  Einl.  in  die  Gesch.  der  griech.  Sprache,  Göttingen  1896  S.  402 f. 
nach  dem  Vorgang  von  Pott,  Personennamen  (1853)  S.  451. 


126  Robert  Eisler, 

-nt -')   aus    Tisaacc  bzw.    Tieaadv    „Spielstein"-*),    „Würfel"  ^^) 
abjjeleitet  ist. 


")  Derselbe  Suffix  findet  sich  bezeichnenderweise  auch  in  dem 
Cultnamen  der  Göttin  BspsxüvS-ta  (raater  und  dergl.,  Gruppe  Hdb.  15283). 
Den  Volksstamm  der  Bspey.uvS-ai  (=^  Phiyger)  hat  Hommel  Grundr.  32, 
in  der  verdumpften  Form  ^Buru'gumzi"  (dazu  vgl.  viell.  einerseits  die 
wahrscheinlich  aus  Kleinasien  in  ihre  ältesten,  nafhweisbaren  Sitze 
zwischen  Oder  und  Weichsel  eingewanderten  Burgundiones,  andrerseits 
den  Ortsnamen  Bur-un-da  aus  *Bur-'gunda  im  Gebiet  der  8uti-Nomaden 
in  Mesopotamien  III  Rawl.  (56  Col.  V37  und,  wie  ich  hinzufüge,  die 
Bpuy.o'Jvxioi  von  BpuxoOs  auf  der  Insel  Karpathos)  keilinschriftlich  nach- 
gewiesen. Uebersehen  wurde  bisher,  daß  das  allgemein  als  echt  phrygisch 
angesehene  Wort  Bspsx'jc;  (Kretschmer  Einl.  S.  186)  offenbar  eine  aufge- 
rauhte Nebenform  von  KzXzv.'):;  ==  „Doppelaxt",  dem  bekannten  hethitisch 
kleinasiatisch-kretischen  Cultsymbol  ist;  vgl.  die  Formen  skr.  paracju, 
sumer.  *bal[ag],  babyl.-assyr.  pilakku  ^  „Beil",  die  schon  Hommel,  Vir- 
chow's  Arch.  f.  Anthropol.  XV  188.5  Suppl.  S.  165  a  zu  griech.  tz.  ge- 
stellt hat.  Die  „Berekynthia"  ist  also  wie  Dionysos  Pelekys,  (Theopomp, 
fr,  389)  und  der  indische  Para9u-Rania,  wie  Sangarios  und  die  layapig 
vi)|i--fvi,  wie  Phorkys-Pherekys,  wie  Zeus  Labrandeus,  vor  allem  aber  wie 
der  Käßsip  (s.  u.  Abschn.  IV)  Axieros  und  Axiokersos  (A.  B.  Cook 
Trans.  III.  Intern.  Congr.  Hist.  Relig.  Oxford  1908  p.  Ui4)  und  wie 
Dionysos  „Axios  Tauros"  (Reinach)  nach  ihrer  „bipennis",  der  Natio- 
nalwaffe der  Berekynten  oder  Phryger  und  der  Pelag-sker  (über 
nsXaayci  aus  neAcy-oxo'.  s.  Fick,  vorgriech.  Ortsn.  Gott.  1905  S.  19; 
vgl.  auch  $  141  den  Heros  Pelegon,  Sohn  des  Klußgotts  Axios 
=  Peleg  in  der  Völkertafel  Gen.  10  25)  oder  P  e  1  a  gonen  überhaupt, 
vielleicht  auch  der  Perser  (Wortspiel:  „ Prithu-Par9avah  „Axtführende 
Parther"  Rig  Veda  7,  88),  deren  Priester  nach  Plin.  N.  H.  30i4  06142 
die  Axinomantie  ausübten,  benannt.  („Bpiv-iaiAata  •  op/Yjaig  ^puyi-axr;'' 
[Hesych]  ist  der  Waffentanz  der  beilbewehrten  Kureten  [vgl.  die 
Kuretennamen  AdcßpavSoc:  und  näXay.-aos  Etym.  Magn.  s.  v.  EOSaivog 
389  57],  wodurch  sich  Fick's.  vorgriech.  ON  17  vorgeschlagene  Deu- 
tung des  Namens  Bherekunth  ebenso  erledigt  wie  die  ibid.  42  ver- 
tretene Deutung  von  Bryküs  durch  ßpuxög  „Heuschrecke").  Dazu 
möchte  ich  nur  auf  die  Glosse  xußeJiaai  =  7i£/lsxr,aa'.  bei  Photius, 
cf.  Etym.  Magn.  5424?  ^vJ/^rp.t.c,-  6  liävxixog  TisÄsx'jg"  und  die  Bezeich- 
nung eines  Beiles  als  xußvjXig  (Kratin.  fr.  345)  verweisen,  die  deut- 
lich zeigt,  wie  man  sich  damit  vergnügte,  durch  Metathese  der  Buch- 
staben Tt-i-x  fVi  xß-Ä  den  Namen  der  Kybele,  mit  dem  hl.  Doppelbeil 
in  mystische  Beziehung  zu  bringen.  (Andere  Beispiele  für  solche 
metathetische  Buchstabenspiele  in  der  altorientalischen  Theologie  wä- 
ren etwa,  wenn  „Reseph"  [=:  „Blitz"],  der  altkananäische  Feuer- 
gott [CIS  I  38]  als  Säraph,  der  „Brenner"  oder  der  „Kerub",  der  Wa- 
gen [„raerkaba"]  der  Gottheit  [Ps.  18,  11  etc.]  als  Umkehrung  von 
„Rekub"  der  göttliclie  Wagenlenker  (Zeitschr.  f.  Assyr.  1896  p.  252; 
Sachau,  Aram.  Inschr.  Sitz.  Berl.  Ak.  Wiss.  1896  S.  41)  volksetymolo- 
gisch erklärt  wird.)  Vgl.  dazu  unten  über  die  mit  der  Göttin  selbst 
gleichnamigen  Cultgeräte  x-'jßßa  x'j|j,ßaÄa,  ferner  die  bei  den  Lexikogra- 
phen erhaltene  Bezeichnung  des  Bienenstocks  als  x'Jߣi)-pov  —  wie  Xsi- 
ßsö-pov  —  wozu  die  Nachrichten  (Didym.  bei  Lact.  inst.  I  22;  Alex  ab. 
Alex.  gen.  dier.  II  8)  über  die  [isXiaaat  der  Magna  Mater  und  die  jjls- 
X'.aaovöiJioi  und  scar^vög  der  ephesischen  Artemis  (Paus.  VIH  p.  776 ; 
Aesch.  fr.  361;  Aristophan.  Ran.  v.  1273  etc.)  zu  vergleichen  wären;  -ö 
xußäXtov,    das    schwarze  Veilchen  (Dioskur.)    heißt   natürlich   so   wegen 


Kuba-Kybele.  127 

II.  Epiphaniiis  übersetzt  den  arabischen  Namen  der  Göt- 
tin Xaaßoö  mit  griech.  Koprj  oder  IlapO-lvo; ;  ohne  Zweifel  im 
Hinblick  auf  eine  ganze  Reihe  bekannter,  von  der  Wurzel 
„ka'aba"  =  „entwickelte  Brüste  haben"  ^°)  abgeleiteter  Worte, 
als  da  sind  „ku'ub"  =  „Busen",  „ka'ab"  =  „Mädchen  mit  vol- 
ler (reifer)  Brust",  „ku'ba"  =  „Jungfräulichkeit".  Nun 
ist  aber  nicht  nur  der  besondere  Culttitel  Ilapöivo;  für  die 
klein  asiatische,  sonst  als  MrjXTjp  '^^)  bezeichnete  Göttin  ausdrück- 
lich bezeugt  ^-),  sondern  auch  der  Vorstellungsgehalt  dieses 
besonderen  semitischen  Wortes  in  Kleinasien  a)  durch  die  he- 
thitische  Hieroglyphe  der  zwei  Brüste  <|  O  für  die  weibliche 
Hauptgottheit  des  Landes  ^^),  b)  durch  das  ephesische  Idol  der 
vielbrüstigen  Göttin  ^*),  c)  durch  den  von  der  gleichbedeutenden 
Wurzel    „nahada"    =    „vollbrüstig    sein"    abgeleiteten  Namen 

seiner  Verwendung  im  Kybelecult ;  nach  Arnob  5  71,4,  Ovid  fasti  V  227 
entstehen  die  Veilchen  aus  den  abgetrennten  Schamteilen  des  Attis. 
Den  Beinamen  der  Kybele  als  A&ßpivy)  (Gruppe  Hdb.  I52I3,  1541i,  15506, 
auch  als  Bergname  bei  Kyzikos  ib.  .3l8ol  wird  man  demgemäß  zu  Xa.Sp'Jg 
=  Doppelaxt  zu  stellen  haben.  Auch  die  nXay.'.ocv-/j  (Selling.  Athen. 
Mitt.  VII  151  ff.)  und  die  K.  s-/.  nXaxias  CIG  3657  dürften  zu  *  balag. 
tAIsy-oc,  (vgl.  oben  llaXay.-oog)  gehören.  Vgl.  noch  Tibull  I  647  über 
das  Doppelbeil  der  Mah-Bellonapriesterin.  und  Quint.  Smyrn.  I  597 
über  die  TtsXsx'Jg  als  Waffe  der  'A-|j.ä^ov£c;,  der  am  Busen  verstümmelten 
Priesterinnen  der  vielbrüstigen  Göttin  (cf.  , Weltenmantel "  S.  150  ff ), 
Nach  ihrer  Ast  heißen  natürlich  diese  Tempel  d  i  r  n  e  n  -y.XXc/.YJ.bsc, 
(TtäXXaSs?)  phoen.-hebr.  ^pileges"'. 

-*)  Die  Verwendung  des  Ausdruckes  Tisaaci;  für  den  viereckigen 
Untersatz  unter  den  Stützen  der  Schwibbogen  bei  Strabo  u.  a.  beweist, 
daß  auch  die  tzzogoI  würfelig  waren. 

-^)  Vgl.  Sophocl.  fr.  438  N  rcssacjs  -/.ußoüs  xs  y.zX. 

3")  Lane,  arab.-engl.  Dictionary  p.  2615. 

^1)  Die  Titel  Mvixyjp  und  üapö^svoc;  hängen  mit  der  Hierogamie  der 
Gottheit  zusammen.  Vor  dem  Fest  (vgl.  oben  Anm.  10,  12,  14)  ist  das 
Numen  Jungfrau,  beim  Fest  Braut  (vgl.  etwa  die  Doppelgängerin  der 
Kybele,  die  Sayaplg  v  'j  |j,  :p  vj)  nachher  Mutter. 

^-)  Julian  or.  166  b. ;  über  den  Hap&svcöv  der  Kybele  s.  Athen.  Mitth. 
VII  1882  1556.  Vgl.  dagegen  das  sonst  bezeugte,  als  athenisches  Staats- 
archiv bekannte  [lyjTpwov.  Ferner  v.  1  des  orphischen  Demeterhymnus, 
Diels.  Fr.  Vorsokr.  ^  p.  481  Z.  16  Ttpaxoyövq)  Vq  [laxpl  s^rj  Kuße- 
Xv^ta    Köppa  xtX. 

^^)  Hommel,  Grundr.  522. 

^*)  Blochet  a.  a.  0.  verweist  auf  die  zahlreichen  sogenannten  Astar- 
tenidole, die  ihre  Brüste  mit  den  Händen  pressen.  Der  Name  „Arte- 
mis" für  die  ephesische  Göttin  ist  nach  v.  Wilamowitz'  richtiger  Deu- 
tung fem.  zu  apTajiog  „Schlächter"  und  bezeichnet,  ähnlich  wie  „Per- 
sephoneia"  die  nefaste,  winterliche,  alles  tötende,  jungfräuliche  Incar- 
nation  der  Göttin  Istar,  im  Gegensatz  zur  mütterlichen,  lebenspenden- 
den Sommergöttin.  Vgl.  die  berühmten  Verse  im  „Mercator"  des  Plau- 
tus:  „Diva  Astarte,  hominum  deorumque  vis,  vita,  salus,  rursus  eadem 
quae  es  pernicies,  mors,  interitus".     Vgl.  jedoch  Anm.  174. 


128  Robert  Eisler, 

der  kleinasiatisch-pevsischen  Göttin  Anahita^^)  d)  dnrcli  die  ent- 
sprechenden griechischen  Epiklesen  der  kleinasiatischen  „Deme- 
ter" MeyaXofia^o;  ^'^)  und  Acxafxal^os ")  sicher  zu  belegen. 

III,  Bei  Pollux  ^^)  heißt  es:  otüßo;  auxo  xb  ßaXXGptevov  xa- 
Xzixa:  y^cd  -^  ^v  auxw  ■aoiXözTjq.  Derselbe  Begriff  der  Höh- 
lung^^)  oder  des  Hohlraums  geht  aus  der  Verwendung  des  Be- 
griffes x6ßo5  zur  Bezeichnung  der  „vor  der  Hüfte  gelegenen 
Höhlung"  beim  Vieh  ^^)  hervor.  Zu  dieser  Bedeutung  von  xu- 
ßo?  gehören  dann  als  Deminutiva  xußsXov  =  Höhle,  Gremach  *^) 
und   xußtoXov    =    Ellbogen  ^^) ,    wörtlich    möglicherweise    das 

35)  Blochet  a.  a.  0.;  Hoinmel  Grnndr.  200 1.  Vgl.  den  Istar-Bei- 
namen  'A^ltar  von  'a^tar  .üppig  sein*  ibid.  89  u.  Anm.  1 224  , Maria" 
die  ^ Dicke".  Ueber  die  Identifiljation  von  Kybele  und  Anahita  in  In- 
schriften s.  Gruppe  Hdb.  1594 1,  1584 1. 

^®)  Gruppe  Hdb.  84  2.  Wahrscheinlich  ist  auch  die  Hesiodeische 
yaia  söpüa-cepvog  (Theog.   117)  hierher  zu  ziehen. 

")  Gruppe  Hdb.  11787. 

38\    9  195 

^^)  Gemeint  ist  das  Loch  im  Wirbelknochen,  durch  das  der  Rücken- 
markstrang hindurchläuft. 

*»)  Athenäus  IX  399  B. 

*')  K'JßsXa,  av-pa  v.al  %-y.AOi\i.oi  Hesych. 

*-)  Pollux  2,  141  wie  si5o)Aov  zu  slooc,.  Daneben  -/.Oßt-iov  (wie  äXcpixov) 
lat.  cubitus  =  Elle.  Dazu  macht  mich  mein  Freund  Wolfg.  Schultz 
auf  die  Möglichkeit  aufmerksam,  daß  man  die  Seitenlänge  des  heiligen 
Würfels  als  Maßeinheit  genommen  haben  könnte.  Die  Vermutung  be- 
sticht deshalb,  weil  „Elle",  hebr.  'ammä  HCN  bab.  ammatu  heißt  und  ge- 
nau dieser  Name  ''A[JL(ia  —  natürlich  zunächst  in  der  Bedeutung  „Mut- 
ter", Kretschmer  Einl.  355  —  als  Culttitel  der  Kybele-Rheia  überliefert 
ist.  (Vgl.  dazu  die  karthagische  Inschrift,  Euting,  punische  Steintaf. 
XXII  Nr.  215  „«JSSb  nZ"ib"  „der  Herrin  'Amma-'.)  Bekanntlich  ist 
nun  diese  Rheia- Kybele -'Amma  die  Mutter  —  der  Dactylen,  was 
seinerseits  dem  Verhältnis  der  Elle-'Amma  zur  kleineren  Maßeinheit 
'esba'-oay.TuÄog  (vgl,  die  hebr.  Maßtafel  des  Byzantiners  Julianos  von 
Askalon,  Hultsch,  Metr  scr.  I  200  f.)  gut  entsprechen  würde.  (Vgl.  übri- 
gens unten  Anm.  182  über  die  „Hand"  —  deren  Kinder  dann  naturgemäß 
die  „Finger"  sind  —  als  Istarsymbol.)  Dazu  kommt  eme  weitere  Pa- 
rallelle:  Hommel  (Grundr.  51 3  cf.  126«)  hat  daraufhingewiesen,  daß 
ein  Schuh  in  den  hethitischen  Inschriften  als  Gottesdeterminativ  ge- 
setzt zu  sein  scheint.  Daraus  habe  ich  (Weltenmantel  166.s)  geschlossen, 
daß  die  in  Kleinasien,  Sparta  und  Sardinien  in  Ortsnamen  vorkommende 
Bezeichnung  des  heiligen  Schuhes  oavdccXtov  (Schuh  des  Hermes,  der  0  m  - 
pha  1  e  etc.)  auf  den  Gottesnamen  *2]äv5aAo$,  Deminut.  (=  lat.  Caligula  !) 
zu  dem  in  Kleinasien  und  Sardinien  nachweisbaren  Sandan,  Sardan,  Zäp- 
doQ  oder  Sardopator,  phoen.  p~,ii»  ~i<  (das  Belegmaterial  im  ganzen  Um- 
fang a.  a. 0.1  zurückgeht.  Nun  heißt  „Sard",  die  Vollform,  persisch  „Jahr"; 
nach  Job.  Lyd.  39  aber  ist  SAPAIN  lydlsch  =  iviau-ög  ;Ramsay,  Hist. 
Geogr.  of  Asia  Minor  p.  121)  und  der  Zahlenwert  dieses  unverkennbar 
als  aramäische  Pluralbildung  von  TiU?  vocalisierten  Wortes  beträgt 
—  wie  der  Byzantiner  auch  hervorhebt  —  365.  Nun  haben  die  Baby- 
lonier  nach  einer  von  Zimmern  in  den  Berichten  der  sächs.  Akad.  1901 


Kuba-Kybele.  129 

Grübchen  am  ausgestreckten  Ellbogen  *^).  Besonders  wich- 
tig ist  in  diesem  Zusammenhang  die  Hesychglosse  KujBßa- 
xujjißT]  =  TtOTYjp'.ov,  offenbar  =  „Hohlgefäß,  runde  Schale", 
wozu  als  Deminutiv  xurcsXXov,  dSoc.  iroxyjpcoi)  (Hesych)**),  fefner 
xoöiia  Weingefäß  bei  Heron ,  spätlat.  cupa,  copa,  cubba  = 
Weingefäß  bei  Ekkehard  ^^),  cuba  =  labrum,  cubela  =  Tauf- 
becken ^^),  franz.  coüpe,  ital.  coppa  =  Schale,  Becher,  deutsch 


ausführlich  besprochenen  Nachricht  des  Sextns  Empiricus  mit  Hilfe  der 
Wasseruhr  den  scheinbaren  Durchmesser  der  Sonnenscheibe  aus  der 
Zeit,  die  zwischen  ihi-em  ersten  Aufblitzen  und  der  vollen  Sichtbarkeit 
beim  Aufcrehen  verfließt  zu  bestimmen  versucht  und  das  bei  dieser, 
wenn  auch  sinnreichen  ,  so  doch  unzulänglichen  Methode  etwas  dehn- 
bare Resultat  aus  systematischen  Erwägungen  auf  2  Zeitminuten  =  V720 
der  ganzen,  360"  bzw.  1440  Zeitminuten  betragenden  Kreisbahn  abge- 
rundet. Dieses  Ergebnis  hat  Thaies  übernommen  (Diels  FVS'^  1  p.  3 
Z.  26).  Heraklit  drückt  —  wenn  ich  recht  vermute  —  das  gleiche  in 
dem  als  kindisch  verrufenen  fragm.  3  ,s5pos  (yj?.iou)  rcoSöc;  &  v  9- p  w - 
Ttsiou"  aus.  Sandan-Herakles,  der  Jah  r  esgott  (vgl.  Xuxa-ßas  =^  „Licht- 
wanderer"?  griech  =  „Jahr",  wie  semit.  jareah  =  „Wanderer  :=: 
„Mond")  dessen  Kämpfe  mit  den  Tierkreiszeichen  auf  dem  Jahreslauf 
durch  die  Ekliptik  die  Griechen,  —  wie  Dupuys  trotz  allem  mit 
Eecht  behauptet  hat  —  als  Acü5sxa9-Xov  '^HpaxXsous  erzählen ,  durch- 
mißt im  Mythus  mit  seiner  geflügelten  Sandale,  dem  Siebenmeilen- 
stiefel des  Daum  lings  —  Herakles  ist  ja  einer  der  Dactylen  (Cedren 
p.  62  u.  a.)  —  die  Ekliptik,  den  Xuxaßa?;.  in  360  Tagen.  In  Wirk- 
lichkeit, wird  Heraklit  gemeint  haben ,  ist  die  Sonne  nur  halb  so 
breit,  wie  dieser  fabelhafte  göttliche  Riesenschuh  sopog  notbc.  ävO-pw- 
71  s  c  o  u  ,  nicht  ^/seo  sondern  nur  V's«  der  Ekliptik.  Bedenkt  man  fer- 
ner, daß  die  20  lösenden  und  32  bindenden  Dactylen  des  Pherekydes 
(Sturz  p.  146)  zusammen  die  Znhl  der  52  Wochen  des  Jahres  ergeben, 
daß  andre  von  5  Dactylen  (entsprechend  der  alten  Fünferwoehe  —  hamu- 
stu)  sprechen,  daß  babylonische  Ringsteine  (Weltenmantel  oOBs)  die 
göttliche  Hand  mit  7  Fingern  zeigen,  so  wird  man  kaum  bezweifeln 
können,  daß  die  altorientalischen  Kosmologen  auch  den  Himmel  mit 
—  göttlichen  —  „Füßen"  oder  „Schuhen",  Finger-  und  Handbreiten  zu 
vermessen  pflegten  („Handbreiten"  [su]  als  Maß  für  Sterndistanzen  am 
Himmel  zeigt  tatsächlich  die  eben  von  Hommel,  Wiss.  Beilage  der 
Münchn.  N  N.  -'/s.  1908  Nr.  49  S.  459  a  nach  einer  Abschrift  Hilprechts 
veröffentlichte  und  scharfsinnig  erklärte  astronomische  Tafel  aus  der 
Tempelbibliothek  von  Nippur)  und  sich  vielleicht  auch  die  vorgetragene 
anscheinend  sehr  kühne  Erklärung  von  x'jßi-ov-cubitus  gefallen   lassen. 

■*^)  Denkbar  wäre  allerdings  auch  die  Bedeutung  „Knöchelchen* 
schlechthin.  Allein  auch  dann  wäre  der  Begriff  des  Hohlen  nicht  aus- 
geschaltet, da  y.üßog-kaab^  „Wirbelknochen"  anscheinend  den  Wirbel 
als  durchlöcherten  hohlen  Knochen  bezeichnet.  Am  wahrscheinlich- 
sten gilt  die  in  der  vorigen  Anmerkung  für  y-6ßixov-cubitus  vorgeschla- 
gene Ableitung  auch  für  x'JßcüÄov. 

■**)  Vgl.  „Sx  y.ojjißäXou  7i£7t0jxa"  in  der  liturgischen  Bekenntnisfojmel 
des  Attismysten  (Zeugnisse  bei  Dieterich  Mithraslit.  S.  216  XIH). 

*^)  MGSS  II  106 15. 

*^)  Ducange,  Gloss.  s.  vv. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  1.  9 


130  Robert  Eisler, 

Kufe  und  Küfer  zu  vergleichen  ist.  Daß  die  „xu^ßaXa" 
(Schallbecken)  der  kleinasiatischen  Göttin  Deminutivbildungen 
zu  xußßa  =  xufjißr]  (sanskr.  kumba,  deutsch  Kübel)  darstellen, 
ist  •ebenfalls  nicht  zu  übersehen.  „KuTiat  etSog  xt  vews"  (vgl. 
K6[xßr]  =  Kahn)  bei  Hesych  und  die  Gleichung  im  Gloss.  lat. 
graec.  bei  Ducange  s.  v.  Cupa'^  „Cupa"  =  ßouttts  (xeyaXr]  t^v 
tives  yaöXov  (navigii  speciem)  xaXoöoLV,  ebenso  v^ie  „Cuba", 
spätlat.  =  Schiifshinterteil  ^'^)  gehören  natürlich  in  den  glei- 
chen Zusammenhang,  Für  den  sprachfremden  Charakter  des 
Wortes  ist  die  Genusschwankung  besonders  bezeichnend:  neben 
xußßa-xujjtßyj  kommt  6  xujxjjog  =  Schüssel,  Becken*^)  und 
x6  x6[jißo5  vor.  Spätlateinisch  kommt  dann  „Cupa,  cuba, 
cumba"  geradezu  in  der  Bedeutung,  „Grabgev^Ölbe"  etwa  := 
arcosolium,  columbarium  bzw.  crypta  vor  *^).  Auch  diese  Be- 
deutung des  Lehnwortes  muß  ihre  semitische  Analogie  haben, 
nach  der  man  auch  tatsächlich  nicht  lange  zu  suchen  braucht : 
schon  Lewy  ^°)  hat  seinerzeit  zu  Kybele  „kubbali"  =  „Wöl- 
bung, gewölbter  Raum "  ^^)  gestellt.  Dazu  vergl.  man  den  Eigen- 
namen des  jedem  Italienfahrer  bekannten  gewölbten  Saraze- 
nenbaues in  Palermo  „la  Cuba"  mit  dem  für  eine  ähnliche 
kleinere  Ruine  ^^)  gebräuchlichen  Deminutiv  „la  Cubola"  oder 
„la  Cubula"  und  das  spanisch  °^)  vermittelte  maurische  Lehn- 
wort „Al-koven"  ^*). 

")  Glossar.  Cambron.  bei  Ducange  s.  v.  Cuba  u.  vgl.  die  Stellen 
ibid.  s.  V.  cumba.  Dazu  vgl.  mit  Berücksichtigung  der  unten  folgen- 
den Ausführungen  über  die  Synonymität  von  Kuba  und  Kamara  die 
Bezeichnung  der  Admiralskajüte  auf  einem  Schifl'  als  »camera"  bei 
Sueton  Nero  34. 

*»)  Nie.  Ther.  526;  Hesych.  s.  v. 

*^)  Ducange  s.  v.  Cupa  5  citiert  eine  Inschrift  nach  Ughelli  Italia 
Sacra  II  247  (,,Inhac  cupamateret  filius  positi  sunt")  und  s.  v.  Cuba  3 
eine  Rufinusstelle  „in  alia  cuba  iuxta  orientem  sepulchrum  SS.  Victoris 
Domnini  etc."  Vgl.  die  Stellen  ibid.  s.  v.  cumba  4.  Dazu  6  xüßag,  der 
Sarg  bei  Hesych. 

*»)  Semit.  Fremdw.  S.  249. 

51)  n3p;  arab.  kubbat,  typische  Bezeichnung  für  moslemische  »Ka- 
pellen",    Vgl.  unten  Anm.  228  „Kubbet-es-Sachra". 

52)  Mauceri-Agati,  Cicerone  di  Sicilia  p.  103.  Zu  „Cubola"  steht 
das  von  den  Sarazenen  in  Unteritalien  übernommene  ital.  Lehnwort 
Cupola  (p  =  3,  in  andern,  gleichwertigen  Bildungen,  wie  man  sieht 
durch  ßß  oder  [iß  wiedergegeben)  französ.  coupöle,  deutsch  Kuppel.  Den 
hellen  Vocal  hat  ital.  capella,  deutsch  Kapelle  bewahrt. 

^')  Vgl.  „alcoba",  „alcobilla"  Schhifgemach. 

°*)  Man  beachte  die   weitgehende  Abschwächung   des  Labiallautes 


Kuba-Kybele.  131 

Der  religionsgescliichtliche  Hintergrund  des  Namens  in 
dieser  Bedeutung  ist  leicht  zu  erkennen.  Schon  Wellhausen  ■'^] 
hat  in  seiner  Besprechung  des  mekkanischen  Heiligtums  darauf 
hingewiesen,  daß  „ka'aba"  nicht  nur  den  heiligen  Stein,  son- 
dern auch  das  cubische  Gebäude  ^^')  der  Kaaba  als  ganzes 
bezeichnet,  ebenso  wie  bei  „Beth-El"  und  „Masgid"  ("iJD2,  Mo- 
schee) die  Begriffe  „heiliger  Stein"  und  „heiliges  Haus"  ineinan- 
derfließen. Religionspsychologisch  merkwürdig  ist  dabei  nicht 
sowohl  die  seraasiologische  Beziehung  „Stein"  =  „Haus",  als 
vielmehr  die  Auffassung  des  Hauses  als  einer  weiblichen  Gottheit, 
bzw.  die  Bezeichnung  einer  weiblichen  Gottheit')  als  Behausung, 
Wohnung  (sc.  eines  männlichen  Gottes).  Hommel^^)  hat  diese 
Bedeutungsentwicklung  an  der  Göttin  Athirät,  a.  t.  Ashera, 
bab.  Asirtu  zuerst  beobachtet  und  aus  einem  astralmysti- 
schen Gedankengang  zu  deuten  versucht  ^^).  Diese  Erklä- 
rung ist  sicher  zutreffend  und  gerade  auf  die  Ka'aba  ohne 
weiters  anwendbar,  da  ja  in  ihrem  Innern  der  heilige  Stein 
des  Mondgottes  Hobal  ^°)  aufgestellt   war ,   so  daß  das  ,,  Wür- 

in  diesen  Lehnworten,  die  einen  etwaigen  Einwand  gegen  die  Zusam- 
menstellung von  kubbah  mit  x'jßog  von  vornherein  entkräften. 

'°°)  Reste^  S.  74. 

^^)  Das  cubische  Heiligtum  ist  typisch  für  diese  Culte.  Vgl.  den 
Tempel  von  Tebala  in  Temen  (Pococke,  spec.  106;  Caussin  de  Perce- 
val  I  110;  113),  den  von  Sendäd  am  Euphrat,  der  durch  den  Namen 
Du-'l-ka'abat  des  Ortsgottes  bezeugt  ist  (Caussin  I  269;  Oslander 
ZDMG  VII  502.)  Eine  Knr^"",  (r  b'-  t'  =  „Geviert")  ein  quadratisches 
Gebäude  wird  dem  Dusares  in  der  bilinguen,  griech.-nabat.  Inschr. 
von  Saida  (de  Vogue,  Syrie  centrale,  text.  nabat.  Nr.  7  a)  gewidmet. 

°')  Betylos  als  männlicher  Gott  bei  Philo  von  Byblos  (Euseb, 
praep.  ev.  1.  lO.is  H. ;  über  Baiti-ilim  vgl.  Hommel  Grundr.  I6I2  (per- 
sisch entspricht  Bag-istana  ibid.  199  2)  ist  Mißverständnis  oder  eher 
spätere,  patriarchale  ümdeutung  der  Mattergöttin,  ganz  wie  bei  dem 
ursprünglich  weiblich,  später  männlich  gedachten  EA  (=  Haus)  der 
Babylonier.  Vgl.  über  diesen  religionsgeschichtlich  sehr  wichtigen  Vor- 
gang allgemein  George  A.  Barton,  a  sketch  of  semitic  origins,  Mac- 
millan  1902  bes.  p.  192. 

°8)  Grundr.  8.53;  vgl.  Aufs,  und  Abhandl.  24428,  264,  272,  435. 

**)  „Diese  Göttin  ist  die  weibliche  Personifikation  des  allgemeinen 
Begriffes  Mondstation  (bab.  asirtu,  esirtu) ;  da  der  Mond  jede  Nacht  bei 
ihr  Einkehr  hält,  so  wurde  die  „  Mondstation "  xax'  l^ox^/v  zu  seiner  Ge- 
mahlin gemacht." 

^°)  Der  Name  Hobal,  r>zn  in  himyaritischen  Inschriften,  ist  von 
Winckler,  arabisch,  semit.  Orient.,  Mitt.  der  Vorderas.  Gesellsch.  1905  5 
S.  nie,  ohne  Ancrabe  von  Gründen  und  zweifelnd,  aber  sicher  richtig 
mit  dem  biblischen  Abel-Hebhel  verglichen  worden.  M.  E.  ist  er  vor 
allem  als  Derivat  der  |/bäla,  jabülu,  =:  „pissen",  übertr.  „regnen"  auf- 
gefaßt worden    (cf.  bul,  mabbul  =  „Flut"  bab.  bubbulu    aus   wubbulu 

9* 


132  Robert  Eisler, 

[Meißner],  arab.  „wabl"  Regenguss  und,  nach  Hommel  Aufs,  und  Abb. 
47o  „bäla  suhail"  =  „Sfcernenurin'  =  Regen;  endlich  „bul"  als  Be- 
zeichnung des  achten,  bab.  „Fluch  des  Regens"  genannten  Monats  1  Kön. 
638  und  auf  kyprisch-phoenizischen  Inschriften  ClS  I  86  a).  Hobal,  der 
^Pisser"  würde  den  Mondgott  (vgl.  die  Zischlautaussjjrache  von  Sin  = 
Mond,  als  ^Sin  =  „Urin"  in  den  Neräbinschriften,  als  Buchstabe  "iT  =  ([ 
durch  das  abnehmende  Mondsichelzeichen  ausgedrückt,  Hommel  Grundr. 
100)  als  Beherrscher  von  Wasser,  Regen  und  Flut  bedeuten.  „Hebbel" 
(73n)  im  masoretischen  Bibeltext  bedeutet  „Hauch",  „Nichtigkeit"  (vgl. 
Ps.  oQb/t)  und  kann  daher  unmöglich  der  richtige  Namen  des  Legenden- 
helden sein.  Der  Ausdruck  kommt  jedoch  vielfach  als,  anscheinend 
appellativische,  verächtliche  Bezeichnung  für  Heidengötzen  vor  (vgl. 
den  Artikel  „opprobrious  terms  for  idols"  Encj'cl.  Bibl.  2148).  Daß  an 
allen  diesen  Stellen  ursprünglich  nicht  h^T^  bezw.  dem  Aßs?.  des  griech. 
entsprechend  v'^n  gelesen  wurde,  sondern  '^^^,  ergibt  sich  aus  dem  Ver- 
gleich zweier  Stellen  bei  Jeremias:  1422  (Wort  Jahve's  betreffend  die 
Dürre)  heißt  es:  „D^rri  13n' D'J^m-DXI  D'Ü'i'Jia  a'Un  "bsnr  U"n"  „Giebt 
es  unter  den  Ho  b  al  im  (  =  Pisser[steine]n,  nicht  Hebelim  =  Nichtigkeiten) 
der  Heiden  einen  Regenspender  oder  sendet  der  [Ba'al]  "Samaim 
(nicht  apell.  .,der  Himmel")  Regenschauer?  Bist  Du  es  nicht,  Jahve, 
auf  den  wir  harren  müssen?"  ibid.  25:  ,,Was  haben  Eure  Väter  Un- 
rechtes an  mir  gefunden,  daß  sie  sich  von  mir  entfernten,  und  nach- 
gegangen sind  hinter  dem  «Pisser»  (b^hn  "^nx  nicht  „hinter  der  Nichtig- 
keit" ''inn)  und  (selber)  zuniclitegeworden  sind  (ibsn'i)".  Wenn  man, 
dem  Abscheu  der  Masoreten  vor  dem  Götzennamen  folgend,  ,, Hebbel" 
liest,  geht  der  Witz  des  Wortspiels  mit  dem  Wort  bsn  in  seinen  zwei 
möglichen  Lesungen  in  eine  glatte  Tautologie  über.  Die  Häufigkeit 
solcher  ,, Regensteine"  oder  „Pißmännchen"  erklärt  am  besten  die  häufigen 
Erwähnungen  der  □''bsn  im  AT.  Als  Amr  b.  Lohai  um  287/8  n.  Chr. 
in  Balqä  die  bärtige,  aus  rotem  Stein  ('akik)  gefertigte  Statue  des 
Hobal  mit  ihrer  goldenen  Hand  und  den  darin  ruhenden  7  Lospfeilen 
erwarb,  die  zu  Mohammeds  Zeit  ,, Abraham"  (s.  oben  Anm.  15;  Belege 
bei  Lenormant  155  ff.)  hieß  und  zerschlagen  wurde,  versicherten  ihn  die 
Leute,  dieser  Gott  werde  zur  Zeit  der  Düri-e  angerufen  und  sende 
reic  hen  Re  gen".  (Schahrestani  trad.  Haarbrücker  II  335.  Abulfeda, 
bist,  anteislam.  trad.  Fleischer  p.  136).  Damals  wurde  die  Statue  über 
der  als  Schatzhöhle  dienenden  Cisterne  aufgestellt.  Ursprünglich 
ist  der  Gott  an  dieser  Stelle  entweder  durch  den  jetzt  in  der  Ka'aba- 
wand  eingemauerten  Stein  (al  Mustadjab)  oder  durch  den  Stein  ,,Maqam 
Ibrahim"  mit  den  „Fußspuren  Abrahams"  vertreten  gewesen.  Zu  diesen 
„Fußspuren"  vgl.  oben  Anm.  42  über  den  Schuh  oder  Fuß  als  Symbol  des 
Paredros  der  Kybele,  Sandan,  Exod.  17  6,  wo  Jahve  Moses  verheißt,  er 
würde  auf  den  Wunderfelsen  am  Horeb  „treten",  dann  werde  Wasser 
hervorsprudeln  „KccSijlou  71065"  [Hlut]  fluv.  21 1  Hermes  mit  der  Sohle 
eine  Quelle  hervorstampfeud,  paraphr.  Tzetz.  Lykophr.  835.  Die  Deu- 
tung Hobal  =,, Pisser"  wird  bestätigt  durch  dieUeberlieferung  eines  gleich- 
bedeutenden Gottesnamens  Kuzah  (nabat.  Inschr.  ZDMG  III  200;  vgl.  den 
idumäischen  Gott  Ko^s  und  den  syrischen,  regenspendenden  Zeus  Kdtotog), 
nach  dem  der  heilige  Berg  Kuzah  bei  Mekka  genannt  war  (Wellhausen, 
Reste '^  S.  81  f.)  und  den  schon  Goldzieher,  Myth.  b.  d.  Hebr.  Leipz.  1867 
S.  89  mit  ,, Pisser"  übersetzt  hat.  Wie  Hobal  die  Pfeile,  führt  sein  Dop- 
pelgänger Kuzah  den  Bogen  und  wird  daher  selbst  auch  Kaus  =  Bogen 
genannt.  Pfeile  und  Bogen  des  Kuzah  (Kosegarten,  arab.  Chrestomath. 
p.  16:-!)  sind  astral  auf  den  Pfeilstern  (mul  tartabu)  und  den  Bogen- 
stern  (kakkab  kasti)  zu  deuten,  die  Waffen  des  Orion  ('Oupicov  =  ,, Pisser" 
SchoL  II.  18246,  Maaß,  Anal.  Erat.  S.  6 ;  Eustath  II.  153547;  Isid.,  origg. 


Kuba-Kybele.  133 

felhaus" ,  mystisch  die  Göttin  Ka'aba,  die  „reife  Jungfrau" 
buchstäblich  als  „Haus",  astrologisch  „mansio"  oder  „statio" 
des  Mondgottes  erscheint.  Nur  möchte  ich  bemerken ,  daß 
hinter  dieser  abstracten  astral-religiösen  Begriffsbildung  höchst 
wahrscheinlich  sehr  viel  primitivere  Vorstellungen  stecken. 
Ausdrücke  wie  das  alttestamentarische  „eingehen  zum  Weibe" 
legen  den  Gedanken  sehr  nahe,  daß  ursprünglich  die  Leibes- 
höhle der  Vulva  als  „Haus"  oder  „Wohnung"  des  Phallos 
galt:  die  ka'aba,  der  xetpaywvos  "ki^'oc,  ''^)  als  Haus   des   koni- 

III  70  und  sonst  oft) ,  der  in  alten  magyarischen  Bibelübersetzungen 
(Wlislocki,  Volksgl.  der  Magyaren  S.  ö9)  ,,Kasza-hugy"  genannt  wird,  wo- 
bei „Kasza"  (volksetyinologisch  =  Kaszäzok  =  ,, Mäher",  vgl.  den  slavi- 
schen  Populärnamen  des  Orion  „Kosi"  =  Sense,  Andree,  ethnogr.  Parall. 
1  109,  aber  auch  schon  semitisch  iip  =  „Mäher'  zu  Kaus-Knzah)  dem 
alten  Namen  Kuzah  entspricht  und  „-hugy"  erklärend  (vgl.  Bildungen 
wie  deutsch  „Lintwurm")  ^ürin"  bedeutet.  Haraasa  Nr.  297$  „alle  blick- 
ten auf  nach  dem  Mond  (Kamar)  dorthin,  wo  aufhängte  seinen  Bogen 
der  Gott  Kuzah"  wird  auch  dieser  „Pisser"  auf  den  regenbringenden 
Mond  gedeutet;  auf  den  regenbringenden  Planeten  Saturn  (Nonn.  Dion. 
VI  85  cf.  186  Kpdvoc  &|j.ßpÖTOxos,  ciJißpov  IdXXcov),  den  Cedren  p.  28  mit 
Orion  gleichsetzt,  haben  diejenigen  den  Hobal-Kuzah  bezogen,  die  die 
Ka'aba  als  altes  Saturnheiligtum  bezeichnen  (s.  die  Zeugnisse  bei  Le- 
normant  124  ff.).  Das  Symbol  der  Lospfeile  bezeichnet  Hobal  als  Orakel- 
gott, wozu  Lenormant  a.  a.  0.  161  mit  Recht  auf  die  Bedeutung  der 
\/^h-T\  in  den  semitischen  Sprachen  verweist.  Dieser  Auffassung 
nach  —  die  wegen  des  abweichenden  Hauchlauts  gewiss  sekundär  ist 
—  ist  der  Gott  das  personifizierte  „Los".  Vgl.  den  Titel  Sa'd  (bab. 
sedu)  =  Glücksgottheit  =  Tüxv)  für  die  weibliche  Gottheit  in  Dschedda. 
Arabische  Grammatiker  vgl.  Hobal  mit  hibil  „crassus"  „annosus",  eine 
Vorstellung,  die  vielleicht  der  Abbildung  des  Gottes  als  bärtiger,  älterer 
Mann  zugrundeliegt.  „Beit  al'atik"  als  Namen  der  Ka'aba,  meint  Le- 
normant daher  nicht  mit  „altes  Haus"  sondern  als  „Haus  des  Alten" 
übersetzen  zu  sollen.  Endlich  erklärt  die  allgemein  als  bloße  Variante 
von  „Abel"  h-T]  anerkannte  biblische  Form  „Jabal"  das  Symbol  der 
Widderhörner  in  der  Ka'aba  (Azraqi  und  Kazwini  bei  Lenormant 
311),  denn  h'Z'  ist  pboenizisch,  ^DV  hebr.  in  der  Bedeutung  „Widder"  ge- 
sichert und  Ss' (Jubel)  heisst  Exod.  19 13  geradezu  „Widderhorn".  Vgl. 
den  karthagischen  Gott  „Jubal"  Lactant.  instit.  I  15  („Juba"  bei  Minuc. 
Fei.  Octav,  p.  351  ed  Herald.  I&ßvjs,  Sohn  des  Herakles  und  der  Certha  = 
mD  Apollod.  II,  7,  8).  Eine  Variante  von  Ilobal-Jabal  ist  thatsäch- 
lich  „Ghanam"  =  „Schafe".  (Freundl.  Mitteil.  Hommels).  'AßsX  im  grie- 
chischen Text  ist  wahrscheinlich  mit  Rücksicht  auf  assyr.  ablü  =  S  0  h  n 
(vgl.  die  Bezeichnung  des  schon  von  Sayce  und  Lenormant  mit  Abel 
verglichenen  Tamuz  als  „abal  napisti"  „Sohn  des  Lebens"  so  vocalisiert. 
^'^)  Das  Rautenviereck  <3>  ist  ein  weitverbreitetes,  noch  heute  in 
obscönen  Graffiti  an  Kasernen-  und  Abtrittwänden  häufig  zu  findendes 
Vulvasymbol,  das  schon  auf  den  geritzten  Renntierknochen  der  Dor- 
dogne  (Hörnes,  Urgesch.  der  Kunst  S.  15,  Fig.  1)  vorkommt;  cf.  Procl. 
in  Euch  I  17o  Fr.  „6  <i?ikö'ka.QC,  xr;v  toO  xsxpaYWVOu  ywviav  'P  e  ag  xal 
'Eoxias  äLizov.aXzV .  Dasselbe  bei  Plut.  de  Isid.  30;  Damasc.  II  127  is 
Euelle. 


134  Robert  Eisler, 

sehen  Phallossteines  ''^),  der  7i6pafj.t;  oder  des  Obelisken  ^^). 
Der  bereits  oben  erwälinte,  bei   Niketas    Choniatas   über- 


®-)  Mit  Rücksicht  auf  die  oben  Anm.  15  besprochene  Gleichsetzung 
des  heiligen  Steines  mit  dem  Götterberg  kann  hier  darauf  verwie- 
sen werden,  dass  nach  Hommel  Grundriß  124i  der  Götterberg  auch 
als  Phallus  gegolten  zu  haben  scheint.  Zur  babyl.  Benennung  des  heiligen 
Berges  „Ar all u"  vergleicht  Hommel  nämlich  westsem.  S-^y  „unbeschnit- 
tener Phallus".     Vgl.  Anm.  95. 

®^)  Die  Bezeichnungen  6^Blio-/.o<;,  und  itupoiiiic,  sind  sicher  ungriecbisch 
und  dürften  ursprünglich  Bezeichnungen  solcher  kegelförmiger  Stein- 
dole  gewesen  sein.  'Oßs^iaHo;  ist  Demin.  von  ößsXög,  oder  wie  man 
aus  der  Bezeichnung  der  Münze  mit  dem  aufgeprägten  ößsXdg  (ursprüng- 
lich der  ehernen  Speerspitze  als  Zahlungsmittel,  vgl.  die  bekannten 
Aexte  und  die  lateinischen  „Asse")  schliessen  kann,  von  ursprünglichem 
cßoXög;  das  entspricht  aber  gewiß  nicht  zufällig  lautlich  und  sachlich 
dem  eben  besprochenen  Namen  „Hobal"  für  den  kegelförmigen  Regen- 
stein. (Vgl  dazu  unten  Anm.  200).  Appellativischer  Gebrauch  der  Be- 
zeichnung „hobalim"  =  „Fetischsteine"  konnte  oben  auch  im  AT  nach- 
gewiesen werden.  Die  Hypothese  wird  durch  eine  genau  analoge  Er- 
klärung von  ü'jpaijiig  bestätigt.  Genau  wie  I,z\iipy.\i.'.i;  sem.  Sem-Ram 
„Namen  des  Erliabenen"  bedeutet  (W.  Robertson  Smith  ,  English 
historical  Review  la  1887  p.  805)  muss  ■Kupa.ixic,,  als  mythischer  Namen 
n'Jpx[jLo;  „Pi"  bzw.  „Fü-Ram"  „Mund  des  Erhabenen"  translitteriert  wer- 
den. Diese  Bezeichnung  kann  m.  E.  nur  auf  den  Gott  des  Planeten 
Mars,  Nin-ib,  den  „Herrn  des  geöÖneten  Mundes",  den  Mundgott" 
(Hommel,  Grundr.  102)  bezogen  werden.  Durch  den  Flußnamen  Pyra- 
mos  (bei  Mallos,  wo  sich  ein  berühmtes  Orakel,  offenbar  des  „göttlichen 
Mundes",  befand,  Strabo  S.  (575)  ist  sein  Galt  für  Kleinasien  gesichert.  Die 
weibliche  Paredros  des  Gottes,  „Thisbe"  ist,  wie  bereits  Hommel  Grundr. 
41 1  gesehen  hat,  ein  Femininum  zu  dem  in  den  Vaninschriften  Te-i'sba-s 
geschriebenen,  in  Kleinasien  Te'issupas,  in  Babylon  Tispak  gesprochenen 
Gottes.  Hommel  hat  richtig  gesehen,  daß  Te-isba-s  ein  Kompositum  von 
„Te"  =  Herr  und  „isba"  darstellt,  ohne  aber  die  Bedeutung  des  letzteren 
Bestandteils,  über  den  die  griechische  Ueberlieferung  keinen  Zweifel  läßt, 
zu  bemerken :  ,,isba"  ist  einfach  yzi'X  „'esbä'"  =  „Finger"  (als  M  a  ß  [vgl. 
oben  Anm.  42  über  "Ap-iJia-xOßixov  =  „Elle"  als  i\lutter  der  Dactylen]  bei 
Jerem.  52  21),  Te-isba-s  der  „Herr  des  Fingers"  oder  besser  „Herr  Fin- 
ger" =  Dactylos.  Dieser  Te'isbas-Tispak  ist  aber  seinerseits  zweifellos 
mit  Ninib,  dem  „Mundgott"  identifiziert  worden  (Hommel  a.  a.  O.)  Vgl. 
unten  über  die  Gemahlin  Ninib's  Gula,  sumer.  Bau  als  ;^Su-anna"  „Hand 
des  Himmels";  (Hommel  101).  Da  Istar  auch  einen  Löwen  zum 
Geliebten  hat,  (Gilgamesepos  T.  VI)  denselben  Löwen  also,  der  die  Tisbe 
verscheucht  und  da  die  kleinasiatische  Göttin  regelmäßig  mit  diesem 
Löwen  abgebildet  wird,  so  hilft  das  Verständnis  des  Namens  Te-isba-s 
nun  auch  zur  Erklärung  des  kleinasiatischen  Städtenamens  Arisba  (Troas, 
Lesbos  u.  Boeotien),  deren  Eponym  Ari-isba-s  „Löwe  des  Fingers",  d.  h. 
der  löwengestaltige,  später  bloß  in  das  Löwenfell  gekleidete  Dactyl 
Herakles,  dessen  Sohn  (Hesiod  fr.  155;  Paus.  IX  36o)  Molüros  (vgl. 
„IJLÖXov  "Apsog"  B  401  und  Hesych  iicoXeü)  =  jjLay^ojia-J  d.  h.  Ares-Ninib 
heißt.  Arisba  als  Heroine  gilt  als  Tochter  des  Teukros-Turk  (Steph. 
Byz.  s.  V.  'Apöaßa),  bei  dem  Interp.  Serv.  Virg.  Aen.  IX  264  als  Tochter 
des  Makareus  von  Lesbos.  Der  lesbische  Makareus,  der  Schol.  Eu- 
rip,  Phon.  26  als  Gemahl  der  Sphinx,  der  L  ö  we  n  jungfi-au,  gilt,  nennt 
sich  selbst  bei  Diodor    5  s^    „Löwe",    was    die   beste  Gegenprobe   auf 


Kuba-Kybele.  135 

lieferte  i.'Jixde[iomo[LÖc,  für  den  Uebertritt  bekehrter  Moslems 
zur  griechischen  Kirche,  also  eine  fast  urkundliche  Ueberliefe- 
rung,  spricht  von  dem  Steinfetisch  der  Ka'aba  als  Xc^ov  exxu- 
7r(i)|JLa  Tfj?  'Acppootxrj;  excivta.  Nun  ist  nichts  sicherer,  als  daß 
der  hochheilige  schwarze  Stein  ein  vollständig  unberührter, 
durchaus  anikonischer  Aerolith  ist.  Ein  exTUTiwfJta  im  Sinn 
eines  „Bildes"  der  Göttin  hätte  also  nur  in  der  religiös  über- 
hitzten Phantasie  der  Hadji's  existieren  können,  wie  denn  tat- 
sächlich erst  durch  Burtons  genaue  Untersuchungen  eine  Reihe 
von  Pilgererzählungen  über  ein  „Gesicht"  in  dem  Schwarz- 
stein, die  selbst  in  die  wissenschaftliche  Litteratur  ^^)  überge- 
gangen waren,  endgiltig  widerlegt  wurden*^*").  Die  richtige 
Bedeutung  von  ixx6-(i)[Aa  ergibt  sich  vielmehr  bezeichnender- 
weise durch  den  Vergleich  einer  schon  von  Falconet  ^^)  scharf- 
sinnig erklärten  Nachricht  über  den  im  heiligen  „Doppelbeil- 
fluß" Sangarios  gefundenen  Wunderstein  der  kleinasiatischen 
Göttermutter :  euptaxetac  yccp  xexuTcwjJLSVTfjv  e/wv  xyjV  Mrjxepa 
Xü)v  Seibv  ^^),  die  der  genannte  sehr  glücklich  auf  ein  Exem- 
plar jener  unter  den  Meteorsteinen  ziemlich  häufigen,  von 
Kennern  als  „  Hysterolithen "  bezeichneten,  dem  Aussehen  nach 
an  die  [ATjXpa  erinnernden  Form  bezieht.  Tatsächlich  sagt 
Herodian  (V  3)  vom  heiligen  Stein  des  „Gottfelsens"  Ela-gabal 
in  Emesa:  iE,oyjx;,  x£  xivxq  ßpa/^eiac;  xac  xutiou;  Ssizvuatv.  Die 
authentische  Auslegung  dieser  Naturspiele  des  emesenischen 
Steines  aber  bietet  der  berühmte  aureus  des  Uranius  Anto- 
ninus  ^"),  wo  das  konische  Baithyll  an  der  Basis  sehr  deutlich 
mit  dem  Symbol  der  Vulva  ausgezeichnet  erscheint.  Dazu  hat 


die  vorgeschlagene  Deutung  bildet.  Besonders  bezeichnend  neben  Ar- 
isba  aber  ist  Nap-iaßa  ^Fluß  des  Fingers",  ein  durch  attische  Tributlisten 
bezeugter  karischer  Ortsnamen  (Fick,  vorgriech.  ON  68).  Ae^ßog,  schon 
von  Fick  a.  a.  0.  zu  Arisba  und  Narisba  gestellt,  könnte  l?32ix'7,  Dativ 
der  Weihung  =  „Tß  Aay.x'jAtp",  nach  Analogie  entsprechender  Bildungen 
mit  dem  Genitiv  posses.  im  Gi'iechischen  sein. 

^*)  Auf  Grund  ganz  entschiedener  Aussagen  mehrerer  Pilger  hat 
Fresnel,  Journal  Asiatique  1838  p.  205  angenommen,  daß  eich  auf  dem 
Ka'abastein  noch  Spuren  einer  solchen  alten  Sculptur  unterscheiden 
ließen. 

«*^)  Vgl.  Burton  a.  a.  0.  III  161. 

65)  Memoires  de  l'Acad.  des  Inscr.  etc.  XXIII  213  ff. 

66)  Pseudo-Plutarch,  de  fluminibus  p.  756  ed.  Reiske. 

^')  Ch.  Lenormant,  Revue  numismatique  1843  p.  273  ff.  cf.  Taf.  XI 
Nr.  1. 


136  Robert  Eis  1er, 

schon  Lenormant®^)  die  Tatsache  gestellt,  daß  auch  der  Schwarz- 
stein der  Ka'aba,  selbst  in  seinem  gegenwärtigen,  durch  zahl- 
lose Küsse  abgescheuerten  Zustand,  wie  Ali  Bey  ^^)  sich  wört- 
lich aasdrückt,  „muskelförmige",  d.  h.  im  angeführten  Sinn 
deutbare  Erhebungen  ^°)  deutlich  erkennen  läßt.  Es  ist  dem- 
nach höchst  wahrscheinlich,  daß  ebenso  wie  der  „Ela-gabal" 
in  Emesa  auch  einerseits  der  Ka'abastein  von  Mekka,  andrer- 
seits das  hochheilige  kleinasiatische  Idol  als  Abbild  der  gött- 
lichen Vulva  ^^),  als  „Mutterstein"  oder,  wie  es  in  mithräischen 


«8)  Lettres  Ass.  I  128. 

®ä)  S.  die  Abb.  des  Steines  im  „Atlas  des  voyages  d'Ali  Bey"  t.  55. 

'")  Wenn  der  am  Kalif'enhofe  aufgewachsene  und  kaum  ein  Jahr- 
hundert nach  der  Hedschra  lebende  S.  Johannes  Damascenus  (de  haeres. 
p.  11  o  ed.  Lequien)  die  unbestimmten  Erhabenheiten  auf  dem  Stein 
als  Gesicht  deutet  (,.  .  ouxoc,  Sä,  äv  cpxoi  äl{)-ov,  x  s  cp  a  A  yj  xf^g  'Acppo- 
SixTjg  saxlv  r,v  upoc;sx'Jvc«uv,  r/v  Xaßlp  7ip.og7jY&psuov,  Icp'  ov  xal  \xi-X9^  '^'3''  ^T' 
flDxiboc,  äTcoaxiacjjiy.  zoZq  dcxpißffjg  xaiavooOaiv  cpatvsxxi")  ,  so  liegt  eine 
veredelte  Auffassung  dieser  verschwommenen  Spuren  vor,  die  nicht  auf 
das  mekkanische  Heiligtum  beschränkt  ist:  denn  in  Rom  wurde  der 
heilige  Stein  der  Kybele  mit  dem  anstößigen  „typus  Matris  deum"  (s.  u.) 
in  einen  silbernen  Kopf  eingeschlossen  (^Prudent.  perist.  X  156  f.,  cf. 
Arnob.  XII  49;  vgl.  Etym.  Magn.  "14322:  „xußTi"  xecfaXyj"")  und  das  gleiche 
dürfte  mit  dem  unten  besprochenen  Hysterolith  der  Tanit  von  Karthago 
geschehen  sein,  da  diese  Gottheit  inschriftlich  Pene-Baal  „Antlitz  des 
Herrn",  kanan.  Penü-el,  phoeniz.  Osou  upögwTiov  genannt  wurde.  Die 
Umdeutung  entspricht  genau  der  Bezeichnung  des  alten  Phallossteines, 
des  'Oße/ltaxöc;  oder  „Pissmännchens",  (oben  Anm.  63  unten  200)  als  Ilüpa- 
[iog  =  „Mund  des  Krhabenen"  und  hängt  mit  den  durch  die  Logoslehre 
veränderten  Vorstellungen  über  die  Hierogamie  (*Weltenmantel  S.  I9O2) 
zusammen.  Vgl.  unten  Anmerk.  224  über  den  '^dixoc,  des  Mundgottes, 
dem  als  Sohn  der  'Amr  =  Adyos  des  Gottes  als  Lamm  bezw.  sein  hl. 
,, Geist"  (luhm)  in  Fischesgestalt  entspi'iesst. 

")  Die  Hieroglyphe  der  Vulva  mit  dem  Gottesdeterminativ  findet 
sich  schon  in  hethitischen  Inschriften  (Homrael  Grundr.  49  r>)  neben 
dem  Phallus.  Eine  Terracotta,  die  Göttin  *  „Vulva"  personifiziert  dar- 
stellend, ist  in  Priene  ausgegraben  worden ;  Diels  hat  sie  in  der  Fest- 
schrift für  Salinas  richtig  als  Baubo  besprochen  ohne  doch  den  Zu- 
sammenhang von  Wort  und  Bild  ganz  zu  durchschauen:  m.  E.  steht 
die  Sache  so:  der  Schwur  des  Sokrates  vai  \i%  xöv  -/,'jvx  hat  mit  dem 
Hund  unmittelbar  nichts  zu  tun,  sondern  bezieht  sich  auf  den  xüwv  im 
obscönen  Sinn  (lat.  cunnus.  frz.  cön)  und  ist  gleichbedeutend  mit  spau. 
cofio!,  Gegenstück:  „carajo!",  zwei  sehr  bekannten  volkstümlichen  Flü- 
chen ;  allerdings  muß  man  annehmen,  daß  der  Doppelsinn  von  K'Jcov  = 
„Hund"  und  „Vulva"  hier  religionsgeschichtlich  begriffsbildend  gewirkt 
hat.  Denn  der  Name  der  Baußw,  in  deren  Mythus  die  Vulva  eine  so 
überragende  Bedeutung  beansprucht,  ist  offenbar  nichts  andres  als  das 
auch  bei  uns  zur  Benennung  eines  kinderschreckenden  Gespenstes  ver- 
wendete „Wauwau"  des  Hundes  (vgl.  griech.  ßaO^stv  =  bellen,  und  die 
Bezeichnung  der  Hekate  als  Küwv  iieXa'.va).  Ein  zweiter  Namen  der 
gleichen  Gottheit  ist  "Hßv),  ursprünglich  wörtlich  ==  „pubes".  Ein  drit- 
ter   ergibt   sich   aus    folgender  Nachricht:    Auf  der  Larisa   von  Argos 


Kuba-Kybele.  137 

Inschriften^-)  heißt,  als  „petra  genitrix"  im  anschaulichsten 
Wortsinn  aufgefaßt  wurde. 

Das  £xxu7iü)[Jia  'Acppootirj^  bzw.  „Mrjxpos  oder  wie  sich 
Anna  Comnena  ^^)  in  einer  gezierten  Paraphrase  der  Stelle 
ausdrückt,  ihr  „xutio;"  an  dem  Aerolithen  ist  ganz  wörtlich 
in  der  Art  zu  übersetzen,  wie  heute  noch  ein  Formgiesser 
oder  Stempelschneider  die  vertiefte  Form,  das  exxüviwjjia  als 
„  Matritze "  bezeichnet. 

In  diesem  Sinn  bedeutet  aber  das  euphemistische  Wort 
offenbar  dasselbe  wie  der  andre  bis  heute  unei'klärte  Mysterien- 
ausdruck acfpayu.  Ueberliefert  ist  er  genau  im  gleichen  Zu- 
sammenhang wie  die  hier  besprochene  Vorstellung :  der  phry- 
gische  Myste  Aberkios,  der  nach  Dieterich's  trefflicher  Erklä- 
rung zur  Hochzeit  des  Steins  von  Emesa  mit  dem  Idol  der 
Virgo  oder  Juno  Caelestis  von  Karthago,  dem  Ruf  Kaiser  He- 
liogabals  folgend  nach  Rom  gewandert  ist,  um  dort  die  xpuao- 
TtsScXo;  ^'^),  xpuaoaxoXoi;  ßaatXoaaa  —  d.  h.  die  punische  Him- 
melskönigin —  zu  sehen,  erblickt  beseligt  auf  dem  heiligen 
Stein  der  Göttin  die  schimmernde  acppayc;  "),  die  Verheißung 
ewiger  Fruchtbarkeit  und  unendlicher  Widergeburt  des  Lebens 
—  die  vulvenförmige  Eintiefung  des  himmlischen,  offenbar 
auch  in  Karthago  göttlich  verehrten  Hysterolithen. 

Der  so  nachgewiesene  urtümlich  rohe  Kult  der  vom  Him- 

wurde  dem  Pausanias  (2.  21,  1)  neben  dem  Heiligtum  der  Demeter 
Pelag-sgis  (d.  h.  also  der  vorgriechischen  „Berek-ynthia  Meter")  ein  Ort 
namens  As^^xa  gezeigt,  Iqs'  oKp  Ss,  sagt  er,  ob  yäp  [loi  xö,  Xcyöiisva  Yjpea- 
xsv,  sxwv  Tiapiyjjio.  Fick,  vorgriech.  ON  14(3  hat  richtig  gesehen,  daß 
hier  biXxoL  =  vulva  (y)  ist  wie  Aristoph.  Lys.  151  liXzix  uapaT£xi.AiJ,evai. 
Dazu  bemerke  ich  auch,  daß  S£Xta  =  „daleth"  ursprünglich  ^Thür" 
heißt,  was  wegen  des  Ausdrucks  „eingehen"  erwähnenswert  ist.  S.  hiezu 
H.  Clay  Trumbull,  threshold  covenant  New-York  1896  S.  200:^,3  und 
252  „woman  as  a  door". 

^•^)  CIL  4424;  suppl.  4543;  8679;  14:J54  3o  etc.  Natürlich  ist  diese 
„petra  genitrix"  gemeint,  wenn  es  bei  Arnob.  V  5  heißt,  daß  Zeus  bei 
seiner  brünstigen  Jagd  nach  der  Göttermutter  seinen  Samen  an  einem 
, Felsen"  verspritzt.  Es  ist  kaum  nötig  hervorzuheben,  daß  der  schmutzige 
Mythus  einer  an  dem  Steinfetisch  einst  wirklich  vollzogenen  Befruch- 
tungsceremonie  (oben  Anm.  15)  entsprechen  muß. 

")  Alexiad.  X  p.  2^4. 

'*)  S.  oben  Anm.  42  über  den  Schuh  als  Gottesdeterminativ,  wozu 
mich  Hommel  aufmerksam  macht,  daß  schon  Jensen  das  Schuhsymbol 
,Te"   =   „Herr"  gelesen  hat. 

")  Aberkiosinschr.  Z.  9:  „Aaov  5'  s!5ov  exsl  Xa|iupäv  acpaytSa 
sxovxa".  Die  Deutung  auf  den  Stein  der  Urania  bei  Dieterich,  Aber- 
kiosinschrift  S.  32,  wo  jedoch  ocppayi^  unerklärt  bleibt. 


138  Robert  Eisler, 

mel  gefallenen  {xyjXpa  läßt  nun  auch  Ursprung  und  Beziehung 
der  folgenden  hei  Hippolytus  ^*')  als  „orphisch"  und  gnostisch- 
„sethianisch"  überlieferten  Kosmogonie  erkennen. 

„Aus  axoTOC,  cpwg  und  dem  zwischen  ihnen  wehenden 
Tiveöp-a  entsteht  in  Gestalt  einer  ungeheuren  acppaycg  Himmel 
und  Erde"  —  die  einander,  so  wird  mau  Avohl  nach  orienta- 
lischer Entsprechungslehre  ergänzen  müssen,  wie  Siegel  und 
Abdruck  entsprechen.  „Himmel  und  Erde  gleichen  aber  auch 
der  Gestalt  nach  einer  riesigen  [i-vjxpa,  in  deren  Mitte  sich  der 
6[icpaX6(;  befindet.  Wenn  einer,  sagen  die  Sethianer,  sich  all 
das  anschaulich  vorführen  will,  so  erforsche  er  kunstgerecht 
die  befruchtete  Gebärmutter  eines  beliebigen  Tieres  und  er 
wird  darin  das  Abbild  des  Himmels  und  der  Erde  finden. " 

Nichts  könnte  lehrreicher  sein  als  diese  alte  kleinasia- 
tische Tradition:  sie  führt  mit'ten  hinein  in  jene  seltsam  phan- 
tastische, aus  der  mantischen  Extispicin  des  babylonischen 
Priestertums  erwachsene  Mikro-  und  Makrokosmostheorie,  die 
uns  Körte  ^ ')  in  der  etruskischen  Bronzeleber  von  Piacenza 
und  neuerlich  Jastrow  ^®)  in  der  babylonischen  Bezeichnung 
LU-BAT  =  „geschlachtetes"  d.  h.  „Opferschaf"  für  die  Pla- 
neten erkennen  gelehrt  hat,  jene  Anschauung,  die  das  alttesta- 
mentliche  Schrifttum  mit  all  seiner  Abneigung  gegen  die  heid- 
nische Mantik  dazu  verführt  hat,  die  Herrlichkeit  der  Himmel 
(„So^a  oupavca")  mit  dem  der  babylonischen  Hepatoscopie 
entlehnten  Namen  „Kabod"  =  „Leber  Jahve's '^^)  zu  be- 
zeichnen. 

Hier  kommt  natürlich  vor  allem  die  mystische  Beziehung 
zwischen  [xrjxpa  und  öfJicpaXöi;  und  die  kosmische  Auffassung  des 
letzten  Symboles  in  Betracht.  Max  Müller,  Beiträge  I  253  hat  die 
Vorstellung  von  einem  Nabel  des  Himmels  im  finnischen  Glau- 
ben nachgewiesen.     Bei  dem  auch  sonst  vielfach  hervortreten- 

'S)  Refut.  V  19,  20  p.  202,  cf.  208  Duncker-Sclineidewin. 

")  Rom.  Mitth.  XX  1905  S.  348  ff. 

'*)  The  Siwn  and  Name  for  Planet  in  Babylonia,  Proceedings 
Amer.  Philos.  Society  in  Philadelphia  vol.  XLVII  lÜÜS  Nr.  189  S.  141  ff. 

'9)  Vgl.  K.  Völlers,  Arch.  für  Rel.-Wiss.  1906  S.  178,  wo  jedoch 
keine  Erklärung  des  seltsamen,  bei  Völlers  solar  gedeuteten  Ausdrucks 
im  eben  angedeuteten  Sinn  versucht  wird.  NB.  Personennamen  wie 
die  Mutter  Mosis,  masoretiscli  ,,Jochebed",  lies  Jä-kabod  „Jah  ist  die 
Leber"  und  das  verwandte  J-kabod  1  Sam.  4 21  (•X=I  =  „Ai",)  „der 
Mondgott  ist  die  Leber". 


Kuba-Kybele.  139 

den  Zusammenhang  zwischen  der  sumerischen  und  der  Religion 
der  Tui-kvölker  spricht  das  für  sumerischen  Ursprung  des 
ganzen  Systems  kosmologischer  Divination  —  eine  Annahme, 
die  auch  sonst  die  wahrscheinlichste  ist.  Denn  es  liegt  nun 
wohl  auf  der  Hand,  daß  die  Bezeichnung  des  heiligen  Steines 
als  „Nabel"  nur  aus  dieser  mantischen  Makro-  und  Mikro- 
kosmostheorie zu  verstehen  ist.  Für  Kleinasien  ist  die  Be- 
nennung des  Aerolithfetischs  als  ojjicpaXö?  durch  die  Kybeleepi- 
klese  „Oraphale"  gesichert,  —  denn  die  lydische  Göttin  mit  dem 
Löwenfell  und  der  Männertracht  des  Herakles  kann  nur  die 
doppelgeschlechtige,  auf  Löwen  thronende,  Löwen  liebende 
Göttermutter  sein  — ,  in  Phleius,  wo  sich  alte  Mysterien  der 
großen  vorhellenischen  Muttergöttin  erhalten  hatten,  stand  ein 
OjjtcppaXöc;  neben  einem  Apollontempel  ^^) ;  an  die  bezeichnen- 
derweise neben  dem  yjko^ot.  aufgestellten  ^^)  Nabelsteine  des  klein- 
asiatischen Gottes  Apollon  ^-)  selbst,  in  Delphi,  Delos,  Sinope  ^^) 
braucht  kaum  erinnert  zu  werden.  Hier  kommt  vor  allem  die 
Bezeichnung  Tfiq,  öjxcpaXos  ^*)  für  das  Heiligtum  von  Paphos, 
den  Ausgangspunkt  aller  griechischen  Aphroditenculte,  d.  h. 
aber  für  den  heiligen  Stein  der  „Kubrä"-Kypris  (s.  u.)  von 
Cypern,  und  der  ö[icpaX6c  iioXewc  von  Antiocheia  ^^)  in  Betracht. 
Entscheidend  aber  ist  im  vorliegenden  Zusammenhang  w^ieder 
eine  schlagende  südarabische  Parallele.  Bekanntlich  befindet 
sich  nach  der  Tradition  des  Islam  in  Dschedda  das  hochheilige 
Grab  der  „Eva%  der  „Mutter  alles  Lebens"  fr'^?  ö«  Gen.  3,  20; 


80)  Paus.  II  13,  7. 

8')  Vgl.  Gruppe  1634;  zum  delphischen  xäa;j,oc  vgl.  den  Schlund  im 
Heiligtum  von  Bambyke.  Die  oben  mitgeteilte  Kosmogonie,  an  deren 
Anfang  die  kosmische  [ivitpa  steht,  berechtigt  nun  auch  das  urzeugende 
fß-oc,  bei  Hesiod,  orphisch  xäo(i(x  ueXcüp'.ov,  als  deifizierte  Vulva  zu 
verstehen.    Vgl.  unten  über  tar-'atä  =  x'^'^l^'^  ^Is  Epiklese  der  Atargatis. 

*'2)  S.  unten  Anm.  200. 

8=«)  Gruppe  Hdb  326  le. 

8*)  Hesych  s.  v. 

85)  Malalas  X  233  Dindorf.  Vgl.  auch  das  Omphalion  in  Thessa- 
lien (Steph.  Byz.  s.  v.  493  n)  und  die  omphalische  Ebene  in  Kreta 
(Kallim.  hymn.  I  45;  Diod.  Sto).  Odyss.  a  50  heißt  die  Lichtlandsinsel 
der  entrückenden  Kalypso  ö[j.cpaXög  ^aXdaavjc;,  eine  Vorstellung,  mit  der 
die  Bezeichnung  der  heiligen,  ursprünglich  wie  Delos,  die  „caxirj  Ko- 
xXäSwv"  (Kallim.  hymn.  IV  325)  schwimmend  gedachten  Insel  Usu-Pa- 
lätyros  als  Tiexpa  uYpoTiöpoc  [isaö|j,cpaXos  bei  Nonn.  Dion.  40  71  zu  ver- 
gleichen wäre.  Dazu  vgl.  unten  Anm.  122  über  indo  iranisch  „apäm 
napät"  „Nabel  der  Wasser". 


140  Robert  Eisler, 

Symmach.  Zo)oy6v&?),  die  nach  Ausweis  des  Namens  ^^)  ur- 
sprünglich schlangengestaltig  gedacht  ist,  und  als  „Adamah" 
(=  Erde),  wie  die  Adamsgattin  auch  geheißen  haben  muß, 
eine  „Mutter*")  Erde"  darstellt,  alles  in  allem  ein  genaues 
Gegenstück  zur  schlangenleibigen  Gaia  und  Rheia  ^^)  der  Grie- 
chen. Der  erste  europäische  Besucher  dieser  Wallfahrtsstätte, 
Burton,  beschreibt  das  Heiligtum  folgendermaßen  ^^) :  „  White- 
washed  and  conspicuous  to  the  traveller  from  afar,  is  a  di- 
minutive dorne"  (also  eine  „Kubbat"  oder  „cubola")  with  an 
opening  to  the  west"  ( —  weil  die  Seele  das  Grab  in  der  Rich- 
tung zum  Sonnenuntergang  verläßt  — )  „under  it  and  in  the 
centre  is  a  Square  stone "  (der  xußo;)  „  planted  upright 
and  fancifully  carved  to  represent  the  omphalic 
region  of  the  human  frame.  This  aswellas 
the  dorne  iscalled  «El  Surrah»  or  «the  navel». 
The  Cicerone  directed  me  to  kiss  this  manner  of  hieroglyph." 
Der  Bericht  spricht  für  sich;  das   kuppeiförmige  Kapell- 

^^)  Nöldecke  ZDMG  42,  487  vgl.  Aram.  N'Vn  sss.  hammu  =  Schlange 
(ebenso  schon  Midrasch  bereschith  rabba  §21  zu  üenes.  3  20);  dieselbe 
Erklärung  Wellhausen,  Reste'-  154.  Natürlich  ist  keine  Rede  davon, 
daß  der  Cult  von  Dschedda  banifische  Einrichtung  mit  Rücksicht  auf 
die  biblische  Tradition  sein  könnte,  sondern  im  Gegenteil  wurzelt  die 
Genesislegende  in  allen  westsemitischen  Cultvorstellungen.  «Vgl.  Hom- 
mel  bei  Trumbull  a.  a.  0.  335  über  die  eng  verwandten  Worte  „ne- 
chustan"  „hl.  Schlange"  und  ri'Z^m  „vulva". 

*'^)  W.  Robertson  Smith,  Kinship  S.  177  übersetzt  Chawa  mit  Rück- 
sicht auf  1  Sam.  18,8  mit  ,,motherkinship";  dementsprechend  gilt  der 
Cult  der  pei-sonifizierten  mütterlichen  Stammeseinheit.  Die  Deutung 
des  Heiligtums  als  Grab  der  Göttin  zeigt,  ebenso  wie  ihre  Schlangen- 
gestalt, daß  es  sich  um  einen  alten  Ahnenkult  handelt.  Die  nächste 
Parallele  bietet  das  im  Codex  Hamurabbi  II  26  erwähnte  Grab  der 
Ai-(lstar)  in  Sippar.  Wenn  Lenormant's  Vermutung  (p.  308)  richtig 
ist,  daß  dieses  „Grab  der  Eva",  das  die  Arabischen  Führer  Burton's 
„Sachra  Tawilah"  „langer  Stein"  nannten,  identisch  ist  mit  der  von 
Jakut  erwähnten  „manhirat  tawilat"  der  Gottheit  Sa'd  (=  „Glück", 
Epiklese  des  klückbringenden  Venusgestirns?  astrol.  im  Caper  und 
Aquarius  localisiert  [Hommel],  vgl.  unten  über  Mul  Gula)  am  Ufer  von 
Dschedda,  dann  hat  die  Muttergöttin  hier  dieselbe  Benennung  gehabt, 
die  die  classiscben  Völker  bei  der  S3'rischen  und  punischen  Urania  mit 
luxri  und  Fortuna  übersetzten.  Die  Epiklese  „tawilat"  die  „oblonge", 
„lange"  kehrt  in  Kleinasien  und  gewissen  vorhellenisch  beeinflußten 
Gebieten  Griechenlands  als  \oXc/j]  bezw.  Maxpig  wieder,  einem  Epithe- 
ton für  die  rechteckig  d.  h.  oblong  gedachte  „Erde";  danach  heiüt  der 
männliche  Paredros  der  Göttin  dann  Dolichenus. 

'*^)  Vgl.  unten  Anm.  164  über  0  p  h  i  a  s -Kombe.  Dazu  beachte 
man  den  delphischen  öjicfaX-bg  F^g  als  Grabmahl  der  Python-Schlange 
(die  Zeugnisse  bei  Rohde,  Psyche  I  132 12). 

89)  Pilgrimage  III  387. 


Kuba-Kybele.  141 

eben  und  der  heilige  Kubusstein,  mit  einem  gemeinsamen  Na- 
men als  „der  Nabel"  bezeichnet,  ist  überdies  ohne  Zweifel 
kosmisch  gedeutet  worden.  Denn  „hagr",  arabischer  Terminus 
technicns  der  Astrologie  für  „Culminationspunkt"  oder  Zenith 
entspricht  mystisch  ohne  Zweifel  der  oben  besprochenen  Be- 
zeichnung „Hagar"  =  heiliger  Stein  und  überdies  sagt  Al- 
biruni"^*)  ausdrücklich:  „the  midst  of  the  inhabitable  world, 
of  its  longitudinal  extension  from  east  to  west  on  the  equator 
is  by  the  astronomers  of  the  Muslim  called  the  c  u  p  o  1  a 
(kubbat)  o  f  the  e  a  r  t  h  and  the  great  circle  which  passes 
through  the  pole  and  this  point  of  the  equator  is  called 
the  meridian  of  the  cupola".  Man  sieht,  wie  trefflich  zu 
dieser  kosmischen  Localisierung  die  Schlangengestalt  der  Na- 
belgottheit passt,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  altorientalische 
Astrothesie  tatsächlich  um  den  Himmelspol  herum  einen  Spa- 
y.cDv  iXiY.otiörii  zu  sehen  glaubte®^'').  Wie  also  in  der  bei 
Hippolytos  erhaltenen  phrygischen  Kosmogonie  im  Mittelpunkt 
der  kosmischen,  Himmel  und  Erde  umfassenden  [JiyjTpa  der 
öficpaXö;  liegt,  so  denken  sich  die  Araber  „el  Surrah"  „den 
Nabel"  ^^''),  die  „himmlische  Kaaba"  ^'')  über  ihrem  irdischen, 
im  Mittelpunkt  der  Erde  gelegenen  Abbild,  den  „hagr"  über 
dem  Stein  der  Stammmutter  „Hagar"  im  Himmel  schwebend. 
Dementsprechend  lehrt  die  Theologie  des  Islam,  daß  das 
Vorbild,  der  „Typus"   der  Ka'aba  im  Himmel,  vor   der  Welt- 

^*a)  Albiruni,  India  trad.  E.  C.  Sachau,  Trübner,  Oriental  Series, 
London  1883  p.  306  c.  XXX.  Daß  A.  den  ursprünglichen  Beweggrund 
des  Namens  „kubbat  der  Erde"  nicht  mehr  kannte,  ergibt  sich  aus 
seinen  kritischen  Bemerkungen:  „We  must,  however,  observe,  that, 
whatever  may  be  the  natural  form  of  the  earth,  there  is  no  place  on 
it,  which  to  the  exclusion  of  others  deserves  the  name  of  «cupola»  .  ." 
Vgl.  die  feine  Polemik  des  Epimenides  FVS'^  496  20  gegen  die  delische 
Omphalossage:  „oiiSe  yäp  •^v  ysivjj  [Jidaog  ö[icpaXög  oüäs  •9-aXäaayjS  |  el  Ss 
Tig  sau,  %-solc,  AHA02,  S-vy^toiaiv  8'  axavioj". 

^'i')  Fast  alle,  mit  Sternbildern  geschmückten  babylonischen  Grenz- 
steine zeigen  diesen  Polardrachen  mit  dem  geringelten  Schlangenleib. 
Vgl.  dazu  Boll,  Sphära  Tafel  I  und  V,  die  Texte  S.  96,  300,  468.  Zwi- 
schen den  Windungen  der  Polarschlange  steht  der  kleine  Bär,  der 
unten  Anm.  109  als  Verstirnung  der  am  Pol  wohnenden  Göttermutter 
besprochen  wird  und  auf  den  der  Namen  der  Schlangengöttin  Helike 
übergangen  ist.  Als  „Amme  des  Zeus"  und  des  Hermes  ist  die  „Helike" 
eine  Doppelgängerin  der  Göttermutter. 

*"<:)  Nach  dem  „Nabel"  (surrah)  heißt  das  Apollonheiligtam  Sura 
in  Kleinasien  und  die  Insel  Syra  o9-i  x  p  0  u  a  l  TjsXioio  (0.  404). 

«")  Zum  folg.  s.  Tabari  p.  180  trad.  Dubois ;  Pococke,  Spec.  p.  121; 
Burckbardt  a.  a.  0.  1217;   Caussin  I  170  ff. ;    Lenormant  p.  140. 


142  Eobert  Eisler, 

Schöpfung  erbaut  worden  sei.  Allah  habe  die  Engel  ange- 
wiesen, dem  kosmischen  Heiligtum  durch  die  heute  noch  von 
den  Pilgern  zu  vollziehende  Ceremonie  des  ,,tawäf"',  den 
siebenmaligen  Kreisumlauf  ihre  Verehrung 
zu  bezeugen.  Und  genau  unter  diesem  himmlischen 
Heiligtum  habe  Adam  —  lies  Edom,  der  ,,Rothe",  der  Epo- 
nym  der  Edomiter  oder  „idumäischen"  Araber^"'')  —  die  ir- 
dische Ka'aba  errichtet. 

Der  astrologische  Charakter  der  sieben  Umläufe  um  den 
heiligen  Stein  —  der  nicht  nur  in  Mekka,  sondern  bei  vielen 
ähnlichen  arabischen  Heiligtümern  nachweisbar  ist  ^^)  —  ist 
längst  erkannt  ^'^) :  das  Kreisen  der  Engel,  d.  h.  der  heidnischen 
Planetengötter  um  den  mystischen  Stein  als  Weltmittelpunkt 
wird  in  eigentümlicher  Weise  ^^)  nachgebildet.  Die  zugrunde- 
liegende kosmologische  Theorie  ist  unschwer  kenntlich  und 
auch  aus  neubabylonischen  Diagrammen  ^*)   tatsächlich  zu  be- 

^"a)  Assyr.  ^.ssädu"  bedeutet  _rot  sein"  ,rot  glühen"  und  wird 
vom  rotglühenden  Stern  Betelgeuze  im  Orion  gebraucht.  Ein  gleich- 
lautendes Wort  heißt  ,,jagen",  was  trefflich  zu  dem  „Pfeilstern"  —  so 
heißt  der  Betelgeuze  —  des  himmlischen  Jägers  paßt  (Jensen,  Gilgames- 
epos  p.  842).  Deshalb  heißt  „  Sid"  „der  Jäger",  der  Eponym  von  Si- 
don,  auch  der  ,Rote",  griech.  $oivi^ ,  der  Gott  der  „Phönizier"  sem. 
„Edom",  der  „Rote",  Gen.  25^7  als  „Jäger"  geschildert  und  von  den 
Phöniziern  nach  dem  Zeugnis  der  Namen  'Obed-Edom  und  Malach-Edom 
eis  I  Nr.  "295  und  365  tatsächlich  verehrt.  'PoLwiy.sz  ist  also  die  genaue 
üebersetzung  von  „B'ne  Edom"-ldumäer,  vfozu  die  phönizische  Tradition 
einer  Einwanderung  aus  Ostarabien  (Herodot  1,  1  cf.  7,  89)  trefflich 
stimmt.  (August  Fick's  Erklärung  der  it&Lviy.Eg  als  „Rothäute",  die 
sein  treffliches  Buch  über  vorgriechische  Ortsnamen  nicht  weniger  ent- 
stellt, als  die  darauf  gestützten  Folgerungen  gegen  eine  wirklich  phö- 
nizische Besiedelung  griechischen  Gebietes,  ist  natürlich  unhaltbar; 
cpoivig  der  Vogel  und  der  Baum  gehen  auf  ein  ursemitisches  Wort  „bnh" 
zurück;  Hommel  Grundr.  83 e).  Deshalb  ist  Phoenix  im  griechischen 
Mythus  ein  kalydonischer  Jäger,  Vater  des  mit  ihm  wesensgleichen 
„Adonia",  und  wird  geblendet  wie  Orion,  deshalb  muß  (oben 
Anm.  60)  die  Statue  des  Hobal  mit  den  Pfeilen  aus  rotem  Stein 
sein.  „Adam"  in  der  Ka'abalegende  ist  also  hanitische  Umdeutung 
für  den  alten  Stammesgott  Edom. 

»')  Caussin  de  Perceval  I  270 ;  Muir,  life  of  Mohammed  I,  p.  CCXCII. 

^-)  Sprenger,  life  of  Mohammed  p.  6. 

^')  Niketas  Choniatas  a.  a.  0.  (oben  Anm.  15)  „loög  Ss  slg  npogsuxV 
evcsl  ÄTiioviag  [lev  [itav  aüxmv  y^el  p  a  Ttpög  xöv  Xi9-ov  ixxsivstv,  tq  Ss  Ixepqc 
TÖ  oög  y.aTSX£-v  xö  iS'.ov  xai  cjxcü  xuxÄoxspcög  kauzobc,  Ttspicpepeiv.  Zum  zu- 
gehaltenen Ohr  vergleiche  eine  Parallele  im  Hei'mescult  Korn.  16  S.  67  Os. 

^*)  Vgl.  *„ Weltenmantel"  Cap.  IV,  gegen  Schluß,  über  die  Kosmo- 
gramme des  Mar  Aba  von  Nisibis  in  den  Handschriften  des  Kosmas 
Indikoplenstes,  wo  man  selbst  die  sternbewegenden  im  Kreise  fliegen- 
den Engel  abgebildet  findet.     Infolge  dieser  Vorstellungen  vom  himm- 


Kuba-Kybele.  143 

legen :  man  milim  an,  daß  Sonne,  Mond  und  Sterne  um  den 
Gipfel  eines  im  Norden  der  bewohnten  Welt  aufragenden  him- 
melhohen Berges  in  regelmäßigen  Schraubenlinien  —  daher 
der  griechische  Namen  Helikon  für  diesen  Weltachsenberg  — 
kreisen.  Mit  diesem  heiligen  Berg,  dem  „Ijagr"  oder  Culmi- 
nationspunkt  ist  der  heilige  Stein  „hagar"  durch  mystische 
Gleichsetzung  eins  ^^),  dem  tawäf  der  sieben  Sterngötter  um 
den  Nabel  des  Himmels  entspricht  der  jährliche  Umlauf  der 
Hadjis  um  die  Ka'aba. 

Genau  dieselbe  Vorstellung  knüpft  sich  nun  bezeichnen- 
derweise auch  an  das  kleinasiatische  Gegenbild  der  Ka'aba,  die 
Kybele  'Opetr]  als  Göttin  des  heiligen  Berges  und  als  mysti- 
scher Nabelstein  '0(JicpaA-ifj. 

'A^avaxwv  ■9'£6tc|ji£  ^ewv  fJtfjxep,  xpocps  ticcvxwv 
wird  sie  im  orphischen  Hymnenbuch  angerufen, 
axyjTCTOöxe  xXsovoio  tcoXou, 
Stabträgerin  des  hehren  Himmelshutes  ^^) 

Yj  xax£}(£cs  xoafioto  [lioov  -ö'pövov,  ouvsxsv  auiiQ 
yaiav  ix^^i  •  ■  •  'I  <j  x  c  rj  ai)5a)(^£iaa  "''). 

Der  Nachdruck  bei  der  Erklärung  dieser  Vorstellungen 
muß  natürlich  auf  die  Bezeichnung  der  Göttermutter  als  Welt- 
mittelpunkt und  saxta  gelegt  werden:  es  gibt  keinen  Leser 
dieser  Zeitschrift,  dem  dieser  Namen  nicht  unmittelbar  die 
herrliche,  zweifellos  orphisch  beeinflußte  Schilderung  im  pla- 
tonischen Phädros  (XXVI  S.  247  a)  ins  Gedächtnis  riefe,   von 


lischen  Rundtanz  der  Sterngötter,  heißt  der  Himmel  „marqod''  =  Tanz- 
platz"  und  das  oberste  Gestirn ,  ursprünglicli  der  Mond ,  später  die 
Sonne  „Ba'ai  Marqod"  ,Herr  des  Tanzplatze s"  ,  orphisch  Dionysos 
äoxpcov  yp^oL'^oc,  oder  öp^aiiog  xöa[j.ou. 

^°)  Den  Zusammenhang  des  hl.  Steines  mit  dem  hl.  Berg,  als  dessen 
Abbild  und  Stellvertreter  er  gilt,  hat  m.  W.  zuerst  Melchior  de  Vogue 
Syrie  centrale,  inscriptions  semitiques  p.  104  klar  erkannt  und  ausge- 
sprochen :  ,,le  culte  de  la  pierre,  et  surtout  de  la  pierre  conique  se 
relie  ä  celui  de  la  montagne  isolee,  du  lieu  haut  considere  d'abord 
comme  le  sejour  de  la  divinite,  puis  comme  identique  ä  la  divinite 
elle-meme". 

96)  Ygi  *^  Weltenmantel "  S.  64  über  die  auf  Mithrasstelen  (Cumont 
mon.  1(33  a,  251  e,  190,  228  bis,  c,  295  Fig.  490,  p.  52.3  Textb.  vol.  I 
p.  197)  mehrfach  bezeugte  Vorstellung  des  Himmelshuts  (uöXog,  tiiXCov) 
auf  der  Stange,  dem  Stab,  oder  dem  Wipfel  des  Baumes,  der  als  Welt- 
achse gedacht,   vom  höchsten  Punkt  der  Erde  aus  emporragt. 

9')  Abel,  fragm.  orph.  p.  73  v.  4,5,9.  Vgl.  dazu  Sophocl.fr.  558  N  2, 
Myth.  Vatic.  HI,  26;  Schol.  Stat.  Theb.  4«6. 


144  Robert  Eisler, 

dem  erhabenen  „tawäf"  im  hellenischen  Himmel,  dem  Reigen 
der  unsterblichen,  unter  Führung  des  Zeus  auf  ihren  Flügel- 
wagen das  Firmament  umkreisenden  Götter,  bei  dem  „Hestia" 
allein  „im  Hause  der  Götter"  zurückbleibt  ^^).  Diese  xo:vy) 
eaica,  die  in  Delphi  (JLea6[xcpaXo^  genannt  wird  ^^)  und  sinnge- 
mäß als  Mittelpunkt  der  Welt  gilt  ^^''),  wird  von  den  Orphi- 
kern  selbst  oly.o:;  Scwv  ^°^)  d.  h.  ßaixuXo?  ^°2)  genannt.  Das 
erklärt  sich  einfach  genug:  der  heilige  Stein,  das  Haus  der 
Gottheit,  selber  göttlich,  ist  auch  der  ursprünglichste  „Altar", 
er  wird  mit  Oel  gesalbt  —  darum  heißen  Hestias  Haare  (Hymn. 
hom.  24,3)  „fetttriefend"  —  und  mit  Blut  begossen,  auf  ihm  wird 
das  Feuer  entzündet,  das  der  Gottheit  Stelle  beim  Verzehren 
der  Opferspeise  vertritt.  Haus  und  Herd  sind  eins  als  Heim 
der  Gottheit;  liegt  das  Haus  der  Gottheit,  ihr  heiliger  Stein 
und  heiliger  Berg  als  Nabel  der  Welt  im  Mittelpunkt  der  Erde, 
dann  muß  dort  vom  höchsten  Gipfel  aus  auch  das  heilige 
Feuer  der  Götter  auf  ihrem  Herde  zum  Himmel  flammen.  Der 
Tempelberg  von  Jerusalem,  das  nach  der  einstimmigen  rabbi- 
nischen  und  patristischen  Ueberlieferung  als  Nabel  der 
Erde    gilt ^"2="),    heisst    bei    Isaias  „Uriel"  =  „Feuer  Gottes" 


^*)  Vgl.  Hom.  hymn.  IV  29.  wo  Zeus  der  Hestia  verliehen  hat,  in 
der  Mitte  des  Hauses  zu  wohnen,  dazu  Korn.  c.  28  S.  159  Osiander. 

^®)  Vgl.  Eurip.  IßN  456  ff.:  ,5  jid-xaipa  Ntxa,  iJ.ö}.e  n-j'S-i.ov  oly-o^^  .  . 
<I>0[,ßrjtog  svS-a  yäg  |j,saö[icpaXog  laxta  .  .   jiavTsüiiata  xpaivei". 

'«»)  Euripid.'fr.  944  cf.  Pseudo-Aristot.  uspl  xöoiiou  2  S.  391  bl4; 
Korn.  28  S.  156  Os.;  Dion.  Halik.  apx.  266:  Ovid  Fasti,  6267;  Lact.  26; 
Osann  zu  Korn.  S.  333  und  338;  Preuner,  Vesta  und  Hestia  159. 

"^J  Hymn.   84  b. 

^•'^)  So  wird  andrerseits  der  delphische  Nabelstein  bei  Hesych  und 
im  Etymologicum  Gudianum  10247  bezeichnet. 

102  a)  Vgl.  (irünbaum  ZDMG  XXXI,  1877,  S.  199;  Joma  54  b  (Mon. 
talm.  I  237  Nr.  791  Z.  10  f.)  Midrasch  Tanchuma  (ibid.  Nr.  792  Z.  40) 
Sancherib  37  a  (ibid.  Nr.  793  p.  288  Z.  4)  Sohar  Num.  (ibid.  Nr.  794 
Z.  24),  wo  überall  Jerusalem  als  „Nabel  der  Erde"  (wegen  F'zech  38  12. 
„tabbur  ha'arez"  combiniert  mit  Se  „Jerusalem  in  der  Mitte  der 
Völker,  rings  im  Kreis  die  Länder"  bezeichnet  wird.  (Der  Name  des 
Berges  Atabyrion-Itabyrion,  der  ausserhalb  von  Galilea  noch  bei  Agri- 
gent  und  auf  Rhodos  vorkommt,  ans  dem  Semitischen  nicht  zu  ver- 
stehen ist,  und  wohl  mit  Fick  als  hethitisch  zu  betrachten  sein  wird, 
verdankt  seine  biblische  Form  „Thabor"  wahrscheinlich  der  durch  seine 
Kuppelform  [„mira  rotunditate"  Hieron.  OS.]  veranlassten  volksety- 
mologischen Angleichung  an  „tabbur"  =  „Nabel"  bezw.  „Hügel"). 
Christliche  Zeugen  für  die  Lokalisierung  von  Jerusalem  im  Nabel  der 
Erde  sind  Clemens  von  Alexandria  (unten  Anm.  102  b)  Cyrill.  Jerus., 
Eutych.  bis  auf  Dante  Purg.  II  1  tf.  und  Fazio  degli  überti,  Dittamo- 


Kuba-Kybele.  145 

und  „Arial"  ,, Opferheld'' ,  wo  Jahwe  ,,ein  Feuer  und  eine 
Brandstätte  hat"  ^"^b) 

Es  ist  überaus  lehrreich,  zu  verfolgen,  wie  diese  Vorstel- 
lung der  mystischen  kleinasiatischen  Theologie  in  der  jonischen 
Philosophie  nachwirkt.  Dieselben  Pyfchagoräer,  die  das  Welt- 
centrum iaxioc  Toö  Tiaviog  xac  Aiö;  oixov  nennen '°^),  bezeich- 
nen es  gleichzeitig,  doch  offenbar  mit  Beziehung  auf  Kybele 
als   „  G  ö  1 1  e  r  m  u  t  te  r " . 

Am    besten    aber    lernt    man    die  dabei  zucfrundeliegende 


ndo  1.  VI  c.  VII.  „il  monte  Sion,  che  in  mezzo  al  mundo  appunto 
si  divisa". 

102  b)  Die  schwierige  Stelle  29  1.2.  7  (s)  muss  so  punktiert  werden, 
dass  in  dem  fünfmal  wiederholten  "^K"""!«  das  Wortspiel  mit  allen  mög- 
lichen Deutungen  voll  zum  Ausdruck  kommt:  „*Weh  Uri-el  (Gottes- 
feuei"),  weh  Urü-el,  du  Stadt  wo  David  Lager  schlug".  .  ^so  will  ich 
Ari-el  (den  Gottes  1  Owen)  bedrängen,  dass  Webklage  und  Jammer 
entsteht;  und  sie  (die  Stadt)  soll  mir  wie  Arial  (Opferherd)  wer- 
den ...  ^Von  Jahwe  her  soll  Heimsuchung  erfolgen  .  .  .  mit  der 
Flamme  verzehrenden  Feuers  ..  [sc.  gegen  die]  „Völker,  die 
wieder  Ariel  (Gottes  Löwen)  zu  Felde  liegen  .  .".  Zu  Uri-el  „Gottes 
Feuer"  vgl.  Isaias  31 9:  „(Jahwe),  der  sein  Feuer  ('ür)  in  Zion  und 
seine  Feuerstatt  zu  Jerusalem  bat".  „Uru-el'- =  „tsjjlsvos",  sem.  harära 
Gottes"  ist  der  alte  Name  von  Jerusalem  (Uru-salim  in  den  Amarna- 
briefen),  dabei  steht  das  allgemeine  El  an  Stelle  des  Gottesnamens  Salm 

(=  „Zwilling"  [s.  u.  A.  152];  bezieht  sich  auf  den  zweigipfligen  Berg;  Salem 
ist  temura,  vgl.  Winckler,  Gesch.  Isr.  II  229  3;  Ex  Oriente  lux  II  107  20) 
Ari-el  „Gott(es)  Löwe"  ist  nach  Genes.  49 9  f.  („Löwe  und  Löwin"  s. 
u.  Anm.  147  den  löwengestaltigen  Zwillingsgott  und  die  Löwen  der  Gro- 
ßen Göttin)  Bezeichnung  für  J  u  d  a.  Die  mystische  Beziehung  zwi- 
schen dem  „Gott  Feuer"  und  dem  „Gott  Löwen"  besteht  darin,  dass 
im  Stierzeitalter  die  Sonnenwende  mit  den  Sonnwendfeuern  und  dem 
„Feuerfall"  Arad-Gibil  in  das  Sternbild  des  Löwen  fällt,  so  daß  der 
Culminationspunkt  (s.  oben  Anm.  15  über  hagr)  der  Sonne,  der  „Horeb" 
oder  Berg  „der  Gluthitze"  (Winckler)  auch  als  feuerspeiender  Löwe  ge- 
dacht wird.  Vgl.  zu  dem  feuerspeienden  leontokephalen  Gott  Xpö^oq 
in  den  Mithräen  den  von  dem  Löwengott  von  Heliopolis  ausgehenden 
Feuerfall  bei  Damask.  Vita  Isid.  ap.  Phot.  Bibl.  cod  CCXLII  p.  348. 
Diesem  feuerspeienden  Löwengott  ist  bei  Isaias  das  Feuergericht  von 
Jahwe  her  entgegengestellt.  „Arial"  =  „Altarherd"  ist  durch  die  Me- 
shainschrift  und  die  Tempelbeschreibung  im  griechischen  Ezechiel  43 
10  f.  (aptyjX  Glosse:  „cpw  g  jxou  ■S-scg  *  rizoi  öpoc,  ^•zoü'blc,  xb  O-uoiaaxYjpiov 
oöTtüg  IxäXsoev" ;  cf  arab.  „irat"""  =  ,,Herd",  Encycl.  Bibl.  298)  gesichert. 
Dementsprechend  heisst  bei  Philo,  Vit.  Mos.  II  (III)  101;  Joseph,  antiqq. 
III  77;  Clem.  Alex,  ström.  V  6,  33  S.  665  P  das  Suiita-cvipiov  des  Tem- 
pels „aüfißoXov  x%c,  iv  [isatp  xw  y.öoiJKp  löiSe  x£'.[Ji£vrj;  y'^S"-  Vgl.  Anm.  62 
über  den  Götterberg  als  Phallos  S-iy  'arallu. 

103)  Philolaos  bei  Stobäos  ecl.  phys.  I  22  S.  488  =  134  20  M.  c>o 
Diels  FVS  "^  p.  237  u:  „<I>.  nOp  sv  (Jisaq)  zispl  10  v.tnpo^  öuep  «sotiav 
toü  TzavTÖg»  naXsl"  (cf.  p.  242io  fr.  6)  xat  « Aiög  oTxov»  xai  «MvjTspa  9-2tüv> 
«ß(!)JlÖV>    T£  -/ccX". 

Philologus  LXVIII  (X.  F.  XXII),  1.  10 


146  Robert  Eisler, 

Vorstellung  aus  einem  Fragment  des  Heraklit  ^°*)  kennen,  das 
Diels  im  ersten  Band  mit  einem  Fragezeichen  unerklärt  ent- 
lassen mußte,  was  meinen  Freund  Wolfgang  Schultz  ^°^)  leider 
zur  Verschwendung  zweier  enggedruckter  Seiten  künstlichster 
Argumentation  an  eine  ganz  überflüssige  Textverböserung  ver- 
leitet hat:  dort  heißt  es:  ,,rjoöc  xac  saTiepa;  zip[ioi.X(x  y]  apxTo; 
xa:  dvTiov  xfj;  apxtou  o5po^  aid'piou  zlto?",  „Morgen-  und 
Abendgrenze  ^'^'')  sind  «die  Bärin  >  (am  Himmel)  und  genau 
gegenüber  (diesem  Nordpol  des  Himmels  auf  der  Erde)  der 
(Nord-)Berg  des  strahlenden  Zeus." 

Die  Nacht  hindurch  schwingt  sich  die  Sonne  hinter  dem 
Berg  vorüber  ^*"^),  aber  die  beiden  Hälften  der  Nacht,  Abend 
und  Morgen,  sind  nach  Heraklit  nur  durch  die  ideale  Ver- 
bindungslinie (TEpjxaxa)  der  gegenüberliegenden  Kuppen  von 
Erde  und  Himmel  getrennt,  die  die  Sonne  um  Mitternacht 
passiert,  keineswegs  ^"^j  wie  Hesiod  —  und  Parmenides  — 
lehren,  durch  ein  gewaltiges  Thor  mit  eherner  Schwelle.  Des- 


"*)  Nr.  120  Diels  FVS  -  p.  78. 

"'°)  Pyfcbagoras  und  Heraklit  Wien  1905  S.  110  ff.  und  neuerlich 
wiederholt  in  einem  eben  erscheinenden  besonderen  Aufsatz  über  He- 
raklit fr.  67  im  Arch.  f.  Gesch.  der  Fhilos.  1909,  200:.  Bei  Diels^  11 
665  unten  ist  ein  Teil  der  richtigen  Deutung  (=oupoe  Zeusberg  jonisch 
für  öpos)  schon,  wenn  auch  zweifelnd  ausgesprochen.  Der  kosmische 
Berg  der  Mitte  heißt  ,, Bärenberg"  (localisiert  bei  Kyzikos  Schob  Apol- 
lon.  Rhod.  I  936),  weil  er  „gerade  unter  dem  Bärengestirn"  liegt,  und 
„Helikon"  wegen  der  gleichen  Beziehung  zur  Polschlange  Helike. 

*"*)  Hesiod  Theog.  748  ff.  ,,5&i  Nü^  xe  xal  'HiJtepvj  äaaov  loöoai.  äXXrj- 
Xa5  TipogsetTtov,  ä|jistßö|j,cva'.  [isyav  oOSov  x.äX>i£Ov"  xiX.  Vgl.  Parmenides 
fr.  In  Diels  FVS"  114:  „£v9a  roJXat  NuxTÖg  xs  y.al  'HiJiaxög  elot  xsXeü- 
S-o)v,  y.at  ocpäg  ÖTispO-upov  djicplg  ix-^  '^'^'  ^^^''■'"^os  o'^jbo  g".  Der  Nordberg 
(vgl.  zum  babyl.  Bei  sadu  rabbu  =  „Bei  der  große  Berg"  den  kana- 
näischen  Baal  Zephön  ,,Ba'al  des  Nordens",  Baethgen,  Beitr.  23,  261)  auf 
dem  (Isaias  14i3)  die  Elohim  wohnen,  hat  zwei  Gipfel  (vgl.  4 
Rawl.  27  2  [Hommel's  freundl.  Mitth.]  Z.  17 :  „sa  zi-sa-a-su  (Dual) 
sa-ma-mi  sa-an-na"  ,, dessen"  (sc.  des  Götterbergs  Im-'gur-sag)  „beide 
Gipfel  den  Himmel  erreichen").  Dazwischen  befindet  sich  das  (Gilpa- 
mesepos  Taf.  VII  Z.  44  f.  erwähnte)  72  Ellen  hohe  Thor  am  Nordpunkt 
des  Himmels ,  dessen  Schwellstein  (Xai'vog  oüSög  bei  Parmenides)  den 
Mittelpunkt  der  Welt  bezeichnet.  Folgerichtig  ist  auch  die  Schwelle 
—  über  deren  Cult  anderswo  ausführlich  zu  sprechen  sein  wird  — 
der  Hestia  heilig  (Varro,  Myth.  Vatic.  KI  122  cf.  III  4  4. 

"')  Vgb  Anaxinander  Diels  FVS"  I  17  ss :  »Kivtlad-ai  5k  xä  äaxpa  oO^ 
ÖTTÖ  yfjv  dXXä  uspl  yYjv". 

108J  Vgl.  Herakl.  fr.  57  Diels  p.  70,  das  mit  120,  seiner  Begründung 
zusammenzuziehen  ist.  („5t5äaxaXo5  Ss  tiXs'.oxcüv 'HaioSog'  lO'jrow  iTziaxav- 
xat  TT;X£laxa  slSdvai,  Scxig  :^|iepYjv  xal  eü^p&VYjv  ouk  iyiy^iüaxB'^  (oben  Anm. 
106).    eaxt  y*P  ^^)' 


Kuba-Kybele.  147 

halb  —  weil  es  keine  materielle  Schranke  zwischen  den  in  ein- 
ander übergehenden  Hälften  des  vu/^{)Yj(ji£pov,  Morgen  und  Abend 
gibt  —  sind  Tag  und  Nacht  im  Gegensatz  doch  eins. 

Dem  Götterberg  mit  dem  Centralfeuer  und  dem  olv.o;, 
A'.o;  —  dem  zeugenden  /aaiJia  zwischen  den  beiden  Gipfeln 
—  der  Kybele  -  Omphale -'Opetr]  -  Myjirjp  unten,  entspricht 
das  Circumpolargestirn  der  ., Bärin",  der  kleinen  apxxos,  ^ 
TüXsouaiv  OoiviXcS  ^^^),  dessen  Benennung  —  keilinschriftlich 
nicht  nachzuweisen  —  Kallimachus  "")  auf  Thaies  zurückführt, 
oben  am  Himmel.  Die  ratio  dieses  Katasterismus  ist  nun  klar: 
denn  die  „Bärin"  ist  die  große  Göttermutter  selbst,  der  die 
Bären  heilig  waren  ^^^),  und  die  selbst  als  „ursa  mansueta, 
quae  cultu  matronali  sella  vehebatur"  ^^-)  verehrt  wurde. 

Zu  allen  diesen  Entsprechungen  in  der  Auffassung  des 
kleinasiatischen  Mutter-,  Nabel-  und  Herdsteins  mit  seinem 
arabischen  Gegenbild  kommen  noch  eine  Reihe  unmittelbarer 
und  nicht  zu  übersehender  Beziehungen  hinzu.  Wenn  die 
Neupythagoreer   ihr  Centralfeuer  ^^^)  saita  —  statt  Aw?   ocxo; 


*"')  Diog.  Laert.  I  23.  Glaubwürdig  ist  die  Nachricht  deshalb  nicht, 
weil  nur  der  semitische  und  nicht  der  griechische  Name  des  Bären  die 
für  ein  Circumpolargestirn  bezeichnende  Vorstellungsgrundlage  der 
, Trägheit"  bzw.  „langsamen  Bewegung"  bietet.  Denn  es  ist  doch 
zweifellos,  daß  bei  der  Auswahl  des  Namens  an  den  zahmen,  an  Ort 
tanzenden  Bären,  die  ,ursa  mansueta",  gedacht  worden  ist. 

■1»)  Fr.  94  Diels  FVS^  p.  3 15. 

"')  Lucian  dea  Syria  41. 

"^)  Apul.  11 8.  Die  Fahrt  auf  dem  Wagen  entspricht  der  bekannten 
Lagebeziehung  zwischen  dem  Polarstern  und  dem  „großen  Wagen" 
bezw.  „Bären"  {Z  427). 

"^)  Nur  nebenbei  bemerke  ich,  daß  die  als  phantastisch  verrufene 
Lehre  vom  Centralfeuer  und  der  Gegenerde  einfach  darin  besteht,  daß 
die  Pythagoreer,  wenn  man  so  sagen  darf,  aus  Symmetriebedürfnis 
und  speculativer  Vorliebe  für  die  vollkommene  Kreisform  der  Welt, 
den  Nordberg  in  die  Mitte  der  —  bei  den  Babyloniern  rechteckigen  — 
Erdscheibe  rückten  und  so  „hinterm  Berg"  eine  jenseitige  ,,hyperbo- 
reische"  Erde  annahmen.  Uebrigens  geht  aus  der  Terminologie  der 
jonischen  Schule  (x  u  jjm  a  v  0  eiS^  ttjv  yfjv)  deutlich  hervor,  daß  auch 
in  diesem  Punkt  die  Theologie  der  kleinasiatischen  Culte  nicht  ohne 
Einfluß  geblieben  sein  dürfte.  Vgl.  Varro  bei  August,  de  civ.  Dei  VII 
2ö  „tympanon  (magnae  Matris)  significare  orbem  terrae"  und  Servius 
zu  Virgil  Aeneis  IV  64,  wo  die  beiden  Kymbala  der  Göttin  auf  die 
Himmel  shemisphären  gedeutet  werden  „quibus  cingitur  terra,  quae  est 
mater  deorum".  Dazu  vgl.  man  die  ,,kuppel"förmige  Gestalt  des  ,,0m- 
phalos"  in  Delphi,  ferner  das  sternengeschmückte  Tympanon  auf  der 
Münze  von  Pessinunt,  Imhoof  Blumer,  griech.  Münzen,  (Abb.  bayr. 
Ak.  XVIII  751  Nr.  7.50). 

10* 


148  Robert  Eisler, 

—  Zavös  Tiupyos  ^^*)  nennen,  so  ist  das  sprachliche  und  sach- 
liche Anlehnung  an  die  orientalischen  Bezeichnungen  des  Him- 
mels- bzw.  Götterhauses,  babyl.  „parakku'"  (Zelt),  arab.  „al-bu- 
rug",  griech.  Tiupyo:  "^);  heute  noch  bezeichnet  „Batll"  im  Ara- 
bischen einen  jener  hohen  viereckigen,  astrologisch  orientierten 
Warttürme,  die  zwar  in  historischer  Zeit  nicht  mehr  dem  Cult 
dienten,  aber  einst  sicher  zu  diesem  Zweck  benützt  wurden  ^^^). 

Entscheidend  für  den  orientalischen  Ursprung  des  ganzen 
Vorstellungscomplexes  aber  scheinen  mir  die  beiden  Benen- 
nungen  des  Brandopferaltars  saxca  und  ioy^dpx. 

Gruppe  ^^^)  hat  richtig  hervorgehoben,  daß  die  appellati- 
vische Bedeutung  von  iaxla,  secundär  aus  dem  Namen  der 
Göttin  hervorgegangen  zu  sein  scheint,  nicht  umgekehrt.  Der 
Etymologie  nach  aber  erklärt  er  feo  -  xt'a  -  Vesta  aus  d{i'^i- 
./eavup-c  „die  Verhüllte''  und  vergleicht  als  Parallelen  die  beim 
„Nabel  des  Meeres"  wohnende  gleichbedeutende  KaXudjü)  und 
phoen.*  "["13  =  Kirke.  Es  ist  kaum  mehr  nötig  zur  fehlen- 
den Erklärung  dieser  sicher  zutreffenden  Namensdeutung  auf 
den  ausführlich  besprochenen  Umhangsritus  der  Ka'aba,  auf 
die  verhüllte  Istar  von  Ras  el  'ain  und  auf  die  zahlreichen  an- 
derswo ^^^)  gesammelten  kleinasiatischen  Parallelen  hinzuweisen, 
von  denen  hier  nur  die  auch  in  Sizilien  und  Attika  nachweis- 
bare Artemis  XcTwvr]  =  n:riD  genannt  sei.  Der  Umhangsritus 
ist  der  ursprünglichste,  sinnenfällige  Ausdruck  für  die  Per- 
sonification  und  Deification  des  Steines;  nur  die  Umhüllung, 
das  Kleid  unterscheidet  den  heiligen  vom  profanen  Stein.  Die 
Jeaxioc    (Xt>o$   oder  Ttetpa)  ist  der  heilige  Stein  schlechthin. 


"*)  Nikom.  Geras,  bei  Phot.  bibl.  143  a  32;  Prokl.  Tim.  I  (zu  S.  27  b) 
61c;  III  (zu  34  b)  172  a;  iV  (zu  40  c)  282  e.  Zur  Bezeichnung  Zavög 
cpuXaxä  ebenda  III  172  a  vgl.  die  anderswo  zu  erklärende  Wiedergabe 
des  Wortes  „Zur"  (Gott-Fels)  in  der  Septuaginta  mit  cpüXag.  Zu  Z.  u-jp- 
yog  ist  natürlich  die  7:upyocf.dpos  KußeXrj  (Synes  ep.  o  S.  639  ff.)  zu 
vergleichen. 

"*)  "Vgl.  über  diese  tatsächlich  in  der  astrologischen  Litteratur  mit 
,,betü''  und  „isreti"  uequivalenten  Ausdrücke  Hommel  ZDMG  45,  607j. 

116)  Wellhausen  a.  a.  O.  103.  Vgl.  den  Ortsnamen  Ba'al-Zaphon 
,,Ba'al  Wachtturm"  in  Goshen,  Encycl.  ßibl.  p.  4092. 

"')  Handb.   1402. 

ii8j  Weltenmantel  S.  165  ff.  Vgl.  unten  Anm.  213  a  über  den  Um- 
hang der  Sachra.  Der  Gebrauch  ist  auf  den  christlichen  Altarstein 
mit  seiner  nie  fehlenden  Altardecke  übergegangen. 


Kuba-Kybele.  149 

Noch  vielsagender  ist  das  ursprünglich  genau  so  wie 
Tcupajxcc  -  nupa|j,05  und  ö^oXöc,  -  c^iXt.o-i(.oi  ^^^)  einen  Götter- 
namen darstellende  ea/^apa  —  im  Griechischen  anerkannter- 
maßen ohne  Etymon  — ,  das  lautlich  und  dem  Sinn  nach  dem 
besonders  in  Ninive,  aber  auch  in  Kleinasien  sicher  bezeugten 
Namen  Is-chara  ^-^)  für  die  Bellt  Nin-gur-sag  die  „Herrindes 
Götterberges "  entspricht.  „Is-charra"  =  „Haus  +  Berg",  ganz 
ähnlich  wie  der  bekannte  Tempelnamen  „E-kur"  ist  wohl  das 
vollkommenste  Gegenstück  zur  Kybele  'Ope^vj,  zur  iatia  als 
oly,oc,  A:6c  auf  der  Hohe  des  Götterberges,  das  man  nur  er- 
warten könnte:  selbst  die  verschwindende  LautdifFerenz  zwischen 
*'Ea/^apa  und  Ischara  bestätigt  nur  die  vorausgesetzte  Glei- 
chung, denn  volksetymologische  Angleichung  an  „'es"  =  Feuer^ 
*'Eaxapa  =  „  Feuer  des  Berges'"  liegt  auf  der  Hand^^"  ^).  Damit 
ist  dann  aber  auch  der  kleinasiatische  Ursprung  der  offenbar 
prähellenischen,  an  iaita,  ec/^apa.  öji'^aXoc,  Tcjpyog,  oiY,oc.  Acöc; 
—  der  babylonische  Tempel,  das  „Berghaus''  E-kur,  ist  be- 
kanntlich ein  Stufenturm,  ein  künstlicher  „ Höhenort ",  eine 
'■'^T  bähmä,  griech.  ßü)[Ji6(;  ^^^)  —  anknüpfenden  Weltvorstel- 
lungen und  Kosmologien,  die  naturgemäß  in  sog.  „orphisch- 
pythagor  ei  scher"  Lehre,  d.  h.  aber  in  jonischer  Ueberliefe- 
rung  am  deutlichsten  bewahrt  geblieben  sind,  unzweifelhaft 
nachgewiesen. 

Für  die  Auffassung  der  hier  untersuchten  Gottheit  aber 
ergibt  sich  aus  den  engen  Beziehungen  von  Nabel  und  Herd. 


i"-9)  Oben  Anm.  63. 

*-")  Das  Ideogramm  der  Göttin  Isharra  ist  auch  Ideogramm  für 
Ninua-Ninive  (Hommel  Grundr.  SdO).  In  Kilikien  ist  sie  gesieherst 
a)  durch  den  Xeftonamen  Ishr  (ibid.  116 3)  b)  durch  den  in  Kilikien 
gefundenen  Siegelcylinder  mit  ihrem  Namen  (ib.  5U). 

120a)  Vgl.  dazu  oben  Anm.  102  a  die  genau  entsprechende  Reihe 
„har-El"  (Gott- Berg,  zu  Is-charra)  äp-.YjX-arial  =  S-uaiaatVipiov  (zu  iaj^äpa 
im  griechischen)  und  uri-el  ^ Feuer  Gottes"  (zu  'es-charra). 

1-1)  M.  E.  kann  nicht  daran  gezweifelt  werden,  daß  auch  ßto|j.ös  sa- 
crales,  von  der  vorgriechischen,  kleinasiatischen,  im  Cult  durch  und 
durch  semitisierten  Bevölkerung  übernommenes  Lehnwort  (=  hebr. 
bämä,  assyr.  „bamäti  sa  sade"  =^  Bergeshöhen,  Delitzsch  Hdw.  Ib. 
177  h)  ist.  Auch  der  wärmste  Bewunderer  Ulrichs  von  Wilamowitz 
wird  sich  heute  eingestehen  müssen,  daß  es  verlorene  Mühe  bedeutet.- 
diese  unabweisliche  Erkenntnis  ,,wi8sensch-iftlicheri  Phiiosemitisnaus'' 
zu  schelten.  Die  Theorie  von  .J.  D.  Michaelis,  dab  im  Gegenteil  bamä 
ein  indogermanisches  Lelinwort  sei,  ist  einfach  indiscutabel  (vgl.  G.  F. 
Moore,  Encycl.  Bibl.  2064  3).    Vgl.  S.  145 103. 


150  Robert  Eisler, 

die  —  offenbar  als  babylonisches  Lehngut  —  auch  in  Indien 
nachweisbar  sind  ^^^),  durch  die  Entsprechung  von  {JLTjtpa  und 
otxos,  von  Tür  und  Antlitz  ^^^)  ein  ganz  eigentümlicher,  mehr- 


»22)  Der  Opferherd  heißt  Nabel  der  Erde,  der  Welt,  des  Alls  näb- 
hih  prthivyäh ,  bhuvanasya,  vi9vasya).  So  wie  auf  der  iJisaö[icpaXoc 
^XpoTzöpoz  vYjoog  von  Palaityrus  ^oben  Anm.  85)  der  f  euer  umlohte 
Lichtbaum  steht,  so  heißt  indisch  der  F  e  u  e r  gott  Agni  „apsäm 
napät"  (Oldenburg,  Rel.  der  Ved.  109  tt'.)-  Dieser  bezeichnenderweise 
auch  im  Avesta  vorkommende  „apäm  napät"  „der  Gewässer  Nabel", 
armenisch  als  Bergnamen  Npat-Nr-pdxYj?  (Hommel,  Grundr.  209  o)  aber 
ist  nach  parsischer  Erklärung  (Spiesi-e],  ZDMG  41  S.  288)  „das  Gebirge, 
von  dem  der  Tigris  herabkommt",  d.  h.  der  mythische  Nordberg. 

128)  Yg^_  oben  Anm.  9  den  „Gesichtsschleier"  (,,burkah")  über  der 
Thür  der  Ka'aba  und  unten  über  den  Cult  des  „pinah"-steins  auf  Zion. 
Endlich  bemerke  ich,  daß  die  seltsame,  wie  immer  man  sie  erklären 
mag,  nicht  abzuleugnende  Beziehung  zwischen  .lanus,  janua  =  Thor 
und  Jana  =  Mond  (Varro,  re  rust.  I  37.  3)  vielleicht  durch  die  Vor- 
stellungsbrücke „Gesicht"  (für  den  Mond  an  sich  naheliegend,  vgl.  die 
„facies  in  orbe  lunae")  für  ,,Thür"  (vgl.  die  ßedeutungsentwicklung 
08  -ostium)  vermittelt  ist.  Ich  erwähne  es,  weil  die  Darstellungen  des 
Janus  mit  dem  Doppelkopf  auf  den  römischen  Libralassen  ebenso  wie 
die  ähnliche  eherne  Statue  des  Gottes  im  Janusbogen  unwillkürlich 
an  den  kleinasiatischen  Mtjv  Ai5'j[ios  oder  TiaiioO  (s.  unten  Anm.  197) 
erinnern  und  ein  römischer  Di-ianus  (^=  .Doppelthür"  =  Janus  ge- 
minus)  anscheinend  ganz  wohl  einem  kleinasiatischen  A'.9-'jpaiJißog  ^^'.^ 
TiuXog  (*At-TruXos)  entsprechen  könnte.  Die  Finger  an  der  Hand  seines 
Culfcbildes,  die  die  Zahl  36ö,  ursprünglich  3.b5  (Plin.  N.  H.  34i6  cf. 
Macrob.  Sat.  I  9)  bilden,  reihen  sich  in  die  unten  zu  besprechende 
kleinasiatische  Dactylensynibolik  noch  am  ehesten  ein.  Endlich  stellt 
die  an  die  kleinasiatische  Form  ,,Aperla"  anknüpfende  Theologenety- 
mologie Apollo  =  ,,Aperta"  von  „aperire"  eine  gewiß  nicht  unbeab- 
sichtigte Verbindung  zwischen  dem  eröffnenden  (und  schließenden, 
Clusius  —  Patulcius ,  zu-  und  abnehmender  Mond)  Janus  und  Apollo, 
dem  kleinasiatischen  Didyraaios  her.  Als  ,,divom  deus"  und  „creator" 
(„duonus  cerus").  wie  im  Salierlied  kann  man  wohl  den  doppelgesichtigen 
Urvater  Mond,  aber  niiht  einen  deificierten  Thorbogen,  wie  Wissowa 
meint,  anrufen.  Der  Cult  müßte  dann  ein  etruskischer  sein,  wozu 
nicht  nur  die  etruskischen  Münzen  mit  dem  Doppelkopf,  der  zweige- 
sichtige Jünglingsgott  mit  etruskischer  Inschrift  in  Cortona,  das  vier- 
gesichtige  Cultbild  von  Falerii  u.  a.,  sondern  auch  der  Umstand  spre- 
chen würde,  dalJ  janus  =  Thor  keine  Analogie  im  Indogermanischen 
hat  (Frazer).  Die  enge  Cultverbindung  mit  der  oben  als  ursprünglich 
kleinasiatisch  vorausgesetzten  Vesta  (und  mit  Föns,  wozu  unten  über 
die  Auffassung  des  Mondes  als  Quellfelsen)  würde  sich  gut  zu  dieser 
Annahme  fügen,  die  sich  heute,  wo  die  lateinischen  ,,recidiva  voca- 
bula  Troiae"  (Tark ,  Trok  —  Tarquinius;  Motala,  Mutallu,  MöxuXoc: 
—  Metellus;  Tiberis  —  60|jißpio;,  To'jßsptg,  Toßoßopo; ;  Mamalos  —  Ma- 
milius,  Manlius  —  MdvXog;  gens  Pinaria  —  Pinaros  etc.  Hommel  Grundr. 
65)  neue  Bedeutung  gewonnen  haben,  vielleicht  eher  hervorwagen  darf. 
(Vgl.  u.  über  Cuba  und  Cupra  bei  den  Etriiskern).  Folgerichtig  müßte 
man  natürlich  auch  in  Griechenland  neben  'Eoxia-"HßY)  'OixcfdXv)  Reste 
dieses  Janus  gestaltigen  Gottes  finden.  Tatsächlich  bietet  Sparta,  wo 
auch  sonst  ,,orphische8"  d.  h.  praehellenisch-kleinasiatisches  zum  Vor- 
schein   kommt,    einen    zwitterhaften,    mit   Amykläe    (Cult    des    leeren 


Kuba-Kybele.  151 

fach  zusammengesetzter  Vorstellungsinhalt,  aus  dem  sich  die 
ursprüngliche  Wesenseinheit  des  Hauses  der  Gottheit  mit  ihrem 
menschlich  gedachten  Leib,  dem  vaö^  xoO  aw^axos  ^-*),  um 
einen  neutestamentlichen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  ohne  wei- 
teres ergibt. 

München.  Bobert  Eisler. 

(F.  f.) 


Thrones!)  zusammenbängenden  Apollon  texpdxsip  und  xeTpdcwtog  (Sosib. 
FHb  II  (527 11 ;  Anecd.  Studemund  I  267;  Hesycb  s.  v.  HouptSiov)  d.  h. 
also  einen  griecbischen  Didymaios  neben  der  bekannten  Darstellung 
,,der"  Zwillinge  in  Gestalt  zweier  durch  einen  Querbalken  verbundener 
Pfähle,  d.  h.  aber  in  Gestalt  eines  echten  „Janus  geminus". 

'-*)  De  Vo^'ue  Syrie  centrale  Inscr.  seniit.  p.  121  hat  zuerst  die 
innere  Beziehung  der  cubiachen  Steinidole  zu  den  cubischen  Heilig- 
tümern in  denen  sie  eingeschlossen  sind,  erkannt.  Ebenso  entspricht 
die  altorientalische  Kuppelcapelle  (die  n2|P  im  eigentlichen  Sinn)  genau 
dem  halbkugeligen  Omphalosstein ;  wie  denn  kein  Einsichtiger  bezwei- 
feln wird ,  daß  der  Ursprung  des  altorientalischen  Wölbebaus  die  Ab- 
sicht wai%  im  kosmischen  Heiligtum  die  Himmelswölbung  nachzubilden. 
Vgl.  unten  über  den  Götternamen  Kajiäpa,  dazu  Serv.  Verg.  Aen.  I 
505  s.  V.  testudine:  „camera  iucurva  vel  fornicata,  quae  secundum 
eos,  qui  scripserunt  de  ratione  templorum"  (bezieht  sich  auf  hellenisti- 
sche Litteratur)  „ideo  sie  fit,  ut  caeli  imaginem  reddat". 


IVliscelien. 


1.  Mythographisches. 

R.  Reitzenstein  hat  im  Hermes  35,  S.  73  ff.  den  Versuch 
gemacht,  die  Traditionen  über  die  Hochzeit  des  Peleus  zu 
sondern.  Dabei  hat  er  ein  schon  früher  ^)  von  ihm  behan- 
deltes Fragment  aus  den  herculanensischen  Rollen  (Coli.  alt. 
Vni  105)  herangezogen,  worin  für  diese  Geschichte  Hesiod 
zitiert  wird.  »Der  herculanensische  Mythograph  gibt  uns 
Kunde  von  einem  Gedichte  Hesiods,  welches  mit  keinem  der 
besprochenen  identisch  war,  aber  denselben  Stoff  behandelte. 
(Ein  weiterer  Bearbeiter  des  Stoffes  wird  eingeführt,  dessen 
Abweichungen  im  einzelnen  anzuführen  nicht  lohnte  oder  zu 
schwer  erschien.)"     (S.   78.) 

Zunächst  ist  zu  beachten,  daß  der  „Mythograph"  inhalt- 
lich nicht  mehr  bietet  als  Apollodor,  wie  man  bei  einer  Gegen- 
überstellung beider  Berichte  erkennt: 


Apollodor  HI  168. 

a)  au{>t;  Se   yaixec  [IlrjXeus] 

ÖEtcv  TYjV  Nrjpew?,  Txspc  YjC:  TOÖ 
Ya(j,ou  Zeus  y.od  HoaecSöv  7]pc- 

eaeaO-a'.  xöv  ex  xautrj;  yevvrj- 
^evta  xpemova  toö  naxpoc, 
&7r£aj(Ovxo. 

b)  "E  V  t  C3 1  de  cpac  Ato; 
op^tövxo;  ekI  xTjV  xauxrj?  auvou- 
acav  sfpyjxevai  Hpopt.yj'ö-Ia 
xöv  ex  xauxT]?  aöxcp  ye'^vyid'kvxoi. 
oOpavoö  Suvaaxeustv. 

c)  X  t  V  £  ?  Se  Xeyouat  61- 
XIV  \iri  ßouXigd-^vat  Au  auvcX- 
•8'£LV  6ic,   unb  "Hpac;  xpacpefaav. 

Aca  bk  opytaO-evxa  ■Q-vtjxü) 
■8'eXstv  auxy^v  auvocxfaat. 


Herculan. 


oe  xa[t  auvocx''a]a:   xwo 

n[7]X£t] 

£v  n]po[xrj^[£l  §£  xö:]  Xuö- 
(X£[v](jd[c  ©£x?J  t5o;  e 


6  0£  x]a  K67i;[pta  TCOtrjaag 
"H[pat  xap[c(^o[Ji£vrj]v  cpeuyEtv 
au[xoö  xöv  ya|Jiov 
A[ia  S'  6][ji6aat  x°'^^[^^'^~]'^ 
ScoxL  9-vy3[x(i)t  aujvocxcaau 
Da  die  Versionen  b  und  c  übereinstimmen,  wird  man  es 
auch  für  a  annehmen  müssen.  Apollodors  Haupterzählung 
fußt  in  diesem  Abschnitte,  wie  vielfach,  in  letzter  Linie  auf 
Hesiod  (Ap.  157,  158:  Hes.  fr.  76.  163—167:  fr.  83,  78,  79) 2). 
Auch  hier  spricht  nichts  dagegen,  wenn  wir  das  im  Hercula- 
nensis  folgende  ins  Auge  fassen.     Ich  lese  hier: 

1)  Index  lectionum  Rostock  1891—92. 

2)  Vgl.  Friedländer  Herakles  S.  15  f.     Ich  halte  es  für  nicht  wahr- 
scheinlich, daß  die  Geschichte  in  den  MsYcc^.ai  'HoTai  stand. 


Miscellen.  153 

a]uvo:y.Laac*  xa[:  na.- 
p'  'H]a:öS(i)  Ss  xs[txa'.. 
15  x]6  7rapaTcXyja[cGv 

6][l£caavopoc[  .  ,  . 
ujspt  KXu[Jievrj;  \6z: 
a]uv£paa8£v|  xwv 

Z.  17  f.  liest  Reitzenstein  vj;  "HacJov  epaai)£v[Ta  ^),  wofür 
der  Raum  nicht  ausreicht.  Daß  raan  rh  TiapaTrXyj'jLOV  zum 
folgenden  ziehen  kann,  giebt  R.  selbst  S.  78^  zu.  Bei  dieser 
Annahme  erhalten  wir  eine  gute  Verknüpfung  der  beiden  Bei- 
spiele. Die  Parallele  mit  der  Thetisgeschichte  scheint  darin  be- 
standen zu  haben,  daß  auch  um  Klymene  sich  zwei  Götter  stritten 
(Z.  18).  Welche  Version  der  Klymenesage  diesem  —  sonst  nicht 
bezeugten  —  Zug  zu  Grunde  lag,  läßt  sich  nicht  entscheiden  *). 

Das  Hesiodzitat  sagt  uns  nur,  daß  auch  Hesiod  den  Streit 
um  Thetis  bezeugte.  Dabei  konnte  sein  Bericht  mit  der  Haupt- 
version des  Herculanensis  sehr  wohl  identisch  sein.  Denn  wir 
können  nach  dessen  Uebereinstimmung  mit  Apollodor  nicht 
bezweifeln,  daß  beide  aus  demselben  mythologischen  Hand- 
buch schöpften.  Für  Philodems  Ti£pc  £ua£ß£:a$  hat  Dietze 
(Neue  Jahrb.  1896,  2,  19)  solche  Berührungen  aufgezeigt. 
Nun  wissen  wir  aber  soviel  von  jenem  Handbuch,  um  zu  er- 
kennen, daß  es  für  die  Hauptversion  im  allgemeinen  keinen 
Autor  anzugeben  pflegte.  War  in  unserem  Falle  diese  Haupt- 
version Hesiod,  so  konnte  ein  späterer  Bearbeiter  von  neuem 
aus  seiner  Lektüre^)  das  Vorkommen  der  Geschichte  bei  Hesiod 
notieren.  Dazu  stimmt,  daß  im  Herculanensis  sich  das  Hesiod- 
zitat deutlich  als  Zusatz  zu  erkennen  giebt. 

Aus  unserem  Fragment  ergiebt  sich  schon,  daß  wir  im  Hercu- 
lanensis keinen  Mythographen  im  eigentlichen  Sinn  vor  uns  haben. 
Es  werden  Beispiele  verwandter  Art  aneinander  gereiht,  offenbar 
in  bestimmter  Absicht.    Das  wird  noch  klarer  aus  fr.  VI  13  ff.: 

Twv  uX£tax[ü)v 

•9-£]wv  ixaT£pa[ 

ccöxou;  5£o[£a 

•9-at  iJxEpo'j;  Ö£o[u<;. 
In  Z.  13  läßt  sich    aus  yEXoxtxa-  mit  leichter  Aenderung 
Y£Xo:6Tax[ov  gewinnen.    Wenn  auch  die  nähere  Beziehung  der 
Stelle  (auf  Kronos   oder  Zeus)    unklar   bleibt  ^),    erkennen  wir 

^)  Im  Anfang  der  Zeile  ist  zweifelhaft  ob  o  oder  o  dagestanden  hat. 

*)  Vgl.  Philodem  Tispi  suGaßsiocc;  S.  49,  12S,  10  Gomp.  ep'.y.Ä'Jiis,  doch 
ist  auch  hier  der  Zusammenhang  nicht  zu  verstehen. 

^)  Die  Papyri  zeigen,  v/ie  lange  die  Kataloge  gelesen  wurden. 

")  Zu  vergleichen  ist  Philodeni  tl.  eücsßsia.;  S.  41.  9U  Gomp.,  wo  die 
Fesselung  des  Zeus  (unmittelbar  nach  der  Thetisgeschichte)  erwähnt  wird. 


154  Miscellen. 

doch,  daß  die  Verkehrtheiten  der  überlieferten  Göttergeschichte 
verspottet  werden.  Damit  ist  sicher,  daß  wir  im  Herculanensis 
Fragmente  einer  (epikureischen)  Tendenzschrift  besitzen.  Die 
Aehnlichkeit  mit  Philodem  Tcept  suaeßsta;  ist  offenbar.  Ob  die 
Fragmente  tatsächlich  dieser  Schrift  angehören,  wie  Höfer  ^)  an- 
nehmen möchte,  ist  nicht  zu  entscheiden.  Auf  einen  Streit  unter 
Göttern  scheint  sich  auch  zu  beziehen  fr.  1 :  Z.  12  usjp:  xaXXou? 
15  npoy.p'.di.G[d-ixi  19  5c'  o(.loyi)[^nfj?  Man  könnte  an  das  Paris- 
nrteil   denken,   doch  läßt  sich   kein  Zusammenhang  herstellen. 

Ferner  scheint  die  Perseussage  vox'gekommen  zu  sein: 
fr.  VII  14  ff.  nepa[£u;  .  .  .  .]  xrjV  xecpaX[rjv  ...]..  ifiq  Top- 
[ycvos]  eowxev,  vgl.  IV  15  Kr^tw ;  Aveniger  sicher  VI  11,  wo 
Höfer  ö]vrj'C'?j  Toplyöyoiv  herstellen  will. 

Allzuviel  darf  man  aus  unsern  Fragmenten  nicht  zu  er- 
schließen hoffen.  Sie  sind  von  Franc.  Casanova  abgeschrieben, 
den  Crönert^)  vielfacher  Fälschungen  überführt  hat.  Vgl.  IV  7 
=  VI  6  u  xac  [jir].  Die  Fragmente  sind  verloren  bis  auf  VIP), 
das  nachzuprüfen  wäre. 

Trotz  alledem  behalten  diese  Bruchstücke  ihren  Wert  als 
ein  neuer  Beleg  für  epikureische  Polemik  gegen  die  mytholo- 
gische Tradition  und  für  die  Geltung  des  „mythologischen 
Handbuchs".  Hier  wie  bei  Philodem  nepl  euaeßeia?  finden 
wir  einen  Gegensatz  zu  Apollodor,  der  sich  aus  dem  verschiedenen 
Zweck,  den  die  Schriftsteller  verfolgen,  erklärt.  Der  Mythograph 
will  erzählen,  er  bringt  möglichst  viel  Varianten;  der  Epikureer 
häuft  die  Autoren,  um  die  Verbreitung  und  das  Schwanken 
der  Irrlehren  darzutun.  Das  zugrundeliegende  Handbuch  muß 
beides,  Varianten  und  Autoren,  reichlich  enthalten  haben. 

München.  G.  Lippold. 


2.  Tö)|jLo?  und  Remus. 

In  dem  Aufsatz  „Remus  und  Romulus"  (,Glotta"  I,  288  f.) 
hat  Kretschmer  richtig  erkannt,  daß  das  Problem,  wie  neben 
den  seit  Jahrhunderten  bekannten  und  bei  Griechen  überall 
vorkommenden  Brüdern  (nicht  Zwillingen  !)  Twno;  und 
T(jo|j.uAoc  in  Rom  nur  Remus  und  Romulus  genannt 
werden,  zu  oft  ignoriert  oder  in  ungründlicher  Weise  wegin- 
terpretiert worden  sei. 

Auf  drei  Wegen  ist  versucht  worden,  diese  Schwierig- 
keit zu  heben: 

')  Röscher  III  2623.     Dagegen  sprechen  die  Anna.  6  erwähnten  Pa- 
rallelen. 

«)  Rh.  Mus.  53,  585  ff. 

^)  Vgl.  den  Index  zu  den  Vol.  Herc.  Crönert  a.  a.  0.  588. 


Miscellen.  155 

1)  durch  sprachliche  Erklärungsversuche,  indem  man  die 
Verwandtschaft  von  Remus  und  Kömos   nachzuweisen  suchte; 

2)  durch  Annahme  einer  Umbildung,  welche  die 
Gründungssage,  trotz  der  Identität  beider  Per- 
sonennamen, bei  ihrer  Uebertragung  aus  Griechenland  und 
ihrer  Einbürgerung  in  Rom  erfahren  haben  müßte,  und 

3)  durch  die  geschichtliche  Differenzierung 
von  'P(I)[j.o;  und  Remus. 

Der  erste  Weg  ist  längst  als  unfahrbar  erkannt,  der  zweite 
ist  von  Kretschmer  betreten  worden.  Aber  Kretschmer  bietet 
in  seiner  Erklärung  (Glotta  I,  298)  nur  eine  Möglich- 
keit dar,  die  jedoch  noch  des  sachlichen  Beweises  bedarf, 
dass  und  welche  Umstände  zur  Ersetzung  von  'Pwfio;  durch  Remus 
geführt  haben  könnten.  Die  Erklärung  befriedigt  aber  schon 
deshalb  nicht,  weil  sie  Remus  vor  dem  seit  langem  bei  grie- 
chischen Historikern  (z.  B.  nach  Dionys.  1,  72  bei  Kephalon) 
gebräuchlichen  Romulus  aufkommen  läßt. 

Hier  soll  der  dritte  Weg  eingeschlagen  werden. 

Auszugehen  ist  hier  also  nicht  von  der  Identität 
von  'Pwjxo;  und  Remus,  sondern  es  ist  zu  untersuchen,  ob 
nicht  eventuell    ihre  Verschiedenheit   festzustellen    ist. 

Bis  auf  Timaios  hat  keine  der  zahlreichen  Gründungs- 
sagen Roms  Gründung  später  als  in  das  12.  Jalirhundert 
V.  Chr.  gesetzt.  Entweder  wurde  dieselbe  auf  Söhne  bzw. 
Enkel  des  Aeneas  zurückgeführt  oder  auf  eine  Troerin  Rome. 
und  auch  die  wenigen  anderen,  die  von  einem  Nachkommen 
des  Odysseus  fabeln,  führen  auf  die  gleiche  Zeit.  Dieser 
chronologische  Satz  war  auch  in  Rom  durchaus  herrschend,  wie 
das  die  von  Dionys  1,73  angeführten  Versionen  beweisen,  welche 
samt  und  sonders  in  Rom  selbst  gläubige  Anhänger  hatten.  Auch 
Ennius  hielt  Romulus  noch  für  einen  Enkel   des  Aeneas^). 

Bald  aber  ward  man  in  Rom  wissenschaftlicher  und  ge- 
scheiter. Man  nahm  eine  doppelte  Gründung  Roms 
an:  Dionys  1,73:  {äXXoi  oh  XeyouoLV  .  .  'PwfjLr^v)  xpövoD^  xtva; 
£pr^[ji(i)9-£caav  sispa;  aöötc  eld-oüay];,  dA:otxia?,  r)v  "AAßavo:  eaxs:- 
Xav  fiyo\)\iivou  'Pü)(j.6Xou  xal  'Pwfiou,  tt,v  di.gya.lca  xx:a:v  ct.7zo- 
Xaßetv  waxs  oixxac,  £:vac  ttj;  'Pü)[j,v];  xd?  xxiozic,'  xyjv  |Ji£V  öXc- 
yov  uax£pov  xwv  Tpcotxwv  y£VO[Ji£vr^v,  xr^v  ot  -£vx£xaco£"/.a  Y£V£ai5 
uoxcpoöaav  X"^^  Tipoxspac. 

Nun  konnte  man  allerdings  mit  Rücksicht  auf  die  lange 
albanische  Königsliste  und  auf  die  in  Rom  damals  geglaubte 
Siebenzahl  der  Könige  neben  einer  zweiten  ßesiedelung 
Roms  auch  einen  zweiten  Romulus  2)  annehmen.     Es  wäre 

»)  Serv.  in  Aen.  1.  278. 

-)  Zumal  der  erste  Romulus  in  der  römischen  Annalistik  später 
eliminiert  ist. 


156  Miscellen. 

dagegen  abgeschmackt  gewesen,  alle  die  Einzelheiten  des  alten 
Gründungsmythus  noch  einmal  wieder  erstehen  und  sich  repi- 
tieren  zn  lassen,  einen  zweiten  Aeneas,  eine  zweite  Rome,  oder 
einen  zweiten  Romos  im  8.  Jahrhundert    v.  Chr.    zu   erfinden. 

Der  damals  lebende  Romulus  mußte  als  ein  Enkel  eines 
Albaner-Königs  hingestellt  werden.  Seine  Mutter  konnte  nicht 
mehr  liia,  d.  h.  eine  Troerin,  gewesen  sein.  Sie  wurde  zur 
schuldbeladenen  (rea)  Silvia.  Auch  der  uralte  Romos  der 
griechischen  Mythographen,  der  die  Tipwtr]  xiioi^  Roms  und 
noch  dazu  diejenige  zahlreicher  anderer  Städte,  wie  Capua- 
(Dionys  1,72 — 73),  veranlaßt  haben  sollte,  durfte  keinen 
gleichnamigen  Doppelgänger  im  8.  Jahrhundert  haben.  Da 
nun  seit  296  v.  Chr.  die  lupa  mit  den  „infantes  conditores" 
beim  lupercal  stand  und  jedermann  an  die  Zweizahl  der 
Gründer  erinnerte,  so  musste  dem  Romulus  ein  anderer  Zwil- 
lingsbruder an  die  Seite  gestellt  werden.  Sicherlich  hat  Nae- 
vius  in  seinem  Drama  „Alimonia  Remi  et  Romuli"  an  die 
Stelle  des  'Pü)[jioc:  der  griechischen  Mythographen  den  Remus 
gesetzt,  auf  den  auch  einige  Lokalitäten  in  Rom,  wie  z.  B.  Re- 
mona,  Remoria,  hinwiesen.  Es  ist  sogar  nicht  undenkbar,  daß 
er  zuerst  es  war,  der  hier  der  Sage,  welche  er  auch  im 
Uebrigen  frei  ausgestaltet  hat^),    künstlich   nachgeholfen   hat. 

Für  die  Entfernung  des  Namens  Römos  als  Heros  eponymos 
von  Roma  kam  noch  ein  anderer  gewichtiger  Grund  in  Betracht. 

Als  man  die  Wölfin  mit  'Pwijlo?  und  'Pw[x6Xgc;  aufstellte, 
da  legte  man  Wert  darauf,  daß  'Pö)[Jio?  zugleich  Rom,  Capua 
und  andere  verbündete  Städte  gegründet  habe.  Das  stolze 
Rom  des  2.  punischen  Krieges  schämte  sich  dieser  Verbindung. 
Es  ließ  den  Pö)|jlOi;  fallen  und  wählte  sich  den  'PcofjtuXoc:  als 
Gründer  der  Stadt,  dem  es  dann  natürlich  einen  neuen  Zwil- 
lingsbruder substituieren  mußte,  der  aber  ebenso  rasch  wieder 
zu  verschwinden  hatte,  wie  er  gekommen  war. 

Remus  ist  weder  eine  sprachliche  noch  eine  (infolge 
der  weiteren  Ausbildung  der  Sagen  entstandene)  willkürliche 
Differenzierung  des  'Pö)[Jicc;.    W^ie  der  ältere  Romulus  den 
Römos,  so  hat  der  jüngere  Romulus  den  Remus  zum  Bruder 
erhalten.     Die  griechischen  Schriftsteller,  welchen  diese  Unter- 
scheidung zu  subtil  war,  bliel)en  bei  ihrem  'Pwjxo?  xa:  'P(i)|JiuXos*), 
^)  Vgl.  meinen   Aufsatz  die    Romuluslegende   im  Archiv    für    Reli- 
gionswissenschaft 1909,    S.  101  f.  120  f.  und   mein  Buch    ,,Die  Anfänge 
der  römischen  Geschichtschreibuncr"  (Leipzig  1909)  S.  28.    Naevius  hatte 
die  Romulusfabel  nach  dem  Muster  von  Sophocles  Tyro  frei  erfunden. 
*j  Die  ältere  Fabel  bot: 
Rome 

Romos  Romulus  I  um   1200  v.  Chr. 

Die  jüngere  Legende:  Silvia  um  SOO  v.  Chr. 

Remus  Romulus  IL 


Miscellen.  157 

Hingegen  von  Naevius  durfte  der  von  den  Römern  besei- 
tigte Romos  nicht  mehr  verwandt  werden,  und  der  Dichter  mußte 
daher  einen  neuen  Namen  für  den  Zwillingsbruder  auswählen. 

Zabern.  Wilhelm  Soltcm. 


3.  Kurz-  und  Langzeile  in  der  Auspicianischen 

Strophe. 

Als  Auspicianisch  bezeichne  ich  jene  bekannte 
Strophe  von  vier  quantitätslosen  alternierenden  proparoxy toni- 
schen Achtsilbern,  das  Metrum  sehr  vieler  mittellateinischer 
Kirchenlieder-).  Sie  unterscheidet  sich  von  der  noch  belieb- 
teren Ambrosianischeu  Strophe -)  durch  ihre  Quantitäts- 
losigkeit ;  von  den  insularen  Achtsilbern  der  Iren  und 
Angelsachsen^)  durch  die  Regulierung  des  Wortakzents  im 
Innern*),  meist  auch  durch  Verschiedenheit  in  Strophik  und 
Reimverwendung.  Ich  habe  die  Strophe  nach  ihrem  ältesten 
Vertreter  benannt,  dessen  Namen  wir  kennen,  nach  dem  Bi- 
schof Auspicius  von  Toul  (um  475)''). 

Die  vier  Achtsilber  der  Auspicianischen  Strophe  sind 
regelmäßig  so  gruppiert,  daß  hinter  den  zweiten  die  stärkste 
Sinnespause  fällt *^).  Das  Gedicht  des  Auspicius  ist  demgemäß 
in  Langzeilen  überliefert;  und  der  Hymnus  Audi  redemptor '^) 
hat  eine  Akrostichis,  die  nur  die  Initialen  der  Langzeilen  verbindet. 

Diesen  Beobachtungen  syntaktischer  und  palaeographischer 
Natur  füge  ich  eine  metrische  hinzu,  die  gleichzeitig  für  die 
Textkritik  und  Prosodie  von  Bedeutung  ist:  in  mehreren  Hym- 
nen wild  die  1.  und  die  3.  Kurzzeile  metrisch  freier  behandelt 
als  die  2.  und  die  4.     Diese  Stücke  sind  folgende:  Hex  aeter- 


')  Die  älteren  davon,  auf  die  es  hier  vor  allem  ankommt,  sind  ver- 
streut in  den  Bänden  11  (1887),  XIV  (1893),  XXVII  (1897),  LI  (1908) 
der  von  Dreves  und  Blume  herausgegebenen  Analecta  hymnica  medii 
aevi. 

")  Dreves  und  Blume  1.  c.  und  Band  L  (1907). 

^)  Antiphonar  von  Bangor  und  Mon.  Germ.  Hist.  Epist.  111  210  sqq. 
425  sqq.;  vgl.  Wilhelm  Meyer,  Gesamm.  Abh.  zur  mittellatein.  Ryth- 
mik  1  220  ff.,  Nummer  VIII  13.  15—26. 

*)  Die  Regel,  daß  Vollton  auf  der  1.  oder  der  3.  Silbe  nur  bei 
Disyllabis  erlaubt  ist  (Byz.  Zeitschr.  XVII  589),  ist  bis  zum  X.  Jahrh. 
nur  in  insularen   Achtsilbern  nicht  gewahrt. 

^)  Vgl.  W.  Brandes,  Des  Auspicius  von  Toul  rhythmische  Epistel 
an  Arbogastes  von  Trier,  Programm,  Wolfenbüttel  1905  und  Rhein. 
Mus.  LXIV  1909  58—97;  Wilhelm  Meyer  (aus  Speyer),  Die  rythmischen 
Jamben  des  Auspicius,  Götting.   Nachr.  1906,  192—229. 

«)  Wilhelm  Meyer,  Götting.  Nachr.  1906,  198;  vgl.  Gesamm,  Ab- 
handl.  II  119  Note. 

')  Anal.  hymn.  XIV  Nr.  11. 


158 


Miscellen. 


ne^),  Mediae  noctis^),  Christe  coeW^^),  (Nunc)  Tibi  virgo^^)^ 
Christe  redemptor  ^^).  Die  beiden  ersten  sind  schon  von  Cae- 
sarius  von  Arles  (f  542)  zitiert;  das  dritte  ist  in  Hss  des 
VIII. — IX.  Jahrh.  überliefert,  aber  umgeben  von  lauter  alten 
Stücken,  sodaß  es  Cl.  Blume  ^^)  mit  großer  Wahrscheinlich- 
keit der  Zeit  vor  530  zuschreibt:  für  die  Hymnen  (Nunc)  Tibi 
virgo  und  Christe  redemptor  liefern  die  Hss  als  Spätgrenze 
das  X.  Jahrb.,  doch  können  beide  Stücke  viel  älter  sein. 

Das    Häufigkeitsverhältnis   der    metrischen   Licenzen    läßt 
sich  einfach  in  einer  Tabelle  veranschaulichen. 


Unregelmässigkeiten 

in  Silbenzahl  und  Schlussakzent 

Lied 

und 

Strophenzahl 

In  der  1.  und 

3.  Kxirzzeile 

In  der  2. 

Siebensilber  Neunsilber 

Paroxyt. 

SchluBS- 
akzent 

Zahl  der 

unregelm. 

Verse 

und 
4.  Kurzzeile 

Rex  aeterne 
(17  Str.) 

8 

(17,1 
fraglich) 

3 

10 

— 

Mediae  noctis 
(14  Str.) 

1 

(9,lfraglich) 

2 

8 

11 

1 

(12,  2) 

Christe  coeli 
(12  Str.) 

3 

undl  Sechs- 
silber 

5 

15 

19 

3 

(9,2.  4;  10,2) 

Tibi  virgo 

(7  Str.) 

3 

— 

3 

— 

Christe  redemptor 
(7  Str.) 

— 

— 

9 

9 

— 

Zusammen 

(57  Str.) 

16 

7 

35 

52 

4 

Zur  Textkritik  und  Prosodie  ist   folgendes   zu   bemerken. 
Rex  aeterne  Str.  1 

Rex  aeterne  domine,  rerura  creator  omnium, 
qui  es  ante  saecula  semper  cum  patre  filius. 
Statt  es  haben  4  Hss  (unter  16)  eras.  Das  ist  eine  metrische 
Korrektur;  umgekehrt  ließe  sich  die  Variaute  nicht  erklären. 
Der  Gebrauch  der  Praesens  in  diesem  Zusammenhang  ist  ganz 
gewöhnlich:  Hymnus  Verhiim  sahdis^^)  5  qui  meinet  ante 
saecula  semper  cum  patre  filius ;  Benignitatis  ^^)  6  qui  cuncta 
volvit  tempora  et  regnat  ante  saectda;  Hilarius^^)  1,1  Ante 
saectda  qui  manens. 


8)  ebenda  LI  Nr.  2.        »j  ebenda  LI  Nr.  1.        ♦")  ebenda  LI  Nr.  10. 

")  ebenda  XIV  Nr.  105.  ^'')  ebenda  LI  Nr.  50. 

>ä)  Hymnologische  Beiträge  III  (1908)  118. 

'*)  Anal.  hymn.  XIV  Nr.  2.  '^)  ebenda  XXVII  Nr.  10. 

'6)  ebenda  L  Nr.  1. 


Miscellen.  159 

Str.  15.    Tu  es  certo  tempore     datarus  finem  saeculi, 

tu  cunctorum  meritis     iustus  remunerator  es. 
Die  4  Hss,  in  denen  diese  Strophe  steht,  fügen  sämtlich  nach 
dem  ersten  es  ein  qui  ein,  das  die  Syntax  zerstört,  aber  offen- 
bar dem  Metrum  dienen  soll. 

Str.  17.  Die  Doxologie  mit  dem  Siebensilber  Gloria  tihipater 
steht  nur  in  einer  Hs  (saec.  VII — VIII.) ;  sie  abundiert  hinter  Str.  16. 

Die  Verse  3,  1  Quem  diaholiis  deceperat^  9,  4  vexillum 
fidei  fcrimns,  13,  1  quia  tu  testis  et  mdex  es  möchte  ich  nicht 
neunsilbig  lesen,  sondern  mit  Synizese  (zu  diaholiis  vgl.  Zabu- 
lus) ;  sichere  Neunsilber  sind  in  Bex  actcrne  nicht  überliefert. 

—  6,  1   haptismum  am  Versschluß  ist  proparoxy tonisch  ^'^). 

Mediae  noctis  Str.  9 
Stultae  vero  remanent,     quae  exstinctas  habent  lampades 
frustra  pulsantes  ianuam     clausa  iam  regni  regia. 
Die  Lesart  At  stidtae   vero   in   4   Hss    (unter  8)   ist   natürlich 
metrische  Korrektur.     Da    kein    anderer    Siebensilber   in    dem 
Gedicht  steht,    muß    man   mit   der   Möglichkeit  rechnen,    daß 
stidtae  dreisilbig  zu  lesen  sei  {^ stidtae)^  was  Blume  früher  vor- 
zog ^^).     Dieser  Vokal  Vorschlag  ist  zwar  in    Gedichten   des  V. 
bis  VI.  Jahrh,  noch  nicht  als  metrisch  wirksam  erwiesen,  aber 
jedenfalls  schon  viel  früher  tatsächlich  vorhanden  gewesen  ^^). 

—  quae  ist  mit  exstinctas  zu  verschleifen.  —  Die  beiden  Neun- 
silber des  Gedichtes,  10,  1  Quare  vigilenms  sohrie  und  11,  1 
Noctisqne  mediae  tempore  waren  wohl  ursprünglich  quauti- 
tierende  Verse  mit  Auflösungen. 

Christe  coeli  8,  1.  Der  Sechssilber  Sanctus  sanctus  sanc- 
tus  steht  in  einem  wörtlichen  Zitat  aus  dem  Te  deuni.  — 
Der  Zehnsilber  9,  4  venisti  de  excelsis  domine  ist  kaum  kor- 
rupt. —  Die  Neunsilber  dieses  Gedichtes  schließen  alle  paroxy- 
tonisch.  —  In  einer  Hs  (Vat.  Reg.  11)  sind  die  Siebensilber 
von  zweiter  Hand  durch  Füllwörter  ausgeglichen. 

(Nunc)  Tibi  virgo  Str.  1 

Tibi  virgo  virginum  laudes  ferimus  carminum, 
teque  coeli  dominam  resultat  haec  plebecula. 
Das  in  allen  11  Hss  vor  Tibi  überlieferte  Nunc  gibt  keinen 
Sinn,  da  kein  zeitlicher  Gegensatz  vorhanden  ist,  und  keine 
Aufforderung  folgt;  es  zerstört  auch  die  Anapher,  die  in  den 
folgenden  Strophen  fortgesetzt  ist.  Offenbar  waren  hier  wie 
in  Hex  aeterne  und  Christe  coeli  die  1.  und  3.  Kurzzeile  der 
ersten  Strophe  siebensilbig. 

")  Gramm.  Lat.  ed.  Keil  Suppl.  p.  176. 

»f)  Anal.  hymn.  XXVIl  Nr.  80,  vgl.  S.  54 ;  Byz.  Zeitschr.  XVII  589 ;  vgl. 
die  Siebensilber  in  Augustins  Psalm  gegen  die  Donatisten,  v.  17.  25.  109. 

'^)  Der  Gebrauch  von  abs  vor  s  impurum,  der  auf  diesen  Vorschlag 
hinweist,  geht  nach  Woelfilin,  Thes.  ling.  lat.  1 3, 10  bis  ins  II.  Jahrh.  zurück. 


160  Mscellen. 

Christe  redemptor.    6,  2  sumus  sanguine  mit  mehreren  Hss. 

Durch  die  Beschränkung  auf  die  1.  und  3.  Kurzzeile 
werden  die  genannten  Freiheiten  in  diesen  Liedern  gegen  den 
Verdacht  der  Korruptel  gesichert,  soweit  sie  das  noch  nötig 
haben :  in  den  meisten  Fällen  hat  schon  Blume  auf  Grund 
der  Ueberlieferung  die  Unantastbarkeit  der  regelwidrigen  Verse 
festgestellt.  Silbenzusatz  und  paroxytonischer  Schlußakzent 
können  durch  das  Vorbild  quantitierender  Verse  einfach  er- 
klärt werden:  aber  höchst  merkwürdig  bleibt  die  Tatsache, 
daß  auch  Siebensilber  gestattet  sind,  sogar  schon  in  dem  sehr 
alten  Hymnus  JRex  aeterne  domrne,  und  gleich  im  ersten  Vers, 
der  durch  zwei  Zitate  des  VI.  Jahrh.  über  jeden  Zweifel  er- 
hoben ist.  Man  erkennt  daran,  wie  früh  sich  einzelne  Pro- 
dukte der  mittelalterlichen  Metrik  von  den  quantitierenden 
Vorbildern  vollständig  emanzipieren,  und  wird  dadurch  von 
neuem  gewarnt,  gewisse  durchgehende  Akzentgesetze  (oben 
S.  Ibl"^)  ausschließlich  auf  die  mechanische  Nachahmung  jener 
Vorbilder  zurückzuführen. 

Für  die  Erscheinung,  daß  in  einer  aus  gleichen  Elemen- 
ten bestehenden  Strophe  einige  bestimmte  dieser  Elemente 
freier  behandelt  werden  als  die  übrigen  —  die  Erklärung 
liegt  in  dem  Wesen  der  Langzeile  — ,  fand  ich  in  der  raittel- 
lateinischen  Metrik  keine  Parallele,  dagegen  mehrere  in  der  mittel- 
griechischen. Ein  früh  byzantinisches  Gedicht,  das  aus  vier  ,,Au- 
spicianischen"  Strophen  besteht,  und  folgendermaßen  beginnt: 

■le^ai  cpwva;  oOpavoe     xpiadyis  acoiY^p   r^jjiwv 

urco  T^ixwv  Twv  £Tct  yiQj     eaTwtcov  y,a.'.  6|xvo6vxü)v  ae. 

X(p  dxoiiJLriTü)  ö[Ji^axc     STCt'ßXefjiov  cpcAdv9'pwä£ 

£i;  xr/V  fi[i6iv  daO-ivetav  y,a:  oö;  vjijliv  xaxdvu^iv  .  .  .  '^'^), 
weist  3  mal  oxytonischen  Versschluß  auf,  aber  nur  am  Langzeilen- 
schluß. Unter  den  Akklamationen,  die  Konstantinos  Porphyro- 
gennetos  mitteilt,  finden  sich  drei,  die  aus  paroxytonischen  Acht- 
silbern bestehen-^);  je  2  Achtsilber  bilden  die  Langzeile,  je  2 
Langzeilen  die  Strophe  (je  4  Strophen  das  Gedicht):  z.   B. 

Xacpet  6  v.öo[ioc,  öp6i'^  ae     ot.\)Xov.pdiTopci  SeaTioxr^v, 
>tat  y)  noXiq  aou  XEpTtsxat     ^eoaxsTixs  Kwvaxavxivs. 

6)pot.%exo!.'.  -^  xä^ic,     oe  ßXsTiouaa  xa^tdpxrjv, 

xai  sOxuxo'jo'.  xa  axrjTtxpa    as  axyjTcxouxov  xsxxr^iJieva  .  .  . 
Von    den    22    erhaltenen   Langzeilen    haben   8    in    der    ersten 
Hälfte  proparoxytonischen  Schluß,  in  der  zweiten  keine. 

München.  Faul  Maas. 

=">)  Byz.  Zeitschr.  XVIII  Heft  3  u.  4. 

-1)  De  Caerim.  (ed.  Bonn.)  294,  1  'Ev  Taig  x^pa^  oou  ay,(jLepov,  279,  13 
=  282,3  Xatpsi  ö  xöo|iog,  380,  10  At'  rjiiäs  ijis-piaoas. 


November  190S  —  Febraar  1909. 


VI. 

Kuba-Kybele. 

Vergleichende  Forschungen  zur  kleinasiatischen  Religionsgeschichte. 
(Fortsetzung,) 

Soweit  Arabien,  Syrien  und  die  Euphratländer  in  Be- 
tracht kommen,  sind  eine  Reihe  unmittelbarer  Zeugnisse  für 
den  selbständigen  Cult  des  heiligen  Hauses  der  oben  bespro- 
chenen Hommel'scben  Deutung  von  'Aaiapirj  =  Asirtu  = 
„Haus,  Tempel,  Wohnung"  an  die  Seite  zu  stellen,  von  denen 
einige  bereits  durch  Lenormant  herangezogen  worden  sind. 
So  heißt  es  in  einer  Avifzähiung  heidnisch  -  arabischer  Culte 
bei  Abu  l'Farad  ^-^) :  „Die  Himyariten  verehrten  Sams,  die 
Sonne,  die  Beni  Kinanah  den  Mond,  die  Stämme  Tasm  den 
Stern  AI  Debaran,  die  Lakhm  und  Dschorhom  den  Planeten 
Jupiter,  die  Tay  den  Kanobos-,  die  Kays  den  Siriusstern,  die 
Asad  den  Mercur,  und  die  Takif  einen  kleinen  Tempel  im 
obern  Teil  von  Mahlak,  den  man  Allät  nennt."  Der  Ausdruck 
ist  ganz  unzweideutig  und  besagt  mit  klaren  Worten,  daß  das 
Stammestempelchen,  das  „baitan"  selber  „al-Lät"  „die  Göttin" 
genannt  wurde  (.,baitä  la-pä  jukälu  al-Lät").  Die  schon  von 
Lenormant  gezogene  Schlußfolgerung,  daß  auch  der  heutige 
Name  „Bait-Allah"  der  Ka'aba  nur  Islamisierung  eines  alten 
„Bait- Allät"  sei,  liegt  auf  der  Hand.  Die  Bedeutung  dieses 
Namens  wird  man  aber  von  nun  an  —  natürlich  auch  bei 
Beth-el,  phoeniz.  Baiti-ilim  ^^^)  —  nicht  nur  mit  „Haus  der 
Gottheit"  sondern  auch  mit  „Gott-Haus"  wiederzugeben  haben. 
Die  nächste    Parallele    bietet    der  arabische    Gott  Ad-däru  = 


1^^)  Histor.  dynast.  p.  160;  Pococke,  Spec.  hist.  Arab.  p.  4;  Lenor- 
mant p.  151. 

1^*)  Kuj.  Texts  3500.  Münzen  von  Edessa  bei  Lenormant,  Compte 
rendu  AIBL  1868  319;  Gen.  28i7.    Lenormant  a.  oben  S.  121  is  a.  0.  p.  152, 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXU),  2.  11 


162  Robert  Eisler, 

„Tempel",  „Haus",  nach  dem  ein  Koreischite,  der  Bruder  eines 
'Abd-Manaf  und  eines  'Abd-el-Uzza  „'Abd-ad-däri"  hieß  ^^'^). 
Eine  griechische  in  der  Nähe  von  Damaskus  gefundene  In- 
schrift 128)  erwähnt  den  %-£bq  'AEIXAAAS  =  „Tempel"  {^'?Tr^ 
hekäla)  ^^^),  offenbar  eine  synonyme  Gottheit  mit  dem  durch 
den  jüdischen  Priesterhaß  eines  Schreibers  zu  Beel-Zebub  („Herr 
des  Ungeziefers")  entstellten  „Ba'al-Zebul"  i^°),  „Herr  des  hohen 
oder  Himmelshauses"  von  Ekron  und  dem  gleichbedeutenden 
Ba'al-Ma'ön  „Herr  des  Hochhauses"  von  Moab  i^^).  Für  Ba- 
bylon hat  Hommel  ^^^)  zu  Beth-El  den  uralten,  ursprünglich 
wahrscheinlich  weiblich  gedachten  Gott  EA  =  Haus  ver- 
glichen. Bezeichnender  noch  kommt  das  mit  der  oben  bespro- 
chenen Gottheit  Is-charra  (Haus  +  Berg)  fast  synonyme  „E- 
kurru"  =:  „Berghaus"  (Jensen)  auch  in  der  Bedeutung  „ilu" 
„Gott"  vor  1^^).  Dazu  stimmt  vortrefflich,  daß  in  einer  man- 
däischen  Aufzählung  und  Execration  heidnischer  „Dämonen"  i^*) 
auch  die    „Ekurru's"  xmaiu  und  „Parakku's"  x^ans  („Götter- 

>")  Oslander  ZDMG  VII  500.     Lenormant  152. 

*28j  Waddington,  Inscriptions  grecques  et  latines  de  la  Syrie  Nr. 
2562  g  ;  Lenormant  ibid. 

*29)  Sohar  zu  Gen.  ed.  Wilna  I  82  ff.  werden  die  Himmelshäuser 
mit  dem  Namen  „Hekaloth"  (feminin !)  bezeichnet. 

130)  Vgl.T.  K.Cheyne,  Enc.  Bibl.  408.  Beel-Zebub-&7io[iuio5  könnte  nur 
ein  untergeordneter  Dämon  sein ,  zu  dessen  Orakel  nie  ein  fremder 
König  (Achazias  II  Reg.  l2f;  6,  16;)  Boten  gesandt  hä,tte.  Zu  „Zebul" 
vgl.  die  Bezeichnung  des  salomonischen  Tempels  als  „Beth  Zebul"  ,,Haus 
der  Wohnung"  (Jahves)  1  Kön.  813;  Jes.  63 ib:  „Schau  vom  Himmel 
herab,  von  Deinem  Zebul  der  Heiligkeit  und  des  Glanzes".  Hab.  3ii 
wird  der  ,, Zebul"  (astrologisch  das  „Himmelshaus")  des  Mondes  und 
der  Sonne   erwähnt.     Vgl.  endlich    die  Eigennamen  Jezebel  lies  Ai  oder 

Jä-zebul,  Zebul  und  Zebul-on  ferner  Sem-Zebul  in  der  Inschrift  aus 
Kition  (v.  Landau  Nr.  93). 

i'i)  Die  Rabbinen  nennen  den  vierten  Himmel  „Zebul",  den  fünf- 
ten mit  dem  ganz  gleichbedeutenden  Wort  „ma'ön"  (Chagiga  XII  b. 
Mon.  talm.  I  193  Nr.  684);  vgl.  Deut.  26  is  „Schau  herab  von  deinem 
heiligen  ma'on  (Haus),  vom  Himmel",  cf.  Ps.  686.  Nim  bietet  Z.  9 
der  berühmten  Meshainschrift  (Facsim.,  Transscript,  u.  Uebers.  Encycl. 
Bibl.  3044  f.)  „jyöbua-nN-pt<"  „ich  erbaute  Ba'al  Ma'ön"  (defectiv  ge- 
schrieben) d.  h.  den  Baal  „Wohnung".  In  der  Panammu  Inschrift  von 
Sendjirli  Z.  22  führt  der  Gott  „Lenker"  Rakubel  den  Titel  rT"D  hv^ 
„Herr  (des)  Haus(es)".  Die  karthagische  Inschrift  CIS  I  177  erwähnt  eine 
nmnn  nbuS  d.  h.  „Herrin  des  vaög". 

*='2)  Grundr.  161 3. 

133)  Delitzsch,  Handwörterbuch  p.  7181».  Gemeint  ist  Bei,  der 
Götterberg  (vgl.  oben  Anm.  106). 

"*)  Genza  rechts  279  ff. ,  erklärt  von  Marc  Lidzbarsky,  Nöldeke- 
Festschrift  p.  5412. 


Kuba-Kybele.  163 

zelte")  als  persönliche  Mächte  .erwähnt  und  verwünsclit  werden. 
Die  so  bezeugte  Vergöttlichung  der  Zeltheiligtümer  ist  be- 
sonders wichtig,  weil  '"^^i?  „Kubbah"  Numeri  25  8  —  so  wie 
heute  noch  die  Weiberabteilung  im  Beduiuenzelt  „mahram" 
oder  „kubbat"  genannt  wird  —  noch  in  der  Bedeutung  „Zelt" 
vorkommt,  die  aus  kulturgeschichtlichen  Gründen  für  sehr  alt 
gehalten  werden  muß  ^^^).  An  einen  solch  göttlich  verehrten 
Zeltfetisch  wird  man  zu  denken  haben,  wenn  in  der  aramäischen 
Taima-inschrift  ^^®)  das  eben  als  appellativisches  Synonym  von 
„kubbat"  im  Arabischen  erwähnte  Wort  „Mahram"  als  Gottes- 
namen gebraucht  wird,  ebenso  vielleicht  an  zwei  gemeinhin 
auf  den  Cult  des  babylonischen  Sakkut  (Saturn)  bezogenen 
Bibelstellen  ^^^) ,  wenn  man  nach  Anleitung  der  Versionen 
oxrjVYj  und  aTcoaxtaa[ia  beidemal  „Sukkath*  =  Zelt  punk- 
tieren dürfte  ^^^). 

Allein  selbst  wenn  diese  letzten  Zeugnisse  verworfen  wer- 
den müßten  ,  bleibt  doch  der  sicher  bezeugte  assyrische  Ge- 
brauch, kleine,  zu  mantischen  Zwecken  dienende,  tragbare  hei- 
lige Zelte  (parakku)  auf  den  Feldzügen  mitzuführen  ^^^),  eine 
vielsagende  Parallele  zu  dem  von  Israel  auf  der  Wanderschaft 
mitgeführten,  ursprünglich  leeren  Offenbarungszelt.  Daß 
die  „Leber"  (kabod)  Jahves  den  Raum  des  Zeltes  erfüllt,  ist 
späte  Priesterdeutung:  ein  Heim  für  den  übernatürlichen,  un- 
sichtbaren, allgegenwärtigen  Gott  der  späteren  Theologie  durch 
die  Wüste  zu  schleppen,  ist  ein  Widersinn,  den  man  der  mo- 


"5)  Aehnlich  wird  bayith  Gen.  27  15  33»:  (J)  für  „Zelt"  gebraucht; 
vgl.  Hesycli  ßaixyj  =  Zelt  aus  Fellen. 

13^)  Hommel,  Grundr.  88.  Vgl.  die  in  den  hadramautischen  In- 
schriften (Os.  29;  Hommel  Aufs.  Abh.  334;  Grundr.  863)  vorkommende 
Bezeichnung  des  Mahram  (Zeltheiligtum)  als  „ilum"  gemeinsemit.  = 
Gott  („mahrami-su  ilim"). 

lä')  2  Kön.  17  30.  „Die  (in  Samaria  angesiedelten)  Leute  von  Babel 
machten  sich  (als  Gott)  „Sukkath"  =  „Zelt".  Das  mit  Sukkoth  ver- 
bundene „benoth"  (rilOS)  ist  auf  jeden  Fall  mit  Aenderung  eines  ein- 
zigen Buchstabens  mai  „Höhenorte''  zu  lesen  und  als  triviale  alte 
Gloße  —  vgl.  v.  29  —  auszuschalten,  auch  wenn  man  „Sakkut"  punktiert. 
Arnos  026  würde  ich  lesen:  „Ihr  tragt  (in  Procession)  das  «Zelt>  euren 
Melech  und  Kewan  den  Stern,  euren  Gott,  die  Bilder,  die  Ihr  Euch 
gemacht  habt". 

138)  Ygi   i  Chron.  2i8  den  Gentilnamen  „Jerioth"  =  „Zeltumhang". 

*^^)  Schwally,  semit.  Kriegsaltertümer  I  13;  W.  Roberts.  Smith, 
Rel.  Sem.  2  37.  Vgl.  die  vaocpopot  in  den  ephesischen  Processionen  der 
Artemis  bei  Ign.  ad  Eph.  9  und  die  Pastophoren  (Baldachinträger)  der  Isis. 

11* 


164  Robert  Eisler, 

dernen  Religiousgeschichte  nicht  mehr  zumuten  kann.  Ur- 
sprünglich ist  natürlich  das  leere  Zelt,  das  gemeinsame  „Haus" 
des  Stammes,  das  eigentliche  Heiligtum,  die  Gottheit  der  Nation, 
der  tragbare  Tempel  der  Leib  des  Nationalgottes  ^**'),  und 
der  einmal  im  Jahr,  beim  Fest  der  „Eröffnung"  (Tasrit) 
durch  den  Hochpriester  vollzogene  Ritus  des  „Eingehens"  ins 
Allerheiligste  eine  symbolische  Hierogamie  ^*^). 

Diese  zugleich  primitiv  fetischistische  und  —  wegen   der 
kosmischen  Ausdeutung  des  „Hauses"  —  weltumfassend  pan- 

**")  Vgl.  die  eigentümliche  Auffassung  der  göttlichen  Parusie  im 
Prolog  des  Johannesevangeliums  (I  14  ,,xal  6  Aoyog  a  i  p  g  i'^evezo  xai 
iaxr;v CO osv  iv  ■^[ilv  xal  s&eaoäiJis&a  -ri/V  5  6gav  aöxou  xxX.)  wo  der  Leib 
des  Herrn  mit  der  a.  t.  Stiftshütte  und  der  in  ihr  weilenden  Kabod 
(Leber)  in  dieselbe  Beziehung  gesetzt  wird,  wie  in  c.  2  21  zum  Tempel 
von  Jerusalem. 

"•)  Sehr  bezeichnend  für  diese  Auffassung  ist  einerseits  die  strenge 
cultische  Reinheit  und  die  Bäder  vor  dem  Eintritt,  andrerseits  aber 
die  immer  wieder  bezeugte  Furcht  des  Volkes  und  des  Hochpriesters, 
der  Offiziant  könnte  von  der  Gottheit  getötet  werden.  Das  ist  natür- 
lich die  altheidnische  Vorstellung  vom  todbringenden  Liebesbund  mit 
der  Gottheit.  So  erklärt  sich,  daß  „Jahve"  den  vom  heiligen  Berg 
Horeb  zurückkehrenden  Moses  überfällt  und  töten  will.  Erst  als  Mo- 
ses zum  „  Blutbräutigam  *  geweiht  ist,  läßt  Jahve  ab  von  ihm.  (Exod. 
4  J4  ff.).  Dazu  kommt  noch,  daß  auf  dem  Vorhang  des  AUerheiligsten 
im  Tempel ,  der  mit  demselben  Wort,  wie  die  mantischen  Zeltheilig- 
tümer der  Assyrer  („parakku")  „paroketh"  genannt  wurde,  also  an 
einer  Stelle,  wo  man  am  allerwenigsten  eine  Uebertretung  des  mosai- 
schen Bilderverbots  erwarten  würde,  wirklich  ein  erotisches  Symplegma, 
offenbar  die  Darstellung  der  mystischen  Hierogamie,  eingewebt  war. 
Vgl.  Talm.  Bab.  Joma  54  a:  „Rab  Ketina  sagte;  wenn  Israel  zur  Wall- 
fahrt (nach  Jerusalem)  kam,  entrollte  man  vor  ihnen  den  Vorhang  und 
zeigte  ihnen  die  Kerubim  darauf,  die  ineinander  ver- 
wickelt waren  und  sagte  zu  ihnen  «sehet,  Gott  liebt  Euch  so, 
wie  Mann  und  Weib  einander  lieben»".  (Vgl.  dazu  die  bei  Dieterich, 
Mithraslit.  121  ff.  gesammelten  Formeln  über  die  Liebesvereinigung 
des  Mysten  mit  der  Gottheit.)  Raschi's  Commentar  zur  Stelle:  „die 
Kerubim  umfaßten  einander  und  umarmten  sich,  wie  ein  Mann  ein 
Weib  umarmt".  Unmittelbar  vorher  bietet  der  Talmudtext  die  Stelle: 
„Die  Stangen  (der  Bundeslade)  waren  lang  und  es  wurden  die  Köpfe 
der  Stangen  gesehen;  wieso?  durchlöcherten  sie  den  Vorhang?  0  nein; 
sie  wurden  wie  die  Brüste  eines  Weibes  gesehen,  indem 
sie  den  Vorhang  ausbauschten,  so  wie  die  Schrift  (Höh.  Lied  I  13) 
sagt:  «ein  Myrthenbündel  ist  mein  Geliebter,  zwischen  mein  Brüsten 
nächtigt  er».  Deutlicher  als  in  diesen  wichtigen  Texten,  die  ich  durch 
freundliche  Vermittlung  Wolfg.  Schultz's  der  Güte  des  Herausgebers 
der  Monumenta  talmudica  Dr.  D.  Feuchtwang  verdanke,  kann  die  ero- 
tische Symbolik  im  Cult  des  heiligen  Zelts  nicht  ausgesprochen  werden. 
Der  Tempelvorhang  ist  eben  allezeit  geblieben ,  was  er  in  der  halb- 
heidnischen Köuigszeit  (2  Kön.  23  7)  war  —  das  Zelt  (n2) ,  das  die 
Tempeldirnen  für  die  Ashera  =  „die  Wohnung"  bezw.  Gattin  des 
Gottes  alljährlich  zu  weben  hatten.  (Vgl.  die  Zeugnisse  „Weltenman- 
tel"  S.  191  ff'.) 


Kuba-Kybele.  165 

theistische  Vorstellung,  in  ihrer  abstrakten  Unanschaulichkeit 
typisch  und  im  geraden  Gegensatz  zum  prachtvoll  sinnlichen, 
rein  menschlichen  Götterbild  der  Griechen  entwickelt  ^^^),  ist 
auch  in  Kleinasien  unter  ganz  entsprechenden  Formen  nach- 
weisbar. Wenn  Kubbat-Kubbä  bei  den  seßhaften,  hochkulti- 
vierten Südarabern  einen  Kuppelbau,  unter  den  Nomaden  der 
arabischen  und  syrischen  Wüste  aber  ein  Zelt  bedeutet,  so 
bezeichnet  das  Deminutivum  otußeXov  in  Kleinasien  (s.  oben) 
avxpa  %ac  ^cxXoc\i.oi  ^*^),  d.  h.  aber  die  typischen  phrygischen 
Felsenheiligtümer  der  kleinasiatischen  Höhlenbewohner  der 
Urzeit.  Demgemäß  werden  die  Cultbilder  der  „Kybele",  dort 
wo  die  heilige  Höhle  —  Mutter  und  Geburtsstätte  des  Gott- 
kindes zugleich  —  der  religiösen  Phantasie  der  eingewanderten 
Arier  nicht  mehr  genügt,  in  seltsamer  Weise  aus  dem  Felsen 
selbst  herausgehauen  ^**),  sodaß  die  Göttin  —  sie,  die  selbst  der 
„Berg"  oder  „Felsen",  das  „Haus  des  Berges"  und  die  „Höhle" 
ist  —  zwischen  den  ebenfalls  aus  dem  Felsen  gehauenen  Flügel- 
türen der  Höhle  sichtbar  wird.  Das  ursprüngliche  ist  gewiß 
die  anikonische  Vorstellung  der  leeren,  mit  Flügeltüren  ge- 
schlossenen Felshöhle,  der  At{>upa[i,ßos  oder  S-'-tcuXos  Tiixpa  ^^^) 


"-)  Zum  letztenmal  sind  diese  Gegensätze  bekanntlich  in  den 
byzantinischen  Bilderstreitigkeiten  aufeinandergeprallt.  Die  neutrale 
AuiFassung  der  germanischen  Völker,  —  das  „imagines  nee  frangimus, 
nee  adoramus"  der  Libri  Carolini  —  beherrscht  das  Mittelalter.  Die 
Renaissance  sieht  den  unter  der  Oberfläche  glimmenden  Funken  des 
Hellenismus  wieder  aufflammen  und  zeitigt  den  zweiten  Bildersturm  der 
Reformation.  Seither  wird  wieder  in  weiten  Ländern  ein  unvorstell- 
bares Wesen  in  leeren  „Gotteshäusern"  verehrt. 

1")  Da  gerade  in  der  Nähe  von  Petra,  dem  Cultort  der  Xaaßoü 
arabische  Wohnhöhlenanlagen  nachgewiesen  worden  sind,  (Nowack, 
Lehrb.  der  hebr.  Archäol.  1894  I  135  f.)  so  läge  es  sehr  nahe,  daß 
^kubbat"  auch  arab.  ursprünglich  „Höhle"  geheißen  hätte.  Tatsächlich 
wird  Judith  44  cf.  lös  ein  Ort  XÖBA  in  Palästina,  —  Coabis  in  der  Tab. 
Peutinger.  erwähnt,  den  Conder,  Pal.  Expl.  Fund  Mem.  II  231  mit  der 
heute  %Arak  el  Khubby"  genannten  Höhle  in  Verbindung  bringt. 

'")  Schlechte  Abbildung  der  Kybelefelsensculptur  in  der  Bergwand 
über  dem  kleinen  See  bei  Magnesia  am  Sipylos  nach  Perrot's  Zeich- 
nung bei  Springer-Michaelis'  Kunstgesch.  Fig.  159;  Ueber  die  Felsen- 
sculptur  von  Arslan-Kaya  vgl.  Ramsay,    Journ.  Hell.  Studies  X  156  fif. 

"=)  Vielleicht  ist  es  nicht  überflüssig  daran  zu  erinnern,  daß  sich 
in  Delphi,  an  der  Stätte  des  alten  ö^icfaXog-  und  xäap.a-Cultes,  unterhalb 
der  modernen  Straße  auch  ein  in  die  Felsenwand  gehauenes  doppel- 
türiges Scheinthor  vorfindet,  wozu  die  bei  Macrob.  Sat.  I  9,  6  überlie- 
ferte Bezeichnung  Apollo  ©upatoj  zu  vergleichen  ist.  SitcuXoc  steht  zu 
ACtcuXos  wie  Siduixa,   der  Fluß  des  Chimairathales  in  Lykien,  zu  AiSu[ia. 


166  Robert  Eisler, 

und  es  ist  bezeichnend  genug,  daß  auch  die  spätere  Kunst 
den  menschlich-griechischen,  alles  phantastischen  Beiwerks, 
wie  der  zahllosen  Brüste,  des  Hermenleibes,  der  Zwiegeschlech- 
tigkeit  etc.  entkleideten  Typus  der  thronenden  Gröttin  nicht  von 
ihrer  symbolischen  Darstellung,  dem  doppeltürigen  vataxo? 
abzutrennen  gewagt  hat  ^**^),  Am  lehrreichsten  aber  ist  der 
Vergleich  der  phrygischen  Skulpturen  am  Arslan-Tasch  ^*') 
mit  der  oben  besprochenen  Abbildung  des  „Gott- Felsens"  Ela- 
gabal  auf  der  Goldmedaille  des  Uranius.  Wie  dort  an  der 
Basis  der  phallischen  Spitzsäule  das  Symbol  der  Vulva  kennt- 
lich ist,  so  erhebt  sich  an  der  phrygischen  Felsfassade  die 
von  Löwen  flankierte,  aus  Mykene  bekannte,  symbolische  Säule 
über  dem  dunkel  gähnenden  Eingang  in  die  Höhle  des  „kreis- 
senden" Berges  ^^®).  Deutlicher  kann  die  Vorstellung  des 
doppelgeschlechtigen  Wesens  der  Kybele  und  der  Doppelsinn 
ihres  „  7iap6-£Vü)v "  ^^^)  (s.  o.  S.  133  ff.)  nicht  ausgedrückt  werden. 

"")  lieber  den  Typus  der  Kybele  im  doppeltiirigen  väiaxos  s.  Conze, 
arch.  Zeit.  XXI  1863,  76  s;  H.  Schrader,  athen.  Mitt.  XXI  1896  278  ff. 
Derselbe  Typus  ist  für  die  Artemis  von  Ephesus  (s.  unten  Anm.  175) 
durch  Act.  Apost.  1924;  Ignat.  ep.  ad  Ephes.  9-2  (Ramsay,  Church  in 
the  Roman  Empire  123  ff.)  bezeugt. 

"')  Deutsch  „  Löwenfelsen "  bei  Hairan  Veli,  Abb.  nach  Perrot-Chi- 
piez  bei  Springer- Michaelis '  fig.  157. 

"^)  Vgl.  dazu  den  babylonischen  Siegelcylinder  (British  Mus.  89110, 
Abb.  bei  Hommel,  Memnon  I  p.  208  Taf.  I  Fig.  3  CND  Jeremias  ATAO^ 
S.  21  Abb.  IIcxdL.  W.  King  Babyl.  Relig.  p.  32  ro  Gh.  J.  Ball,  Light 
from  the  East  p.  151):  Rechts  und  links  vom  zweigipfligen  Götterberg, 
dem  der  Sonnengott  entsteigt,  zwei  Torflügel  —  also  wieder  die  5id-6- 
paiißog  TTsxpa,  —  auf  jedem  ein  Löwe.  Natürlich  war  auch  in  Arslan-Tasch 
die  Höhle  mit  Thürflügeln  —  aus  Holz  oder  Bronze  —  verschließbar. 
Die  beiden  Löwen  —  hier  wie  in  Mykene  —  sind  entweder  Symbol 
des  Bei  und  der  Belit  (Hilprecht,  Explor.  p.  5285)  oder  aber,  sie  ver- 
treten, wie  auf  den  babylonischen  Grenzsteinen,  wo  zwei  Löwenköpfe, 
flankieren,  die  Zwillingsgottheit,  mit  der  die  Göttin  gepaart  ist.  (S. 
auf  einem  Drachenhals  aufsitzend,  die  Mondscheibe  auf  einer  Stange, 
dazu  unten  Anm.  197 — 200). 

1**)  Gewiß  ist  es  kein  Zufall,  daß  der  eigenartige  griechische 
Tempelname  Ilap^evcöv  gerade  nur  im  Oult  der  Göttermutter  einerseits 
der  Athene  andrerseits  auftritt.  Seit  Kretschmer,  Einl.  S.  405  die 
attischen  Lokalnamen  Tiietxog,  BpiXeixog,  rapystxog,  2u;:aXen;os,  Scpexxog, 
'IXiaaoj,  Ks'^iaaog  als  spezifisch  kleinasiatische  Bildungen  in  Anspruch 
genommen  hat,  (Fick,  vorgriech.  ON  129  hebt  mit  Recht  hervor,  dass 
die  prähellenischen  Ortsnamen  nirgends  so  dicht  gesät  sind,  wie  in 
Attika)  ist  die  Erwägung,  daß  Attika  seinen  Namen  einem  prä- 
historischen Attiscult  verdanken  könnte,  sehr  nahe  gerückt. 
Die  merkwürdigen  Schwankungen  in  der  Schreibung  und  Bildung  der 
offenbar  zusammengehörigen  Namen  'Axxixy/  und  "Ax\)ts,  'Ad-y^vai  und  'Ax- 
*t3Ej  kehren  bei  Attis,  Atys,  Atthis  (CIL  II  3706)  "Axxyjs  sämtlich  wieder, 


Kuba-Kybele.  167 

Natürlich  ist  es  von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  diese 
besondere,  in  den  Denkmälern  so  deutlich  sichtbare  Form  reli- 
giöser Begritfsbildung  gewisse  Spuren  auch  in  der  Namens- 
gebung der  Göttin  hinterlassen  haben  wird.  Tatsächlich  lassen 
sich  der  hier  vorausgesetzten  Identität  des  Gottesnamens  Kybele 
mit  dem  durch  die  Neutralendung  entpersonifizierten  „xußeXov*- 
„  Höhle"  eine  Reihe  vielsagender  Parallelen  an  die  Seite  stellen. 
W.  Robertson  Smith  ^^°)  hat  längst  erkannt,  daß  der  semi- 
tische Ausdruck  für  Höhle,  hebr.  ^"^V^  ma'arah,  ai-ab.  magarat""" 
mit  der  althieratischen  Bezeichnung  „[jtdyapov"  (Photios)  -  (ie- 
yapov  für  die  unterirdischen  O-aXafiOt  oder  nxaxdbBC,  der  Demeter 
aufs  engste  zusammenhängt,  eine  Tatsache,  die  sich  durch  die 
auch  von  den  Alten  nie  vergessene  prähellenische  —  sog. 
, karische"   oder    „pelasgische"    —    Herkunft   ihres    Cultes  ^^^) 


sowohl  was  den  itacistischen  Wechsel  im  zweiten  Vokal,  als  auch  was 
den  unbestimmbaren  T-laut  anlangt.  Alles  das  erklärt  sich  am  besten, 
wenn  die  fraglichen  Namen  sämtlich  als  Transcriptionen  von  fremdem 
•ni''  aufzufassen  sind.  Betrachtet  man  die  von  dem  vorgriechischen  TlU 
abgeleiteten  Ethnica  'Axxi-xög  und  *'AS-yj-v6g  (cf.  Homer,  Od.  7, 80, 
söpuayutav  'Ai)-7jvvjv)  als  das  ursprüngliche,  dann  braucht  man  Athene 
gar  nicht  unmittelbar  mit  der  auf  gewissen  kleinasiatischen  Münzen 
mit  aramäischer  Inschrift  vorkommenden  Göttin  'Athe  zu  identifizieren. 
Sie  kann  eine  rein  griechische  üap&svog  und  (nach  v.  Prott)  auch  Migxvjp 
sein,  und  bloß  mit  dem  althergebrachten  Namen  ihres  Cultortes  'Aö^yjvyj 
(KdpTj  oder  ndpdsvog)  genannt  worden  sein.  Als  man  das  Ethnikon 
nicht  mehr  verstand,  wurde  der  n-Laut  als  stammhaft  empfunden  und 
'A^Ylvä-tos,  'A{)-r;v*i-(,a  contrah.  (Leo  Meyer  Hdb.  I,  164)  =  'A&r)va  weiter- 
gebildet. (Die  gebräuchlichen  Etymologien  von  „Athene",  die  man  bei 
Gruppe  nachlesen  mag,  sind  ebenso  haltlos  wie  die  übliche  Deutung 
von 'Axxtxvj  als  „äxxixy;  ^cöpa"  :=  „Küstenland")-  Für  einen  solchen  prä- 
historischen Tü-Cult  könnten  noch  mindestens  zwei  weitere  griechische 
Zeugen  ins  Treffen  geführt  werden :  erstens  das  Vorgebirge  Athos, 
zweitens  aber  Mar-athon  in  Attika,  das  allzu  auffallend  dem  phönizi- 
schen  Marathus  (jetzt  'Amrit)  entspricht ,  um  nicht  die  Deutung  auf 
*ny  "la  nahezulegen  ,  zumal  nö  als  Titel  eines  Gottes  (vgl.  ,,Mar-na8" 
„unser  Herr"  in  Gaza  und  ,,Martu"  in  Cölesyrien)  bezeugt  ist  und  Mar- 
.\thu  an  Bildungen  wie  Bel-Mar  (GIS  I  p.  111  „^sw  BsTjXiiapl")  ein  gu- 
tes Analogen  fände.  Mapad-cov  =  griech.  „Fenchelfeld"  (Strabo  3,  4,  9) 
ist  nicht  nur  wegen  der  phönizischen  Parallele  unwahrscheinlich,  son- 
dern auch  deshalb .  weil  die  drei  andern  Städte  der  Tetrapolis  (Fick, 
vorgr.  ON  129)  barbarische  Namen  haben  und  „Fenchelfeld"  höchstens 
ein  Flurname  sein  könnte.  Zum  Namen  des  Athosgebirges  vgl.  noch 
AuoMpov  in  der  Ghalkidike,  das  ebenso  wahrscheinlich  zu  Du  sara  ge- 
hört, wie  das  benachbarte  'Acar^pa  zu  Asera-Asirtu  und  'Aaawpov  öpo^  auf 
Samos  zu  Asur. 

'"">)  Rel.  der  Semiten,  Tübingen  1899.  S.  152. 

'51)  „Kar"  soll  ihren  Dienst  begründet  haben:  Steph.  Byz.  s.  v. 
Köpva,  Paus  I  39  6 ;  406. 


168  Robert  Eisler, 

sehr  einfach  erklärt.  Unter  diesen  Umständen  ist  es  gewiß 
bezeichnend  genug,  daß  [xeyapov  genau  so  wie  xußeXov  als 
Stadt-  und  Personennamen  mit  persönlicher  Genusendung  vor- 
kommt. Was  den  Namen  der  isthmischen  Stadt  anlangt,  so 
darf  er  als  kleinasiatisch  ohne  weiteres  schon  deshalb  in  An- 
spruch genommen  werden,  weil  der  Burgberg,  d.  h.  aber  die 
Altstadt  von  Megara  bekanntlich  „Karia"  hieß.  Megara,  die 
Heroine  aber  ist  durch  die  Ueberlieferung,  die  sie  zur  Gattin 
des  Herakles  macht,  als  Gegenstück  zu  der  in  der  gleichen 
Cultverbindung  stehenden  Omphale  gesichert;  „Megaros"  steht 
sekundär  zu  Megara  wie  Kybelos  zu  Kybele.  Ganz  in  der- 
selben Weise  sind  von  der  durch  Usener  wieder  aufgefundenen 
Bezeichnung  der  heiligen  Höhle  als  l'Xtov,  f'ikiov  die  Cultnamen 
"IXtag  (der  Athe-ne)  und  "IXtog  -  "IXceuc,  'OtXeu?  abgeleitet,  die 
durch  den  Ortsnamen  Ilion  und  die  Verbindung  von  Oileus 
und  dem  zweifellos  kleinasiatischen  Gottesnamen  Alfac,  (Ajax, 
Aiakos)  ^^^)   mit  dem  hier  behandelten  Culturkreis  verwachsen 

152)  Nach  Strabo  XIV  5,  10  p.  672  führten  die  Priesterkönige  von 
Olba  in  Kilikien  abwechselnd  die  Namen  Aiax  und  Teukros.  Vgl.  den 
Hochpriester  Aiax,  Sohn  des  Teukros  auf  den  Münzen  Head,  bist.  numm. 
p.  609.  Teukros  ist  die  uralte,  jedenfalls  vorhomerische  Gräcisierung  von 
kleinas.  Tark  oder  Trok,  oder  Tpwg  (dazu  Troia,  Tragasai  in  Troas  und 
Trachis),  wie  denn  in  kilikischen  Inschriften  (Heberdey-Wilhelm  pp.  53, 
88)  noch  ein  Teukros,  Sohn  des  Tarkuaris  vorkommt.  Die  Bedeutung 
dieses  hethitischen  Namens  scheint  „Schöpfer,  5r;[iioupYÖs''  oder  dgl. 
gewesen  zusein  (vgl.  Hesych  Tsuxpov  TiotTjxrjv).  "AifOLc,  da.gegen  ist  ge- 
radezu eine  Nebenform  für  bab.  EA  =  Haus.  In  den  Tell-el-Amarna- 
briefen  wird  nämlich  an  fünfter  Stelle  unter  den  Götternamen  des 
„Midas "reiches  Mitanni  regelmäßig  Ea-sarri  „Ea  ist  König"  genannt 
(Hommel  Grundr.  41).  Dieser  Gottesname  aber  findet  sich  bei  den 
Elamiten,  wo  ebenfalls  alarodische  Bevölkerungsschichten  gesichert  sind, 
in  der  Form  A-ip-a-sarru  ,Aiva  ist  König"  (Hommel  ibid.,  ohne  den 
griech.  Namen  Al/ag  heranzuziehen).  Da  Ea  seinerseits  der  Schöpfer- 
gott ist  (vgl.  Ea-bani  =  „Ea  Schöpfer"  im  Gilgamesepos),  sind  die 
Namen  Aiva  und  Trok  eng  zusammengehörig,  genau  so  wie  die  wech- 
selnden Namen  der  Kassitenkönige  „Turgu"  (=  Tark)  und  „Bei"  (Hom- 
mel 44.3)  und  der  Könige  von  Pergamon  Attalos  (demin.  von  Attis) 
und  Eumenes  (cf.  Hesych.  EöiiEvr^g'  Acppd[St.xog]).  Die  Aivaciden  auf  der 
Insel  Salamis  und  die  Teukriden  von  Salamis  heißen  also  nach  zwei 
Epiklesen  derselben  Gottheit  „Salm"  =  „Zwillingsbild"  (erwähnt  in  der 
aramäischen  Taimainschrift,  CIÄr  113 ;  s.  oben  S.  145io2bu.  0.  S.  150 123  über 
Janus  geminus,  und  u.  Anm.  197  ff.  über  Didymaios-Tiaiioü ;  dazu  die  kana- 
näischen  Berge  namens  3iö'p2i  Salmon,  demin.  von  Salm,  die  ganz  genau 
dem  Masu-  oder  Zwillingsberg  im  Gilgamesepos  und  dem  kleinasiati- 
schen A(v5u|j,ov  öpog,  also  dem  ,, zweigipfligen  Berg"  (Usener,  Rhein.  Mus. 
LVIII  1903  S.  344  2)  der  Götter  entsprechen.  Rieht.  Q^s;  Ps.  68  u.  Dazu 
den  Ort  Salmona  Numeri  33  41  f.,  und  die  Personennamen  Salmon  und 


Kuba-Kybele.  169 

sind.  Endlich  wird  man  auch  den  Gebrauch  von  xb  uspyafiov 
(zu  uupyog  Burg)  als  weiblichen  Eigennamen  i]  IlepYa\i(jc.  und 
die  ON  Pergama  auf  die  als  Zavö?  nüpyoc,  bezeichnete,  mit 
der  Tcupyo;  gekrönte  Göttin  beziehen  müssen.  Gleichbedeutend 
ist  noch  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  im  Volksnamen 
der  Tyrsener  oder  Turs^^"'')  enthaltene  kleinasiatische  Name 
der  Göttin  *T6pac5  (zu  lat.  turris)  „Turm"  oder  „Burg"  ^^'*^). 

Daß  die  urtümlichen  heiligen  Höhlen  der  Gottheit  schon 
in  vorgriechischer  Zeit  durch  Tempel  von  Menschenhand  er- 
setzt worden  sind,  beweist  erstens  der  homerische  Gebrauch 
von  [ieyapov  für  einen  Saalbau,  zweitens  aber  der  überaus 
wichtige  Umstand,  daß  in  Attika  der  prähistorisch-kleinasia- 
tische Cult  des  aus  den  syrischen  Inschriften  bekannten,  göttlich 
verehrten  „Tempels"  „Hekal"  in  der  Legendengestalt  der  greisen 
„Hekale"  ^^^)  und  der  am  „Tempelweihfest"  der  Hekalesia  für 
Zeus  „Hekaleios"  gefeierten  Theoxenie  in  die  helle  geschicht- 
liche Zeit  hineinragen.  Genau  so  wie  der  seltsame  Zeus  „He- 
kaleios"  dürften  auch  die  Epiklesen  des  Apollon  Ofxtaxr]?  und 
A(])\i.<xxixy]c,  entstanden  sein ;  Anzeichen  sind  genug  vorhanden, 
daß  der  Gott  in  Delphi  ursprünglich  mit  seiner  xaXußvj  ^^^^)  und 
besonders  mit  seinem  geflügelten  Tempel  ^^^)  wesenseins  war. 

Endlich    erklären    aber    alle  diese    Erwägungen   auch  den 

sonst    so    rätselhaften    altertümlichen    Namen    A(j()-[JLair]p,  den 

schon  Fick  PN  439  zweifelnd  als  „Hausmutter"  gedeutet  hat; 

Salmuna,  ferner  die  Orte  Salmonion  auf  Kreta,  Salmona  in  Elis,  vor 
allem  aber  die  „Zwitter"quelle  ^äXiaax-.g  bei  Halikarnaß,  deren  Nymphe 
der  bekannte  Mythus  mit  dem  gleichbedeutenden  Hermaphroditos  ver- 
knüpft.    S.  auch  unten  Anm.  213  a  über  die  Quelle  Siloam. 

152a)  Ueber  die  Turs-sci-Tuposvot ,  in  ägyptischen  Inschriften  Turs, 
Gen.   IO2  nach  W.  Max  Müller  Clin  s.  Hommel  Grundr.  64  5- 

152b)  Fick,  vorgriech.  ON  19  hat  die  Tyrsener  richtig  zu  „züpoig" 
=  ,,Burg"  gestellt  und  dieses  als  ungriechisches  Lehnwort  gekennzeich- 
net. Mit  der  für  die  Transcription  von  H  (oben,  S.  157 149),  bezeich- 
nenden Schwankung  zwischen  1  und  %■  steht  neben  xöpoig  —  d-üpao^, 
d.  h.  neben  der  Kybele  als  „Burg"  ihre  dendritische  Incarnation  als 
,, Fichte".  Ueber  die  „sacra  pinus"  der  Kybele  vgl.  die  Zeugnisse  bei 
Gruppe  Hdb.  15302.  Zum  göttlichen  „Turm"  vgl.  o.  S.  llSne  „Ba'al 
Zaphön". 

»63)  Gruppe  Hdb.  601 2. 

iö3a)  phiiostr.  Vit.  Apoll,  p.  110;  Cedren  I  p.  582  ed.  Bonn. 

1")  Strabo  IX  p.  421.  Nach  Paus.  X  p.  618 10  von  „Bienen"  (0. 
S.  I2O7  12627  19422oa)  aus  Wachs  und  Flügeln  erbaut,  von  Apollon  zu 
den  Hyperboräern  entrückt.  Vgl.  u.  S.  ITOisea  das  hl.  „Haus"  von 
Loretto  u.  Bratke,  Relig.  Gespr.  18 3  cf.  S.  165  das  „Siotisty)?  [spöv"  der 
Hera  Pege  (u.  S.  197231  199239). 


170  Robert  Eisler, 

natürlich  ist  dabei  nicht  an  „Hausmutter"  im  Sinn  von  „  Familien- 
mutter ",  sondern  an  den  göttlichen,  als  „  Haus "  (Aw)  und  „  Mutter  * 
zugleich  gefaßten  Stein  —  in  Eleusis  z.  B.  das  alte  Idol  der 
ayeXaaxo;  Tzkxpoc  am  TiapO-evLov  cppeap  ^^°)  —  zu  denken. 

Der  Schwierigkeit,  die  persönliche  Vorstellung  der  Gott- 
heit mit  der  Anschauung  des  Stein-,  Höhlen-  oder  Hausfetischs 
zu  verschmelzen,  sind  die  Versteinerungssagen  entsprungen,  die 
sich  in  Kleinasien  genau  so  wie  in  Mekka  ^^^'')  und  anderswo  an 
derartige  Cultstätten  knüpfen.  Lehrreicher  als  die  an  ver- 
schiedenen Kybelefelsen  haftenden  lydischen  und  kilikischen 
Niobesagen  ist  eine  weit  verschlagene,  aber  hochaltertümliche 
und  inhaltsreiche  Versteinerungssage,  die  an  einem  bekannten 
Tiroler  Felsen  haftet  und  wahrscheinlich  auf  die  keltische, 
einst  in  Kleinasien  gesessene  Urbevölkerung  unserer  Alpen- 
länder zurückgeht:  eine  reiche,  aber  hartherzige  Frau  — 
offenbar  die  winterliche,  unerbittliche,  „brotlose".  Hungersnot 
verhängende  Göttin  ('A[xa^(i)v)  i^^),  das  Gegenstück  zur  gast- 
lich labenden  „ Hekale "  —  reitet  hoch  zu  Roß  an  einer 
Bettlerin  vorüber,  die  sie  um  einen  Bissen  Brot  anfleht.  Listig 
oder  höhnisch  reicht  ihr  die  Geizige  einen  runden  Stein  zum 
essen  —  natürlich  das  Rheia-Kronosmotiv.  Da  erhebt  sich 
ein  Unwetter  und  die  harte  Herrin  erstarrt  zu  Stein.  Der 
Felsen  aber  heißt  bis  auf  den  heutigen  Tag  „Frau-Hütt"  i^^*). 

^5»)  Hymn.  Hom.  V  99.         '='=')  Vgl.  oben  Anm.  15  gegen  Schluß. 

15«)  Vgl.  „Wpltenmantel"  S.  150  ff. 

156  a)  Auf  das  Fortleben  derartig  Vorstellungen  innerhalb  des  Christen- 
tums, in  Heiligengestalten,  wie  St.  „Waldburg "  (=  'I5ala  Mr^xYjp  und 
*T'jpa'.?)  oder  ,St.  Magdalena"  —  von  „niigdol"  =  „Turm"  —  der 
,, großen  Dirne"  (=  Kybele  Agdestis  =  „Istar  gadistu  ilani"  „I.  die 
Dirne  der  Götter',  Athene- 'm'-Pallas  =  TtaUaxig;  vgl.  o.  S.  127  2- 
und  S.  157 14»)  oder  in  dem  illyrischen  Cult  des  aus  Dalmatien  nach 
Loretto  hinübergeflogenen  „heiligen  Hauses"  der  Madonna,  dem  ge- 
nauen Gegenstück  des  sagenhaften  geflügelten  Apollontempels  kann 
hier  nicht  eingegangen  werden.  Nur  der  Vollständigkeit  halber 
verweise  ich  auf  die  altkirchenslavischen  Epiklesen  der  Madonna  als 
„erlesener  Stein"  „Berg  des  Herrn"  „thalamus  Salomonis"  (vgl. 
Anm.  152  und  als  S-uatotcxr/pLov  (s.  Anm.  102 1')  bei  Andreas  Cretensis 
(cf.  Wesselowsky,  Arch.  f.  slav.  Philol.  VI  1882  S.  48f.),  als  ,tympa- 
nistria",  „ostium  et  janua"  „turris"  „castellum"  „parens  et  puella'' 
„templum"  „vas"  (s.  Anm.  236  ißf.,  246)  „sacrarium"  „porta  clausa"  „fons 
signatus"  (=  „Tir^yv)  lacf payioiiew) "  cf.  Bratke  Relig.  Gespr.  89i  aus  Ps. 
Damascenus;  s.  Anm.  231  und  o.  S.  137:6)  „ferax  tellus"  (=  Tf/  cpspsoßcos) 
„piscina"  (Anm.  239)  „thalamus"  „navis"  (Anm  239)  „Luna"  „urna" 
(Anm.  236,  246)  „cella"  (Anm.  131)  „domus"  „civitas"  (Anm.  15  „hagar") 
„Stella"    „columba"    (Anm.    184 — 186)    „patris   mater   et  filia"    in   dem 


Kuba-Kybele.  171 

Ein  letztes,  sehr  merkwürdiges  Zeugnis  für  die  kleinasia- 
tische Anschauung  der  Gottheit  im  Bild  eines  Hauses  bietet 
Heraklit  von  Ephesos.  Es  ist  auflFallend  genug,  wie  heftig 
die  jonischen  Philosophen  von  Anfang  an  gegen  die  anthro- 
pomorphen  Idole  der  Griechen  zu  Gunsten  der  kosmisch-pan- 
theistischen  Göttervorstellungen  der  orientalischen  d.  h.  für 
sie  kleinasiatischen  Theologie  auftreten  ^^').  Daß  sie  trotz 
aller  von  dort  empfangener  Anregungen  nicht  blind  waren 
gegen  den  Rest  von  gröbstem  Fetischismus  in  dieser  kosmi- 
schen Symbolik  beweist  das  fünfte,  deutlich  gegen  die  Riten 
der  ephesischen  Göttermutter,  der  „  Schlächterin "  Artamis,  ge- 
richtete Fragment  ^^^)  des  großen  Feuergeistes :  wahnsinnig 
scheint  ihm,  wer  in  der  Taurobolie  der  Großen  Göttin,  über- 
strömt vom  ekelhaften  Blut  des  Opfertieres  die  Reinigung  von 
andrer  Befleckung  erwartet.  Und  die,  die  zu  Bildern  beten, 
haben  grade  so  wenig  eine  Ahnung  vom  wahren  Wesen  der 
Götter  und  Heroen,  wie  die  die  mit  „Häusern"  Zwiesprache 
halten  ^^'■'). 

Nach  all  diesen,  der  Seltsamkeit  des  Doppelsinnes  wegen 

etwas  breiter  ausgesponnenen  Erwägungen  wird  man  die  Be- 

von  einem  unbekannten  Zeitgenossen  des  Adam  von  St.  Vict.  verfassten, 
in  einer  Hs.  saec.  XII  überlieferten  Gedicht  ^  de  nominibus  beatae  Ma- 
riae  virginis"  (Pitra,  Spie.  Solesm.  III  p.  451).  Hiezu  vgl.  die  Klagen 
des  Isidor  von  Pelusium,  daß  die  Heiden  Maria  als  „vsa  Kußi/'-vj"  ver- 
spotten, bei  Geltzer,  Africanus  I  19. 

157)  Vgl.  etwa  Xenophanes  fr.  15,  16,  23  Diels  FVS^  p.  49  f. 

*'*)  Diels  FVS-  p.  62  Z.  14:  „xad'aipovxat  d' äXXwg  od\i.'xxi  \s.<.ixwö\iZ'jo: 
olo'j  sT  v.c,  TtTjXöv  £p.ßäg  Tir^Xö  dT^ovi^oiTO.  [laivsoO-a'.  S'  äv  Soxoiy],  sT  iig 
aOxöv  dvö-pcüKMv  iKv^pioMzo  ouxö)  rtoteovxa.  otal  xolg  ayäX|jiaaLV  5s  xouxsoiatv 
£'j}(ovxxi  cy.oloy  sl  xi;  8ö\i.0'.ai  Xsaxvjvsüoixo  oü  xt  yiyoiiy.m'^  ^soüg 
0Ö8'  fjpcoag  oi'xivs;  slat." 

*°^)  „ Sxoiov  £L  X15  xxX. "  verstehe  ich  etwa  so:  wenn  jemand  (weil  er 
das  für  tiefsinniger  oder  fi-ömmer  hält)  mit  , Häusern"  Zwiesprach 
pflegen  wollte,  d.  h.  hellenischer  Weise  die  asiatische  Anbetung  leerer 
Höhlen  und  „Häuser"  vorziehen  wollte.  Mir  ist  keine  Fabel  oder  Pa- 
rabel in  griechischer  Sprache  bekannt,  wo  einer  mit  einem  „Hause" 
spräche.  Vgl.  dagegen  Gilgamesepos  Taf.  XI,  wo  der  Gott  EA  —  selbst 
„das  Haus"  —  den  Ratschluß  der  Götter  einem  (aus  Lehm  und  Schilf 
gebauten)  „Rohrhaus"  ausplaudert  mit  den  Worten:  „Rohrhaus!  Rohr- 
haus! Wand,  Wand!  Rohrhaus  höre  und  Wand  verstehe!"  (Keilin- 
schr.  Bibl.  VI,  1  p.  2.31  Z.  19  ff.)  Das  „Haus"  sagt  dann  im  Traum 
(ibid.  p.  242  Z.  196)  dem  an  der  Wand  incnbierenden  Xisuthros  das 
Flutgeheimnis  weiter.  In  der  moskisch-phrygischen  Midasfabel,  wo  das 
verräterische  Flüstern  des  Schilfrohrs  wiederkehrt,  raunt  der  Barbier 
des  Königs  sein  Geheimnis  keinem  „Haus",  sondern  einer  „Grube", 
d.h.  aber  wieder  der  „Kuba"  in  der  unten  Anm.  227  belegten  Bedeu- 
tung zu. 


172  Robert  Eisler, 

nennung  einer  weiblichen  Gröttin  mit  den  Homonymen  ku'ba 
=  Jungfräulicbkeit  im  Sinn  von  griech.  "Hßrj  ^^^)  (cf.  Ilap- 
d-hoQ  und  Köpfj  =  Xaaßoü  bei  Epipbanius)  und  „  kubbah "  = 
„gewölbtes,  hohles  Haus"  wohl  nicht  mehr  unverständlich,  ge- 
schweige denn  unwahrscheinlich  finden. 

Tatsächlich  überliefert  ist  dieser  Göttername  in  der  Form 
Chuba-Chumba  in  elamitischen  Inschriften  ^'^^),  in  dem  Namen 
der    mittellykischen  Stadt  K6[Jißa  ^^^),  in  der  Epiklese  der  ly- 


160^  Vgl.  lat.  „pubes".  —  Ich  zweifle,  nebenbei  bemerkt,  nicht  daran, 
daß  die  von  der  griechischen  Kunst  zu  einer  so  lieblichen  Personifi- 
cation  jugendlicher  Anmut  vergeistigte  Hebe  im  Cult  (die  Zeugnisse 
bei  Gruppe)  nur  in  der  groben  Urbedeutung  des  Namens  (yjßvj  =  vulva) 
wurzelt.  „Gany-meda",  ,,die  die  [iVjSea  erfreut"  (Laistner),  ist  eine  viel- 
sagende Epiklese  der  Göttin.  Vgl.  unten  Anm.  234  über  die  Namen 
Hebe  und  Ganymed  für  das  Sternbild  des  Wassermanns. 

16»)  Vgl.  P.  Jensen,  Wiener  Zeitschr.  f.  Kunde  des  Morgenl.  VI  56  ff. 
Keilinschi-.  Bibl.  VI  1,437  Z.  7.  Gilgamesepos  S.  13 1.  Der  Zusammen- 
hang mit  der  hier  in  Rede  stehenden  Gottheit  scheint  mir  durch  die 
Nebenformen  gesichert.  Denn  neben  Ghuba,  Ohumba  (wie  griech. 
*K'Jß7j,  Kujißvj)  stehen  die  wohl  auf  semitischer  Volksetymologie  be- 
ruhenden Namen  Chum-ban  .,Chum  ist  Schöpfer"  (vgl.  oben  Anm.  152  die 
Version  Tsüxpog .  tioiyjxvjs)  und  Chum-baba  ,,Chum  ist  Vater"  (vgl.  klein- 
asiatisch Zs'jg  Ilajräg,  Gruppe  15486)  wobei  „Chum"  nach  Hommel 
Grundr.  42 1  als  elamitische  Dialectaussprache  des  semitischen  Namens 
'Amm  (patruus)  für  den  Mondgott  bezw.  nach  ibid.  2493  als  Kurzform 
von  Achum  („Bruder")  gegolten  haben  dürfte.  Der  Gott  üu  Chum- 
baba  im  Gilgamesepos  Taf.  II  col.  VI  Z.  7  bewacht  den  heiligen  Cedern- 
hain  auf  dem  Götterberg  und  die  Cedern-lstar  ..Irnina",  wozu  einer- 
seits die  heiligen  Fichten  der  Kybele  (Gruppe  15302)  und  die  "Apxe- 
jiig  Ke5pEäxt.g  (Gruppe  786  i),  andrerseits  Ko|jißaßög,  der  Wächter  der  Stra- 
tonike (=  Astartanikku)  Lucian,  dea  Syria  19  ff.,  der  verschnittene 
Ahnherr  der  Gallen  zu  vergleichen  wären.  Chumbaba's  Brüllen  (ibid.) 
verbindet  ihn  mit  Tukultu-Ninib,  dem  „brüllenden"  Mundgott.  Als 
wilder  Riese  Agdestis  (=  assyr.  gadistu  ;=  Geweihter  =  V^erschnittener, 
vgl.  d.  kretischen  Ortsnamen  ,,Kadistos",)  erscheint  ja  auch  die  Kybele 
bei  Strabo  X  3 12  p.  469  und  Hesych  ^AybiaiK;,  zweigeschlechtig  geboren, 
der  männlichen  Organe  später  beraubt  (Paus.  VII  17 10;  Steph.  Byz.  s.  v. 
räXXo?  198?;  Arnob.  V  s ;  dazu  die  Ueberlieferung  von  einem  phry- 
gischen  Heros  Kybelos,  einer  männlichen  Incarnation  der  Göttin,  Interp. 
Serv.  Virg.  Aen.  X  220  Phot.  s.  v.  K.).  Auch  als  Personennamen  ist 
Chubaba,  u.  zw.  ebenfalls  in  Elam  zu  Tage  getreten  (P.  Scheil,  textes 
elamites-semitiques  IL  serie  p.  177  Z.  8).  Die  aus  diesem  Namen  zu 
erschließende  Göttin  *  Chubaba  ist  aber  ganz  offenbar  identisch  mit 
der  bei  Herodot  V  102  erwähnten  Göttin  KoßVjßyj  von  Sardis  (cf.  Phot. 
lex.  8.  V.  KußvjXo?  .  .  „Xäpo3v  8k  ö  Aa\x<\)0(.y.riw6(;  (FHG  IV  627  b)  iw  zrj  upcoir; 
lYjv  'AppoSCxYjv  uTio  ^puyöv  xai  Au5(Bv  Kußr^ßYjv  Xsyeo&a'.";  dazu  Hesych 
KußT/ßrj  und  die  übrigen  bei  Gruppe  1528  0  gesammelten  Stellen.  Ein 
Gott  Gu-ba-ba  wird  III  Rawl.  66  Obv.  Z.  7  erwähnt.  Dazu  vgl.  Phot. 
lex.  s.  V.  xußYjßö?  •  ö  xaxex&iisvog  xfj  Mvjxpl  xö)v  9-swv  •  9-£0(f  öpvjxog."  cf. 
Eustatb.  ß  16  143146;  cf.  Simonides  fr.  36;  Kratin.  fr.  82. 

»«-)  Ptolem.  5,  3,  5. 


Kuba-Kybele.  173 

kischen  Artemis  Ko{xß:xYj  ^''^)  und  im  griechischen  Namen 
K6{ißr]  für  die  Mutter  der  Korybanten  ^'^*) ;  endlich  an  einer 
Stelle,  wo  man  ihn  kaum  erwarten  würde.  Ein  Fragment 
aus  Varros  Logistoricus  „Catus"  oder  dem  14.  Buch  seiner 
Altertümer  ^^°),  nennt  eine  diva  „Cuba",  die  das  , Liegen"  der 
kleinen  Kinder  beschützt  ^*'*^) ;  ein  Wirkungskreis ,  der  zum 
Wesen  der  großen  kleinasiatischen  Muttergöttin  trefflich  paßt^^'). 
Höchstwahrscheinlich    ist    der  Name    von  den  kleinasiatischen 


"^)  Arch.-epigr.  Mitt.  aus  Oesterr.  VII  (1883)  124;  Bull.  corr.  hell. 
XXIIl  (1900)  3356.  Zu  Ko[ißix7i  gehört  offenbar  Kußrjxvj  bei  Hesych  s. 
V.  und  ebenda  ,xi)ßyjxog  ■  6  >cax£)(ö|jL£vos  "^V  ^i^tpi  iJ-ewv". 

"*)  Als  Eponyme  von  Chalkis,  üiels,  Hermes  XXII  1887  442  wahr- 
scheinlich aus  Kreta  dorthin  übertragen,  von  Sokos  oder  Swxög  (Hesych. 
8.  V.  K&[ißyj  und  Iim^oc,:  Nonn.  üionys.  iSisefi.)  Mutter  der  Korybanten. 
Die  Korybanten,  bezw.  der  Korybas  oder  Kyrbas  —  griechisch  ist  der 
Name  unerklärlich,  -vx  ist  kleinasiatische  Endung  —  von  den  Alten  den 
Kabeiren  (man  beachte  die  Metathesis,  dazu  oben  S.  126  2 7)  gleichgesetzt, 
sind  ebenso  wie  diese  orientalische  Gestalten.  Köpußag  ist  assyr.  kurubu, 
karubu  „mächtig"  (Deutsch,  Handwörterbuch  352)  hebr.  31~i3  Kerub, 
also  dem  Titel  „Kaßecp"  ganz  analog.  Die  Inschrift  von  Imbros,  Keil, 
Philol.  II  589  ff.  bietet  nebeneinander  die  Uebersetzung  von  ,,kabirim" 
und  ,,karubim",  ,,9-sol  laeyaXoi,  ^aoi  Suvaxol  lax'jpoi".  Vgl.  ferner  zu 
den  von  Kdpußag,  Kupßa?  abgeleiteten  kleinasiatischen  Ortsnamen  Küpßyj 
in  Kreta,  Pamphylien,  Rhodos,  Küpßaaa  in  Karien,  Koponlaooc,  in  Isau- 
rien  u.  den  Ezra  2b9  erwähnten  Ort  31"i3  in  Babylonien.  Der  rätselhafte 
Sokos  ist  wahrscheinlich  mit  dem  phönizischen  Götternamen  fSD  Sak- 
kun  bzw.  Säyxouv  zusammenzustellen  (vgl.  Berger,  Melanges  Graux 
II  618  f.)  wobei  -un  =  P"  (wie  in  'EXioQlv)  Deminutivsuffix  wäre.  Bei 
Ovid  Metam.  7  382  wird  diese  Kombe  ,,Ophias"  genannt,  wozu  der  bei 
Hippolyt.  philos.  V19  überlieferte  Attishymnus  „"Axxt  ae  xa/loGiaiv  .  . 
(Liste  barbarischer  Namen)  .  .  "EXXr^vsc;  S'  'Ocpiav"  ferner  die  schlangen- 
gestaltige  Rheia  der  orphischen  Theogonie  (Abel  fr.  orph.  Nr.  41p.  164) 
und  oben  S.  140  se,  s8  die  arabische  Göttin  Ghawwa  {==  Schlange)  El  Surrah 
(^Omphale)  zu  vergleichen  ist.  Hesych:  ,,K6[ißa*  xopwvTj  noXup|5>ivioi", 
beweist,  daß  man  in  Kreta  die  Krähe  als  heiligen  Vogel  der  Komba 
betrachtete.  Kopovtg  ist  aber  in  Delphi  mit  ApoUon  gepaart,  wie  in 
Kleinasien  die  Didymene  mit  dem  Didymaios  (unten  Anm.  200). 

1«°)  cf.  Peter  bei  Röscher  ML  II,  1  e.  142,  19  ff. 

^*^)  Donat.  Ter.  Phorm.  I,  1,15  (v.  49)  „legitur  apud  Varronem, 
initiari  pueros  Eduliae  et  Poticae  et  Cubae  divis  edendi  et  potandi  et 
cubandi,  ubi  primum  a  lacte  et  a  cunis  transierunt."  Die  gelehrte 
Ableitung  Cuba  v.  cubare  geht  wohl  auf  die  Theologie  der  Indigita- 
menta  zurück;  man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  daß  Cuba  sich  durch 
das  Fehlen  der  bei  „Potica"  und  „Edulia"  in  die  Augen  springenden 
Ableitungssuffixe  von  diesen  Bildungen  unterscheidet;  wären  alle  drei 
gleichwertig,  so  würde  es  wohl  auch  Cubica  oder  dergl.  heißen. 
Oö'enbar  ist  also  hier  eine  überkommene  Gottheit  in  das  an  solchen 
Bildungen  sehr  reiche  Schema  der  Indigitamenta  eingereiht. 

'^')  Besondere  Fürsorge  für  das  Gedeihen  der  Kinder  ist  für  Kybele 
bei  Diodor  bibl.  III  58  ausdrücklich  überliefert.  Auch  auf  die  ■^äXoi.y.zoQ 
xpocpyj  der  Kybelemysten,  durch  die  der  Verehrer  der  Göttin  zu  ihrem 
Säugling  geweiht  wird  (Gruppe  1542  0)  wäre  hier  zu  verweisen. 


174  Robert  Eisler, 

Etruskern  ^^^)  nach  Italien  mitgebracht  und  dort  von  den  ita- 
lischen Stämmen  übernommen  worden. 

Zu  diesem  ursprünglich  westsemitischen  Namen  Kuba 
steht  dann  aber  Kubile-Kybele  als  eine,  durch  die  oben  be- 
sprochenen Appellativa  xüßeXov  und  xüßwXov,  vgl.  sizilisch-sara- 
zenisch  Cuba-Cubola,  spanisch  „al-coba"  „al-cobilla",  durchaus 
in  den  Bereich  des  sprachlich  Möglichen  und  Wahrscheinlichen 
gerückte  phrygische  Deminutivbildung  ^^^)  in  engster  Verwandt- 
schaft. 

Kybele  wäre  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  die  ju- 
gendliche Kuba-Kybe,  die  Uocp^hoc,  im  Gegensatz  zur  Myjttjp, 
0exXa    die  „kleine"    jugendliche  Göttin  ^^°)  im  Vergleich    zur 


'®^)  8.  u.  Anm.  178  über  die  Kubrä-Kypris-Cupra  und  oben  S.  150 las 
über  den  Janus  geminus-Mrjv  Ai8u|iog-AL9-upa[ißog. 

*®^)  Deminutivbildungen  von  Götternamen  zuerst  erkannt  zu  haben, 
bleibt  das  unsterbliche  Verdienst  Hermann  Useners.  (Sintüiitsagen  57 — 74). 
Zu  den  dort  gegebenen  Beispielen  (^Hpa-xXrjg,  'Hpü-xaXog,  Hercules  von 
Tjpws,  dazu  fem.  -^pa)  Aeü-xaXog  Zeusknäblein  zu  AeO?  =  Zeu?  Aio-xXog, 
Aioj-xdpLv^oc;  und  OTvog-OIvovtXog  (Dionysosknäblein),  IläxpoxXog  zu  üati^p, 
bulgarisch  „Bozic"  ^Gottchen"  von  „Bog''  =  „Gott"  lassen  sich  als  römische 
Paralellen  Ju-lus  als  Deminutiv  von  Ju-piter  (Aurelius  Victor  origo  gent. 
Eom.  15)  und  Ve-jovis  der  kleine  (cf.  vescus,  vegrandis)  Diovis  (Frazer, 
lectures  on  kingship  p.  202)  stellen.  Eine  Trias  wie  'Hpw?  'Hpa-xX^s 
"Hpa  erklärt  Namensgruppen  wie  Romos  (Nebenform  das  gebräuchliche 
Remus)  Eomylos  (so  bei  Kleinias  Intp.  Serv.  Virg.  Aen.  I  273;  Fest. 
269  a  3o)  und  Roma,  ein  Gedanke,  den  mir  Kretzschmer  in  seinem  sonst 
so  anregenden  Aufsatz  über  diese  Namen  („Glotta"  1908  I  288  ff.)  zum 
»Schaden  der  Sache  vernachlässigt  zu  haben  scheint.  Aus  Namen  vde 
Janiculum  (das  selbstverständlich  mit  „collis"  „Hügel"  nichts  zu  tun  hat), 
ist  zu  Janus-Jana  ein  Deuiinutivgott  *Janiculus  zu  erschließen,  ebenso 
aus  Tusculum  ein  Heros  *Tiisculus,  Demin.  zu  Tuscus,  dem  Eponym 
der  Tusker,  der  italisierten  Form  des  etruskischen  Turq-us  oder  Tarq-on 
(kleinasiatis  h  Tark,  Trok,  TsOxpoc).  Eine  weitere  Deminutivbildung 
von  einem  kleinasiatischen  Gottesnamen  wäre  der  pergamenische  theo- 
phore  Königsnamen  Attalos  zu  Attis  (vgl.  'Axug  Sohn  des  Kroisos  bei 
Herodot).  Aus  rein  semitischem  Sprachgebiet  ist  der  alttestamentliche 
bamsön  (als  Deminutiv  erklärt  von  Nöldeke  „names"  Encycl.  Bibl.  3302), 
zu  >amas  (Sonne),  Dagön  von  Asdod  zu  „Dag"  =  „Fisch„  wie  „Nahson" 
„Schlänglein "  zur  heiligen  Schlange  „Nahas"  oder  ^Sidön"  zu  „Sid"  = 
„Fischer"  anzuführen. 

*'")  Der  heidnische  Hintergrund  der  Legende  von  der  heiligen  Thekla 
im  isaurischen  Seleucia  (s.  Hennecke,  Hdb.  zu  den  Apokryphen  des 
NT  S.  379),  die  durch  göttliche  Fügung  lebendig  in  den  Fels  entrückt 
wurde  und  deren  Gedenktag  (24. -9)  auf  die  Herbstsonnenwende  fällt, 
ist  unverkennbar  die  überall  nachweisbare  Niederfahrt  der  jungfräu- 
lichen Göttin.  Dann  erklärt  sich  der  Name  sehr  einfach  als  bloßes 
Deminutiv  der  namenlosen  großen  Göttin  Kleinasiens,  der  ösä. 


Kuba-Kybele.  175 

großen  Göttermutter  selbst,  der  Osa  schlechthiu,  wie  sie  u.  a. 
in  Eleusis  genannt  wurde  ^"^). 

IV.  Kommen  die  mit  p  auslautenden  Transcriptionen 
des  fraglichen  Namens  in  Betracht  und  zw.  Xaßap,  Xoußap, 
Koußap,  Kaßep,  Xaßep,  zu  denen  mehrfach  die  Version  MeyaX'r] 
überliefert  ist  ^^-).  Zu  Grunde  liegt  diesen  Bildungen  offenbar 
eine  bewußte  Angleichung  von  Kuba-Ka'aba  an  die  Derivate 
der  Wurzel   „kabara"    =:   groß   sein  ^^^).    Ein    in  diesem  Sinn 


»")  Gruppe  Hdb.  52  4. 

*'-)  Vgl.  Const.  Porphyrogen.,  de  administr.  imp.  14:  „npossüxovxat 
de  xal  eis  zb  xr\c,  'AcppodixvjS  dcaxpov,  o  xaXoöaiv  Koußäp. "  Euthymius 
von  Zigabene  bei  Sylburg,  Saracenica  p.  71:  „ol  Sapaityjvol  jiexpl  x6v 
'HpaxXeL-co'j  xotj  ßaaiXswg  y^pöwo^  ei5ü)XoXäxpouv  upojxuvoövxsg  tu)  Sü)gcp6p(p 
dcaxpcp  xal  x'^  'AcppoStxij,  y)v  Se  xal  Xaßäp  x'^  lauxwv  iTiovoiiöc^ouaiv  yXMaaig. 
öYjXol  5a  yj  XdEig  aüxr;  xr^v  MsydcXr^v."  St.  Johannes  Damascenus  de  baeres.  p. 
111  ed  Lequien:  „ouzoi  p.sv  o5v  elSwXoXaxprjaavxss  xal  Tiposx'jvr^aavxag  zip 
icüocpöpqj  dcoxptp  xal  x^  'AcppoSixr;,  ^v  Srj  xal  Xaßäp  xTj  lauxöv  iTttüvö|j,aoav 
yXcüoaiQ,  ÖTtsp  aYjiiatvec  Meyä^Y)."  Cf.  ibid.  p.  ll-S  (oben  Anm.  70).  Ebenso 
Cedren  I  425  (ed.  Par.)  .  .  „xö  5s  Koußäp  MeyäXrj.  ."  und  Glycas  p.  514 
ed.  Bonn.:  „.  .  xv]v  'AcppoStxvjv  xexp'jji|jiev(o;  asßovxai  .  ,  .  Koußäp  .  .  xo'jx'laxiv 
.  .  MeyäXvj."  Die  Quelle  für  alle  diese  Behauptungen  sind  die  alten 
Execrationsformeln,  die  die  zur  griechischen  Kirche  übertretenden  Mo- 
bammedaner  beim  Abschwören  ihres  Glaubens  nachzusprechen  hatten 
(Sylburg  Saracen.  p.  113;  OO  Niketas  Choniatas  ^vjaaupös  öpd-oSogiag  ex 
Ms.  bei  Lenormant  127o  und  134):  „ävaS-sjjiaxi^cü  xo-jg  xcp  TipwlvtT)  Ttpog- 
xuvoövxa?  öcoxpcp  xw  'Ecüacpöpct)  xal  x-^  'Acppo5ixi;j  {=  Ahtar  und  Istar,  der 
Stern  gilt  als  zweigescblechtig) ,  r^v  xaxä  xtjv  'Apäßwv  yXcöaaav  Xaßäp 
övoiiä^ouoiv  xoöx'  iaxiv  MsydcXr/v)."  Die  Berichte  lassen  deutlich  erkennen, 
daß  sich  die  Bezeichnung  „groß"  ursprünglich  auf  das  durch  den 
heiligen  Stein  vertretene  Gestirn  (vgl.  unten  Anm.  175  und  177)  bezieht. 
Demgemäß  ist  das  mit  ku'ba  synonyme  „nahid"  „die  Vollbrüstige"  bei 
den  Persern  Bezeichnung  des  Venussterns  geworden.  Vgl.  die  Planeten- 
liste im  sog.  'Oulema-i-lslaui,  Blochet,  Rev.  bist,  relig.  1898,44.  Ueber 
Anahita  als  Venusgestirn  vgl.  noch  Berossos  FHG  II  498-2  509  le;  Jamb- 
lich bei  Phot.  Bibl.  XCIV  S.  75  p.  15;  Agatharch  bist.  2,24  S.  117 19 
ed.  Bonn.  cf.  Jackson,  Zoroaster  249  und  Hesych  s.  v.  Ilspai&sa. 

1")  Genes.  64  heißen  die  ,, Riesen"  („yiyaviss"  LXX)  ,,gibborim" 
(vgl.  arab.  „gabbar").  Daraus  darf  wohl  erschlossen  werden,  daß  „kabara" 
,groß  sein"  nur  Verhärtung  eines  ursprünglichen  *gabbara  ist.  Der 
Gebrauch  von  "i*:  (gebher)  für  , Mensch"  im  allgemeinen  ist  sicbtbarlich 
aus  einer  engeren  Bedeutung  (vgl.  etwa  deutsch  , Recken")  hervorge- 
gangen. Unter  dieser  Voraussetzung  ist  dann  aber  mit  Koußäp  auch 
die  , Göttin  des  Westlandes"  Gubarra  (bei  Hommel,  Grundr.  245, 
mit  dem  Stadtnamen  „Gubrum",  0.  „am  Ufer  des  Flusses  von  Edinna" 
und  0.  in  der  Umgebung  von  Sirgulla  oder  Lagas  zusammengestellt) 
als  „die  Große"  zu  verbinden  und  mit  Kuba-Kybele  zu  identifizieren. 
Das  Ma.scul.  „Gabbar"  =  „Riese"  ist  eine  bekannte  arabische  Bezeich- 
nung des  Orionsternbilds  (Winckler,  altor.  Forsch.  II  374),  wozu  die 
Genes.  10 9a  überlieferte  Benennung  T^  "I2J  „gibbör  sayid"  „Riese 
Jäger"  für  den  nach  persisch-neubabylonisch-nestorianischer  Ueber- 
lieferung  (Chronic.  Pasch,  ed.  Dind.  p.  64)  mit  dem  Orion  identifizier- 
ten Nimrod    zu   vergleichen    ist.     Der    edomitische    Namen   Kaus-gabr 


176  Robert   Eisler, 

zu  deutender  Cultname  *  Kubar  würde  genau  der  kleinasiatischen 
Epiklese  der  Kybele  als  Magna  (Mater  Idäa),  Tea  oder 
Artamis  MeyaXrj  i^^)  (MTjxr^p  xxX.)  entsprechen  und  diesen,  wenn 


(Keilinschr.  Bibl.  II  239)  =  KooYaSapög  (?bei  Joseph.  Antiqq.  XV  7,9 
Schwager  Herodes  des  Idumäers,  verschrieben  Koataiüapog,  so  Schrader 
KAT^  150;  oder  ist  „Kaiis  tabbür"  „Kaus  ist  der  Nabel"  zu  lesen? 
vgl.  noch  Kaus-malak  iaei  Schrader  a.  a.  0.;  Kos-nathan  Kuting,  nabat. 
Inscr.  n.  12 1  und  die  zahlreichen  semitischen  Namen  aus  ägyptischen 
Inschriften  mit  diesem  Bestandteil,  Rev.  arch.  Febr.  1870  p.  109  ff.  end- 
lich die  b'ne  Barkos,  Ezra  2  68)  beweist,  daß  die  Araber  auch  ihren 
mit  Pfeil  und  Bogen  bewaffneten,  als  Sa'ad  (=  Jäger)  mit  ,,06piü)v" 
identifizierten  (oben  Anm.  60)  Gott  Kaus-Kuzah  den  „Bogen"-  oder 
,,Fisser"gott,  mithin  also  auch  den  gleichbedeutenden  Hobal  der 
Ka'aba  „Gabbar"  nannten.  Tatsächlich  kommt  der  Hobal  ^Gabbar" 
auch,  leicht  übertüncht,  als  „Engel  Gabri-el"  in  der  mohammeda- 
nisierten  Legende  der  Ka'aba  vor:  er  soll  den  schwarzen  Stein  „auf 
Geheiß  Allah's"  aus  dem  Himmel  gebracht  haben  (Tabari  trad,  Du- 
beux  180  ff. ;  Pococke  Spec.  bist.  Arab.  p.  121;  Burckhardt  I  217; 
Caussin  I  170  ff.)  Endlich  teilt  mir  Hommel  freundlichst  mit,  daß  er 
Spuren  der  Göttin  l^J  in  den  Ortsnamen  ,,'E§ion-gebei'"  =  ,,ad  Dia- 
nam"  bei  Ailat-'Akaba  und  Beth-gibrin  =  Batxoyaßpa  Ptolm.  V  löe 
=  Eleutheropolis  bei  Askalon  zu  finden  glaubt;  vgl.  dazu  den  Fluß 
Eleutheros  =  Nähr  al  Kabir  1  Makk.  11?;  Betogubri  in  der  Tabula 
Peutingeriana,  By]xa[Ya]ßpiv  Joseph,  bell.  jud.  IV8i.  Zur  Uebers.  Eleu- 
theropolis vgl.  Artemidor.  235:  "Apxs[jiis  'EXsüO-spa;  über  das  Vorkommen 
des  Titels  in  Kleinasien,  Myra  und  Sura  s.  Petersen-Luscban  Reisen  II 
61 21.  Ueber  Aphrodite  Eleutheria  in  Karlen  (Aphrodisias)  s.  Franz  GIG 
III  S.  1140  zu  4303  h*. 

*'*)  'Pea  MsydcXv)  im  Attishymnos  bei  Hippolyt  Philos.  V19  p.  168 
Schneidewin.  MVjxyjp  MsydcXYj  Pind.  fr.  95  f.;  Eurip.  Bakch.  78;  Diod. 
857;  Poet.  Lyr.  Graeci  ed.  Bergk  III  "^  725  115  a;  Liv.  2937,2;  8818,9; 
mater  magna  Idaea  Liv.  Söses;  CIL  VI  499;  in  Pergamon  Fränkel 
Inschr.  v.  Pergamon  86;  in  Pessinunt  Plut.  Mar.  17.  Ihre  Heiligtümer 
(in  Pergamon  Varro  ling.  Lat.  615)  und  Feste  (in  Rom  Varro  ibid. ;  Pru- 
dent.  c.  Symm.  I629  etc.)  heißen  Megalesia.  MsyäXyj  %-e6Q  (beachte  die 
Incongruenz!)  Pind.  fr.  96  oder  %-söz  Msyä^vj  (Strabo  X  3,12  p.  469) 
ist  immer  die  kleinasiatische  Göttin,  die  diese  Bezeichnung  ständiger 
führt,  als  alle  andern  Epiklesen.  Vgl.  die  Bezeichnung  der  sog.  Dea 
Syria  als  Megale  Meter  in  Delos  (bull.  corr.  hell.  VI  1882  502  Nr.  25 
vgl.  S.  488  f.).  Hesych.  s.  v.  [isyäXYj  %-zbc,  bezeichnet  so  die  Eponyme 
von  Lemnos.  MsyccXv)  "Apxsiiig  öspixia  auf  Mytilene  bull.  corr.  hell.  IV 
1880  p.  480;  vgl.  CIG  2963  {xfiQ  ixsydcXyjg  ^sag  'ApxsiJLidoc;  Artemis  Ms- 
yäXyj in  Ephesos.  Act.  Apost.  19  si  (vgl.  oben  Anm.  146  uad  25  über 
die  vataxoi  und  den  hl.  Meteorstein  der  Göttin);  'A.  [isyäXy)  in  einer 
Inschrift  von  den  Aciivai  (jetzt  Egirdir  Geul  und  Hoiran  Geul)  wo  die 
A.  Ai.[ivaia  verehrt  wurde  (Ramsay,  bist.  Geogi\  of  Asia  Minor  410). 
Vgl.  Xen.  Eph.  I  11:  „ö[iv6o)  xe  00t,  xyjv  Txäxptov  Yj[iiv  •S-söv,  xrjv  [leydXyjv 
'Ecpeaiwv  "Apisixtv".  Nach  Lajard,  recherches  sur  le  culte  etc.  de  Venus, 
Paris  1837  S.  107;  Claus,  de  Dianae  antiquiss.  ap.  Graec.  nat.,  Breslauer 
Diss.  1880  S.  10  u.  a.,  die  Arta-myti-Artamis  mit  dem  persischen,  in 
Eigennamen  so  häufigen  „Arta"  =  „groß"  zusammenbringen  und  noch 
nach  E.  Hoffmann,  Rhein.  Mus.  II  1897  p.  102,  der  'Apx-a[i-is  als  „Große 
Mutter"  deutet,  wäre  'Apxsjjng  MeyäXr)  geradezu  eine  Tautologie.  Ich 
zweifle  nicht  daran,   daß  die  iranischen  Kleinasiaten  den  Namen  der 


Kuba-Kybele.  177 

auch  an  sich  nicht  vereinzelten,  doch  sonst  niemals  mit  solchem 
Gewicht  ^'^)  auftretenden  Titel  aufs  beste  erklären.     Arabisch 

Göttin  als  „Arta  Mätä"  „große  Mutter"  verstanden,  sehe  aber  einst- 
weilen keine  Nötigung,  den  Namen  gegen  Robert,  Bazin,  v.  Wilanio- 
witz,  Kretschmer,  Studnizka,  Wolters  (vgl.  Gruppe  Hdb.  12672)  für 
ungriecliisch  zu  halten.  Ist  aber  Artaniita  oder  'Apxä[iLTa  wirklich 
barbarisch,  dann  ist  der  zweite  Bestandteil  Mita-MtSa^,  die  „ Quell "gott- 
heit  (vgl.  unten  Anm.  225  a  b  c  d)  der  arischen  Mitanni  oder  Mosker. 
Demeter  MsyäXr]  in  Smyrna  CIG  3194;  in  Megalopolis  Paus.  VIII  31, 1 
cf.  Kallimach.  hymn,  6121.  Tri  ['■^'^«.Xri  l3ei  den  vorgriechischen  Mysterien 
von  Phlya  Paus.  I  31  4.  Die  semitische  Urform  ist  bewahrt  bei  Demeter 
Kaßsipta  Paus.  IX  25, 5  bei  Theben  ;  Kaßsipw  Tochter  des  Proteus,  Fhere- 
kyd.  bei  Strabo  X  3, 21  S.  479.  In  der  alten  arabischen  Uebersetzung 
des  Neuen  Testaments  (cit.  Lenormant  136)  ist  bezeichnenderweise  im 
19.  Capitel  der  Apostelakten  " Apxs.\i.<.c,  immer  durch  „Zuharat"  (Venus- 
stern), MsYä?.vj  aber  durch  ,,kabirat"  wiedergegeben,  während  die  syri- 
schen u.  a.  Versionen  die  Worte  einfach  transscribieren. 

*'^)  Nichts  ist  bezeichnender  für  die  cultische  Bedeutung  des 
Namens  (der  „liöyaXsio-cYjg")  als  das  in  der  bekannten  Szene  Apostel- 
gesch.  1929  und  35  doppelt  bezeugte,  stundenlange  Geschrei  der  gläubigen 
Menge  in  Ephesus  „Msyä^vj  v]  "Apxeing  'Ecpsatwv".  Genau  derselbe  Be- 
kenntnisruf der  Msya^cüvuiiog  (Orph.  hymn.  36  2)  ist  aber  im  arabischen 
Heidentum  nachweisbar  u.  zw.  im  sog.  ,,tekbir"  (genau  =  der  griech. 
[j.£yaX£tö-cvjg  Act.  Apost.  1927),  dem  Stoßgebet  Allah  akbär  ,, Allah  ist 
groß"  ursprünglich  wohl  genauer  „der  Große",  das  als  Einleitung  zum 
Morgengebet  und  als  besonders  zauberkräftige  Interjection  jedem  Mos- 
lem ständig  auf  den  Lippen  schwebt.  Aus  den  —  bereits  von  Lenor- 
mant p.  182  erörterten  -  byzantinischen  Execrationsformeln  geht  näm- 
lich mit  Sicherheit  hervor,  daü  die  heidnische  Urform  des  Rufes  ,, Allah 
wa  Kubar"  =  ,, Allah  und  die  Große"  (wie  das  moderne  ,, Jesus  Maria!") 
gewesen  ist  (vgl.  Gonst.  Porphyrogen  a.  a.  O.  (oben  Anm.  172):  ,,avaiy(i)- 
vo'jo'.v  SV  xrj  7ipog£U}C^  aÜTWv  oiixtog  «'AXXä  ouä  Koußäp»,  6  soxiv  «6  Bsög  xat 
'AcppoSixvj».  Töv  yäp  ^•söv  «'AXXa»  7xposovop,äL;oauiv  xö  Se  «ouä»  dcvxc  xo'j  «%al» 
auvSeofiou  xtS-saaiv,  xai  xö  «xouß  äp  »  HaXoüaiv  xö  aaxpov,  xai  Xeyouaiv 
o'jxcog  (d.  h.  auch  in  der  gewöhnlichen  Rede)  «'AXXä  oü«  Koußap»."  Cedren 
und  Glykas  a.  a.  0.  haben  eine  erweiterte  Form  dieses  tekbir  „'AXXä 
"AXXä  oüdc  Koußäp  'AXXa."  Das  kann  willkürliche  Ausschmückung  der 
einfacheren  Form  durch  den  Byzantiner  sein.  Wahrscheinlicher  ist  mir, 
da  auch  andre  Spuren  auf  dumme  Wiedergabe  einer  ausführlicheren, 
nicht  verstandenen  Quelle  hinweisen,  (s.  unten  .über  das  Hermeneu- 
omenon  oeXy/vt];  das  ouä  soll  [Jisi^wv  bedeuten!)  daß  hier  Spuren  eines 
alten  längeren  Bekenntnisrufes  vorliegen,  den  das  mohammedanische 
Credo  „La  iläh  illä  wa  Mohammed  rasul  Allah"  verdrängt  hat,  und 
der  sehr  wohl  „La  iläh  illä  wa  Kubär  Allät"  oder  mit  etwas  stärkerer 
Aenderung  „Allah  akbär  wa  Kubar  Allät",  ,,der  Gott  ist  groß  und 
die  Große  ist  die  Göttin"  gelautet  haben  könnte ;  das  p-st^wv  würde 
sich  dann  als  Rest  einer  griechischen  Erläuterung  mit  dem  Sinn,  es  ist 
kein  Gott  größer  als  Allah  und  die  Kubär  gut  verstehen  lassen. 
Aber  auch  ganz  abgesehen  von  dieser  hypothetischen  Restitution  eines 
,, großen  tekbir"  genügt  die  moderne  Formel  an  und  für  sich  zum  Be- 
weis ,  daß  auch  der  Gatte  der  Al-lät  Hobal,  Kaus,  Kuzah,  Sa'ad  und 
wie  er  noch  geheißen  haben  mag,  den  Titel  „Gabbar"  oder  „Kabar" 
führte.  Da  kabir  in  den  minäischen  Inschriften  allgemeiner  Würdentitel 
der  Priester  ist  (Hommel,  Grundr.  235),    —    ebenso    wie   auf  der  Insel 

Philologus  LXVIII  (N.F.  XXII),  2.  12 


178  Robert  Eisler, 

kubrät  =  die  „Größte",  offenbar  also  die  in  der  phönizischen 
Theogonie  des  Sanchuniathon  bei  Philo  von  Byblos  ^'^)  er- 
wähnte   Astarte    MeyiaiTj  ^"),    dürfte   demgemäß   hinter    „K6- 

Paros,  die  einst  Kabarnis  hieß,  die  Demeterpriester  den  Titel  Kaßap-voi 
führten  (Steph.  Bjz.  s.  v.  Uäpoc)  —  so  darf  ohne  weiteres  angenom- 
men werden,  daß  auch  der  mit  dem  Vater  wesensgleiche  Gottsohn 
des  Paares  —  Dusares  (oben  Anm.  24)  der  „GroPe"  genannt  wurde. 
Das  entspricht  dann  aber  genau  der  kleinasiatischen  und  samothra- 
kischen  Dreiheit  von  Kabiren  'Agtovtspaog  und  'Agtoxäpaa  (Axt-hauer 
und  Axt-hauerin;  A.  B.  Cook)  and  Axieros  (beilige  Axt  schlechthin), 
Zeus  UoLTidq,  "Axxig  und  Kybele,  —  Aiva,  Turk-Tei'sbas  und  'Pö. 
Endlich  bemerke  ich,  daß  die  Verbindung  „Allah  wa  Kubar"  statt 
„Kabir  und  Kabarä"  oder  „Allah  und  Allät",  der  von  Usener  auf- 
gestellten Regel  für  die  Namensbildung  von  Götterpaaren  genau  ent- 
spricht. Die  Umformung  von  „Allah  wa  Kubar"  in  ,, Allah  akbar" 
scheint  ein  christliches  Gegenstück  in  dem  von  Paulus  gebrauchten 
Fluch  oder  Schwur  „Maranatha"  1.  Cor.  16 23,  Didache  lue  (als  Zu- 
lassungsformel zum  Abendmahl)  zu  haben.  Es  ist  klar,  daß  eine 
Schwurformel  nicht  von  den  Jüngern  desjenigen  neu  geschaflen  worden 
sein  wird,  der  alles  Schwören  so  streng  verwarf  (Matth.  5  ss— s?),  wenn 
auch  schon  Paulus  (2.  Kor.  1  s)  das  Gebot  seltsam  trotzig  übertritt. 
Der  Fluch  ist  vielmehr  heidnisch  und  durch  eine  typische  ,,Temura" 
(oben  Anm.  19)  mühsam  purifiziert.  Ps.-Lucian  nennt  die  große  Göttin 
von  Bambyke  eigentümlicherweise  Z^vjpislov  =  ,, Zeichen";  das  kann  nur 
ein  Geheimnamen  ''ilK  'atbi  =  „Zeichen"  für  Til?  =  'Abte,  die  Göttin 
sein,  hergestellt  durch  Veränderung  des  damals  schon  stimmlosen 
Anlautes.  Ich  schließe  daraus,  daß  dem  in  Verbindung  mit  dem  Bruder- 
kuß (1.  Cor.  V.  20  zu  22)  gebrauchten  Erkennungswort  KnK  pü  :=  „5 
xüpicg  -^iiwv  10  aYj[isIov"  (diese  Deutung  Klostermann,  Probl.  im  Apostel- 
text 1883  p.  220—46;  andre  mit  gleichem  Recht,  da  die  vox  mystica 
möglichst  vielseitig  sein  muß  „märanä  thä"  „komm,  unser  Herr!"  und 
.,märan  ethä"  , .unser  Herr  ist  gekommen")  einem  altheidnischen,  außer 
Gebrauch  gesetzten  liturgischen  Kn^'  'pü  =  ..unser  Herr  ist  xny"  = 
Attis  (Zur  Aussprache  üt^V  vgl.  "A*ag  %-bo^  bei  Philo  Bybl.  ap.  Steph. 
Byz.  s.  V.  'Pajjidv^as)  bzw.  „Herr  (Attis)  komm!"  (Formel  der  ^rizrioic, 
bzw.  iuLHA-zjaig)  und  „Unser  Herr  ist  gekommen"  (eyspais  bzw.  ävdcaxaais) 
entspricht. 

"0)  Fragm.  224. 

"')  Auf  den  Morgenstern  als  größtes  und  hellstes  Gestirn  bezogen, 
ist  MsytotTj  natürlich  mit  dem  absolut  gebrauchten  MeyäXvj  gleichwertig 
(vgl.  Aphrodite  ^le^dAYi  Foucart,  bull.  corr.  hell.  XHI  1889  156  ff.),  wozu 
ich  noch  bemerken  möchte,  daß  das  griechische  aaxryp  =  Stern  m.  E. 
ebenso  wie  «ißsXiaxog,  uupaiiig,  lax.äpa  und  laxia  ein  alter  Gottesnamen 
u.  zw.  ,,Istar"  der  „Stern"  schlechthin  (vgl.  Kaukkabtu  =  „Sternin"  da- 
zu den  lykischen  Gott  Kakasbos(-eus)  =  kakkab  =  „Stern")  sein  muß. 
Bei  Sanchuniathon  ist  die  MsylazT)  mit  Adad  ('AScüScg)  'gepaart,  der 
seinerseits  ganz  dem  Ninib-Ares-Pyramos,  dem  Gatten  der  Thisbe-Teisba 
entspricht,  ebenso  steht  orph.  fr.  130  (Proklos)  p.  205  f.  Abel  Tea  MeyiaxT] 
neben  Zsüs  Msyioxo?.  Adad-Ramman,  der  „Donnerer"  heißt  tatsächlich  in 
der  Inschrift  von  Et.  Tayibe  (Lidzbarsky  Hdb.  477),  wo  er  mit  Baal-"Samin 
(=  Oupavö?)  identifiziert  wird  „Zeug  [i  d  y  i  a  x  0  g  xepa'jviog".  Dazu  vgl. 
Zsü?  M^Ytoxog  in  der  Inschrift  von  Prymnessos,  Ramsay,  Athen. 
Mitth.  VII  1882  134  „Aiög  Aaßpaüvdou  xal  Aiög  lieyiaaxou"  (gef.  zwisch. 
Aphrodisias  und  Hierapolis,    R.  Chandler,  Marmora  Oxoniensia  II  Fig. 


Kuba-Kybele.  179 

:ipts"  ^'^)  dem  Culttitel  der  papliischen  Muttergöttin  und  dem 
Namen  der  etruskisclien  Göttin  „Cupra"  stecken.  Eine  solche 
Göttin  mit  dem  Titel  die  „Große''  kennen  auch  die  Babylonier 
—  abgesehen  von  der  bereits  besprochenen  Gubarra  —  in  ihrer 
„Gula",  sumerisch  Bau  ^'"),  der  Gattin  des  oben  mitTe-isba-s- 
Pyramos,  dem  Gatten  der  ©taßy]  identifizierten  Ninib  ^^°),  d.h. 


12)  und  Zeus  ^Msytaxog  Kepaüviog"  in  Palmyra  CIG  4501;  Apollon,  der 
ebenfalls  als  Paredros  der  kleinasiatischen  Göttin  erscheint,  heißt  Ms- 
yag  in  Lermenos  (Msyas  'AuöXXtov  AspiiVjvög  Journ.  Hell.  Stud.  1889 
p.  216).  Endlich  steht  ein  Kabir  (6e6$  Meyas)  neben  der  Eleutheria 
(=:  Gubar  vgl.  oben  Anm.  173)  in  einer  Inschrift  von  Kyaneai  Franz 
a.  a.  0.  Ob  der  Jupiter  0  p  t  i  m  u  s  Maxiraus  als  etruskisch  aufgefaßt 
und  mit  dem  Miyiaxog  verglichen  werden  kann,  bleibe  dahingestellt. 
,, Cupra"  soll  etruskisch  =  Bona  sein  (Wissowa  RE  s.  v.)  und  das  würde 
dann  eine  Brücke  vom  Maximus  zum  sonst  ganz  vereinzelten  Titel 
Optimus  bilden. 

>'^)  Kypros  als  Inselname  braucht  nicht  theophor  zu  sein,  da  ja 
Cypern  tatsächlich  die  „größte"  Insel  im  östlichen  Mittelmeer  ist.  Da- 
gegen stimmen  die  Cultformen  der  Göttin  (vgl.  oben  S.  139  84  über  das 
kyprische  Omphalosbaithyll)  genau  zu  dieser  Annahme.  Das  n  in 
,,Kypris"  statt  des  2  in  Kubrat  erklärt  sich  sehr  einfach  daraus,  daß 
das  kyprische  Alphabet  nur  mutae  enthält.  (Vgl.  unten  Anm.  200  über 
Hobal-Apollon.)  Endlich  erinnere  ich  daran,  daß  gerade  in  Kypros 
die  zahllosen  Tonfiguren  der  Göttin,  die  ihre  Brüste  preßt,  also  der 
Ku'ba-Anahita,  gefunden  worden  sind;  andre  kyprische  Terracotten 
zeigen  die  Göttin  als  xoupotpöcfog  mit  dem  Gottkind,  d.  h.  als  Beltu- 
muwallidät  iläni  (Göttergebärerin  =  griech.  ösöxoxoc:  translitt.  bei  Herodot 
MuXixxa;  vgl.  Anm.  184  a).  Eine  solche  Darstellung  der  säugenden  XaaßoO 
mit  dem  Dusareskind  aber  hat  Mohammed  —  nicht  ohne  Grund,  vgl.  o. 
S.  122 16  u.  Anm.  156  a  —  für  Isus  und  Marjam  gehalten  und  daher 
allein  von  allen  Wandgemälden  in  der  Ka'aba  durch  Darüberbreiten 
seiner  Hände  —  natürlich  ist  das  der  Ritus  der  Handauflegung,  vgl.  oben 
S.  142  ?3  über  das  Handanlegen  beim  Tawäf  u.  unten  Anm.  182  f.,  186  — 
vor  der  Zerstörung  gerettet.  (Burckhardt  I  221 ;  Caussin  I  198  :  Wüsten- 
feld, Gesch.  der  Stadt  Mekka  p.  105.)  Longperrier  hat  Bull.  arch.  de 
l'Athen.  franc.  1885  (planche  II  Nr.  3)  eine  solche  Terracotta  veröffentlicht, 
wo  die  Göttin  ihr  Kind  in  Gestalt  eines  Kälbchens  säugt.  Das  stimmt  zu 
ihrem  stiergestaltigen  Gatten  Zeus-Adad.  Wo  der  Vatergott  als  Widder 
(Kapvslog,  Ghanam  oder  hz'  vgl.  Anm.  60  u.  200)  galt,  ist  natürlich  der 
göttliche  Säugling  ötiö  xdXuq)  ^säg  ein  spccpoc;  (cf.  Hesych  'AScüviaxrj^  •  iptcpog). 

"^)  III  Rawl.  55,49  heißt  es,  daß  Ba-ü  beim  „Morgengrauen" 
verehrt  wird.  Dazu  vgl.  das  ,,tekbir"  als  Morgengebet  und  die  Tipogxu- 
vr^aig  xqj  npwl'vq)  «axpco  im  Kult  der  Ka'aba-Koußäp. 

180)  Bei  dem  Sanchunjathon  des  Philon  von  Byblos  FHG  III  500  ist 
Baoü  bibl.  Bohu  mit  dem  di'js\i.0(;  KoXnioc  gepaart.  Köl-pi-Jah  =  „Stimme 
des  Mundes  des  Jah"  (westsem.  Mondgott,  Hommel  178)  ist  natürlich 
Tukültu-Ninib  III  Rawl.  67,68,  der  „Nin-ib"  (Mundgott)  des  „Rufens" 
(vgl.  zu  kültu  Ninib  und  xoX-ut-ja  av£|iog"  die  H'  ^V  „Stimme  Jahve's" 
im  Meer  es  winde  Gen.  Ss  [1.  b'^ruah  jäm,  nicht  jöm  „Tageswind"] 
Zu  ävsp,os  vgl.  ferner  die  Punktierung  Hebbel  =  „Windhauch"  für 
Habhel-Hobal,  den  Gatten  der  Kaaba. 

12* 


180  Robert  Eisler, 

aber  in  der  babylonischen  Urform  der  kleinasiatischen  0taßyj  ^^^). 
Die  Bedeutung  dieser  babylonischen  Parallele  im  vorliegenden 
Zusammenhang  liegt  vor  allem  darin,  daß  diese  Göttin  Gula, 
die  „Große"  Su-anna  „Hand  des  Himmels"  genannt  wird, 
wozu  bereits  Hommel  ^^^)  das  Handsymbol  auf  den  Stelen  der 
punischen  Muttergöttin  Tanit^^^"^)  und  das  Handsymbol  im  mi- 
näischen  Tempel  des  Venussterns  (Ahtar)  verglichen  hat.  Es 
ist  klar,  daß  diese  Auffassung  der  Istar  als  „Hand"  ^^^)  einer- 


*®')  S.  oben  über  öiaßv)  —  kleinas.  Te-isba;  davon  die  boeotische 
Stadt  Öioßvj  mit  einem  blühenden  Aphroditencult  (Nonn.  13  62  „.  .  Otaßvjv 
slg  8p(iov  süxpiQpwva  ■a-aXaaaaiyjg  'AcfipoSixYjc;''). 

^*^)  Grundr.  S.  101.  Vgl.  dazu  das  heute  noch  in  der  ganzen  Le- 
vante so  beliebte,  von  den  Arabern  ,,Hand  der  Fatma"  —  der  Schwester 
des  Propheten!  —  genannte. Amulett.  Daneben  kommt  die  Bezeichnung 
„Hand  des  Propheten"  bei  den  Moslim,  „Hand  der  Macht"  „Hand  des 
Moses"  bei  den  sephardischen  Juden,  „Keph  Mirjam"  „Hand  der  Jung- 
frau Maria"  (vgl.  jedoch  über  Marjam  unten  Anm.  239)  bei  den 
syrischen  Christen  vor.  S.  oben  Anm.  60  über  die  goldene  Hand 
des  Hobal.  Vgl.  über  das  apotropäische  Handsymbol  H.  Clay 
Trumbull,  the  threshold  covenant,  New- York  1896  S.  74  ff. ;  Meissner, 
Zeitschr.  für  Assyr.  1894  S.  295  ff. ;  Berichte  der  sächs.  Gesellsch.  1855 
S.  28;  Andree,  ethnogr.  Parallellen  S.  37;  G.  A.  Wilken,  Bydr.  tot  d. 
Land  en  Volkenk.  v.  Nederl.  Indie  1866  S.  197—204. 

182  a^  Ein  schönes,  leicht  zugängliches  Beispiel  ist  die  Stele  CI  Sem. 
pl.  XLV  Nr.  183  in  der  Bibliotheque  Nationale  in  Paris.  Im  Giebel, 
SV  dixptp  xoö  oOpavoö  (Ps.  18 7  LXX)  sieht  man  die  „Hand  des  Himmels" 
darunter  der  flache  Boden  des  himmlischen  Söllers  (Ps.  104  3),  darunter 
die  aus  einzelnen  Steinen  zusammengefügte  Wölbung  des  Himmels 
(xa[iäpa,  unten  Anm.  190),  darunter  steht  die  Göttin,  Halbmond  und 
Vollmond  in  den  Händen.  Unter  der  Inschrift  folgt  der  konische 
Phallosstein,  darüber  im  quadratischen  Feld  des  x  ü  ß  o  g  der  ö  ijl  cp  a  - 
X  6  s ,  rechts  und  links  die  zwei  Tauben,  oder  sonstigen  Vögel,  durch 
deren  Flug  im  Mythus  die  Lage  des  Omphalos  bestimmt  wird. 

*^^)  Es  ist  überaus  wahrscheinlich,  daß  zwischen  den  Symbolen  der 
Hand  in  einer  gewissen  Haltung  und  dem  oben  besprochenen  der  Vulva 
ein  eben  so  enger  Zusammenhang  besteht,  wie  nach  Kaibels  richtiger 
Beobachtung  zwischen  Phallus  und  Dactylos.  Wenigstens  wird  das 
niemand  bestreiten,  der  sich  an  einen  in  Süditalien  sehr  beliebten  Ab- 
wehrgestus  gegen  den  bösen  Blick  erinnert.  Das  wirft  ein  merkwür- 
diges Licht  auf  den  Ursprung  der  Sitte,  beim  Gebet,  d.  h.  ursprünglich 
bei  der  Beschwörung,  die  Hände  bzw.  einen  Finger  oder  zwei  Pinger 
(sog.  latein.  und  griechischer  Segengestus)  zum  Himmel  zu  heben. 
(Ueber  die  Zauberkraft  des  ausgereckten  Fingers  vgl.  Goldzieher  in  der 
Nöldekefestschr.  320  ff.,  der  jedoch  den  Sinn  des  Zauberbrauchs  und 
deshalb  auch  den  Grund  der  fanatischen  islamischen  Opposition  dagegen 
nicht  erkannt  hat.)  Daß  ursprünglich  eine  symbolische  „Ostentatio 
pudendorum"  beabsichtigt  wird,  zeigt  sich  ziemlich  klar  durch  den 
Vergleich  der  bei  Goldzieher  321  mitgeteilten  Mahnung  des  Propheten: 
,,was  hebt  ihr  beim  Gebet  die  Hände,  wie  Schwänze  aufspringender 
Pferde?  Steht  ruhig  beim  Gebet!"  mit  der  Gottesanrufung  des  ein- 
fältigen Teminiten  (ibid.  328)  „Schämst  Du  Dich  denn  nicht  vor  mir, 


Kuba-Kybele.  181 

seits  den  Schlüssel  für  die  seltsame  klein  asiatische  Ueberlieferung 
bietet,  die  Rheia-Kybele  zur  Mutter  der  „Finger"  (AaxxuXot) 
zur  Te-isba  oder  „Herrin  der  Finger" '^^*)  macht,  andrerseits 
Ursprung  und  Bedeutung  des  pythagoreischen  Symbolum: 
., apxxoiTea?  xsips;"^^^*')  deutlich  erkennen  läßt:  die  Circum- 
polargestirne  der  beiden  Bären  gelten  als  die  Hände,  mit  denen 
die  am  Nabel  der  Welt  stehende  Göttin  der  geringelten  Pol- 
schlange, die  „Helike",  die  Weltachse  und  damit  das  All  in 
quirlende  Bewegung  versetzt  ^'^^'^).    Das  Ursprüngliche  ist  offen- 

wenn  ich  hier  nackt  vor  dir  stehe  und  Dich  anrufe,  o  Gott  der  Du 
doch  edel  bist"?,  mit  dem  Haditspruch  über  das  Händeaufheben:  „Gott 
ist  schamhaftig,  .  .  er  würde  sich  vor  seinem  Diener  schämen",  und 
mit  einer  bei  Lenormant  326  cit.  Stelle  des  Moses  Maimuni  (Epist.  ad 
proselyt.  relig. :  ,,Der  Cult  des  Ba'al  Peor  bestand  darin,  sich  vor  ihm 
auszukleiden  und  sich  mit  erhobenen  Schamteilen  zu  Boden  zu  werfen, 
in  der  Stellung,  die  die  Ismaeliten  heute  noch  beim  Gebet  einnehmen"), 
zu  der  noch  zu  bemerken  ist,  daß  Peor  „Kluft"  genau  =  griech.  Xäojia  ist 
und  demnach  der  heilige  Peorberg  Nu.  23  28  mit  den  oben  besprochenen 
Vulvabei-gen  und  -Steinen  in  eine  Reihe  gehört.  Den  Vorwurf  solcher 
Gebete  konnten  die  Moslems  den  Juden  leicht  zurückgeben  (Goldzieher 
321,  mohammed.  Opponent  gegen  das  Händeheben:  ,,tue  das  nicht,  so 
tun  nur  die  Juden"),  wie  das  Händeaufheben  Mosis  in  der  Amalekiter 
Schlacht  (Ex.  17  n  f.)  und  der  Segengestus  der  Kohanim  (Kahan  = 
ursprünglich  „Zauberer")  zur  Genüge  beweist.  Besonders  gut  erklärt 
sich  aus  diesem  Gesichtspunkte  die  goldene  Hand  Hobais,  des  Regen- 
gottes aus  der  beim  Regenzauber  —  (Istiska)  —  Ritus  angewandten 
Phrase  „Noch  hatte  er  seine  Hände  nicht  herabgelassen ,  als  es  schon 
regnete",  lieber  erotische  Gebetsgesten  („gyranastique  corporelle  pour 
produire  une  sorte  de  cohabitation  .  .  avec  les  spheres  superieures)  bei 
den  Chassidim  s.  Karppe,  Zohar  Paris  1901,  434 1. 

183a)  Vgl.  andrerseits  Jensen,  Keilinschr.  Bibl.  VI  1,  577:  „endlich 
ist  der  Vergleich  steiler  Berge  mit  „Fingern"  dem  Assyrer  geläufig". 
Also  sind  die  „Finger",  als  Kinder  der  „Hand"  auch  die  Berge  als 
Sprossen  der  „Mt^xyjp  'Opsirj".  Natürlich  kann  es  kein  Zufall  sein,  daß 
Paus.  VIII  34, 1  gerade  in  der  Nähe  der  nach  der  „Großen  Göttin" 
benannten  Stadt  Megalopolis  den  großen  steinernen  „Finger"  erwähnt. 

183b)  s.  Diels  FVS-'  I  p.  279  Z.  23. 

183c)  Die  Vorstellungen,  die  hier  anknüpfen,  lassen  sich  auf  be- 
schränktem Raum  nur  andeuten.  Die  Göttin  des  Weltenbergs  ist  die 
, axvjTiToöxog  xXsivoTo  tiöXo'j".  Das  hier  gemeinte  Polscepter  ist  von  dem 
„Spocxcüv  §Xixo£i5r;5"  bezw.  von  den  „Späxovtsg  oüo  e^ov-csg  auväcpeiav  itpbz 
äXXT^Xo'jc;"  (als  Sternbild  bei  BoU  257)  dem  sog.  herakleotischen  Knoten 
der  Rheia  (fr.  orph.  Nr.  41)  umringelt,  d.  h.  aber,  der  „ÖTidTixspog  ägwv" 
der  Welt  (Hippol.  ref.  IV  49  p.  1225  ff.)  ist  der  auf  phönizischen  Stelen 
so  häufige,  zuerst  auf  einer  altchaldäischen  Vase  abgebildete  „cadu- 
ceus"  des  Hermes.  Es  war  eine  der  genialsten,  damals  freilich  noch 
nicht  voll  zu  beweisenden  Intuitionen  Adalbert  Kuhn's  (Herabk.  des 
Feuers  238  ff.),  da  er  den  „caduceus"  als  den  mit  einem  Riemen  um- 
wundenen und  angetriebenen  (i  38.5  f.),  zum  Feuerreiben  benützten  Drill- 
bohrer (Sophocl.  fr.  649  bei  Hesych.)  zu  erklären  versuchte.  Kosmisch 
gedeutet  ist  diese  Himmelsachse  das  „xpünavov",  die  um  den  Pol  ge- 
ringelte „Helike"  der  Drillriemen,    so  daß   wirklich  auch  Kuhn's  Ver- 


282  Robert  Eisler, 

bar,    daß   dabei   nur   eine  Hand  der  Gottheit,  eben  die  baby- 
lonische   „Su-anna"    beschäftigt    und   in    dem   auch   sonst  als 


gleich  zwischen  dem  „caduceus"  und  dem  schlangenumringelten  Welt- 
banm    (oben    143  ige)    zurecht    besteht.      Dieses    kosmische    Trypanon 
steht    auf   der  Spitze   des  Weltberges  auf    und    entzündet,    durch    die 
„Hand   des  Himmels"    bewegt,    das    göttliche  Centralfeuer   der  'EoTia; 
—  der  Unterteil  dieses  archaischen  Feuerzeugs  aber  heißt  —  I  c  x  ä  p  a 
und  wurde  als  Vulva  gebildet  (Kuhn  45,  70,  100),    so  wie  das  xpünavov 
als  Phallus    (vgl.  semit.    /arial"  =  „Herd",    „'aral"  =  Phallus,    o.  B. 
145  102  b,  13462).  Tatsächlich  ist  die  Erbohrung  des  heiligen  Feuers,  die  im 
vedischen  Ritual   eine  solche  Rolle  spielt,    und    zur  Personification  des 
weiblichen  und   männlichen  Teiles   am  Feuerzeug  (Purüravas  und    Ur- 
vapi,  Kuhn  78  ff.)  geführt  hat,  im  römischen  Cult  der  S.  148  f.  mit  *'Ea- 
Xäpa  -'Eaxto   identifizierten  Vesta   erhalten    (vgl.  Fest.  ep.   106  s;    dazu 
über  das  alSoIov  ävöpög  auf  der  saxia  des  Tarquinins,  Dion.  Hai.  antiqq. 
Rom.  42;  Plnt.  fort.  Rom.  10 ;  Ovid  Fasti  Gesi;  Plin.  N.  H.  86204;  über 
den    „deus  Fascinus"  d.  h.  den  Phallos    im  Cult    der  Vestalinnen    vgl, 
Plin.  2839;    über  Hestia  und  Phallos,  Bötticher,   Tectonik  der  Hellenen 
1852,  IV  S.  334  f.),  während  andrerseits  (Gruppe  1551  n)  auf  Kunstdenk- 
mälern  eine  Gestalt   mit   dem  Caduceus  ueben  Kybele  steht  und  nach 
Jul.  or.  5  ]5.  179  c  Hermes  „'ETiaqjpöSaos",  d.  h.  der  auf  dem  weiblichen 
Reibholz  aufruhende  ityphallische ,    die  Kybeleia  Köre  vergewaltigende 
Gott   (Gruppe  1322 1)    den  Attismysten    die    Packeln    entzündet. 
(Vgl.  auch  Cicero,  deor.  nat.  23 eo,  wo  aus  der  Verbindung  der  Artemis 
und    des    Hermes   Eros,     der   brennende    geboren    wird).     Das   erklärt 
denn  auch  vollkommen  den  Namen  des  feuerbohrenden  Caduceusgottes. 
Die    auf   den  Gräbern   aufgestellten  Steine   heißen   hebr.    (1  Sam.  15 12 
Jes.  565    cf.  Encycl.  Bibl.  1951)  1'    „jad"    =    „Arm"    d.  h.    mit    einem 
wohlbekannten  semitischen  Euphemismus  „Phallos".    Gemeint  sind  also 
die  ^uch  in  Phrygien  so  häufigen  phallischen  Grabhermen  (vgl.  die 
phänischen    „Grenzsteine"    in    Babylon).      Nun    hat    Hommel    gezeigt 
(Grundr.  101),    daß  der  „Arm"  („jäd")    das  Symbol  des  Plauetengottes 
Nebo  ist,    den  die  Griechen  eben  mit  Hermes  übersetzten  und  der  als 
„Nusku"  der  F  0  u  e  r  bringer  ist.     Ibid.  p.  53  cf.  43  hat  Hommel  sehr 
glücklich  angenommen,  daß  in  den  hethitischen  Inschriften  das  Symbol 
des  „Armes"  dem  in  Pei'sonennamen  wie  „Putu-chirpa",  „Charpa-ruda" 
so  häufigen  theophoren  Be.standteil  „Chirpa",  „Charpa"  entspricht,  den 
die   lykischen  Inschriften  (Kretschmer,    Einl.  S.  361)    als  „'Epixa"-  oder 
„'Apjjia"  bieten.     Entgangen  ist  ihm  aber,  daß  dieses  'Ap|Jia  auch  in  dem 
persischen,    doppelt    theophoren     Eigennamen    Armaraithras     (Cumont 
TMCM    II   76  Nr.  5  00  82  Nr.  97)   vorkommt   und  von  Cumont  ganz 
richtig    durch    den  Hinweis    auf   iranisch  „arema"  (Zend)  „arma"  (alt- 
pers.)  =  deutsch  „Arm"    erklärt   worden    ist.     Hermes    ist    also    der 
Vollstrecker  des  Götterwillens,    er  i  s  t  der  „Arm"  und  ist  „Jäd",  der 
phallische    Feuerbohrer ,    Nebo ,    der    Feuer  gott    Nusku.       Sein 
Namen  „Arma"    gehört   einem    der    iranischen  Idiome  Kleinasiens    an, 
die   von    den  Griechen    übernommene  Aspiration    des  Anlauts    hat  die 
rauhe  Zunge  der  Hethiter   verschuldet.     Die  mit  ihm  gepaarte  Götter- 
mutter „Tasmet"    die  „Verhüllte"    (vgl.  „Weltenmantel"  178?;    ^saiia- 
Vesta)  die  Gattin  Nebo's,  ist  die  bezeichnenderweise  in  Delphi,    an  der 
Stätte  des  xäaiia-  und  Omphaloscultes  verehrte  Aphrodite  "Apiia  (Plut. 
erot.  23).     Es  ist  klar,    daß   diese  Epiklese  der  Göttin  die  Umnennung 
ihrer    heiligen    Gestirne,    der    „Bären"    in    einen    kleinen    und    großen 
„Wagen"  veranlaßt  hat.     (Vgl.  oben  S.  147 112.)     Hermes 'Apiiaisög  in 


Kuba-Kybele.  183 

Sternbild  der  Göttermutter  bezeugten  kleinen  Bären  verstirnt 
gedacht  wird^^^'^). 

Das  gewöhnliche  Symbol  der  semitischen  Muttergöttiu  ist 
bekanntlich  die  Taube,  izzp'.^xtpd  (perah  Istar  =  Istarvogel, 
Assmaun) ;  sie  findet  sich  demgemäß,  aus  Olivenholz  gefertigt, 
im  Heiligtum  der  Ka'aba,  in  deren  ganzem  Umkreis  die  Tauben 
bis  auf  den  heutigen  Tag  als  unverletzlich  gelten  ^^*),  in  Paphos 
im  Heiligtum  der  Kubrät,  in  Delos,  wo  die  Allät  unter  ihrem 
graecisierten  Namen  Ay]Tü)-Lätü,  lat,  Latona^^*'')  verehrt  wurde, 

Erythrä  (Dittenb.  Syll.  II '  370  =  II  -  600 142)  ist  secundär  (vgl.  Rekub- 
el?).  Die  tanagräischen  Orts-  bezw.  Personennamen  "Ap[ia  und  'Ap|j.a- 
T'va  (CIGS  831)  sind  natürlich  prähellenisch  und  auf  diese  Gottheit  zu 
beziehen.  Endlich  wird  man  Heraklit  fr.  90  („Umsatz  des  Alls  gegen 
das  Feuer  und  des  Feuers  gegen  das  All,  wie  des  Goldes  gegen 
Waren  und  der  Waren  gegen  Gold")  besser  vorstehen ,  wenn 
man  sich  an  die  Beziehung  des  Gentralfeuers  zum  Handels  gott 
Hermes  in  der  kleinasiatischen  Theologie  erinnert. 

183 d)  Vgl.  diese  astralmystische  Lehre  in  den  Zauberpapyri,  Wes- 
sely,  XII  Progr.  Franz- Josephs  Gymn.  Wien  1886  p.  IT)  Nr.  46  „S.px- 
■z  0  z  7]  T£xaY!i£vyj  knl  10  axpscp  siv  töv  tspöv  ucXov";  ders.  griech.  Zauber- 
pap.  Par.  Lond.  1888  p.  52—54  00  36.  B.  Denkschr.  d.  Wien.  Akad. 
phil.  bist.  Gl.  S.  76  ff.  fol.  14i275ff.:  „Apxxiy.  rj  uävta  71  0  i  0  i5  a  a  ,  Itii- 
y.aXo'jfiat  oe  -yjv  [j,  s  y  i  a  x  yj  v  56va|j,iv  xyjv  iv  äpx  xcp  utiö  y.upiou  9-eoö 
xexaY^evrjv  sui  xö3  axpscpetv  xpaxata  y^zipl  x6v  cspöv  uöXov  .  .  . 
äpxxs  %-zä.  .  .  ßaacXsüouaa  toXou  uavcpsYY^iS  ftp[J.wvi(x  xcöv  oXojv",  wozu  über 
^Harmonia"  und  Arma-Hermes  (vor.  Anm.)  Crusius  in  Roschers  ML  I 
1331 59  ff.  und  *  „Weltenmantel''  163  3  ff.,  zu  äpiiMvia  aber  die  orphische 
(Abel  fr.  3  p.  144)  und  sethianische  Lehre  „mpl  x^g  Mxpas"  (oben 
S.  138)  und  über  den  „ö  (x  cp  a  X  ö  5  ,  öKsp  laxlv  f;  äpiiwvia"  (Hippol.  ref. 
V.  20  p.  208  4  Duncker-Schneidewin)  zu  vergleichen  wären.  Den  Hin- 
weis auf  die  Zauberpapyri  verdanke  ich  Schultz. 

'ä*)  üeber  die  Tauben  bei  der  Ka'aba  vgl.  de  Sacy,  chrestom. 
arabe  Paris  1806  III  p.  76.  Die  Holztaube  ließ  Mohammed  nach  der 
Eroberung  von  Mekka  zerstören  (Pococke,  Spec.  p.  100;  Caussin  III 
231). 

i**a)  Zur  lateinischen  Form  Latona  vgl.  den  Stadtnamen  Latos  oder 
Lato  auf  Kreta  (Steph.  Byz.  s.  v.  Käp.apa;  Head,  bist.  numm.  399)  und 
den  Berg  Leto  oder  Latoreia  (=  Aaxcö  'Opsla)  bei  Ephesus  (Alkiphr.  bei 
Athen.  I  57  S.  31  d).  Hommel  (briefl.)  vermutet,  daß  nicht  die  nord- 
arabische, von  Robertson  Smith  (Americ.  Journ.  archeol.  III  1887  349 
und  bei  Ramsay,  bist.  Phryg.  I  90)  verglichene  n  0  r  d  arabische  Form  Al- 
lät zu  Leto  zu  stellen  ist,  sondern  die  südarabische  Form  Lät-an 
mit  dem  angehängten  Artikel.  Seine  sehr  einleuchtenden  Gründe 
sind,  daß  einerseits  auf  Delos  soeben  eine  bilingue  minäische  In- 
schrift zu  Tage  getreten  ist  (Clermont-Ganneau ,  Compte-Rendus  AIBL 
1908.  Bull.  d'Octobre  p.  546—560),  deren  griechischer  Text  zu  dem 
etwa  ins  6.  Jhdt.  fallenden  Original  um  130  v.  Chr.  hinzugefügt  ist, 
andrerseits  in  den  kleinasiatiscben  Orten  'ASpa[i'jxiov  (lydische  Insel; 
Stadt  in  der  Troas:  A.  bei  Astyra)  alte  Niederlassungen  der  südara- 
bischen, in  ganz  Vorderasien  mit  Weihrauch  handelnden  Hadramauter 
vorliegen.    Dazukommt,  daß  die  arabische  ,,Lät^  genau  wie  die  baby- 


184  Robert  Eisler, 

und  zwar  da  in  solchen  Massen,  daß  der  Verkauf  des  Tauben- 
mistes vom  Heiligtum  in  schriftlich  verrechnet  erscheint;  end- 
lich aber  auch  als  heiliges  Tier  der  „Fingerherrin"  und 
„Handgöttin"  Thisbe  ^®^)  in  Boeotien;  demgemäß  verbinden 
auch  schon  die  hethitischen  Bilderschriften  die  Ideogramme 
der  Göttermutter  (y  =  Vulva,  <]  [>  =  Brüste)  mit  dem  Tau- 
bensymbol ^^®). 

V.  ist  in  zwei  byzantinischen  Quellen  ^®')  die  Schreibung 

Ionische  „Beltu  muwallidät  iläni"  (MuXixxa  bei  Herodot),  wie  die  Kybele 
in  Kleinasien  und  ebendort  auch  die  Ayjtü)  (Perge  in  Pamphylien  ^iMvj-cpl 
ArjToi",  Dionysopolis  ^EoxapioxGi  MvjTpl  Ayjxoi"  Gruppe  1248,  Anm.  826,27) 
, Mutter  der  Götter"  heißt.  Vgl.  Wellhausen,  Keste^  32;  de  Vogue, 
Nab.  8  cxD  eis  II  (nabat.)  185  Z.  5  f.:  „K-n':?K  DK  nbxb"  („li-Ilät  'urum 
'ilähaje"  =  „der  Hat,  der  Mutter  der  Götter").  Leto 'Aiicpiysvsia 
Kurzf.  * 'AjicfLyta,  'Aticpicoa  (Gruppe  7434)  gehört  als  „Zwittergeburt "  zu 
der  unten  Anm.  201  besprochenen  Ai5uiif/vy;. 

»8=)  Vgl.  die  „taubenreiche"  Stadt  Thisbe  Ilias  B  502  ;  Ovid  Metam. 
11 300  Steph.  Byz.  e-aßTj  314 15. 

'*^)  Brüste  und  Taube  in  Inschriften  von  Karkemish  und  Bulgar- 
ma'den  und  auf  dem  Siegelcyl.  Rev.  Wai-d;  auf  einem  hethit.  Siegel 
aus  Ninive,  und  in  der  Inschrift  von  Karaburna  am  Halys.  Taube  und 
Dreieck  in  Dogbanlü;  die  Taube  allein  in  Niobe  und  Karabel;  sämt- 
liche Denkmäler  bespr.  bei  Hommel,  Grundr.  53.  Aus  der  Aequivalenz 
von  Hand-  und  Taubensymbol  erklärt  sich,  wieso  in  den  wahrscheinlich 
in  Syrien  concipierten  ältesten  Bibelillustrationen  —  den  sog.  Octa- 
teuchen  —  der  über  den  Waspern  schwebende  „Geist  Gottes"  Gen.  l: 
nicht  nach  der  gewöhnlichen  Vorstellung  als  Taube,  sondern  als  Hand 
dargestellt  ist.  Wenn  die  oben  vorausgesetzte  Erklärung  „Taube"  für 
„torah"  und  „tertu"  (turtur)  richtig  ist,  dann  gehört  auch  das  gewöhn- 
liche Ideogramm  für  tertu  ,,id-agga"  =  „Armausstreckung"  in  diesen 
Zusammenhang;  jedenfalls  aber  die  apostolische  G  e  i  s  t  e  s  mitteilung 
durch  Hand  auflegen,  wozu  der,  Ex.  2841  29  9  Lev.  21 10  (Ez.  43  le  wird 
der  Ausdruck  sogar  von  der  Weihe  des  Altars  gebraucht)  Rieht.  17  5 
für  die  Priesterweihe  gebrauchte  Ausdruck  T  S'7b  ,,die  Hand  füllen" 
41  assyr.  „kätü  mullü"  Delitzsch  Hwb.  409  p  zu  vergleichen  wäre. 
Welches  Bild  zugrundeliegt,  sieht  man  vielleicht  an  der  heute  noch 
in  der  katholischen  Meßliturgie  gebräuchlichen  Bezeichnung  des  ,, Spi- 
ritus sanctus '  als  ,,digitus  dexterae  patris''.  Endlich  glaube  ich, 
daß  die  vielumstrittene  biblische  Bezeichnung  ,,Kaphtor"  für  die  Ur- 
heimat der  Philister  (gewöhnlich  auf  Kreta  gedeutet;  W.  M.  Müller, 
ohne  Erklärung  für  das  auslautende  r,  wie  T.  K.  Gheyne  richtig  be- 
merkt, =  Kefto  =  Cilicien  der  ägyptischen  Quellen)  einfach  ein  zwei- 
gliedriger Namen  (vgl.  Esmun-Astart,  Sid-Tanit,  Sid-Melkart,  Esmun- 
melkart  etc.)  der  Großen  Göttin  mit  der  Bedeutung  „Hand  -f-  Taube", 
„Kaph  -)-  Tor"  ist.  Das  stimmt  sowohl  zu  der  Schreibung  des  Namens, 
als  auch  zum  gleichzeitigen  Vorkommen  der  nackten  Taubengöttin  und 
der  von  Milani  „una  bibbia  prebabbelica"  Studi  religiosi ,  rivista  cri- 
tica  etc.  VI  1906  fasc.  I  mit  so  viel  Phantasie  behandelten  „dactyli- 
schen"  Symbole  in  der  minoischen  Culturschicht.  Endlich  sind  natür- 
lich die  B'ne  Jämin  die  „Söhne"  =  „Anbeter  der  (rechten)  Hand". 

18')  Niketas  Choniatas,  Migne  PG  vol.  CXL  c.  105  hat  irrtümlich, 
wohl   durch    flüchtiges  Exzerpieren  einer   alle  oder  mehrere  Varianten 


Kuba-Kybele.  185 

X<x[idp  überliefert,  zu  der  schon  Blochet  a.  a.  0.  richtig  Ijamar 
=  Mond  verglichen  hat.  Tatsächlich  haben  auch  Cedren  und 
Glykas  in  ihren  confusen  Auszügen  ^^^)  das  zugehörige  Her- 
meneuomenou  ^jsXyjvyj.  Zu  kaniar  =  Mond  ^^^)  wäre  aber  *  ka- 
mara  eine  vollkommen  regelmäßige  semitische  Femininbil- 
dung, etwa  wie  röm.  Jana  zu  Janus,  griech.  MY]vr]  zu  MyjV. 
Kann  es  da  nach  allem  bisher  Besprochenen  als  Zufall  be- 
trachtet werden,  wenn  im  Griechischen  und  Lateinischen  die 
Lehnwörter  xa[jiapa-camera  ^^")  in  der  Bedeutung  „Wölbung" 
„gewölbter  Raum",  also  als  genaue  Synonyme  zu*Kubba,  der 
Gattin    bzw.    dem    Haus    des   Mondgottes  überliefert  sind  ^^'). 

des  Namens  enthaltenden  Quelle,  die  Version  Me-xälri  zu  der  hier  erst  zu 
besprechenden  Form  Xaiiäp  gestellt.  Daß  kein  bloßer  Schreibfehler  vor- 
liegt, ergibt  sich  aus  Bartholom.  Edess.  Confut.  Hagaren.  p.  306:  ,,Sv 
ol  "Apaßeg  Soxi|j.ä^o'jaLv  tö  ecogcpöpov  dcaxpov  Zeßcö,  'AcppoSiTiQV,  Kpövov  y.al 
X  a  [1  ä  p  XsYSTs,"  dessen  Bericht  für  sich  genommen  allerdings  noch 
konfuser  ist.  Kpövov  bezieht  sich  natürlich  auf  Hobal  (oben  Anm.  60); 
Zsßtü  dagegen  ist  offenbar  zu  XiD  (davon  Sabier,  Sabäer  =  Araber)  zu 
stellen;  s.  dazu  die  thronende  Göttin  Siduri  Sabitu  im  Gilgamesepos  (= 
Sternbild  der  Cassiopea,  ßaaiXiooa  im  0-pdvou  xa9-s^o|isvyj  [Teukros,  Boll. 
107]  =  6povLY],  die  Tochter  des  B-^Xog  und  Mutter  des  "A  p  a  ß  o  g  ,  bei 
Hesiod  fr.  45  Rz.  Großmutter  der  Kassiopea;  zur  weisen  rätselkundigen 

„Königin  von  Saba"  vgl.  Siduri,  die  Surpu  T.  II  Z.  172  „Istar  der  Weis- 
heit" genannt  wird),  den  babylonischen  Götterberg  Säbu  (Berg  des  Bei 
II  Rawl.  51  Z.  1  und  den  Stein  namens  Säbu  (I  Rawl.  44,  83,  vielleicht 

=  Sebö  Exod.  28 19,  wie  das  sabäische  K-D  in  der  Bibel  zu  ü^t'  wird, 
beide  Formen  nebeneinander  Ps.  72  lo).  Der  Zusammenhang  dieser  Säbu 
mit  der  ,, Großen  Göttin"  scheint  mir  durch  die  Namen  E-sa-be  (Bit- 
Sa-bi-i)  für  den  babylonischen  Tempel  der  ,,Gula"  (Hommel  Grundr. 
313,  8820  gesichert. 

*''^)  Cedren.  a.  a.  0.  (vgl.  oben  Anm  172.):  .  .  „xö  Ss  Kooßdp  Msyä^y] 
TjToi  0  £  X  r/  V  y)  y.ai  'Acf  poSitYj" ;  Glykas  a.  a.  0. :  ,,.  .  ■fj  MsfäXir],  yjxoi 
osXi^vY),  'ATpod^xv)  ^sög".  Dazu  vgl.  man  die  persische  lieber] ieferung 
(Dabistan  I  p.  49  der  englischen  Uebersetz.),  daß  sich  in  Mekka  eine 
prachtvolle  Statue  der  Mondgöttin  (Mab)  befunden  habe,  weshalb 
der  Ort  Mah-gah  (volksetyrn.  für  Mekka)  ,,Ort  des  Mondes"  hieß. 

189-)  Yg]_  jjj  kleinasiatischen  Inschriften  (Münzen  von  Nysa)  Mtjv 
Kajiapsix-^g,  den  schon  Röscher,  Selene  129  zu  semit.  kamar  gestellt  hat. 
Sein  Cult  in  Gestalt  eines  Steinfetischs  ergibt  sich  aus  der  parallelen 
Bezeichnung  Myjv  IIcxpastxT]!;  in  Gordos,  Lebas,  Asie  mineure  678. 

"")  Diese  bautechnischen  Bezeichnungen  sind  offenbar  zugleich  mit 
dem  Wölbungsbau  in  hellenistischer  Zeit  in  griechischen,  und  durch 
die  Etrnsker  in  den  lateinischen  Sprachgebrauch  übergegangen.  Vgl. 
gegen  die  von  Cnrtius,  Etym,  °  140  vorgeschlagene  griechische  Etymo- 
logie von  Kapidpa  E.  Assmann  in  Pauly-Wissowa  RE  s.  v.  camarae  und 
die  dort  zusammengestellten  Belege  für  die  Anwendung  des  Wortes 
xaixdpat  auf  echt  babylonische  überwölbte  Dinge.  (Herod.  I  199;  Ai-rian, 
anab.  VIT  25;  Diod.II  9;  XVIII  26;  Strabo  XVI  738.) 

^^*)  Vgl.  die  beiden  Ausdrücke  nebeneinander  bei  Hesycb: 
„xouTfi^l'ov  xajidpa  i}  I:t:1  xcov  djxagwv  Y^^op-evT]".    Wer   in  Kleinasien 


186  Robert  Eisler, 

Oder  wird  man  nicht  doch  viehnehr  *  kamara  =  „Mondin"  i^^j? 
Mondhaus,  Wölbung  (des  Himmels)  ^^^*),  genau  so  wie  say^dpa, 
taxia ,  uupa[xts ,  ößsXö?  als  ursprünglichen  westsemitischen 
Gottesnamen  zu  führen  haben?  Die  Antwort  auf  diese  Frage 
gibt  m.  E.  mit  aller  wünschenswerten  Schlagkraft  die  Doppel- 
benennung einer  kretischen  Stadt  mit  den  nach  dieser  Voraus- 
setzung gleichwertigen  Namen  „Lato"  und  „ Kamara ''^^^''). 

VI.  Jedenfalls  erscheint,  genau  so,  wie  sich  im  Innern  der 
Eaaba  der  heilige  Stein  des  Mondgottes  Hobal  befand  —  der 
nach  dem  oben  gesagten  als  Gatte  der  „  schwellbrüstigen " 
Xaaßoü  gegolten  haben  muß  —  die  kleinasiatische,  in  der 
Kunst  ^^^)  häufig  mit  Mondsymbolen  dargestellte  Göttin  „mit 
den  reifen  Brüsten"  Anahita  ^^*)  (==  Ku'ba,  Kybele  =  Mah, 
pers.  „Mond")  gepaart  mit  dem  Mondgott  Myjv  Tca[jioö. 

gereist  ist,  kennt  diese  heute  noch  dort  gebräuchlichen  Wagen  mit  dem 
festen  halbtonnenförmigen  Dach.  Nebenbei  bemerkt,  lebt  das  Wort 
xouTirjl'ov  möglicherweise  in  der  sicher  nicht  von  „couper "  abzuleitenden 
französischen  Benennung  "Coupe"  für  einen  geschlossenen  Wagen  fort. 

i92j  Vgl.  die  augenscheinlich  von  "ibp  abgeleiteten  punischen  Orts- 
namen „Camerata"  in  Numidien,  „Camarata"  in  Mauretanien  „Cama- 
rica"  in  Hispanien,  die  arabische  Insel  „Camari"  im  roten  Meer,  sowie 
die  bei  Steph.  Byz.  nach  Hekatäus  erwähnten  Kajjiapyjvoi.  Dazu  Kama- 
rina  in  Epirus,  Kamarina  in  Sizilien,  Kamara  und  Kamiros  auf  Kreta, 
Kamiros  auf  Rhodos  und  —  wohl  durch  etruskische  Vermittlung  (vgl. 
„Camars",  den  alten  Namen  für  Clusium)  —  Cameria  in  Latium,  und 
Camerinum  in  Umbrien.     (Belege  bei  Pauly-Wissowa  RE.) 

i92aj  Hie2u  vgl.  man  die  Kosmogramme  des  Mar  Aba  von  Nisibis 
bei  Cosmas  Indikopleustes,  reproduc.  in  den  Ausgaben  der  XP''^'^-  "^oTioy^. 
von  Montfaucon,  Migne  und  in  der  engl.  Uebers.  von  Mc  Crindle  Lon- 
don 1897  mit  der  zugehörigen  Beschreibung  Montf.  S.  186  f.,  wonach 
die  Welt  in  zwei  Abteilungen  zerfällt,  den  „xöo[iog  oSxog"  („'olam  hase" 
bei  den  Rabbinen)  und  den  v.öa\ioq,  [izX/mw  ('olam  habah),  die  ßaaiXsta 
Tö)v  oupav(7)v,  bab.  sarrut  same,  das  Himmelreich  im  Gegensatz  zum  Erd- 
kreis. Die  irdische  Welt  hat  die  Form  eines  x  ü  ß  o  g  ,  die  himmlische 
die  eines  Tonnengewölbes  (xa|ji5cpa).  K'jßo?  und  xa[j.äpa  zusammen 
bilden  das  kosmische  Haus  des  Weltalls.  Das  nähere  hiezu  *  Welten- 
mantel Cap.  IV  „Bau  des  Himmelszeltes". 

i«2b)  Steph.  Byz.  s.  v.  Ka|jiäpa  3512. 

'^3)  Archaeol.  epigraph.  Mitt.  aus  Oesterr.-Ung.  I  1877,  14;  Röscher, 
Selene  und  Verwandtes  125.  Der  scheinbare  Widerspruch  zwischen 
der  Deutung  auf  den  Morgenstern,  die  übrigens  in  Kleinasien  nicht 
merkbar  ist,  und  der  Auflassung  der  K.  als  Mondgöttin  (vgl.  o.  Anm. 
182  a  über  den  Mond  als  Attribut  der  „Hand"göttin  in  Karthago)  be- 
weist nur,  daß  der  astrale  Firniss  erst  nachträglich  über  diese  Gestalt 
gebreitet  worden  ist  und  findet  überdies  auch  entsprechende  Analogien 
bei  Hobal  (vgl.  oben  Anm.  60).  Halbmond  und  Stern  ist  das  alte 
Feldzeichen  des  Islam  und  infolge  einer  historischen  Coincidenz  auch 
schon  das  Wappen  des  griechischen  Byzanz  (s.  Münzen). 

^^*)  Nur  nebenbei  bemerke  ich,  daß  die  nun  nachgewiesene  Identität 
der    Namen    ka'aba  {—  Kybele)    und    Anahita    die  bisherige  Annahme 


Kuba-Kybele.  187 

Diese  bisher  m.  W.  unerklärte  Epiklese  Tta|jioö  gehört  nun 
höchst  wahrscheinlich  zu  der  1/  Dxn  und  ihren  Derivaten  töäm, 
teüm,  arab.  =  taw'am  „Zwilling",  wozu  Böklen  in  seinem, 
sonst  fast  unbrauchbaren,  mondsüchtigen  Buch  „Adam  und 
Qain"  ^^^)  vielleicht  mit  Recht  bab.  Tiämät  (=:  Zwitterweib?) 
gestellt  hat^^'^).  Jedenfalls  entspräche  Mrjv  Ttafxoö  bei  dieser 
Erklärung  genau  dem  bab.  Sin-ellame  =  „Mond  als  Zwilling", 
genauer  „Zwitter"  '^').  Gräzisiert  müßte  das  semitische  Ttafioö 


von  einer  Neueinführung  des  Anaitiscultes  durch  Artaxerxes  II  voll- 
kommen gegenstandslos  macht.  Anahita  und  Kybele  sind  Synonyma, 
wahrscheinlich  von  ganz  gleichem  Alter. 

»95)  Mythol.  Bibl.  I  2.13.  p.  11  Leipzig  1907. 

*8*)  Es  fällt  mir  nicht  ein,  die  gebräuchliche  Zusammenstellung 
von  „Tiamät"  und  bibl.  „Tehöm"  beiseite  zu  schieben.  Aber  als  No- 
tarikon  ist  die  Parallele  mit  cnn  brauchbar.  Ganz  ähnlich  bieten  die 
Onomastica  sacra  für  den  Namen  „öwiiöcs"  (s.  unten  Anm.  73a)  sowohl 
die  Uebersetzung  5i§u|jLos  als  auch  die  Deutung  aßöaaog,  äxaxäXyjnxog 
ßa&üxYjg  (=  hebr.  Dlnri  „tehöm",  pal.-syr.  tümä). 

1«')  KAT'*  .363.     Vgl.  o.  Anm.  152  „Salm"  u.  moabitisch  Kemos  aus 
Aku-masu  =  „Aku  der  Zwillingsgott",  Hommel  117  i.     „Aku",  Weiter- 
bildung von  Ai  =  Mond  ibid.  233  Nachtr.  zu  S.  96  3.     (Davon  vielleicht 
der  phönizische  Stadtnamen  Akkön  1317).     Nach  Lekach  Tob  zu  Num.  21 
29  ist  dieser  Kemos  (d.  h.  aber  Aku  masu  =  Myjv  AiSuiiog)   tatsächlich 
identisch  mit  dem  Steinfetisch  in  der  Ka'aba.     Die  Doppelgeschlechtig- 
keit des  Mondes  ist  auch  sonst  mehrfach  bezeugt.     Vgl.  die  Stellen  bei 
Böklen  a.  a.  0.     Ergänzend    bemerke    ich,   daß    der   homonyme   Name 
,Agü"  den    Mond    als  „Göttertiara"  oder  „Himmelsmütze"    bezeichnet. 
Ein  häufiges  Synomym  von  „Agü"  ist  „mudrü"  (graeco-eranisch   [i(xpa). 
die  hieratische  Bezeichnung  des  Götterornats  und  heiligen  Kleides  über- 
haupt, von  der  der  Göttername  „Mithras"  abgeleitet  ist     (cf.  *  „Welten- 
mantel" S.  176  ff.).     Brünnow  131U  bietet  aber  als  Synonym  für  (mudrü)- 
musir  den  Ausdruck  „karrü".    Das  erklärt  seinerseits    die    häufige    Be- 
zeichnung My]v  Kapou  in  kleinasiatischen  Inschriften.     Was  die  andern, 
samt  den  Belegstellen  bei  Gruppe  1535  o  gesammelten  Namen  des  Mr/v 
anlangt,  so  ist  Myjv  <I>apv-äxou  eine  iranisierte,     hybride  Nebenform   zu 
Agü(<l>apv  =  pers.hvarenö,  „Glanz",  „Nimbus"  vgl.  DarmesteterbeiCumont 
TMCM  I  233i).     My]v  MoTuXetxYjs  (vgl.  Mutallu  in  Gurgum  und  Comma- 
gene,  Motäla,  Motlis  MoxäXYjg  in  Lycien,  Karlen,  Kilikien,  wozu  Hommel 
Gr.  65  etrusk.  Matulna,  lat.  Metellus  vergleicht)  erklärt  sich  durch  den 
Vergleich  mit  dem  bei  Philo  von  Byblos    (fr.  2  24)    erwähnten   phönizi- 
schen  Totengott  nitt  Möt(hebr.  niö  =  „Tod"  und  „Totenland"  wie  Hades). 
Davon  ist  reguläre  kleinas.  Deminutivform  Motylos,    der    Gründer    von 
Samylia  in  Kariens,    der  Paris    und  Helena  bewirtet  (Stejib.  Byz.  s.  v. 
2a[i»JXt,a)  —  natürlich  in  seiner  Eigenschaft  als  „freundlicher  Wirt"  = 
Hades   HoXuSixxvjs.     Von   Motylos   ist   dann  Motyleites  wie  KaiJiapsiTr]? 
von  kamar   gebildet.      Myjv    KauaXvjvo?   (Stadt  KaudXa  in  Großphrygien 
vgl.  das  moderne  Kavalla  in  Macedonien)  dürfte    zu   caballus  ,, Pferd" 
gehören   und    phrygische     Benennung    des  reitenden,  gerade  in  Klein- 
asien bezeugten  Mondgottes  sein.     Mvjv  'Aay.aY]v6;   in  Aphrodisias,    Eu- 
meneia  oder  'Aaxatog  in  Pisidien  entspricht  dem    phönizischen    Götter- 
namen Eskün  mcü    der  Piräusinschrift  CIS  118.     Myjv  Tüpawog  ist  der 


188  Robert  Eisler, 

also  A''5u|xo5  bzw.  A'.SujAaios  heißen  ^^^),  ein  Göttername,  der  klein- 
asiatisch,  und  thrakisch  tatsächlich  durch  Ortsnamen  ^^^)  belegt 
und  hauptsächlich  als  Culttitel  des  Apollon  -'^°)  beim  Heiligtum 


Mondgott  mit  dem  oben  besprochenen  Titel  Gabbar  :=  „Gewaltmensch, 
Riese".  Myjv  'Apxalog  ist  Arku(kananäisch  Arku-Reseph  in  der  Inschrift 
der  Hadastatue  von  SendjirU  Z.  11,  vgl.  die  phöniz.  Stadt  'Arka  und 
den  Stamm  der  "pirTi  Genes.  10  7).  Da  die  Bewohner  von  Arka  Genes. 
10  Sinim  genannt  werden,  das  ebensowenig  wie  Sin  (Exod.  16 1)  und 
Sin-ai  von  babyl.  Sin  =  Mond  getrennt  werden  kann,  ist  auch  Arku 
gewiß  ein  Mondgott.  Myjv  'A^ioxitjvös  möchte  ich  zu  'A^a  {',v  arab.  „'anz" 
bab.  enzu  „Ziege"  (vgl.  Steph.  Byz.  s.  v.  "A^coxog)  stellen  und  auf  die 
Abbildung  des  auf  dem  Bock  reitenden  Mrjv  von  Magnesia  (Perdrizet, 
Bull.  corr.  hell.  XX  1896  82  f.)  verweisen,  zumal  babyl.  EN-ZÜ  ein  be- 
kanntes Ideogramm  für  den  Mondgott  Sin  ist.  Agiöxxyjvog  neben  "A^tdtyjvos 
wie  A'jgyjoia  neben  'A^saia  dürfte  sich  volksetymologisch  an  die  mit  "A^iog 
zusammengesetzten  Namen  der  Doppel axtgötter  (oben  Anm.  27)  anlehnen. 

iP8^  Vgl.  „0ü)[jiäs  6  X£Y&[jL£vog  AiSuiiog"  (Ev.  Job.  11  te,  20  24,  21  2,  14  6, 
20  26).  Die  Nestorianer-  vocalisieren  diesen  sicher  theophoren  Namen 
(lat.  Geminus)  The'ömä  wie  thg'ämä  „Zwilling".  Vgl  Eb.  Nestle,  Encycl. 
Bibl.  5058°.  Synonym  mit  Didymos  ist  Amphion  =  ''A[icpLY^'''''iS  „Zwil- 
ling"; (Fick,  vorgr.  ON  141)  der  Gemahl  der  Niobe,  wie  die  Kybele  am 
Sipylos  und  im  vorgriechischen  Boeotien  geheißen  haben  muß.  Vgl. 
oben  Anm.  184  a  über  L  e  t  ö   Amphigeneia. 

"^)  Belege  bei  Gruppe  Hdb.  1250  2,3.  Vgl.  das  thessalische  Didyma 
mit  dem  Dindymon  bei  Kyzikos  und  bei  Pessinunt  und  dem  milesischen 
Ai§u|xaIov. 

-*"')  Bei  den  Griechen  hat  der  Apollonbeiname  AiSi)[ios  oder  AtSuiiaio; 
zweifellos  keine  Beziehung  mehr  auf  eine  Zweigeschlechtigkeit  des 
Gottes,  —  wenn  auch  in  Sparta  ein  „doppelter"  janusartiger  Apollon 
mit  vier  Ohren,  d.  h.  zwei  Gesichter,  und  vier  Händen,  d.  h.  zwei  Vorder- 
seiten verehrt  wurde  (oben  S.  150  123)  —  sondern  bezieht  sich  auf  Apol- 
lon als  Zwillingsbruder  der  Artemis  (Gruppe  287  s).  Auch  das  braucht 
nicht  ohne  Anhaltspunkt  in  einer  orientalischen  Kosmogonie  zu  sein. 
Das  ägyptische  Tierkreisbild  der  Zwillinge,  ebenso  eine  Reihe  ma. 
abendländischer  Darstellungen,  aufgezählt  bei  Boll,  Sphära  285  (dazu 
als  ältestes  Beispiel  die  Miniatur  im  Missale  Milstatense  s.  XII  bei  Eisler, 
Beschr.  Verz.  der  illum.  ma.  Bss.  von  Kärnten,  Leipzig  1907.  S.  41  Fig. 
13)  zeigen  als  Zwillinge  ein  Paar  verschiedenen  Geschlechts  und 
nach  einer  von  Hommel  vorgetragenen  Interpretation  des  Nazimarattas- 
kudurru  würde  auch  dort  die  zum  Zwilliwgssymbol  gehörige  Inschrift 
eine  weibliche  Gottheit  nennen.  Uebrigens  hat  auch  Ninib-Mars, 
der  als  Teisbas  mit  der  kleinasiatischen  Göttin  gepaart  erscheint,  als 
■'"  MPisu  =  Zwillingsgott  gegolten  (Hommel  3692).  Meines  Freundes 
Dr.  Wolfgang  Schultz'  Hypothesen  über  eine  Beziehung  des  Kulttitels 
Didymaios  auf  das  Symbol  des  Ziegenfisches  (Memnon  11  S.  6  ff.)  kann 
ich  mir  nicht  zu  eigen  machen.  Solche  Dinge  lassen  sich  einfach 
nicht  durch  Addition  der  Zeugnisse  erledigen.  Weil  es  einen  Apollon 
Didymaios.  einen  A.  Tragios  (vgl.  oben  Anm.  197  über  Mv;v  'A^ioxvög)  und 
einen  A.  Delphinios  gibt,  ist  noch  kein  Anlaß,  an  einen  Ziegenfisch- 
zwitter-Apollon  zu  denken,  von  dem  nirgends  ein  Sterbenswort  ver- 
lautet. Schultz'  Haupttext  —  auch  der  bezieht  sich  weder  auf  den 
Ziegenfisch  noch  auf  Apollon  —  ein  Porphyriusfragment  aus  einer 
Oxforder  Hs.,  ed.  Bentley  opusc.  philol.  Leipzig  1781  p.  494  (epist.  ad 
Miliin.)  ist  dem  Verfasser  leider  nur  als  Citat  bei  Migne  ohne  Quellen- 


Kuba-Kybele.  189 

der  Branchiden  in  Jeronda  bekannt  ist.     Als  Gattin   des  Mijv 

angäbe  in  sinnstörend  entstellter  Form  vorgelegen,  worauf  ich  anderswo 
zurückkommen  werde.  Dagegen  scheint  es  mir  an  der  Zeit,  nicht  zu- 
letzt wegen  der  zweifellosen  Identität  des  Didymaios  (vgl.  oben  Anm.  197) 
mit  Mi^v  Ttaiioö,  dem  Paredros  der  Kuba  —  zur  Ulnaren  Urbedeutung  vgl. 
Apollon  Noumenios,  Hebdomaios,  Eikadios  und  das  bei  Plutarch  Dion. 
23  erwähnte  ApoUonfest  am  15.  eines  Monats  —  den  unerklärten,  von 
den  Griechen  sicher  aus  Kleinasien  (vgl.  von  Wilamowitz  „Apollon" 
im  „Hermes"  1903,  575 — 586;  Hommel,  Grundr.  582,  65  2)  übernom- 
menen Namen  des  Apoll-on  mit  dem  westsemitischen  Hobal,  Abal  zu- 
sammenzustellen. Versucht  man  nämlich,  die  griechische  Deminutiv- 
bildung 'OßsXiaxog,  die,  wenn  anders  die  oben  Anm.  63  vorgebrachte  Zu- 
sammenstellung mit  Hobal-Abal  die  Probe  besteht,  nur  in  Kleinnsien 
entstanden  sein  kann,  miti-ein  semitischen  Sprachmitteln  nachzubilden, 
so  ergiebt  sich  genau  das  für  „Apollon"  vorauszusetzende  Wortvorbild 
p'psn  Hobal-ön  oder  mit  der  an  „ablu"  „Sohn"  angelehnten  Vocalisie- 
rung  (oben  Anm.  60)  Habal-on.  Der  Abfall  der  Aspiration  ist  bei  der 
Translitteration  ins  griechische  Alphabet  regelmäßig.  (Vgl.  "AßeX 
oder  "Eua  für  Chawwa  in  der  LXX ;  von  kleinas.  Beispielen  e.  g. 
Chattu  ;=  "Axxtg);  das  tz  an  Stelle  des  semitischen  3  (vgl.  die  von 
Ernst  Assmann  im  vorletzten  Heft  dieser  Zeitschrift  aufgestellte,  sicher 
richtige  Gleichung  von  griech.  IToasiScüv  mit  corruptem  Bo-sidon  aus 
semit.  Ba'al-Sidon,  wozu  ich  noch  auf  die  in  Palmyra  tatsächlich  be- 
zeugte verdumpfte  Aussprache  von  Ba'al  als  bi;  Böl  cf.  BcoXoc^-yjv  Da- 
masc.  ap.  Plut.  Bibl.  242  p.  343  Bekker  vei-weisen  möchte)  würde  sich 
sehr  einfach  erklären,  wenn  die  Entlehnung  in  Kypros  stattgefunden 
hätte,  da  das  kyprische  Alphabet,  offenbar  entsprechend  der  Härte 
dortiger  Aussprache  nur  mutae  enthält.  (Vgl.  Wilh.  Deecke  in  Her- 
mann CoUitz.  griech.  Dial.  Inschr.  I  1 — 80  z.  B.  „pa-si-le-u-se"  für 
ßaaiXs'jg  etc. ;  ich  hoffe  anderswo  zu  zeigen,  daß  auch  das  8  im  Namen  des 
semitischen  Gottes  Sidon  in  verhärteter  Schreibung  (Sitwv)  vorkommt). 
In  der  vielsagenden  Zusammenstellung  mit  dem  kleinasiatischen  Gottes- 
namen Sandan  oder  Sardan  findet  sich  tatsächlich  die  Form  Sardan- 
apa 1  a  noch  mit  dem  A-laut  in  der  vorletzten  Silbe  und  ohne  Deminutiv, 
suffix,  ebenso  in  der  Münzlegende  HPAKA'  AIIAAA,  Eckhel,  Syll.  num- 
vet.  Tab.  VI  1  (Laodicea),  die  die  regelmäßige  Gleichung  Sandan-Herakles 
voraussetzt.  Das  0  in  Apollon  ist  eine  Verdumpfung,  die  durch  volks- 
etymologische Anlehnung  (dcTtoXX'Jwv  in  der  Joh.-Apokal.)  begünstigt 
worden  sein  dürfte.  Assmanns  Vergleich  des  Namens  des  Orakelgottes 
Apollon  mit  assyr.  „apalu"  =  „antworten"  kommt  nur  als  Notarikon 
in  Betracht,  etwa  wie  bab.  „abullu"  „Stadttor"  zu  A.  öüpaio-  (oben 
S.  156145),  griech.  'AtcoXXüoov  „Verderber"  oder  'ATistXXcüv  „Hirt"  (vgl, 
übrigens  zu  (XTieXÄv)  „Hürde"  sem.  "^SX  „Trift"  „Aue"),  entspricht 
übrigens  genau  der  oben  Anm.  60  besprochenen  Deutung  des  Hobal  als 
„Schicksalsgott"  auf  der  Basis  der  V-^^.  Das  Pfeilorakel  des  Hobal 
stimmt  seinerseits  gut  zu  den  Pfeilen  des  Orakel gottes  Apollon.  Der 
Bogen,  den  Hobal  als  „  Bogen  "gott  Kaus  führt,  seheint  der  Insel  Kwg 
ihren  gewiß  ungriechischen  Namen  gegeben  zu  haben,  und  kehrt  jeden- 
falls bei  Apollon  wieder.  Daß  der  Smintheus  als  Pestgott  nur  aus  se- 
mitischen Vorstellungen  (I  Sam.  6,  4)  verständlich  wird ,  hat  Drerup 
(Nöldekefestschr.  865  ff.)  ausführlich  gezeigt.  —  Der  Apollon  xpdcYiog  ent- 
spricht dem  barbarischen  My]v  'A^iöxxyjvog,  der  Karneios  dem  Hobal  in 
Widdergestalt  als  h^'.  Aram.  habbälä  „Hirt"  (Payne-Smith,  thes.  sy- 
riacus  s.  v. ;  ganz  gewöhnliches  Wort)  erklärt  die  Function  A.s  als 
Herdengott  (vö(iiog,  Tiotuvio?,  vaTiaiog).    Wie  Jabal,  der  Doppelgänger  des 


190  Robert  Eisler, 

„Didymos"  aber  führt  offenbar  Kybele  ihren  ständigen  Beina^ 
men  At(v)Su((x)|jiYjvr]  ^oi)^     Zu  Didymene  ^°^)  bieten  aber 

VII.  die  Inschriften  ^°^)  die  höchst  beachtenswerte  Variante 
Zil^t^(fi)7]v*/].  Daß  dieser  Lautbestand  ganz  einfach  durch  einen 
oft  belegten  thrako-phrygischen  Lautwandel  ^°*)  aus  der  Urform 
ÄtvoujjLYjvrj  entstanden  sein  kann,  ist  Kjetschmer  ^^°)  ohneweiters 
zuzugeben.     Die  Frage  ist  nur,  ob  nicht  mit  dieser  Sonderform 


Hobal  in  der  Bibel,  der  Hirt,  die  kinnör  und  ugäb,  Zither  und  Flöte 
erfindet,  erfindet  Apollon  Lyra  und  Flöte  (Alkm  fr.  102;  Plut.  mus.  14). 
Vor  allem  aber  wird  der  kyprische  Apollon  Amyklos  („diJ.üxXat''  heißt 
bezeichnenderweise  „Pfeilspitzen"  [Hesych]  und  [Theoer.  10 ''^  cf. 
Pollux  „dc|j,uxAaiSEj]  „Schuhe")  noch  um  Regen  angefleht 
(Meister,  griech.  Dial.  II  149;  Ohnefalsch-Richter,  Kypros  etc.  233***), 
woraus  sich  m.  E.  die  ursprüngliche  Identität  des  Apollon  von  Amy- 
klä  mit  dem  dort  verehrten  Heros  Hyakinthos  (beachte  die  Endung 
-v9-;  die  Identität  von  Apollon  und  H.  ist  für  Tarent  bezeugt  durch 
Polyb.  VIII  30,2  H.)  ohne  weiteres  ergibt.  Die  griechische  Theologie, 
der  die  Vorstellung  von  Tod  und  Leiden  der  Götter  widerstiebte,  hat 
die  Steinigung,  die  Hobal  ursprünglich  selbst  erleidet  (zu  Gen.  4  s  vgl. 
die  syrischen  Illustrationen  zum  Octateuch,  dazu  Weil,  bibl.  Legend, 
der  Mohammedaner  S.  39;  ZDMG  1861  XV  86;  in  Mekka  wird  die 
Steinigung  des  Hobal  heute  noch  durch  die  symbolischen  7  bezw.  70 
Steinwürfe  der  Pilger  gegen  die  ursprünglich  sieben  Steinstelen  im  Tal 
Mina  [Burckhardt  I  380 ff.;  Burton  III  280  ff.;  Lenormant  325]  drama- 
tisch dargestellt)  von  Apollon  auf  den  Heros  „Regenstein*  (uäxivO-og  ist 
bekanntlich  ein  roter  Edelstein,  sowie  die  Hobalstatue  aus  rotem 
Stein  (oben  Anm.  60)  gefertigt  war)  übertragen.  Daß  Apollon  ursprüng- 
lich in  Gestalt  einer  Spitzsäule  als  'Ayoieüg  vorgestellt  wurde  (vgl. 
Paus.  1442  den  Pyramidenstein  des  Apollon  Kaplvog  in  Megara),  daß 
in  Delphi  der  heilige  Nabelstein  der  Omphale  und  ein  zweiter  in  Win- 
deln gewickelter  Stein  „Ab-addir"  sem.  =  „ehrwürdiger  Vater"  (Gruppe 
7754)  verehrt  wurde,  daß  seine  Mutter  Ar^tco  die  Al-lät  bezw.  Lät-an  ist 
(oben  Anm.  184  a),  daß  sein  delischer  Altar  wie  ein  semitischer  „  Hörner " 
hat  u.  dgl.  mehr,  würde  sich  so  alles  mit  einem  Schlag  verstehen  lassen. 

^öi)  Die  Stellen  bei  Gruppe  Hdb.  12502.  Das  zweite  jj,,  wichtig  we- 
gen der  Ableitung  des  Namens  Ai§u|jLrjvYj  von  AiSu|j.cj  und  M7]v[yj]  ist  aus 
Zi^tlJLjirjvT)  zu  erschließen. 

-02)  Die  antike  Etymologie,  die  Dindymon  etc.  zu  Siduiio^  stellt, 
billigt  Usener  Rh.  Mus.  LVIII  1903,  344  2.  Kretschmer  Einl.  194  vgl. 
dagegen  air.  „dind"  „dinu"  aus  „dindu"  —  Höhe,  Hügel,  altnord.  „tindr", 
,, Felsspitze "  Zacke  anges.  „sind"  ahd.  „zint."  Dann  wäre  die  Dindyme  ur- 
sprünglich die  öpsiTj  Mv^TVjp  und  nur  durch  wortmystische  Umformung 
und  Ausdeutung  zum  Ai5u|ios  Mtqv  in  Beziehung  gebracht.  Diese  An- 
nahme wird  wohl  der  Wahrheit  am  nächsten  kommen.  Vgl.  im  übrigen 
oben  Anm.  102b,  106,  152  über  den  zweigipfligen  Götterberg,  den 
„Zwillings''berg  ..Salm"  oder  —  im  Gilgamesopos  —  „Mäsu". 

-»3)  Athen.  Mitt.  XIII  1888,  237  (aus  Laodicea  in  Lykaonien)  cf. 
Cronin,  Journ.  Hell.  Stud.  XXH  1902,  341  ff. 

204)  Vgl.  etwa  die  keilinschr.  Bur'ugumzi  mit  gr.  BepexuvSat  = 
Burgundiones  oben  S.  126 27;  oben  S.  165  Si-nuXos  zu  Ai-uuXog,  ibid.. 
Anm.  145  2(Su|j,a  zu  A'.5u|jia. 

205)  Einl.  S.  196. 


Kuba-Kybele.  191 

auch  ein  besonderer  Sinn,  etwa  durch  Anlehnung  an  einen  alten 
barbarischen  Namen,  verbunden  war. 

Da  nun  einmal  die  Aufmerksamkeit  so  nachdrücklich  auf 
die  mekkanische  Ka'aba  hingelenkt  ist,  verdient  tatsächlich  die 
Möglichkeit  wenigstens  in  Erwägung  gezogen  zu  werden,  daß 
der  Name  des  heiligen  Brunnens  „Zemzem"  -°^),  der  in  so  auf- 
fälliger Weise  an  die  kleinasiatische  Epiklese  der  Kuba-Kybele 
„  Zct^i{jL(^)r]vyj "  anklingt,  unerklärt  und  unverständlich  wie  er  ist 
und  bleibt,  wirklich  mit  diesem  barbarischen  Namen  unbe- 
kannten (hethitischen  ?)  Ursprungs  zusammenfällt. 

So  wenig  Gewicht  ich  auf  diesen  möglicherweise  ganz  zu- 
fälligen Gleichklang  lege,  so  wichtig  scheint  mir  eine  an  die 
Vorstellung  des  heiligen  Brunnens  anschließende  sachliche 
Uebereinstimmung.  Die  Wahrscheinlichkeit  ist  sehr  groß,  daß 
nicht  nur  der  Regensteingott  Hobal,  sondern  auch  die  „Kuba" 
den  Arabern  eine  wasserspendende  Göttin,  ein  „Brunnen  des 
Heils"  gewesen  ist.  Der  Quell  lebendigen  Wassers,  an  dem 
die  mythische  Felsengöttin  „Hagar"  ihr  aus  Verzweiflung  „einen 
Bogenschuß  weit"  (Gen.  21  ic)  weggelegtes  Kind,  den 
,Boge  n  schützen"  (ibid.  v.  20)  Ismael  durch  die  Gnade  des 
El  Roi^"'')  tränken  konnte,  brach  nach  der  arabischen  Le- 
gende 2"^)  unter  der  Schwelle  des  heiligen  Würfelhauses  der 
Ka'aba  hervor. 

Da  sich  die  Bedeutung  „  Brunnen "  für  „  Kuba "  zufälliger- 

^o®)  Der  Name  —  die  arabischen  Grammatiker  halten  ihn,  ganz 
unwahrscheinlich,  für  onomatopoetische  Nachbildung  des  Klanges  ge- 
wisser, als  Weihgeschenk  hineingeworfener  Schellen  —  haftet  jetzt  nicht 
an  dem  —  seit  langer  Zeit  versiegten  —  Quell  im  Innern  der  Ka'aba, 
sondern  an  einem  außerhalb  gelegenen  Brunnen.  Das  erklärt  sich  ganz 
gut  aus  der  islamischen  Legende,  der  heilige  Zemzem  sei  verschüttet 
gewesen  und  von  Muhammeds  Gi-oßvater  Abd-el-Mutallib  wieder  auf- 
gegraben worden.  Verschüttete  oder  durch  geologische  Zufälle  versiegte 
Brunnen  gräbt  man  aber  meist  nicht  an  Ort  und  Stelle  wieder  aus, 
sondern  man  ersetzt  sie  gelegentlich  durch  eine  Grabung  in  der  Nähe 
des   alten  Brunnens.     So  wird  es  wohl  auch  hier  gewesen  sein. 

-"')  Ich  verzichte  darauf,  aus  dem  Klang  dieses  dunkeln  Namens  die 
allerdings  verlockenden  Schlüsse  zu  ziehen  und  den  durch  die  semiti- 
sche Volksetymologie  „Gott  des  Schauens"  gewiß  nicht  aufgeklärten 
El  Roi  zu  hethitisch  'Pw  (unten  Anm.  224)  zu  stellen,  wie  das  ebenso 
dunkle  Zemzem  zu  Zt^ip.fjVYj.  Da  Hethiter  erwiesenermaßen  zur  Tell- 
el-Amarna-Zeit  in  Palästina  geherrscht  haben,  kann  ihr  Einfluß  sich 
leicht  auch  bis  auf  das  nordarabische  Mu^ri,  die  Heimat  der  Hagar- 
legende  erstreckt  haben. 

-"*)  Vgl.  die  Zeugnisse  bei  Hughes,  Dictionary  of  Islam  s.  v.  Hagar, 


192  Robert  Eisler, 

weise  appellativiscli  tatsächlich  belegen  läßt  ^°^),  liegt  es  nahe 
genug,  den  durch  Weihgeschenke  verehrten  heiligen  Brunnen 
zu  Füßen  des  wasserspendenden,  flutbeherrschenden  ^°^'')  Mond- 
gottes Hobal,  der  von  jeher  einen  integrierenden  Bestandteil 
des  Heiligtums  der  Ka'aba  in  Mekka  gebildet  hat,  als  eine 
Erscheinungsform  der  Göttin  selbst  zu  betrachten. 

Wie  diese  Vorstelluug  mit  dem  bisher  entwickelten  Be- 
griff der  Gottheit  zusammenhängt,  läßt  sich  am  besten  in 
syrischer  Ueberlieferung  erkennen.  Der  babylonische  Tal- 
mud ^^°)  bietet  zu  dem  bekannten  Namen  Atargatis  („'Atar- 
'athe"  Nnüinu)  der  Großen  Göttin  die  gewiß  wortmystisch  zu 
verstehende  Umformung  Tar'ate  «nrin,  die  ohne  Zweifel  — 
mit  dem  für  Kleinasien  bei  Fick  so  oft  erörterten  Wechsel 
zwischen  {)•  und  o  —  der  griechischen  Transcription  „  Aepxrjtü) " 
zugrundeliegt.  „Tar'atä"  aber  entspricht  syrisch  ^^^)  ganz  ge- 
nau dem  griechischen  ydoc,  bzw.  yaojxa  und  kann  also  nicht 
leicht  etwas  andres  bezeichnet  haben,  als  den  durch  Ps.  Lu- 
cian  ^^^■')  für  Mabbug^'^")  bezeugten  Schlund  unter  dem  Tempel 
der  Göttin,  durch  den  nach  syrischer  Sage  die  Erde,  d.  h.  aber 
Atargatis ^^^)  selbst  „aus  ihrem  Schoß"  die  Sintflut  des  Deu- 
kalion  Sisitheus  heraufgesandt  und  wieder  eingeschluckt 
hatte -^^).  Das  yjxo\ia.  selbst,  mit  dem  bezeichneten  Ritus  der 
jährlichen  Hydrophorie  lebendigen  Wassers  kehrt  bezeichnen- 

2"»)  Set.  Hieronymus  Presb.  Strym.  Vita  S.  Pauli  erem.  cap.  5.  „In 
cisterna  veteri,  quam  gentili  sermone  Syri  ^.cubam"  vo- 
c  a  nt ,  quinque  caricis  per  singulos  dies  sustentabatur".  Die  Bedeutung 
„Brunnen"  ist  offenbar  aus  dem  Begriff  „Höhle"  abzuleiten,  wenn  nicht 
etwa  aus  dem  der  Wölbung  (Vgl.  die  nordafrikanische  Station  „Föns 
camerata"  in  der  Tabula  Peutingeriana  oder  die  römische  Benennung 
„tuUianum"  [cf.  9-6Xos]  für  die  bekannten  unterirdisch  gewölbten  Brun- 
nenhäuser). 

•-'09a)  Vgl.  oben  S.  123i5  den  Flußgott  'Ain  Muhallim  als  Gatten 
der  Felsengöttiu  Hagar. 

210)  Abodah  Zarah  fol.  IIb. 

2")  Assemani,  bibl.  Orient.  I  327  ff. ;  cf.  Castel-Michaelis,  lexic. 
syriac.  p.  975.  "i  a)  Dea  Syria  13. 

211  b)  Syr.  für  Hierapolis-Baubyke.  Nach  v.  Baudissin  bei  Herzog- 
Hauck  Pr.  RE  II  177  26  =  IJ^Ö  , Quelle".  W.  Robertson  Smith,  Engl. 
Hist.  Rev.  IIa  1887  p.  315  erklärt  „Mabbög"  als  „place  of  emerging", 
natürlich  auch  mit  Beziehung  auf  das  Wasser  der  Tar' ataquelle. 

212)  Cf.  Macrob.  Sat.  I  23, 18:  .  .  „Atargatin  .  .  .  terram  intellegentes". 

2iä)  Diese  Vorstellung  erklärt  wohl,  wie  die  jonischen  Philosophen 
(Pherekydes  von  Syros  bei  Achilles  Tatius  Isagog.  3,  123  ;  fehlt  in  bei- 
den Auflagen  von  Diels  FVS)  dazukommen  ,  x^o?  (=  X^aiia  vgl.  oben 
Anm.  81)  von  „xe^a^ai  xö  üSwp"  abzuleiten. 


Kuba-Kybele.  193 

derweise  in  Jerusalem '-^^*),  im  Didyuiaeon  von  Milef'^'M,  beim 
Heiligtum  der  Ge  Olympia  in  Athen  ^*^)  mid  in  Delphi'^'«) 
wieder  —  an  den  beiden  zuletzt  erwähnten  Orten  sogar  mit 
derselben  Sintflutsage  verbunden.  Die  Vorstellungsverbindung 
zwischen  der  als  rjßr],  jJLi'jXpa  und  ön'^aXiq  gedachten  Göttin 
und  den  „Strömen  lebendigen  Wassers"  ist  natürlich  ganz  die- 
selbe, die  bei  dem  phallischeu  Steinidol  des  Hobal  nachge- 
wiesen werden  konnte.  Ausdrücklich  bezeugt  ist  sie  in  einem 
auch  sonst  beachtenswerten  Fragment  des  samaritanischen 
Gnostikers  Simon  Magos-^'):  .  .  ei  TxAaaaet  6  iJeo;  iv  |J,r|tpa 
liYjxpö;  Tov  ävO-pwTiov,  Touxsaxcv  iv  -ccpaosiito  ^^^)  .  .  .  saxto 
r.ocpddeioQC,  ■^  [jnfjXpa  ...  r^Gi  cc[i.b  c.  o  k  exnopeuojjisvo; 
£^  'EoEjx  Txoxf^eiv  xöv  TiapäSecaov  6  b  \i  <^  a.X6  <;■  ouxwc;,  <frpiv^ 
dcpopit^exat,  6  ö[ji,cpaAö^  sie;  xioooipai  ix.pydc,  ixaxepwö'sv  yäp  xoö 
öjJicpaXoü  o6o  sialv  apxrjpfa:  Txepaxexaixevat ,  ö/^exoc  7iV£U|xaxo$, 
X3c:  büo  cpAsßes,  öyjTol  ar|i,axoi;  xxX. " 

Genau  so  wie  allen  diesen  Heiligtümern  der  Omphalos-  bzw. 


213a)  Jcii  behalte  mir  vor  über  den  wasserspendenden  Gottfelsen  ^Zur" 
und  seine  Verkörperuncr  im  Grund-  oder  Schwellstein  des  Tempels  von 
Jerusalem,  dem  heute  noch  von  Juden,  Christen  und  Mohammedanern 
hoch  verehrten,  wie  die  Ka'aba  mit  einem  Ueberzug  verhüllten  Felsen 
in  der  „Kubbet-es-Sachra",  dem  ,, Felsendom",  in  einer  besonderen  Ar- 
beit zu  handeln.  Hier  bemerke  ich  nur,  daß  über  diesem  als  Weltna- 
bel (oben  Anm.  102  a  b)  betrachteten  Felsen  der  Brand  opferaltar  des 
Tempels  —  die  [isadji-^aXoi;  laxia  —  errichtet  war.  Unter  ihm  befand 
sich  eine  Cisterne,  die  mit  einem  unterirdischen  Abfluß  in  Verbinduncj 
stand.  In  dieses  xa^lJ-^*  wurde  alljährlich  am  letzten  Tag  des  Laub- 
hüttenfestes, dessen  traditioneller  Namen  (^simchas  tora")  „Freude  der 
Tora"  nach  der  oben  Anm.  7  gegebenen  Ableitung  ursprünglich  die 
Hierogamie  der  Tauben  gottheit  (,g  a  u  d  i  a  matris  magnae"  in  Rom), 
—  nicht,  wie  die  rabbinische  Auslegung  meint,  die  „Freude  des  Ge- 
setzes" —  bezeichnet,  eingestandenermaßen  als  Regenzaubei-,  leben- 
des Wasser  von  der  iSiloarnquelle  (,S-l-m"  ist  nach  Winckler,  Ex 
or.  lux  II  107  20  =  Salm;  vgl.  die  Palmakis-  oder  „Zwitter "-Quelle  bei 
Halikarnass)  aus  einem  goldenen  Eimer  durch  die  beim  „Wasser- 
t  o  r"  des  Tempels  eingezogenen  Priester  eingegossen.  (Rosh  ha-shanäh 
16  a  unten;  cf.  Ta'anith  2a;  Frazer  GB-  I  81  ff.  II  121  ff.). 

•-'")  Schob  Apoll.  Rhod.  II  279  die  Hydrophorie.  Ueber  das  xäoiJitx 
s.  Rayet-Thomas,  Milet  etc.  II  61  ff. 

'•'15)  Paus.  I  18;.  Etym.  Magn.  s.  v.  ö5pocpopia  77456;  Plut.  SuU.  14; 
Theopomp.  FHG  I  332342;  Mommsen  Heortol.  346  f. ;  36ö;  Gruppe 
Hdb.  32  6.7. 

^'^)  Gruppe  Hdb.  948. 

'-")  Hippolyt.  ref.  VI  14  p.  244  te  Dnncker-Schneidewin.  Ich  ver- 
danke die  Stelle  einem  freundlichen  Hinweis  von  Wolfgarg  Schultz. 

'-'**)  Verschmelzung  der  Bibelstelle  „hat  nicht  Einer  im  Mutter- 
leib uns  gebildet"  (Hieb  Slis)  mit  Gen.  lyeff.;  2?. 

Philologus  LXYIII  (N.  F.  XXII),  -2.  13 


194  Robert  Eisler, 

Phallosstein  und  das  y(i.Q\i<x^  bezw.  die  Quelle  eng  zusammen- 
gehören'^^^), gehört  bei  jedem  arabischen  Heiligtum  zu  dem 
aufgerichteten  Stein,  dem  „nüsb"  die  davor  befindliche  Cisterne 
„ghabgab"  =  „Höhle''  „Brunnen"  22 o).  Heißt  der  Stein  Hobal, 
so  heißt  folgerichtig  der  Brunnen  zu  seinen  Füssen  Ku'ba"^^"*). 
Dazu  stimmt  dann  vorzüglich,  daß  die  letzte,  noch  nicht 
aufgeklärte  Epiklese  der  kleinasiatischen  Göttermutter  'Pefa 
von  den  Alten  einstimmig  zu  ^ecv  =  fließen  gestellt  und  von 
Gruppe  ^2^)    als    alte    Bezeichnung   des    Pessinuntischen   Stein- 


^1")  Pindar,  der  mit  der  mystischen  Theologie  der  Kybele  (oben 
Anm.  25,  und  orphischen  Vorstellungen  gleich  vertraut  war  —  sein 
eigener  Namen  ist,  wie  Fick  gezeigt  hat,  karisch  —  wendet  Pyth. 
6,  4  („ö|jicfaXöv  Äsvaov  7ipQc,o:y^i\i.z^oc,"-)  auf  den  Omphalos  in  Delphi 
das  entscheidende  Epithetou  des  Quellfelsens  an.  Ich  schließe  daraus, 
daß  Apollons  TivjYi]  XaXoöaa  (Cedren  I  p.  532  ed.  Bonn)  mit  dem  ö|jl- 
cpaXög  in  ebenso  enger  Beziehung  gedacht  wurde,  wie  der  Brunnen  in 
der  Ka'aba  mit  dem  „Pisserstein"  Hobal.  Dazu  paßt  dann  vortrefflich, 
daß  im  Eid  der  Pythagoreer  „oü  p.ä  xäv  fttisxepqc  ysvs^  TzapaSövca  x  s- 
Tpay.xüv  Tiayäv&sväou  (fbco(^  p{^fO(iä  t'  s^oucav"  (überlief,  u. 
a.  theol.  arithm.  p.  18  Ast)  die  bei  Jamblich.  Vita  Pythag.  82  mit  dem 
§v  AsXcpoIg  iiavTstov  identifizierte  mystische  Tetractys  ebenfalls  als  ewig- 
fließender Lebensquell  bezeichnet  wird. 

2-0)  Wellhausen  Reste  2  S.  103  f.;  Horamel  vgl.  ghäb  „Höhle" 
„Schlucht". 

220a)  Aug  dieser  Auffassung  der  Göttin  als  Quelle  erklärt  sich  dann 
auch  ihre  Bezeichnung  als  „Oase",  wörtlich  —  unter  Zugrundelegung 
des  bekannten  Vergleichs  vom  „Sandmeer"  —  „Ufer  der  Wüste"  Gu- 
barra(=kisad  seri,  Hommel245i).  Eine  zweite  mystische  Deutung 
von  Kubar  ist  Kü-barra  (Name  einer  Göttin,  Hommel  267  1)  ,, Honig  der 
Wüste";  die  Erklärung  bietet  Deut.  32  13  ,, Honig  saugen  aus  dem  Fe  1- 
sen"  (mi-zelah)  und  Ps.  81  le  (mi-Zur),  wobei  natürlich  der  hoble,  von 
Bienen,  den  bekannten  Seelentieren,  belebte  Felsen  der  heilige  Felsen 
ist,  so  wie  der  hohle,  Bienen  bergende  ,, Baum  der  Debora"  der  heilige 
Baum  schlechthin  ist.  Daher  ist  die  kretische  Höhle,  wo  Rheia  den 
Zeus  gebiert,  d.  h.  das  yä.o^%  der  ,,petra  genitrix",  den  Bienen  heilig 
(Boios  bei  Anton.  Liberal.  19),  deshalb  heißen  die  Priesterinnen  der 
Magna  Mater  [leXiaaat  (Lact.  div.  inst.  I  22),  die  Priester  der  Ephesischen 
Göttin  |ji.sX'.aaovc[ioi  und  soavjvsg  (oben  S.  126 27),  deshalb  wird  die  Götter- 
mutter „Muwalidat"-MuXhm  in  Rhodos  (Goldschmuck,  arcli.  Zeit.  XXVII 
p.  111)  mit  dem  Unterleib  einer  Biene  als  MäXtxia  dargestellt,  des- 
halb sitzt  eine  Biene  auf  dem  Cultbild  der  Göttin  von  Ephesus.  Der 
Sohn  oder  Gatte  der  Göttin,  Bei  'Aaxpox,iTü)v,  wie  er  in  Tyrus  hieß  (babyl. 
Ku-anna  ,, Kleid  des  Himmels",  Weitenmantel  S.  172  cf.  93)  wird  dem- 
gemäß Kü-anna  ,, Honig  des  Himmels"  (griech.  Melqart  als  „MEXi-xspxyj;" 
[Simonid.  bei  Suidas  s.  v.  „Siä  x6  ^^jS-j"]  gedeutet;  s.  Kenyon,  Greek  pap. 
1893  S.  665:  „Zö'j  "HXis  .  .  dvixvjxe  [isAioü^s,  [leXtxepxa,  |i  s X t ysvsxcop ") 
genannt. 

"1)  Hdb.  15248.  Crusius,  Beitr.  z.  griech.  Myth.  Leipz.  Progr,  1886 
p.  264  stellt  den  Namen  zu  ('O)psla.  Wortmystische  Zusammenstellung 
beider  Namen  hat  gewiß  früh  stattgefunden. 


Kuba-Kybele.  195 

fetisch's  '{pifjcc  r.expa  etwa  wie  „lapis  manalis*)  ---)  aufge- 
faßt wird.  Alle  die  antiken  —  stoischen  und  neuplato- 
nischen ^-^)  —  Etymologien  dieser  Art  gehen  m.  E.  auf  eine 
altorphische  -^*)  d.  h,,  wie  ich  anderswo  zu  zeigen  hoffe,  klein- 
asiatische Ueberlieferung  zurück,  die  die  Rheia  als  J^woyovo; 
T^rjYYj  bezeichnete  --**).  Wer  sich  Dieterich's  schöne  Ermittlungen 
gegenwärtig  hält  über  die  Felshöhlen,  Lebensteiche  und  Quellen, 
aus  denen  die  Seelen  der  im  Schoß  der  Erde  Begrabenen  von 
der  großen  Mutter  heraufgesandt  werden  ^^^),  wird  nicht  zweifeln, 
daß  in  diesem  Cultnamen  der  kleinasiatischen  Mrjiyjp  ebenso 
altes  Gut  volkstümlicher  Mystik  vorliegt,  wie  in  den  py- 
thagoreischen Speculationen  über  den  (j^u/oyovtxö;  xußo?,  und 
dem    auf   mithräischen    Inschriften    bloß    angedeuteten,    oben 

■222)  Der  j, Regenstein "  heißt  türkisch  „Yada  tasi",  pars,  ^san^i  Yada" 
^  Stein  des  oder  der  Yada",  wobei  Y.  vielleicht  zu  der  araiu.  Form  XT 
für  „jad"  =  ^Hand"  (oben  Anm.  182 f.)  gehört.  Der  Aberglauben  ist 
bei  den  Turkvölkern,  deren  Religion  typische  Uebereinstimmungen  mit 
der  sumerischen  aufweist,  von  altersher  sehr  verbreitet  (vgl.  KazwrnT 
II  347;  3483;  39Ü16;  die  Beschreibung  des  GardezT  in  der  Bearbeitung 
des  Grafen  Kuun  (I3ndapest  1903)  S.  2;  bei  den  Arabeim  in  Spanien 
(Abu  Hamid  t  1169  bei  Kazwini  II  164;  193)  wurde  ein  außerhalb  von 
Ardabil  befindlicher  groiJer  Stein  bei  Regenmangel  in  feierlichem  Auf- 
zug eingeholt.  Für  Nordafrika  vgl.  Alfred  Bei,  Recueil  etc.  XIX.  Congr. 
Orient.  Alger  1905  „quelques  rites  pour  obtenir  la  pluie  .  .  chez  les 
musulmans  maghrebins;  über  Regenzauber  mit  Steinen  in  Fez  s.  den 
Aufsatz  ,.Au  MaroC  Beil.  Journ.  d.  Debats  3.  Juli  1903. 

-^3)  Chrysipp,  Etym.  Magn.  701  is ;  Schol.  Hes.  Theog.  135.  Die 
Neuplatoniker  mit  Berufung  auf  Plato  Kratyl.  19  402  a  und  b,  eine 
Stelle  die  deutlich  herakliteische  Anknüpfungspunkte  verrät. 

■"*)  Abel  fr.  305  (Proklos) :  „uspl  §s  z%c,  ^qjoyövou  Tcvjyvis  Tsag  .  . 
o'JTCüg  cpaa'.v  xä  Xdyia'  «'PsL-q  toi  vospwv  |Jiocxäpcüv  71  v]  y  7]  xs  porj  xs  |  (zu 
poT/  Vgl.  den  theophoren  Bestandteil  Tco-  in  kilikischen  Personennamen 
Hommel  Grundr.  33)  Tidvxtov  väp  Txpwxy]  0'jväp.s'.  -/.oXizoi^lv  äcppäaxcis  (vgl. 
0.  S.  127  über  die  Brüste  der  Göttin)  Ss^ajisv/j  "fzwsriw  §ixl  uöcv  Kpo^^z'. 
xpoy^äouaav»".  (Die  ysvsä  xpox.äouaa  kann  sich  wohl  nur  auf  die  von 
Aristophanes  im  platonischen  Symposion  erwähnten  radförmigen,  auf 
babylonischen  Cylindern  oft  dargestellten  Urwesen  beziehen.)  cf.  38 
(Apion)  „'Psav  x6  piow  xr^g  'jypöcs  ouaiag". 

224a)  Kybele  selbst  als  „Quelle"  bei  Julian  or.  V  166a:  „tis  o5v  -^ 
MvjiTjp  xwv  ■9-3WV;  rj  xcBv  x'jßspvtövxwv  xoüs  sji-^Javsls  v^spwv  xal  8'/i|J.'.0'jpYi>tö)v 
&SWV  T:r, -i"/]."  Die  Vorstellung  ist  sicher  alt.  Die  Felsensculpturen  von 
Arslan  Kaja  und  Arslan  Tas  habe  ich  selber  nicht  gesehen,  und  aus 
den  Abb.  ist  die  Situation  nicht  ersichtlich.  Aber  die  Kybele  am  Si- 
pylos,  die  sog.  Niobe,  ist  buchstäblich  in  den  „Schoß"  der  Felsenwand 
gehauen,  sodaß  das  Gesteinswasser  zu  ihren  Füßen  hervorquillt ;  am 
Fuß  des  Felsabhangs  bildet  dieser  Wasserfaden  dann  einen  kleinen 
See.  (Vgl.  auch  die  Beschreibung  in  Bädekers  Kleinasien.)  üeber 
'Pia  TiYjYvi  in  den  Orac.  chald.  s.  Kroll  S.  19.  27—30.  69. 

225)  Yg]  (Jas  „Tiaigoyövov  üScop"  in  Thespiae,  Athen.  II  15  S.  41  f.  Gula, 
die  „Große"  heißt  „muwallidät  miti"  „Gebärerin  der  Toten"  (Kugler  262). 

13* 


196  Robert  Eisler, 

ausführlich  besprochenen,  Mysteriendogma  von  der  Entstehung 
des  Mithras  Petragenes  aus  der  mütterlichen  „Petra  genitrix", 
dem  Hysterolithen  oder  Nabelstein,  der  Magna  Mater,  aus 
dessen  ydG\icc  man  sich  Lebenshauch  und  Lebenswasser  her- 
vorquellend dachte. 

Fehlt  es  doch  auch  sonst  keineswegs  an  Zeugnissen  für 
den  Cult  der  „heiligen  Quelle"  gerade  in  den  hier  in  Betracht 
kommenden  Gegenden.  Der  Namen  der  auch  im  vorgeschicht- 
lichen Griechenland  verehrten  Hauptgottheit  der  Phryger,  des 
„Midas"  der  Sage,  bzw.  seiner  „Mutter",  der  „dea  Mida" --^''), 
nach  der  das  ganze  Volk  keilinschriftlich  „Mitanni",  ihr  be- 
deutendster König„  Mitä"  heißt  ^-^^),  und  die  ohne  Zweifel  mit 
der  Göttermutter  wesenseins  ist^^^"),  wird  sehr  einleuchtend 
von  einer  lX„mad"  =:  „triefen"  abgeleitet -^^'')  und  bezeichnet 
dann  eben  wortwörtlich  dasselbe  wie  „ps/ja  TiEtpa"  oder  „lapis 
manalis".  Anahita,  die  mit  der  Ku'ba  synonyme  „schwell- 
brüstige"  Göttin  der  Perser  wird  in  dem  ihr  gewidmeten 
Yasht  '^-")  mit  dem  Namen  der  himmlischen,  auf  dem  Gipfel 
des  Weltenbergs  entspringenden,  alle  Flüsse  speisenden  Quelle 
Ardvi90ura ■2^^'')  angerufen,  in  mithräischen  Inschriften --')  steht 
neben  der  „petra  genitrix"  die  „fons  perennis"  (==  äevao; 
Tir^y/j),  in  Armenien  wird  in  der  heiligen  Höhle  das  heilige 
Feuer    und    die   heilige  Quelle   —  entsprechend  der  doppelten 


225a)  ^Mida  dea"  auf  einer  Münze  von  Kremna,  Drexler,  Pliilologus 
LH  1893,  583.  Ueber  ihren  Cult  in  Midaion  vgl.  Körte,  athen.  Mitth. 
XXII  1897,  41.  Vgl.  dazu  die  Ortsnamen  Mideia  bei  Arges  und  in 
Boeotien  und  die  wie  Megara  („Höhle")  und  Omphale  (., Nabelstein ") 
mit  Herakles  gepaarte  Heroine  Mida  oder  Mideia  bei  Paus.  15  2; 
X  lOi.     Vgl.  oben  Anm.   174  über  *Artamida  , große  Quelle". 

225  b)  Vgl,  Winckler,  altor.  Forsch.  IX  (II  1 3)  13(5;  A.  Koerte,  Gord. 
10  cf.  18. 

-'^^<')  Midas  heißt  Sohn  der  Göttermutter  bei  Hygin  fab.  191;  274: 
cf.  Plut.  Caes.  9.  Er  soll  den  pessinuntischen  Tempel  gegründet  haben 
(Diod.  859;  Arnob.  5  7),  was  sonst  von  dem  Phryger  Kybelos  behauptet 
wird. 

2"d)  Tomaschek,  Sitz.-Ber.  Wiener  Akad.  Wiss.  phil.  bist.  Ol.  CXXX 
1894  S.  94.  Gebilligt  von  Kretschmer,  Einl.  199;  Kuhnert,  Roscher's 
ML  n  296146. 

226)  Y.  V,  Sacred  Books  of  the  East  XXIII  52  ff. 

226a)  Vgl.  Spiegel,  Eran.  Altertumskunde  I  191. 

-2')  Cumont  TMCM  Inscr.  331  (aus  einem  pannonischen  Mithräum) 
jfonti  perenni".  Die  Beziehung  auf  Anahita  als  Quelle  Ardvi^oura 
liegt  auf  der  Hand.  CIL  III  99u  ,,fons  Aeterni"  ist  nicht  sicher  einzu- 
i'nhen,  allein  ^aeternus"    ist  jedenfalls    eine    asiatische  Gottheit. 


Kuba-Kybele.  197 

Auffassung  des  6\i:ßxl6c  als  biiT]  und  als  asvao;  ^>;Y^i  — 
nebeneinander  verehrt -^^),  im  sog.  „Religionsgespräcli  am 
Sassanidenliofe'"  '--^),  in  der  Aberkiosinschrift  -^'')  und  in  einer 
Hesychglosse  "-^')     ist     von     dieser     vorderasiatischen     Göttin 

2.18^  Vgl.  Moses  Khoren.  Oeuvres  p.  301  ^l'adoration  du  feu  .  .  et 
de  la  source  .  .  se  pratiquait  dans  une  cavorne  ä  l'endroit  appele  Bouth". 
Geraeint  ist  der  aus  mithräischen  Inschriften  bekannte  Cult  von  ,ignis 
aeternus"  (Ahtar)  und  .fons  perennis"  (Ardvi(;-oura). 

-'")  ed.  Wirtb.  p.  IUI,  18:  n'^i^T'')  Y^p  üSaxo;  urjyiiv  Tiv£Ü|j.aTOS  äsv- 
vail^s'.".  !S.  llisfl'.  Bratke.  Dieses  und  die  folgenden  Zeugnisse  sind 
zuerst  von  Usener,  Weihnachtsfest,  relig.-gesch.  Untersuch.  Bonn  1889 
S.  84  ff.  besprochen  worden. 

2^°)  cf.  Harnack,  Aberkiosinschrift  p.  15  und  23. 

^3')  Die  bei  Usener  noch  im  einzelnen  unerklärte  Hesychglosse  lautet 
'ASä*  fj3ovYj  Tiriyrj  y.ai  "Hpa  uto  xojv  BaßuXwvicüv.  Ich  würde  einen  einzigen 
Buchstaben  ändern  und  lesen :  ,,'A8ä  r]  AoSy].  TiYjyi)  xac  "Hpa  uuö  ~Sr/ 
BaßuXtov'Cüv.  Der  Name  Dode  (Dodah  =:  Geliebte  vgl.  die  punische 
Göttin  Dido)  ist  ein  Culttitel  der  semitischen  Muttergottheit,  wie  Död 
=  Geliebter  (cf.  „David")  einer  ihres  »amasius"  oder  iiscpäy.oov,  des  Tamuz 
ist.  (Vgl.  Cheyne  bei  Frazer  GB^  IV  17i;  A.  H.  Sayce,  Lectures  on 
the  Relig.  of  Bab.  56  ff.).  'A5ä  oder  vielleicht  'ASäv  könnte  andrerseits 
eine  mystische  Variante  zu  'Athe  darstellen,  mit  Anlehnung  an  "adan" 
(cf.  das  bibl.  Eden)  =  „Lust",  worauf  mich  Prof.  Hommel  aufmerksam 
macht.  Auch  das  von  älteren  Gelehrten  zur  Erklärung  von  ,,Atarga- 
tis"  herangezogene  "n><  =  „Glück"  transcrib.  'A3ap  könnte  in  Betracht 
gezogen  werden.  Dann  bliebe  yjSovY]  erhalten,  was  sich  vielleicht  auch 
wegen  der  Stelle  ,,Tid.X<x,i  \i.b/  slSwXoXaxpoövxss  (iapav.Tjvol)  tyjv  räp'  "EÄ- 
Xr,ai,v  'A'4:po8i-cr]v  Xsyo[i£VV)v  toutsoxiv  xtjv  yj  S  o  v  ■/]  v  (Anonym,  bei  Sylburg 
Saracenica  p.  70)  empfiehlt.  Es  ist  tatsächlich  sehr  gut  möglich, 
daß  es  ebenso  wie  einen  ,Gan  (Garten)  Eden"  auch  einen  „ed  (^ 
„Quelle"  cf.  Genes.  2,  6)  Eden"  „Quelle  der  Lust"  „nr(YYj  fjSovrj"  gegeben 
hat;  der  Gleichklang  der  Worte  würde  sehr  dafür  sprechen.  Jedenfalls 
handelt  es  sich  um  eine  Epiklese  der  ^iy.  cf.  Procl.  in  Plat.  Tim.  V 
315  d :  „oi  [isv  ßäpßapot  xtjv  ^(poyovrxYiv  xaüxYjv  alxiav  irvjyaiav  4't^X^/''' 
dTtoxaXo'joi  .  .  6  §s  S-soXöyoj  6  uap' "EXXvjOiv  "H  p  a  v  auxrjv  upogsiprixäv". 
—  Wenn  man  BrjpwTj  (vgl.  ßYjpoüO-,  die  Schwester  des  Elioun 
bei  Sanchuniathon  Eus.  praep.  I  10,11  H)  mit  „beroth"  =  „Quel- 
len" zusammenstellen  darf  (so  Gruppe  1151  e),  dann  gehört  auch 
die  griechisch  als  Okeanide  gezählte  Eponymgottheit  von  Bery- 
tos  in  Syrien  und  Beroia  in  Makedonien  in  den  Kreis  dieser 
Quellgottheit.  —  Bei  Usener  a.  a.  0.  sind  ferner  die  leicht  zu 
vermehrenden  Stellen  angeführt,  wo  die  Epiklese  Uriy-Q  (ti.  uvs'Jiiaxo;, 
71.  dsvaog  etc.) ,  offenbar  unter  orphisch-kleinasiatischem  Einfluß  auf 
Maria  übertragen  ist.  (Hilgenfeld  NT  extra  canon.  4/15:  das  Hebr.- 
Evang.,  cit.  bei  Hieronym.,  hat  in  der  Tauferzählung  statt  der  Epi- 
phanie  der  Taube  die  AVorte  :  „descendit  fons  omnis  spiritus  sancti" 
(=  griech.  Ttvjyv]  Tivsüiiaxog  [oben  Anm.  229]),  vgl.  [Gregor,  thaumat.]  hom. 
II  in  advent.  Migne  PG  X  1160  C:  „a'jxrj  r.riyr}  äivao;  sv  f/  x6  ^wv 
'j5ü)p  EßXxaxs  xYjv  svaapy.ov  xoO  Y.upioD  Tiapouciav."  Ephrem.  Syr.  II  p.  275 
ed.  Assemanni :  ,,£Yiv3xo  yoüw  yj  Mapia  .  .  .  xot?  ävO-pcüJ^otg  izfiyri  tcvsü- 
{i'xxot;  alcüvio'j  xal  ä'^pfrapaias  dvaxoX'/^.  [Gregor,  thaumat.]  p.  149  c,  1152  b 
und  bei  Pitra,  Anal,  sacra  IV  p.  407;  [Epiphan.]  1.  IV  2  p.  49,  32 
Dind.  Weihnachtsliturgie,  Cuthun  p.  206  ,,ä9-fxvaaia5  Siauy^  §TC'.axä[j.£9-a 
-r,YT)v  q'z.  S-söxoxs'";  „^cooSö/o;  nr^yf;"  Andreas  Cretensis,  Bratke,  Relig. 


198  Robert  Eis  1er, 

„Quelle"  der  Aphrodite  'Acpaxtit?  vom  Libanon ^^^j  ^jg  Rede. 
Der  Ursprung  dieser  Vorstellungen  ist  vollständig  klar, 
seit  P.  Kugler  -^')  rechnungsmäßig  erwiesen  hat,  daß  das  Ge- 
stirn der  „Großen  Göttin"  ('^^'  Gu-la  =  beltu  rabitu  =  „große 
Herrin")  zum  Wassermann  gehört  ^^^),  daß  also  die  bis  in 
die   späteste   Zeit   in    Babylon   hochverehrte    Göttin    Gubarra- 

sespr.  ~230^  Wenn  Philon  de  fuga  32  flf.  (I  537  Me.  c.  36  ro 
§  198  Wendland)  nach  Jerera.  2 13  seinen  Grott  „upsoßu-cäxv]  TiyjYV)  toö  i^f^v 
äsvaog"  nennt,  so  ist  allerdings  dieselbe  Vorstellung  maßgebend,  jedoch 
auf  Grund  der  israelitischen  Vorstellungen  von  Gott  als  dem  Quellfelsen 
..Zur",  dem  später  von  Juden,  Christen  und  Moslems  in  gleicher  Ver- 
ehrung gehaltenen  Felsen  ,,Sachra"  von  Jerusalem,  dem  mystischen 
„Eben  Shatya"  oder  Schwellstein,  über  den  ich  in  einer  besonderen 
Abhandlung  ausführlicher  sprechen  werde. 

*3-)  Aphrodite  'Accaxlxie  Zosim.  I  58.  Das  Heiligtum,  von  zahllosen 
Tempeldirnen  umlagert,  wurde  erst  unter  Constantin  aufgehoben.  Die 
Göttin  beißt  dort  einerseits  „Quelle"  syr.  „äp'ieka,  andrerseits  hörte 
man  aus  dem  Namen  'ephäk  „amplexari"  heraus.  Vgl.  Etym.  Magn. 
„'Äcfäv-a,  2]i)po3v  |jl£v  sotiv  rj  AeE,ic,-  S'Jvaxai  ok  >ta9-'  '^EXXäSa  yXöaaav,  s.1 
Ssi  zb  §r/p.o)5£g  sIttsIv  pfj|ix  «zepiXrjiip-a»,  nsptXäßouoy]?  sxsl  xriq  'AcppoSixrjg 
TÖv  "AScüviv".  Vgl.  oben  S.  19ii;iib  über  „Mabbuah"  „Quelle"  und 
Gruppe  Hdb.  313  9  „fons  cupidinis"  in  Kyzikos,  „u-^yy)  <J)iÄÖTVjg"  in  Eleusis. 

233)  Sternkunde  und  Sterndienst  in  Babylon  I  (Münster  1907)  _S.  2i;i 
bis  63.  ni  Rawl,  53  Rucks.  Z.  24  ff.  wird  ein  zweites  Gula-Gestirn  im 
Kislimu  erwähnt  und  von  Kugler  mit  dem  „Schützen"  identifiziert.  Offen- 
bar hat  also  auch  in  Babylon  der  mit  Pfeil  und  Bogen  ausgerüstete, 
durch  den  Pieilstern  im  Orion  und  den  Bogenstern  (Sirius),  ebenso  aber 
auch  durch  den  Gegenstern  (rakib)  der  beiden,  den  Schützen  vertretene 
Gott  als  der  „Grolie",  der  Kabir,  gegolten.  Dazu  beachte  man,  daß 
,,ab  Orionis  pede",  d.  h.  aber  vom  O-jpicov-Kuzah-Bul  aus  der  Eridanos- 
flu(j  abströmt,  während  sich  unter  dem  Schützen  ebenfalls  ein  Wasser- 
sternbild r.eXayos  (Boll  138)  befindet  und  vom  Wassermann  der  zweite 
Himmelsstrom  (das  üSwp)  ausgeht  (Boll  135).  Beide  „Mul  Gula"  sind 
also  als  himmlische  „Quellen"  gedacht.  Endlich  wird  (Boll  131)  von 
den  Astrologen  der  Schütz  als  Kentaur  Cheiron  aufgefaßt,  was  man 
erst  aus  der  Verbindung  der  zwei  Gulagestirne  oder  Kabiren  versteht. 
Die  Göttin  Gula  ist  Su-anna,  die  ,,Hand"  des  Himmels:  der  Paredros 
der  göttlichen  Xsip  ist  Xeipwv,  wie  (iula  als  Herrin  des  Lebenswassers 
die  „große  Aerztin"  („asitu  gallatu"),  ist  Xsipwv  der  Arzt.  Zu  seiner  Ken- 
taurengestalt vgl.  das  Roß  als  Geliebten  der  Istar  (auch  in  Denieter- 
mytheii  cf.  *  Weltenmantel  S.  153).  Die  Höhle  des  Chiron  ist  der 
„hnrru"  oder  Höhlenstern  neben  dem  Schützen, 

-3*)  Vgl.  die  bei  Boll  Sphära  282  angeführte  Gemme,  Visconti 
Museo  Worsleyano  Mailand  1834  tav.  XXVII  nr.  21  mit  einem  Tier- 
kreis, in  dem  der  Wassermann  durch  eine  weibliche  Gestalt  vertreten 
ist.  Boll  identifiziert  sie,  gewiß  richtig,  mit  dem  Sternbild  "Hßvj  des 
Teukrostextes,  einem  Namen,  der  wie  die  Parallele  Ganymeda  zeigt, 
im  wörtlichen,  oben  S.  136;i  besprochenen  Sinn  zu  nehmen  ist.  Mann- 
weiblich erscheint  das  Sternbild  in  der  ägyptischen  Sphäre  (Boll  235). 
Die  Deutung  des  Wassermanns  als  männlicher  ,,Ganymedes"  entspricht 
der  Auflassung  des  ursprünglich  weiblichen  Gottes  Ea  =  „Haus"  (s.  oben 
S.  133  über  „Haus"  =  „Vulva"),  dem  diese  Himmelsregion  heilig  ist, 
als  männliche  Gottheit  in  historischer  Zeit. 


Kubu-Kybele.  199 

Gula  eine  Wasserspenderiu  gewesen  ist.  Dazu  paßt  dann  vor- 
trefflich, daß  das  überlieferte  Xoußap,  die  „Große"  mit  der 
Vocalisierung  Chabnr  '-^^)  (vgl.  oben  XaaßoO)  die  Bedeutung 
„Gefäß  des  Himmelsoceans"  -^")  bezw.  „des  Fisches"  ergiebt. 
Unter  diesem  „Gefäß"  ist  natürlich  die  x6[xßYj  oder  y.6ßßrj 
(oben  S.  12944  ff.  =  TioxYjptov)  die  „urna"  „xocXtit]"  uop'!a -^"), 
der  „Eimer"  (mandäisch)  oder  wie  das  Sternbild  „amphora"  oder 
,aquarius"  sonst  genannt  wurde  zu  verstehen.  „Gefäß  des 
Fisches "  '-^®)  erklärt  sich  durch  einen  Blick  auf  die  Sternkarte, 
wo  tatsächlich  der  große  südliche  Fisch  (Fomalhaut)  babylo- 
nisch „Fisch  des  Ea"  genannt,  unmittelbar  unter  der  Mün- 
dung der  Hydria  steht  -^").    Nicht  genug  damit,  wird  EA  selbst 

-^5)  Cha-bur  oder  Chu-bur  ist  überliefert  als  Namen  eines  mytho- 
logischen und  einiger  irdischer  Flüsse  (griech.  Xaßcüpag,  'Aßoüpag  oder 
'Aßdppas  vgl.  "1:^3  XOBAP  Ezech.  1 1;  li^n  AB2P  2  Kön.  ITe  und 
XAB2P  1  Chron.  5  26 ;  n.  b.  den  wechselnden  Anlaut).  Vgl.  Keilscbr. 
Bibl.  I  39  I  97  loi,  Jensen,  Keilschr.  Bibl.  VI  1  o07  f.,  Hommel  Grundr. 
•266  und  274  4. 

~^^)  Ueber  die  Bedevitungsmöglichkeiten  von  Chabur  vgl.  Delitzsch 
Handw.  2o8 ;  Muß-Arnolt  Handw.  303,  Hommel  266.  Das  nächstliegende 
ist  natürlich  ,, großer  Strom"  Delitzsch  Paradies  169.  Bei  der  Deutung 
, Gefäß  des  Himmelsoceans"  (Hommel)  ist  „bur"  in  der  gewöhnlichen 
Bedeutung  ,, Gefäß",  „'ha"  sumerisch  =  „Fisch"  ^=  nünü  und  Nun  =: 
Himmelsocean  (Hommel  114  2)  verstanden. 

-'")  Boll,  Sphära  132. 

238j  Ygl.  den  Euphratnamen  Bur-nun  Hommel  2ö6. 

'^^^j  Dazu  vgl.  man  nun  —  gleichsam  als  Probe  auf  die  Richtig- 
keit der  vorgebrachten  Deutungen,  was  in  der  'Egrjyyjoig  xööv  iv  üspoiSt 
Tcprxxö-sviwv  (oben  Anm.  229  ;  Bratke  in  Harnack  TU  XIX  2  S.  12 5 ff.)  von  der 
babylonischen  Rera,  li-qyri  gesagt  ist:  „a>jjx°'-lps.  ifj  "Hpq;,  ott  t^iXrj'd-fi  .  . 
6  iieyas  vap  "HXi  og  i-^iiXyjoev  auxT^v  .  .  .  llYjyr;  sauv  tj  cptXvj&sIoa  '  \iri 
ydcp  Yj  "Hpa  lEvtxova  sjj.vvj jXEÜaaxo ;  .  .  .  TCYjyil  Sty-aicog  eipr^xai  .  .  ,  Mapia 
de  a'jxfjS  x6  ovo^a,  rjxig  sv  [ifjxpcj;,  (bg  4v  TcsXäysi  iJLupiayWYÖv  oXv-dda. 
cfepsi. .  .IlYiYY)  'fä.p  iiSaxog  7:vjy/;v  Tivsöiiaxog  äsvat^si  sva  [idvov  l)(5i)v  s/ouaa, 
x(p  xfjg  ö-söxY/XOg  üy/daTpui  Äaiißav&[i£vov,  x6v  udvxa  xöa[iov  ü)g  6v  xS-aikdoo-Q 
S'.aYtvöpisvov  loix  aapxl  xps^wv."  Diese  gewöhnlich  aus  christlich- 
gnostischem  Stoff  erklärte  Stelle,  ist  der  reinheidnische  izpbg  •(ä.iioq 
der  babylonischen  Hera  Ur^fri  (Gulä)  mit  "HXiog  (Ninib)  am  Neujahrs- 
tag. Verlobt  ist  ,,die  Quelle"  mit  dem  xexxmv  d.  h.  wörtlich  =  bab. 
nangaru,  einem  bekannten  Culttitel  des  Ea,  in  der  Tamuzlegende  bei 
Ps.-Melito  Corp.  Apol.  ed.  Otto  IX  -126  mit  "Hcfaiaxog  übersetzt.  Seine 
Gattin  ,, Haiti",  d.  h.  eben  die  ,, Aphrodite"  'AcpaxlxLg  (Zosim.  1  ss)  d.h. 
„Quelle'-  (syr.  äpi^eka  :=  Quelle)  „ante  Thammuz  amavit  Arem"  (=  Ni- 
nib) „et  moechata  est  cum  eo"  (der  Mythus  des  Demodokosliedes  in 
seiner  Orient.  Urform  !).  Also  genau  wie  in  der 'Egy,YrjGis :  die  ,, Quelle", 
die  dem  xsxxojv  (naggar)  Ea,  dem  Schmied  oder  Zimmermann  oder  ,, Haus- 
bauer" in  der  Wassertiefe  angetraut  ist,  buhlt  („icfi,Xr,9-7j"  „moechata 
est")  mit  Helios  (d.  h.  dem  Sonnengott  Ninib-Ares).  „Gula"  die  „Große", 
die  „Riesin"  heißt  ,, Maria"  :=;  die  ,, Dicke"  (von  K~ib  =  ,,dick  sein, 
s.  Bardenhewer,  der  Name  Maria,  Bibl.  Stud.    I  1895)    und  :=  ,, Herrin 


200  Robert  Eis  1er, 

noch  ausdrücklich  „Gott  des  „Ka-bur-Kriiges" -^'')  d.  h.  aber 
des  Sternbilds  „araphora",  des  „großen"  (kabur)  Gestirnes,  des 
„raiil  Gula"  genannt.  Wenn  wirklich  —  worauf  vieles  deutet 
—  der  babylonische  EA  (=  Haus,  also  =  ßr^x^uXo;  Raiti-elim, 
vgl.  weibl.  Atirät,  Asirtu,  Asera,  Beth-El  und  Kuba)  ur- 
sprünglich mit  der  später  als  seine  Mutter  bezeichneten  Bau- 
Gula  als  ein  zweigeschlechtiger,  nochmals  erst  zu  einer  Syzygie 
gespaltener  Gott  identisch  war,  dann  wäre  diese  in  der  Wasser- 
region des  Himmels  und  den  Tiefen  des  Erdberges  localisierte 
Gottheit  des  lebenspendenden  Wassers  als  Urbild  der  in  der 
altertümlichen  Mischreligion  Kleinasiens  unverändert  fort- 
lebenden Kuba  - 'Ps'ia  -  rir^i'Yi  zu  betrachten. 

Der  strenge  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Annahme 
läßt  sich  unschwer  durch  eine  Reihe  weiterer  Uebereinstim- 
mungen  erbringen.  Derselben  Göttin  Bau  „Gula",  der  „Großen", 
die  als  Gestirn  des  „  großen  Kruges "  im  Aquarius  der  Quellgott- 


des  Meeres"  (D^  "i^)  zugleich,  weil  ihre  iir/tpa  in  ungeheurer  Weite,  wie 
ein  TOÄaYog,  das  Schiff  trägt,  in  dem  der  an  der  Angel  gefangene,  d. 
h.  von  ihr  mystisch  empfangene  —  über  das  Bild  wird  anderswo  zu 
reden  sein  —  „I/.^OQ  iJiovoyevyjc;  (oben  Anm.  15  über  Dusares  =  „|Jiovo- 
YsvYjS  ~oü  AsaTiötou")  zä;  6  y.ia\i.oq  (=:  'Oläm-A'icüv)  o)j  t/ ii-a.Xa.oori  SLay'-- 
vö|j.£voc''  (=  „Nun",  babyl.  , Fisch"  und  „Hiramelsozean")  ruht  (vgl.  Pro- 
clos  Migne  PG  Hö,  709  b  ,,va'js  T:ovTOT:op2'Jaaaa  äXis'Joaaa  tov  Tiptoxö^xXaoTov  ; 
ApoUon  als  Fisch  im  Schiff  liegend  und  übers  Meer  fahrend  im  Hymn. 
hom.  Apoll,  V.  216  OJ  394  ff.).  Das  Lastschiff  (öXv.äg),  auf  dem  der 
Fisch  in  der  |j.v;xpa  schwimmt,  ist  natürlich  wieder  nur  ein  weiteres  Bild 
für  die  Göttin  selbst;  wie  die  oben  Anm.  47  besprochenen  Appellativa 
cuba-kymbe  für  ,, Lastschiff"  einerseits,  für  ein  slSoc;  rLOxr,oiou  oder  eine 
„Kufe"  andrerseits  beweisen,  ist  einfach  die  „amphora"  ,,Cha-bur"  das 
,, Gefäß  des  Fisches"  (vgl.  den  Fisch  in  der  indischen  Flutsage  (Usener 
25  f.^  der  erst  in  einer  „Schüssel"  Platz  hat,  zuletzt  aber  ins  Meer  ge- 
setzt wird),  als  über  den  Himmel  hinfahrendes  ,, Schiff"  gemeint,  genau 
wie  der  von  Usener  so  glänzend  behandelte  Becher  des  Sonnengottes, 
den  Euphoiüon  fr.  S2  äxaTog  =  Harke  nennt  (vgl.  deutsch  ,, Schaft'  — 
Schiff",  griech.  ay.ä.-^0!^,  oxOcfo;).  ,,nyiYr(  uSaxog  tiyjyTjV  7xv£'j|JLaT0c;  äsvat^s'." 
ist  ebenfalls  nur  aus  dem  Semitischen  zu  verstehen,  denn  ,,luchm'',  wie 
der  mystische  HimmelsKsch  genannt  wurde,  bedeutet  nicht  nur  ,, Fisch", 
sondern  auch  ,,Wind''  =  TxvsOna  (vgl.  Houtsma,  ZATW  22,  :i29  ff. ;  dazu 
meinen  oben  S.  120?  erwälinten  Vortrag-).  Man  sieht,  christlich  ist 
nichts  an  dieser  gigantisch  verblasenen  Mystik;  aber  alle  Vorstellungen 
—  die  kosmische  [jLvixpa  mit  dem  ganzen  niXxyog  und  dem  Becherschiff 
darin,  die  ,, Dicke"  (Marjä)  ,, Riesin"  „Gula",  die  .,Mar  Jäm"  „Herrin 
des  Meeres"  (= 'AcfpoSix-/)  risXäYia)  ihr  einziger  Sohn  Lachmü  (=  'Ix^"'*;, 
Sohn  der  Derketo-Atargatis,  Xanthos  FH  b  I  36  xt).  ihr  Gatte,  der 
TsxTwv  (Ea  naggar),  ihr  Buhle,  der  MIy«?  "HX:os  Ninib ,  alles  paßt  zu 
der  Göttin  Xo'j,3ap,  der  , .Großen"  —  „Cha-bur",  dem  ,, Gefäß  des  Fisches". 
-■»")  Hommel,  Grundr.  12U  i. 


Kuba-Kybele.  201 

heit  Rheia  entspricht,  wird  in  babylonischen  Ritualtexten -*^) 
und  in  den  Inschriften  des  Nazimaratäs-Kudurru -^^)  „masabbu" 
das  „  Räucherbecken "  als  Symbol  zugeschrieben.  Wie  alle  auf 
diesen  Grenzsteinen  vorkommenden  Figuren  ist  auch  das 
,  Räucherbecken "  zweifellos  ein  Sternbild,  wohl  bekannt  als 
das  „^u|JL:aiY,p'.ov"  der  griechischen  Ueberlieferung,  das  alle 
Texte  und  Sphärenbilder  einstimmig  genau  unter  dem  „Scor- 
pion"  stellen -^^).  Kann  es  ein  Zufall  sein,  daß  das  Ideo- 
gramm des  Skorpions  GIR-TAB  als  Götternamen  selbst  „Is- 
charra*",  —  also  nach  der  oben  vorgebrachten  Gleichsetzung 
„sax^px"  griech.  „Herd"  „Altar"  — gelesen  wird ^**),  wäh- 
rend ßw[Jic:  (=  sem.  „bahma"  =:  Höhenort)  lat.  ara  als 
Nebenbezeichnungen  des  „i^ufjuax/^ptov" -^^)  vorkommt?  Ich 
glaube  vielmehr  mit  Zuversicht,  daß  in  diesem  präcisen  Zu- 
sammenstimmen der  verschiedenartigsten  Ueberlieferungsreihen 
wieder  nur  die  doppelte  Auffassung  der  Nabelgöttin  des  Wel- 
tenbergs als  öjJL^aXö;  aivao;  und  als  [x£a6|JicfaXo;  iixiot.  zu  Tage 
tritt.  Als  Herrin  des  „großen  Kruges",  des  Fasses  der  Ge 
Pandora,  des  orphischen  ayyscov  der  Vi]  M'/^xr^p  '^^),  des  „mun- 
dus  Cereris"  ist  die  „Große"  Göttin  die  Quelle.  Aber  unter 
dem  „xöc;|Jioto  \i.iooc,  •8pövo;".  auf  dem  sie,  wie  der  oben  be- 
sprochene orphische  Hymnus,  so  auch  die  babylonischen  Grenz- 
steine thronen  lassen  —  mit  erhobenen  Händen,  den  astral 
gedeuteten  „'Peia;  yslpe;",  begleitet  von  dem  bellenden  Hund 
der  "Apteij.:;  axuXaxixc;  '^^'')^  dem  symbolischen  X'jwv -*'''')  der  grie- 
chischen Baubo  —  entspringt  nicht  nur  die  Quelle  aller 
Ströme,    sondern    dort    brennt    auch,    schwimmend    über    dem 


-*')  Zimmern,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  babyl.  Relig.  Leipzig  1901 
Nr.  24  Rev.  6. 

■-*^)  Derselbe,  Leipz.  semit.  Stud.  II  2,  1906  S.  40  ff.  üeber  hypo- 
thetische Abbildungen  des  Symbols  s.  ibid.  41 2  zu  Hommel,  Aufs, 
u.  Abh.  444. 

2")  Boll,  Sphära  143;  vgl.  die  Abb.  ibid.  Taf.  I. 

2")  K.  Frank,  Bilder  und  Symbole  bab.-assyr.  Götter  Leipz.  I9ö6 
S.  22. 

2«)  Boll  a.  a.  0.     Vgl.  oben  S.  145. 03. 

2«)  Abel  fr.  orph.  Nr.  165  p.  218:  ^xr^'i  oz  yri'/  w^tzs?  ü.'('{zlö-^ 
Tt  xwv  ccoop,ivcov  'jTioAajjLßivovxa;  tiyjxipa  r.pozoLyopz'JOXi'  "/.-?.. 

"')'  Orph.  hymn.  36  12. 

247a)  Yg]  oben  136  Ti,  wozu  noch  nachzutragen  wäre,  daß  die 
Deutung  y.'Jcüv  =  yi-j^/m  bei  Hippolyt.  philos.  V  2,  16  überliefert  ist. 


202  Robert  Eisler, 

heiligen  Quellsee,  das  Zentralfeuer  der  Welt^*^):  wie  die 
schwimmenden  Inseln  Delos  die  „eoxca  KuxXaSwv"  oder  Palai- 
tyrus,  die  {isacfxcpaXos  uypouöpo?  nixpcc  den  Feuerbaum  trägt, 
wie  der  öficpaXo;  ^aXaaarj?  der  Kalypso-Zeatia,  wie  das  indische 
Opferfeuer  Agni  „apäm  näpät"  als  „Nabel  der  Gewässer"  gilt, 
so  beschreibt  Pseudolucian  '^*^)  das  heilige  Feuer  der  Göttin 
von  Bambyke,  das  auf  einem  scheinbar  in  der  Mitte  des 
heiligen,  fabelhaft  tiefen  Sees  schwimmenden  Altar  brannte: 
„Is-charra  tamtl"  =  *  Ea^apa  •8'aXaaarji;  ist  der  ständige  Titel 
der  Göttin  im  babylonischen  Ritual :  „ao:  :i  o  x  a  [lol  xpocxioy- 
Tcci  de:  '/.ocl  Träaa  i)' oc  X  a  a  a  a  ,  'loxlri  aüSaxö-etoa"  ruft  der 
orphische  Hymnus '^*^'')  der  Göttermutter  zu. 

Dazu  kommt  noch,  daß  neben  der  rotacistischen,  auf  bab. 
,,char"  hebr.  "in,  iranisch  „hara"  (slav.  gora)  griech.  bpo;,  hin- 
weisenden, in  phonetischer  Schreibung  zuverlässigen  überliefer- 

2*8^  Vgl.  oben  Anm.  102  b.  Den  Herd  (arial)  Jahwe's  über  dem 
Quellfelsen  (Anm.  21B)  von  Zion ;  ferner  Anm.  156  a  über  die  Bezeich- 
nung der  Madonna  als  „SusiaatT^pLov",  zu  der  das  bekannte  Mariensym- 
bol des  Gefässes  mit  der  lodernden  Flamme  in  byzantinischen  Minia- 
turen —  also  genau  das  „masab  rubati"  =  „turribulum  maiestatis"  — 
zu  stellen  ist.  Hiezu  das  „x.°^'^P'°'  '^^y^iP^Z  Tiupöe"  in  Karthago,  Diod. 
20i4  nach  Duris  von  Samos;  cf.  Eurip.  Iph.  Taur.  682  „TiOp  Espöv  svSov 
XO'.ajia  x'  sOpcojicv  Tietpag"  der  Artemis  Tanropolos.  In  dem  arab.  Fragment 
des  Hippolytos  zum  Targum  Genes.  VII  6  (übers.  Bonwetsch-Achelis  Bd.  I 
griech.  cbristl.  Schriftst.  preuss.  Akad.)  weist  mir  Schultz  die  Legende  nach, 
daß  die  Ströme  der  noachischen  Sintflut  aus  einem  Backofen  hervor- 
gebrochen seien.  Das  erkläre  ich  daraus ,  daß  der  Backofen  ein 
uraltes  Symbol  für  Vulva  bezw.  Matrix  ist.  Wenn  eine  Frau  nieder- 
kommt, heißt  es,  der  Backofen  ist  eingebrochen  (Wander,  Sprichw. 
Lexik.  III  1119  Nr.  111—113,  101,  145;  Zingerle,  tirol.  Sagen  S.  454 
Nr.  999;  dess.  „Sitten"  S.  26  Nr.  152).  Im  „Nachtbüchlein"  dgn.  Hub, 
kom.  u.  humorist.  Litt,  deutsch.  Pros.  16.  Jhdts.  S.  355)  heißt  es  von 
einem  brünstigen  Pfafifen  „er  wolle  immerfort  den  Backofen  besteigen". 
In  Tiergestalten  Verzauberte  erhalten  im  Backofen  (Wiedergeburt!)  ihre 
menschliche  Gestalt  zurück  (Müllenhoff,  Sagen  etc.  v.  Schleswig-Holstein 
etc.  S.  230  Nr.  216).  Vgl.  hiezu  fornix  (=  xaiidcpa!)  und  „fornax" 
„Backofen"  zu  „fornicari".  Die  „Brandstätte"  Jahve's  auf  dem  Nabel 
der  Erde,  wie  ich  o.  S.  144  f.  die  Stelle  Jes.  31  9  frei  übersetzt  habe,  heißt 
wörtlich  „tannür"  „Backofen".  Vgl.  S.  182  iss.  über  den  weiblich  ge- 
dachten Unterteil  des  Feuerzeugs.  Ebenso  gilt  im  Indischen  der  Altar 
(vedi)  als  weiblich,  das  Feuer  (agni)  als  männlich;  „yoni"  (Vulva)  ist 
synonym  mit  Altarherd  (^atapatha  Brahmäna  Sacr.  Books  of  the  East 
XII  62  f.;  XXVI  113;  XH  74,  257,  262,  277;  XXVI  61,  211—214;  cf. 
Trumbull  a.  a.  0.  S.  198. 

-*^)  Dea  Syria  46;  Zosimos  Iss  scheint  ein  ähnliches  mystisches 
Feuer  auf  dem  See  von  Aphaka  zu  bezeugen.     Vgl.  oben  Anm.  228. 

-'49a)  XII  8 ff'.  Abel  p.  73.  Vgl.  den  Namen  eines  Meerbusens 
xöXnos  Taag  bei  Aesch.  Prom.  837. 


Kuba-Kybele.  203 

ten  Form  „Is-cbarra"  =^  „Haus  des  Berges"  (E-kur)  noch  die 
ursprünglichere  Form  Is-channa  =  „Haus  des  Fisches"  —  ana- 
log wie  oben  Cha-bur  „Gefäß  des  Fisches"  —  erhalten  ist'-^^''). 
Das  Ideogramm,  das  auch  zur  Beziehung  der  nach  Ninib,  dem 
Gemahl  der  Is-channa  benannten,  ihr  geheiligten  Stadt  Ninive 
verwendet  wird,  besteht  aus  den  zwei  Zeichen  für  „Haus'"  und 
„Fisch".  In  der  aufgerichteten  altbabylonischen  Form  zeigt 
das  Bild  einen  schematischen  Berg  oder  Tempelhügel,  auf  dem 
die  eigentliche,  mit  dem  Stern  der  Göttin  bekrönte  Tempel- 
cella  steht;  im  Innern  des  Berges  der  heilige  Fisch '^^*').  In 
anthropomorpher,  griechischer  Auffassung  besser  angepaßter 
Gestalt  zeigt  die  gleiche  Göttin  eine  hocharchaische  bÖotische, 
von  Wolters  '-^^)  veröffentlichte  Vase  des  Nationalmuseums  von 
Athen  (Nr.  220) :  sie  steht  zwischen  ihren  zwei  Löwen  in  der 
bekannten  wappenartig  symmetrischen  Stellung,  auf  den  Hän- 
den je  einen  Vogel  —  seien  es  nun  Tauben,  seien  es,  wie  die 
streng  stilisierte  Zeichnung  eher  anzudeuten  scheint,  die 
Pfauen  der  Himmelskönigin ;  auf  dem  Unterkörper 
aber,  wie  um  zeichnerisch  auszudrücken  „im  Leibe"  der 
Göttin,  die  das  „Haus"  oder  „Gefäß"  des  Fisclies  ist,  sieht 
man  wirklich  den  göttlichen  Tx^-us,  den  Sohn  der  Is-channa- 

^äi9~b)^HoiTrmel  Grundr.  50. 

'-°")  Freundliche  Mitteilung  Hommels. —  In  Armenien  (o.  S.  1972:8) 
hat  sich  Cult  und  Mythus  der  Is-charra-Is-clianna  bis  auf  den  heutigen 
Tag  erhalten.  Beim  Dorfe  Lesg  unweit  von  Van  befindet  sich  eine  von 
Armeniern,  Türken,  Jessiden  und  Kurden  hochverehrte  hl.  Quelle  in  Form 
eines  Feuerherdes  ,  die  vom  Volk  der  „hl.  Herd"  (=  ioxäpa!)  ge- 
nannt wird.  In  der  Mitte  befindet  sich  nur  ein  Fisch  (o.  8.  200 239 
l'ji^bc,  [lovoysv/^g !)  der  mit  einem  silbernen  Ring  geschmückt  ist  (vgl.  die 
goldgeschmückten  Fische  der  Dea  Syria!).  Der  Fisch  soll  einst  eine 
Pfarrers-  (d.  h.  Priesters-)Frau  von  unbeschreiblicher  Schönheit  (=  K  a  1- 
listo,  die  in  die  Bärin  verwandelte  Göttin  des  hl.  Berges,  0  S.  147, 
149!)  gewesen  sein.  Als  sie  am  Herde  saß  und  Brot  buk  (oben  Anm. 
248;  vgl.  die  zu  Ehren  der  Himmelskönigin  gebackenen  Kuchen  Jerem. 
7i9  44i9;  Kuchen  für  Al'Uzza,  Wellhausen,  Riste^  S.  41  f.;  Epiphan. 
haeres.  7823  79i,i9  über  die  y.oXXupiSsg,  welche  die  christlichen  Araberinnen 
für  die  XaaßoO  Maria  buken),  kam  ein  Bettler,  den  sie  auf  seine  Bitte 
labte  und  speiste.  Bezaubert  von  ihrer  Schönheit,  bittet  er,  sie  küssen 
zu  dürfen.  Sie  meint,  einem  Armen  dürfe  man  nichts  abschlagen  (sac- 
rale  Prostitution  an  den  Fremden!).  Bei  dieser  zärtlichen  Szene  von 
ihrem  Gatten  überrascht  (s.  0.  S.  199239  das  Ehebruchsmotiv!)  stürzt  sie 
sich  ins  Feuer,  wird  jedoch  durch  göttliche  Gnade  in  einen  Fisch  ver- 
wandelt (wie  die  .'iyriscbe  Derketo!).  Der  Herd  aber  wird  zur  Quelle, 
in  der  der  Fisch  seine  Wohnung  (Is-channa  ,Haus  des  Fisches!^) 
nimmt.  Vgl.  den  Mythus  bei  Griskos  Chalatianz,  armen.  Bibl.  IV 
p.  XXVII  f.     Auch  für  diese  Stelle  bin  ich  Schultz  zu  Dank  verpflichtet. 

-"')  'Eqjvjiispij  äp^aioX.  1892  Tiiv.  i. 


204  Robert  Eisler, 

Aspxsxü).  Links  von  der  Göttin  "^-j  ist  der  Grund  mit  dem 
Stierkopf  des  Adad,  des  Miycatos  als  Gatten  der  Meyioirj-Kubrät 
ausgefüllt,  rechts  sieht  man  den  „Arm"  des  Nebo-Hermes-Arma 
mit  dem  Blitzfeuersymbol  -^-*)  des  Hakenkreuzes. 

Ein  sprechenderes  Zeugnis  für  Wesensart  und  Herkunft 
der  prähellenischen  Cultur  wird  sich  nicht  leicht  finden  lassen. 
Gewiß,  die  Anbeter  dieser  barbarischen  Gottheit  waren  keine 
Babylonier,  keine  Syrer  oder  Aramäer  und  sicher  nicht  die 
früher  in  ihrer  Bedeutung  für  die  mediterrane  Culturent- 
wicklung  so  sehr  überschätzten  Phöniker;  damals  als  diese 
„böotische"  Vase  den  Töpferofen  verließ,  war  sogar  die  durch 
die  vorgriechischen  Ortsnamen  sicher  bezeugte  hethitisch-klein- 
asiatische,  auf  der  Balkanhalbinsel  vielleicht  geradeso  wie  in 
Kleinasien  autochthone  Bevölkerungsschicht  sprachlich  wohl 
schon  im  Griechentum  aufgegangen.  Allein  wer  aus  allen  Irr- 
gängen, die  die  Religionsgeschichte  bis  auf  den  heutigen  Tag 
schon  gewandelt  ist,  die  eine  Grundwahrheit  einsehen 
gelernt  hat,  daß  Entwicklung  und  Verbreitung 
der  Culte  mit  den  Grenzen  des  Volksturas  und 
der  Rasse  fast  nichts  zu  tun  haben,  wer  sich 
vergegenwärtigt,  daß  im  15.  Jahrhundert  vor  Christus  das 
Babylonische,  spätestens  vom  8.  Jhdt.  an  das  Aramäische 
als  lingua  franca  an  allen  Küsten  des  Mittelmeers  und 
in    ganz   Vorderasien    die   Verkehrssprache   war^^^),    wer   be- 

•262)  Vgl.  dazu  Paus.  VIII  42 1  die  „Demeter"  von  Phigalia  mit  der 
himmlischen  Polschlange  am  Kopf,  in  den  Händen  Fisch  und  Taube. 
Die  asiatischen  Analogien  zum  Pferdekopf  der  Göttin  siehe  ,Welten- 
mantel"  152  ff.  mit  den  Nachträgen. 

«-•a)  Ygi.  den  Feuergott  als  Personification  des  Blitzstrahls,  Tall- 
quist,  Serie  Maqlu  28. 

2"3)  „  Archeological  evidence  deraonstrates,  that  as  far  back  as  the 
8th  Century  B.C.  Aramaic  had  become  the  lingua  franca  of  Western 
Asia".  So  Cowley,  Einleit.  zu  Sayce'  u.  Cowley's  Ausg.  der  aramäischen 
Papyri  von  Syene  p.  20.  Als  unzweifelhaftes  Beispiel  einer  aramäischen 
Benennung  einer  kleinasiatischen  Oertlichkeit  vgl.  man  den  Fluß  ^o-^o^;, 
den  die  Griechen  Kctpavo;  nannten  (Fick,  vorgriech.  ON  43).  Das  Be- 
zeichnendste aber  ist,  duß  schon  in  vorhomerischer  Zeit  die  Lykier 
(Lukki)  unter  Herrschern  standen,  die  den  Griechen  unter  ihrem  aram. 
Titel  ,Sar  paddan'  =  I.apT.rß(bv  =  „Fürst  des  Landes"  bekannt  waren. 
Wie  Daniel  8m  ^Sar*  als  Titel  Jahve's  erscheint,  so  heißt  auch  bei 
den  Lykiern  Hobalön-'A-ö?.Xwv  ,Sar  Paddäu"-Iap-rj5dv'.og  (Gruppe  Hdb. 
327  7).  Vgl.  den  Cult  des  ,Sar  Paddan "-lap-y^Scüv,  des  göttlichen  ,Me- 
lech"  oder  ,Ba'al  des  Landes"  in  Xanthus  Appian.  bell.  civ.  4  78. 


Kuba-Kybele.  205 

denkt,  daß  z.  B.  die  iranische  Priesterscliaft  Kleinasiens  das 
Aramäische  ebenso  hartnäckig  und  grundsätzlich  als  Cult- 
sprache  verwendet  hat,  wie  die  katholische  Kirche  in  Europa 
das  lateinische,  der  Avird  sich  dem  hier  vertretenen  Standpunkt 
gegenüber  gewiß  nicht  von  vornherein  ablehnend  gegenüber- 
stellen können. 

Wie  immer  man  sich  aber  zu  diesem  allgemeineren  Pro- 
blem der  vorgriechischen  Cultur  in  Hellas  verhalten  mag, 
zwischen  dem  kleinasiatischen  Kybele-  und  dem  arabischen 
Ka'abacult  sind  nun  genügend  Uebereinstimmungen  aufgewiesen 
worden,  um  den  Anteil  des  semitischen  Elements  an  der  klein- 
asiatischen Mischcultur,  die  man  nun  hoffentlich  bald  aus  dem 
Archiv  von  Boghazkiöj  besser  kennen  lernen  wird,  in  ein  ganz 
neues  Licht  zu  rücken.  Am  Anfang  der  antiken  Religionsge- 
.schichte  steht,  wie  man  jetzt  zu  ahnen  beginnt,  ein  uralter, 
höchst  complicierter  Synkretismus ,  nicht  unähnlich  jenem 
zweiten,  heute  noch  fortlebenden,  in  den  das  alte  Heidentum 
ausmündet.  Erst  wenn  dieser  panethnische  Untergrund  mit 
seinen  griechischen,  eranischen,  thrako-phrygischen,  semitischen 
und  ,,hethitisch-alarodischen"  Elementen  besser  bekannt  sein 
wird,  werden  die  jetzt  noch  übrigen  unerklärten  Götternamen, 
diese  cruces  religionsgeschichtlicher  Forschung  endgiltig  erle- 
digt werden  können.  Einstweilen  wird  man  aus  den  vorge- 
legten Beispielen  künstlicher,  zum  Teil  sogar  hybrider  Na- 
mensbildungen einsehen  lernen ,  daß  diese  Probleme  nicht 
aus  lautgesetzlichen  und  sprachgeschichtlichen  Gesichtspunkten 
allein  zu  lösen  sind.  Steht  auch  nur  hinter  einem  solchen 
Namen  die  ganze  Fülle  spielerischer  orientalischer  Wortmystik, 
dann  können  auch  andere  Namen  künstlich  in  den  verschie- 
densten Richtungen  umgemodelt  worden  sein.  Der  weite  Umkreis 
von  Beziehungen,  die  sich  aus  zufälligen  Assonanzen  ergeben, 
wird  dadurch  der  Erwähnung  näher  gerückt.  Damit  scheint 
nun  freilich  dilettantischer  Worterklärung  wieder  Thür  und 
Thor  geöffnet:  aber  in  Wirklichkeit  ist  damit  eben  nur  die 
Etymologie  aus  ihrer  angemaßten  Führerrolle  in  die  ihr  wirk- 
lich zukommende,  untergeordnete  Bedeutung  einer  notwendi- 
gen Hilfswissenschaft  der  Religionsgeschichte  zurückverwiesen. 

Gewiß   ist   auch    heute   noch,    nachdem    F.  Max   MüUer's 


206  Robert  Eisler, 

Grundsatz  „nuraina  nomina"  von  seinen  letzten  Anhängern 
aufgegeben  ist,  das  Verständnis  der  Götter  n  a  m  e  n  —  etwa 
im  Sinne  Hermann  Usener's  —  Anfang  und  Ende  religions- 
gescbichtlichen  Verständnisses.  Aber  wer,  alles  vernach- 
lässigend, was  zwischen  diesem  Anfang  und  diesem  Ende  in 
der  weitbingedehnten  Mitte  liegt,  dem  Problem  nur  mit  lin- 
guistischen Waffen  gegenübertreten  wollte,  dem  wird  die  Er- 
fahrung des  platonischen  Sokrates  mit  den  Herakliteern,  den 
würdigen  Schülern  des  abgedankten  Bienenkönigs  der  Großen 
Mutter,  an  jeder  einzelnen  seiner  Quellen  nicht  erspart  bleiben; 
auch  ihn  warnt  Piaton  (Theait.  p.  180)  „w^Tiep  iv.  cpapetpa: 
^Tjfiaxiaxca  aüvLyfxaiwoy]  ÄvaaTcwvxe?  ÄTioTo^suouat,  xav 
TouTGU  LXiijjC,  Aoyov  Xaßstv  xi  sl'pr^xsv,  sTspw  uen'Xri^e'.  x  a  i  v  w  ; 
(jL£XO)vo[Aaa[jievq)". 

München  im  Herbst  1908.  Bohert  Eisler. 


Nachträge  und  Berichtigungen. 

Zu  S.  120  7  vorletzte  Zeile:  Münchn.  Neuest.  Nachr.  ^»/lo.  1908. 
S.  183  das  Referat  von  Dr.  Max  Maas. 

Zu  S.  123 15:  Zu  dem  Kamelopfer  auf  dem  hl.  Stein  beachte  man, 
daß  „ibil"  „Kamel"  „habbäl"  ^Kamelhirte"  heißt  und  vgl.  133  eo 
über  den  Gott  H  0  b  a  1.  In  Südarabien  werden  Kamele  regelmäßig  dem 
„Himmelsherrn"  (^du'  Samäwij),  d.  h.  aber  dem  Ab-Räm  oder  Ibrahim 
der  Ka'aba  von  Mekku,  geopfert. 

Zu  S.  124 19  vgl.  Karppe,  Zohar  p.  74  f.  über  die  wortmystischen 
Interpretationsmethoden  des  Notarikon  (Äkrologie)  und  des  Ziruf  (Per- 
mutation). 

Zu  S.  125  25  vgl.  Grünbaum  ZDMG  XXXI  1877  251  über  die  tal- 
mudischen Ueberlieferungen  vom  Stein  der  Lilith  (bab.  lilitü  =  „Buhlge- 
spenst", Verdrehung  für  Hat),  der  in  Gestalt  eines  Pfeiles  mit  dem 
Blitz  auf  die  Erde  fällt. 

Zu  S.  12627:  Die  Gleichsetzung  des  kleinasiatischen  F  1  u  ß  gottes 
Axios  mit  dem  biblischen  J"??  („Axt")  stützt  sich  auf  die  Bedeutung 
„Fluß"  für  hebr.  „peleg"  Ps.  464 [5]  65  9Lio].  Vgl.  ferner  die  Analogien 
zu  dieser  Aequivocation  *  „Weltenmantel"  S.  153  7  1838. 

S.  12835  lies  Attar  statt  Altar  und  vgl.  „awjia  xpucfspiv"  der  Maria, 
Relig.-Gespr.  am  Sassanidenliof  17  22  Bratke. 

Zu  S.  12942  finde  ich  nachträglich  in  dem  mystischen  Tractat 
„Schiur  Koma"  =  „Maß  der  Höhe"  —  geschrieben  vor  dem  IX.  Jhdt. 
V.  Chr.  —  bzw.  in  dem  R.  Akiba  zugeschriebenen  „Alphabet"  (Karppe, 
Zohar,  93  und  111)  wichtige  Ueberlieferungen  über  die  Maße  des  Kör- 
pers (bzw.  der  sog.  Schechina)  Gottes,  und  über  das  Größenverhältnis 
irdischer  und  himmlischer  Parasangen  (!),  Ellen  und  Spannen.  Midras 
beresith  rabba  sect.  34  verspricht  Jahve  dem  Moses,  in  der  Stiftshütte 
seine  Schechina  auf  den  Raum  einer  Kubik-Elle  (N)2N '7L'' KÖK  lirs) 
zu  konzentrieren.     Vgl.  auch  die  Lehre  des  Hischam  bei  Schahrastani 


Kuba-Kybele.  207 

trad.  Haarbrücker  I  212.  Feiner  macht  micb  Schultz  auf  Gellius, 
Noctes  Atticae  I  1  aufmerksam,  wonach  der  Fuß  des  Herakles  — 
natürlich  kann  da  nur  H.-Sandan  gemeint  sein  —  um  '/i-'  größer  war, 
als  der  als  Maßeinheit  dem  griechischen  Stadion  zugrundegelegte.  Dieses 
neue  Maß  soll  Pythagoras  den  Speculationen  über  die  Körpermaße  des 
Herakles  zugrundegelegt  haben.  Die  Discussion  dieser  Nachrichten  kann 
hier  auf  beschränktem  Raum  nicht  nachgeholt  werden. 

Zu  S.  133:  „Vulva  als  Haus"  vgl.  Middä,  Mischna  §  2,5  wo  als 
Teile  der  Matrix  „Vorhaus"  , Kammer"  und  „Oberstübchen"  aufgezählt 
werden. 

Zu  S.  136  71  finde  ich  nachträglich  in  den  Zusätzen  bei  Gruppe 
Hdb.  718  6  406,  i:  Hesych.  „y-ücov  .  .  Svj/loi  Si  xai  tö  ävSpsTov  |j,öptov";  nach 
Eusth.  p  302  1821 63  wird  -/.ücov  auch  In'o  [lopiou  ^y^Xsos  gebraucht.  Lat. 
cunnus  hat  schon  0.  Jahn ,  arch.  Beitr.  148  verglichen.  Bei  Piaton, 
Phaon  (I  645  fr.  174 ig  Ko.)  werden  „Hunde"  zusammen  mit  Dämonen 
des  Beischlafes  genannt.  Im  gleichen  Sinn  faßt  Kaibel,  Gott.  gel.  Nachr. 
1901,  505  die  „Hunde"  der  Inschrift  vom  Piräus  Iq;.  dp7_.  III  1885  S.  88. 
Daher  dürfte  „val  [lä  x  ö  v  xüva-"  —  wie  mich  D.  E.  Oppenheim  freund- 
lichst aufmerksam  macht  —  nicht  spanischem  cono!  sondern  dem 
Gegenstück  carajo!  entsprechen,  da  sonst  vai  [idc  xyjv  -xüva  zu  erwar- 
ten wäre.  Zum  Schwur  beim  Phallos  verweist  0.  auf  Gen.  24  2. 
Die  Peratitischen  Gnostiker  (Bouche-Leclerq,  astrol.  grecque,  Paris  1899 
S.  609 1)  verwenden  die  Deutung  xütüv  =  yswtov  für  den  Hundsstern 
Sirius,  der  den  Babyloniern  (Kugler,  Sternk.  244)  als  Catasterismus  der 
Götter  dirne  Istar  galt.  Deut.  23  is  ist  von  Tempelprostituierten  bei- 
der Geschlechter  die  Rede.  Im  entsprechenden  v.  19  steht  „Hurenlohn" 
und  „Hundegeld"  parallel.  Daraus  ergibt  sich,  daß  die  männlichen 
Kedesbim  (TiopvsOwv  LXX  sodomita  Vulg.)  der  Tempel  bezeichnender- 
weise „Hunde"  genannt  wurden.  Das  erklärt  die  22^3  („Hunde")  im 
Tempel  der  Ashthoret  in  Idalium  auf  Cypern  CIS  I  n.  86  B  1.  10,  cf. 
Robertson  Smith,  Rel.-'  292.  „Kalabu"  als  assyr.  Priestertitel  kann 
wegen  kalbu  =  Löwe  auch  eine  den  Xsovxs?;  der  Mithriasten  entspre- 
chende Würde  gewesen  sein.    Vgl.  aber  oben  S.  201  den  Hund  der  Gula. 

Zu  S.  137:2:  Zum  megarisclien  Heiligtum  AeXxa  (deleth  =  Thür) 
bemerke  ich,  daß  die  neugefundene  S.  183  is-i  a  besprochene  minäische 
Inschrift  von  Delos  den  schon  von  U.  v.  Wilamowitz  als  ungriech.  er- 
kannten Namen  AyjXois-AäXog  mit  rh~\  =  Thür  wiedergibt,  wozu  S.  165 145 
das  Felsentor  von  Delphi  und  Apollon  öupaToj ,  S.  189  200  aber  bab. 
,abullu"  „Stadttor"  zu  vergl.  ist.  Zu  Ai-9'upa[ißo5  vgl.  Olympiod.  in 
vit.  Plat.  p.  384  Westerm.,  Dionysos  aus  der  ■9'upä  der  Semele  (^sijlsXw 
phryg.  „Erde"  Kretschmer)  hervorgehend.  Zum  lat.  Ausdruck  „vulva" 
vgl.  Isid.  Hisp.  Orig.  1,137:  „vulva  vocata,  quasi  valva,  i.  e.  ianua 
ventris".  Janus  als  Schöpfer"  (cerus)  und  demgemäß  Jana-Janua  „Thür" 
als  „Ceres"  würden  sich  am  besten  aus  diesem  Gedankengang  ver- 
stehen lassen. 

Zu  S.  137  „l%xÜ7itü|jLa"  verweist  mich  Oppenheim  auf  die  volkstüm- 
lichen Ausdrücke  griech.  xüntsiv,  deutsch  „stempeln",  zu  ocppayis  auf 
deutsch  „Ring"  oder  „Ringl*  für  Vulva,  wozu  mau  den  Euphemismus 
My.zuXoz  für  cpaXXc?  vergleiche;  endlich  auf  Gantic.  Cant.  Se:  „Lege 
mich  wie  einen  Siegelring  .  .  an  deinen  Arm",  wozu  oben  S.  182 133c 
über  „Arm"   als  Euphemismus  für  „Phallos". 

Zu  S.  138  „sethianisch"  verweise  ich  auf  Kuhn,  Festgr.  an  Roth 
Stuttg.  1893  S.  218  fF.  wonach  unter  „Seth"  in  der  pseudepigraphen 
Litteratur  ausschließlich  Zoroaster  zu  verstehen  und  der  Sethianismus 
als  christlich-p  a  r  s  i  s  t  is  c  h  e  r  Synkretismus  zu  betrachten  ist.  Zur 
kosmischen  [iv^xpa  vgl.  die  „matrix  mundi"  der  jüdischen  Kabbalisten. 
Karppe,  Etudes  sur  les   origines   et  la   nature  du  Zohar,  Paris  1901 


208  Robert  Eisler, 

p.  428,  endlich  Rhea  als  »[ir^xpa  ouvexouoa  lä  uävia"  in  den  Orac.  Cbald. 
Kroll  S.  19,27—30;  69. 

Zu  S.  140:  Zum  Grab  der  Nabelgöttin  in  Dscbedda  vgl.  das  Grab 
der  Aphrodite  in  Kypros  (Clem.  Rom.  V  23  II  1920  Migne)  und  das 
Grab  der  Ai  (Istar  als  Mondgöttin)  in  Sippar  (Cod.  Hamurabbi  II  2b). 

Zu  S.  141  hagr  , Mittag"  ^Culminationspunkt"  vgl.  Winckler  Enc. 
Bibl.  4643. 

Zu  S.  144  99  öiJL'4:aXöc;  .  .  [j,  a  V  X  E  ü  [j.  a  X  a  xpaivät  und  194  219  „öiicfaXö; 
äevaog"  und  „Tivjyy)  XaXoüoa"  ist  auf  das  homerische  &[jicp7j  9-siyj  „Götter- 
stimnie*  zu  vervreisen. 

Zu  S.  146 16 :  Zwei  Berge  als  Sonnenaufgangspforte  sind  griechisch 
bei  Apoll.  Rhod.  III  161  cF.  Schol.  (Ibyk.  fr.  80)  bezeugt. 

s.  148  lies  n:n3  statt  n:nD  (x™>^vj). 

Zu  S.  Irj0  22:  Mit  .apäm  napat"  armen.  Npat-Niqsäxvjg  ist  mehrfach 
lat.  ^Neptunus"  verglichen  worden. 

Zu  S.  164 140  eoxy^vcoGöv  vgl.  noch  den  Vorschlag  der  Jünger  Mark. 
9  s  u.  Parall.  axr^väg  ■Jio'.rpwp.v/  xpsi;,  ool  [jiiav,  Mcoasi  (jiiav  xal 'HXia  jiiav*. 
Unter  dem  Eindruck  der  Wundererscheinung  schlägt  Petrus  —  ganz 
verwirrt,  wie  der  Bericht  entschuldigend  beifügt  —  die  Vollziehung 
des  alten,  Ezech.  16 16,24  bekämpften  Höhencultritus,  Erbauung  eines 
improvisierten  Zeltes  (oben  S.  118 3  u.  S.  163  „Sukkoth")  oder  einer 
, Wölbung"  (*a)  für  die  neu  offenbarte  Gottheit  vor.  Die  Erzählung 
ist  ein  frühchristlicher  Rechtfertigungsversuch  für  den  fortdauernden 
Cult  der  drei  ^.tabernacula"  auf  dem  Tabor  (Encycl.  Bibl.  4884),  die 
ursprünglich  ofi'enbar  die  drei  „ Stiftshütten "  oder  Stammesheiligtümer 
(0.  S.  164)  von  Issachar,  Sebulon  und  Naphtali  waren,  deren  Grenzen 
am  Tabor  aneinanderstießen  (a.  a.  0.  4882).  Vgl.  ferner  Chwolson, 
Ssabier  II  33 :  „Am  4.  Kanun  (Dezember)  schlagen  sie  (die  hauranischen 
Syrer)  ein  gewölbtes  Zelt  auf,  das  sie  El  Chidr  (das  Frauenge- 
mach) nennen,  für  Baalti;  diese  ist  die  Venus,  die  Göttin  Barqaja,  die 
, Funkelnde". 

Zu  S.  164 141  vgl.  Trumbull  a.  a.  0.  S.  193  IF.  über  die  primitive 
Gedankenverbindung  zwischen  dem  , Eingehen"  ins  Haus  und  der  Sca- 
y.öpeua-.g  im  Ritual.  Zur  Vorstellung  einer  kosmischen  Hierogamie  bei 
den  Juden  vgl.  Genesis  Rabba  11,  wo  die  E  rde  mit  Beziehung  auf  Jes. 
55 10  „Braut"  oder  „Jungfrau  Gottes"  genannt  wird. 

Zu  S.  164 144  cf.  Paus.  III  22,  4;  Humann,  Athen.  Mitth.  XIII  1888 
S.  28  Taf.  I. 

Zu  S.  166  „kreissender  Berg"  denke  ich  natürlich  an  das  geflügelte 
Wort  „parturiunt  montes,  nascetur  ridiculus  mus",  das  sich  höchst 
wahrscheinlich  auf  die  Geburt  der  mausgestaltigen  Zwillinge  ApoUon 
Smintheus  und  Artemis  Mysia  (Wide,  lak.  Culte  118)  aus  dem  Felsen- 
schoß der  Aax(b  'Opeia  (S.  183 1 84  a)  bezieht. 

Zu  S.  166 149  vgl.  die  Doppelaxt  (ueXexug)  der  Athene  Procl. 
hymn.  VII  v.  16  Abel  orph.  S.  282.  Proklos,  dem  auch  die  Nachrichten 
über  die  mystische  n-qYri  {S.  195  224  197 231)  verdankt  werden,  istLykier 
von  Geburt  (Hymn.  V  13;  cf.  Marin,  vit.  Procl.  6;  Zeller,  Phil.  Griech. 
III  b-*  835i). 

Zu  S.  167 149.  Zur  Deutung  von  Auawpov,  'Aaaöpov  und 'Aaar;pa  vgl. 
den  Dionysos  BaXetog  (^  Ba'al)  in  Thracien  (Etym.  Magn.  s.  v.),  dazu 
den  Zeus  BdcXr^og  in  Bithynien  (athen.  Mitth.  1894,  373). 

S.  168ii-,2  „Teukriden  von  Salamis"  —  natürlich  auf  Cypern. 

Zu  S.  169 152  a.  Zu  9-6poog-xüpa'.5  verhält  sich  der  Ba'al  Tars  (auf 
.Münzen  von  Tarsos  mit  Tll?  gepaart)  wahrscheinlich  wie  Turk,  Turgu 
zu  Tark,  Tarkuaris,  Täp/mv;  xapoög  heißt  bezeichnenderweise  „Fuß- 
sohle" (vgl.  S.  12842  über  Sandan).  Tarsos  soll  nach  der  Fußsohli 
des  Perseus  benannt  sein  (Dion.  Thrax  FHG  III  189). 


Kuba-Kybele.  209 

Zu  169 164  vgl.  das  von  Bienen  erbaute  Schloß  Grimm  KHM^- 
Nr.  107  p.  355.  Bei  Caes.  v.  Heisterbach  clial.  mirac.  ed.  Strange  dist. 
IX  c.  8  bauen  „Bienen"  einen  Tempel  Christi. 

Zu  S.  177 144  vgl.  noch  ßpojidaSrjg  als  %-söi  [isyac;  Plut.  "Vit.  Artax. 
29;  ad  princ.  iner.  30;  übereinstimmend  mit  den  Keilinschriften  der 
Achaemeniden.  ß.  iisyiaTog  Stob.  Anthol.  11 33  cf.  Xenoph.  Cyrop.  5,  1,  29 
„Zsö  lidytaie"  Pseiido-Callisth.  1 40 :   ,Aia  töv  MeyiaTOv". 

Zu  S.  179 180  vgl.  den  Engel  Metatron  als  personifizierte  „Stimme" 
und  als  „Finger"  Gottes,   Karppe  a.  a.  0.  S.  55. 

Zu  S.  1&>1  issc  vgl.  die  Erfindung  des  Feuerzeugs  durch  Hermes  im 
homerischen  Hermeshymnus  v.  108  ff.  recens.  Ludwich,  hom.  Hymnen- 
bau, Leipzig  lim  S.  50,  cf.  93: 

jO'jv  0    ecpöps'.  g'JXa  -oXXä,,  71  u  p  ö  g  6'  kv.z'^'xis-o  "isy^v'i^j" 
„SdcqJVYjs  dyXaöv  ö^ov  IXtbv  iviaXXs  aiSVjpcp" 
„dpiJisvov  SV  7T:aXäp.ifl  •  äjüxvuxo  80  %-Bp\i.bc,  ävt[j,rj." 

Zu  S.  Irt3i84a;  Milet,  von  den  Griechen  nur  unbefriedigend  von 
oiiiXag-iiiXag  „Eibe"  abgeleitet,  erklärt  Horamel  (briefl.)  Mi 'lät  „Lät-ort" 
„Cultstätte  der  Lät".  Vgl.  auch  das  Lat-mosgebirge  mit  dem  hl.  Fich- 
tenhain der  Kybele*,  Weltenmantel  172-.  Zur  hl.  Palme  der  Lato  in 
Ephesus  (Spanheim  zu  Callim.  hymn.  Del.  210)  vgl.  Lenormant  a.  a.  0. 
335  über  die  Palme  der  Al-Lät,  dazu  die  Palmenistar  (Ba'alat  Tamar) 
in  Kanaan. 

Zu  S.  192  „tar'ata-xäaiia  vgl.  S.  140  S7  „manhirat  tawilät",  da  arab. 
„manhar"  =  t'issura,  seu  canalis,  c  aste  11  um  penetrans  per  quem 
fluit  aqua"  und  „raauharat"  etwa  „Abfallgrube"  (spatium  inter  domos 
tribus  quo  abiciunt  quisquilias)  bedeutet. 

Zu  S  193  vgl.  Proverb.  5 15  den  figürlichen  Gebrauch  von  „Brun- 
nen" (be'er)  und  „Cisterue"  (bör)  für  „Weib"  bezw.  weibliches  Genital. 

Zu  S.  195  224  vgl.  noch  Procl.  Hymn.  H  2  f.  Abel  orph.  p.  278 
„ '  Acfpoysvsiris  .  .  .  tit]  y  ri^  [isyäÄvjv  ßaaiXfj'.ov,  fjC,  auö  Tiävtsg  ÄS-ävaTCt 
utepöEviss  dvsßXäaxrjOxv  spwxTjg",  dazu  S.  198  232  über  'A.  'Acpay.lxcg. 

Zu  S.  195225  vgl.  Jesaias  51  if:  „Blickt  auf  den  Felsen  hin,  aus 
dem  ihr  gehauen  seid,  und  auf  die  Höhlung  des  Brunne  ns,  aus  der 
ihr  ausgegraben  seid.  Blickt  auf  Abraham,  Euren  Ahnherrn  und 
auf  Sara,  die  Euch  gebar".     Hiezu  S.   I22i5. 

Zu  S.  197  231.  Die  hier  mitgeteilte  Proklosstelle  (Abel  orph. 
p,  206  Nr.  131)  widerlegt  die  Annahme  von  Bratke,  Relig.  gespr.  191 
und  Harnack,  Abercius  S.  24  A,  daß  die  Gleichung  "Hpfx-nYjyy;  erst  bei 
Hesych  vorkommt,  der  sie  aus  dem  Relig.gespr.  entnommen  hätte. 
Die  Wendung  des  Proclos  „.  .  .  uvjyaiav  ']>fiyjiy  äTioxccXo'jai  ^isxä  xv);  Tf/j- 
yaiaj  äpiXTjc;  äva-^avstaav  duö  xc5v  Xayövwv  xyjj  SXt);  ^cpoyövou  •9-äG- 
xYjxos"  beweist,  daß  seine  Quelle  die  orphischen  Verse  (Lobeck  I  p.  225  f.; 
Abel  2681)  Axi-^5  SV  Xayöaiv  y.oLvriC;  dpsxYJs  tisXs  Tüvjyv^,  vcöxois  5' ä[jLq:i 
S-säg  cfüaic;  äviXsxos  -/icöprjxai"  waren;  die  Paraphrase  des  Proclos  zeigt,  daß 
sie  sich  auf  Hera  beziehen.  Sie  dürften  zu  einem  Hymnus  gehört  haben, 
der  von  Hera  eine  ähnliche  Schilderung  entwarf,  wie  der  bekannte 
Zeushyranus  Abel  p.  203  Nr.  l2o,  wo  es  v.  30  heißt  „liiaarj  Ss  ^cüv/j 
ßapuY]-^£0£  otcjia  ö'aXäaa-zjc". 

Zu  S.  198232  vgl.  hebr.  'äphili  p-£K  „Quelle"  „Rinnsal"  Ps.  422  etc. 


Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  2. 


14 


VII. 
'E^sata  und  AsX^txa  "^pdii^kaza. 

W.  H.  Roseber  hat  in  seinem  Aufsatz  „Weiteres  über  die 
Bedeutung  des  E  zu  Delphi  und  die  übrigen  Ypdi\i\ia,-x  AsXcpixa" 
(Philologus  LX  [1901]  S.  81  ff.)  S.  88  f.  zuerst  darauf  hin- 
gewiesen, daß  zwischen  den  AsXcptxa  ypafijjLaxa  und  den  alten 
'Ecpeata  Ypa[i[i,ata,  „auch  ganz  abgesehen  von  der  in  die 
Augen    springenden    Gleichartigkeit   ihrer  Bezeichnung^),    ein 

*)  Jedenfalls  besteht  diese  Gleichartigkeit  der  Bezeichnung  nur 
unter  der  Voraussetzung,  daß  man  den  Namen  der  'Ecpeaia  ypdi.\x\xazoi.  von 
der  Stadt  "Ewzaoc,  (und  nicht  in  Hinblick  auf  die  späteren  Zauberworte 
gleichen  Namens  direckt  von  i'^iivai)  herleitet.  Dies  ist  aber  bloß  in  einem 
gewissen  Sinne  richtig,  da,  von  anderen  Gründen  abgesehen,  auch  noch 
weiter  zu  fragen  ist,  woher  die  Stadt  "Ecpeaog  ihren  Namen  hat,  respektive 
welche  Deutung  demselben  in  der  ältesten  lokalen  Tradition  (vgl.  das 
Paar  "Ecpsoo?  und  Kopeaog)  zukam.  —  Was  die  späteren  Quellen  [z.  B. 
Plut.  Symp.  VII  5,4  p.  706  E  zobc,  5aiiJiovt^o|j,evou5  y.sXzbo'joi  (sc.  ol  iJ-äyot) 
TÖc  Icpeoia  YpäfijjLaxa  Ttpög  aOxcjf;  Xiyeiw  xai  xaiovojid^siv,  id.  quomodo  quis 
suos  in  virtute  sentiat  profectus  15  p.  85  B  oc  ky.\3.z\i(x%-fiv.6xzq  tä  -cwv 
'ISatcöv  öv6p.aTa  Aaya'JXwv  xpöJvxat,  upög  xo'Jc;  qjößoug  auxoXQ  (bg  aXsgixäxoig 
uzp  e\i.a  xaxaXsyovTSc;  sxaaxov,  Menander  TcaiSiov  fr.  II  ap.  Suid.  s.  v. 
dXEgicpäp[j.a-/ia  und  Anaxilas  AupoTioids  I  ap.  Athen.  XII  p,  548  C  (cf.  VII 
287  F),  Photius  s.  v.  dcpeaia  cc?.sgtq:äppiaxa,  Suid.  s.  v.  'Avpixavög,  Apostol. 
IX  39]  zum  Thema  berichten,  hat,  außer  Eustath.  in  Od.  I  247  p.  1864,  12, 
keine  Beziehung  zu  "Ecfsaog,  sondern  nur  eine  solche  zu  den  zahlreichen 
Zauberworten  der  Gemmen,  Defixionstäfelchen  und  Zauberpapyri  (von 
K.  Wessely  im  XII  Jahresbericht  des  Franz-Josef-Gymu.  in  Wien  1885/6 
unter  dem  Titel  „Ephesia  grammata"  zusammengestellt),  welche  zum 
größten  Teile  sich  auch  nicht  einmal  mehr  als  „Daktylennamen"  auffas- 
sen lassen,  sondern  überwuchernder  Freude  an  unaussprechbaren  Buch- 
stabenzusammenstellungen und  fremdartigen  Namen  ihren  Ursprung 
verdanken.  Diese  ebenfalls  allgemein  als  dcpioia  ypä|jiiiaxa  bezeich- 
neten Zauberworte  haben  mit  jenen,  durch  die  Nachricht  des  Eusta- 
thios  (in  Hinblick  auf  den  Siebenweisenroman?)  mittelst  der  Person 
des  Kroisos  zu  "Ecpeaog  bezogenen  Worten,  die  auf  dem  Kultbilde  der 
ephesischen  Göttin  inschriftlich  angebracht  waren,  wie  es  scheint,  bloß 
den  Namen  Aa[iva[isv£'jg  (s.  u.  „Gnostische"  Gemmen  stellen  in  der  Krüm- 
mung eines  Schlangendämons,  der  als  Aa[iva[j.iv='jg  angerufen  wii'd,  das 
bekannte  Bild  der  ephesischen  Artemis  dar,  z.  B.  de  la  Turbie's  Gemme 
bei  Visconti,    opere  varie  III  433  Nr.  214,  vgl.  Kopp,   Palaeogr.  er.  IV 


Wolfgang    Schultz,  'E v'Jaia  und  AsXcf-.xä  YP^jJ-liaxa.      211 

merkwürdiger  Parallelismus  besteht,   aus  dem  sich  einige,   für 
das  Verständnis  beider  nicht  unwichtige  Schlüsse  ziehen  lassen." 
Diesen  Parallelismus  ersieht  Röscher 

1.  in  der  Uebereinstimmung  der  traditionellen  Bezeich- 
nung, 

2.  in  ihrem  inschriftlichen  Charakter, 

3.  in  der   religiös  bedeutungsvollen  Anzahl   der  Worte, 
resp.  Sprüche, 

4.  in  der  hexametrischen  Form, 

5.  in  der  asyndetischen  Anordnung, 

6.  in  den  Sagen  über  den  Ursprung. 

Die  Frage,  „welcher  von  beiden  Spruchreihen  die  histo- 
rische Priorität  zuzuerkennen  sei",  entscheidet  Röscher  a.  a.  0. 
S.  93  zu  Gunsten  der  'E^eaia  ypd[i[).axa.  „Dieselben  scheinen 
nicht  nur  einer  weit  primitiveren  und  somit  älteren  Religions- 
epoche,  die  noch  hauptsächlich  mit  magischen  ercwoac  operiert, 
anzugehören  (während  die  AsXcp^xa  yp.  als  rein  ethische  Sprüche 
eine  viel  entwickeltere  Religionsstufe  voraussetzen),  sondern 
werden  auch  von  der  Tradition  rein  mythischen  Wesen, 
nämlich  den  idäischen  Daktylen  -),  zugeschrieben,  wogegen  als 

208)  gemein.  Da  aber  Eustathios  kein  einziges  Ypäjiiia  namentlich  an- 
führt, wüßten  wir  nicht  einmal,  ob  die  ypä^iia-a,  von  denen  er  spricht, 
eine  Beziehung  zu  unseren  sechs  daktylischen  Worten  haben,  wenn  nicht 
1.  der  daktylische  Charakter  dieser  und  nur  dieser  Worte  aus  ihrer 
Struktur  hervorgienge ,  2.  ihre  von  Clem.  und  Hesych.  anerkannte 
Geltung   als   ix.   ypäiJifiaia   xa-:'  sgox'/.v,   3.  ihre   altertümliche    Eigenart, 

4.  ihre  Ueberlieferung  und  Besprechung  durch  die  echte  Schrift  des 
Androkydes  uspL  IIu^-ocYop'.y.öv  ao\i'^iX(üv,  5.  die  hier  später  dargetane 
Beziehung  zur  heraklitischen  Philosophie,  6.  die  zahlensymbolische  und 
Wortbedeutung  der  yp^^iiuata,  ihre  Zugehörigkeit  zu  Ephesos  dartäten. 
Die  STü-ä 'Ecpeaccov  noadsg  {'lot.ii'^Xv^oc,,  'Egay.ouaxo'jSiavös ,  Map-ctvog ,  'Avxcü- 
vio;,  'IwävvTjg,  Mag'.ii'.J.iavöc,  AiovJa'.oj)  des  Par.  graec.  2316  zu  Ps.  127  (vgl. 
Reitzenstein,  Poimandres  S.  302),  welche  mit  den  ephesischen  Sieben- 
schläfern in  der  frühen  (vgl.  Röscher,  die  Sieben-  und  Neunzahl  in  Kul- 
tus und  Mythus  d.  Gr.  in  Abh.  d.  phil.-hist.  Kl.  der  Kgl.  sächs.  Ges.  d. 
Wissensch.  1904  Bd.  XXIV,  51.)  und  den  Vokalgöttern  der  Wochentage 
in  der  späteren  (vgl.  namentlich  für  Milet  A.  Dieterich,  Mithrasliturgie 

5.  32  f.)  Ueberlieferung  zusammenzuhängen  scheinen,  machen  es  auch 
fraglich,  ob  selbst  rein  vokalische  Buchstabenkomplexe  wie  z.  B.  die 
scpsa'.«  (sc.  YpäiiiiaTcc)  bei  Apuleius  met.  XI  17  (vgl.  A.  Dieterich,  a.  a.  0. 
S.  38  u.  216  XII,  wo  ich  übrigens  ite  statt  ita  in  Analogie  zu  üe,  missa 
est  emendieren  möchte)  jeder  historischen  Beziehnung  zur  Stadt  Ephe- 
sos entbehren. 

'^)  Clem.  Alex.  Strom.  L  lö,  73  p.  60,  20  Bind,  xiveg  8s  jjiu&ixcöxEpov 
xiüv  'ISaicDv  xaXouiievcüv  AaxxüXcöv  oocpouc  xivag  ixpcöxouc;  feyio^-a.i  XeyouaLv, 
slg  oug  'q  xs  xcöv  'Eqjeoicüv  Aeyciievcüv  Ypati|J.äxü)v    xai  i]  xöv  xaxä  iiouotxYjv 

14* 


212  Wolfgang  Schultz, 

die  Verfasser  der  delphischen  Sprüche  nach  der  bei  weitem 
bestbeglaubigten  Ueberlieferung  rein  historische  Perso- 
nen [die  sieben  Weisen]^)  genannt  werden.*' 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  den  zum  Teile  verwickelten 
Fragen  nachzugehen,  welche  gelegentlich  einer  eingehenden 
Diskussion  der  von  Röscher  präzisierten  Thesen  ihre  Erledi- 
gung zu  finden  hätten  ^),  sondern  ich  will,  indem  ich  mir  eine 
solche  Arbeit  für  eine  spätere  Gelegenheit  vorbehalte,  in  dieser 
Mitteilung  zu  den  meines  Erachtens  vollinhaltlich  richtigen 
Thesen  Roschers  drei  weitere  zusammen  mit  den  zugehörigen 
Beweisen  beisteuern.  Meine  Untersuchungen  über  Buchstaben- 
und  Zahlensymbole  bei  den  Alten  ^)  haben  mich  nämlich  zu  dem 
Ergebnisse  geführt,  daß  zwischen  den  'Ecpsaca  und  AsXfptxa 
Ypä[ji{JiaTa  auch  noch  ein  Aveiterer  Parallelismus 

7.  in  der  Buchstabenanzahl  der  Worte  und  Verse, 

8.  in  der  inneren  Symmetrie  der  Anordnung,  auf  die  sie 
berechnet  sind, 

9.  in  der  zahlensymbolischen  Verwendung   und  Gliede- 
rung ihrer  Bestandteile 

besteht:  insgesamt  Analogien,  die  ich  im  Nachfolgenden  aus- 
einanderzusetzen mir  gestatten  werde. 

Zunächst  wende  ich  mich  nochmals  den  Ergebnissen   der 


eöpsats  (5u9-[iti)v  dvacp spsxat "  5i'  r^v  altiav  oi  rapä  zoZc,  liouoixolg  SoixxuXo!, 
TV]v  Tipoayjyopiav  elXrf^aöi.  ^püyez  Ss  '^aav  xal  ßtxpßapot.  oi  'ISaCoi  AdcxxuXoi. 
Vgl.  Memnon  II  1   S.  247  f. 

^)  Als  rein  historisch  können  die  7  Weisen  allerdings  wohl  umso 
weniger  angesehen  werden,  als  einerseits  die  romanhaften  Nachrichten 
über  sie  als  Kollegium  (vgl.  die  7  Sonnensöhne  bei  Find.  Ol.  VII  181 
und  Röscher,  Abhandlung  II,  S.  20)  und  anderseits  die  legendären 
Berichte  über  jeden  einzelnen  von  ihnen  deutlich  zeigen,  wie  mächtig 
auch  hier  mythische  und  mystische  Traditionen  hereinspielen. 

*)  Trotzdem  möge  hier  wenigstens  angedeutet  sein,  daß  das  Haupt- 
gewicht auf  Punkt  6,  also  auf  die  Untersuchung  der  anknüpfenden 
mythologischen  Tradition,  zu  legen  wäi*e. 

^)  Vgl.  unten  S.  223,  Anm.  22.  Leider  erhalte  ich  erat  während 
der  Drucklegung  dieses  Aufsatzes  von  Arthur  Ludwichs  Homerischem 
Hymnenbau  und  seinen  Aeschylea  (Acad.  Alb.  Regiment.  1909  II)  durch 
W.  H.  Roschers  Güte  Kenntnis  und  sehe,  daß  meine  Auffassung  von 
Zweck,  Umfang  und  Zielen  der  Zahlenforschung  hier  wieder  eine  neue 
Bestätigung  gefunden  hat,  die  um  so  erfreulicher  ist,  als  sie  ganz  un- 
abhängig von  Roschei-s  und  meinen  Arbeiten  sich  einstellt.  Die  metri- 
sche und  gleichzeitig  buchstaben-  und  zahlenmäßige  Struktur  der  del- 
phischen und  ephesischen  Worte  ist  geradezu  eine  Rechenprobe  für 
Ludwichs  Exempel. 


'Ecfsjicc  und  lzX-^:v.x  Ypä[i.iJ.aTa.  213 

Roschersclien  Untersuchung  über  die  AsXcpcxa  Ypafj.[i.aTa  zu, 
wobei  ich  bitte,  Roschers  eingehende  Darlegungen  zu  jedem 
einzelnen  der  Sprüche,  seine  Begründung  der  gewählten  Reihen- 
folge und  seine  Bemerkungen  über  das  Alter  der  ypa(X|j,axa 
an  den  zitierten  Stellen  nachzulesen,  während  ich  mich  hier 
nur  auf  das  beschränken  will,  worin  ich  von  seinem  Stand- 
punkte abweiche. 

Röscher  rekonstruiert  auch  noch  in  seiner  Abhandlung 
Ueber  die  Sieben-  und  Neunzahl  etc.  S.  114  den  Doppelhexa- 
meter der  delphischen  Sprüche  wie  folgt: 

EL  0£(p  -^pa.  NöjJLOCg  Tüe^'^su.  Ostoeu  ab  xp^vo'.o 
Fvwö-c  aeautov.  Mr^osv  ayav.  'Eyyua,  Tiapa  o'  airj. 
Hierbei  setzt  er  für  den  ersten  Hexameter  das  E  seinem  alten 
Lautwerte  nach  voraus,  während  er  alle  übrigen  Sprüche  im 
Sinne  der  späteren  Orthographie  der  literarischen  Ueberliefe- 
rung  redigiert  wiedergibt.  Offenbar  war  für  ihn  hierbei  das 
Bestreben  maßgebend,  den  ersten  Vers  hexametrisch  zu  ge- 
stalten. Nun  sprechen  aber  gewichtige  Gründe  dagegen,  daß 
das  E  in  den  metrischen  Bestand  der  übrigen  Sprüche  je  hin- 
eingehört habe;  denn  es  ist  ausdrücklich  bezeugt,  daß  das  E 
an  besonders  prägnanter  Stelle  über  dem  Tempeleingang  und 
sogar  in  anderer  Letterngröße  angebracht  war,  und  daß  nur 
das  E,  nicht  aber  auch  die  übrigen  Sprüche,  ein  xoivöv  dva- 
%-q\icx.  Txavtcüv  aocpwv  (Plut.  de  E  delph.  3  p.  386  A)  gewesen 
sei.  Gerade  Plutarchs  Nachrichten  haben  ja  sonst  in  dieser 
Sache  die  beste  Gewähr  und  müssen  also  auch  in  diesem 
Falle  entsprechend  gewürdigt  werden.  Die  metrische  Schwie- 
rigkeit aber,  welche  in  einem  -ösw  rjpcc  liegt,  wird  auf  ein 
erträgliches  Maß  reduziert,  wenn  nicht  gar  —  zu  mindest  für 
das  metrische  Gewissen  jener  Zeit  —  behoben  ^*),  sobald  man 

°^)  Auf  eine  Anfrage  betreffend  die  metrische  Struktur  der  beiden 
Verse  hatte  Prof.  Ludwichs  in  Königsberg  die  Güte,  mir  seine  diesbe- 
zügliche Ansicht  mitzuteilen,  wofür  ich  ihm  auch  hier  bestens  danke. 
Er  schrieb  mir  wörtlich :  ,Beide  Hexameter  leiden  an  ungewöhnlichen 
Verstößen  gegen  die  Metrik.  Daß  ihsojr  vo[iolz  gemessen  sein  sollte, 
halte  ich  für  unmöglich  ,  weil  mir  kein  Beispiel  eines  so  gemessenen 
stummen  i  bekannt  ist.  Denkbar  wäre  allenfalls,  daß  der  Ver- 
fasser vö[xii.oic,  sprach,  weil  die  Liquiden  im  Griechischen  eine  Neigung 
zur  Verdoppelung  zeigen.  Im  nächsten  Verse  müßte  e^yüct.  Synizesis 
erleiden  und  zweisilbig  gelesen  werden ;  vielleicht  gehört  auch  das  zu 
den  Idiotismen    der  Aussprache  des  'Dichters'.     Singular  scheint  es  je- 


214  Wolfgang  Schultz, 

YJpa  i)£(p  liest.  Ferner  scheint  mir  Roschers  Vorschlag  (Her- 
mes XXXVI,  489),  au  statt  t£  des  Asyndetons  wegen  zu  lesen, 
e'Denfalls  nicht  überzeugend,  Haben  wir  docli  auch  in  o'  dxyj 
eine  Durchbrechung  des  asyndetischen  Prinzipes  an  der  ana- 
logen Stelle  des  zweiten  Verses  zu  verzeichnen  ^).  Dagegen 
ist  asauTÖv  statt  aauiov  durch  den  Stein  von  Thera  ^)  inschrift- 
lich  bereits  für  das  4.  Jahrh.  v.  Chr.  gesichert. 

Da  nun  Röscher  mit  m.  E,  überzeugenden  Gründen  (Philol. 
LX,  84)  nachgewiesen  hat,  daß  das  E  ursprünglich  auf  Holz 
geschrieben  war,  sich  unmittelbar  über  dem  Tempeleingang 
befand  und  mindestens  dem  6.,  wenn  nicht  7.  Jahrhundert  zu- 
zuteilen ist,  und  da  ferner  eine  metrische  Zugehörigkeit  des  E 
zu  den  sechs  übrigen  Sprüchen  aus  den  obigen  Gründen  nicht 
vermutet  werden  darf,  scheint  es  mir  klar,  daß  nicbts  uns 
zwingt,  das  E  für  gleich  alt  zu  halten  wie  die  übrigen  sechs 
Sprüche.  Vielmehr  spricht  die  fernere  Nachricht  des  Plutarch 
(de  garrul.  17  p.  511  B  vgl.  Pausanias  X  24,  1),  daß  die 
ypa[ji[xaTy.  von  den  Amphiktyonen  angebracht  worden  seien, 
dafür,  daß  sie  eben  jünger  sind  als  das  E.  Dann  fallen  aber 
alle  Argumente  weg,  mit  deren  Hilfe  Röscher  versuchte,  unter 
der  Voraussetzung  der  archaischen  Schreibung  E  für  EI,  welche 
er  der  Erklärung  des  E  mit  Recht  zu  Grunde  legte,  auch  den 
übrigen  Buchstabenbestand  der  Sprüche  nach  einer  mutmaß- 
lichen Orthographie  des  6.  oder  7.  Jahrhunderts  zu  redigieren. 

Durch  diese  Erwägungen  hoffe  ich  zwar  der  Neigung,  die 
Sprüche  für  all  zu  alt  zu  halten,  mit  einigen  Gründen  entge- 
gengetreten zu  sein,  möchte  aber  nicht  in  den  umgekehrten 
Fehler  verfallen,  sie  wieder  für  all  zu  jung  zu  erklären.  Viel- 
mehr   glaube    ich,    daß   Paul   Perdrizet '*)    durch    den  Nach- 

doch  gleichfalls  zu  sein.  Gute  Verskünstler  sind  freilich  die  delphischen 
Priester  nie  gewesen". 

^)  Die  Vorstellung,  daß  jeder  dieser  Sprüche  von  einer  anderen 
Person  stamme,  und  nicht  vielmehr  bloß  im  Geiste  des  Erfinders  oder 
Redaktors  je  einer  Person  zugeteilt  war.  hat  ohnedies  in  Anbetracht 
der  metrischen  Struktur  beider  Reihen  wenig  für  sich,  da  ja  nur  ein 
besonderer  Zufall  es  hätte  fügen  köunf-n ,  daß  die  unabhängig  von 
einander  gethanen  Aussprüche  einen  Doppelvers  ergaben.  Dagegen 
konnte  man  später  gerne  ein  solches  wunderbares  Zusammentreifen 
als  Argument  für  den  göttlichen  Geist  der  Sprüche  erfinden. 

7)  CI  Ins.  in  1020. 

^a)  Paul  Perdrizet,  „Labys"  und  „Encore  Labys''  in  Rev.  des  etud. 
gr.   1898  XI  24-2  und   l6i»9  Mi,  41. 


'Ecpiota  und  Aö^wCf.xä  yp^tiiia-ca.  215 

weis  einer  auf  Hermippos  zurückgehenden  Tradition  (Bekker, 
Anecdota  p.  233  und  Scliol.  in  Plat.  Phileb.  48  B),  Avelche 
nicht  Chilon,  sondern  Aaßuc,  einen  Eunuchen  und  Vcwv.opo; 
des  pythischen  Gottes,  als  Erfinder  des  FvöO-i  aauxov  bezeich- 
net, in  der  Tat  einen  wichtigen  Anhaltspunkt  für  die  Ent- 
stehung der  sechs  ^)  übrigen,  im  Verhältnisse  zum  E  jüngeren 
Sprüche  gefunden  hat.  Schon  Perdrizet  dachte  bei  diesem 
„Eunuchen"  Labys  an  das  delphische  Geschlecht  der  Labyaden 
und  an  die  ephesischen  Megabyzoi.  Beide  Zusammenhänge 
sind  deshalb  von  außerordentlicher  Wichtigkeit,  weil  es  einer- 
seits sehr  wahrscheinlich  ist,  daß  Labys  von  Hermippos  oder 
seiner  Quelle  ohne  irgend  einen  Hinweis  auf  seinen  Konkur- 
renten Chilon  nicht  nur  als  Erfinder  des  yvwö".  aauxov  sondern 
eben  damit  als  der  sämtlicher  Sprüche  gekennzeichnet  werden 
sollte,  so  daß  also  Chilons  Name  wohl  erst  später,  als  man 
den  Gegensatz  stärker  empfand,  in  die  Stelle  hineinkam,  und 
weil  anderseits  ein  E  u  n  u  c  h  ^)  Labys  aus  dem  Geschlechte 
der  Labyaden  ein  Bindeglied  zwischen  Ephesos  und  Delphi 
abzugeben  geeignet  ist,  welches  die  Aehnlichkeit  der  ypafjifiaxa 
beider  Kultstätten  auch  historisch  aufklären  könnte. 

Will  man  die  soeben  genauer  formulierte,  aber  eigentlich 
schon  von  Perdrizet  angedeutete  Hypothese  sich  zu  eigen  ma- 
chen, dann  wird  man  wohl  nicht  übersehen  dürfen,  daß  ein 
Eunuche  Labys  (aus  dem  Geschlechte  der  Labyaden)  als  Ver- 
fasser von  Sprüchen ,    welche    mit  den    sieben  Weisen    in  Zu- 


^)  Die  Sechszabl  paßt  auch  aus  sonstigen  stilistischen  Gründen, 
vor  allem,  da  sie  in  zwei  je  sechsfüßigen  Versen  niedergelegt  ist  und 
auch  der  Amphiktyonen  zwölf  (2  ><  6)  mit  24  (i  ><  6)  Stimmen  waren, 
gut  herein,  und  ihr  Ausgleich  mit  dem  E  als  siebentem  Spruch  ist 
zahlensymbolisch  durchwegs  verständlich. 

«)  Freilich  will  Perdrizet  daraus,  daß  Labys  als  Neokore  nicht 
verschnitten  sein  konnte,  folgern,  Labys  sei  nicht  Eunuch  gewesen  und 
diese  Nachricht  über  ihn  beruhe  auf  einem  Misverständnis.  Aber  ich 
sehe  nicht,  weshalb  man  nicht  auch  umgekehrt  schließen  sollte,  Labys 
könne  als  Eunuch  nicht  Neokore  gewesen  sein  und  die  Nachricht,  daß 
er  es  gewesen  sei,  beruhe  auf  einem  Mißverständnis.  Ja  die  zweite 
Schlußfolgerung  wird  sogar  zutreffen,  wenn  man  angeben  kann,  wieso 
dieses  Mißverständnis  entstand:  Offenbar  daraus,  daß  man  dachte,  nur 
eine  nahe  mit  dem  Heiligtum  verknüpfte  Person  könne  die  Sprüclie 
erfunden  haben.  Auch  bieten  ja  die  Anekdota  bei  Bekker  zwar  den 
Namen  des  Hermippos  ,  nicht  aber  die  Bezeichnung  des  Eunuchen  als 
Neokoren,  während  das  Platonscholion  den  Namen  Hermippos  nicht 
mehr  hat,  jedoch  den  Eunuchen  zum  Neokoren  macht. 


216  Wolf  gang  Schultz, 

sammenhang  gebracht  wurden,  wohl  überhaupt  mir  in  der  Zeit 
denkbar  ist,  in  welcher  jene  nahen  Beziehungen  zwischen 
Delphi  und  Kleinasien,  insbesondere  aber  Lydien,  bestanden, 
deren  vielfach  legendär  veränderter  Niederschlag  in  dem  halb- 
historischen Kroisosroman  uns  noch  erhalten  ist.  Die  Abfas- 
sung, resp.  Redaktion  der  Sprüche  rückt  damit  in  eine  Zeit 
herab,  zu  welcher  wir  schon  den  Gebrauch  des  H,  namentlich 
bei  der  gebildeten  Priesterschaft,  voraussetzen  und  ein  EI 
neben  E  annehmen  dürfen  und  wegen  des  unter  solchen  Be- 
gleitumständen selbstverständlichen,  mächtigen  jonischen  Ein- 
flusses gerade  bei  dem  dem  Thaies  traditionell  zugeteilten 
Spruche  wohl  auch  axrj  statt  axa  vermuten  müssen,  während 
der  Gebrauch  des  Q  für  diese  Zeit  noch  durchweg  unwahr- 
scheinlich ist. 

Mithin  glaube  ich  die  delphischen  Sprüche,  abgesehen  von 
dem  E,  in  folgender  Form  voraussetzen  zu  dürfen: 
HPA    BEOI    NOMOIi:    riEieET    OEIAET    TE    XPONOIO 
PNOei  SEATTON   MHÄEN    APAN   EPPIA  IIAPA  A  ATH 

Röscher  bemühte  sich  auch,  die  inschriftliche  Verteilung 
dieser  7  Sprüche  auf  die  sechs  Säulen  der  Vorhalle  und  den 
Thüreingaug  des  Apolloheiligtumes  in  Delphi  zu  finden,  zog 
aber  ohne  ersichtlichen  Grund  die  beiden  Sprüche:  NOMOIS 
BEieEI  OEIAET  TE  XPONOIO  zusammen  und  mußte  in- 
folge dessen  das  E  selbst  auf  eine  Säule,  die  sonst  frei  ge- 
blieben wäre,  setzen.  Aber  offenbar  sind  doch  die  übrigen 
sechs  Sprüche  zu  je  drei  symmetrisch  um  das  E  als  siebenten 
in  der  Mitte  zu  verteilen,  woraus  sich  folgende  berichtigte  An- 
ordnung ergibt: 
raTiaAiaOrSIOMOiNLrAPH   17  PNOei^:-]  MHAENn     EPriAn-j 

LxpONOio  LnEieEiLeaoiCMOTrAaJ  mataJ  htaaas:a J 

1  2  3       4  5  6  7 

Das  E  selbst  war  vielleicht  in  Form  der  Wage  als  m  oder 
uj ,  zur  Wahrung  der  inschriftlichen  Symmetrie  nach  beiden 
Seiten   hin,   angebracht^").     Zum   mindesten  könnte  man   dies 


'")  Vgl.  Diels  FV.  I  520  Noten.  Mit  Diels  an  einen  ßäXavo;-Schlüssel 
zu  denken ,  ist  mir  schon  deshalb  unmöglich,  da  sich  m.  E.  auch  die 
y.XyjiSsg  ftjjio'.ßoi  bei  Parmenides  anders  erledigen.  Vgl.  STUD  11  u.  III, 
215,  14. 


'Ecfsoia  und  AsXcf.y.ä  Ypä|ji(iaTÄ.  217 

wegen  des  bekannten  pythagoreisclien  Symboles  der  Wage  ^^) 
vermuten. 

Zählt  man  die  Buchstaben ,  welche  demnach  links  und 
rechts  vom  E  standen,  so  erkennt  man,  daß  zu  beiden  Seiten 
je  34  Buchstaben  waren  und  daß  man,  wenn  man  das  E  so- 
wohl zu  dieser  wie  zu  jener  Seite  bezieht,  auf  beiden  je 
35  =  5  X  7  Buchstaben  vor  sich  hat;  hierin  ist  7  sowohl  die 
heilige  Zahl  des  Apollon  als  auch  die  der  Sprüche  selbst  und 
E  =  5  ebenso  als  Wort  wie  als  Zahlzeichen  in  die  Mitte  der 
Inschrift  gesetzt  —  ein  Ergebnis,  welches  mir  im  übrigen  ge- 
eignet scheint,  die  Ansicht,  daß  das  planvolle  Werk  einer 
Zahlensymbolik  vorliegt,  welche  das  vorhandene  E  als  symbo- 
lisch bedeutsames  Zentrum  dazu  ausnützte,  die  neuen  sechs 
Sprüche  um  diesen  siebenten  herum  symmetrisch  zu  gruppieren, 
ganz  außerordentlich  zu  befestigen. 

Für  die  'Ecpijca  ypa|ji[j.aTa  hat  Röscher  unter  Benützung 
der  bekannten  Stelle  des  Clemens  Alexandrinus  ^-)  und  des  von 


-1)  Porpli.  V.  Pyth.  42  über  ^uyöv  [iy]  uuspßaiveiv  im  Sinne  von  „sich 
nicht  bereichern".  Die  Theol.  arithm.  p.  80  f.  Ast  deuten  die  Wage 
auf  SixatoaüvT],  der  für  Pythagoras  die  5  zugehört  habe.  E  ist  der  fünfte 
Buchstabe.  VgL  meine  STUD[ien  zur  antiken  Kultur,  Heft]  1:  Pytha- 
goras und   Heraklit  S,  91   zu  15,  Ö. 

'-)  Strom.  V  8,  45  [III,  35  Dind.]  'AvgpoxüSr;:;  •^o^j'j  ö  fluSayopixös 
xä  'E(f  saia  xaXoü|i£va  Ypd[j.[jLaxa,  dv  noXXolg  8'q  iroXuii-püXyjTa  Svxa,  ouiißoAwv 
E/^ELV,  cpvjot,  xdgiv  •  OTjuaivstv  Ss  "Aaxiov  |j.£v  x6  ay.6zoc,-  \s.rj  ydi-p  äx^^v  xoöxo 
oxiäv,  cftö;  §£  Kaidoxiov,  inti  "/taxaöyd^si  xtjv  oxiäv,  Aig  Sä  saxiv  rj  yy) 
y.ax'  äpy^/xLct.'^  STiwvuiiiav,  y.al  Tsxpag  ö  Iviauxöj  Stä  xäg  "ßpag,  Äap.vaiJi£V£i)i; 
Se  6  rjXtoc,  6  5a[jid^(üv,  xd  Aloid  xe  V)  dXyj^-Tjg  cpcüvfj  ■  ar][iaiv£i  x'  dpa  x6 
oüfJLßo/l&v,  ü)g  y.£y.ca[ir(Xat  xd  •9-Ela,  olov  oy.oxog  upög  cpwg  xal  ■YJXt.og  upog 
Eviautöv  y.al  y'^  "P^S  Txavxoiav  9'ja£wg  Y^"^^'^'-''-  Clemens  berichtet  nach 
'AvSpoxü5-)is  üspi  n'jbaYopixwv  GU|j.ßöXü)v  u.  z.  aus  der  nicht  gefälschten 
Schrift  dieses  Leibarztes  Alexanders  des  Großen,  welche  sich  mit  der 
Deutung  mathematisch-kosmologischer  Symbole  beschäftigte,  während 
eine  andere,  gefälschte  Schrift  gleichen  Titels  ethische  Symbole  be- 
handelte. Diese  Unterscheidung  zwischen  einer  echten  Schrift  des  An- 
drokydes,  der  wir  unsere  Nachrichten  über  die  'Ecpäaia  Ypdiijjiaxa  vei'- 
danken,  und  einer  gefälschten,  ergibt  sich  aus  einer  Bemerkung  C.  Hölks, 
de  acusmatis  sive  symbolis  Pi/thagoricis  Diss.  Kiliae  18li4,  wonach  Cle- 
mens Alexandrinus,  wo  er  ethische  Symbole  der  Pythagoreer  bringt, 
von  Androkydes  und  jenen  Sammlungen,  die  von  anderen  Schriftstellern 
unter  diesem  Namen  benützt  wurden,  nichts  weiß,  während  er  an  un- 
serer Stelle  ihn  ausdrücklich  erwähnt.  Mitbin  sind  auch  Nicom.  Geras, 
introd.  arithm.  I  3  p.  6  Hoche  (cf.  Comm.  Philop.  ad.  I  libr.  Nicom. 
arithm.  introd.  p.  718  Hoche)  und  Theolog.  arithm.  ed.  Asfc  p.  40  auf 
diesen  ächten  Androkydes  zu  beziehen,  und  hiernach  ist  Diels-  FV  I 
2&1,  21  einschränkend  zu  berichtigen. 


218  Wolfgau  g   Schultz, 

E.  Ziebarth  ^^)  veröffentlichten  und  von  Wünsch  ^'*)  rekonstruier- 
ten Kretensischen  Bleitäfelchens  des  vierten,  vorchristlichen 
Jahrhunderts,  auf  dem  uns  die  Ypdi\i[iaxo(,  gerade  in  der  um- 
gekehrten Reihenfolge  wie  bei  Clemens  entgegentreten,  ange- 
nommen, daß  sie  infolge  der  archaischen  linksläufigen  Schrift- 
richtung das  eine  Mal  in  dieser  Richtung,  das  andere  Mal  aber 
im  Sinne  der  rechtsläufigen  Schrift  Wort  für  Wort  gelesen 
werden  konnten.  So  stellte  er  ^^)  folgende  hexametrische  Anord- 
nung fest: 

AISIA  AAMNAMENEYi:  TETPAS  AIS  ASKI  KATASKI 
Faßt  man  die  Anzahl  der  Buchstaben  ins  Auge,  so  findet  man 
ihrer  36  =  6  X  6,  so  daß  sie  also  sowohl  ein  Vielfaches  der 
Zahl   der   Worte    als    auch    der    der   Artemis    heiligen    Sechs- 
zahl ist  ^^). 

Die  sich  hieraus  ergebende  Parallele  im  Sinne  des  obigen 
Punktes  7  fasse  ich  also  dahin  zusammen,  daß  die  B  u  c  h  - 
stabenanzahl  in  beiden  Spruch  reihen  ein 
Vielfaches  der  Anzahl  ihrer  Spruchglieder 
und  der  der  betreffenden  Gottheit  heiligen 
Zahl  ist. 

Da  die  symmetrische  Anordnung  der  AeXcptTca  ypajxfjtaxa 
durch  Roschers  Arbeiten  schon  vorliegt,  wende  ich  mich  sogleich 
der  Frage  nach  der  inschriftlichen  Anordnung  der'Ecpeaoa  ypaiJL- 
|j.axa  zu.    Drei  Formen  inschriftlicher  Buchstabenanordnung  er- 


")  Nene  attische  Fluchtafeln  in  den  Nachrichten  der  kgl.  Ges.  d. 
Wiss.  zu  Göttingen,  phil.-hist.  Kl.  1899  S.  105  fF. 

")  Neue  Fluchtafeln,  Rhein.  Mus.  LV,  85  [1900]. 

15)  Konrad  Schmidt,  das  Geheimnis  der  griechischen  Mythologie  und 
der  Stein  von  Lemnos,  Gleiwitz  1908  erwähnt  S.  72  die  daktylische 
Struktur  der  Worte,  ohne  Röscher  zu  nennen,  und  sucht  dieselben  als 
hellenische  Niederschrift  einer  in  pelasgisch-semitischem  (hebräischem) 
Iiiiom  verfaßten  Lebensregel  (des  Inhaltes:  ^Rege  dich,  Mensch;  nichts- 
würdig ist  der  Faule;  wer  mich  bearbeitet,  zerbricht  meine  Fessel")  zu 
erweisen,  freilich  indem  er  nicht  nur  die  überlieferten  Wortgrenzen 
misachtet,  sondern  hier,  wie  auch  sonst,  semitische  Etymologien  helle- 
nischer Worte  sorglos  in  die  Welt  setzt.  Es  wäre  wohl  kaum  der 
Mühe  wert,  daß  ich  hier  auf  meine  demnächst  in  den  Mittheilungen 
der  anthropologischen  Ges.  in  Wien  erscheinende  Besprechung  dieses 
Buches  verweise,  wenn  es  nicht  leider  immer  häufiger  vorkäme,  daß 
auch  von  Unberufenen  semitische  und  arische  Sprachen  in  krauser  Art 
verglichen  werden. 

18)  Vgl.  Röscher,  Philol.  LX,  91. 


'EcpEOia  und  AsXcixä  ypo-iia-x-zo:..  219 

wähnen  die  Grammatiker:  xiovrjSov,  TtXivOi^Sov,  cT.'jpioiy  ^''). 
Die  erste  Art  ist  für  die'E'^sata  ypafxjjiaTa,  die  durch  nichts  Aehn- 
liches  wie  die  AsX'^Jcxa  ypscfifiata  zur  Anpassung  an  die  Säulen- 
form gezwungen  waren,  wohl  ausgeschlossen,  die  zweite  an  sich 
unwahrscheinlich,  wo  hingegen  die  dritte,  kor  bartige,  sich 
sofort  empfiehlt.  Das  Artemisheiligtum  wurde  selbst  mit 
einem  Bienenkörbe^^)  verglichen,  die  Göttin  als  Biene  verehrt. 
Auch  sind  unsere  Worte  ungleich  lang  und  wir  erwarten  eine 
symmetrische  Anordnung  um  eine  noch  zu  findende  Achse. 
Sobald  wir  nach  dieser  suchen,  machen  wir  aber  eine  belang- 
reiche Entdeckung.  Das  erste  Wort,  das  wir  anzuschreiben 
haben,  ist  AISIA  —  ein  Palindrom!  Hierdurch  angeregt  be- 
ginnen wir,  uns  nach  ferneren  symmetrischen  Buchstabengrup- 
pen in  den  'E'^jsaca  ypafjLjjLaTa  umzusehen.  Da  wir,  wie  uns 
schon  die  AsXcfcy.a  ypajiiJLaTa  lehren,  beide  möglichen  Schrift- 
richtungen ins  Auge  fassen  müssen,  richtet  sich  unsere  Auf- 
merksamkeit auch  auf  den  Gleichlaut  aaxc  xataav.L,  in  welchem 
wir  durch  die  Anordnung  I^IS^AtcAtASKI  wieder  zu  symmetri- 
schen Komplexen  gelangen.  In  der  Mitte  des  Verses  springt 
TET  in  die  Augen,  und  die  Anordnung  EtÄTETpaE  führt 
wieder  zu  teilweiser  Symmetrie.  Am  sprödesten  ist  das 
Wort  oa[jiva{JL£ve'j:.  Und  doch  ist  auch  in  ihm,  wenn  man 
ca-jLNaMsXsu;  schreibt,  ein  symmetrischer  Kern  zu  finden. 

Diese  Bemerkungen  zeigen,  daß  die  Inschrift  neben  einem 
symmetrischen  Kern  auch  asymmetrische  Bestandteile  in  sich 
vereinigt  haben  muß.  Wir  wenden  uns  nun  der  weiteren 
Frage  nach  der  Zeilenzahl  zu.  Die  Zusammenfassung  des  Ge- 
fundenen ergibt  folgende  approximative  Anordnung. 


")  Bekk.  Anecd.  p.  786  f.  Vgl.  J.  Müllers  Handbuch  d.  klass. 
Altertumswissensch.  I,  409. 

1«)  Vgl.  Robert  Eisler,  Philol.  LXVIII,  126 27.  Auch  der  delphische 
Tempel  galt  in  einem  seiner  mythischen  Vorstadien  als  Bienenhaus. 
Nach  Paus.  X  5,  11  bestand  der  erste  Tempel  aus  den  Zweigen  der 
Daphne  (La,ubhütte;  ähnlich  das  erste  Artemision  in  Ephesos  unter 
einem  Baume),  der  zweite  war  von  Bienen  erbaut  worden,  der  dritte 
stammte  aus  der  Werkstatt  des  Hephaistos  und  war  aus  Erz,  der  vierte 
der  in  historischer  Zeit  abbrannte,  hingegen  aus  Stein  (Holz  ?  vgl.  das 
ä7iÖ3äeyiJ.a  des  Pittakos  xij  ö(.pyT,  [isyiaxv; ;  -q  zoü  -oiv.O.O'j  £.\}AO'j  bei 
Diog.  L.  I  78). 


220  Wolfgang  Schultz, 

AISIA 

0  a.  '^         N.aM£N        e  u  c, 
E  i  X  TET  p  a  E 

i>i:ta    X  a  X   a3:ki 

so  daß  wir  nur  4  Zeilen  und  nicht,  wie  alle  Wahrscheinlich- 
keit dafür  spricht,  6  vor  uns  haben.  Wenn  wir  aber  erwägen, 
daß  wir  durch  eine  besondere  inschriftliche  Anordnung  das  E  in 
Delphi  zweimal  lesen  mußten,  obgleich  es  nur  einmal  sich  ge- 
schrieben fand,  um  statt  auf  3  X  23  =  69  =  34  +  1  +  34  auf 
70  =  2  X  35  zu  kommen,  so  drängt  sich  unwillkürlich  der 
Gedanke  auf,  ob  nicht  auch  in  Ephesos  die  Lesung  zwar 
auf  36,  die  i  n  s  c  h  r  i  f  1 11  c  h  e  Anordnung  aber  auf  35 
Buchstaben  führte,  ob  also  nicht  zugleich  mit  der  Symbolik 
durch  6  X  6  =  36  auch  die  durch  5x7  =  35,  wie  in  Del- 
phi, beabsichtigt  war.  Räumt  man  eine  Zeile  dem  K,  eine 
andere  dem  T  ein,  so  kommt  man  unter  Beachtung  des  arcbi- 

T 
tektonischen  Aufbaues  mn'rn  zu  sechs   Zeilen,    von    denen  vor- 
läufig nur  die  letzten  drei  ersichtlich  gemacht  seien : 

T 
I3S     A    A  IKl 
K 
Hiermit  ist  die  in  schriftliche  Buchstabenzahl   zu   35  geworden 
und  in  diesem  Teile  vollständige  Symmetrie  erreicht.     AISIA 
hat  5,    ASKffiATA^Kl  in    obiger  Anordnung  2x5   Buch- 
staben.    Beide  Komplexe  rahmen  alles  Uebrige   ein   und    sind 
die  rein  symmetrischen  Bestandteile.    Auch  in  ScXTETpaE  sind 
der  symmetrischen  Buchstaben  5.     Sollten  da   nicht  etwa  ur- 
sprünglich, wie  das  E  in  Mitten  der  ganzen  Anordnung,  ähn- 
lich   dem   E    in    Delphi,    als    fünfter    Buchstabe    mit    seinem 
Zahlenwerthe    fünf    förmlich    befiehlt^    25    =    5   X   5    sym- 
metrische   Buchstaben    vorhanden   gewesen   sein?     Sollte    sich 

T  T 

nicht  die   Anordnung  rpj^m  in  der  nächsten  Zeile  TET,    also 
^^^  EME 

T  F 

analog  dem  m     m  auch  ^     p,  fortgesetzt  haben?    Dann  Aväre 

das  überlieferte  AAMNAMENEY^  in  oa|xNEMEN£u?  zu  ändern. 
Die  Form   Aafivafxeveus   ist   durch   die   Uebereinstimmung 


'Ecpsaioc  und  A^X-^ixä  YP^P^l^stTa.  221 

aller  Quellen  so  gut  belegt,  daß  wir,  bevor  wir  den  An- 
trieben zur  symmetrischen  Umgestaltung  des  überlieferten  a 
in  £  nachgeben,  doch  noch  dieses  eigentümliche  Wort  näher 
beleuchten  müssen.  Es  soll  die  Sonne  bedeuten,  sagen  Clemens 
und  Hesych.  Aber  als  Wort  ist  es  jedenfalls  eine  monströse 
Form.  Schon  Androkydes  leitete  es  von  Ba|jLaJ^w  ab,  avozu  die 
Nebenform  oa{jLV(jD  besteht,  die  uns  wieder  zu  oa|j.väa)  als  der 
regulären  Form  zurückführt.  Ziebarths  Zaubertäfelchen  urgiert 
mit  Z,  16  Aaf.iva|Ji£V£ü  5d|j.aaov  ok  xaxw?  a,e-/.ovxac,  dydYY.ce.  in 
etymologischem  Spiel  die  Ableitung  von  oa[xvy]|j.c,  ähnlich  aber 
die  von  6a(jivü)  der  lallende  Hexameter  ^^)  Saji-vo)  6a[Ji,vo[X£V£ca 
[1.  Aa[jLVO{X£V£u]  6a[xaaav5pa  Sa{xvo§a[i,ta  der  Zauberpapyri.  Ver- 
gegenwärtigt man  sich  noch  die  bei  Strabo  X  p.  m.  538  neben 
Aa{jiva[ji£V£u;  S.  463  vorkommende  Form  Aa[jLvav£a,  wo  früher 
handschriftlich  Aafivla  stand,  —  ein  Name,  den  Nonnos  Dionys. 
XIII,  144  einem  Korybanten  gibt  — ,  und  die  auf  einer  Münze 
des  Antoninus  Pius  (Seguin  p.  17)  vorkommende  Bildung  Aa- 
tJL£6c,  so  sieht  man,  daß  das  undeutliche  Lallen  der  Zauberworte 
der  Zuverlässigkeit  ihrer  Ueberlieferung  nicht  gerade  zu  statten 
gekommen  ist-^).  Die  Ableitung  eines  Wortes  AajJLEu^  von  Sa[xaa) 
ist  sehr  einleuchtend,  der  Name  Aa|j,£us  als  solcher  sinnvoll, 
und  es  ist  sehr  zu  beachten,  daß  er  in  dem  'EcpEaiov  Ypa[ji|jia 
Aa{JLV£(jL£V£6;,  für  das  eine  sprachliche  Erklärung  so  wenig  wie 
für  Aa[j.va[ji£V£6$  zu  geben  ist,  übrig  bleibt,  wenn  man  den  für 
die   Symmetrie   beanspruchten,    mittleren    Bestandteil   v£{ji£v  ^^) 

»9)  Nr.  343  bei  Wessely  a.  a.  0. 

^°)  Als  weitere  Varianten  des  Namens  sind  nach  einer  freundlichen 
Mitteilung  von  Dr.  Karl  Preisendanz  noch  hervorzuheben  Aajxaxaiisvsus 
CIL  VIII  Suppl.  12511  und  Aaji,  v  a  v  a  v  oiou  (y.al  'AScüvaiou)  bei  Crusius, 
Keschers  Lex.  niyth.  1  2,  946  Z.  11  ff.  Hierbei  ist  insbesondere  wieder 
der  symmetrische  Innenkomplex  NANAN  des  Wortes  auffällig. 

^')  Symbolik  der  Buchstabenanordnung  im  Sinne  von  Palindromie 
ist  mir  auch  bei  dem  Namen  des  Vaters  der  Daktylen  wahrscheinlich, 
welcher  bald  als  Zöxos  (Zonar.  p.  1702),  Zcüxög  (id.  p.  1202),  Swx«^* 
Hesych.  s.  v.  überliefert  wird  und  urspr.,  vor  Einführung  der  Zeichen 
$ — ß,  wohl  palindromisch  Z0X02  mit  dem  Zahlenwerte  88  zu  schreiben 
war.  KOMBH  =  46  =  2  X  23  (vgl.  PEA  =  23),  AAMEm  =  60 
(AKMQN  ebenfalls  gleich  60  dürfte,  da  die  Symbolik  erst  durch  ß  zu 
stände  kommt,  später  hinzugekommen  sein,  ebenso  der  aus  der  Reihe 
fallende  KEAMIi;  =  65),  ferner  ANXIAAH  ==  64  =  8^  und  OIASIS 
(sc.  yr,)  =  66  bei  Apoll.  Rh.  Arg.  I  1129  (und  Schol.)  beweisen,  daß 
auch  zahlensymbolische  Spekulationen  parallel  liefen.  Dabei  ist  die 
Verwendung  der  11  als  Grundzahl  in  Hinblick  auf  11  =  6  -[-  5  (mann- 


222  Wolfgang   Schultz, 

wegläßt.  Hierzu  kommt,  daß  die  inschriftlichen  wie  hand- 
schriftlichen Belege  für  AafJtvapisveus  nicht  über  jene  Zeit  zu- 
rückreichen, zu  welcher  die  alte  Inschrift  zerstört  und  die 
genauere  Kenntnis  von  den  symbolischen  Beziehungen  in  ihr 
zusamt  dem  Tempelarchiv  in  Ephesos  ein  Raub  der  Flammen 
wurde.  Ziebarths  Bleitafel,  das  älteste  Zeugnis  für  Aa(i,va[x£V£6e, 
zeigt  ja,  wie  das  natürlich  nicht  mehr  verstandene  Ypa|jL[i.a 
volksetymologisch  gedeutet  und  dabei  den  üblichen  Verbalfor- 
men phonetisch  angenähert  wurde. 

Hält  man  an  der  Form  SajJiNEMENeu;   fest,    so  hat  man 
die  definitive  symmetrische  Anordnung  der  'Ecpeata  Ypd[i\iaT(x.: 

AISIA 

A  A  II    N  E  M  E  N    E  r  2 
H  I  A        TET       p  aS 

T 

ms       A     A       SKI 

K 

Die  sich  hieraus  im  Sinne  des  obigen  Punktes  8  zwischen 

den  'Ecpeaia  und  den  AsXcpixa  ypd\i[).a.xa,  ergebende  Parallele  fasse 


liehe  und  weibliche)  Daktylen  bei  Schol.  Apoll.  Rh.  I  1125  [FHG  I  71 
fr.  7  Pherekydes  nimmt  20  und  32.  also  im  Ganzen  52  (wohl  kaum 
auf  die  Symbolik  von  52  Jahreswochen  von  364  Tagen  zu  beziehen,  da 
Daktylen,  Kureten  und  Korybanten  eher  9  tägige  als  7  tägige  Wochen 
darzustellen  scheinen,  so  daß  eine  Beziehung  zu  Sonne  und  Planeten 
ihnen  fremd  wäre)  an,  woferne  nicht,  wie  mir  wahrscheinlich  ist,  statt 
AB  besser  AE  zu  lesen  ist,  wodurch  man  55  =  20  +  35  erhielte]  von 
um  so  größerer  Bedeutung,  als  nach  Serv.  in  Georg.  I  38  Aegyplii  duo- 
decim  esse  adserunt  signa  {Thierkveiszeichen),  Chaldaei  vero  undecim, 
wozu  man  Boll,  Sphaera  187  A:  „Gewiß  haben  die  Griechen  bei  den 
Chaldäern  den  Thierkreis  mit  nicht  mehr  als  11  Zeichen  gefunden'', 
und  die  11  Manubien  der  Etrusker  vergleiche.  Abgesehen  von  dieser 
Zahlensymbolik  der  Daktylennamen,  auf  welche  auch  noch  der  Schuh 
des  Daktylen  Herakles  in  seinem  Verhältnis  zum  Thierkreis  (cf.  Hera- 
klit  fr.  3  und  Gell.  Noct.  Att.  I,  1  zu  beziehen  ist,  ergibt  sich  durch 
"Idvj  als  Daktylenmutter  (IAH  =  22  im  m  i  1  e  s  i  s  c  h  e  n  System,  sonst 
20,  durch  Gegensatzsymbolik  den  20  männlichen  Daktylen  bei 
Pherekydes  entsprechend?)  in  dem  sonst  nicht  hierher  gehörenden 
'I5o[i£V£'Jg  eine  Analogie  zu  unserem  \'x\i\y  o  \i.zv\z'ic,  der  Zauberpapyri, 
so  daß  also  'ISsög  und  AaptvcOc,  'ISo|jisv£'Jg  und  Aa[iv o [isvsüg  sprachlich 
auf  gleicher  Stufe  stünden.  Ist  diese  Bemerkung  richtig,  dann  erweist 
sie  neuerlich,  daß  das  A7.iivap,£v£ijs  der  übrigen  Ueberlieferung  nicht 
ausschließliche  Geltung  beanspruchen  darf  und  also,  namentlich  in 
Hinblick  auf  die  in  unserem  Gebiete  überall  vorherrschende  Buchstaben - 
und  Zahlensymbolik  dieselbe  auch  gewiß  nicht  besessen  hat. 


'Ecpeota  und  AsXqrtxoc  Ypä[i[jLaxa.  223 

ich  also  dahin  zusammen,  daß  die  i  n  s  c  h  r  if  1 1  ic  h  e  An- 
ordnunof  beider  Spruchreihen  einem  nach  zah- 
lensymbolischen Prinzipien  ausgebauten  streng 
symmetrischen  Plane  entsprach. 

Diese  nunmehr  gefundene  Anordnung  ist  aber  nur  das 
Tor,  das  einlädt,  in  das  eigentliche  Verständnis  der  Inschrift 
einzutreten,  Sie  besteht  aus  5x7  Buchstaben,  von  denen 
5X5  symmetrisch  angeordnet  sind  und  wieder  in  Komplexe 
zu  je  fünf  zerfallen.  E  selbst  in  Mitten  der  Anordnung  bedeutet 
als  Zahl  wiederum  5  und  mit  K  =  10  wird  die  Inschrift  be- 
schlossen. So  belehrt  sie  selbst  uns  über  das  Zahlensystem, 
nach  dem  ihre  Buchstaben  zu  verstehen  sind.  K  als  zehnter 
Buchstabe  des  Alphabetes  hat  eben  nur  dann  die  schon  be- 
merkte und  so  nahe  liegende  Bezieliung  zu  dem  fünften  Buch- 
staben E,  wenn  es  nicht  im  Sinne  des  milesischen  Zahlensy- 
stemes  als  20  sondern  bloß  seinem  Stellenwerte  im  gemeinhel- 
lenischen Alphabete  nach  als  10  betrachtet  wird  -'-).  Da  in  den 
'Ecpsaia  ypaptiJiata  die  relativ  jungen  Buchstaben  O,  X,  W,  Q 
eben  so  wenig  vorkommen  wie  H,  das  demnach,  ähnlich  wie 
in  den  lokrischen  Alphabeten,  durch  F  ersetzt  sein  konnte, 
ist  bloß  ein  von  A — Y  reichendes  Alphabet  von  20  Buchstaben 
vorauszusetzen,  so  daß  also  die  Inschrift  bis  in  die  älteste  Zeit 
zurückdatiert  werden  kann. 

Verwendet  man  das  sich  derart  in  Analogie  zur  üblichen 
Zählung  der  homerischen  Gesänge  ^^)  ergebende  Zahlensystem, 


^'^)  Ueber  die  Methode  dieser  Art  der  Zahlenrechnung  vergleiche 
meinen  Aufsatz  nreArOPA2  im  Archiv  f.  Gesch.  der  Philosophie  1908, 
XXI,  240.  Weitere  Beispiele  von  Zahlensymbolen  gab  ich  ibid.  1909 
Bd.  XXII,  196—229  „Die  Kosmologie  des  Rauchopfers  nach  Heraklit 
fr.  67".  Einzelnes  zur  Buchstabensymbolik  ist  auch  aus  meinen  „ana- 
krumatischen  Worten"  Memnon  II  1  S.  36 — 8i  und  eine  zusammenfas- 
sende Darstellung  des  Gesammtgebietes  aus  meinem  , Bericht  über  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Zahlenforschung"  Memnon  II  2  S.  240 — 249  zu 
entnehmen.  Auf  Grund  dieser  von  mir  erschlossenen  Forschungsme- 
tboden  und  Ergebnisse  hat  endlich  Robert  Eisler,  in  seinem  im  Er- 
scheinen begriffenen  Buche  Weltenmantel  und  Himmelszelt  S.  334  ff. 
zahlreiche  Zahlensymbole  im  Texte  des  Pherekydes  von  Syros  und  der 
Orphica  erläutert. 

-^)  Vgl.  S.  212  Anm.  5  und  den  Hinweis  auf  Ludwichs  Forschungen. 
Auf  die  foi-male  Analogie  der  'Ecfsaioc  yp±\i<^(x.z'x  zu  den,  allerdings  un- 
gleich plumperen  carmina  figurata  der  Späteren  (vgl.  Anth.  Pal.  XV), 
welche  aber  offenbar  z.  T.  noch  alte  Schemen  mystischer  Buchstaben- 
anordnung   vor    Augen    haben    (a'jpiyg   [Nr.  21],    ■F.iXz'/Mc,    [Nr.  22],    wöv 


224  Wolfgang   Schultz, 

so  entspricht  der  Gesamtheit  der  inschriftlich  anzunehmenden 
Buchstaben  der  'Ecpsaca  ypa[A[Aata  die  Zahl  360,  d.  h,  das  Zehn- 
fache der  bei  der  Aussprache  erforderlichen  Buchstaben,  und 
die  Zahl  der  Tage  des  babylonischen  alten  Sonnenjahres;  denn 
es  ist  AISIA  seiner  Buclistabensumme  nach  gleich  38,  N.EMEX 

gleich   48,   STETS   gleich    71,    I:SSa|a2KI    gleich   105, 

AAj\IErS  gleich  60  und  lA  PA  gleich  38,  also  alles  zusam- 
men 360  2^). 

Wir  wenden  uns  nunmehr  den  AsXcf^xa  ypajxfjtaxa  zu  und 


/£Ai5&voj  [Nr.  27];  dagegen  wohl  jüngere  Schemen:  TixspoYsg  "Eptü-.o^ 
[Nr.  24]  und  ßwiiöc;  [Nr.  25,  26],  jedoch  allemal  Formen  von  theolo- 
gisch mystischer  Bedeutung)  und  aus  ihrem  mangelhaften,  bloß  äuße- 
ren Verständnisse  heraus  nachahmen  wollen,  brauche  ich  wohl  kaum 
noch  besonders  hinzuweisen. 

^*)  Daß  dieser  errechnete  Zahlenwert  auch  im  Sinne  der  Ueber- 
lieferung  sachlich  zutrifft  und  daß  die  'Ezsaioc  ypäiijia-a  in  der  Tat 
einen  Jahrespsepbos  darstellen,  ist  zu  allem  üeberflusse  auch  noch  fast 
geradezu  bezeugt.  Der  Lond.  Pap.  CXXI  Z.  459  (bei  Wessely,  neue  gr. 
Zaubertexte  1893  S.  35)  bietet:  ^-  xov  opcpalV.ov  aoy. ei  xaxaay.  si 
Xsy(iy>  y.ai  Äaßcüv  [iixov  ]is/.ava  (man  vgl.  de»  Initiationsritus,  dem  sich 
Pjthagoras  nach  Porph.  V.  Pyth.  15  unterwerfen  mußte,  um  in  die  My- 
sterien der  Idäischen  Daktylen  initiiert  zu  werden)  ßaXs  ajiiJLaxa  xgs  y.a-. 
£acü9-£v  TZEpiSyjaov  ^  TtaXiv  xov  auxov  Xoyov  "xai  oxi  SLaxyjpr,aov  xov  itaxo^ov 
r,  y.axaSsaiiov.  Die  Zahl  365  statt  360  ist  hier  wie  auch  sonst  unter 
dem  Einflüsse  späterer  chronologischer  Doktrin  eingedrungen  (vgl. 
MiePÄS  =  360  aber  MEIOPÄS  =  365,  KlAÜS  =  360  aber  NEIAOi:  = 
365  u.  s.  w.),  ein  Vorgang ,  der  vielleicht  durch  ägyptische  Vorstel- 
lungen noch  unterstützt  wurde.  Hierauf  würde  zu  mindest  hindeuten, 
dab  auch  sonst  die  Zauberpapyri  365  Knoten  im  Zusammenhang  mit 
der  vok  mystica  ABPA2AZ  empfehlen,  so  der  Pap.  Par.  2391  f.  5'  Z.  330 
ouvSvjoag  xo  TZBioLXoy  xoic,  CtoSioig  [nxw  a-o  lgxou  71017^0«;  ajiiiaxa  xgs  AsycDv 
ü)g  c'.5a$  aßpaoag  "xa-ao^ec,  und  daß  schon  König  Amasis  einen  kunst- 
voll gewebten  Panzer,  dessen  Fäden  sich  immer  aus  je  3<)5  Einzelfäden 
zusammensetzten,  als  Weihegeschenk  nach  Rhodos  widmete.  Plin.  bist, 
nat.  XIX  1,  2.  Doch  auch  für  Aa-ivaiievsOg  ist  die  Beziehung  zum  Jahres- 
psepbos durch  einen  Blutjaspis  Ijei  Chabouillet  Nr.  2250  gesichert, 
welcher  einen  Skarabacus,  umgeben  von  einer  Schlange,  die  sich  in 
den  Schwanz  beißt,  darstellt  und  die  Legende  trägt :  ABPASAXS  AAil- 
NAMEXErZ  lAß.  Der  Zahlenwert  von  ABPASAS  ist  bekannt  und  über 
die  mystische  Bedeutung  von  lAi2  vgl.  man  den  locus  classicus,  näm- 
lich das  Orakel  des  Apollon  Clarius  bei  Macrob.  Sat.  I  IS  und  etwa 
den  Lond.  Pap.  XLVI  Z.  26  (Greeck  Pap.  in  the  Brith.  Mus.  by  Ke- 
nyon,  London  1893  p.  66)  xö  law  yf^  dspi  o'jpavqj.  Man  darf  also  wohl 
schließen,  daß  ein  mystischer  Name,  welchei-,  wie  hier  Aa[ivx[i£v£'jj,  von 
zwei  anderen  umrahmt  wird,  die  so  offenkundig  auf  das  Jahr  und  die 
damit  zusammenhängenden  kosmologischen  Spekulationen  hinweisen, 
auch  selbst  verwandter  Art  sein  wird.  Drückt  doch  die  Darstellung 
unserer  Gemme  auch  in  ihrer  Sprache  aus,  öj;  y.£xöo|iTjxat  xä  rävxa,  wie 
Androkydes  etwa  sagen  würde. 


'Ecpdota  und  AzX'^iy.öt,  Ypa|J.[iaxa.  225 

unterwerfen  dieselben  ganz  dem  nämlichen  Verfahren.    Hierbei 
erhalten  wir  folgende  Rechnung: 

HPA  eEOI  =    62][5=3lE=5][139=      TNOei  SEAYTON 


NOMOIS  HEieET         =  145 
OEIAEr  TE  XPONOIO=  194 

401  +  5 


59  =  MHAEN  AFAN 

_98  =  ErrrA  dapa  a  ath 

5  +  296 
406        +        301 


707 
Der  Zahlenwert  707   (sTixaxoata   iäxa)  ^^)   ist   wieder   auf   der 
dem  Apollon    heiligen   Siebenzahl  ähnlich  aufgebaut    wie    bei 
den  'Ecpsaca  YpajJifJiaia    der  Zahlenwert  360  auf  der  der  Arte- 
mis heiligen  Sechszahl  ^'^]. 

Aber  auch  noch  andere  Zahlenwerte  dieser  Tabelle  sind 
zu  beachten.  So  erhält  man,  wenn  man  den  Zahlen  wert  des 
ersten  und  letzten,  die  beiden  Werte  der  mittleren  Sprüche 
und  endlich  die  des  letzten  und  ersten  zusammenaddiert,  nach- 
folgende Ergebnisse: 


^*)  Wenn  man  Zahlen  nicht  anzuschreiben  sondern  auszu- 
sprechen hatte,  mußte  man  sich  des  in  der  hellenischen  wie  über- 
haupt in  allen  arischen  und  auch  in  den  semitischen  Sprachen  der 
Reihe  der  Zahl  w  o  r  t  e  zu  Grunde  liegenden  dekadischen  Systemes 
bedienen  (vgl.  meinen  „Bericht  über  den  gegenwärtigen  Stand  der 
Zahlenforschung "  Memnon  II  2  S.  241  links).  Eben  hiermit  ist  es  aber 
auch  gerechtfertigt,  in  symmetrischen  und  hierdurch  auffälligen  An- 
ordnungen dekadischer  Einheiten,  wie  z.  B.  in  unserer  Zahl  707, 
Symbole  zu  erkennen,  obgleich  deren  systematische  Struktur  nur  in  der 
Aussprache,  nicht  aber  auch  in  irgend  einer  (zahlen-  oder)  ziffernmäßi- 
gen Anschreibung  zum  Ausdrucke  kommen  konnte.  Vgl.  auch  Arch.  f. 
Gesch.  d.  Philos.  XXI,  2436. 

'^^)  Die  Zahl  707  gibt  übrigens  noch  zu  weiterer  Deutung  Anlaß. 
Ohne  derselben  vorzugreifen,  sei  hervorgehoben,  daß  sie,  vermindert 
um  7^  =  343,  den  Rest  364,  also  einen  Jahrespsephos  (vgl.  oben  52  X  7 
=  364),  zurückläßt.  343  als  (fortrollendes)  Planetenjahr  führt,  um  11 
erhöht,  zu  354,  dem  üblichen  Mondjahr  und,  um  10  erhöht,  zu  364, 
das  hier  vorausgesetzt  zu  sein  scheint,  resp.  um  11  erhöht,  zu  365.  Hiezu 
vgl.  oben  Anm.  10  über  die  Häufigkeit  der  11  in  den  Daktylenüberliefe- 
rungen und  Röscher,  die  Sieben-  und  Neunzahl  etc.  Abh.  d.  phil.  bist.  Kl. 
d.  Kgl.  Sachs.  Ges.  d.  Wissenscb.  Bd.  XXIV,  Nr.  1  S.  42  Anm.  103  über 
Herakles  und  die  Thespiaden,  da  aus  diesem  Mythos  (Herakles  wohnt 
in  49  Nächten  je  7  Mädchen  oder  in  7  Nächten  je  49  Mädchen,  in  ver- 
blaßten Ueberlieferungen  auch  überhaupt  bloß  49  Mädchen,  bei)  ein 
Jahr  von  343  =7^  Tagen,  das  auf  der  Planetenzahl  aufgebaut  sein 
mußte,  zu  erschließen  ist.  Auch  die  49  (bald  auf  48  und  50  ausge- 
glichenen) Danaiden  sind  nach  Röscher,  die  Hebdomadenlehren  der  gr. 
Philosophen  und  Aerzte  etc.  ibid.  Bd.  XXIV,  Nr.  6,  S.  216  und  Anm.  302 
zu  vergleichen. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  2.  15 


226  Wolf  gang   Schultz  , 

62  +    98  =  160  =  4  X  10  X  4 
145  +     59  =  204  =       6  X  34 
194  +  139  =  =         333 

Die  erste  und  letzte  dieser  Zahlen  bedarf  keiner  Erläuterung. 
In  der  mittleren  ist  34  die  Anzahl  der  Buchstaben  auf  jeder 
Seite  des  E  ^^).  Der  Nachweis  dieser  zahlensymbolischen 
Struktur  der  AsXcpixa  ypd\i.iiOixa  hat  aber  auch  historischen 
und  nicht  nur  systematischen,  auf  den  Gedankeninhalt  der 
Sprüche  bezüglichen  Wert;  denn  wenn  er  sich  bei  der  aus 
den  im  Vorangehenden  angestellten  Erwägungen  abgeleiteten 
Schreibung  in  Uebereinstimmung  mit  der  ebenfalls  auf  solche 
Erwägungen  gestützten  Ermittlung  der  Buchstabenanzahl  er- 
gab ,  dann  bestätigt  er  eben  seinerseits  das  Zutreffen  dieser 
Erwägungen  und  bedeutet  gewissermaaßen  eine  Probe  auf  das 
Exempel.  Auch  ist  noch  schließlich  hervorzuheben,  daß  eine 
Buchstabensymbolik  von  der  Art  der  vorliegenden  nach  dem 
5.  Jahrhundert  gemäß  meinen  bisherigen,  in  den  unten  ange- 
gebenen Publikationen  (s.  S.  223  Anm.  22),  dargelegten  Er- 
fahrungen auf  diesem  von  mir  entdeckten  Gebiete,  durchwegs 
unwahrscheinlich  ist  und  bisher  durch  keine  Analogie  zu  stützen 
wäre. 

Die  sich  hieraus  ergebende  Parallele  im  Sinne  des  obigen 
Punktes  9  fasse  ich  also  dahin  zusammen,  daß  die  zahlen- 
symbolische Bedeutsamkeit  der  AsXcpcxa  ypafji- 
(jiaxa  sich  bloß  auf  die  dem  Apollo  n  heilige 
Siebenzahl,  die  der'Ecpeata  Ypa[x[xaTa  aber  außer 
auf  die  der  Artemis  heilige  Sechszahl  auch 
noch  auf  die  kosmologische  Bedeutung  des 
Jahreskreises  bezog. 

Diesen  Ergebnissen,  welche  wohl  auch,  ohne  daß  ich  dies 
besonders  auseinanderzusetzen  brauche,  Roschers  ursprüngliche 
Stellungnahme  neuerlich  und  von  unerwarteten  Gesichtspunkten 
aus  gerechtfertigt  erscheinen  lassen,  wird,  glaube  ich,  eine 
immer  tiefere  Bedeutsamkeit  zuerkannt  werden,   je  mehr  man 


^')  Unter  den  Zahlenwerten  der  einzelnen  Sprüche  scheint  139  (auf- 
gebaut aus  3",  3S  3-)  selbst  apollinisch  zu  sein  (vgl.  Ludwich  a.  a.  O. 
S.  6  unten)  und  auch  durch  seinen  Inhalt  dem  Wesen  der  Gottheit  am 
nächsten  zu  stehen. 


'Ecpeaia  und  AsXcpiy.ä  fpa^iiia-ix.  22? 

die  kulturhistorischen  Voraussetzungen  zu  verstehen  trachtet, 
die  so  komplizierte  Symbolgebilde  wie  diese  Ypd\x[ioc~o(,  zeitigen 
konnten.  Aber  kennen  wir  überhaupt  Gedankenzusammenhänge, 
in  welche  sich  die  'Ecpeaia  ypajxjjLaxa  eingliedern?  So  abson- 
derlich derlei  Gebilde  uns  auf  den  ersten  Blick  erscheinen,  so 
wenig  sind  sie  für  uns  isolierte  Phänomene.  Nur  eines 
dieser  Art  sei  hier  noch  hervorgehoben. 

Die  Philosophie  des  Herakleitos  von  Ephesos  ist,  wie  ich  in 
meiner  Studie  über  „Pythagoras  und  Heraklit"  gezeigt  habe, 
ihrem  sogenannten  physikalischen  Teile  nach  geradezu  ein  er- 
weiternder Kommentar  zu  dem  nach  der  Deutung  des  Androkydes 
in  den  'Ecpsota  Ypa[i,[iaxa  ausgesprochenen  Gedanken,  daß  die 
feurige  Sonne  das  All  bezwingend  (AAMNEMENEIS),  in 
der  Vierheit  der  Jahreszeiten  (TETPAS)  auf  der  Erde 
(AE)  den  Wechsel  von  Nacht  (ASKI)  und  Tag  (KA- 
TA^KI)  hervorruft;  denn  dies  ist  wahr  (AKIA)^«).  Da 
ich  am  angegebenen  Orte  diesen  Zusammenhang  eingehend  aus- 
einandergesetzt habe,  führe  ich  hier  nur  die  wichtigsten  Punkte 
der  Uebereinstimmung  an.  1.  „Schattenlos"  für  Nacht  und 
„Beschattet"  für  Tag  ist  im  Sinne  der  bei  Heraklit  in  fr.  48  DFV. 
sogar  prägnant  hervorgehobenen  Etymologie  des  lucus  a  non 
lucendo  verwendet.  2.  Die  Grundansicht,  daß  sich  in  Worten 
und  Zeichen  das  Wesen  der  Dinge  offenbare,  liegt  der  Sprach- 
philosophie des  Heraklit  als  solcher  zu  Grunde.  3.  Die  Hören 
als  Trennende  (wpai  —  opc^ouaat)  und  das  Jahr  als  in  sich 
zurückkehrender  Kreislauf  (sviauio;,  sxo;  —  xö  ev  eauxw  exa- 
^ov)  beziehen  sich  in  Piatons  Kratylos  auf  Heraklit.  4.  Die 
Rechnung  mit  einem  Sonnenjahr  von  360  Tagen  liegt  dem 
Welten  jähre  Heraklits  von  10800  Sonnenjahren  (d.  h.  30  Jahre 
der  ysvea,  der  Zeit,  in  der  ein  Mann  Großvater  werden  kann, 

-^)  Zu  dieser  meiner  a.  a.  0.  gegebenen  Deutung  vgl.  die  Zustim- 
mung von  Jane  E.  Harrison,  Helios-Hades  in  The  Classical  Review 
XXII  (1908),  16.  Mein  Versprechen,  die  Bedeutung  der 'Eq:.  yp.  voll- 
ständig darzulegen,  auf  welches  die  verehrte  Verfasserin  anspielt, 
habe  ich  allerdings  auch  hier  (s.  oben  S.  212  Anm.  5)  nur  erst  teil- 
weise eingelöst,  da  sowohl  die  Untersuchung  aller  anknüpfenden  my- 
thischen Traditionen  als  auch  die  Darlegung  aller  in  unseren  Worten 
gelegenen  Zahlenbeziehungen  sowie  endlich  die  Besprechung  der  ein- 
zelnen, z.  Th.  offenbar  einem  prähellenischen  Idiom  angehörenden  Worte 
und  ihrer  astronomischen  und  kultischen  Bedeutung  hier  zu  weit  führen 
würde. 

15* 


228      Wolfgang   Schultz,  'Eiy sota  und  AsXcf ixä  ypöi.\i.\i(x.xoi.. 

SO  daß  der  Kreis  der  Geburt  sich  schließt,  multipliziert  mit 
der  Zahl  der  Jahrestage)  zu  Grunde  ^9),  und  die  Zahl  10  800  ist 
im  milesischen  Zahlensysteme  Aß^°).  5.  Bei  Heraklit  finden  wir 
die  sechsfache  Gliederung  des  Weges  aufwärts  und  abwärts. 
6.  Die  Sonne,  die  von  altersher  als  feuriges  Prinzip  gedacht 
wurde,  wird  bei  Heraklit  durch  den  Grundstoff  des  Feuers  ver- 
treten. 

Unser  Hauptzeuge,  Clemens,  sagt  von  den  'Ecpsaia  ypap.- 
(xata,  jener  Pythagoreer  Androkydes  habe  in  ihnen  dargestellt 
gesehen,  &c,  X£x6a|xr]Tat  xa  ndvxoc.  Demnach  sind  die  'Ecpeata 
Ypa|Ji|jiaTa,  zusammen  mit  den  ihnen  analogen  AeXcptxa  ypa[x- 
[xaxa,  nicht  nur  deshalb  interessant,  weil  sie  uns  vergegen- 
wärtigen, wie  an  höchste  kosmologische  Symbolik  in  der  Ge- 
stalt der  späteren  Ypa[ji[jiata  niederes  und  niedrigstes  Zauber- 
wesen anknüpft,  sondern  auch  weil  in  ihnen  die  sinnvolle  Ver- 
wendung von  Buchstaben,  die  rätselhafte  Anordnung  derselben 
zu  Zahlen  und  gleichzeitig  die  anschauliche  Nachbildung  des 
Weltalls  in  symmetrisch-kosmologisch  verteilten,  bedeutsamen 
Worten  erstrebt  ist. 

Wien.  Wolfgang  Schultz. 


29)  Die  von  mir  im  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  XXII,  209  ff.  darge- 
tane Uebereinstimmung  zvnschen  den  symbolischen  Zahlen  des  bera- 
klitischen  und  biblischen  Xo^oc,  vom  Weltgeschehen  läßt  sich  auch  noch, 
•wie  ich  einer  freundlichen  Andeutung  W.  H.  Roschers  entnehme,  durch 
eine  parallele  Uebereinstimmung  zwischen  heraklitischer  und  „babylo- 
nischer" Weltenjahrrechnung  unserem  Verständnisse  näher  rücken.  Nach 
Berossos  fr.  4  herrschten  die  10  ältesten,  vor  der  Flut  regierenden 
Könige  zusammen  120  Sare,  d.  h.  120  X  360  =  432  000  Jahr  =  10800 
yevsai  zu  je  40  Jahren.  40  periodische  Monate  zu  27  Tagen  sind  1080 
Tage,  d.  h.  3  Rundjahre  zu  350  Tagen.  Ginzel  in  Klio  I  (1908)  S.  352  f. 
A.  5.  —  Auch  das  Weltjahr  der  Inder  betrug  432000  Jahre. 

3")  Vgl.  Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  XXII,  205. 


viir. 

Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons, 
dargestellt  im  Anschluss  an  die  Poiiteia. 

Zuerst  möchte  ich  in  knappem  Umriß  die  Darstellung 
nachzeichnen,  die  Piaton  von  der  Entstehung  und  Entwicklung 
eines  dem  Zufall  überlassenen  Staatengebildes  und  dann  im 
Gegensatz  dazu  von  seinem  durch  wohl  überlegte  Anord- 
nungen zur  idealen  Verfassung  geführten  Staate  gibt.  Indem 
ich  mich  dabei  durchaus  auf  die  leitenden  Hauptgedanken  be- 
schränke, diesen  aber  vielfach  eine  von  mir  frei  gewählte  An- 
ordnung gebe,  möchte  ich  erreichen,  daß  ihr  innerer  Zusam- 
menhang schärfer  hervortrete  als  in  der  durch  andere  Ge- 
dankengänge vielfach  durchkreuzten  und  durch  so  viele  Neben- 
betrachtungen    erweiterten     platonischen    Darstellung    selbst. 

Dann  aber  möchte  ich  die  Punkte  bezeichnen  und  zum 
Teil  auch  eingehender  besprechen,  die  eine  Eigentümlichkeit 
des  platonischen  Idealstaates  ausmachen.  Und  daran  liegt  mir 
besonders  viel.  Denn  ich  bin  der  Ansicht,  daß  über  den 
augenfälligsten  derselben,  die  Piaton  selbst  besonders  hervorhebt, 
einige  andere  ebenfalls  wichtige  Züge  bisher  so  gut  wie  ganz 
übersehen  worden  sind. 

I.  Der  Bestand  der  Staaten  erklärt  sich  aus  der  mensch- 
lichen Natur.  Ihre  Entstehung  ist  eine  Folge  davon,  daß  der 
einzelne  Mensch  für  sich  kaum  alles  zum  Leben  Notwendige 
sich  verschaffen  kann.  So  vereinigen  sich  mehrere  zu  gegen- 
seitiger Unterstützung.  Da  sie  übrigens  nach  ihrer  Anlage 
unter  sich  verschieden  sind,  und  da  außerdem  mehr  dabei 
herauskommt,  wenn  jeder  nur  gleichartige  Dinge  herzustellen 
hat,   für   deren  Herstellung   er    durch  Uebung  eine   besondere 


230  C.  Ritter, 

Geschicklichkeit  gewinnt,  als  wenn  jeder  allerlei  machen  muß, 
so  teilen  sie  sich  zweckmäßig  in  die  Aufgaben  und  tauschen 
ihre  Erzeugnisse  gegen  einander  aus.  Wenn  so  in  der  Gremein- 
schaft,  die  sie  mit  einander  bilden,  die  einfachsten  Lebensbe- 
dürfnisse befriedigt  werden  können,  haben  wir  schon  einen 
Staat,  freilich  nur  einen  Notdurftsstaat,  die  dvayy.aiOTaxy] 
uöXk;^).  —  Den  Kynikern  mochte  ein  solcher  einfacher  Na- 
turstaat als  der  allein  vernünftige  und  berechtigte  erscheinen. 
Glaukon  bezeichnet  ihn  als  menschenunwürdig,  als  Schweine- 
staat uwv  nÖAiq  2). 

Die  Weiterentwicklung  wird  sich  so  vollziehen,  daß  die 
Arbeitsteilung,  die  mit  der  Gründung  des  Staates  schon  ge- 
geben ist,  fortschreitet,  indem  die  Sonderung  der  Berufe  immer 
mehr  ins  einzelne  geht.  Erst  damit  wird  eine  höhere  Kultur 
möglich.  Aber  eben  diese  höhere  Kultur  hat  auch  ihre  Ge- 
fahren. Während  bisher  Geschlecht  für  Geschlecht  gleich- 
mäßig und  ohne  Geschichte  in  den  Tag  hineinlebte,  anspruchs- 
los, harmlos  und  gesund  (ohne  Besitzanhäufungen  und  ohne 
Streit  und  Krieg),  wird  das  anders,  wenn  gesteigerte  Ansprüche 
einen  feineren  Lebensgenuß  als  Bedürfnis  erscheinen  lassen. 
Bleibt  dabei  das  Augenmerk,  so  wie  es  anfangs  die  Not  mit 
sich  brachte,  ganz  auf  die  äußerlich  sinnlichen  iTzi%-\)[i.iai  be- 
schränkt oder  wenigstens  vorwiegend  auf  diese  gerichtet,  wäh- 
rend sie  selbst  mit  der  reicheren  und  bequemeren  Befriedigung 
ihres  Verlangens  immer  höher  wachsen,  so  erzeugt  die  äußere 
Kultur  nur  sittliche  Fäulnis.  Die  Tpu'fcbaa  oder  cpXsY[xacvouaa 
'TioXic,  ist  an  Stelle  der  avayxata  getreten.  Sie  geht  zwar  weit 
über  den  noch  halb  tierischen  Naturstand  hinaus,  aber  sie  ist 
nicht  besser,  sondern  vielleicht  schlechter  als  er. 

Nur  richtige  Erziehung  [rM'.aeia)  und  Leitung 
auf  ein  anderes,  besseres  Ziel  hin  kann  die  späteren  Geschlech- 
ter vor  der  Gefahr   der   Entartung  bewahren  und   auch  einem 


*)  369 d:  Der  Ausdruck  bezeichnet  eben  das  beides:  daß  der  Zu- 
sammenschluß zu  gemeinsamem  Tun  durch  das  dringendste  Naturbe- 
dürfnis erzwungen  sei  und  anderseits  daß  nur  eben  der  äußersten  Not- 
durft damit  Genüp;e  geschehe. 

^)  372  d:  Wobei  man  sich  daran  erinnern  mag,  daß  die  ug  nicht 
etwa,  wie  bei  uns,  in  erster  Linie  Sinnbild  der  Unreinlichkeit,  sondern 
der  geistigen  Stumpfheit  und  Trägheit  ist  cf.  UoX.  VII,  535eAax.  196  d. 


Die  politischen  Grundanscbauungen  Piatons.  231 

schon  beginnendeu  Verfall  wohl  noch  wehreu  ^).  Sie  aber 
muß  ruhen  auf  der  Einsicht,  daß  es  ein  höheres  Ziel  gibt, 
um  dem  Streben  nach  diesem  alles  das  unterzuordnen,  was 
über  die  bloße  Notdurft  der  Lebenserhaltung  hinausliegt,  und 
auf  der  Erkenntnis  dieses  höheren  menschlichen  Lebensziels. 
Voraussetzung  dafür  ist  wieder ,  daß  man  wisse, 
worin  die  menschliche  Vollkommenheit,  die  apexy], 
besteht  oder  was  die  rühmlichsten  Eigenschaften  des  Men- 
schen sind.  Nun  gilt  der  Grundsatz:  schön  ist  was  frommt  *) 
(und  häßlich  ist  was  schadet).  Also  wird  die  menschliche 
äpexT]  zugleich  das  sein,  was  ihm  am  meisten  frommt,  d.  h. 
was  seine  Glückseligkeit  am  sichersten  begründet.  Im  übrigen 
erweist  sich  jedes  Dinges  apcf/j  als  der  Zustand,  in  dem  es 
am  besten  der  ihm  eigentümlichen  Aufgabe  gerecht  wird,  sein 
£pyov  am  besten  erfüllt.  Die  eigentümliche  Aufgabe  eines 
Dinges  aber  ist  das,  was  das  Betreffende  entweder  allein  leisten 
kann  oder  was  es  besser  leisten  kann,  als  irgend  ein  anderes 
Ding  das  vermöchte  ^).  Die  Aufgabe  des  Menschen  nun  ist 
gewiß:  die  Denkkraft,  die  ihn  auszeichnet,  zu  betätigen  und 
dadurch  weise  zu  sein.  Denn  bei  allem,  was  man  außer  der 
Weisheit  als  rühmlich  und  als  ein  Stück  seiner  apexY]  an  dem 
Menschen  loben  mag,  stellt  sich  heraus,  daß  es  eben  nur  da- 
durch rühmlich  ist,  daß  Weisheit  mit  ihm  verbunden  ist;  und 
bei  jedem  Besitz,  den  man  als  guten  und  schätzenswerten  preist, 
zeigt  sich,  daß  er  nur  durch  vernünftigen,  von  Einsicht  ge- 
leiteten Gebrauch  seinen  Wert  hat,  ohne  Einsicht  sogar  schäd- 
lich sein  kann.  (Auch  Thrasymachos,  der  die  äor/doc  für  gut 
und  schön  erklären  will,  sieht  es  als  selbstverständlich  an  '^), 
daß  mit  ihr  Klugheit  verbunden  sein  müßte).  Sie  ist  der 
Kern  der  menschlichen  Vollkommenheit,  das  eigentliche  We- 
sen jeder  d  p  s  t  Vj.  Auf  Erziehung  zur  Weisheit  also, 
auf  Erkenntnis  muß  die  izaibaicc  abzwecken. 

Dasselbe  ergibt  sich  noch  aus  einer  Analyse  der  Grund- 
kräfte  oder  Grundbestandteile  der  mensch- 
lichen Seele  ^).    Es  gibt  derselben  3:  Sinnlichkeit,  affekt- 


3)  399  e.  425  äff.  (401  c  ff.  416  b.  423  e  f.). 

*)  452  e.  457  b.     ^)3h2eS.  ^)  3iS  e  {ibl  a). 

')  IV  c.  12  tf. 


232  C.  Ritter, 

volle  Erregbarkeit  und  Vernunft.  Sie  sind  alle  drei  notwendig 
und  müssen  mit  einander  zusammen  im  Leben  sich  betätigen, 
keine  einzige  kann  völlig  entbehrt  oder  ausgeschaltet  werden : 
aber  sie  sind  von  sehr  verschiedenem  Werte ;  und  da  sie  mit 
einander  streiten  können  und  sich  verwirren,  ist  es  wichtig, 
daß  sie  in  das  riclitige  Verhältnis  zu  einan- 
der gesetzt  werden,  in  das  Verhältnis,  das  eben  ihrem 
wirklichen  Werte  entspricht.  Der  Wert  wird  gemessen  durch 
das  Gefühl  der  Befriedigung,  die  fjSov/j.  Nun  hat  aber  jeder 
Seelenteil  seine  besonderen  Triebe  und  Begierden,  und  deren 
Befriedigung  begründet  auch  3  besondere  Gattungen  der 
T^oovYj  ^).  Die  einzelnen  Menschen  sind  ihrer  Naturbeschaffen- 
heit nach  insofern  verschieden,  als  jene  seelischen  Grundkräfte 
bei  ihnen  in  verschiedener  Stärke  angelegt  sind.  Man  kann 
sie  demgemäß  in  Sinnesmenschen,  Ehrsüchtige  und  Wißbe- 
gierige (oder  Philosophen)  einteilen  ^).  Jeder  Mensch  aber 
wird  die  Art  der  Lust  am  meisten  preisen,  die  aus  Befriedi- 
gung der  in  ihm  am  kräftigsten  angelegten  Triebe  entspringt. 
So  widerstreiten  sich  die  Ansichten.  Wer  hat  dabei  Recht? 
Offenbar  der,  welcher  alle  die  ^verschiedenen  Arten  der  ridovii 
aus  eigener  Erfahrung  kennt.  Das  ist  allein  der  Philosoph  ^°)- 
Die  geistige  Befriedigung,  die  aus  dem  Erfahrungskreis  der 
anderen  ganz  ausfällt,  ist  die  höchste  und  wertvollste.  Darum 
ist  die  Ve  r  nu  nft,  die  Kraft  des  denkenden  Geistes,  zur 
Herrschaft  in  der  Seele  berufen.  Es  läßt  sich 
auch  zeigen,  daß  die  Triebe  des  sinnlichen  und  des  im  Affekt 
aufbrausenden  Seelenteiles  nur  dadurch  die  höchste  ihnen  ent- 
sprechende Befriedigung  erreichen  können,  daß  sie  ohne  Wider- 
streben der  Leitung  des  vernünftigen  oder  philosophischen 
Teiles  sich  hingeben  ^^) ;  außerdem,  daß  die  Lust  dieses  ver- 
nünftigen Teiles  die  reinste  und  echteste  ist,  frei  von  allen 
Beimischungen  von  Schmerz,  während  namentlich  die  heftigen 
Lusterregungen  der  beiden  anderen  Teile  nur  durch  den  Kon- 
trast ebenfalls  heftigen  Schmerzes  hervorgerufen  werden.  Das 
nach  diesen  Wertabschätzungen  richtige  Verhältnis  der  Seele, 
das  in  der  Unterordnung  der  Sinnlichkeit  sowie  der  Ehrsucht 


8)  580  d  ff.  9)  435  e  f. 

")  582  d.  ")  586  d. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  233 

und  Leidenschaft  unter  die  Vernunft  besteht,  ist  zugleich  das 
sittlich  vollkommene:  denn  ein  Gesetz  des  sittlichen  Verhal- 
tens, dessen  Erfüllung  dem  Menschen  nicht  auch  die  tiefste 
Befriedigung  seiner  natürlichen  Triebe  brächte,  wäre  wider- 
vernünftig ^^j.  Es  macht  die  oixacoauvyj  des  Menschen 
aus  *^). 

Für  den  Staat  ergibt  sich ,  daß  er ,  um  sich  in  gutem 
Stand  zu  erhalten ,  dafür  Sorge  tragen  muß,  daß  seine  Bür- 
ger sittlich  tüchtig  seien.  Nur  wenigen  würde  es  gelingen, 
durch  eigenes  Nachdenken  Einsicht  über  das,  was  für  sie  selbst 
wahrhaft  vorteilhaft  ist,  zu  gewinnen,  und  damit  das  richtige 
innere  Verhältnis  in  ihrer  Seele  herzustellen.  Die  anderen 
würden  damit,  daß  die  starker  in  ihnen  angelegten  siimlichen 
Begierden  die  Herrschaft  der  Seele  an  sich  rissen  oder  daß 
leidenschaftliche  Ehrsucht  sie  beherrschte,  nicht  bloß  der  Un- 
sittliclikeit  verfallen,  sondern  sich  auch  unglücklich  machen  — 
und  zwar  um  so  sicherer  und  gründlicher,  je  mehr  der  Staat 
in  äußerer  Kulturentwicklung  fortgeschritten  ist.  Der  Weg, 
den  sie  selbst  nicht  finden  könnten,  muß  ihnen  gezeigt,  sie 
müssen  auf  ihn  gestellt  und  darauf  festgehalten  werden  durch 
richtige  Erziehung.  Unerläßliche  Bedingung  hiefür  ist,  daß 
diejenigen  die  Regierung  des  Staates  in  Händen  haben,  die 
imstande  sind,  für  sich  und  andere  den  richtigen  Weg  selbst 
herauszufinden.  So  muß  also  die  Unterscheidung  natürlicher 
Berufsstände,  mit  der  schon  die  Einrichtung  des  Notdurft- 
staates begann,  bei  fortschreitender  Entwicklung  hauptsächlich 
darin  durchgesetzt  werden,  daß  die  wichtigste  und  höchste 
Aufgabe,  die  der  Regierung  und  der  Fürsorge  für  die 
Jugenderziehung,  ausschließlich  denen  an- 
vertraut wird,  die  zum  Höchsten  begabt  und 
entsprechend  ausgebildet  sind  -*). 

Da  die  Begabung  zur  höchsten  Aufgabe  nur  in  langer 
Bilduugs-  und  Prüfungszeit  bewährt  werden  kann,  wird  üb- 
rigens der  Stand  der  Regierenden,  die  erst  in  höherem  Alter 
ausgewählt  werden  können  ^^),  eng  zusammenhängen  mit  dem 
ihm  nächst  stehenden  der  Gehilfen,  denen  namentlich  die  be- 

12)  S.  Nofi.  II  c.  7  (UoX.  n,  379  b.  V,  457  b).  '^)  441  e. 

»*)  412  elf.  4S4bff.  15)  508  e.  54Ü  a  (412  d.  413  e). 


234  C.  Ritter, 

waffnete  Verteidigung  des  Staates  und  seiner  Ordnung  obliegt. 
So  bekommen  wir  2  von  der  Masse  des  Volkes  ausgesonderte 
Stände  und  damit  eine  Dreiteilung  der  gesamten 
Bürgerschaft,  die  auf  demselben  psychologischen  Grunde 
ruht,  wie  die  vorher  durchgeführte  Klasseneinteilung  der  Men- 
schen überhaupt.  Die  philosophischen  Naturen  sind  zur  Re- 
gierung bestimmt,  die  ehrsüchtigen,  affektvollen  zu  ihrer  Un- 
terstützung als  „Wächter"  der  bestehenden  Ordnung,  den  sinn- 
lichen ist  der  Ackerbau  und  der  Erwerbsbetrieb  im  Staate 
übergeben.  Die  militärisch  körperliche  Erziehung, 
die  für  den  Berufsstand  der  Wächter  und  Landesverteidiger 
imentbehrlich  ist,  hat  ihre  große  Bedeutung  auch  für  die 
künftigen  Regierungsbeamten  als  Gegengewicht  gegen 
ihre  geistige  Ausbildung.  Der  rechte  Mann  muß 
überhaupt  körperlich  und  geistig  tüchtig  sein  ^^).  Sonst  wäre 
die  militärische  Ausbildung  der  Regierenden  nicht  eben  wich- 
tig. Denn  die  Gefahr  eines  Aufstands  gegen  die  Regierung 
ist  gering  ^'^'■j.  Die  Untertanen  werden  sich  leicht  über- 
zeugen, daß  sie  es  gar  nicht  besser  haben  könnten 
als  unter  einer  philosophischen  Regierung  ^'),  und  beneiden 
werden  sie  die  2  oberen  Stände  kaum.  Den  Vorrechten,  die 
jene  genießen,  halten  Pflichten  die  Wagschale,  die  eben  auch 
nur  für  sie  (ihrer  Anlage  nach)  leicht  zu  ertragen  sind  (so 
wie  nur  sie  jene  Vorrechte  richtig  ausüben  können):  vor  allem 
die  Pflicht  des  völligen  Verzichts  auf  Eigenbesitz,  der  so  weit 
geht,  daß  auch  das  eigene  Hauswesen,  eine  abgeschlossene 
Hausgemeinschaft  in  eigener  Familie,  ihnen  verwehrt  ist.  In- 
dem sie  nur  beanspruchen,  was  zu  mäßigem  Leben  für  sie 
selbst  und  ihre  Kinder'^),  die  auf  denselben  Beruf  des  Wach- 
und  Regierungsdienstes  für  die  Allgemeinlieit  sich  vorbereiten, 
eben  genügt,  lassen  sie  so  den  Untertanen,  denen  der  unge- 
störte und  gesicherte  Genuß  materieller  Güter  besonders  wich- 
tig ist,  diese  zu  freier  Benützung  und  Verteilung  unter  ein- 
ander.    Daß  aber  die  Regierenden  selbst  unter  solchen 


1«)  535  d  (410  b  ff.  411  e). 

16'')  Ganz  anders  urteilt  freilich  Zeller  II,  1*  S.  904,  wogegen  aber 
außer  463  a  f.  (465  b);  500  e,  auch  417  ab.  499  d  ff.  502  b  in  Erinnerung 
zu  bringen  ist. 

1'}  520  d  ff.  586  d.  590  d,  '^)  416  d  ff.  465  d. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  235 

Umständen  sich  benachteiligt  glauben  sollten,  ist  auch  nicht 
zu  befürchten.  Sie  werden  es  mit  Dank  gegen  den 
S  t  a  a  t  ^^)  erkennen,  daß  er  durch  seine  ganze  Ordnung  sie 
vor  den  Versuchungen  der  Sinnlichkeit  und  niedrigen  Ehr- 
geizes bewahrt  hat,  denen  in  anderen  Staaten  auch  die  best 
Veranlagten  zumeist  unterliegen,  und  daß  er  durch  die  Schu- 
lung und  Ausbildung  ihrer  edelsten  geistigen  Kräfte  sie  zu 
der  höchsten  Vollkommenheit  geführt  hat, 
deren  Besitz  ihnen  das  höchste  für  Menschen  er- 
reichbare Glück  sichert.  Unter  diesen  Umständen  wird 
der  wohl  eingerichtete  Staat,  wenn  er  einmal  besteht,  von 
dauerhaftem  Bestände  sein. 

Zu  erwähnen  ist  noch,  daß  die  Frauen  in  ihm  ganz 
gleich  behandelt  werden,  wie  d  i  e  M  ä  n  n  e  r.  Die 
natürlichen  Unterschiede  der  beiden  Geschlechter,  meint  Piaton, 
sind  nicht  so  anzusehen,  als  ob  die  Frauen  zu  irgend  einem 
bestimmten  Beruf  im  Staate  untauglich  wären  -^).  Jeder  ein- 
zelne muß  aber  dem  Staat  dienen  so  viel  er  kann  d.  h.  an 
der  Stelle,  die  für  ihn  nach  seiner  Befähigung  am  besten 
paßt.  Auch  die  leitenden  Berufe  dürfen  den  Frauen  nicht 
verschlossen  sein.  Und  da  es  für  die  Angehörigen  derselben 
kein  Familienleben  gibt,  werden  die  Frauen,  von  den  kleinen 
häuslichen  Pflichten  und  Sorgen  ziemlich  befreit  -^),  den  öffent- 
lichen Angelegenheiten  sich  nahezu  ebenso  widmen  können 
und  müssen  und  wollen  wie  die  Männer. 

IL  Als  Eigentümlichkeiten  des  hiemit  nachge- 
zeichneten platonisch  en  Staatsentwurfs  rechne 
ich  folgende: 

1)  das  Wichtigste,  das  unter  allen  Umständen  erfüllt  sein 
muß:  die  Herrschaft  der  Philosophen  im  Staat 
oder  das  Zusammenfallen  von  wissenschaftlich  philosophischer 
Bildung  und  politischer  Macht.  —  Nur  ein  anderer  Ausdruck 
desselben  Gedankens  ist  der  Satz,  daß  das  Ziel  die  Begrün- 
dung einer  Vernunftherrschaft  sein  müsse.  Ein  Nebenergeb- 
nis ist,  daß  kein  beschriebenes  Gesetz  den  Herrscher  binden 
soll  ^-),  daß  ihm  und  seinen  Nachfolgern  überlassen  sein  soll, 

»«)  465  d.  497  a.  499  b.  520  a  f.  (421c). 

-«)  451  d  ff.  4.54dff.     21-)  4goa.     22)  4236.  425 äff. 


236  C.  Ritter, 

nach  Bedürfnis  Verordnungen  zu  erlassen  und  erlassene  Ver- 
ordnungen, die  sich  in  der  Erfahrung  nicht  ganz  bewähren, 
durch  bessere  zu  ersetzen.  Ein  anderes  Nebenergebnis,  daß 
die  Zahl  der  Regierenden  ziemlich  gleicbgiltig  ist:  der  Ideal- 
staat kann  ebenso  gut  eine  Monarchie  sein  (ßaacXs^'a)  als  eine 
Aristokratie  ^^)  —  aber  allerdings  keine  Demokratie,  weil  es 
gegen  alle  Erfahrung  ist,  daß  eine  größere  Anzahl  von  Men- 
schen ganz  gleich  begabt  und  tüchtig  wären  ^*)  —  und  nur 
eben  den  Allertüchtigsten  soll  die  Regierung  zukommen; 

2)  jene  Berufsstände  mit  streng  abgestuf- 
ten Pflichten  und  Rechten.  Das  hängt  mit  Nr.  1 
untrennbar  zusammen.  Denn,  wie  wir  schon  gesehen  haben, 
der  eigentliche  Regierungsberuf  erfordert  einen  vorbereiten- 
den Stand; 

3)  Besitzlosigkeit  der  2  ersten  Klassen, 
die  ihren  Unterhalt  von  den  übrigen  Bürgern  empfangen; 

4)  Gleichstellung  von  Mann  und  Weib  in 
Rechten  und  Pflichten; 

5)  Pamilienlosigkeit  oder  Weiber-  und  Kinder- 
gemeinschaft für  die  cpuXaxsc. 

Diese  5  Punkte  sind  unbestritten.  Doch  sei  es  mir  ge- 
stattet, ehe  ich  weiter  zähle,  noch  einige  Anmerkungen 
und  Erinnerungen  dazu  zu  geben. 

Daß  die  Weiber  den  Männern  gleich  behandelt  werden 
und  an  der  ganzen  naibdcx,  der  Männer  in  Gymnastik  und 
Musik  teilnehmen  sollen,  das  ist  eine  Forderung,  die  Piaton 
selbst  nur  mit  großer  Schüchternheit  ^^)  nach  längerer  Vorbe- 
reitung einführt.  Fiele  sie,  so  ließe  sich  natürlich  auch  die 
Einrichtung  der  Weiber-  und  Kindergemeinschaft  für  die  cpu- 
Äaxe^  nicht  mehr  aufrecht  halten.  Als  ideal  sind  diese  bei- 
den Grundsätze  Piaton  übrigens  auch  später,  als  er  an  ihrer 
Durchführbarkeit  verzweifelte,  noch  erschienen,  wie  wir  aus 
der  Einleitung  zum  Timaios  sehen  und  dem  Rückblick,  der  in 
deu  Nomoi  auf  die  Verfassung  der  Politeia  geworfen  wird.  — 
Was  die  berufliche  Gliederung  betrifft,  so  wird  oft 
übersehen,  daß  die  2  oberen  Stände  von  den  übrigen,  um  die 


")  445  d.  2-*)  494  a. 

■■'^)  Anfang  von  Buch  Y.     Siehe  besonders  451  a. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons,  237 

sich  die  Politeia  sehr  wenig  kümmert,  nicht  kastenartig 
abgeschlossen  sind.  Zweimal  wird  eingeschärft,  die  Regie- 
renden düiften  es  nicht  iinbeachtefc  lassen,  wenn  aus  der  Ehe 
eines  Bauern  oder  Handwerkers  Kinder  hervorgehen,  die  ihrer 
Begabung  nach  eine  höhere  Stellung  als  ihr  Vater  verdienen 
und  Kinder  der  cpuXaxü«;  von  unzureichender  Begabung  müßten 
sie  unbarmherzig  zum  Handwerk  besiimmen  —  auch  dem  schon 
halb  Erwachsenen  kann  es  noch  begegnen,  daß  er  aus  dem 
2.  Stand  in  die  Menge  zurückgestoßen  w'rd  —  wenn  er  z.  B. 
im  Krieg  sich  der  Feigheit  schuldig  machte-^).  Zieht  man 
aus  diesen  Bestimmungen  auch  nur  die  nächstliegenden  Fol- 
gerungen, so  wird  man  zu  der  Annahme  kommen,  daß  in 
frühester  Jugend  entweder  alle  Kinder  eine  Zeit  lang  gemein- 
sam erzogen  werden^')  oder  —  was  allerdings  wahrscheinlicher 
ist  —  daß  wenigstens  auch  auf  die  Erziehung  der  Kinder  des 
Gewerbe-  und  Bauernstandes  die  Regierenden  ein  stets  wach- 
sames Auge  haben,  um  jedes  Kind,  an  dem  sie  etwa  auffallende 
Begabung  bemerken,  früh  unter  die  Kinder  der  cpuXaxss  auf- 
zunehmen. — 

Ich  zweifle  nicht  im  geringsten  daran,  daß  es  zum  größten 
Heil  eines  Staatswesens  wäre,  wenn  jener  erste  und  oberste 
platonische  Grundsatz  dauernd  in  ihm  beobachtet  würde. 
Freilich  man  muß  unter  den  zur  Regierung  berufenen  „Phil  o- 
sophen"  genau  das  verstehen,  was  Piaton  nach  seinen  deut- 
lichen Erklärungen  darunter  verstanden  hat,  nicht  Leute,  die 
ein  paar  Jahre  Philosophie  oder  irgend  welche  wissenschaft- 
lichen Fächer  studiert  haben.  Man  muß  insbesondere  beachten, 
daß  lange  Bewährung  auch  in  Charakterfestigkeit,  Furchtlosig- 
keit und  überhaupt  sittlicher  Tüchtigkeit  vorausgehen  und  die 
Bedingung  dafür  bilden  soll,  daß  einer  aus  den  q;uXax£S  unter 
die  äpyovxec,  könne  aufgenommen  werden,  Ed,  Zeller  findet 
bei  Beurteilung  des  platonischen  Musterstaats  S.  921  f.,  daß 
in  ihm  „manche  Bestrebungen  und  Einrichtungen  der  Zukunft 
mit  kühnem  Griffe  vorweggenommen"  worden  seien  und  weist 
daraufhin,  daß  „so  wenig  auch  Plato  seine  Wächter  in  unseren 
stehenden  Heeren  oder  seine  regierenden   Philosophen    in   un- 

26)  468  a. 

2')  Vgl.  die  entsprechende  Anordnung  der  Nomoi,  unten  S.  246. 


238  C.  Ritter, 

serem  Beamtenstand  wiedererkennen  würde :  die  Aussonderuncr 
eines  eigenen,  fün  diesen  Beruf  erzogenen  Kriegerstandes  aus 
den  alten  Volksheeren  und  die  Forderung  einer  wissenschaft- 
lichen Vorbildung  für  die  Beamten  doch  im  Prinzip  mit  seinen 
Idealen  zusammentreffe".  Das  ist  im  ganzen  gewiß  richtig. 
Auch  die  Prüfungen,  durch  die  unseren  Beamten  der  Zutritt 
zum  Amt  eröffnet  wird,  kanii  man  den  von  Piaton  eingeführten 
vergleichen.  Aber  man  wird  dann  finden,  daß  diese  bei  uns 
viel  weniger  gründlich  sind  und  daß  sie  sich  namentlich  auf 
das  nicht  erstrecken,  was  Piaton  für  das  Wichtigste  hält  und 
am  strengsten  geprüft  wissen  will :  die  sittliche  Haltung.  Die 
meisten  unserer  Beamten  —  auch  der  höheren,  die  allein  den 
äpyo'nzc,  der  Politeia  äußerlich  entsprechen  —  würde  Piaton 
sicherlich  nicht  als  Philosophen  oder  als  wirklich  Gebildete 
anerkennen,  sondern  sie  wären  ihm  ßavauao:  xa:  y^eipoxi'/ya:. 
so  gewiß  wie  ihm  unsere  Staaten  nur  GxaaiwcEiat  wären  und 
kein  einziger  darunter  als  echte,  richtige  noAaeia,  von  ihm  an- 
erkannt würde. 

Man  könnte  sagen:  auch  der  3.  Grundsatz  sei  in  unseren 
Staaten  zu  einiger  Geltung  gekommen  mit  Uebernahme  eines 
großen  Teils  der  Schul-  und  Unterrichtslasten  auf  den  Staat, 
Errichtung  von  Lehrerseminarien  usw.,  mit  der  Ausrüstung  und 
Unterhaltung  des  Heeres  auf  Staatskosten  und  der  dem  per- 
sönlichen Bedürfnis  genügenden,  aber  doch  ziemlich  knapp  be- 
messenen Beamtenbesoldung. 

Ich  gehe  nach  diesen  Bemerkungen  weiter  zu  einem  neuen 
Punkte.  Diesen  habe  ich  freilich  nicht  bloß  zu  bezeichnen, 
sondern  den  Satz,  der  hier  stehen  soll,  habe  ich  erst  gegen  die 
herrschende  Ansicht  zu  erweisen.      Ich   behaupte  aber,   es  sei 

6)  im  platonischen  Idealstaat  die  Skla- 
verei grundsätzlich  aufgehoben. 

Ich  habe  schon  1896  im  Kommentar  zu  den  Nomoi 
p.  777b  meiner  Ueberzeugung  Ausdruck  gegeben,  „daß  Plato 
jedes  Verhältnis,  das  man  ohne  gröblichen  Mißbrauch  des 
Wortes  noch  als  Sklaverei  benennen  dürfte,  grundsätzlich  ver- 
worfen und  für  verkehrt  gehalten"  habe  und  kann  auf  das 
dort  S.  173 — 176  Gesagte  verweisen.  Es  war  aber  nicht  ein- 
gehend genug,  und  Zeller  hat  in  seiner  Besprechung  (Arch.  f. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  239 

G.  d.  Phil.  1899  S.  293)  ironisch  bemerkt,  er  sei  begierig  auf 
meinen  Kommentar  zur  Republik.  Die  Sache  scheint  mir  wirk- 
lich am  Tage  zu  liegen,  sobald  man  die  Augen  aufmacht. 
Man  muß  nur  verschiedene  Stellen  mit  einander  in  Zusammen- 
hang bringen. 

Ich  gehe  aus  von  V.  463  a  wo  es  heißt:  der  Unterschied 
von  Regierung  und  Volk  besteht  naturgemäß  in  jedem  Staate, 
obgleich  alle  die  zum  Staat  gehören  einander  als  Mitbürger 
bezeichnen  werden.  Aber  in  unserem  Staat  liegt  in  diesem 
Unterschied  kein  Gegensatz  und  entwickelt  sich  daraus  keine 
Entfremdung  oder  gar  Feindschaft.  Bei  uns  wird  das  Volk 
die  Regierenden  als  seine  Beschützer  und  Helfer  (atoxfjpa?  xat 
£-txoupou;)  betrachten  und  bezeichnen  und  die  Regierenden 
werden  in  der  Masse  der  Bürger  ihre  Soldgeber  und  Ernährer 
([jicC'9'oScTa<;  xa:  tpocpea?)  sehen,  während  in  den  meisten  Staaten 
(von  der  Demokratie  ^^)  abgesehen)  die  Regierenden  von  dem 
Volk  als  die  Herren,  osaTiotat,  bezeichnet  werden.  SsaTioirjS 
ist  der  Ausdruck  zur  Bezeichnung  eines  Herrschaftsverhält- 
nisses im  strengsten  Sinne,  dem,  wenn  man  dieses  Verhältnis 
von  der  anderen  Seite  aus  ansieht,  der  Ausdruck  ocöXo;  ent- 
spricht. Also  in  den  meisten  Staaten  kann  die  Menge  des 
Volks  als  Knechte,  coöXo'.,  bezeichnet  werden.  Das  wird  be- 
stätigt durch  die  Beschreibung  VHI  c.  3  vom  Uebergang  des 
Idealstaates  in  die  ihm  nächst  liegende  Entartungsform,  die 
Timokratie.  Hier  heißt  es,  im  Widerstreit  der  edleren  und 
schlechteren  Naturen  komme  ein  Vergleich  zustande,  nach  dem 
beide  Land  und  Häuser  unter  sich  teilen  und  ihre  Ernährer, 
die  sie  bisher  auf  gleichem  Fuß  als  Freunde  behandelt  und 
beschützt  haben,  sich  unterwerfen  und  zu  Periöken  und  Sklaven 
machen  (447  c  xoO;  Txptv  c uXaxxo[JL£vou5  uti'  a-jxwv  w;  iXsuO-lpouc 
(fiilouz  x£  %o(.l  xpocpia;  oouXcoaa[i,£voc  xoxs  Txspioi'xou?  xs  xa: 
c'.y,kxo(.c,  s/ovxe;  .  .).  Als  Vorbild,  nach  dem  die  Timokratie 
gezeichnet  ist,  hat  (wie  uns  544  c  ausdrücklich  gesagt  wird) 
der  Staat  von  Lakedaimou  und  Kreta  gedient.  Die  clxiza,'. 
muß  man  sich  also  (neben  den  7zep'.oiv.o'.)  in  ähnlicher  Stellung 
denken  wie  die  spartanischen  Heloten    d.  h.  im   allerhärtesten 

^*)  Die  ja  nach  der  ganzen  von  ihr  entworfenen  Schilderung  an 
Anarchie  grenzt. 


240  C.  Ritter, 

Verhältnis  der  Sklaverei.  Die  Herren  von  der  Regierung  fallen 
offenbar  mit  den  Vollbürgern  des  lakedaimonischen  Staats,  den 
Spartiaten,  zusammen.  Im  Idealstaat  aber  stehen  an  ihrer 
Stelle  die  cpuXaxai;  und  mit  den  Tzs.pioiy.oi  xe  %ac  oixexaL  decken 
sich  die  Handwerker  (Schiffer,  Händler)  und  Bauern  dessel- 
ben ^').  An  Sklaven  der  Periöken  und  Heloten  ist  nicht  zu 
denken.  Und  so  bleibt  nach  jener  Parallele  auch  für  Sklaven 
der  Volksmasse  in  der  Politeia  nichts  übrig,  wenigstens  wenn 
man  das  Wort  in  seinem  strengen  und  gehässigen  Sinne  ^°) 
nimmt.  Aber  freilich  Piaton  braucht  es  oft  in  der  abge- 
schwächten Bedeutung,  daß  es  die  Unterordnung 
und  das  Abhängigkeitsverhältnis  bezeichnet,  das  überall  be- 
stehen muß,  wo  wir  einen  Unterschied  von  Befehlenden  und 
Gehorchenden,  Leitenden  und  Ausführenden  haben,  irgend  eine 
Abstufung  und  Abmessung  der  Rechte  und  Aufgaben  im 
Unterschied  von  der  abstrakten  Gleichheit  aller  Personen  in 
allen  Stücken,  In  diesem  Sinne  ist  die  oouXeia  eine 
Grundbedingung  des  Bestehens  jedes  Staates 
und  die  volle  loovo\iiix  als  ihr  Gegenstück  macht  die  Anarchie 
aus^^)!  So  verstanden  werden  wir  oouXou;  natürlich  auch  im 
Idealstaat  finden;  und  dies  ist  deutlich  ausgesprochen  VIII 
cap.  13.  Hier  wird  unter  anderen  tadelnswerten  seelischen 
Zuständen  die  Gesinnung  des  engherzigen  und  niedrig  denken- 


29)  Vgl.  Zeller  S.  916.  Wenn  Piaton  seinen  Wächtern  Landbau  und 
Gewerbe  untersagt,  so  war  beides  auch  in  Sparta  Periöken  und  Heloten 
überlassen.  —  Das  Zahlenverhältnis  zwischen  den  2  führenden  Ständen 
seines  Staats  und  der  Masse  des  von  der  Regierung  ausgeschlossenen 
Volkes  mag  sich  Piaton  auch  ähnlich  gedacht  haben  wie  das,  in  dem 
die  Spartiaten  zur  Uiitertanenbevölkerung  standen,  da  er  von  etwa 
lOüO  wehrhaften  Männern  spricht  (423  a  rj  TiöXig  .  .  xal  §äv  |j,övov  ■§ 
X'.Xiüiv  Töv  7:po:ioXä|j.O'V/Tü)v. 

2°)  In  jenem  bitteren  Sinne  steht  ooOXog  und  SouXeüü)  z.  B.  noch 
577  c.  d.  7id?av  .  .  So'JXvjv  ty-jV  xupavvouiisvvjv  epslg  .  .  6p&  zb  äTiisixeaiaxov 
äxijiwg  T£  v.rx.1  a9-Xiü)g  SoöXov,  Ebenso  gilt  von  dem  Tupavvixds:  noXXfjZ 
IJiäv  SouXsJag  v.al  äveXsuS-spiag  ysiisiv  xtjv  tj'^yji'^  aüxoü  xai  xaöxa  aöx'^s  xa 
|j.epyj  So'jXs'Jscv  änsp  vjv  §7ii£t,x£3xaxa,  aiity.pöv  5s  xa.1  xö  [iox^T)pöxaxov  xal 
[iavixcüxaxov  Ssouö^siv  und,  wie  jene  Stadt,  so  wird  auch  er  am  aller- 
wenigsten imstande  sein  zu  tun  a  ßoüXsxat.  579  d  iaxiv  apa  x-^  dXr)9-ciqc, 
xav  ei  iJLTj  xcp  SoxeT,  ö  xöj  ovxi  xüpavvog  xtp  övxt  doüXoi;  xdg  \i.z~fioxc(.c,  d'WTieiag 
xal  goüAsiag  xal  xöXag  xwv  TLOvvjpoxäxcüv.  Noji.  756  e  f.  Der  Staat  soll  eine 
Verfassung  haben  die  die  Mitte  hält  zwischen  Monarchie  und  Demo- 
kratie: SoöXoi  yc(,p  äv  xal  oeoTcöxai  oOx  äv  uoxs  yiwoiwzo  aiXoi,  oütk  iv 
laaig  Ti|iaT$  §iaYop£Ucixsvoi  cfaOXoi  xai  oTiouSaioi, 

31)  558  c;  vgl.  561  e. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  241 

den  Philisters,  die  ßavauac'a,  geschildert,  die  darin  ihren  Grund 
hat,  daß  die  schwache,  zu  selbständigem  Nachdenken  unzu- 
reichende geistige  Kraft  in  den  Dienst  der  niedereren  Kräfte 
der  Seele  gestellt  ist.  Dann  folgt  der  Satz  590  c.  d  ouxoüv 
Iva  7.a:  b  xoioüTo;  uttö  6{io:oi»  ap/^yjicct  olounzp  6  ßeXxcaxo;, 
6  0  ö  X  0  V  auTov  cpafjiev  oeiv  zlvcci  exs^vou  x  o  0  ßeXTcaxou,  e  /  o  v- 
xo?  ^v  auxcp  xö  •9-eiov  apxov,  (oux  eu:  ßXaßvj  x^  xoO 
So'jXou  otd{jL£voi  Osöv  apxso^ac  ocuxgv,  waTcep  ©paaufia/o?  wexo 
xo'js  dpxojxevou;,  äXX')  wi;  ajjteivov  ov  Tcavxt  utiö  ö-ecou  xa:  cppov^ 
^01»  ap/eaö'at,  [xaXtaxa  (Jtev  oixsiov  exovxos  ev  auxcö,  d  be  [xyj, 
ecw-ö-sv  icpeaxwxo;  (tva  elc,  5uva[itv  Travxs?  S|xotoc  wfisv  xa:  cpiXcL 
xw  auxö)  xuߣpVü)[X£Voc).  Demnach  wären  die  Bauern  und  Hand- 
werker offenbar  —  was  im  strengen  Sinn  des  Wortes  mit 
kontrastierendem  Hinweis  auf  den  in  den  gewöhnlichen  Staaten 
bestehenden  Gegensatz  von  Ssaiccxat  und  oaüloi  von  ihnen  eben 
geleugnet  wird  —  oo\)Xo'.  der  2  regierenden  Stände.  Von 
diesen  selbst  aber  dürfte  man  sagen,  sie  seien  ooOXoc  der  Ver- 
nunft. —  An  Stelle  der  Vernunftherrsehaft  tritt  in  den  Nomoi 
die  Herrschaft  des  von  dem  Einsichtigsten  gegebenen  Gesetzes. 
Und  so  werden  dann  dort  715  d  die  ap^ovxei;  als  ooüXqi  xoö 
v6\iOD  bezeichnet.  In  demselben  Sinne  könnte  man  alle  Ler- 
nenden und  Unmündigen  als  die  öCjöXoi  ihrer  Meister  oder 
Lehrer  und  ihrer  Vormünder  bezeichnen,  was  auch  590  e,  an- 
schließend an  die  soeben  ausgeschriebene  Stelle,  angedeutet  ist 
(vgl.  auch  den  Satz  der  Nomoi  791  d,  wo  gewarnt  wird  vor 
der  acpoopa  xa:  aypta  oouXtoa:?  der  Kinder). 

Daß  aber  die  Sklaverei  in  dem  Sinne,  den  wir  mit  dem 
Worte  verbinden,  im  Idealstaat  wirklich  keinen  Platz  habe, 
darauf  führt  noch  eine  andere  Erwägung.  Von  den  Hand- 
werkern und  Bauern  soll  doch  jeder  selbst  sei- 
nen Beruf  auszuüben  haben.  Faulenzerei  soll  nie- 
mand im  Staat  gestattet  sein  ( —  nicht  einmal  so  weit,  daß 
der  Reiche,  der  das  Geld  hätte,  die  Ausgaben  zu  bestreiten, 
eine  langwierige  Kur  in  aller  Ruhe  durchmachen  dürfte,  für 
nichts  anderes  als  seine  Gesundheit  lebend).  Es  wäre,  heißt 
es  420  d/e,  für  die  Bauern  ja  ganz  angenehm,  wenn  sie  Feier- 
kleider anziehen  dürften  und  nur  eben  den  Acker  bebauen, 
soweit  es  ihnen  Spaß  macht  und  Unterhaltung  gewährt,  oder 

Phüologua  LXVIII  (N.  F.  XXII),  2.  16 


242  C.  Ritter, 

für  die  Töpfer,  daß  sie  sich  aufs  Sopha  legen  dürften  und  die 
Töpferscheibe  daneben  stellen,  um  sie  nur  gelegentlich  auch 
wieder  zur  Hand  zu  nehmen,  so  lang  sie  eben  Lust  dazu 
hätten.  Jedoch  bei  uns  sollen  die  Bauern  wirklich  Bauern  sein 
und  nichts  anderes  dazu,  und  die  Töpfer  Töpfer  ^-):  jeder  über- 
haupt soll  mit  Ernst  und  ohne  sich  um  anderes  zu  kümmern 
ta  eauToö  TtpaTxetv.  Darin  besteht  ja  ihre  otxacoaüvyj  ^^). 
Dazu  kommt,  daß,  obwohl  ihnen  der  ruhige  Genuß  ihrer  erar- 
beiteten Güter  gesichert  sein  soll,  doch  Ueppigkeit  ganz  gegen 
den  Sinn  der  Regierenden  sein  wird,  deren  Weisungen  die 
Menge  folgen  soll.  Durch  Ueppigkeit  würde  ja  doch  immer 
das  richtige  Verhältnis  der  Seelenteile  gestört,  das  auch  bei 
ihnen  in  Unterordnung  der  Sinnlichkeit  und  des  Affekts  unter 
vernünftige  Grundsätze  besteht  —  nur  daß  diese  Grundsätze 
nicht  von  ihnen  selbst  aufzustellen,  sondern  als  eine  5c^a  öpd-q 
von  den  Regierenden  zu  übernehmen  sind.  Wenn  nun  auch 
von  ihnen  nicht  Ueppigkeit,  Faulenzerei  und  Zerstreuung  in 
7i:oXuTupa7p.oa6vrj  gesucht  wird,  so  ist  nicht  einzusehen, 
wozu  man  Sklaven  überhaupt  brauchen  sollte. 
—  Endlich  auch  jenes  M  ä  r  1  e  i  n  ,  das  die  Ueberzeugung  von 
der  Naturbegründung  der  verschiedenen  Be- 
rufsstände pflanzen  soll,  scheint  mir  den  Gedanken  an 
Sklaverei  auszuschließen  (III,  c.  21):  Gold,  Silber,  Kupfer  und 
Eisen  ist  nach  ihm  den  Menschen  von  ihrer  Mutter  Erde  bei- 
gemischt worden  und  diese  Beimischung  entscheidet  über  ihre 
Anlage  und  damit  über  ihren  Beruf.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß 
mit  denen  die  Kupfer  und  Eisen  in  sich  haben  die  Handwerker 
und  Bauern  gemeint  sind,  nicht  etwa  freie  Handarbeiter  und 
Sklaven. 

Aber  man  wird  einwenden :  wenn  es  wirklich  Piatons 
Meinung  gewesen  wäre,  die  Sklaverei  sei  eine  unnatürliche, 
eine  unberechtigte  und  verwerfliche  Einrichtung,  die  im  Ideal- 
staat nicht  bestehen  könne,  dann  hätte  er  dies  bestimmt  und 
klar  ausgesprochen.  Er  hätte  es  aussprechen  müssen  und 
konnte  es  nicht  dem  Leser  überlassen,  eine  Lehre  durch  Fol- 
gerungen  zu    erschließen,   die   zu   der  allgemein  herrschenden 


»)  421  a  s.  u.  S.  258.  »»)  433  b.  d.  441  e. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  243 

Üeberzeugung  im  schroffsten  Gegensatz  sich  befand.  Man  wird 
sich  auch  darauf  berufen,  daß  Piaton  nicht  selten,  und  auch  in 
der  Politeia  einigemale,  von  Sklaven  im  Gegensatz  zu  Freien 
in  einer  Weise  redet,  die  nicht  im  geringsten  ahnen  läßt,  daß 
ihm  das  erwähnte  Verhältnis  irgendwie  anstößig  scheine.  Eine 
solche  Stelle  haben  wir  im  4.  Buch,  wo  untersucht  wird,  was 
die  Scxacoauvr]  des  wohl  eingerichteten  Staates  ausmache.  Seine 
aocp:a,  dvopeta  und  awcppoa'jv/]  ist  schon  bestimmt  und  die  noch 
gesuchte  4.  äpsxY]  wird  nach  cap.  10  das  sein,  was  die  3 
anderen  Vorzüge  überhaupt  möglich  macht,  als  eine  Grund- 
überzeuguug,  die  allgemein  verbreitet  sein  muß  xa:  ev  Tiaio: 
y.yX  £v  yuvatx:  x  a  J  5  o  6  X  to  xa:  eXeuS-epw  xat  oyjixcoupyw  xal 
apxovTt  xa:  äp/o[JLEvq.)  433  d.  Dann  im  8.  Buch  cap.  5  in 
der  Charakterschilderung  des  Menschen,  dessen  innere  Ver- 
fassung der  Timarchie  entspricht  —  wir  dürfen  an  einen 
richtigen  Spartaner  denken  — ,  heißt  es,  er  sei  wohl  grausam 
gegen  Sklaven,  während  der  wirklich  edel  gebildete  Mann  vor- 
nehm auf  solche  herabsehe  (xat  oouXot;  .  .  v.c,  av  aypcos  el'r] 
6  xowOtoi;,  00  xaxacppovwv  SouXwv,  waTiep  6  txavws  rcsTraiOEU^ie- 
voc;  549  a).  Als  ein  Kennzeichen  mangelnder  Ordnung  in  der 
ausartenden  Demokratie  wird  563  c  auch  angegeben,  daß  die 
gekauften  Sklaven  und  Sklavinnen  so  ziemlich  gleiche  Rechte 
sich  anmaßen  wie  ihre  Herren.  Ferner,  wenn  Piaton  den 
Hellenen  ausdrücklich  verbieten  will,  Stammesgenossen  zu 
Sklaven  zu  machen  oder  in  Sklaverei  zu  halten  (469  c.  471  a), 
indem  er  den  Kampf  auch  zwischen  verschiedenen  hellenischen 
Städten  als  Bürgerzwist  kennzeichnet,  dabei  aber  bemerkt,  daß 
zwischen  Hellenen  und  Barbaren  naturgemäß  Kriegszustand 
herrsche,  so  wird  man  daraus  schließen,  daß  für  ihn  die  Skla- 
verei von  Barbaren  eben  nichts  Anstößiges  hatte. 

Indes  soweit  sich  die  angeführten  Sätze  daraus  erklären 
lassen,  daß  Piaton  eben  von  tatsächlich  in  den  historischen  Staa- 
ten bestehenden  Verhältnissen  spricht,  kommt  ihnen  überhaupt 
für  unsere  Frage  gar  keine  Bedeutung  zu.  Im  übrigen  —  und 
das  ist  die  Hauptsache  —  wird  verkannt,  daß,  wie  aus  den 
kurz  vorher  gegebenen  Nachweisungen  ersichtlich  ist,  auf  das 
Wort  „Sklaverei"  rein  gar  nichts  ankommt,  sondern  nur  auf 
den  Sinn,  der  sich  damit  verbindet.      Wenn  nur  ein  Verhält- 

16* 


244  C.  Ritter, 

nis  strenger  Unterordnung  der  geistig  Unmündigen  unter  die 
geistig  Mündigen  darunter  verstanden  wird,  dann  sieht  Piaton 
dieses  ja  in  der  Tat  als  durchaus  naturgemäß  an  und  als  eine 
Wohltat  für  die,  die  sich  dabei  unterordnen  müssen.  Er  ist 
wohl  auch  überzeugt,  daß  viele  Barbarenvölker  durch  ihre 
durchschnittliche  Anlage  zur  Unmündigkeit  verurteilt  sind. 
Er  hätte  gar  nichts  zu  erinnern  gegen  die  aristotelische  Er- 
klärung, die  dem  Sinne  nach  auf  ihn  zurückgeht,  daß  die 
meisten  Menschen  geborene  Sklaven  (cpuaec  SoöXot)  sind. 
Und  sie  ist  ja  auch  durchaus  unverfänglich  —  so  lange  man 
das  Wort  in  jener  abgeschwächten  Bedeutung  des  geistiger 
Selbständigkeit  Ermangelnden  nimmt.  Alle  Erfahrung  be- 
stätigt es  und  kein  Menschenkenner  wird  dagegen  etwas  ein- 
zuwenden haben.  Man  frage  doch  Leute,  die  draußen  gewesen 
sind  und  mit  offenen  Augen  die  heutigen  „Barbaren Völker" 
Afrikas  oder  der  Südsee  sich  angesehen  haben,  man  frage  vor 
allem  u  r  t  e  i  1  s  fähige  und  ehrlich  unbefangene  Missionare. 
Es  kommt  mir  nichts  gedankenloser  vor ,  als  wenn  man 
dem  Piaton  von  christlich-modernem  Stand- 
punkt aus  Vorwürfe  machen  will  wegen  seines  Ur- 
teils über  die  Sklaverei  und  seines  Verhaltens  ihr  gegenüber. 
Was  wollen  denn  wir  Christen  anders,  wenn  wir  zurückge- 
bliebenen Naturvölkern  unsere  Missionare  senden,  als  diese 
geistig  von  uns  abhängig  machen  —  in  der  Ueberzeugung,  daß 
sie  damit  auf  eine  höhere  Stufe  der  Sittlichkeit  und  der  Glück- 
seligkeit erhoben  werden  können?  Genau  das  müßte  nach 
Piatons  Meinung  für  einen  zu  eigener  Mündigkeit  und  auf  Nach- 
denken gegründeten  Sittlichkeit  nicht  veranlagten  Barbaren  die 
Folge  sein,  falls  es  ihm  vergönnt  wäre,  in  den  Kulturkreis 
seines  Idealstaates  einzutreten  ^'^). 

Wenn  Piaton  in  der  Politeia  den  Gegensatz  seiner  Auf- 
fassung der  Sklaverei  von  der  in  Griechenland  damals  herr- 
schenden nicht  schärfer  bezeichnet  hat  als  er  es  in  der  Tat 
tut^^),  so  wird  das  schon  daraus  sich  erklären,  daß  seine  Auf- 

3*)  Wenn  ein  solcher  überhaupt  Aufnahme  fände  im  platonischen 
Staat,  so  würde  er  dort  genau  die  Stelle  erhalten,  die  ihm  nach  seiner 
geistigen  und  sittlichen  Begabung  zukäme  und  in  der  er  die  höchste 
für  ihn  erreichbare  sC>Sat.[iovia  fände. 

35)  Wiewohl   schon   in  der  Erklärung  der  Aufgabe  jedes  äpxwv  im 


Die  politischen  Grundanscbauungen  Piatons.  245 

merksamkeit  vor  allem  den  beiden  oberen  Beriifsständen  zuge- 
wandt ist,  deren  richtige  Erziehung  er  schildern  will,  als  die 
Hauptsache.  Fast  alles  was  die  Masse  des  Volkes  betrifft  stellt 
erden  nach  seinen  Grundsätzen  herangebildeten  zukünftigen  Herr- 
schern zu  eigener  Regelung  anheim.  Und  ich  glaube  mit  sehr 
gutem  Grund.  Denn  wirklich,  wenn  dafür  gesorgt  wird,  daß 
durch  planmäßige  Erziehung  und  Studienleitung  immer  die  best 
Begabten  aufs  vorzüglichste  ausgebildet  werden  und  daß  nur 
den  best  Bewährten  unter  ihnen  die  fernere  Leitung  des  Staates 
übertragen  wird,  so  werden  diese  imstande  sein,  alle  nötigen 
Einzelbestimmungen,  die  noch  fehlen,  in  zweckmäßigster  Weise 
selbst  zu  erlassen.  So  gut  aber  wie  die  nach  den  Grundsätzen 
und  Vorschriften  der  Politeia  philosophisch  gebildeten  Regenten 
der  Zukunft,  müssen  auch  die  philosophisch  gebildeten  Leser 
dieser  Grundsätze  imstande  sein,  aus  ihnen  heraus  für  unter- 
geordnete und  nicht  besonders  behandelte  Fragen  ihre  Fol- 
gerungen zu  ziehen.  So  sind  wir  auf  Ergänzungen 
und  folgernde  Entwicklungen  geradezu  hinge- 
wiesen. Wie  wir  nur  mittels  solcher  eine  freilich  nicht 
ganz  sichere  Vorstellung  von  der  Erziehung  der  Kinder  des 
Untertanenstandes  uns  bilden  konnten,  so  gilt  dasselbe  für  die 
Sklaverei. 

Uebrigens  ist  was  wir  betreffs  ihrer  durch  folgernde  Ent- 
Avicklung  als  P  1  a  t  o  n  s  Ansicht  gewonnen  haben  doch 
nicht  von  so  ganz  überraschender  Einzig- 
artigkeit, daß  wir  um  dessetwillen  eine  ausdrückliche 
Erklärung  darüber  hätten  erwarten  müssen.  Der  Sophist  Alki- 
damas, den  man  kaum  für  einen  selbständigen  Denker  halten 
wird,  hat  bekanntlich  in  einem  zu  Gunsten  der  Messenier  verfaß- 
ten 'koyoc,  den  Satz  ausgesprochen,  sXeuxJ'spou?  dcpfjxe  uavxac;  d-ecc, 
oüSeva  ^oülow  f^  füoiq,  usTcotYjxsv.  Bei  Euripides,  der  in  seinen 
Betrachtungen  alles  hin  und  her  wendet,  finden  sich  manche 
Sprüche,  welche  die  sittliche  Berechtigung  der  Sklaverei  an- 
weitesten Sinne,  worin  z.  B.  die  Hirten  einer  Herde  eingeschlossen  sind 
(342  e.  345  c.  346  e)  eine  ziemlich  schroffe  Entgegensetzung  gegen  herr- 
schende Auffassungen  liegt :  nämlich  daß  sie  nicht  auf  ihren  eigenen 
Vorteü  sehen  sollen,  sondern  auf  das  Wohl  der  ihrer  Obhut  Anvertrau- 
ten;  weshalb  ja  die  üebernahme  der  6i.p'/ri  Entsagung  verlangt,  sofern 
dafür  keine  besondere  Vergütung  gewährt  wird  (345  e.  347  a.  499  b. 
517  c.  519  c.  520  d). 


246  C.  Ritter, 

fechten  ^^^).  Die  tatsächliche  Stellung  der  Sklaven  in  Athen 
war  zum  Teil  sehr  frei:  namentlich  derer  die  in  reichen  und 
vornehmen  Häusern  zu  wichtigeren  Dienstleistungen  gehalten 
wurden  und  dann  der  im  Staatsdienst  stehenden  (wozu  die 
skythischen  Polizeisoldaten  und  die  Gefängniswärter  gehör- 
ten). Solche  Sklaven  unterschieden  sich  von  ärmeren  Freien 
kaum  in  anderem  als  darin,  daß  sie  an  politischen  Rechten 
keinen  Anteil  hatten.  Mit  Recht  hat  darum  Schömann  be- 
merkt ^^) :  es  bleibe  bei  Besprechung  der  antiken  Sklaverei  in 
der  Regel  unter  anderen  kitzlichen  Fragen  auch  die  unberührt 
„wie  viel  denn  eigentlich  die  arbeitenden  Klassen  dadurch,  daß 
sie  aufgehört  haben  Sklaven  zu  sein,  in  der  Wirklichkeit  ge- 
wonnen haben". 

In  den  N  o  m  o  i  ist  freilich  der  Sklavenstand  gesetzlich 
sanktioniert.  Aber  dort  bequemt  sich  eben  Piaton  den  be- 
stehenden Verhältnissen  an  und  verzichtet  auf  die  Durchfüh- 
rung des  Ideals.  Dort  haben  wir  keine  Absonderung  eines 
von  der  Arbeit  des  bürgerlichen  Nähr-  und  Handwerkerstandes 
lebenden  Wehrstandes,  sondern  alle  Bürger  stehen  sich  im 
wesentlichen  gleich  und  insgesamt  sind  sie  von  gröberen  Ar- 
beiten befreit.  Aller  Handwerksbetrieb  ist  Fremden  überlassen 
und  das  Feld  wird  von  Sklaven  bebaut,  die  auch  die  landwirt- 
schaftlichen Roherzeugnisse  für  den  Markt  herrichten.  Die 
Behandlung  der  Sklaven  aber  ist  sehr  mild  und  menschen- 
freundlich. Ich  will  zum  Beweise  wenige  Einzelbestimmungen 
mitteilen:  Die  Herrschaft  muß  in  der  Morgenfrühe  vor  dem 
Gesinde  aufstehen.  Im  Essen  und  Trinken  werden  die  Sklaven 
ebenso  gehalten  wie  die  Freien.  Vergreifen  an  fremdem  Eigen- 
tum wird  im  allgemeinen  bei  ihnen  leichter  gestraft  als  bei 
Freien;  dagegen  freilich  Verbrechen  gegen  die  Person  härter, 
namentlich  ein  Angriff  auf  das  Leben  des  eigenen  Herren 
ähnlich  wie  wenn  Kinder  dieses  Verbrechen  gegen  ihre  Eltern 
begangen  haben.  Die  vorsätzliche  Ermordung  eines  Sklaven 
wird  ganz  wie  die  eines  Freien  geahndet.  Alle  Sklavenkinder 
besuchen  eine  Zeit  lang  (mindestens  vom  3.  bis  6.  Jahre)  die- 
selben   Spielplätze    und    Schulen    wie    die  Kinder   der  Freien. 

35a)  Vgl.  W.  Nestle  Euripides  S.  355  ff. 
"J  Griech.  Altertümer  I,  110. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  247 

Wenn  eine  Sklavin  ihrem  eigenen  Herrn  Kinder  geboren  hat 
oder  eine  Herrin  infolge  des  Umgangs  mit  ihrem  eigenen  Skla- 
ven Mutter  geworden  ist,  so  sind  die  Kinder  frei  und  folgen 
nicht,  wie  es  sonst  als  Recht  galt,  der  schlechteren  Hand: 
ja  sie  machen  auch  die  Sklavin  die  sie  geboren  hat  oder  den 
Sklaven  von  dem  sie  stammen  frei  —  nur  müssen  sie  mit 
diesen  das  Land  verlassen.  —  Die  Nachweise  sind  aus  dem 
Register  meiner  Inhaltsdarstellung  sehr  leicht  zu  holen.  Be- 
sonders lehrreich  ist  aber  das  ganze  Kap.  19  des  VI.  Buchs, 
das  ich  wörtlich  jener  Darstellung  (S.  55  f.)  entnehmen  will: 
„Vorschriften,  wie  man  mit  seinem  Besitz  umgehen  soll,  er- 
scheinen zwar  im  ganzen  als  überflüssig,  nicht  aber  was  die 
Sklaven  betrifft.  Insbesondere  besteht  der  lebhafteste  Streit 
der  Meinungen  über  das  Verhalten  der  Spartaner  zu  ihren 
Heloten  (in  geringerem  Maße  auch  der  Herakleoten  und  Thes- 
saler  zu  den  Mariandynen  und  Penesten).  Daß  bei  derartigen 
Zuständen  nicht  alles  in  Ordnung  ist,  beweisen  die  häufigen 
Helotenaufstände  oder  auch  die  Beunruhigung  Unteritaliens 
durch  die  Peridinen.  Nun  könnte  man  ähnlichen  Erhebungen 
dadurch  vorbeugen,  daß  man  sich  hütet,  an  einem  Ort  eine 
größere  Anzahl  von  Sklaven  derselben  Herkunft,  die  gegen- 
seitig ihre  Sprache  verstehen,  zusammenkommen  zu  lassen. 
Ein  anderes  Mittel  aber  ist,  daß  man  die  Sklaven  eben  richtig 
behandle.  'Diese  richtige  Behandlung  aber  wird  darin  bestehen, 
daß  wir  nicht  in  irgend  einer  Weise  Frevel  und  Uebermut 
gegen  unser  Gesinde  begehen,  sondern  im  Gegenteil  womöglich 
uns  vor  Unrecht  gegen  sie  noch  mehr  hüten,  als  gegen  unsers- 
gleichen'.  Das  soll  nun  der  Herr  schon  um  seiner  selbst 
willen,  nicht  bloß  aus  Rücksicht  auf  den  Sklaven,  sich  zum 
Grundsatz  machen,  um  dadurch  sittliche  Selbsterziehung  zu 
üben.  'Denn  in  nichts  bewährt  sich  so  deutlich,  ob  jemand 
im  Grund  seines  Wesens  das  Recht  liebt  und  das  Unrecht 
haßt,  als  in  seinem  Verhalten  gegen  solche,  bei  denen  es  keine 
Gefahr  hat,  ihnen  Unrecht  zu  tun'.  Andererseits  freilich  muß 
ein  deutlicher  Unterschied  zwischen  Herr  und  Sklave  bleiben. 
Das  Wort  des  Herrn  an  jenen  muß  immer  Befehl  sein.  Scherz 
und  kameradschaftliches  Verhalten  des  Herrn  zerstört  dessen 
Autorität  und  erschwert  auch  dem  Sklaven  seinen  Dienst.    Bei 


248  C.  Ritter, 

Beachtung  dieser  Mahnungen  aber  wird  der  Sklave,  was  doch 
jeder  Herr  im  Grunde  von  ihm  will ,  ein  treuer  und  brauch- 
barer Diener  sein". 

Daß  Piaton  in  seinem  eigenen  Haus  Sklaven  hielt,  kann 
selbstverständlich  ebensowenig  wie  die  Anerkennung  der  Skla- 
verei in  den  Nomoi  als  Gegeninstanz  gegen  die  für  den  Ideal- 
staat gewonnenen  Folgerungen  verwertet  werden  ^"). 

Eine  Stelle  aus  dem  P  o  1  i  t  i  k  o  s ,  die  man  anführt, 
ebensowenig.  Dort  wird  der  Staatsmann  gewarnt  vor  dem 
aussichtslosen  Beginnen,  die  schlechten  Menschen  zusammen 
mit  den  guten  zu  einem  dauernden  Staatsverband  zusammen- 
fügen zu  wollen.  Wie  der  tüchtige  Weber  wegwirft  was  er 
zu  seinem  Gewebe  nicht  entweder  als  straffen,  festen  Zettel 
oder  als  weichen,  geschmeidigen  Einschlag  brauchen  kann,  so 
muß  der  Staatsleiter  auch  verfahren.  Die  tüchtigen  Menschen 
derberen,  feurigeren  und  sanfteren,  ruhigeren  Temperaments 
muß  er  miteinander  durch  die  festesten  Verknüpfungen  verbin- 
den, aber  wer  immer  durch  seine  xaxrj  cp6a:;  zur  Gottlosigkeit, 
Zuchtlosigkeit  und  Ungerechtigkeit  getrieben  wird,  den  soll  er 
unbarmherzig  durch  Hinrichtung  oder  Verbannung  beseitigen 
oder  sonst  unschädlich  machen  (309  a).  Und,  heißt  es  weiter, 
xobq  §v  dfjia'ö'ta  x'  aö  xa:  xaTietvoTTjXt  -noXAri  xuX:voou|JLevous  £i; 
tö  SouXcxöv  UTio^suyvuai  yhoc.  Diese  Weisung  ist  ein  Ersatz 
für  die  in  der  Politeia  verlangte  Maßregel,  daß,  ehe  mit  der 
Einrichtung  des  Staats  begonnen  werde,  alle  mehr  als  10- 
jährigen  aus  der  Stadt  entfernt  werden  sollen.  Ob  das  oo\j- 
Aoxov  ysvoi;  den  wirklichen  Sklavenstand  der  Nomoi  meint  oder 
das  von  der  Regierung  ausgeschlossene  Volk  der  Politeia,  das 
möchte  schwer  zu  entscheiden  sein. 

Wenn  es  sich  um  eine  Rechtfertigung  der  Sklaverei  han- 
delte, so  konnte  diese  entweder  in  äußerlicher  Weise  damit 
gegeben  werden,  daß  der  Sieger,  der  seinen  Gegner  im  Kampfe 

^')  Ich  will  damit  gewiß  nicht  sagen,  es  möge  auch  bei  PJaton  wie 
bei  so  manchem  großen  Theoretiker  die  Praxis  seines  Lebens  der  Theorie, 
die  er  lehrend  mitteilte,  nicht  entsprochen  haben.  Nein,  was  uns  anek- 
dotenhaft überliefert  ist  läßt  Platou  als  einen  sehr  humanen  Herrn  seiner 
Sklaven  erscheinen.  Aber  da  er  nicht  im  Idealstaat  lebte  und  niemand 
ihm  [AioO-öv  v.oii  xpo^y^v  dafür  reichte,  daß  er  sein  Denken  in  den  Dienst 
der  Allgemeinheit  stellte,  mußte  er  seine  Sklaven  die  Handarbeit  lür 
sich  besorgen  lassen. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  249 

überwand,  mit  der  Macht  über  ihn  auch  das  Recht  zu  seiner 
bedingungslosen  Unterwerfung  gewonnen  habe,  oder  mit  Ein- 
schränkung auf  die  zu  Sklaven  gemachten  Barbaren  in  tiefer- 
gehender Begründung  damit,  daß  die  Angehörigen  einer  nie- 
deren Rasse  zum  Dienst  der  Menschen  vornehmerer  Ordnung 
bestimmt  seien.  Das  bloße  Recht  des  Stärkeren,  das  z.  B. 
Kallikles  im  Gorgias  so  rücksichtslos  und  eindringlich  pre- 
digt ^^),  hat  Piaton  immer  und  überall  als  einen  unsittlichen 
Anspruch  angefochten:  es  fragt  sich  noch,  wie  er  über 
die  Barbaren  urteilte  und  ob  er  sie  als  die  natürlichen 
Knechte  der  Hellenen  ansehen  konnte.  Es  zeigt  sich  auch 
hier  —  und  ich  sehe  darin  eine  nochmalige  Bestätigung  meiner 
Auffassung  —  daß  er  frei  war  von  d  e  r  E  n  g  h  e  r  z  i  g  k  e  i  t 
und  Blickbeschränktheit  seiner  Zeitgenossen.  Er  spricht  wohl 
gelegentlich  in  der  Politeia  (III  c.  11)  den  Hellenen  verglichen 
mit  anderen  Völkern  den  Vorzug  lebhafteren  Erkenntniseifers 
oder  größerer  intellektueller  Begabung  zu :  damit  sind  sie  durch- 
schnittlich höher  gestellt  als  die  nordischen  Barbaren,  bei  denen 
er  den  stürmischen  Mut  vorzugsweise  entwickelt  findet,  und 
als  die  Aegypter  und  Phönikier,  bei  denen  das  Streben  nach 
Gelderwerb  am  stärksten  hervortritt.  Allein  in  den  Nomoi  hält 
er  einmal  gerade  die  Aegypter  seinen  Landsleuten  als  Muster 
im  Lernen  vor :  sie  müßten  alle  vor  ihnen  sich  schämen  wegen 
ihrer  kläglichen  Unkenntnis  der  Zahlen-  und  Raumverhält- 
nisse, die  in  Aegypten  jedes  Kind  zugleich  mit  dem  Lesen  und 
Schreiben  kennen  lerne  (819  a.  b),  und  eine  im  5.  Buch  c.  16 
(147  b.  c)  gegebene  Mahnung  macht  es  mindestens  zweifelhaft, 
ob  jener  auch  hier  wieder  an  den  Aegyptern  und  Phönikiern 
getadelte  Krämersinn  ihm  nicht  die  bloße  Folge  einer  einseitig 
den  praktisch  äußerlichen  Lebenszwecken  dienenden  Bildung 
zu  sein  scheine,  die  durch  eine  richtigere  izocibeia  sofort  auch 
bei  ihnen  ausgeglichen  werden  könnte.  Als  einen  wichtigen 
Vorzug  der  ägyptischen  Kultur  sieht  er  übrigens  die  starre 
Unbeugsamkeit  ihrer  Kunstgesetze  an,  die  eine  beneidenswerte 
Stetigkeit  auch  auf  anderen  Gebieten  zur  Folge  habe  (II  c.  3). 
Auch  im  Timaios  legt  er  große  Achtung  vor   der   alten  Erb- 


Siehe  bes.  Topy.  483  d. 


250  ^-  Ritter, 

Weisheit  der  Aegypter  an  den  Tag:  „Ihr  Hellenen  alle  seid 
Kinder  und  es  gibt  unter  euch  keinen  alten  Mann.  Noch 
kindlich  unentwickelt  ist  bei  euch  allen  der  Geist;  denn  es 
fehlt  euch  jede  durch  alte  Ueberlieferung  eingewurzelte  Ueber- 
zeugung,  jedes  altersgraue  Wissen",  so  läßt  er  22  b  den  alten 
Priester  von  Sais  sprechen.  Und  nach  der  Erzählung,  die  er 
ihm  in  den  Mund  legt,  wären  die  der  ältesten  Urgeschichte 
angehörigen  Bewohner  von  Sais  und  von  Athen  einander  sehr 
ähnlich  gewesen  und  auf  der  gleichen  vorbildlichen  Höhe  der 
Kulturentwicklung  gestanden.  Auch  wenn  sonst  bei  Piaton  von 
Nichthellenen  oder  außerhellenischen  Einrichtungen  die  Rede 
ist,  werden  sie  ganz  in  derselben  Weise  wie  hellenische  er- 
wähnt. So  wird  z.  B.  No[x.  674  a.  b  mit  Anerkennung  eines 
karchedonischen  Gesetzes  gedacht,  das  den  Weingenuß  ein- 
schränkte. —  Die  eindrucksvolle  Predigt,  mit  der  die  Politeia 
abschließt,  wird  als  Bericht  eines  Pamphyliers  gegeben  ^*). 

Schon  wenn  wir  nur  das  alles  zusammennehmen,  müssen 
wir  sagen:  der  gewöhnliche  Hellenenstolz  und  die  Verachtung 
barbarischen  Wesens  lag  Piaton  offenbar  ferne.  Bedeutsamer 
aber  ist  folgendes :  Piaton  hält  es  für  möglich,  daß  die  ideale 
Staatsordnung,  von  der  er  bei  den  Hellenen  keine  Spur  finden 
kann,  irgendwo  in  einem  entlegenen  Erdenwinkel  bei  einem 
Barbarenvolke  verwirklicht  sei  *°).  Ein  stärkeres  Zeugnis  da- 
für, daß  er  die  Barbaren  im  ganzen  den  Helle- 
nen als  vernunftbegabte  Menschen  gleich 
geschätzt  habe,  hätte  er  überhaupt  nicht  ablegen  können. 
Und  dieses  Zeugnis  wird  durch  Aeußerungen  mehrerer  anderer 
Dialoge  noch  bekräftigt.  Im  Phaidon  cap.  24  fühlen  sich 
Simmias  und  Kebes  durch  die  Beweise,  die  Sokrates  für  die 
Unzerstörbarkeit  der  Seele  vorgebracht  hat,  noch  nicht  völlig 

39)  Wobei  man  sich  der  Worte  des  Pliaidros  erinnern  darf:  w  Zw- 

xpaxsf,  paStwg  ab  Alyuu-coug  xaL  cnoSanoüg  &v  eSeXi[}g  Xoyoug  noisig  ^Sp, 
275  b. 

*")  499  c  El  xoivuv  äxpoigelg  cptXococpiav  noXsthc,  xig  dvdcYHV] 
STOus/vYj&fjvai  y]  Ysyovcv  iv  xS)  ärcsiptp  tw  TiapsXrjXuO-dxt  yipöw(a  vj  xal  v  ö  v 
i  o  -c  i  V  e  V  X  t,  V  i  ß  a  p  ß  a  p  i  -/t  0)  x  d  tx  w  Txöpp«  txou  sv.xög  övii  xrjg  ■fjiisxspas 
iTidtJ'scog,  (y]  v.ai  ensixa  y^vr^asiai)  trotz  V,  470  e  xt  Se  Sr;;  e'^Yjv,  yjv  a-j 
TidÄiv  olxigsig  o'jy^  ^E?.XY,vt5  iaxai;  Asi  y'  aOxr/v,  scpvj.  —  Vielleicht  haben 
ihm  gerade  Wahrnehmungen,  die  er  in  Sais  machen  konnte,  wo  die 
historische  Kasteneinteüung  der  von  ihm  geforderten  Berufsgliederung 
ähnlich  sah,  dies  als  möglich  erscheinen  lassen. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons,  251 

beruhigt.  Sokrates  hat  ihre  Furcht  als  knabenhaft  bezeichnet. 
Und  Kebes  nimmt  dieses  Wort  auf:  „Ja,  vielleicht  steckt  ein 
furchtsamer  Knabe  in  uns  und  nach  deinem  Hingang  wird  es 
schwer  sein  den  Beschwörer  zu  finden,  dessen  Sprüche  seine 
Angst  bannen  könnten.  Wo  soll  man  ihn  suchen?"  Sokrates 
gibt  darauf  die  Antwort  (78  a):  tcoXXt]  [isv  t^  'EXXcc?,  w  Keßr^:, 
ev  fi  evecai  tüou  aya^ö-ol  dcvopec,  noXla  Ss  xac  xa  xwv  ßapßaptov 
y£V7],  ou;  Tcavxag  y^pr)  5:£p£uvaa{)'at  I^yjtoüvtag  xotoöiov  et^coocv, 
{xifixs  XP^P^'^^wv  (fi£too[JL£Voos  |i.y]X£  Tcovwv,  w;  oux  iaxLV  sie,  6v. 
av  eöxatpoxEpov  avaXtaxoixe  y^pYjpiaxa,  (Ci^jX£:v  os  ypr]  xac 
auxoü?  [i£x'  dXArjXwv).  Mit  dieser  Stelle  berührt  sich  eine  in 
den  Nomoi,  XII  c.  5  und  6.  Hier  wird  bestimmt,  daß  zwar 
im  allgemeinen  der  Verkehr  mit  dem  Ausland  eingeschränkt 
und  staatlich  überwacht  werden  soll,  weil  sittlich  nachteilige 
Einwirkungen  aus  der  Fremde  zu  befürchten  seien.  Aber  dem 
älteren  Mann,  der  sich  in  allen  Stücken  tüchtig  erwiesen  hat, 
soll,  wenn  er  dazu  Lust  hat,  eine  wissenschaftliche  Reise  ins 
Ausland  nicht  verwehrt  sein.  Der  ganze  Staat  könne  aus 
einer  solchen  Nutzen  ziehen.  „Denn",  heißt  es  951  b,  „ein 
Staat,  der  bei  mangelndem  Verkehre  gute  und  schlechte  Men- 
schen nicht  vergleichen  lernte,  vermöchte  wohl  nie  in  zu- 
nehmender Vervollkommnung  zu  wahrer  Humanität  zu  ge- 
langen und  auch  seine  eigenen  Gesetze  nicht  recht  zu  erhalten, 
die  seine  Bürger  nicht  mit  wirklichem  Verständnis,  sondern 
bloß  als  herkömmliches  Recht  aufnehmen  könnten.  Es  gibt 
unter  der  Masse  immer  einige  gottbegnadete  Menschen  (eiat 
ydp  äv  xol;  TzoXXolq  Ävö'pwTio'.  ds:  ^j^tioi  xtvs?),  allerdings  nicht 
viele,  mit  denen  bekannt  zu  werden  von  höchstem  Wert  ist, 
und  sie  gedeihen  ebenso  gut  in  schlecht  geordneten  wie  in  gut 
geordneten  Staaten.  Wer  daher  in  einem  gut  geordneten 
Staate  zu  Hause  ist,  tut  wohl,  sobald  er  sich  nur  selbst  vor 
Verführung  durch  fremde  Einflüsse  sicher  weiß,  auszuziehen 
über  Land  und  Meer  und  die  Spur  solcher  Menschen  zu  suchen, 
teils  um  was  gut  ist  an  den  Einrichtungen  des  Vaterlandes  zu 
befestigen,  teils  um  was  daran  mangelhaft  ist  verbessern  zu 
lernen".  Man  wird  nicht  bezweifeln,  daß  auch  hier  an  ßar- 
barenländer  so  gut  wie  an  hellenisches  Ausland  gedacht  ist. 
Noch    deutlicher   ist   übrisfens   der  Politikos.     Nachdem  dort 


252  C.  Ritter, 

die  lebenden  Geschöpfe  in  Menschen  und  Tiere  eingeteilt  wor- 
den sind,  wird  diese  Begriffseinteilung  wieder  zurückgenommen. 
Sie  sei,  heißt  es  262  c.  ff. ,  ebenso  fehlerhaft,  als  die  freilich 
gleichfalls  übliche  Scheidung  der  Menschen  selbst  in  Hellenen 
und  Barbaren,  die  dazu  führe,  daß  man  sich  alle  nicht  grie- 
chisch redenden  Völker,  trotz  der  großen  Verschiedenheiten, 
die  zwischen  ihnen  bestehen,  als  wesentlich  gleichartig  vor- 
stelle und  als  grundverschieden  von  den  bevorzugten  Hellenen. 
Mit  demselben  Rechte  könnte  man  einen  solchen  Vorzug  für 
jeden  beliebigen  anderen  Stamm,  etAva  die  Lyder  oder  Phryger, 
beanspruchen:  und  immer  wäre  es  um  nichts  vernünftiger,  als 
v,enn  man  etwa  innerhalb  der  Zahlen  der  ersten  Myriade  eine 
eigenartige   Bedeutung   und   Sonderstellung  zugestehen  wollte. 

Wer  sich  so  ausläßt,  darf  nicht  als  Anhänger  jener  Durch- 
schnittsmeinung über  das  Recht  der  Sklaverei  angesehen  wer- 
den, die  dasselbe  aus  naturgegebener  Minderwertigkeit  der 
Barbarenvölker  herleitet. 

Während  ich  überzeugt  bin,  bisher  mich  auf  einem  Boden 
gehalten  zu  haben,  der  strenger  Beweisführung  zugänglich  ist, 
möchte  ich  anhangsweise  auch  noch  einige  Vermutungen 
wagen,  die  unsicher  bleiben. 

Piaton  denkt  nicht  bloß  an  seine  Heimat, 
er  denkt  nicht  einmal  bloß  an  die  Hellenenwelt,  wie  er  sein 
Staatsideal  entwirft.  Es  soll  was  er  zu  lehren  hat  der  ganzen 
Menschheit  zu  gut  kommen.  eav  (Jirj  .  .  ei?  Tauxov  ^up,Ti£a-(j 
c(}voi.\xic,  X£  ■KoXixi'/.y]  xa:  rf'.Xoao'^ia.  ,  ,,  oüx  eatc,  sagt  er,  xaxwv 
Tzxüla.  .  .  xal;  TcoXeai,  ooxd)  5'  ouSe  tö  av^pwTütvo)  yevec. 
Das  bildet  den  noch  beweisbaren,  festen  Ausgangspunkt  für 
die  Frage:  wie  mochte  sich  Piaton  wohl  die  weitere  Ausbreitung 
der  Vernunftherrschaft  denken,  wenn  es  wirklich  irgendwo 
gelang,  sie  in  einer  Polis  zu  begründen?  —  Der  Bezirk  des 
Staates  soll,  nach  bestimmt  gegebener  Anordnung  (423  c),  immer 
mäßig  und  übersehbar  bleiben.  Aber  das  Wort  (424  a)  xa: 
^TjV  TioXixeta,  savTiep  ccTza^  opp'/jay)  eü,  epyzxai  lörsnep  x'jxao? 
a0^avo|jL£vy]  gilt  gewiß  auch  in  dem  Sinne,  daß  die  eingeleitete 
Bewegung  über  die  engen  staatlichen  Grenzen  hinüber  sich 
fortpflanzen  wird.  Die  Nachbarn  müßten  ja  erkennen,  daß 
mit  der  idealen  Ordnung  auch  die  Versöhnung  der  Stände  und 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  253 

die  volle  Zufriedenheit  der  einzelnen  Bürger  hergestellt  ist: 
so  muß  das  gegebene  Vorbild  sie  zur  Nachahmung  reizen. 
Da  keiner  der  so  einander  ähnlich  werdenden  Staaten  in  sich 
den  Antrieb  zur  Vergrößerung  und  zum  Angriff  hat,  wird  ein 
freundschaftliches  Verhältnis  sich  zwischen  ihnen  herstellen 
und  ein  auf  voller  Gleichstellung  der  Glieder  beruhender 
freier  Staatenbund*')  wäre  die  natürliche  Folge  dieser 
Entwicklung,  so  lang  sie  etwa  von  einer  hellenischen  Stadt 
ausgehend  innerhalb  der  hellenischen  Welt  verliefe.  Denken 
wir  sie  aber  weiter  fortschreitend  bis  zu  solchen  Barbaren- 
stämmen, die  geistig  den  Hellenen  nicht  ebenbürtig  sind:  Wenn 
unter  ihnen  nicht  einmal  einzelne  Männer  imstand  sein  werden, 
zu  philosophischer  Erkenntnis  zu  gelangen  *-)  und  dann  als 
ideale  Könige  zu  regieren,  so  ist  doch  nicht  zu  bezweifeln, 
daß  sie  angesichts  des  beneidenswerten  Vorbildes,  das  ihnen 
gegeben  ist,  die  Regierungsgrundsätze  der  unter  philosophischen 
Leitern  stehenden  Staaten  sich  aneignen  werden  als  eine  öp9rj 
o6E,(X,  und  Tziaxiq,  indem  sie  namentlich  was  dort  als  ungeschrie- 
benes Recht  in  Geltung  ist  bei  sich  zum  aufgezeichneten  Gesetz 
machen.  Sie  würden  sich  damit  in  geistige  Abhängigkeit  von 
den  idealen  Staaten  und  ihren  Leitern  begeben  und  würden  ooülo: 
ToO  vc{jiGu,  wie  es  die  Bürger  des  Staates  der  Nomoi  insgesamt  sind. 
Vielleicht  würden  sie  sich  auch  jenen  Staaten  in  einem  freiwilli- 
gen Vasallenverhältnis  unterordnen  oder  würden  sie  etwa  bitten, 
ihnen  einen  König  zu  setzen.  Aber  ein  Verhältnis  eigentlicher 
Sklaverei  würde  nie  und  nimmer  daraus  folgen.  Insbesondere 
würde  ja  bei  den  philosophischen  Regenten  des  ideal  einge- 
richteten Staates  jede  Absicht  der  Unterjochung  von  Aus- 
ländern fehlen.  Dagegen  glaube  ich,  daß  allerdings  der  Ge- 
danke ,  auch  bei  Barbaren  durch  eine  Art  Mis- 
sion für  freiwillige  Annahme  der  Vernunftverfassung  oder 
freiwillige  Angliederung  an  das  Vernunftreich  zu    wirken, 


")  Vgl.  -Eraax.  YIII  357 ab.  III  .319 cd. 

*^)  Nach  der  Art,  wie  des  Anacharsis  Hol.  X.  600  a  in  einem  Atem 
mit  Thaies  gedacht  wird  (s.  unten  S.  255  nebst  A.  44  a),  scheint  übri- 
gens Piaton  dies  z.  B.  den  Skythen  doch  zuzutrauen  und  bezüglich  der 
Aegypter  wird  man  noch  weniger  Zweifel  hegen :  jene  aber  gehören 
zum  O-uiioeiSsj  oder  cftXöiijiov,  diese  zum  i7it'9-u|jiY]XLxöv  oder  cf'.Xoxprj[iixxov 
Ysvcg  &v9-pcü7icüv. 


254  C.  Ritter, 

bei  den  Bürgern  dieses  Vernunftreichs  aufkommen  möchte. 
Der  philosophische  Eros,  der  unter  ihnen  rege  sein  wird,  ist 
ja  im  Grunde  nichts  anderes  als  das  Verlangen,  den  Wahr- 
heitsgedanken, die  das  eigene  Herz  erwärmen,  möglichste  Aus- 
breitung zu  verschaffen. 

Es  gehört  noch  etwas  in  diesen  Zusammenhang:  die 
Schätzung  der  Handarbeit  bei  Piaton.  Es  soll  das  der  letzte 
Punkt  unserer  Betrachtung  sein  und  ich  fasse  meine  Ansicht 
darüber  zusammen  in  dem  Satze:  Piaton  unterschätzt 
die  Handarbeit  nicht  so  sehr  als  raan  gewöhn- 
lich annimmt.  Zeller,  dem  ich  hier  auf  Schritt  und  Tritt 
widersprechen  muß,  behauptet  a.  a.  0.  S.  889  „Die  griechische 
Geringschätzung  der  materiellen  Arbeit  wird  von  Plato  nicht 
bloß  beibehalten,  sondern  noch  gesteigert.  .  .  Jene  Beschäf- 
tigungen, welche  der  Grieche  so  vornehm  als  'banausisch'  zu 
brandmarken  pflegte,  müssen  unserem  Philosophen  schon  des- 
halb als  erniedrigend  und  des  Freien  unwürdig  erscheinen, 
weil  sie  den  Sinn  an  das  Körperliche  fesseln,  statt  ihn  von 
demselben  hinweg-  und  dem  Höheren  zuzulenken.  .  ."  Da- 
gegen finde  ich,  daß  nicht  nur  in  den  Nomoi,  für  die  Zeller 
selbst  einige  Zugeständnisse  macht  *^),  sondern  gerade  auch  in 
der  Politeia  die  körperliche  Arbeit  in  Ehren  stehe:  ein  jeder 
der  xa  eautoO  izpdxxöi  an  dem  Platze  der  ihm  zukommt  ver- 
dient Anerkennung,  und  die  Angehörigen  der  regierenden 
Stände  werden  die  Leute  vom  gemeinen  Volk,  die  Ackerbau 
und  Gewerbe  Treibenden,  nicht  bloß  als  ihre  Mitbürger  gelten 
lassen,  sondern  als  cpc'Xous  werden  sie  sie  betrachten,  als  ihre 
Ernährer.  Freilich  der  wissenschaftlichen  Arbeit  wird  die 
Handarbeit  von  Piaton  nicht  gleichgestellt.  Ich  glaube  jedoch, 
daß  es  auch  Zeller  persönlich  gar  nicht  eingefallen  ist,  beide 
als  gleichwertig  zu  schätzen.  Und  gewiß  hätte  er  auch  das 
eigentlich  zugeben  müssen,  daß  das  angestrengte  und  lang- 
jährige Studium,  das  Piaton  jedem  geistig  begabten  Menschen 
zumutet,  sich  mit  berufsmäßiger  körperlicher  Arbeit  nicht  ver- 
einigen lasse,  weil  auch  diese,  um  Tüchtiges  zustande  zu 
bringen,  ihren  Mann  ganz  erfordert. 


3)  Phil.  d.  Gr.  II,  1*  S.  969  A. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  255 

Besonders  beachtenswert  scheint  mir  ein  kleines  Sätzchen  aus 
dem  6.  Buch  der  Politeia,  496  b.  Der  Zusammenhang  ist  folgen- 
der :  Die  Vorzüge  einer  philosophischen  Anlage  bringen  im  ge- 
Avöhnlichen  Staate  große  Gefahren  mit  sich.  Nur  ganz  wenige, 
welche  in  sich  den  Beruf  hatten  zu  wissenschaftlichem  Forschen 
und  durch  wissenschaftliche  Erkenntnis  geordnetem  Leben,  er- 
reichen ihre  wahre  Bestimmung,  weil  etwa  zufällige  günstige  Um- 
stände sie  schützten.  Als  Beispiele  solcher  werden  zunächst  an- 
geführt: Verbannung  aus  der  Umgebung  der  Versucher  und  po- 
litische Bedeutungslosigkeit  der  Heimatstadt.  Dann  heißt  es  wei- 
ter ^pocyjj  oi  710'j  Tt  zac  ätl'  aXXrj^  xe/^vr];  ocxa-'w;  axcjjtaaav  sucpues 
ETi'  auxTjv  av  £a8-o'..  Damit  ist  zwar  ausgesprochen,  daß  die 
Handarbeit  für  philosophisch  oder  wissenschaftlich  begabte 
Naturen  ein  ihrer  unwürdiger  Lebensberuf  sei  —  und  das  wird 
auch  unsere  Ueberzeugung  sein  ^^)  — ,  zugleich  aber  liegt  darin 
das  ausdrückliche  Zugeständnis,  auch  wer  von  Jugend  auf 
längere  Zeit  einen  „banausischen"  Beruf  habe  treiben  müssen, 
sei  damit  noch  nicht  notwendig  für  Höheres  verdorben. 

Zu  denken  gibt  auch  was  Piaton  im  10.  Buch  der  Politeia 
c.  3  an  Homer  aussetzt:  keine  Stadt  fühi't  auf  ihn  ihre  Gre- 
setze  zurück,  kein  Krieg  ist  unter  seiner  Leitung  oder  nach 
seinem  Plan  glücklich  geführt  worden;  auch  keine  technisch 
wertvolle  Erfindung  hat  er  gemacht  (600  a) :  oloc  Sr]  de,  xcc 
ipya  aocpoO  dvSpog  TioXXac  iKivoion  xal  £'j[XT|Xavo:  eIc,  xs/^va;  r] 
x'.vas  aXXas  upä.^eic,  Xeyovxac,  warcep  au  SäXeio  xe  nepi  xoö 
McXr^oicu  y.al  'Avaxapa'.o;  xoö  ^xu-ö-ou**").  Wie  diese  Stelle,  so 
zeigen  die  geschichtsphilosophischen  Betrachtungen  der  Nomoi 
(besonders  zu  Anfang  des  3.  Buchs),  daß  Piaton  die  technischen 
Erfindungen,  Verbesserung  von  Werkzeugen  u.  dgl.,  hoch  an- 
schlug, weil  er  einsah,  daß  sie  dazu  beitrugen,  den  Menschen 
unabhängiger  zu  machen  und  ihm  allmählig  die  Muße  zu  ver- 
schaffen, die  Voraussetzung  höherer  Kultur  ist.  Als  unent- 
behrliche Grundlage  für  die  freie  geistige  Betätigung,  die  allein 


**)  Es  wäre  doch  gewiß  schade,  wenn  ein  Kopernikus  oder  Goethe 
von  ihrer  Hände  Arbeit  sich  hätten  ernähren  müssen. 

**=>)  Thaies  soll  nach  einer  von  Herodot  (I  75)  angezweifelten  Ueber- 
lieferung  den  Halys  durch  Ableitung  für  das  Heer  des  Kroisos  über- 
schreitbar gemacht  haben;  Anacharsis  soll  den  Blasebalg  und  den  zwei- 
seitigen Anker  erfunden  haben. 


256  C.  Ritter, 

uns  die  höchsten  Kulturwerte  schaffen  und  erhalten  kann,  hat 
er  aber  auch  die  körperliche  Arbeit  stets  gewürdigt  im  Unter- 
schied von  den  unnützen  und  brotlosen  Künsten,  wie  z.  B.  dem 
bloßen  Virtuosentum  der  Musiker  *^)  oder  der  Athletik,  die  er 
wirklich  verachtet,  weil  ihre  überraschenden  und  blendenden 
Gipfelleistungen  eben  keinem  höheren  Zweck  dienen,  oder  wie 
die  y)5uvxt%yj  des  Kochkünstlers, 

Wenn  Zeller  Piaton  als  den  gegen  die  Menge  und  ihr 
Wohlergehen  vollständig  gleichgiltigen,  ihre  Meinungen  ge- 
ringschätzenden Vollblutaristokrateu  zeichnet,  so  bitte  ich  hie- 
gegen  folgende  Sätze  der  Politeia  in  Anschlag  zu  bringen: 
499  d  ff .  d)  [iaxapte,  fjv  6'  lyw,  [xv]  ticcvu  outw  xwv  tioXXwv  y.axr,- 
yopsi  •  dXXocav  zoi  oc^av  £^oua:v,  eav  abzolq  [jly]  cpcXovsLOcwv 
äXXcc  Tcapa{xu9'OU|Ji£V05  (xac  a,noX\jö\xeyoc,  xtjv  ttjs  cpcXo(jLa'9-ia; 
S:aßoXY)v)  evSecxvuTfj  ou^  Xeyets  xohq  ^cXoaocpou^,  y.ot.l  ocopit^irj 
wajrsp  apt:  Tyjv  xe  cpuaLV  auxwv  xa:  xy]v  iTxtxrjSeuatv,  l'va  [jitj 
yjywvxa:  ae  Xeyecv  0O5  auxot  ol'ovxac.  v]  vca:  eav  oüxü)  ■O-ewvxac, 
dXXocav  x£  'f'/jas'.i;  auxou?  oo^av  Xyjfl^eaO-ai  %ac  dXka  di'Kov.pi'^s.iod-oci; 
y)  oh:  xtvd  /^aXsTcaLvetv  x^  p.Yj  x^XeTici)  r;  cpä-oveöv  xq)  jjlyj  cpS'Ovspw, 
acp9'Ov6v  x£  xac  upaov  ovxa;  eyw  |ji£V  ydp  ae  upocp-ö-daag  Xeyw, 
öxi  £V  oX'Iyoc;  xtalv  T^yoö[xac  dXX'  oux  £V  xw  :tXfj-9'£t  x^'^^^V'' 
OÜXÜ)  cpuacv  yiyveaOa'..  Das  heißt  doch  mit  anderen  Worten: 
Die  Masse  ist  gar  nicht  so  schlecht  und  unverständig,  wenn 
man  sie  nicht  verhetzt  und  beschAvindelt.  Wer  ehrlich  mit  den 
Leuten  redet  und  auf  sie  eingeht,  wird  sie  für  alle  vernünftigen 
Anordnungen  gewinnen  können.  Ja,  heißt  es  nachher  500  e,  sie 
werden  gegen  die  Herrschaft  der  Philosophen  gar  nichts  ein- 
zuwenden haben,  wenn  sie  wirkliche  Philosophen  erst  kennen 
gelernt  haben.  —  Ferner  der  Staat  soll  jegliche  dpexiQ  zur 
vollendeten  Darstellung  bringen,  auch  die  owcppoauvrj  und 
ScxaioauvT],  an  der  doch  (nach  ihren  bekannten  Begriffsbestim- 
mungen) die  Untertanen  ebenso  viel  Anteil  haben  als  die  Re- 
gierenden. Wie  sollte  aber  diese  SrjixoxtXYj  apsiri  erreicht  wer- 
den, wenn  der  Herrscher,  dessen  Aufgabe  es  ist,  sie  herzu- 
stellen (s.  500  d)  sich  um  die  Masse  des  Volkes  nichts  kümmern 
wollte?  —  Ferner  V  c.  10  f.:  das  höchste  und  wichtigste  Ziel 


")    S.    Noii.   654  c  f.   669  e  f.   verglichen    mit  Hol.   395  c  ff.    397  a  ff. 
(605  a). 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  257 

das  der  Gesetzgeber  iiii  Auge  haben  muß  ist  die  Einheit  des 
Staats.  Es  muß  "j^Sovfj;  xs  xa:  XuTcyj;  xocvwvca  wo  möglich  für 
alle  hergestellt  werden,  sodaß  der  Staat  einem  lebendigen  Leibe 
gleich  ist  usw.  —  Auch  Fopy.  c.  68  ist  zu  beachten:  Vorher, 
in  c.  45,  hat  Sokrates  auf  das  Beispiel  der  Aerzte,  der  Schnei- 
der, Schuster  und  Bauern  verwiesen,  von  denen  man  als  Sach- 
verständigen in  einem  besonderen  Gebiet  lernen  könne  wie 
überhaupt  Sachkunde  sich  bewähre.  Kallikles  hat  mit  Wider- 
willen diese  Beispiele  aus  niedriger  Sphäre  abgewiesen,  die  ihm 
nicht  anwendbar  dünken  auf  das  Leben  des  Politikers,  das  ihm 
als  erstrebenswertes  Ziel  erscheint.  Als  Hauptvorteil  der 
politischen  Betätigung  bezeichnet  er  die  Macht,  die  man  sich 
damit  sichere,  um  sich  und  seinen  Freunden  das  von  Gegnern 
bedrohte  Leben  zu  erhalten.  —  Wenn  das  der  höchste  und 
entscheidende  Gesichtspunkt  ist,  läßt  Piaton  nun  den  Sokrates 
sagen,  dann  ist  der  einfachste  Steuermann,  der  uns  ungefährdet 
über  das  Meer  bringt,  ebenso  viel  wert  wie  der  einflußreiche 
Politiker,  und  mehr  wert  als  beide  der  Ingenieur,  der  Ver- 
teidigungsmaschinen konstruiert.  dXlcc  ob  ouSsv  t^tiov  auxoü 
xaxacfpovel;  xac  x^?  i^X^yjC,  xr]?  exsovou  xac  ws  ev  övddei  aizo- 
xaXeaats  av  (jLy])(avoTiot6v ,  xcd  xtp  utel  auxoO  oux'  av  Soüvac 
•ö-uyaxepa  eO-eAocs  oux'  av  aüxbq  x(p  aauxou  Xaßstv  xy]v  exsivou. 
xaixoc  iE,  (I)v  xa  aauxoO  inaiysli,  xtvt  5(xactp  Xoycp  xoö 
{jirjxavouocoü  xaxacppovet?  xac  xwv  aXXwv  wv  vOv  oy] 
sXeyov;  olo'  öxi  ^airic,  otv  ßsXxcwv  ecvac  xac  ex  ßeXxcovwv.  xö  0£ 
ßsXxoov  £c  [xrj  eaxcv  b  iftb  Xi^d),  äXX'  auxo  xoOx'  eaxc'v,  apsxrj, 
xö  owJ^etv  auxöv  xa:  xa  iauxoü  övxa  otiolos  xc^  exu^e,  x  a  x  a- 
yeXaaxoi;  a  o  i  b  ^oyoc,  yiyvsxac  xa:  ^r])(avoTtotoö 
xat  laxpoö  xac  xwv  äXXayy  xs/^vwv,  oaac  xoö  aw^scv 
svcxa  TCSTiocrjvxac.  Es  ist  zwar  richtig,  daß  Piaton  vornehm 
herabsieht  auf  Sklaven  und  Handwerker,  aber  eben  so  vor- 
nehm sieht  er  auf  die  Rhetoren  und  Politiker  herab  —  auf 
alle,  die  für  das  Höchste  keinen  Sinn  haben. 

Ich  halte  auch  für  ganz  falsch  was  Zeller  über  verächt- 
liche Behandlung  der  Gewerbetreibenden  und  Landbauern  S.  890 
und  906  ff.  ausführt.  Sätze  wie  den:  „der  Philosoph  findet  es 
nicht  einmal  der  Mühe  wert,  sich  ihrer  Erziehung  anzunehmen, 
denn  an  ihnen  brauche  dem  Staat  nicht  viel  zu  liegen"  (890) 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  2.  17 


258  C.  Ritter, 

oder  ihm  „auf  seinem  aristokratischen  Standpunkt"  erscheine 
die  Beschaffenheit  der  Volksmasse  „gleichgiltig  für  das  Ge- 
meinwesen" (907)  kann  ich  nur  als  Verdrehung  des  Sinnes  ^^) 
der  zum  Beleg  angeführten  Stelle  bezeichnen.  Sie  lautet  Hol.  III, 
421a:  alX  r}\i'xc,  [j,y]  oütw  vouQ'Stsi  •  w;,  av  ooi  7ceo9ü)|Ji£Ö-a, 
ijÜxs.  6  yewpyo^  y^^PY^^i  eatac  oux£  6  x£pa|j,£u;  x£pa|ji.£u;  oui£ 
dXXo;,  obbelc,  obdv^  e/wv  a/fj{xa,  £^  (I)V  Tioliq  y^yvExat.  dXXoc  xwv 
[ji£v  aXXwv  £Aaxxü)v  Xoyo;  •  v£upoppa-f  oc  yap  cpaOXot  y£v6fi£vot 
xa:  otacpö-apevxEi;  xac  Tcpo^TiocrjaafJiEvo:  Eivat  [xf;  övx£;  TioXst 
ouOEV  OEovov  •  cpuXaxs;  G£  VGjjLwv  X£  v.(x.l  tioAeü)?  [iTj  övx£;  aXXoc 
Soxoövx£5  opäg  oxt  vioLoccj  apoy]v  TcoXiV  dTioXXuaat,  —  iXdxxcov 
Xoyos  ist  doch  nicht  zu  verwechseln  mit  oüoe!:  Xoyoc.  Und 
daß  es  in  der  Tat  für  den  Staat  recht  unwesentlich  ist,  wenn 
die  Schuhflicker  —  oder  Seifensieder  oder  Handschuhmacher 
—  nichts  taugen:  wer  will  es  im  Ernst  leugnen? 

Ich  habe  kaum  mehr  nötig  zu  sagen,  daß  ich  in  dem 
Streit,  den  Zeller  in  den  Anmerkungen  von  S.  906  f.  führt, 
mich  auf  Seiten  seiner  Gegner  befinde.  Er  schreibt  z.  B. :  es 
„wird  421c — 422a  zwar  bemerkt:  wenn  ein  Handwerker  zu 
reich  werde,  pflege  er  sein  Geschäft  zu  vernachlässigen,  und 
Avenn  er  in  Armut  gerate,  fehlen  ihm  die  Mittel  für  seineu 
Betrieb;  aber  von  dem  was  Nohle  (Plat.  Staatsl.  141)  in  dieser 
Stelle  findet^  daß  die  Regierenden  das  Vermögen  der  Gewerbe- 
treibenden auf  einem  gewissen  Mittelmaß  erhalten  müssen, 
steht  hier  kein  Wort,  und  ebensowenig  läßt  sich  eine  der- 
artige, auf  den  platonischen  Staat  bezügliche  Vorschrift  aus 
VIII,  556  a  f.  herauslesen;  daß  die  Masse  des  Volks  die  übliche 
Lebensweise  führe,  wird  auch  III  Schi.  IV  Anf.  vorausgesetzt, 
Avas  Praetorius  de  leg.  Plat.  (Bonn  1883)  S.  8  mit  Unrecht 
bestreitet."  —  421c  steht  lohq  £7itxo6pou;  xouxou;  xa:  xoü; 
'.p'jXaxa;  dvayxaax£Ov  izo  izlv  xa:  tüeioxeov,  ötiw; 
oxt  dptaxoc  57][Jicoupyot  xoöEauxövEpyoueaov- 

*^)  Auch  die  Ausführungen  Zellers  S.  'j08  f.  muß  ich  zum  Teil  als 
irreführend  bezeichnen;  so  den  Ausdruck  , Herabwürdigung  der  Ehe  zu 
einer  volkswirtschaftlichen  Menschenzüchtuug'' :  daß  der  Zweck  dieser 
Menschenzüchtung  die  sittliche  Vervollkommnung  ist,  kann  man  aus 
diesen  Worten  nicht  heraushören.  Mit  , volkswirtschaftlich"  meint  mau 
etwas  rein  Aeußerliches.  Es  entspricht  dem  x.P>iHaT'.aTi>:öv  Piatons;  und 
was  dieser  an  den  athenischen  Staatsmännern  tadelt,  ist,  daß  volks- 
wirtschaftliche Gesichtspunkte  bei  ihnen  vorherrschten. 


Die  politischen  Grundanschauungen  Piatons.  259 

T  a  : ,  X  a  :  x  ob  c,  a  X  X  o  u  ^  ä  ti  a  v  x  a  ;  (bcauTw;  .  .  ,  xo'j^ 
aXXcu?  scu  oyjixioupyou;  gxctzs:  si  xaSs  SiacpO-si'pec,  w^xe  xa: 
xzxGu;  yoyvsaOa'.,  .  .  -Xoöxo;  .  .  y.od  Tisv'a.  Dann  werden  die 
von  Zeller  bezeichneten  schlimmen  Folgen  an  Beispielen  ge- 
schildert. 556  a  f.  aber  ist  gesagt,  es  sei  am  besten,  wenn 
gesetzliche  Vorschriften  die  Besitz  Veräußerung  verhindern;  an- 
dernfalls solle  wenigstens  der  wucherischen  Ausbeutung  der 
Not  dadurch  gesteuert  werden,  daß  niemand  ein  Darlehen  ein- 
klagen dürfe.  Es  scheint  mir  ganz  selbstverständlich,  daß  die 
ap/ovxs;  des  Idealstaats  bei  Erlassung  der  ihnen  anheimge- 
stellten Einzelvorschriften  sich  nach  diesen  Sätzen  richten 
werden. 

Zum  Schlüsse  wäre  vielleicht  manchem  Leser  eine  Ver- 
gleichung  mit  den  politischen  Sätzen  anderer  platonischer 
Schriften  nicht  unerwünscht.  Diese  kann  sich  aber  wenigstens 
für  die  späteren  derselben  jedermann  sehr  einfach  herstellen, 
indem  er  meine  Inhaltsdarstellungen  zur  Hand  nimmt  und  dort 
im  Register  unter  dem  Stichwort  „Staat"   nachsieht*'), 

Tübingen.  C.  Ritter. 


*')  Auch  auf  das  Register  meiner  zwischen  Abfassung  und  Druck- 
legung dieses  Aufsatzes  erschienene  Darstellung  der  Politeia  selber 
(Stuttgart  1909  bei  Kohlhammer)  darf  ich  verweisen. 


17 


IX. 

Der  Quincunx  im  römischen  Heere  zur  Zeit  der 
Manipularstellung. 

Die  Schlachtordnung  der  Manipularlegion  beruht  auf  ihrer 
Gliederung  in  drei  Treffen  von  je  zehn  Manipeln,  deren  Längs- 
und Querintervallen  sowie  der  Stellung  des  zweiten  Treffens 
auf  die  Lücken.  So  erinnert  jede  Gruppe  von  zwei  benach- 
barten Schlachthaufen  der  gleichen  Nummer  im  ersten  und 
dritten  Treffen  mit  dem  dazwischen  stehenden  des  zweiten  an 
das  für  den  Maßwert  ^/i2  (quinque  unciae  =  quincunx)  übliche 
Zeichen  |.|  ,  das  im  Bilde  der  fünf  Augen  auf  dem  Würfel 
wiederkehrt.  Trotzdem  hat  man  sie  im  Altertum  wahrschein- 
lich nicht  danach  benannt,  vielleicht  weil  die  Tretfenintervalle 
größer  waren  als  der  Zwischenraum,  welcher  die  Manipel  von 
einander  trennte,  die  Verbindungslinien  der  je  fünf  Schlacht- 
haufen sich  also  nicht  unter  einem  rechten,  sondern  spitzen, 
beziehungsweise  stumpfen  Winkel  schnitten.  Denn  die  Ma- 
nipelintervalle  waren  gewiß  frontbreit  ^),  und  die  Vermutung, 
daß  der  Treffenabstand  doppelt  so  tief  gewesen  sei,  liegt  w^e- 
nigstens  nahe.  Daß  man  sich  aber  den  Quincunx  rechtwink- 
lig dachte,  darf  aus  Quinctilian  8:  »quid  illo  quincunce  spe- 
ciosius,  qui,  in  quamcunque  partem  spectaveris,  rectus  erit" 
und  Columella  III  13:  „Nonnulli  omnem  vitem  per  denos  pe- 
des  in  quincuncem  disponunt,  ut  more  novalium  terra  trans- 
versis  aversisque  sulcis  proscindatur"   gefolgert  werden. 

Nur  eine  Schriftstelle  scheint  den  Ausdruck,  wenn  sie  in 

*)  So  urteilte  schon  Guischardt  ^Memoires  militaires  sur  las  Grecs 
et  les  Romains"  I  p.  85  und  öfters,  nach  ihm  Nast  und  Roesch  „Rö- 
mische Kriegsaltertümer"  p.  66  sowie  andere.  Dagegen  hat  mich  die 
von  ihnen  angenommene  Bestimmung,  wonach  für  das  Einrücken  der 
auf  Lücke  stehenden  Prinziper  Raum  geschaffen  werden  sollte,  nicht 
überzeugt.     Der  Zweck  war,  wie  sich  später  zeigen  wird,    ein  anderer. 


Th.  Steinwender,  Der  Qnincunx  im  römischen  Heere.     26 1 

Wirklichkeit  ihn  auch  nicht  erwähnt,  implicite  auf  die  Schlacht- 
ordnung des  römischen  Heeres  zu  beziehen,  die  Verse  277 — 84 
des  zweiten  Buchs  von  Virgils  Georgicon,  wo  der  Dichter  die 
Baumschule  eines  Gartens  mit  ihr  vergleicht;  denn  die  Bäume 
wurden  gewöhnlich  „in  quincuncem"  gepflanzt.  Sieht  man 
sich  aber  die  Stelle  genauer  an,  so  erhellt,  daß  Plantage  wie 
Heer  von  rechtwinklig  laufenden  Gängen  und  Quergängen 
durchschnitten  werden,  was  doch  nicht  möglich  ist,  wenn  man 
die  Wege  sich  durch  Stellung  auf  Lücke  verbaut.  Uebrigens 
sind  hier,  wie  schon  Salmasius  vermutet"),  unter  den  „viae" 
gar  nicht  die  Intervalle  der  Schlachthaufen,  sondera  Rotten- 
und  Gliederabstand  der  einzelnen  Krieger  gemeint.  Auch  sie 
können  also  nicht  in  quincuncem,  sondern,  bevor  das  Getüm- 
mel des  Kampfes  —  necdura  horrida  miscent  proelia  —  die 
ursprüngliche  Ordnung  zum  Teil  verschob ,  nur  in  ganzen 
Reihen  hintereinander,  also  „agmine  quadrato"  gestanden  ha- 
ben^), worauf  das  die  Baumpflanzung  betrefi'ende  „quadrat"  im 
Verse  278  vielleicht  schon  hinweist.  Erst  Lipsius  hat,  soweit  ich 
sehe,  den  Ausdruck  auf  die  Schlachtordnung  bezogen*),  und 
spätere  Forscher  sind  ihm  darin  gefolgt. 

Mag  dem  aber  sein,  wie  es  wolle,  daß  die  Römer  zur  Zeit 
des  Manipularsystems  ihre  Schlachthaufen  tatsächlich  in  quin- 
cuncem, wenn  auch  nicht  mit  rechtwinklig  sich  schneidenden 
Verbindungslinien  aufgestellt  haben,  ist  gewiß.  Dafür  zeugt, 
abgesehen  von  sachlichen  Gründen,  insbesondere,  was  Folybius 
über  die  Dispositionen  Scipios  zur  Schlacht  bei  Zama^)  be- 
richtet: Tipwxov  [AEV  T0Ü5  dataxous  xac  lac,  touxodv  arj[iacai;  ev 
Staaxrjfiacc,  etic  Se  xodxoiq  lobc,  Tip^yxoTias  xc^eJ^  xoc^  aiisipas 
00  [AiXa  xö  xwv  Tipwxcov  arj[Jiaiö)v  Scaaxrj|xa,  xaO-aTcep  lO-o?  eax: 
xoLs  P(i)|jLa:'oi5 ,  dXXa  v.azcd.l-qXouc,  ev  aTcoaxaaec  biac  x6  izlfi^oc, 
xwv  Tzccpoc  lolq  £vavxiot5  eXscpavxtov;  xeXeuxacou?  6'  eTisaxyjoe 
xou;  xptapc'ou;. 


^)  Salmasius  ,Dere  militari  Romanorum"  Lugdun.  Bat.  1657  c.  VII 
p.  74. 

3)  S.  meine  Schrift:  „Die  Marschordnung  des  römischen  Heeres  zur 
Zeit  der  Manipularstellung".     Danzig  1907  p.  33  ff. 

■•)  Lipsius  „De  militia  romana".  Antwerpen  1598  p.  153:  „In  quin- 
cuncem igitur  dispositio  ista  manipulorum  fuit". 

5)  Pol.  XV  9. 


262  T  h.  S  t  e  i  n  w  e  n  d  e  r , 

Die  Frage  ist  nur,  ob  der  Quincunx  aucli  die  taktische 
Grundlage  für  das  Gefecht  war ,  mit  anderen  Worten ,  ob 
während  des  Handgemenges  die  Intervalle  geöffnet  blieben. 
Was  zunächst  den  Treffenabstand  anlangt,  so  unterliegt  es 
keinem  Zweifei ;  im  ersten  Stadium  des  Kampfes  wenigstens 
hat  man  ihn  gewiß  nicht  geschlossen.  Anders  verhält  es 
sich  mit  dem  Manipelintervall ,  da  beherzte  Gegner  ein- 
brechen und  den  benachbarten  Schlachthaufen  die  Flanke  ab- 
gewinnen konnten  ^).  Auf  die  leichtbewaffneten  und  wenig 
kriegserfahrenen  Veliten  war  dann  kein  Verlaß,  und  das  zweite 
Treffen  stand  nicht  nahe  genug,  um  die  Gefahr  abzuwenden. 
Mit  dem  Schwert  hätte  es  den  Gegner  nicht  erreicht,  und  das 
Pilum  konnte,  falls  die  Entfernung  den  Wurf  noch  gestattete, 
ebensowohl  den  Freund  wie  den  Feind  treffen.  Indirekt  Avird 
die  ungebrochene  Gefechtslinie  auch  bezeugt;  denn  ohne  sie 
wäre  beispielsweise  der  gelegentlich  an  Tribunen  und  Centu- 
rionen  ergangene  Befehl,  für  eine  Reiterattacke  die  Front  zu 
öffnen  '^),  unverständlich,  desgleichen  die  Nachricht,  daß  man 
aus  demselben  Grunde  einmal  die  Manipelintervalle  offen  ge- 
lassen habe  ^).  Für  die  ungebrochene  Linie  tritt  auch  Vegetius 
ein,  wenn  er  auf  1000  Doppelschritte  bei  Abständen  von  drei 
Fuß  1666  Mann  rechnet''),  wenn  er  die  Schlachtordnung  mit 
einer  Mauer  vergleicht  ^^)  und  von  der  Front  als  einer  geraden 
spricht,  auf  welcher  die  Krieger  „aequali  et  legitimo  spatio" 
neben  einander  stehen  ^^). 

Trotzdem  hat  man  bis  vor  kurzem  am  Quincunx  als  Ge- 
fechtsformation im  allgemeinen  festgehalten ;  ja,  Folard  äußert 
in  den  Anmerkungen  zur  Schlacht  bei  Zama,  es  gehöre  eben 
nicht  viel  Einsicht  dazu,  um  zu  begreifen,  daß  der  eindringende 
Gegner  sich  den  schwersten  Verlusten  ausgesetzt  hätte  ^^).  Noch 
Koechly  und  Ruestow  fanden  sich  mit  dem  fi-ontalen  Gefechts- 
intervall ab  und  erklärten  es,  merkwürdig  genug,  aus  der  Ab- 
sicht, etwa  einreißende  Verwirrung  zu  lokalisieren  sowie  dem 

8)  Vgl.  Nast  und  Roesch  a.  a.  0.  p.  68. 
')  Liv.  X  41.  8)  Liv.  X  ü. 

9)  Veget.  III  14.  '»)  Veget.  I  20;  II  17. 
")  Veget.  I  26. 

^^)  Aebnlicli  noch  Rüstow  , Geschichte  der  Infanterie"  p.  38;  «Heer- 
wesen und  Kriegführung  Cäsars"  p.  54;  vgl.  Veith  „Geschichte  der 
Feldzüge  C.  Jul.  Cäsars"  Wien  1907  p.  49  und  483  ff. 


Der  Quincinix  im  römischen  Heere  z.  Zeit  d.  Manipularstellung.     263 

zweiten  Treffen  das  rechtzeitige  Eingreifen  zu  ermöglichen  ^^). 
Und  doch  hatte  schon  mehr  als  200  Jahre  vor  ihnen  Salma- 
sius  das  Verhältnis  richtig  erkannt.  In  seinem  postumen  Werke 
„De  re  militari  Romanorum"  äußert  er  sich,  nachdem  die  von 
der  Manipularlegion  handelnde  Stelle  bei  Livius  VIII  8  bespro- 
chen TPorden,  darüber  also^^):  „verisimile  tarnen  est  iramo  et 
verum,  primos  hastatorum  manipulos  juncto  agmine  pugnasse. 
Quo  enim  in  illis  intervalla  et  vias,  qui  nullos  intra  se  recep- 
turi  erant?"  Und  wie  die  Manipel  der  ersten  Treffens  schlös- 
sen, bevor  der  Kampf  begann,  ihre  Intervalle  diejenigen  des 
zweiten  ^^):  „Quo  facto  secundae  aciei  ordines  hostem  procede- 
bant  clausis  intervallis,  quae  patuerant  retrocedentibus  aciei 
primae  manipulis".  Und  ein  Jahrhundert  später  deutete  Gui- 
schardt  ^'^)  wenigstens  den  richtigen  Weg  an,  insofern  er  den  Vor- 
zug der  schachbrettartigen  Stellung  darin  erblickte,  daß  sie  den 
Feldherrn  befähigt  habe,  eine  den  Umständen  angemessene 
Schlachtlinie  zu  bilden.  Schon  er  unterscheidet  zwischen  der  „  dis- 
position  primitive"  und  einer  nachherigen  Aufstellung,  „que  l'on 
jugerait  ä  propos  selon  la  disposition  de  l'ennemi,  selon  le 
terrain  et  selon  les  armes  dont  on  voulait  faire  usage".  Ueber- 
einstimmend   damit   rühmt   Guischardt    an   der   Formation    die 

„facilite  qu'elle   donnait    de  changer  l'ordre  de  bataille 

soit  pour  combattre  en  ligne  pleine  on  en  ligne  tant  pleine 
que  vide  on  en  colonne".  Ja,  im  ausgesprochenen  Gegensatze  zu 
Folard,  dessen  Steckenpferd  die  Kolonne  war,  ist  er  überzeugt, 
daß  „dans  les  batailles  les  plus  opiniätrement  disputees  les 
armees  etaient  rangees  sur  des  lignes  pleines".  Danach  waren 
die  Manipelintervalle  für  ihn  kein  unentbehrlicher  Bestandteil 
der  römischen  Schlachtordnung  während  des  Gefechts,  w^enn 
er  ihre  Existenz  auch  nicht  gänzlich  in  Abrede  stellte.  Diese 
Konsequenz  haben  neuerdings  erst  "wieder  Soltau  und  Del- 
brück^'') gezogen.    Weniger  glücklich  war  der  letztere  in  Avei- 


*2)  Koechly  und  Rüstow  „Griechische  Kriegsschriftsteller "  II  1 
p.  48  if. 

")  Salmasius:  a.  a.  0.  o.  3  p.  20—21. 

^5)  Salmasius  a.  a.  0.  p.  19. 

^®)  Guischardt  a.  a.  0.  p.  85;  vgl.  p.  41   und  113. 

")  Zuerst  in  der  histor.  Zeitschritt  LI  1883,  zuletzt  in  seinem 
Werke  „Geschichte  der  Kriegskunst  etc."  Berlin  1900  I  p.  237  ft. 


264  Tb.  Steinwender, 

teren  SchlußfolgernngeD.  Seine  Annahme  beispielsweise,  daß 
die  Lücken  überhaupt  nur  schmal  gewesen  und  während  des 
Kampfes  entweder  von  selbst  zugingen  oder  durch  Einrücken 
der  hinteren  Treffen  je  nach  Bedarf  geschlossen  wurden,  steht 
mit  dem  ersten  und  wichtigsten  Gesetz  der  römischen  Taktik, 
dem  „signa  sequi  et  ordines  servare"  in  offenbarem  Widerspruch. 
Das  Verfahren  wäre  auch  insofern  unzweckmäßig  gewesen,  als 
man  weder  abwarten  konnte,  bis  die  Lücke  breit  genug  war, 
um  ganze  Manipel  oder  Centurien  aufzunehmen,  noch  durch 
die  Abzweigung  einzelner  Rotten  alle  Schlachthaufen  zerreißen 
und  durcheinander  werfen  durfte,  Was  man  noch  heute  grund- 
sätzlich vermeidet,  kann  bei  den  Römern  eine  taktische  Regel 
schon  darum  nicht  gewesen  sein,  weil  Vegetius  ausdrücklich 
davor  warnt:  »Observandum  quoque,  ne  sub  tempore,  quo  jam 
committitur  pugna,  velis  ordines  commutare  aut  de  locis  suis 
aliquos  numeros  ad  alia  transferre"^^).  Nur  was  die  unge- 
brochene Gefechtslinie  als  solche  anlangt,  sind  die  neuesten 
Bearbeiter  des  Gegenstandes  beinahe  ausnahmslos  Delbrück 
gefolgt,  unter  anderen  R.  Sclineider,  welcher  auf  Grund  ein- 
gehender Studien  zu  der  Ueberzeugung  gelangte,  daß  auch  in 
den  Kriegen  der  neueren  Zeit  die  schachbrettartige  Stellung 
während  des  Gefechts  nur  in  äußerst  beschränktem  Maße  an- 
gewandt wurde.  Lediglich  beim  Rückzuge  habe  man  sich  ihrer 
bedient  und  erfolgreich  auch  dann  nur  mit  vorzüglich  ge- 
schulten Leuten,  die  angesichts  der  Gefahr  Ruhe  und  Ordnung 
zu  bewahren  und  den  Feind  durch  wohlgenährtes  Gewehrfeuer 
in  angemessener  Entfernung  zu  halten  gewußt.  Andernfalls 
wäre  selbst  der  Rückzug  eu  echiquier  unausführbar  ^^). 

Lassen  wir  also  die  Manipelintervalle  als  Bestandteil  der 
Gefechtsformatiou  fallen ,  so  können  sie  nur  einem  Rahmen 
angehört  haben ,  aus  welchem  die  Schlachtordnung  engeren 
Sinnes  erst  entwickelt  wurde.  Und  einen  solchen  brauchte 
man  unbedingt,  da  die  Legionare  weder  aus  der  gewöhnlichen 
jNIarschkolonne  noch  aus  dem  La^er  unmittelbar  zum  Augriff 
übergehen   konnten.    So  wären  sie  auch  bei  der  vorzüglichsten 


*»)  Veget  III  19. 

^*)  Rud.    Schneider   , Phalanx  und   Manipularlegion  -  p.  135.     Da- 
gegen Yeith  a.  a.  0.  p.  49  und  483  ff. 


Der  Quincunx  im  römischen  Heere  z.  Zeit  d.  Manipularstellung.     265 

Ausbildung  niemals  imstande  gewesen,  eine  brauchbare  Ge- 
fechtslinie 7A\  bilden.  Wie  ist  es  damit  heute  ?  Die  Bataillone 
nähern  sich  in  möglichst  aufgeschlossener  Sektionskolonne  oder, 
wenn  die  räumlichen  Verhältnisse  es  gestatten,  in  Halbzügen 
dem  mutmaßlichen  Schlachtfelde.  Angesichts  des  Feindes  wird 
in  entsprechenden  Abständen  aufmarschiert,  und  erst  aus  dieser 
Formation  entwickeln  sie  sich,  bisweilen  nach  längerem  War- 
ten in  gedeckter  Stellung  zur  Gefechtslinie.  Jedenfalls  unter- 
scheidet man  noch  gegenwärtig  den  Rahmen^")  von  der  Schlacht- 
ordnung engeren  Sinnes.  So  war  es  auch  in  Rom.  Livius 
aber  hat  den  Gegensatz  verkannt  oder  doch  nicht  cpenügend 
hervorgehoben  und  hiedurch  sowie  mit  anderen  Unstimmiff- 
keiten  in  seiner  Beschreibung  des  Gefechts  der  Manipulare  ^^) 
den  Forschern  Rätsel  aufgegeben,  die  trotz  aller  darauf  ver- 
wendeten Mühe  ihrer  Lösung  ziuu  Teil  noch  harren. 

Auf  die  einzelne  Legion  bezogen ,  gewährte  der  Rahmen 
nun  folgendes  Bild:  Im  ersten  Treffen  standen,  durch  Zwi- 
schenräume von  der  Breite  ihrer  Front,  das  heißt  regulär 
Avahrscheinlich  30  Schritt ^^)  getrennt,  die  10  Manipel  der 
Hastaten.  Die  Lücken  schlössen,  „ne  interluceret  acies"^^),  in 
einem  Abstände  von  wahrscheinlich  60  Schritt  die  ebenso  zahl- 
reichen Schlachthaufen  der  Prinziper,  und  wiederum  60  Schritt 
rückwärts  hielten,  auf  das  erste  Treffen  gerichtet,  die  10  Ma- 
nipel der  Triarier.  Hinsichtlich  ihrer  Stärke  sei  daran  erin- 
nert, daß  in  der  Legion  von  4200  Mann  im  Fußvolk,  welche 
Polybius  für  normal  hält,  und  die  wir  unserer  Berechnung 
daher  zu  Grunde  legen,  die  Schlachthaufen  der  beiden  vorde- 
ren Treffen  je  120,  diejenigen  des  dritten  aber  nur  60  schwer- 
gerüstete Krieger  zählten.  Es  können  ferner,  vorausgesetzt 
daß  die  achtgliedrige  Aufstellung  der  alten  Phalanx  gewahrt 
blieb  ^*) ,    in    den  ersteren    nur   je  4  Glieder  gestanden  haben, 

^'')  Der  Ausdruck  jBereitschaftsstellung",  den  andere  gewählt  haben, 
ist  hier  mit  Absicht  vermieden  worden,  weil  man  darunter  auch  etwas 
wesentlich  anderes  verstehen  kann. 

-1)  Liv.  VIII  8. 

^-)  Ueber  die  Gründe,  welche  für  diese  Distanzierung  sprechen, 
s.  meine  Schrift  „Ursprung  und  Entwickelung  des  Manipularsystems" 
Danzig  1908  p.  2t  ff.  und  die  Skizze  zu  p.  47. 

-3)  Frontin.  II  3;  Veget.  I  26;  vgl.  III  14. 

^*)  S.  meine  Abhandlung  „Die  Entwickelung  des  Manipularwesens" 
in  der  Zeitschr.  für  das  Gymnasialwesen  XXXII  p.  716  ff. 


266  Th.  Steiuwender, 

wozu  mit  2  weiteren  die  Triarier  kamen.  Es  gab  also  in  den 
drei  Schlachthaufen  der  gleichen  Nummer  stets  10  Glieder  zu 
30  Rotten ;  so  viele  treffen  wir  noch  in  den  Kohorten  des 
Marius,  wie  beispielsweise  die  Schlachtordnung  der  Pompejaner 
bei  Pharsalus-^)  lehrt.  Wurde  nun  durch  Eindoppeln  aus  der 
Tiefe  ^^)  (duplicatio)  die  Zahl  der  Glieder  gemindert ,  so  kam 
es  darauf  an,  ob  die  Triarier  an  dem  Manöver  teilnahmen  oder 
nicht.  Im  ersteren  Falle  schrumpfte  die  Schlachtordnung  auf 
5  Glieder  zusammen ,  und  so  ist  vielleicht  die  Beschreibung 
der  Testudo  bei  Livius  ^^)  zu  verstehen,  wo  zwischen  den  primi, 
secundi,  tertii,  quarti  und  postremi  unterschieden  wird.  Ohne 
die  Triarier  dagegen  waren  es  nur  4,  eine  Zahl,  welche  die 
Verschilduug  auf  den  Säulen  des  Trajan  und  Marc  Aurel  ver- 
anschaulicht. Auch  die  4  Glieder  des  ersten  und  zweiten  Tref- 
fens sind  bezeugt,  so  namentlich  bei  Appian  ^^)  für  das  Jahr 
360  und  durch  das  von  Servius  zu  Virgils  Georgicon  II  417 
angeführte  Katofragment:  „Pedites  quatuor  agminibus,  equites 
duabus  antibus  ducas"-^).  Genau  so,  das  heißt  die  Fußgänger 
in  Kolonnen  zu  4  Mann,  die  Reiter  in  Schwadronen  zu  2  Pfer- 
den marschiert  das  römische  Heer  noch  bei  Arrian^°).  Seine 
Schlachtordnung  bestand  aus  2x2  =  4  Gliedern;  davon  führ- 
ten die  vorn  stehenden  das  Pilum,  die  anderen  leichte  Wurf- 
spieße, um  sie  während  des  Kampfes  über  die  Köpfe  der  er- 
steren hinwegzuschleudern. 

Daß  freilich  die  Schlachthaufen  der  Hastaten  und  Prin- 
ziper an  Schwergerüsteten  auch  5  und  6  Glieder  gezählt  haben 
und  somit,  da  die  Triarier  an  der  Aenderung  nicht  teilnahmen  ^^). 
insgesamt  12  und  14  vorhanden  waren,  ist  denkbar,  ja  wahr- 
scheinlich als  Folge  vermehrten  Ersatzes,  welcher  die  Legion 
im  Fußvolk  von  rund  4000  auf  5000  und  6000  Krieger  zu 
bringen  gestattete  ^^).     Dann  wurde  wohl   nur   die  Tiefe    ent- 


^5)  Frontin.  II  3,  22.  -ß)  Veget.  I  26. 

2')  Liv.  XLIV  9. 

-^)  App.  Kelt.  1.  Vgl.  Fröhlich  „Kriegswesen  Cäsars"  p.  146.  Da- 
gegen Delbrück  a.  a.  0.  I  p.  245. 

-"j  Eingehend  besprochen  und  erklärt  in  meiner  Schrift  ^.Die 
Marschordnung  des  römischen  etc."  a.  a    0.  p.  21  ff. 

3")  Arrian  „Schlachtordnung  gegen  die  Alanen''  15. 

31)   Pol.   VI  21:  ToOi&'JS  äz':  lobc,  lOGug". 

3')  Marquardt  „Handbuch  der  röm.  Staatsaltertümer "  V  2  p.  335  tf. 


Der  Quincunx  im  römischen  Heere  z.  Zeit  d.  Manipularstellung.     267 

sprechend  verstärkt,  da  bei  Verlängerung  der  Front  die  Linie 
der  Triarier  unstimmig  geworden  wäre,  und  man  sich  die  Ge- 
fechtsleitung unnütz  erschwert  hätte.  Mehr  als  6  Glieder  aber 
können  die  Manipel  schon  darum  nicht  gehabt  haben,  weil  in 
Reihen  marschiert  wurde,  und  für  stärkere  Kolonnen  die  Wege 
nicht  breit  genug  waren  ^^). 

Die  Verteilung  der  1200  Leichtbewaffneten  (velites)  auf 
die  drei  Treffen  war  zu  der  Zeit,  welche  der  Darstellung  des 
Polybius  zu  Grunde  liegt,  eine  gleichmäßige  ^*).  Früher  hatte 
man  sie  in  Gruppen  von  je  20  nur  den  Schlachthaufen  der 
Hastaten  beigesellt,  während  das  Gros,  in  die  beiden  Klassen 
der  rorarii  und  accensi  geteilt,  hinter  den  Triariern  stand  ^^). 
Später  dürften  sie  im  Rahmen  überall  2  Glieder  und  zwar  die 
letzten  ihres  Manipels  gebildet  haben,  wenn  freilich  auch  mit 
einer  je  nach  dem  Stärkeverhältnis  wechselnden  Zahl  blinder 
Rotten.  Nur  in  der  Legion  von  6000  Kombattanten  zu  Fuß 
gab  es  deren  nicht,  insofern  die  drei  Schlachthaufen  gleicher 
Nummer  dann  8  +  8  +  4  =  20  Glieder  zu  30  Rotten  bilde- 
ten. Ihre  Verteilung  auf  die  Treffen  veranschaulicht  demnach 
folgendes  Schema: 

I  180  -1-    60  =  240 

11  180  +    60  =  240 

III     60  +    60  =  120 

420  +  180  =  600 

Eine  andere  Art  des  Quincunx  betrifft  die  Stellung  der 
einzelnen  Männer  innerhalb  ihres  Sclilachthaufens.  Obwohl 
unbezeugt,    wird   sie  von  R.  Schneider ^'^)  befürwortet,    der  in 


gibt  nach  Nast  und  Roesch  a.  a.  0.  §  59  auch  schon  dem  unverstärk- 
ten Hostaten-  und  Prinzipermaniel  6  Glieder,  mit  Einrechnung  der 
Veliten  sogar  8  bei  20  Rotten,  augenscheinlich  weil  die  Leichtbewaif- 
neten  -sich   dann  ohne  Lücken  darauf  verteilen  lassen. 

^^)  S.  „Die  Marschordnung  des  röm.  Heeres  etc."  a.  a.  0.  p.  11 
und  17. 

3^)  Pol.  VI  24.  ^'s)  Liv.  Vni  8. 

3«)  In  der  „Berliner  Philologischen  Wochenschrift"  vom  15.  Mai 
1886,  Dafür  haben  sich  ferner  ausgesprochen  Fröhlich  „Heerwesen 
Cäsars"  p.  144,  Delbrück  a  a.  0.  I  p.  260,  Giesing  in  den  Jahrbüchern 
für  klassische  Philologie  1889  p.  161  ff.,  welch  letzterer  sein  Urteil,  wie 
folgt,  begründet:  „Die  Leute  des  zweiten  Gliedes  standen  im  Kampf 
naturgemäßer  Weise  auf  den  Interwallen  des  ersten,  die  zur  bequemen 
Handhabung  der  Waffen  nötig  waren.  Das  zweite  Glied  sekundiert, 
so  zu  sagen,  dem  ersten.     Wie  einfach  war  es  also,  daß  ein  Mann  aus 


268  Th.  Steinwender, 

ihr  den  Schlüssel  zur  Lösung  des  Rätsels  vermutet,  weshalb 
Vegetius  zwar  den  Rottenabstand  auf  3 ,  den  Gliederabstand 
dagegen  auf  6  Fuß  angibt.  Im  Grunde  nämlich  wären  das 
auch  nur  3  gewesen  ;  wenn  man  aber,  wie  bei  einer  in  quin- 
cuncem  gestellten  Truppe  geschehen  müsse,  vom  ersten  Gliede 
zum  dritten,  vom  zweiten  zum  vierten  und  so  ferner  zähle, 
dann  würden  daraus  6.  Gewiß !  Ueberdies  liegt  die  Annahme, 
daß  hier  im  Kleinen  wiederkehren  möchte,  was  im  Gi'oßen  er- 
wiesen ist,  nahe,  zumal  da  die  Warnung  „ne  interluceret  acies" 
bei  Frontin  und  Vegetius  sie  zu  stützen  scheint.  Trotzdem  er- 
heben sich  dagegen  schwerwiegende  Bedenken: 

1.  Polybius  hätte,  wo  er  die  römische  Gefechtsstellung 
beschreibt  ^^) ,  nicht  von  Vorder-  und  Hintermann  sprechen 
können.  Auch  wären  seine  Abstände  hinfällig,  da  sie  in  Wahr- 
heit nicht  den  Zwischenraum  von  Glied  zu  Glied,  sondern  von 
Mann  zu  Mann  ausdrücken. 

2.  Vegetius  ^^)  verlangt ,  daß  beim  Ueben  der  Gefechts- 
stellung den  Rekruten  eingeschärft  werde,  sich  stets  genau  auf 
den  Vordermann  auszurichten. 

3.  Daß  die  Richtung  unnütz  erschwert  worden,  und  auf 
den  Flügeln  hier  eine  halbe  Rotte  zu  wenig,  dort  eine  solche 
überfällig  gewesen  wäre ,  muß  gleichfalls  Bedenken  erregen. 
Die  Unstimmigkeit  ließ  sich  zwar  vermeiden,  sofern  man  die 
geraden  Glieder  um  eine  Rotte  schwächte ;  dann  hätte  sie  doch 
aber  während  des  Gefechts,  wo  jeder  Mann  gebraucht  wurde, 
gefehlt,  und  bei  jedem  zweiten  Gefechtswechsel  (pedatus)  wäre 


jenem  in  dieses  einsprang  und  die  Sache  seines  ermatteten  oder  ge- 
fallenen Vordermanns  übernahm."  Dagegen  ist  zu  bemerken,  daß,  um 
den  Vordermann  zu  ersetzen,  die  Stellung  auf  Lücke  keineswegs  er- 
forderlich war,  und  ein  Sekundieren  des  zweiten  Gliedes,  obwohl  auch 
schon  Rüstow  dafür  eintrat,  in  Wirklichkeit  kaum  möglich  ist.  An- 
deren Falles  hätte  der  direkte  Hintermann  es  ebenso  gut,  ja  sogar 
besser  ausführen  können,  als  ein  in  weiterer  Entfernung  und  schräg 
rückwärts  stehender.  Ueberdies  würde  ein  derartiges  Verfahren  dem 
vom  Autor  p.  860  mit  Recht  gebilligten  Grundsatz,  daß  man  die  Re- 
serve möglichst  schonen  soll,  widersprochen  haben.  Gegen  die  An- 
sicht Schneiders  haben  sich,  soweit  mir  bekannt  geworden,  bisher  nur 
Lammert  „Polybius  und  die  römische  Taktik"  Programm  des  Kgl. 
Gymnas.  in  Leipzig  p.  11  A  4  und  Kromayer  „Vergleichende  Studien 
des  griechischen  und  römischen  Kriegswesens"  im  Hermes  XV  p.  233  ff. 
ausgesprochen. 

3'j  Pol.  XVHI  30.  38)  Veg.  I  26. 


Der  Quincunx  im  römischen  Heere  z.  Zeit  d.  Manipularstellung.     269 

auf  allen  Manipelflügeln  in  der  Front  eine  klaffende  Lücke  von 
4  Schritt  entstanden. 

4.  Die  unerläßliche  und  von  Schneider  selbst  zugegebene 
Ablösung  im  Gefecht  wäre  ohne  Reibung  und  Getümmel  nicht 
ausführbar  gewesen ,  wenn  man  sich  die  Rottenabstände  ver- 
baute. So  hätte  man  beim  Vorgehen  und  Zurücktreten  nur 
noch    in    der   unbequemen  Zickzacklinie  sich  bewegen  können. 

5.  Die  gedachte  Stellung  würde  auch  nicht  den  gering- 
sten Zweck  gehabt  haben.  Denn  daß  der  auf  Lücke  stehende 
Mann  des  zweiten  Gliedes  dem  vor  ihm  halb  links  und  halb 
rechts  im  Kampfe  begriffenen  Waffengenossen  sekundiert  ha- 
ben sollte,  ist,  abgesehen  von  seltenen  Ausnahmefällen,  un- 
denkbar. Er  hätte,  angenommen  daß  für  ein  solches  Ein- 
greifen mit  dem  Schwert,  denn  nur  darum  könnte  es  sich  hau- 
dein,  da  die  Pilen  bei  Beginn  des  Treffens  bereits  verschleu- 
dert worden,  genügend  Raum  vorhanden  gewesen  wäre,  dem 
zu  unterstützenden  Vordermann,  insofern  er  ihn  der  Ellen- 
bogenfreiheit beraubt,  eher  geschadet  als  genützt.  Ueberdies 
ist  doch  klar,  daß  einen  derartigen  Sekundantendienst  im  Not- 
fall zu  leisten,  der  direkte  Hintermann  eher  in  der  Lage  war, 
da  er  näher  stand,  und  sein  Augenmerk  sich  nur  auf  einen 
Vordermann  richtete,  indessen  der  im  Quincunx  schräg  rück- 
wärts haltende  auf  zwei  zu  achten  hatte,  seine  Aufmerksam- 
keit mithin  geteilt  war. 

6.  Es  kann  auch  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  daß 
man  so  den  feindlichen  Geschossen  ein  unfehlbares  Ziel  ge- 
schaffen und  die  Leute  des  zweiten  Gliedes  unnütz  beunruhigt 
sowie  durch  Hochhalten  des  Schildes  ermüdet  hätte,  bevor  sie 
an  der  Reihe  waren,  ihre  Kraft  einzusetzen. 

7.  Die  oben  besprochene  Stelle  in  Virgils  Georgicon  setzt 
nicht  den  Quincunx  voraus,  sondern  die  acies  quadrata. 

Gegen  die  Stellung  des  einzelnen  Mannes  innerhalb  seines 
Schlachthaufens  auf  Lücke  sprechen  in  der  Tat  so  zahlreiche 
und  triftige  Gründe,  daß  wir  nicht  anstehen,  sie  ins  Reich  der 
Fabel  zu  verweisen.  In  der  Taktik  gilt  nur  das  Einfache  und 
Notwendige;  jede  Künstelei,  jedes  nutzlose  Manöver  ist  da  vom 


270     T  li.  S  t  ei  n  we  n  d  e  r ,  Der  Quincunx  im  römischen  Heere. 

Uebel.  Wenn  trotzdem  auch  Delbrück  ^^)  den  Quincunx  enge- 
ren Sinnes  für  wahrscheinlich  hält,  dann  sollte  er  wenigstens 
seine  Lehre  vom  Chok  der  Manipulare  preisgeben,  die  sich 
damit  schlechterdings  nicht  verträgt ;  denn  auf  Lücke  gestellte 
Kombattanten  üben  auf  ihre  Vorderleute  keinen  Druck  aus^"). 
Man  könnte  dagegen  einwenden,  daß  es  ihnen  freistand,  beim 
Zusammenstoß  in  deren  lichten  Zwischenraum  einzurücken. 
Gewiß!  Dann  mußte  der  letztere  aber  groß  genug  sein,  um 
mit  Schwert  und  2^2  Fuß  breitem  Schilde  bewaffnete  Krieger 
aufzunehmen.  Der  von  Delbrück  in  dem  Sinne  von  Mann  und 
lichtem  Intervall  auf  3  Fuß  angenommene  Rottenabstand  reichte 
dazu  begreiflicherweise  nicht  aus. 

Wir  bleiben  dabei,  daß  es  zwar  einen  Quincunx  der 
Schlachthaufen  in  gewissen  Grenzen  gegeben  hat,  einen  Quin- 
cunx der  Manipulare  aber  nicht. 

Danzig,  Th.  Steinwender. 


^8)  Delbrück  a.  a.  0.  I  p.  260;  vgl.  Kromayer  a.  a.  0. 

*")  Deshalb  erklärt  sich  dagegen,  wie  gesagt,  Lammert  a.  a.  0. 


X. 

Studien  zu  üen  Acta  Imperatorum  Romanorum. 

I.  Teil. 

Die  Formeln    in  den  Edikten  und  Briefen  der 

Kaiser  A  u  g  u  s  t  n  s  bis  H  a  d  r  i  a  n. 

Einleitung. 

In  der  Geschichte  des  Altertums  begegnet  uns  eine  eigen- 
tümliche Vererbung  von  Ideen  auf  den  verschiedensten  Gebieten. 
Nicht  nur  Wissenschaft  und  Kunst,  sondern  auch  Staatsformen 
pflanzen  sich  im  Wechsel  der  Zeit  stetig  fort.  Das  Reich, 
das  Alexander  der  Große  begründet  und  das  seine  Nachfolorer 
unter  sich  geteilt  haben,  erscheint  zu  Beginn  unserer  Zeitrech- 
nung wieder  geeint. 

Augustus  hat  sich  enge  an  das  angeschlossen,  was  seine 
Vorgänger  ihm  hinterlassen  hatten,  er  übernimmt  griechische 
Reichsverwaltung  und  griechischen  Geschäftsstil  für  die  öst- 
lichen Provinzen.  Anfangs  bleibt  allerdings  das  römische  Ele- 
ment noch  im  Vordergrund,  doch  allmählich  steigert  sich  grie- 
chisch-orientalischer Einfluß  derart,  daß  er  das  römische  Ele- 
ment überwiegt  und  in  der  absoluten  Monarchie  Diokletians^) 
den  Sieg  über  dasselbe  erringt. 

Die  Anerkennung  des  Griechischen  als  zweite  Staatsspra- 
che, in  welcher  die  meisten  Urkunden,  die  für  die  östlichen  Pro- 
vinzen aus  der  kaiserlichen  Kanzlei  hervorgingen-),  ausgefertigt 


')  Kaerst,  Studien  z.  Entwicklung  u.  theor.  Begründung  der  Mou- 
archie  im  Altertum,  München  1898  S.  80. 

-)  Man  hat  aber  auch  schon  zur  Zeit  der  Republik  diese  Urkunden 
griechisch  abgefaßt.  Wilamowitz,  in  Hinniibergs  „Kultur  der  Gegen- 
wart" I/VIII.  S.  152  f.  vgl.  Viereck  Sermo  Graecus  n.  I — V. 


272  Odilo   Haberleitner, 

sind,  beweist  die  Pflege  des  Philhellenismus  ^).  Orientalische  Züge 
aber  finden  wir  —  um  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen,  auf  die  übri- 
gen sei  später  eingegangen*)  —  in  dem  Prunk  der  Titel  und 
in  der  Auffassung  von  der  Gottheit  der  Herrscher^). 

Lernten  nun  die  Römer  einerseits  von  den  Griechen,  so 
ließen  sie  andererseits  in  ihrer  staatsmännischen  Klugheit  auch 
das  meiste  der  hellenischen  Einrichtungen  bestehen.  Man  weist 
mit  Recht  darauf  hin,  daß  z.  B.  „eine  geordnete  Verwaltung 
ohne  Zuhilfenahme  der  bereits  bestehenden  Lokalbehörden"  (in 
der  städtischen  und  auch  Provinzialverfassung)  —  „undurch- 
führbar gewesen  wäre"''). 

Im  nachstehenden  ersten  Teile  der  „Studien"  sei  nun  ein 
Versuch  geboten,  aus  den  Urkunden  der  römischen  Kaiser 
neben  anderem  auch  den  hellenisch-orientalischen 
Einfluß  klarzulegen,  der  sich  in  vielen  Kundgebungen  der 
Kaiser  bemerkbar  macht. 

Man  geht  dabei  am  besten  von  folgenden  Gesichtspunkten 
aus :  Vorerst  wird  es  nötig  sein,  die  Kaiserurkunden  als  solche, 
sowohl  nach  ihrem  rechtlichen  als  formellen  Wert  zu  prüfen, 
dann  soll  sich  die  Untersuchung  mit  den  Formeln  der  zwei 
wichtigsten  Arten  von  Kaiserurkunden,  den  Edikten  und  öffent- 
lichen Briefen,  —  und  zwar  nur  derjenigen,  die  uns  inschrift- 
lich oder  auf  Papyri  erhalten  sind,  beschäftigen.  Soweit  es 
möglich  ist,  soll  die  Herübernahme  hellenischer  und  orienta- 
lischer Formen  betont  werden.  xVnschließend  daran  werden  in 
einem  zweiten  Teile  zu  behandeln  sein:  1)  die  noch  übrigen 
Urkundenarten ,  2)  wird  zu  sprechen  sein  über  die  Echtheit 
oder  Unechtheit  der  bei  Schriftstellern  überlieferten  Urkunden. 
Endlich  3)  soll  ein  kurzer  Ueberblick  über  die  Kanzleigeschichte 
die  Untersuchung  beenden. 

Der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  versuchte,  um  ein  einheit- 
liches, geschichtliches  Material  zur  Hand  zu  haben,  die  sämt- 
lichen Urkunden  der  römischen  Kaiser  zu  sammeln.  Der  erste 
Teil    dieser   Sammlung    wird   im    Druck    bei    B.    G.    Teubner 


^)  Mommsen,  Rom.  Gesch.  V.  S.  252.  Janell,  Ausgewählte  In- 
schriften S.  71  f. 

')  Siehe  unten  S.  298  f.  ")  Janell  a.  a.  0.  S.  77. 

«)  Mitteis,  Reichsrecht  und  Volksrecht  S.  85.  Besonders  gilt  dieser 
Satz  für  Aegj'pten. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  273 

in  Leipzig  erscheinen.  Der  Titel  lautet :  Imperatorum 
R  0  m  a  n  0  r  u  m  acta.  Pars  prior:  Inde  ah  anno  irice- 
simo  primo  a.  Chr.  n.  usque  ad  anmim  centesimum  duode- 
quadragesimum  p.  Chr.  n.'').  Mit  dem  Tode  Hadrians  abzu- 
schließen, dafür  gab  es  einen  wichtigen  Grund.  Abgesehen 
von  der  Fülle  von  Urkunden  dieses  Zeitraumes,  bildet  gerade 
Kaiser  Hadrians  Regierung  einen  Einschnitt  in  die  Geschichte 
Roms.  Sie  bildet  „eine  bemerkenswerte  Epoche  in  der  Entwick- 
lung der  monarchischen  Ideen"  ^),  weiters  ist  Hadrian  der  erste 
Kaiser,  dessen  Regierungstätigkeit  uns  so  klar  aus  den  Ur- 
kunden seiner  Zeit  hervortritt ,  endlich  beginnt  mit  Hadrian 
die  unerschöpfliche  Reihe  der  „Reskripte"^),  die  uns  durch 
Justinians  Corpus  aufbewahrt  sind.  Hadrian  gestaltet  auch 
die  Verwaltung  um  und  verwandelt  das  frühere  Hausamt  des 
Sekretariats  und  der  Bittschriften  in  ein  Staatsamt. 

Da  in  der  Sammlung  sich  nicht  allein  Urkunden  öffent- 
licher Natur  {Edikte,  Epistulae,  Orationes  etc.)  finden,  sondern 
auch  solche,  die  sich  auf  das  Privatleben  der  Kaiser  beziehen, 
wurde  der  Name  Acta  gewählt.  Wie  in  der  Kaiserzeit  schon 
solche  Sammlungen  bestanden  haben ^^),  die  öffentliche  und 
private  Urkunden  in  sich  schlössen,  so  geht  auch  der  Verfasser 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus.  Auch  die  Terminologie  für 
das  Urkundenwesen  des  Mittelalters  bedient  sich  dieses  Aus- 
druckes ^^).    Das  Urkundenwesen  des  Mittelalters  soll  auch  die 


')  Im  Nachstehenden  wird  für  die  Imp.  Rom.  acta  die  Kürzung 
„IRA"  gebraucht,  doch  werden  auch,  da  der  Druck  sich  in  die  Länge 
ziehen  wird,  die  wiclitigsten  Fundstellen  angegeben,  z.  B.  Dittenberger 
Sylloge  etc. 

*)  Kaerst,  Studien  S.  93.     Kornemann,  Hadrian  S.   1  fi". 

»)  Kariowa,  N.  Heidelberg.  Jahrbücher  VI  (1896)  S.  211.  „Seit 
Hadrian  erlangen  die  Reskripte  erst  wahre  Bedeutung". 

'")  Tacitus  Dial.  c.  37  führt  die  Acta  eines  Mucianus,  Vopiscus 
(Aurel.  12,  4)  die  eines  Acholius  an.  Vgl.  Peter,  Gesch.  Literatur  I. 
S.  253  f.  „Acta"  ist  ein  ziemlich  weiter  Begriff,  der  nicht  nur  alle 
Amtshandlungen  der  Kaiser  umfast,  sondern  überhaupt  die  ganze  Re- 
gierungstätigkeit auch  auf  privatem  Gebiete.  Ich  fasse,  um  einen  ein- 
heitlichen Terminus  zu  gewinnen,  nur  die  schriftlichen  Aeußerungen 
der  Kaiser  im  folgenden  als  ,Acta"  auf.  Vgl.  Kubitschek  in  Pauly 
Wissowa  RE.  I.  c.  295 — 298  unter  Acta  (p  r  i  n  c  i  p  i  s)  und  v,  Sickel 
in  der  Einleitung  zu  den  Acta  regum  et  imperatorum  Karolinorum  1. 
S.  If. 

*')  Bresslau,  Handb.  d.  ürkundenlehre  I.  S.  2  f.  vgl.  v.  Sickel,  Acta 
Karolinorum. 

Philologus  LXTIII  (N.  F.  XXII),  2.  18 


274  Odilo    Haberleitner, 

leitenden  Bahnen  weisen,    auf   denen   sich  vorliegende  Unter- 
suchung bewegen  soll. 

1.  Kapitel. 

Ueber  liefer  ung  der  acta  imperatorum 

R  o  m  a  n  0  r  u  m  ^"). 

Zwei  Fragen  drängen  sich  bei  Besprechung  der  Urkunden 
auf.  Erstens  handelt  es  sich  darum ,  auf  welche  Weise  die 
Urkunden  auf  uns  gekommen  sind. 

Sie  sind  teils  inschriftlicher  Art  (Stein,  Metall),  teils  hand- 
schriftlicher Art  (Pajjyri),  teils  durch  die  Werke  der  Schrift- 
steller, teils  durch  die  Gesetzessammlungen  Justinians  und  seiner 
Vorgänger  uns  erhalten. 

Die  zweite  wichtige  Frage  ist  die  nach  der  Originalität 
der  Urkunden. 

Originale  (Autographa  der  altrömischen  Terminologie)  nennt 
man  „die  Ausfertigungen  einer  Urkunde,  welche  auf  die  An- 
ordnung oder  mit  Genehmigung  des  Ausstellers  entstanden  und 
bestimmt  sind,  dem  Empfänger  als  Zeugnisse  über  die  beur- 
kundete Handlung  zu  dienen"  ^^).  Sind  Urkunden  wörtlich 
gleichlautend  mit  dem  Originale  wiedergegeben  und  es  fehlt 
eines  jener  inneren  oder  äußeren  Merkmale,  über  die  noch 
'  gesprochen  werden  wird,  dann  nennt  man  sie  Abschriften  oder 
Kopien  ^'^). 

Befaßt  sich  die  mittelalterliche  Diplomatik  nur  in  den 
dringendsten  Fällen  mit  Kopien  —  da  meist  genügend  Origi- 
nale zur  Hand  sind  — ,  so  ist  das  Altertum  fast  ausschließlich 
auf  Kopien  angewiesen.    Zur  Betrachtung  kommen  zuvörderst 

*2)  Bereits  nach  Abgang  vorliegenden  Aufsatzes  für  den  Druck 
erschien  im  zweiten  Hefte  des  „Archivs  für  ürkundenforschung"  I.  Jhg. 
herausgegeben  von  Brandi.  Bresslau  und  Tangl,  ein  Aufsatz  von  B.  Faass, 
den  ich  leider  diesem  Kapitel  nicht  mehr  zugrunde  legen  konnte.  Je- 
doch wird  an  verschiedenen  Stellen  noch  darauf  hingewiesen  werden. 
Der  Aufsatz  führt  den  Titel:  „Studien  zur  Ueber] ieferungsgeschichte 
der  römischen  Kaiserurkunde  von  Augustus  bis  Justinian". 

'3)  Bresslau  Urkundenlehre  I.  S.  78.  Vgl.  dazu  den  erwähnten  Auf- 
satz von  B.  Faass  S.  186—200. 

")  Faass  hat  geschieden  zwischen  „offiziellen  und  anderen  Kopien". 
Unter  offiziellen  Kopien  versteht  er  Kopien,  die  nach  einem  Original 
angefertigt  werden,  wie  z.  B.  die  Vorlagen  für  die  Militärprivilegien. 
Die  „übrigen  uns  erhaltenen Kaiserm-kunden  gehören  der einfacheir Kopie 
an".'    Vgl.  den  Aufsatz  von  Faass  S.  200-(219)-2J2. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatoium  Romanorum.  275 

die  uns  iuschriftlicli  odei*  auf  Papyrus  erhaltenen  Urkunden. 
Bei  den  Papyrusurkunden  wäre  eine  Originalität  im  obigen  Sinne 
nicht  ausgeschlossen.  Die  Inschriften  hingegen  kann  man  nicht 
als  Originale,  sondern  vielmehr  als  beglaubigte  Abschriften  an- 
sehen ^^).  Denn  es  fehlen  bei  den  inschriftlich  erhaltenen  Ur- 
kunden die  äusseren  Merkmale,  die  die  Beurteilung  der  Echt- 
heit zulassen,  nämlich  Schriftcharakter  (Kanzleischreiber,  eigen- 
händige Unterschrift  des  ivaisers)  und  die  Besiegelung^^).  Man 
ist  heutzutage  nur  auf  den  Inhalt  und  die  inneren  Merkmale 
angewiesen :  die  Formeln ,  die  Datierung  und  in  nachhadria- 
nischer  Zeit  auf  die  Subscriptionszeile  des  Kaisers  ^^). 

Was  die  Papyri  anlangt,  so  sind  wir  —  weitere  Funde 
dürften  uns  eines  Besseren  belehren  —  auch  hier  für  die  erste 
Kaiserzeit  vollständig  im  Stiche  gelassen  worden.  Denn  von 
den  uns  überlieferten  Papyrusurkunden  aus  der  Zeit  bis  Hadrian 
sind  einige  überschrieben  mit  'Avttypacpov  (exemplum),  andere 
nur  teilweise  erhalten,  und  auch  diese  sind  sicherlich  Kopien. 

Was  endlich  die  dritte  und  vierte  Ueberlieferungsart  be- 
trijfft,  Schriftsteller  und  Gesetzessammlungen,  so  können  wir 
wohl  nur  von  letzteren  mit  Bestimmtheit  sagen,  daß  in  ihnen 
die  Acta  teils  wörtlich  teils  als  inhaltlich  genaue  Auszüge 
(Regesten)  wiedergegeben  sind  ^^).  Die  schriftstellerisch  über- 
lieferten Urkunden  sind,  wie  dies  in  der  Folge  gezeigt  werden 
wird,  auf  ihre  Echtheit  genau  zu  untersuchen,  doch  läßt  sich 
jetzt  schon  feststellen,  daß  sie  sich  teilweise  als  Regesten,  teil- 
weise aber  —  was  noch  schlimmer  ist  —  als  gefälschte  Ur- 

'^)  Wenn  Fflugk  Harttung,  (Papsturkunden  auf  Marmor,  in  Quellen 
und  Forschungen  aus  ital.  Archiven  Bd.  IV  S.  167 — 183)  einige  Papst- 
urkunden auf  Marmor  als  Originale  autfaßt,  so  meint  er  damit  sicher 
nicht  die  Originalausfertigung,  sondern  nur  eine  genaue  Abschrift 
nach  dem  Original.  Vgl.  Schmitz-Kallenberg  im  HJB.  (Histor.  Jahrbuch 
der  Görres-Ge'sellsch.)  1905,  XXVI  S.  588  ff.  Das  älteste  Original  auf 
Papyrus  ist  anscheinend  der  Papyrus  Leidensis  Z.     Vgl.  Faass  S.  189  tf. 

'^)  Daß  auch  die  röm.  Urkunden  der  Besieglung  nicht  entbehrt 
haben,  beweisen  einerseits  die  Militärdiplome,  andererseits  Nachrichten 
von  Schriftstellern,  z.B.  fürAugustus:  Gassius  Dio  (ed.  ßoissevain)  LI., 
3,  6,  7.     Sueton  (ed.  Ihm)  Aug.  c.  50  u.  BGU.  I.  183  e. 

")  Vgl.  CIL.  VIII.  n.  10.570  ein  Brief  des  Kaisers  Gommodus,  wo- 
selbst der  Steinmetz  vor  dem:  Scrijjsi,  recognovi,  hinzufügt:  ET  ALI A 
MANV;  so  auch  anderwärts.  Vgl.  dazu  Brandi,  „Der  byzant.  Kaisei'- 
brief  im  Archiv  f.   ürkundenforschung  I/i  S.  88. 

")  Vgl.  Faass  S.  26(J  ff.  Statt  der  Ausgabe  Corpus  iur.  civilis  1872 
(1877)  wäre    dort   heranzuziehen    die    Ausgabe  Berlin  Weidmann  1902. 

18' 


276  Odilo    Haber  leitner, 

künden  darstellen,  welch  letztere  oft  genau  in  die  Form  der 
echten  Briefe  und  Urkunden  hineingezwängt  sind. 

Es  sind  uns  eben  jene  Einrichtungen  der  kaiserlichen  Ver- 
waltung spurlos  verloren  gegangen ,  die  einen  Blick  in  das 
Urkundenwesen  antiker  Zeit  gestatten,  Einrichtungen,  denen 
die  mittelalterliche  Diplomatik,  besonders  die  der  Päpste,  so- 
viel zu  danken  hat :  Die  Archive,  Kanzleivermerke,  Register- 
bücher. 

Wir  haben  eine  große  Anzahl  von  Verweisen  bei  Schrift- 
stellern, die  von  den  Archiven  usw.  sprechen  ^^).  Doch  all  das 
wiegt  nicht  den  Verlust  auf,  den  wir  durch  die  Unauffindbar- 
keit dieser  Einrichtungen  erlitten. 

Die  Beglaubigung  der  Urkunden  kann  also  auch  dadurch 
nicht  geprüft  werden.  So  kommen  wir  auf  das  zurück ,  daß 
uns  eben  nur  innere  Merkmale  zur  Verfügung  stehen,  aus  deren 
Beurteilung  man  die  echten  von  den  unechten  Acta  scheiden 
kann.  Allerdings  kann  man  sagen ,  daß  die  inschriftlich  er- 
haltenen Urkunden  doch  eine  gewisse  Bürgschaft  für  beglau- 
bigte Abschriften  geben.  Denn  Stein  und  Erz  sind  das  eigent- 
liche Material,  worauf  die  antiken  Völker  ihre  Staatsverträge, 
Volksbeschlüsse  und  anderweitige  Urkunden  verzeichneten-"). 
Doch  man  kann  heute  nicht  genug  skeptisch  sein  und  muß 
vorsichtig  zu  Werke  gehen.  Anhaltspunkte  geben  immer  und 
immer  wieder  die  Formeln,  die  sowohl  in  lateinischen  als  grie- 
chischen Urkunden  der  Kaiserzeit  fast  gleiches  Gepräge  tra- 
gen ^^). 

>«)  Plinius  epist.  (ed.  Keil  1870)  IV,  6,  2;  V,  5,  5;  VII,  27,  14;  VIII 
5,  7;  adTraian.  65,  3.  Sueton:  Tib.  51,  Cal.  49,  Nero  47.  Vopiscus : 
Scr.  bist.  Aug.  ed.  Peter  2;  Prob.  2,  1.  Frontin,  de  aquis  c.  98,  99, 
ferner  CIL.  X  7852;  Bresslau,  Urkundenlehre  I  S.  91  f.  Derselbe:  Zeit- 
schr.  f.  Rechtsgesch.  (Savignystiftung)  rom.  Abt.  VI.  Memelsdorff  „De 
archivis  ..."  Halle  1880.  Wenn  städtische  Gemeinwesen  ihr  Archiv 
besaßen,  wie  aus  dem  Briefe  des  Augustus  IRA.  n.  33  =  Ditfc.  Syll. '' 
356  erhellt,  umwieviel  mehr  der  kaiserliche  Hofhalt.  Auch  Bibliothe- 
ken wurden  als  Archive  benützt.  Vgl.  Dziatzko  in  Pauly-Wissowa  11 
und  III  unter  Archiv  u.  Bibliotheken,  ferner  Clark,  The  care  of  books, 
Cambridge  1902.     Steinacker,  Wien.   Stadien  XXIV.    S.  301  ff. 

^"j  Die  wenigen  uns  sowohl  inschriftlich  als  handschriftlich  er- 
haltenen röm.  Kaiserurkunden  zeigen,  daß  „die  inschriftliche  Ueber- 
lieferung  .  .  Anspruch  auf  sachliche  und  förmliche  Vollständigkeit 
erhebt";  dagegen  ist  die  handschriftliche  Ueberlieferung  oft  sehr  dürftig. 
Faass  S.  254  ff. 

^*)  Dabei  ist   wohl  zu   merken,    daü    griechische    Urkunden   nicht 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  277 

Allerdings  sind  auch  im  Altertum  grobe  Inschriften-  und 
Urkundenfälschungen  vorgekommen.  Wir  haben  Beweise  schon 
aus  alter  ägyptischer  Zeit.  Ramses  IL  hat  seine  Bedeutung, 
die  er  lange  in  den  Augen  der  Geschichtsforscher  hatte,  ein- 
gebüßt, seitdem  man  nachweisen  kann,  daß  er  inschriftlich 
verherrlichte  Taten  seiner  Vorfahren  durch  Auskratzen  des 
Namens  des  tatsächlichen  Siegers  zu  seinen  eigenen  umschuf  ^^). 
So  mag  es  wohl  auch  bei  den  Griechen  gewesen  sein. 

In  der  republikanischen  Zeit  Roms  achtete  man  wenig  auf 
Urkunden-^),  erst  in  der  Kaisei'zeit  begann  man  Fälschungen 
strenge  zu  ahnden.  Man  erfand  damals  zuerst  —  so  erzählt 
Sueton^*)  —  das  Sicherheitsmittel  gegen  Urkundenfälscher,  in- 
dem man  die  Tafeln  mit  Löchern  versah  und  durch  diese  einen 
dreifachen  Faden  zog  und  dann  das  Siegel  aufsetzte  '^). 

Es  kann  endlich  auch  bei  Inschriften  der  Fall  eintreten, 
daß  der  Steinmetz  oder  Graveur  absichtlich,  sei  es  aus  Bequem- 
lichkeit, sei  es  aus  irgend  einem  anderen  guten  Grunde  (Ma- 
terialmangel) gekürzt  habe.  Ein  gewissenhafter  Kopist  setzt 
allfällige  Auslassungen  nachträglich  an  den  Rand  oder  in  klei- 
nerer Schrift  in  den  Text^'^).  Nicht  selten  kommt  es  aber 
auch  vor,  daß  man  alles  überflüssig  Erscheinende  wegläßt  oder 
kürzt'").  Doch  haben  wir,  wie  wir  noch  sehen  werden,  einige 
vollständig  erhaltene,  zweifellos  echte  Kaiserurkunden  auf  Stein, 
die  uns  Aufschluß  über  Formeln  und  Stützpunkte  geben,  ge- 
kürzte oder  heutzutage  verstümmelte  Inschriften  wiederherzu- 
stellen. Denn  es  darf  nicht  außeracht  gelassen  werden ,  daß 
die  Herstellung  dieser  Inschriften  einer  behördlichen  Kontrolle 
unterlag,  daß  das  Original  im  Archiv  der  Stadt  oder  der  Ge- 
meinde aufbewahrt  wurde,  endlich  daß  die  Stein-  und  Metall- 


immer  lateinischen  Text  zur  Grundlage  haben  müssen.  Viereck,  Berliner 
philol.  Wochenschrift  li^OS,  Sp.  145. 

^^)  Vgl.  V.  Bissing,   Gesch.  Aegyptens  S.  64. 

23)  Peter,  Gesch.  Literatur  I  S.  '238  f. 

'■^■*)  Sueton  Nero  17.  Adversus  falsarios  tunc  primum  repertum,  ne 
tabulae  nisi  pertusae  ac  ter   lino  per  foramina  traiecto   obsignarentur. 

'-'^)  Plinius  ersucht  Traian,  um  Abschriften  von  Urkunden,  die  im 
kaiserlichen  Archive  liegen,  da  die  in  seinen  Händen  befindlichen  ihm 
verdächtig  erscheinen:  ep.  65,  3. 

-®)  Ein  gutes  Beispiel  hiefür  IRA.  519  (Fränkel,  Inschriften  v. 
Perg.  VIIl/2  n.  274). 

2')  Vgl.  IRA.  284  =  CIGr.  III  add.  3831  a'«. 


278  Odilo    11  aber  leitner, 

kopien  öffentlich  aufgestellt,  jederzeit  mit  den  Originalen  ver- 
glichen werden  konnten. 

Bezüglich  des  Schriftcharakters  kann  man  bei  einigen  In- 
schriften —  sowohl  ans  der  Schrift,  wie  auch  aus  stehenden 
Kürzungen  heraus  —  entnehmen,  ob  sie  einem  Steinmetz  zu- 
zuschreiben sind  oder  mehreren.  Auf  den  Inschriften  begegnet 
uns  meist  der  Lapidarstil -^),  während  Papyri  meist  die  alt- 
römische, beziehungsweise  griechische  Kursive  zeigen,  und  zwar 
meistens  die  von  den  Römern  hauptsächlich  angewendete  Maius- 
kelkursive-^). 

II.  Kapitel. 

Hauptgattungen  der  acta  Imperator  um 

R  0  m  a  n  o  r  u  m. 

Die  acta  imperatorum  können  nach  verschiedenen  Gesichts- 
punkten eingeteilt  werden.  Wir  teilen  sie  nach  dem  Inhalte 
ein :  1)  in  P  r  i  v  a  t  b  r  i  e  f  e  ,  die  sich  auf  das  kaiserliche  Pri- 
vat- und  Familienleben  beziehen.  2)  in  öffentliche  Kund- 
gebungen der  Kaiser.  Die  Privatbriefe  sind  uns  meistens 
durch  die  Schriftsteller  erhalten,  die  öffentlichen  Kundgebungen 
aber  in  den  im  vorhergehenden  Kapitel  angeführten  4  Ueber- 
lieferungsarten.  Die  öffentlichen  Kundgebungen  der  Kaiser 
nennt  man  constitutiones,  dazu  treten  noch  die  niandata,  leges 
datae  und  die  in  zwei  Hauptformen  uns  überlieferten  Militär- 
privilegien. 

Die  zweite  Hauptgattung,  die  Constitutione s  lassen  sich 
inhaltlich  und  formell  in  verschiedenen  Gruppen  zusammen- 
fassen. 

Bevor  wir  aber  darauf  ausgehen,  die  Urkunden  inhaltlich, 
d.  h.  nach  Rechtsgrundsätzen  zu  gliedern,  ist  es  notwendig, 
die  Rechtsgültigkeit  der  kaiserlichen  constitidiones  kurz  zu  be- 
leuchten. 

Die  Worte  der  Rechtsgelehrten  Gaius  und  Ulpian  ^°)  geben 
uns  klaren  Aufschluß  über  die  rechtliche  Stellung  der  consti- 
tutiones:    Der    Kaiser    empfängt   selbst    durch    das  Gesetz    die 

28)  Larfeld,  Griech.  Epigraphik  1  S.  225  ff.  u.  234  ff. 

29)  Bresslau,  ürkundeniehre  I  S.  90(3. 

^°)  Gaius,  inst.  comm.  I,  2  §  5.  Ulpian  libro  primo  inst.  =  Dig.  I. 
4,  1,  1. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  279 

Herrschaft,  daraus  erwächst  auch  für  seine  Festsetzungen  Ge- 
setzeskraft und  es  erhellt,  daß  sie  vom  Augenblicke  der  Ver- 
öffentlichung rechtlich  in  Kraft  treten.  Die  Constitutionen  er- 
strecken sich  „auf  die  Rechtsanwendung  und  das  öffentliche 
Recht"  ^^).  Ulpian  gibt  aber  noch  eine  weitere  Definition  für 
die  Rechtsverbindlichkeit,  indem  er  sagt,  die  Constitutionen 
gelten  an  allen  Orten  ■'-) ;  folglich  überwiegt  die  Constltutio 
lokales  Recht  und  kann  es  aufheben.  Für  die  Rechtsgültig- 
keit der  Festsetzungen  des  Augustus  und  seiner  Nachfolger 
nahm  man  eine  eigene  Klausel  in  das  Gesetz  über  das  Impe- 
rium auf  ^^).  Aus  dieser  Rechtsstellung  der  kaiserlichen  Con- 
stitutiones  erklärt  es  sich  auch,  daß  in  ihnen  die  bedeutend- 
sten Rechtsquellen  der  Kaiserzeit  gesehen  wurden  ^*)  und  in 
ihnen  bewegt  sich  „die  eigentliche  Regierungstätigkeit  des 
Kaisers"  ^^). 

Die  Einteilung,  die  die  beiden  erwähnten  Rechtsgelehrten 
geben ,  ist  nach  rechtlichen  Grundsätzen  getroffen  worden. 
Gaius  nennt  Dekrete,  Edikte,  Epistulae ;  Ulpian  Epistulae  und 
Subscriptiones,  Dekrete,  Orationes  (Edikte).  Ihnen  gegenüber 
steht  Suetons  Einteilung  in  Epistulae,  Orationes  und  Edikte'^). 

Betrachten  wir  nun  die  Rechtstellung  der  einzelnen  Haupt- 
gattungeu. 

Die  wichtigsten  Entscheidungen  öffentlicher  Natur  traf 
der  Kaiser  durch  die  Edikte.  Die  Rechtsgültigkeit  bezieht 
sich  entweder  auf  das  ganze  Reich,  doch  können  auch  nur 
kleinere  Kreise  in  Betracht  kommen^").  Die  Rechtsgültigkeit 
der  Edikte  erstreckte  sich  meist  auf  die  Regierungsdauer    des 


")  Mitteis,  Reichsrecht  S.  120. 

"-')  Ulpian  Dig.  XLVII,  r2,  S,  5  :  , et  oportet  imperialia  statuta  suam 
vim  obtinere  et  in  omni  loco  valere". 

33)  Lex  de  imperio.  Vgl.  Kariowa,  Rom.  RRG.  I.  S.  498,  unter  10. 
Die  Klausel  in  der  lex  de  imperio  Vespasiani  lautet:  Uti  quaecumque 
ex  usu  reipublicae  maiestate  divinarum  humanarum  publicarum  pri- 
\atarumque  rerum  esse  censebit,  ei  agere  facere  ius  potestasque  sit 
ita,  uti  divo  Aug.  Tiberioque  Julio  Caesari  Aug.,  Tiberioque  Claudio 
Caesari  Aug.  Gennanico  fuit  (nach  Kariowa  a.  a.  0.) 

3*)  Kariowa  a.  a.  0.  S.  646  f. 

35)  Mommsen,  StR.  II  ^  S.  86S,  Jörs  in  Pauly-Wiss.  RE.  IV/i  c.  1 106 
bis  1109. 

38)  Sueton,  Tit.  6;  Dom.  20.  Ueber  Sueton  siehe  Peter,  Gesch. 
Lit.  I.  S.  353. 

")  Kariowa  a.  a.  0.    S.  646  f. 


280  Odilo    Haberleitner, 

Herrschers  ^'^).  Bestätigungen  durch  den  Naclifolger  kamen 
öfters  vor^^).  Durch  Veröffentlichung  eines  Ediktes  macht 
der  Kaiser  Gebrauch  von  dem  „ins  edicendi"**^)  und  er  schließt 
sich  häufig  an  hergebrachte  Volks-  und  Stadtrechte  an^^). 

Die  Edikte  sind  an  die  Gesamtheit  der  Untertanen  gerich- 
tet und  die  Formel:  „Imperator  .  .  .  dicit"  zeigt,  daß  es  sich 
um  einen  strikten  Befehl  handelt. 

Eine  Abart  des  Edikts  ist  die  Oratio.  Hier  spricht  der 
Kaiser  zum  Senat.  Die  Oratio  wird  entweder  vom  Kaiser 
selbst  oder  von  einem  dazu  Beauftragten^-)  abgelesen,  enthält 
Berichte  und  Anträge,  selten  Befehle.  Doch  ist  es  natürlich 
im  Belieben  des  Kaisers  gelegen,  per  orationem  Befehle  an 
den  Senat  gelangen  zu  lassen.  Die  Oratio  wurde  in  die  acta 
senatus^  von  hier  aus  in  die  acta  nrhis  aufgenommen  und  so 
veröffentlicht'*^).  Eine  Zwischenstellung  zwischen  Edikt  und 
Oratio  nimmt  die  A  d  1  o  c  u  t  i  o  ein.  Es  sind  dies  Ansprachen 
an  das  Heer  (Armeebefehle)  u.  dgl.**). 

Diese  drei  Arten,  Edikt,  oratio  und  adlocutio  sind  unbe- 
dingt für  die  Oeffentlichkeit  bestimmt.  Nicht  unbedingt  offi- 
ziell Verlautbarte  constitutiones  sind  dagegen  die  Epistulae 
und  Subscriptiones,  die  Rescripte  und  die  D  e- 
c  r  e  t  a. 

Wenden  wir  uns  der  wichtigsten  Gattung  aller  Verfü- 
gungen der  Kaiser  zu :  Der  E  p  i  s  t  u  1  a  ,  dem  Briefe.  Für 
.,Brief"  haben  wir  folgende  Ausdrücke :  griech.  ypd\x\iO!.~oc,  SeX- 
xo?,  ceXtiov,  sKLaioX-/],  lat.  litterae,  charta,  tabula,  libellus,  co- 
dicillus,  epistula  ■*^). 

^®)  Auch  konnte  das  Edikt  unbestimmte  Gültigkeit  haben  z.  J3. 
IRÄ.  80  =  CIL.  X  4842 :  De  aquaeductu  Venafrano. 

")  Kariowa  RRG.  I  S.  64('.  f.    Gr.  Pap.  Brit.  Mus.  III.  p.  217  n.  1178. 

*")  Krueger,   Gesch.  der  Quellen   in    Bindings    syst.  Hdb.  I/2  S.  93- 

■'^j  Mitteis  Reichsrecht  S.   12.     Besonders  in  den  östl.  Provinzen. 

*^)  Gewöhnlich  tat  es  der  Quaestor;  tür  Vespasian  las  Titus  die  ora- 
tiones  im  Senate  ab.     Sueton:  Tit.  c.  6. 

*^)  Peter,  Gesch.  Literatur  1  S.  357.  Aus  den  acta  senatus  hat 
auch  Tacitus  wahrscheinlich  Kenntnis  von  der  oratio  Claudii  de  iure 
hon.  Gallis  dando.  Vgl.  Stein,  die  Protokolle  des  röm.  Senats  und  ihre 
Bedeutung  für  Tacitus.  R.  Programm  Prag  1904.  S.  13  n.  8.  Vgl. 
Nipperdey's  Tacitus-Ausgabe  u.  CIL.  XIII  l(3tiS  =  IRA.  236. 

**)  Vgl.  Hadrians  Adlocutio  Lambaesitana  IRA.  546  =  CIL.  VlII/i 
n.  2532. 

^")  Dziatzko  in  Pauly-Wissowa  KE.  III/i,  c.  880  und  Brassloft'  in 
Pauly-Wissowa  RE.  VI/i  c.  204—210  unter:  epistula. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  281 

„Briefe"  sind  die  in  Briefform  ergangenen  Erlässe  der 
Kaiser,  und  zwar  an  eine  Person  oder  Gemeinde  oder  einen 
Volksstamm  gerichtet,  daher  nicht  allgemein  gültig;  in  den 
Briefen  finden  wir  meist  Anlehnung  an  hergebrachtes  Recht. 
Die  Form  der  Briefe  ist  gänzlich  verschieden  von  der  der 
Edikte.  „Auch  für  den  amtlichen  Brief  war  strenge  Kunst- 
mäßigkeit der  Form  Regel"  ^'''),  wie  für  die  literarische  Epistel. 
Wenn  sie  trotzdem  Plinius  als  „inliteratissimas  litteras^  ^'') 
bezeichnet,  so  will  er  sie  wohl  nur  von  den  Privat-  und  lite- 
rarischen Briefen  scheiden.  Daß  man  auf  gute  stilistische 
Form  und  auch  auf  rhetorische  Ausschmückung  der  Briefe 
großes  Gewicht  legte ,  beweisen  die  feingebildeten  Sekretäre 
{cib  episttdis),  die  die  Kaiser  in  ihre  Kanzlei  und  damit  zu 
einem  der  einflußreichsten  Haus-,  später  Staatsämter  beriefen*^). 
Außer  der  rhetorisch-stilistischen  Ausschmückung  der  amtlichen 
Briefe  trifft  man  hier  auf  ein  entwickeltes  Formelwesen,  das 
allmählich  zur  Schablone  und  traditionell  in  der  Kanzlei 
wird  ^9). 

Die  häufigste  Form  des  Briefes  ist  das  Reskript.  Dar- 
unter verstehen  wir  kurzweg  ein  Antwortschreiben,  das  haupt- 
sächlich Rechtsstreitigkeiten  und  Rechtsentscheidungen  für  be- 
sondere Fälle  zum  Inhalt  hat.  Während  wir  aus  vorhadria- 
nischer  Zeit  nur  wenig  wirkliche  Reskripte  besitzen  —  als 
Reskripte  könnte  man  ja  auch  Dankschreiben,  Berichte  über 
die  am  kaiserlichen  Hofe  anlangenden  Gesandtschaften  auf- 
fassen — ,  so  erlangen  sie  seit  Hadrian  größere  Bedeutung^"). 
Die  Reskripte  werden  in  mehreren  Exemplaren  ausgefertigt 
und  haben  Gültigkeit,  wenn  sie  in  den  Archiven  der  Behörden 
—  natürlich  nach  vorhergegangener  Publikation  —  niederge- 
legt   wurden  ^^).     Die  Gesetzessammlungen    bieten    eine    große 

")  Kukula  i.  d.  Einleitung  zu  den  Briefen  des  jüngeren  Plinius 
S.  XXIII.     Peter,  der  Brief  S.'l9S. 

")  Plinius  ep.  (ed.  Keil)  I,  10,  9. 

«)  Interessantes  Material  bietet  Peter,  Gesch.  Lit.  I  S.  329  ff.  im 
Kapitel  „über  die  kaiserlichen  Kanzleien  und  literar.  Hausämter '  vgl. 
dazu:  Rostowzew,  Paulv-WissowaRE.  VI/i,  c.  210—215  unter:  ah  cpistuUs. 
Hirschfeld,  Yeiw.  b.^  318  ff.  *«)  Kukula  a.  a.  0.  S.  XXIV. 

=0)  Kariowa  RKG.  I  S.  630  u.  650.  Neue  Heidelbg.  Jahrbücher  VI 
(1896)  S.  211.     Vgl.  oben  Anm.  9. 

^1)  ebders.  in  N.  Heidelbg.  Jahrb.  a.  a.  0.  daselbst  Verweis  auf 
Mommsen:  Kgl.  Sachs.  Gesellsch.  der  Wissensch.  phil.  bist.  Klasse  III 
(1851)  S.  379. 


282  Odilo    Haberleitner, 

Meuge  von  Reskripten,  die  nunmehr  seit  der  Redaktion  durch 
Justinian  —  sofern  sie  nicht  noch  anderweitig  z.  B.  in  erhal- 
tenen Schriften  der  Rechtsgelehrten  aufgezeichnet  und  daselbst 
schon  gekürzt  waren  —  in  ihrer  großen  Mehrzahl  als  Regesten 
auf  uns  gekommen  sind.  Seit  der  Ausgabe  des  Edidum  per- 
petuum  unter  Hadrian  werden  die  Reskripte  auch  „über  die 
Regierungszeit  der  Kaiser  hinaus  verbindlich"^-). 

Eine  Abart  der  Epistula  bzw.  des  Reskriptes  sind  die 
Subscriptiones:  Erledigungen  der  Kaiser,  auf  die  ein- 
gesandten Bittschriften  selbst  gesetzt  ^^).  Diese  Subscriptiones 
werden  ebenso  wie  die  heutigen  amtlichen  Entscheidungen  nur 
ganz  kurz  gefaßt  worden  sein. 

Eine  weitere  Art  kaiserlicher  Verfügungen  sind  die  D  e- 
c  r  e  t  a  (interlocutiones).  Sie  gehören  zu  den  Constitutiones 
und  werden  getroffen,  wenn  der  Kaiser  persönlich  zu  Gericht 
sitzt,  oder  eine  Rechtsentscheidung  „im  Wege  der  Appellation 
an  den  Kaiser  gelangte".  Interlocutiones  sind  Zwischen- 
verfügungen, die  Rechtsfälle  betreffen,  die  vor  dem  Endurteil 
vorgebracht  wurden.  Auch  diese  sind  meist  rechtsverbind- 
lich ^^). 

Instruktionen  für  die  Statthalter  und  untergeordneten  Be- 
amten sind  in  den  man  data  principis  erhalten  ^''). 

^2)  Schanz,  Rom.  Liter.  G.  III 2  S.  193.  Vgl.  auch  Kariowa  RRG.  I 
S.  630. 

5^)  Kariowa  a.  a.  0.  S.  650.  Ueber  rescriptum  u.  subscriptio 
vgl.  noch  Brassloff,  Pauly-W.  RE.  VI/i  c.  204—210.  Faass  lehnt 
die  Bezeichnung  subscriptio  für  eine  Abart  der  kaiserlichen  Briefe 
ab  (S.  227  ff.;.  Subscriptio  sei  nicht  die  Entscheidung  des  Kaisers 
selbst,  sondern  nur  die  Unterschrift  desselben.  Die  Gründe,  die  Faass 
für  die  Ablehnung  ani^ibt,  sind  m.  E.  nicht  vollständig  zutreffend. 
Demgegenüber  halte  ich  daran  fest,  daß  die  Kanzlei  die  Genehmigungs- 
formel oder  den  abschlägigen  Bescheid  auf  den  libellus  setzt,  worauf 
der  Kaiser  diese  Kanzleierledigung  eigenhändig  unterfertigt.  Die  ganze 
Erledigung,  nicht  nur  die  Unterschrift  allein,  ist  dann  als  subscriptio 
zu  bezeichnen,  und  kann  mit  Fug  und  Recht  als  kaiserliches  Actum 
angesehen  werden. 

"*)  Hesky  in  P.W.  RE.  IV/,  c.  2290  f.  und  Kariowa  RRG.  I  S.  6-19. 
Wenn  Monniisen  Staatsrecht  II  ^  S.  870  sagt,  diese  zwei  Gruppen,  näm- 
lich epistulae  und  subscri])tiones  einerseits,  decreta  und  interlocutiones 
andererseits  seien  einer  strengen  Scheidung  weder  bedürftig  noch  fähig, 
denn  es  mache  keinen  rechtlichen  Unterschied,  in  welcher  äußeren 
Gestalt  die  kaiserliche  Willensmeinung  sich  kundgebe,  so  gilt  der  erste 
Teil:  , bedürftig"  nur  für  die  rechtliche  Seite.  Formell  können  sie, 
wie  wir  noch  sehen  werden,  ganz  gut  geschieden  werden. 

^°)  Krüger,    Quellen,  in  Bindings  Hdb.  I/>  S.  99.     Kariowa  RRG.  I 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  283 

In  keine  der  bisher  angeführten  Arten  von  kaiserlichen 
Verfügungen  lassen  sich  die  privilegia  militum  de 
civitate  et  conubio  aufnehmen.  Diese  Privilegien  schließen 
sich  an  an  die  leges  datae,  welche  Form  von  den  Kaisern 
meistens  bei  Verleihung  von  Stadt-  und  Bürgerrechten  ver- 
wendet wurde  ^'').  Für  die  privilegia  militum  de  c.  et  con. 
kennen  wir  zwei  Fassungen :  die  eine  findet  sich  iu  Privilegien 
solcher  Veteranen,  die  bereits  das  röm.  Bürgerrecht  besitzen 
und  nur  das  conubium  mit  latinischen  oder  fremden  Frauen 
erhalten :  die  zweite  Form  gilt  für  alle  milites  peregrini,  die 
durch  die  Tabula  sowohl  Bürgerrecht  als  conubium  erhalten. 
Fassen  wir  kurz  die  einzelnen  Arten  der  Acta  imperato- 
rum Romanorum  zusammen,  so  erhalten  wir  folgendes  Schema  : 
I.  Privatbriefe 
c  [  II.  a)  Edikte,  b)  Orationes,  c)  Adlocutiones 
•^  j  III.  a)  Epistulae  (öffentl.  Natur),  b)  Reskripte,  c)  Sub- 
^  I  scriptiones 

s     IV.  a)  Dekreta,  b)  Interlocutiones 
^      V.  Mandata 
VI.  Leges  datae 

VII.  Privilegia  militum    veteranorumque    de  civitate  et 
conubio. 

IIT.  Kapitel. 
Veröffentlichung  und  Sammlungen  der  acta. 

Edikte,  Reden  und  Ansprachen  werden  meist  auf  kürzere 
oder  längere  Zeit  öffentlich  kundgetan ,  in  einer  Stadt  allein, 
z.  B.  am  Ausstellungsorte,  oder  an  dem  vom  Edikte  betroffe- 
nen Orten  ^').    Es  werden  die  zuständigen  Behörden  aufgefor- 

S.  652  bezweifelt  —  neben  anderen  —  ob  die  mandata  zu  den  con- 
stitutiones  zu  rechnen  seien  oder  nicht.  Er  führt  die  Literatur  über 
die  ganze  Streitfrage  an.  Die  mandata  gehören  m.  E.  nach  nicht  zu 
den  constitutiones,  sondern  überhaujit  zu  den  acta. 

=6)  Kariowa  RRa.  I  S.  624.  Vgl.  IRA.  387  =  CIL.  II  1963 :  exve 
hac  lege  edicto  .  .  .  (bietet  auch  ein  Beispiel  für  Bestätigung  des  Ge- 
setzes durch  Vespasians  Söhne  und  Nachfolger). 

5^)  Z.  B.  das  Edikt  des  Claudius  über  die  Juden:  IRA.  210  = 
Joseph.  Antiq.  XIX  286—291  (Naber)  soll  durch  30  Tage  in  allen  Stadt- 
gemeinden Italiens  und  auL-erhalb  desselben,  von  den  Magistraten  und 
verbündeten  Fürsten  publiziert  werden :  ^touxö  [iou  zb  S'.dxaYiia  Toug 
äp}^ov-as  "^ö''  köXswv  xal  tcBv  xoXwviwv  xai   [jiouvi/.iTricüv  tcöv  iv  x'^  'IxaÄiof 


284  Odilo    Haber  leitner, 

dert,  die  Edikte  zu  veröffentliclien,  auch  das  Material  wird  an- 
gegeben, in  welches  die  Urkunde  eingeschrieben  werden  soll  ^^). 

Von  veröffentlichten  Orationes  besitzen  wir  —  um  nur  ein 
Beispiel  zu  erwähnen  —  die  oratio  Claiidii  de  iure  honorum 
Gallis  dando^^),  von  adlocutiones  u.  a.  die  Anspraclie  Ua- 
drians  an  die  Soldaten  zu  Lambaesis  ^'^) . 

Daß  auch  Briefe  und  Reskripte  öffentlich  aufgestellt  wur- 
den, beweisen  die  zahlreichen  Fände  von  solchen  Verfügungen 
auf  Marmor.  Allerdings  liegt  das  Publizieren  der  Briefe  we- 
niger im  Interesse  des  Kaisers  als  in  dem  der  Empfänger. 
Subscriptiones,  Dekrete  und  Mandate  wurden  m.  E.  kaum  der- 
gestalt veröffentlicht,  daß  man  daran  ging,  sie  in  Stein  oder 
Erz  zu  schreiben ,  da  gerade  diese  Arten  der  Acta  mehr  das 
Einzelindividuum  betreffen  als  die  Gesamtheit. 

Die  leges  datae  wurden  ähnlich  wie  die  Comitialgesetze 
in  Kupfertafeln  eingegraben  und  an  Öffentlichen  Gebäuden  be- 
festigt«!). 

Die  Militärprivilegien,  wie  sie  uns  überliefert  sind,  bringen 
am  Schlüsse  vor  der  Zeugenreihe  folgende  Formel: 

Descriptum  et  recognitum  ex  tabula  aenea^  qiiae  fixa  est 
Bomae  in ^^), 

Die  Kanzleiausfertigungen  waren  also  zu  Rom  öffentlich 
aufgestellt,  die  uns  überlieferten  Privilegien  sind  beglaubigte 
Abschriften  {descriptum  et  recognitum).  Diese  Tabulae  bringen 
oft  auch,  um  das  Aufsuchen  zu  erleichtern,  neben  Aufstellungs- 
ort auch  Nummer,  Kolumne  oder  Pagina  und  Kapitel  ^^). 

xai  Tcüv  ixTÖs,    ßaaiAstg  xe   ^ai   ouväa-cag h-^-^pöiii'XQ^'xi    ßo'JXojJia!., 

iy.xsijisvöv  x£  oOy.  sAat-cov  TjiJLeoöv  xp'.äxovxa.  .  /!/".  Daß  das  Edikt  des 
Claudius  De  civit.  Anaun.  IRA.  220  =  CIL.  V  50^)0  öffentlich  aufge- 
stellt war,  beweisen  die  Worte:  propositum  fuit  Bais  in  praetorio. 

=8)  Cod.  Theod.  II  27  1,  6;  XIV  4,  4. 

°8)  IRA.  236  =  CIL.  XIII  166S;  vgl.  Cassius  Dio  LX,  10,  2,  für 
Aug.  und  Tiber.     LXI,  3,  1  für  Nero. 

«»)  IRA.  54G  =  CIL.  VIII/i  2-532.  Vgl.  dazu  S.  Dehner.  Hadriani 
reliquiae  v.  I.  Diss.  Bonn.  1883.  A.  Müller,  Manöverkritik;  Kaiser  Ha- 
drians  Leipzig  1900.  Heron  de  Villefosse,  Festschr.  f.  Hirschfeld  Berlin 
1903  S.  192  ff. 

«0  IRA.  387  =  CIL.  II  1968  die  tabulae  .Malac.  Kariowa  RRG.  I 
S.  624. 

'-')  Der  Ort  ist  anfan^'s  verschieden.  Seit  Domitian:  in  muro  post 
templuDi  divi  Augusti  ad  Minervam. 

«3)  IRA.  292  =  CIL.  III  S.  I  S.  19:.8.  Vgl.  Faass  unter  offizielle 
Kopien  S.  20iJ— 219. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  285 

Es  kommt  nicht  selten  vor,  daß  man  gewisse  Verfügungen 
der  Kaiser  anderen  Urkunden,  z,  B.  Volksbeschlüssen  etc.  an- 
hängte. So  haben  wir  uns  zu  erklären  die  am  Heroon  zu 
Rhodiapolis  erhaltenen  Opramoasurkunden  des  Kaisers  Anto- 
ninus  Pius  ''^).  Besonders  bei  Edikten  treffen  wir  dies  häufig 
an  und  zwar  sind  sie  entweder  magistratlichen  Edikten  vor- 
ausgeschickt: antelata  cdido  oder  angehängt  proposita  suh 
edido. 

Sammlungen  von  kaiserlichen  Acta  sind  in  der  verschie- 
densten Weise  im  Altei'tum  angelegt  worden.  Abgesehen  von 
den  Acta  in  Archiven  und  Bibliotheken  *^^)  gab  es  zu  Rom  eine 
Menge  von  öffentlichen  Plätzen ,  woselbst  man  gewisse  Acta  auf- 
stellte. So  verbrannten  bei  der  Einäscherung  desKapitols  im  J.  69 
n.  Chr.  3000  Urkunden:  iustrnmentum  imperii  pulcherrimum 
ac  vektstissimum ,  und  Vespasian  suchte  durch  gute  Kopien, 
die  er  in  allen  Teilen  des  Reiches  sammeln  ließ,  den  Schaden 
wieder  gut  zumachen®*^).  Ferner  besaß  man  commentarii  epi- 
stidarum  und  der  Lihelli  und  Reskripte '''). 

IV.  Kapitel. 
Innere  Merkmale  der  acta  imperatorum. 

Sind  für  die  Urkunden  der  römischen  Kaiser  wenige  oder 
gar  keine  äußeren  Merkmale  vorhanden,  die  die  Echtheit  oder 
Unechtheit  erweisen  sollen,  so  bleibt  nur  ein  Ausweg,  um  die 
Urkunden  zu  prüfen ,  übrig :  Die  inneren  Merkmale.  Diese 
geben  aber  auch  noch  weitere  Vergleichungspvinkte.  Sie  lassen 
oft  sehr  deutlich  erkennen,  inwieweit  in  den  Kaiserurkunden 
Roms  eine  Herübernahme  fremder  Einflüsse  stattgefunden  habe, 
was  die  kaiserliche  Kanzlei  an  dem  Hergebrachten  veränderte, 
was  endlich  sie  dem  Mittelalter  übermittelte. 

Das  formale  Gepräge  der  einzelnen  Urkundenarten  soll 
nun  in  Kürze  hier  festgestellt  werden  *^^). 

**)  Opramoas,  Inschriften  vom  Heroon  zu  Rhodiapolis  hsf.  von 
Heberdey.  Wien  1897;   u.  a.  noch  IRA.  33  =  IG.  XII/s  n.  174.  ^ 

®5)  Die  besonderer  Behandlung  bedürfen. 

««)  Sueton  Vesp.  c.  8.     Peter,  Gesch.  Lit.  I.  218  f. 

«')  Vgl.  V.  Premerstein  in  Pauly-Wiss.  RE.  IV/i  c.  739  f. 

"*)  Es  werden  zunächst  nur  die  inschriftlich  und  auf  Papyren  er- 
haltenen Edikte  und  öfFentl.  Epistulae  behandelt.  Die  übrigen  Arten 
der  Constit.  und  Acta   erhalten    im  II.  Teile  eine  genaue  Bebandlung. 


286  Odilo    Haberleitner, 

Die  Privatbriefe  der  Kaiser,  die  uns  meist  schriftstelle- 
risch überliefert  sind,  haben  unter  der  Hand  der  Autoren  der- 
art gelitten  ''^) ,  daß  man  ihre  Formeln  erst  dann  erkennen 
kann ,  wenn  man  des  Schriftstellers  stilistische  Eigentümlich- 
keiten abstrahiert  hat.  Vorerst  ist  es  aber  notwendig,  die 
Formeln  in  den  zwei  wichtigsten  Gattungen  der  kaiserlichen 
Constitutiones  festzustellen ,  in  dem  Edikte  und  dem  öffent- 
lichen Brief. 

L   Das   Edikt. 

Das  Edikt  ist  vornehmlich  charakterisiert  durch  die  For- 
mel: Imperator  ....  dicit,  Auxoxpdxwp  .  .  .  XeyEc,  worauf  der 
meist  mit  cum  eingeleitete  Tenor  des  Ediktes  folgt  '"). 

Die  Einleitung  des  Ediktes  durch  dicit  —  Aeyei  scheint 
für  diese  Form  von  Kundmachungen  erst  bei  den  Römern  auf- 
gekommen zu  sein.  Wohl  kennt  man  aus  viel  früherer  Zeit 
schon  solche  Einleitungen,  wie  z.  B.  das  Schreiben  des  Darius 
an  Gadatas  mit  den  Worten  beginnt:  BaatXsu?  ßaatXswv  Aa- 
peios  6  TaxaaTieü)  raoaiat  Sou^^w:  taoe  Xeyec:  .  .  . '^).  Dies  ist 
aber  ein  Brief,  kein  Edikt  des  Großkönigs.  Erstens  wird  die 
Adresse  wie  zweitens  das  laoe  schon  das  Kennzeichen  für  den 
Brief  sein.  Auch  andere  Briefformeln  kommen  daselbst  noch 
vor'^).  Wie  die  Briefe  der  hellenistischen  Könige  die  Vor- 
bilder und  Typen  gewesen  sind,  nach  denen  die  kaiserliche 
Kanzlei  ihre  Briefformeln  ausführte,  so  bildet  dieser  Brief  des 
Darius  gleichsam  eine  Brücke  von  dem  Briefwesen  der  Perser 
zu  dem  der  Griechen.  Auch  er  zeigt  uns,  daß  es  orientalischer 
Gebrauch  war,  den  Brief  zu  beginnen  mit:  ^Folgendes  sagt  er 
dir  ....  xaoe  Xeyet:  .  .  .  ''^). 

Das  Hysi-dicit    wird    von    der  Kaiserzeit    an  ausschließ- 


Ebenso  werden  daselbi?t  auch  die  von  Schriftstellern  und  den  Gesetzes- 
sammlungen überlieferten  Acta  besprochen.  Grund  für  die  Verschiebung 
liegt  darin,  daß  die  Sammlung  der  Acta  nocli  nicht  vorliegt. 

^^)  Abgesehen  von  den  Traian-Plinius-Briefen. 

">)  IRA.  220  =  CIL.  V  5050.     IKA.  240  =  CIL.  III  S.  7251. 

'>)  Ditt.  Syll.  -  I  n.  2. 

'-)  Könnte  nicht  die  spätere  Zeit  —  da  die  uns  vorliegende  Fassung 
des  Briefes  aus  dem  Anfang  unserer  Zeitrechnung  stammt  —  (Ditt. 
Syll.  a.  a.  0.  Anm.)  —  ihrem  Geschmacke  und  ihren  Formeln  zuliebe 
das  Schreiben  geändert  haben?  Vgl.  Dittenberger  Hermes  XXXI.  S.  643 ff. 

")  Vgl.  Gerhards  Abhandlung  über  die  „Anfangsformel  des  griech. 
Briefes"  SA.  S.  29  ff'.  (Philologus  1905). 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  287 

lieh  in  den  Edikten  verwendet.  Auch  Amtspersonen  und  Statt- 
halter edizieren  auf  diese  Weise'*).  Aus  der  republikanischen 
Zeit  sind  Edikte  erhalten ,  die  formell  ganz  anders  gestaltet 
sind^^). 

Von  den  Edikten  des  Augustus  ist  das  über  den  aquae- 
ductus  zu  Venafrum  "")  eingeleitet  mit:  Edidum  hu  [p.  Cae- 
saris  Augusti]..  Dann  fehlen  6  Zeilen.  Dies  führt  zur  An- 
nahme, daß  die  angegebenen,  einleitenden  Worte  nur  den  „Kopf" 
des  Ediktes  bildeten,  während  die  übliche  Imperator-  .  .  dicit- 
Formel  und  die  Datierung  in  einigen  von  den  6  Zeilen  ge- 
standen haben.  Ein  ähnliches  Beispiel  gibt  uns  das  bekannte 
Edikt  des  Claudius  über  die  Anauner "').  Auch  hier  ist  die 
Datierung  als  IJeberschrift  mit  dem  Vermerke:  edidum  Ti 
Claudii  Caesaris  Aug.   Germ.  .  .  propositum  fmt^  gegeben. 

Die  griechische  Form  Xsys'.  findet  sich  außer  bei  den 
Edikten  des  Claudius  IRA.  225  =  IG  IV  908  und  dem  Neros 
IRA.  279  =  IG  VII  2713  noch  bei  den  von  Flavius  Josephus 
uns  überlieferten  Edikten  des  Augustus  (Antiq.  XVI  6,  2 
(162—166,  Naber),  des  Claudias  (Ant.  XIX  5,2  u.  5,3  (280—86, 
287—92).  Die  Echtheit  der  überlieferten  Edikte  und  ihre  For- 
meln bei  Josephus  zu  untersuchen,  ist  eine  Aufgabe,  der  wir 
später  gerecht  zu  werden  suchen. 

Auf  das  dicit-liyei  folgt  sofort  der  Sachverhalt.  Claudius 
liebt  es,  geschichtliche  Reminiszenzen  dem  Kern  des  Ediktes 
einzuflechten. 

Ständige  Formeln  innerhalb  des  Textes  der  einzelnen  Edikte 
nachzuweisen,  ist  bisher  noch  nicht  gelungen.  Ursache  hievon 
dürfte  sein,  daß  die  wenigen,  uns  erhaltenen  Edikte  meist  nur 
unvollständig  —  besonders  gegen  den  Schluß  hin  —  auf  uns 
gekommen  sind.     Auch  dürfte  man  zu  behaupten  wagen,  daß 

'*)  Vgl.  auch  das  Edikt  Acrrippas  II  (50—95  p.  Chr.)  =  Ditt.  Or. 
Gr.  I  n.  424,  ferner  CIGr.  III  '49.3t;— 7.  Pap.  Oxyrh.  II  237  col.  VIII 
V.  28.  (S.  163)  Viereck  S.  Gr.  VII.     Josephus  Ant.  XIX  303—311  (Naber). 

'^)  Vgl.  das  Senatus  consultum  de  Bacchanalibus:  Dessau  Inscr. 
Lat.  sei.  I,  18,  p.  5,  das  Edikt  der  XVviri  s.  f.  Dieses  allerdings  schon 
aus    Augusteischer    Zeit.    CIL.   VI.  32  323.     Im    senatus    consultum    De 

Bacchanalibus    lautet   die  Aufangsformel .    (2) De  Bacanalihus, 

quei  foideratei  essent ,  it  a  ex  dei  c  endum  censu  er  e  .  .  .  .  Das  : 
Ait  Praetor  gehört,  wie  Kipp,  Pauly  Wiss.  RE.  V/o  c.  1941  bemerkt,  nicht 
in  diesen  Zusammenhang. 

->■'')  IPtA.  80  =  CIL.\X  n.  4842.         ")  IRA.  220  =  CIL.  V  n.  5050. 


288  Odilo   Haberleitner, 

das  Edikt  nicht  geeignet  sei,  sich  starrem  Formelwesen  anzu- 
passen, denn  die  rechtlichen  Bescheide,  die  es  birgt,  sind  meist 
solcher  Natur,  daß  man  sie  nicht  anders  als  in  ihrer  einfach- 
sten Form  abfassen  soll  und  muß. 

Die  Datierung  in  den  Edikten  erfolgt  auf  verschiedene 
Art  und  Weise.  Vorerst  geben  die  Titel  der  Herrscher  chro- 
nologische Anhaltspunkte.  Manchmal  tritt  noch  eine  beson- 
dere Datierung  hinzu,  nach  Consulen  und  die  Tag-  und  Mo- 
natsangabe''^).  Doch  darf  nicht  außeracht  gelassen  werden, 
daß  solche  Datierungen,  die  die  Ueberschrift  des  Ediktes  bil- 
den, nicht  in  den  Kontext  der  Urkunde  hineingehören. 

Durch  das  dicit-liyei  wird  der  Kaiser  sprechend  einge- 
führt und  die  auf  den  Kaiser  (den  Edizierenden)  bezüglichen 
Wortformen  stehen  sämtlich  in  der  ersten  Person. 

Selten  wurde  ein  Edikt  vorgelesen,    meistens  auf  weißen 

Holztafeln  {in  alhö)  aufgeschrieben    und    derart   veröffentlicht. 

Neros  Edikt  „üeber  die  Befreiung  Griechenlands" 

ist  gesprochen  worden,   doch  behält  diese  Rede  die  Form  des 

Ediktes  bei^^).    Als  seit  Hadrian  das  kaiserliche  Reskript  mehr 

und  mehr   die  Stelle   des  Ediktes  einnahm,    änderte    sich   die 

formelle  Gestaltung  des  Ediktes  und  Reskriptes  insoweit,  daß 

auch   das  Edikt    in    der   Form   des  Reskriptes    abgefaßt    sein 

kann  ^°). 

n.  Die  öffentlichen  Briefe. 

Literatur:   Leon  Lafoscade,  De  epistulis  imperatorum 

I  n  s  u  1  i  8   1902.     P.  Viereck,    Sermo  Graeciis Göttinnen 

1888.  L.  Hahn,  Rom  und  Bomanismus  bis  auf  die  Zeit  Hadrians 
Leipzig  1906. 

Um  die  Foi'meln  in  den  Briefen  der  Kaiser  richtig  zu  er- 
kennen, muß  von  der  mittelalterlichen  Diplomatik  ausgegangen 
werden,  d.  h.  es  werden  im  folgenden  die  Kunstausdrücke  dieser 
bedeutendsten  historischen  Hilfswissenschaft  angewendet  wer- 
den. Die  reiche  formale  Gliederung  der  mittelalterlichen  Ur- 
kunden ist  durch  bedeutende  Forschungen  festgestellt  und  ver- 
wertet worden  ^^). 

'«)  IRA.  220  =  CIL.  V  n.  5050. 
'®)  Allerdings,  wie  es  erscheint,  gekürzt. 

^"j  Ausnahmen  gibt  es  auch  hier,  besonders  für  allgeraein  gültige 
Entscheidungen  z.  B.  Diokletians  Preisedikt  CIL.  III  S.  801  ff". 

8*)  Maßgebend  sind  hier  die  zusammenfassenden  Werke  von  Bress- 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  289 

Das  mittelalterliche  Kanzleiwesen  hat  die  Privilegien  der 
Kaiser  und  Könige,    die  Bullen   der  Päpste,    der  Hauptsache 
nach  in  folgende  zwölf  Formeln  gekleidet: 
I.  Eingansprotokoll  (Protokoll). 

a)  Invocatio  (Anrufung  Gottes). 

b)  Intitulatio  und  Inscriptio  (Name  und  Titel  des  Aus- 
stellers mit  der  Salutatio,  der  Grußformel,  öfters  ver- 
bunden). 

IL  Text  (Kontext). 

a)  Arenga  (allgemeine  Begründung  der  folgenden  Rechts- 
handlung, besonders  nach  religiösen  Gesichtspunkten). 

b)  Publicatio-Promulgatio  (Verkündigungsformel). 

c)  Narratio  (Bericht  über  die  Vorgeschichte  des  Rechts- 
aktes. Oefter  werden  hier  die  Zwischenträger  nam- 
haft gemacht). 

Sie  ist  enge  verknüpft  mit  der 

d)  Petitio  (Bitte  des  Empfängers). 

e)  Dispositio  (der  Hauptteil  der  Urkunde ,  Erklärung, 
daß  der  Rechtsakt  vollgültig  vollzogen  werden  kann ; 
die  Pertinenzformel  gibt  die  Ausdehnung  des  Rechts- 
aktes an). 

f)  Sanctio  (Poenformel),  (Strafandrohung  für  die  der  Ur- 
kunde Zuwiderhandelnden). 

g)  Corroboratio  (Vollziehung  und  Beglaubigung  der  Ur- 
kunde). 

in.  Schlußprotokoll  (Eschatokoll). 

a)  Subscriptionen  (des  Ausstellers,  Kanzleibeamten,  der 
Zeugen). 

b)  Datierung  nach  Ort  und  Zeit. 


lau  Handb.  der  ürkundenlelire  I,  das  im  Jahre  1907  erschienene  Buch 
von  W.  Erben,  Urkundenlehre  I,  Kaiser-  und  Kgsurkd.  des  Mittelalters. 
(Handbuch  der  mittelalt.  u.  neueren  Geschichte  IV/I  her.  v.  Below  u. 
Meinecke).  Ferner  einzelne  Abschnitte  in  Meisters  Grundriß  der  Gesch. 
Wissenschaft  I/i  und  die  neue  Zeitschrift,  Archiv  f.  Urkundenforschung. 
Besonders  der  Aufsatz  von  Faaß.  Für  die  römische  Kaiserzeit  kommen 
außer  den  zu  Beginn  des  Abschnittes  genannten  Werken  noch  in  Be- 
tracht das  alte  Werk  von  Brissonius.  De  formuüs  et  sollemnibus  p.  R. 
verbis  libri  VIII,  Frankfurt  1592  (bes.  das  III.  Buch)  und  der  Aufsatz 
von  Brehier,  Le  protocole  imperial  in  Comptes  rendus  de  TAcademie 
des  inscriptions  et  helles  lettres  1905.  T.  1,  der  sich  mehr  auf  die 
Anfangsformeln  in  der  byzant.  Kanzlei  beschränkt.    S.  177 — 182. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  2.  19 


290  Odilo   Haber  leitner, 

c)  Apprecatio  (Schlußwünsche).  (Erben  S.  303  f.). 
Vorerst  sollen  nun  die  Urkunden  der  römischen  Kaiser 
nach  ihren  Formeln  und  deren  Gestaltung  untersucht  werden. 
Am  Schlüsse  sollen  Vergleiche  mit  früheren  Urkunden  der 
hellenistischen  Zeit  und  der  mittelalterlichen  Kanzleien  das 
Herüber-  und  Hinüberfließen  der  wichtigsten  urkundlichen  Ele- 
mente veranschaulichen. 

Das   Eingangsprotokoll, 
a)  Die  Intitulatio,  Adresse  und  Gruß. 

Der  Brief  beginnt  mit  dem  Namen  des  Kaisers,  seinen 
Bei-  und  Ehrennamen  und  mit  seinen  Titeln,  denen  meist  die 
Iterativzahl  beigefügt  ist.  Die  Titel  geben  gewöhnlich  auch 
die  Datierung,  da  selten  eine  genaue  Orts-  und  Tagesangabe 
der  Beurkundung  beigefügt  ist. 

Mit  der  Adresse  und  dem  Gruße  bildet  die  Intitulatio 
die  erste  Formel  des  Briefes.  Obgleich  Titel  und  Gruß  un- 
trennbar mit  einander  verbunden  sind,  bedürfen  sie  doch  ob 
ihrer  Mannigfaltigkeit  getrennter  Behandlung. 

In  der  Intitulatio  sind  drei  Gruppen  von  Titeln  strenge 
zu  scheiden. 

1.  Der  eigentliche  Name  des  Kaisers,  meist  bestehend  aus 
Prae-  und  Cognomen  und  dem  Grad  der  Verwandtschaft 
mit  den  Vorgängern.  (Eine  Ausnahme  bilden  das  clau- 
dische  Geschlecht  und  Vitellius). 

2.  Die  Namen  der  Aemter,  die  der  Kaiser  bekleidet. 

3.  Die  ihm  erteilten  Ehrennamen. 

Für  Kaiser  Augustus  kann  man  folgende  Namenreihe 
aus  den  uns  erhaltenen  Acta  aufstellend^). 

Caesar  divi  filius  Augustus  —  Kalaap  O-soü  ulbq  Seßaoxo;. 
Wahrscheinlich  bis  in  das  Jahr  727  a.  u.  c.  nennt  sich  Augu- 
stus divi  Jidi  f.  —  ^£oö  'louXiou  utö«;.  Den  Namen  Äugustus- 
SeßaaTos  erhält  er  im  Jahre  27  v.  Chr. 

Aus  der  imperatorischen  Gewalt  ist  der  Beiname  Ini^ye- 
ra^or-AuTOxpaxwp  entstanden.    Während  Caesar  diesen  Namen 

«2)  Zur  Vereinfacbung  und  um  der  Gefahr  der  Wiederholung  vor- 
zubeugen, benütze  ich  bei  der  Besprechung  der  Intitulatio  sämtl.  Acta, 
auch  die  Militärprivilegien. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  291 

lediglich  als  Titel  führt,  um  seine  imperatoria  potestas  damit 
zu  bezeichnen,  nimmt  Augustus  ihn  als  Beinamen  auf^^)  und 
stellt  ihn  vor  seinen  eigentlichen  Namen.  Allerdings  treffen 
wir  auf  die  Bedeutung  dieses  Titels  wieder  ^*). 

Feststehend  ist  diese  Reihenfolge  der  Namen  im  Titel 
noch  nicht.  Erst  mit  Vespasian  tritt  Imi^erator-Auxoxpdztop 
ständig  an  die  Spitze. 

Von  den  Amtstiteln  führt  Augustus  folgende:  consiil  = 
uKccxoc,  (mit  Iterativzahl),  trib.  pot.  =  Srjjxapxtx^S  e^ouaca; 
(mit  Iterativzahl),  ponüfex  maximus  =  apxtspeug,  imperator  = 
auxoxpaxwp  (mit  Iterativzahl).  Die  Angabe  des  Konsulates  er- 
schien dem  ersten  Kaiser  unerläßlich,  da  er  sich  dadurch  als 
höchste  Amtsperson  darstellte,  welche  auch  eponym  ist.  Au- 
gustus führt  auch  genau  an,  ob  er  bereits  im  Amte  oder  nur 
designierter  Consul  sei. 

Die  tribunizische  Gewalt,  die  Augustus  im  Jahre  731  a. 
u.  c.  übertragen  worden  war,  durch  die  er  eigentlich  die  un- 
verletzliche Majestät  erlangte,  wird  durch  trib.  ^o^.-Sr][xapx'.%fi; 
i^Quolac,  und  der  Iterativzahl  angegeben.  Diese  Angabe  bietet, 
wie  wir  in  der  Folge  noch  sehen  werden,  die  beste  Möglich- 
keit, die  Abfassungszeit  zu  bestimmen ;  dadurch,  daß  das  Kai- 
serjahr nach  der  trib.  pot.  gerechnet  wurde,  wird  dieser  Titel 
eponymisch  ^^). 

Ferner  nennt  sich  der  Kaiser  oL^yieptü^-pontifex  maximus. 
Augustus  nahm  diesen  Titel  aus  der  republikanischen  Zeit  her- 
über und  setzte  ihn  an  erste  Stelle  unter  den  Amtstiteln,  an- 
schließend an  Augustns-^z^oi.axbc,. 

Endlich  tritt  noch  hinzu  der  Titel  i7nperator-(xuxov.pixT(jip 
(neben  dem  an  der  Spitze  stehenden  Ehrenbeinamen  Imperator). 
Dieser  Titel  gehört  in  die  Aemterreihe,  wurde  mit  Iterativzahl 
versehen,  jedoch  nicht  ständig  geführt  ^'^). 

Die  vollständige  Intitulatio  des  Augustus  gestaltet  sich 
demnach  folgendermaßen: 


8=*)  Cassius  Dio  LH,  41,  3—4.     Mommsen,  Staatsrecht  H  ^  743. 

^*)  Siehe  weiter  unten  u.  n.  86. 

«°)  Mommsen,  Staatsrecht  II  ^  S.  7.53  u.  771  ff. 

*^)  Mommsen,  Staatsrecht  II  ^  757  f.  gibt  der  Meinung  Ausdruck, 
daß  der  Amtstitel :  imperator  mit  der  Iterativzahl  den  „Sieger*  und  die 
Zahl  der  Siege  bedeute. 

19* 


292  Odilo    Haber  leitner, 

a)  Imxjerator  Caesar  divi  f.  ÄugusUis,  pont.  max.  cos.- 
trib.  pot.-imp. 

b)  AuxoxpaTwp  Kaöaap  9-eoü  ulöc,  Seßaaio?,  äpyj.tpEuq  ürca- 
■zog  xb  .  .  (dTtooeSeLYlxevos)  57][jLapxixfj;  e^ouata;  xc  .  .  . 
{auioxpcicxwp  iby^''). 

Von  anderen  Beinamen  wurden  Augustus  angetragen  die 
Ehrennamen  Dominus  (xupcoc)  und  x^^^i^^'  patriae  (TiaxT^p  Tcaxpc- 
oos).  Den  ersten  Namen  schlug  er  rundweg  ab,  den  zweiten 
nahm  er  zwar  an  ^^),  doch  führte  er  ihn  nicht  in  seinen  Titeln. 

Für  die  Herrscher  aus  der  julisch-claudischen  Dynastie 
läßt  sich  ein  festes  Anordnungsprinzip  nicht  konstatieren. 

Bereits  unter  des  Augustus  Nachfolger  Tiberius  ist  eine 
starke  Aenderung  in  der  Intitulatio  zu  erkennen.  Abgesehen  da- 
von, daß  er  sich  —  wie  natürlich  ist  —  „Sohn  des  Augustus" 
nennt  —  Augiisti  oder  divi  Aug.  filius-ulcq  Seßaaxoü  — ,  ist  die 
wichtigste  Veränderung  die,  daß  er  den  Ehrentitel  Imperator- 
AOxo'xpaxwp,  der  bei  Augustus  an  erster  Stelle  zu  stehen 
pflegte,  wegläßt ^^).  Was  den  Amtstitel  des  Consulats  und 
des  Oberpontifikats  anlangt,  so  kann  man  —  da  der  einzige 
uns  inschriftlich  erhaltene  Brief  diese  Titel  nicht  aufweist  — 
nicht  genau  feststellen,  ob  er  sie  geführt  habe  oder  nicht. 
Wohl  führt  er  die  trib.  pot.  und  die  Angabe  des  Imperiums. 

Der  Titel  des  Tiberius  lautet  also: 

a)  Tiberius  Caesar  divi  Aug.  f.  Augustus  trib.  pot.-imp. 

b)  Tcßepto;  Kaiaap  ■Ö-eoO  Ue'^y.axox)  ucc;  Scßaaxd?,  Sy^ij.. 
e^oua.  xö  .  .  auxoxpaxwp  xö  . .  . 

Gaius  Caligula  stellt  wieder  den  Ehrennamen  Im- 
pera^or-Auxoxpaxwp  an  die  Spitze,  setzt  an  die  zweite  Stelle 
den  Namen  Augustus-^z^ocoxoc.,  an  dritte  Caesar-Koiloccp;  dann 


8')  IRA.  33  =  IG.  Xll/s  n.  174.  Die  mit  (.  .  )  versehenen  Ausdrücke 
stehen  nicht  in  der  zitierten  Urkunde,  doch  werden  sie  der  Vollständig- 
keit halber  hinzugefügt.  Runde  Klammern  (.  .  .)  bedeuten,  daß  die 
mit  ihnen  versehenen  Ausdrücke  zwar  in  der  Urkunde  stehen,  für  die 
lutitulatio  aber  unwesentlich  sind.  Iterativzahlen  werden,  da  für  die 
Untersuchung  des  Titels  entbehrlich,  nicht  angeführt. 

**)  Sueton.  Aug.  c.  53  und  58. 

89)  IRA.  115  =  Lafoscade  De  ep.  n.  5.  Sueton  Tiber  c.  26:  ac 
ne  Augusti  quidem  nomen,  quamquam  hereditarium,  nullis  nisi  ad 
reges  ac  dynastas  epistulia  adiecit.  Hier  scheint  Sueton  ungenau  unter- 
richtet zu  sein,  denn  IRA.  115  an  die  Bewohner  von  Kos  trägt  in  der 
Intitulatio  den  Namen  Ssßaoxös. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  293 

folgen  die  Verwandtscbaftsgrade   mit  Augustus    und  Tiberius, 
endlich    die  Amtstitel  (anscheinend  ohne  die  imper.  potestas) : 

a)  Imperator  Augustiis  Caesar^  divi  Angusti  pronepos, 
Tiherii  Caesaris  nepos,  pont.  max.  trib.  pot.  cos. 

b)  AüToxpaxwp  Z]eßaax6^  Kalaap,  -ö-soö  Zlsßaaxoü  eyyovoc, 
Ttßspiou  Kataapo;  uiwvoc,  äpyjiepzvq  or^ix.  e^.  xö  .  .  üna- 
xo;  xö  .  .  ^°). 

Etwas  verworren  und  nicht  klar  festzulegen  ist  die  Inti- 
tulatio  des  Kaisers  Claudius. 

Das  allerdings  ist  festzuhalten,  daß  auch  er  den  ehrenden 
Beinamen  eines  Imperators  verschmäht,  doch  führt  er  als 
erster  unter  den  Kaisern  einen  Siegernamen :  er  nennt  sich 
Germanicus  (als  Sohn  des  Germanicus).  Bei  Claudius  ist  es 
auffallend,  daß  er  sein  Gentilicium  anführt  und  das  C o g- 
n  0  m  e  n  abwirft. 

Seine  Deszendenz  gibt  er  nicht  an,  doch  schmückt  er  seine 
Intitulatio  mit  allen  Aratstiteln  und  dem  Ehrennamen  ^;a^er 
patriae. 

Die  vollständige  Intitulatio  des  Claudius  erhält  demnach 
folgendes  Gepräge: 

a)  Tiberius  Claudius  Caesar  Augiistus  Germanicus  pont. 
max.  trib.  pot. . .  imp. . .  pater  patriae.,  censor.,  cos. .  .  .^^). 

b)  Tl.  KXauSto?  Kaiaap  Ilsßaaxde  r£p[j.avix6c ,  dp/jspeu; 
(jieY'.axos  6r^[ji.  e^.  xö  .  .  .  auxoxpaxwp  xö  .  , .  ÜTiaxoc  {<xko- 
5£0£cy[i.£Vo?)  xö  .  .  Tiaxrjp  Tiaxp'!5o; '•'^). 

Vergleicht  man  diese  beiden  Intitulationen ,  so  erkennt 
man,  daß  sie  mehrfach  von  einander  abweichen,  nicht  nur, 
daß  er  im  griechischen  sich  ap/tspsu;  [xeytaxo;  —  dieser 
Pleonasmus  wird  von  da  an  beibehalten  —  nennt,  die  ganze 
Stellung  der  Amtstitel  und  des  Ehrennamens  „  Vater  des  Vater- 
landes" ist  ungleich,  auch  fehlt  im  Griechischen  der  Titel 
y.svawp  =  censor^^). 

Bei  Nero  finden  wir  ein  Zurückgehen  auf  die  augustei- 
schen Formen  der  Intitulatio ,  doch  auch  hier  ist  noch  kein 
Prinzip  in  der  Anordnung  der  Titel  eingehalten. 

90)  IRA.  180  =  ICt.  VII  2711. 

91)  IRA.  242  =  CIL.  III/2  S.  844.  Mü.   D.  I. 
9-^)  IRA.  225  =  IG.  IV  n.  908. 

*^)  Im  Jahre  47  wird  Claudius  censor. 


294  Odilo    Haber  leitner, 

So  nennt  sich  Nero  beispielsweise  Imperator  Nero,  aber 
auch  Nero  .  .  .  Imperator  (hier  nur  Amtstitel)  ^*). 

Auch  er  behält  den  Gentilnamen  bei.  Das  Geschlechts- 
cognomen  Nero  wird  bei  ihm  zum  Praenomen  und  er  führt 
auch  den  Ehrenbeinamen  Germanicus^'^). 

Neros  Intitulatio  läßt  sich  demnach  folgendermaßen  wie- 
derherstellen : 

a)  Nero  Claudius  divi  Claudii  f.  Germanici  Caesaris  ne- 
pos  Ti.  Caesaris  Augusti  pronepos  divi  Augusti  ah- 
nepos  Caesar  Augustus  Germanicus,  pont.  max.  trib. 
pot.  .  .  imp.  .  .  .  cos.  ^^'). 

b)  Nepwv  KXauScos  ■ö-eoö  KXauo^'ou  ucog,  Ttßepcou  Kacaapos 
Seßaaxoü  xac  Fspixavcxou  Kacaapo;  h^yo'ioz, ,  -ö-soö  Z^e- 
ßaaxoü  drcoyovo:,  Kataap  Ssßaaiöi;  Vs.p\i.O!.viv.öc, ,  ap)(C£- 
peus  Syj[JL.  £^.  t6  .  .  auxoxpaxwp  xo  . .  (J)iioLZOi)  ^^). 

Von  den  drei  Kaisern  des  Jahres  68/69  (Juni — Juli)  kön- 
nen wir  nur  für  G  a  1  b  a  die  Intitulatio  aus  einem  Militär- 
privilegium  feststellen. 

Ser.  Galha  imp.  Caesar  Augustus  i)ont.  max.  trib.  pot. 
cos.  des.^^). 

Für  0 1  h  o  kann  man  —  da  ein  Actum  mit  einer  In- 
titulatio dieses  Kaisers  nicht  vorhanden  ist  —  keine  Norm  auf- 
stellen. Doch  führte  auch  er  den  Titel  Caesar  Augustus  und 
wie  Sueton  berichtet,  auch  den  Namen  Nero^^). 

V  i  t  e  1 1  i  u  s  scheint  den  Titel  Caesar  zurückgewiesen  zu 
haben  und  lehnte  den  Namen  Augustus  vorläufig  ab.  Der 
Name  Vitellius  ist  Geschlechtsname ;  das  Geschlecht  der  Vi- 
tellier  führt  kein  Cognomen.     Praenomen  ist  Atdus  ^°''). 

Seit  Vespasian  scheint  sich  der  Gebrauch  eingebür- 
gert zu  haben,  den  Titel  Caesar  hinter  Imperator  an  zweite 
Stelle   zu    setzen  ^°').     Caesar   ist   seit    68    nicht   mehr  Name, 


®*)  Die  zweite  Form  kommt  am  häufigsten  vor. 

35)  Mommsen,  Staatsrecht  II-'  741  A.  2.  7i6  A.  1. 

»«)  IRA.  266  =  CIL.  III/o  S.  845  Mil  D.  II. 

»')  IRA.  257   =    Ditt.  Syll^  n.  373. 

8«)  IRA.  292  =  CIL.  III  S.  I  S.  1958.         s»»)  Sueton  Otho  c.  7. 

"«)  Sueton.  Vitell.  c.  8;  dagecren  CIL.  X  8016.  Hier  ist  in  der 
zweiten  Zeile :  im  P.  A.  VITELLIVS  •  C///  das  C  doch  sicher  zu  C[aesar] 
zu  ergänzen.     Vgl.  Mommsen,  Staatsrecht  11-  741  f. 

"')  Ausnahmen  bilden  die   Urkunden  des  Titus   und  Nerva.    IRA- 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  295 

sondern  wird  von  dieser  Zeit  an  Titel  und  bezeichnet  als  sol- 
cher: „Kaiser'^.  Später  erhielt  „Caesar"  auch  die  Bedeu- 
tung des  Kronprinzentitels. 

Die  ersten  zwei  Kaiser  der  flavischen  Dynastie  beschrän- 
ken sich  in  ihrer  Intitulatio  auf  die  hergebrachten,  von  ihren 
Vorgängern  übernommenen  Namen  und  Titel,  lassen  aber  auch 
den  Gentilnamen  weg. 

D  o  m  i  t  i  a  n  hingegen  führt  einen  prunkvollen  Titel,  in 
dem  selbstverständlich  die  göttliche  Verehrung,  die  dem  Kaiser 
bei  Lebzeiten  zuzuweisen  sei,  nicht  fehlen  darf;  er  nennt  sich 
außerdem  tscjxvjxrjs  oca  ßoou  ^°2)   =  censor  perpetuus. 

Bei  den  Flaviern  beginnt  auch  eine  regelmäßige  Stellung 
der  Amtstitel :  Es  erscheint  2^ont  max.  =  apxtepeu;  laeytaio? 
an  erster  Stelle,  dann  folgt  die  Angabe  der  trib.  pot.,  ferner 
die  des  iniperiums  und  des  Ehrennamens,  pater  patriae,  end- 
lich die  des  Consulats. 

Vespasians  Intitulatio  lautet  demnach : 

a)  Imp.  Caesar  Vespasianus  Äug.  pont.  max.  trib.  pot. 
imp.  .  .  pp.  COS.  ^°^). 

b)  Autoxpatwp  Kaiaap  OueaTiaacavo?  Seßaoxci;,  (xpyj.Bpzui; 
[Leyiaxo;,  orjfA.  iq.  xb  .  auxoxpaxwp  xö  ,  .  <(7Taxrjp  noixpl- 
Boq),  u7iaxog^°*). 

Kaiser  T  i  t  u  s  führt  die  ähnliche  Intitulatio,  nur  mit  dem 
oben  erwähnten  Unterschiede  ^°^),  daß  er  Caesar  erst  an  die 
dritte  Stelle  setzt,  an  die  zweite  Stelle  seinen  Namen  Titus. 
Natürlich  fügt  er  hinzu  divi  Vespasiani  filius  —  ■ö-eoö  Oöe- 
OTzccoiccvoxJ  utoc,  anschließend  an  Caesar,  worauf  die  übrige  In- 
titulatio folgt. 

Seit  D  0  m  i  t  i  a  n  wird  es  Gebrauch,  den  Ehrentitel  ^jaifer 
patriae  an  den  Schluß  zu  setzen. 

Domitians  Intitulatio : 

a)  Imp.  Caesar  divi  Vespasiani  f.  Domitianus  Äugusfus 

347  =  CIL.  III/2  p.  854  n.  XI  und  IRA.  388  =  CIL.  III/2  p.  861  n. 
XVIII,  in  denen  der  Name  Caesar  an  dritter  Stelle  nach  Titus  bezw. 
Nerva  steht. 

'*-)  IRA.  866  =  Lafoscade  de  ep.  n.  11;  für  göttliche  Verehrung 
vgl.  Sueton  Domit  c.  LS. 

"3)  IRA.  323  =  CIL.  Ill/i  p.  850  n.  VI. 

»«*)  IRA.  335  =  CIGr.  1305. 

"=)  Siehe  Note  101. 


296  Odilo   Haberleitner, 

Germanicus  pont.    max.   trib.  pot.    imp.  cos.  censoria 
pot.  2)p.^°^). 
b)  AÜTOxpatwp  Kaiaap  d-soü  Oöeareaatavoö  o'.og,  Ao(X£Xiav6; 
Ssj^aaxo;  {FepiJLavixGc)  äpy'.zptb;,  |jL£yiatoc,    Br]\L.  ef.  xö 
aüxoxpaxwp  xo  .  .  x£t[jirjxrj?  5ta  ßtou,  ti.  ■ti.  ^''^). 
Nfirva  bedient  sich  einer  einfachen  Intitulatio  und  nimmt 
von  den  ihm  angetragenen  Ehrennamen  nur  den  des  pater  pa- 
triae auf. 

Imp.  Nerva  Caesar  Augustus  pont.  max.   trib.  pot.  cos. 

pp.  108). 

Traian  ist  der  erste  Kaiser,  den  man  mit  einer  großen 
Menge  von  Titeln  überhäuft  hat  und  der  dieselben  angenom- 
men und  geführt  hat;  nichtsdestoweniger  ist  die  Anordnung 
derselben  regelmäßig. 

Versuchen  wir  vorerst  die  einzelnen  Titel  des  Kaisers,  die 
ihm,  meist  auf  Senatsbeschluß,  zuteil  geworden,   zeitlich  fest- 
zustellen ;  denn  sie  bieten  eine  feste  Stütze  bei  chronologischer 
Bestimmung  der  Urkunden  Traians. 
97  erhält  er  den  Beinamen   Germanicus  =:  rep^iavixc?^^^) 
99      „       „     „  „  pater ijatriae  =^  7za.zr^p  Tza.zgihoi;.'^'^^) 

103      „       „     „  „  Dacicus  =  Aar-cxö?  ^^^) 

114      „       „     „  „  Op^iwms  =  "Apcaxo^  11-) 

116      „       „     „  „  Parfhicus  =  Uapö-cxö;  n^). 

Traians  Intitulatio  ergibt  für  das  Ende  seiner  Regierung 
folgenden  Wortlaut : 

a)  Imp.  Caesar  divi  Nervae  f.  Nerva  Traianus  Optimns 
Augustus  Germanicus  Badens  Parthicus,  pont.  max. 
trib.  pot.  imp.  proc.  cos.  pp.  n*). 

b)  Auxoxpaxtop  Kataap  ^soö  Nepoua  ulöc,  Nepoua^  Tpaia- 

v6;  "Apcaxog   Ssßaaxos    Fspjjiavtxo;   Aaxixo;    Xlapa-ixo;, 

apx'.epeuc    [xe^taxo?,    Sy^^.    it,.  xö  .  .  ,  auxoxpaxwp  xö  .  . 

{dv'ö'UTiaxo;))  \)~c(.xoq,  xö  .  ^  Tiaxyjp  Txaxpc'ooc  n^). 

»o")  IRA.  361  =  CIL.  III/2  p.  855  n.  XII,  IRA.  353  =  CIL.  IX  5420. 

»«")  IRA.  366  =  Laf.  n.  11. 

»•8)  IRA.  388  =  CIL.  III/2  p.  86 1  u.  XVIIL 

»0»)  Plin.  Paneg.  c.  9.  "»)  ebda  c.  21. 

"')  Cassius  Dio  LXVIII,  10. 

'»^)  IRA.  427  =  CIL.  III/2  p.  869  n.  XXVL 

113)  Cassius  Dio  LXVIII  28. 

»")  IRA.  432  =  CIL.  III/2  p.  870  n.  XXVIL 

"5)  IRA.  435  =  CIL.  III  Sp.  7086. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Homanorum.  297 

Traians  Nachfolger,  Kaiser  H  a  d  r  i  a  n  behält  in  der  Ti- 
tulatur das  vom  Vorgänger  gebrauchte  Schema  bei:  Er  nennt 
sich  des  „hochseligen  Traian,  des  Parthersiegers,  Sohn",  nimmt 
aber  keine  Siegerbeinamen  auf.  Gewiß  nicht  ohne  Berechti- 
gung. Seit  128  führt  er  auch  den  Ehrennamen  eines  pater 
patriae,  Ausnahmefälle,  in  denen  das  Intitulationsschema  nicht 
genau  eingehalten  wurde,  lassen  sich  beobachten.  Manchmal 
tritt  ÜTiaxoc  an  erste  Stelle  unter  den  Amtstiteln  und  der  Titel 
des  .,Großpriesters"  wird  an  dritte  Stelle  gesetzt"*').  Selten 
findet  sich  in  den  Acta  Hadrians  der  Titel  Imperator  =  aÜTO- 
xpaxcüp.     Gewöhnlich  ist  folgendes  Schema. 

a)  Imp.  Caesar  divi  Traiani  Parthici  f.  divi  Nervae  ne- 
pos  Traianus  Hadrianus  Augustus,  pont.  max.  trib. 
pot.  COS.  pp.'^^"'). 

b)  Auxcxpaiwp  Kaiaap  {)£oO  Tpa^avoO  Ilapö'txoü  utor,  ■ö-eoü 
Nepoua  ucwvo?  Tpatavö;  'ASpcavGg  Seßaaio;,  apxtepe'-'; 
jisyiaio;  orj|Ji.  ec.  xo  . .  uTxaxo?  tö  .  .  TcaiY^p  Tiaxpcoo;"^). 

Wenn  wir  kurz  das  Wichtigste  über  die  Intitulatio  bei 
den  römischen  Kaisern  zusammenfassen,  kommen  wir  zu  dem 
Ergebnis,  daß 

1)  zum  Unterschiede  von  der  Zeit  der  Republik  der  Titel 
Imperator  Auxoxpdcxwp  neben  der  ursprünglichen  Be- 
deutung auch  Ehrenname  wird  und  als  solcher  die 
erste  Stelle  einnimmt  "'■'). 

2)  daß  seit  dem  Aussterben  des  julisch  claudischen  Hauses 
der  Name  Caesar  Kacaap  zum  Titel  wird. 

3)  daß  erst  seit  der  Zeit  Traians  ein  festes  Schema  in  der 
Titelstelluug  sich  darbietet. 

Untrennbar  ist  die  Intitulatio  mit  der  Adresse  (Inscrip- 
tio)  imd  dem   Gruße  (S  a  1  u  t  a  t  i  o)  verbunden. 

Auch  hier  sind  mehrere  Arten  von  Adressierung  zu  unter- 
scheiden: Schreibt  ein  Kaiser  an  eine  Stadt  oder  an  einen 
Fürsten,    eine  Vereinigung  mehrerer  oder  an  einen  Einzelnen, 


1'")  IRA.  579  =  IG.  (CIA)  IIl/i  n.  31  hier  fehlt  auch  Tpaiavd;. 

"')  IRA.  547  =  CIL.  III/2  p.  875  n.  XXXII. 

"«)  IRA.  549  =  IG.  XII/2  177.  Die  gleiche  Intitulatio  bietet  ein 
mir  von  Prof.  v.  Premerstein  gütigst  mitgeteilter  Brief  Hadrians,  der 
noch  unediert  ist. 

"^j  Ausnahmen  bei  Tiberius,  Claudius,  (Nero),  Galba. 


298  Odilo    Haberleitner, 

SO  lautet  die  Adresse  xö)  [x-^]  Seivc,  Bei  Eigennamen  fehlt 
selbstverständlich  der  Artikel. 

Anders  ist  es,  wenn  das  Actum  —  der  Brief  —  des  Kai- 
sers an  ein  Gemeinwesen  und  dessen  Behörden  und  Volk  ge- 
richtet ist. 

Für  die  formale  Entwicklung  war  der  Artikel  hier  von 
größter  Bedeutung. 

Die  Kaiser  des  julisch  claudischen  Hauses  von  Augustus 
bis  Nero  schreiben  z.  B.  Auxoxpaxwp  xxX.  ap-/ouac  ßouX'^  5yj[iq) 
yaipeiv.  Dann  ist  ein  Schwanken  zu  konstatieren,  indem  man 
apxoooL  ohne  Artikel,  ßouXTj,  orjjjiw  mit  Artikel  schreibt,  bis 
sich  endlich  unter  Hadrian  die  Form  xolc.  ap^ouac  v-oci  xr)  ßouXfj 
xa:  x(p  6yj[jiü)  durchringt  ^^°).  Als  Grußformel  im  Brief 
gebrauchen  die  Kaiser  stets:  salidem  dicü  —  /ai'pecv,  ^'^^).  Ein 
näheres  Eingehen  erscheint  unnotwendig,  da  G.  A.  Gerhard 
eine  meines  Erachtens  hiefür  grundlegende  Studie  veröffent- 
licht hat,  der  es  an  Beweiskraft  nicht  fehlt  ^^^). 

Betrachten  wir  nun  die  Entwicklung  der  ganzen  Formel  I, 
bestehend  aus  a.  Intitulatio,  b.  Adresse  und  Gruß. 

Für  die  Intitulatio  läßt  sich  folgendes  sagen:  Gegenüber 
den  Titeln  der  Perserkönige,  —  soweit  wir  sie  kennen  —  die 
sich  auf  die  Abstammung  von  der  Gottheit  und  auf  der  Groß- 
könige Machtfülle  beziehen,  gegenüber  den  Titeln  der  helle- 
nistischen Könige,  die  das  Beispiel  der  Orientalen  nachahmen, 
stellt  sich  die  Intitulatio  der  Herrscher  Roms  dar  als  eine  An- 
gabe der  ihnen  tatsächlich  übertragenen  Aemter,  der  Ehren- 
namen und  der  Abstammung  vom  divus  Pater.  Dieser  letzte 
Punkt,  die  Divinatio  und  das  Führen  der  göttlichen  Abstam- 
mung  im  Titel    scheint    auf   orientalischen  Einfluß   zurückzu- 


120-)  \Y^ij.  gin(j  ]jjej.  natürlich  nur  auf  griechische  Briefe  angewiesen. 
Lateinische  Briefe  zeigen  einfach  den  Dativ  mit  sahitem  dicü.  Bei- 
spiele f.  d.  griech.  Briefform  ohne  Artikel  z.  B.  IRA.  1  =  Ditt.  Syll.  ^ 
350,  für  teilweise  Setzung  IRA.  528  =  Ditt.  Syll.  '^  B85,  für  vollständige, 
dreimalige  Setzung  IRA.  549  ==  IG.  XII/2  177. 

'-*)  Traian  u.  Hadrian  in  den  Briefen  an  die  fratres  Arval.  Hier 
fehlt  das  dicü  z.  B.   IRA.  410  =  CIL.  VI/i  S.  530 

'--)  Untersuchungen  zur  Gesch.  d.  griech.  Briefes  I.  Anfangsformel, 
Philologus  1905,  S.  27 — 65.  Es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  die  Fortsetzung 
dieser  anregenden  Arbeit  noch  nicht  erschienen  ist. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanonim.  299 

gehen,  während  die  Angabe  der  Aemter  ausgesprochen  römisch 
ist '-'). 

Diese  Intitulatio  wird  immer  ausgedehnter,  je  mehr  wir  in 
die  Zeit  um  300  hinaufrücken.  Die  byzantinischen  Kaiser  be- 
sonders sind  es,  deren  Intitulatio  aus  den  verschiedensten  kai- 
serlichen Beinamen  zusammengesetzt  ist  ^^*).  Dagegen  begeg- 
net uns  in  den  merowingischen  Urkunden  und  denen  der  Kaiser 
des  römisch-deutschen  Imperiurus  ein  ganz  einfacher  Titel  wie 
z.  B.  Childericus  rex  franconini,  vir  illuster  ^^'^)  und:  Caro- 
lus  gratia  dei  rex  Francorum  et  Longohardorum  ac  patricius 
Momanorum  ^^"). 

Die  normannisch  sizilischen  Königsurkunden  aber  zeigen 
eine  Mischung,  indem  die  lateinischen  ziemlich  einfach,  die 
nach  byzantinischem  Muster  pompöser,  die  nach  orientalischem 
(arabischem)  Muster  noch  reichhaltiger  sich  gestalten  ^''). 

Für   die    Adresse   kommen   wir   zu    folgendem  Ergebnis : 

Soweit  es  möglich  war,  Vergleiche  mit  inschriftlich  er- 
haltenen Briefen  hellenistischer  Könige  anzustellen,  ergab  sich, 
daß  die  Adresse  an  Behörden  und  Volk  —  mit  Ausschaltung 
des  äpyoMQi  —  stets  lautet:  ifj  ßouXrj  xac  xw  otjjxü)  ^-^).  Diese 
Art  der  Formel  gebrauchen  auch  die  römischen  Magistrats- 
personen der  Republik,  doch  nur  bis  in  die  Zeit  der  Trium- 
virn  ^-^).  M.  Antonius  verwendet  den  Artikel  nicht  mehr, 
nimmt  aber  dafür  apxouac  auf  ^^^).  Diese  Formel  bleibt  be- 
stehen bis  in  die  Zeit  Traians,  der  die  hellenistische  Form  x^ 
ßou/l'7|  v.cd  xw  orj|jicü  wieder  aufnimmt.  Erst  Hadrian  verleiht 
der  Adresse  ihr  volles  Gepräge  mit  der  Formel  xoi^  ap^ouac 
xa:  X'Ä  ßouX-^  xa:  xö  5rj[JLq).  Seit  dem  Ende  des  zweiten  nach- 
christlichen Jahrhunderts  tritt  insoweit  in  Adresse   und    Gruß 


^^')  Vgl-  Briefe  der  röm.  Magistrate  a.  d.  Z.  d.  Republik  z.  B. 
Viereck  S.  Gr.  III,  V. 

12*)  Vgl,  die  Intitulatio,  die  Brandi,  Archiv  f.  Urkuud.  Forschung 
I/i   S.  .34  vei'zeichnet.     Bei  den  Byzantinern  fehlt  die  Amtsangabe. 

125)  Mon.  Germ.  Dipl.  I  (fo.)  n.  31. 

126)  Mon.  G.  DD  Karol.  I.  n.  151. 

1")  Kehr  K.  A.  Urkd.  d.  norm,  sizil.  Kge.  Innsbruck  1902  p.  247, 
2.53  u.  im  Anhang.  Z.  B.  n.  5  (allerdings  nur  Abschrift;  doch  „die 
formelhaften  Teile  sind  echt").  Man  beachte  die  Anführung  des  Vaters 
in  der  Intitulatio:   ,Rogerii  primi  comitis  heres  et  filius". 

12«)  Ditt.  Or.  Gr.  S  VI,  12,  13,  214  u.  a. 

129)  Viereck  Sermo  Graecus  II.  III.  '3°)  ebda  V. 


300  Odilo    Haber  leitner, 

—  besonders  in  lateinischen  Briefen  —  eine  Veränderung  ein, 
als  das  salidem  dicit  —  yaiptiv  wegfällt  und  nur  der  Name  des 
Empfängers  im  Dativ  bleibt.  Diese  Form  pflanzt  sich  auch 
in  das  Mittelalter  fort.  Allerdings  hat  es  den  Anschein,  als 
sei  diese  Formel  der  römischen  Kanzlei  verschwunden,  da  sie 
nicht  mehr  enge  mit  der  Intitulatio  verbunden  ist.  Dem  ist 
jedoch  nicht  so.  Es  tritt  nur  die,  erst  den  christlichen  Reichen 
eigentümliche  Arenga  zwischen  die  Intitulatio  und  die  die 
Stelle  der  alten  Adresse  und  Grußformel  einnehmende  Publi- 
catio  oder  Promulgatio,  doch  fehlt  auch  hier  meist  der  Gruss; 
nur  die  Papstbriefe  bilden  eine  Ausnahme:  Sie  halten  sich  hier 
an  die  Form  der  römischen  Kaiserurkunden  und  bringen  in 
der  der  Intitulatio  meist  unmittelbar  folgenden  Inscriptio  und 
Salutatio  den  Namen  des  Empfängers  im  Dativ  und  setzen 
als  Gruß  hinzu  salutem  et  apostolicam  henedictionem  ^^^). 
Von  den  Urkunden  der  deutschen  Kaiser  weisen  die  wenigsten 
diese  Formel  auf,  erst  die  in  deutscher  Sprache  abgefaßten 
Urkunden  (mit  dem  XIII.  Jh.)  haben  im  Protokoll  wieder  die 
Grußformel:   „embieten  dem  N  unser  huld  und  alles  gut"  ^^^). 

Mit  Intitulatio  und  Grußformel  ist  das  Eingangsprotokoll 
der  römischen  Urkunde  abgeschlossen.  Eine  Invocatio 
fehlt,  wenn  man  von  dem  für  unsere  Zeit  nur  zweimal  vor- 
kommenden 'AyaÖTj  löyri  absieht  ^^^). 

Eine  Formel  aber,  die  die  Kaiserzeit  nicht  mit  herüber 
genommen  hat,  teils  aus  der  republikanischen  Zeit,  teils  aus 
den  Briefen  der  hellenistischen  Könige,  fehlt  noch,  um  das 
Eingangsprotokoll  zu  vervollständigen.  Es  ist  die  Formel: 
Si  vales  hene  est,  ego  valeo  =  El  Ippwaö-e,  xaXw?  av  zyoi, 
öytaivü)  §£  y.od  auto;  [istoc  xoO  OTpaTeuixaTO?.  Die  griechische 
Fassung  der  Formel  trifft  man  sehr  häufig  in  Briefen  helle- 
nistischer Könige  an,  ein  Beweis,  daß  viele  der  königlichen 
Erlässe    in    Form    von    Privatschreiben    abgefaßt    waren  ^^*). 


^^*)  Pflugk  Harttung  Acta  pont.  Rom  ined.  I  n.  45. 

132)  Erben  ürkundenlebre  I.  S.  345  f. 

133)  IRA.  519,  5til  =  Ditt.  Syll.=^  384  u.  IG.  XIV  1054.  Für  spä- 
tere Zeit  IG.  XIV  1055. 

"*)  Gerhard  Untersuchungen  SA.  S.  32.  v.  Wilamowitz,  Reden 
S.  235.  .  .  .,Die  Form  des  hellenischen  Privatbriefes  durchdringt  die 
ganze  Kgl.  Verwaltung". 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  301 

Aus  der  Zeit  von  Alexanders  Tod  bis  Augustus  finden  wir 
in  Briefen  hellenistischer  Könige  und  römischer  Magistrate 
folgende,  wichtige  Arten  der  Formeln: 

1.  'Ep^6i[ied-a,  ei  5'  eppwaac  v.od  xaXXa  xaxa  Xo^ov  eaitv, 
£cy]  av,  (b;  ßouXofxeO-a  ^^^). 

2.  Et  eppwaai,  ei'y]  av  w^  ßouXo^cO-a,  xa:  auioi  0£  uyLat- 
vofAsvxac  ....  ^^^). 

3.  £1  ippwaac,  £u  av  'iyoi,  üyt'atvov  0£  xayw^^^). 

4.  £1  £pptoa^£  £Ö  av  ex^c,  uycatvwOE  xac  auiö;  |Ji£ta  xoö 
üxpaxEufjiaTOi;  ^^®). 

Diese  Formel  findet  sich,  soweit  es  sich  um  öffentliche 
Briefe  in  griechischer  Sprache  handelt,  nur  in  einem  Briefe 
des  Kaisers  Augustus  an  Mylasa  aus  einer  Zeit,  da  Antonius 
allerdings  schon  besiegt  war,  jedoch  die  Republik  eigentlich 
noch  bestand :  aus  dem  Jahre  31  v.  Chr.  nach  September. 

Die  Formel  lautet:  d  ippwa^E,  xaXw;  av  £Xoc,  xa:  auxoc 
Se  (lExa  xoö  axpaxEUjxaxoi;  uytatvov  ^^^). 

Dies  ist  das  letzte  Auftreten  der  Formel,  das  einzige  in 
den  Kaiserbriefen.  Es  ist  gleichsam  ein  Bruch  mit  der  Ver- 
gangenheit, denn  nicht  nur  in  griechischen,  sondern  auch  in 
lateinischen  Briefen  fehlt  die  Formel. 

Der  Kontext. 

Betrachten  wir  nun  den  Kontext. 

Hier  ist  vor  allem  zu  bemerken,  daß  die  Arenga,  die 
gewöhnlich  in  mittelalterlichen  Urkunden  an  Stelle  III  steht, 
in  den  Urkunden  der  römischen  Kaiser  bis  ins  IV.  Jahrhundert 
hinein  vollständig  fehlt.  Die  Arenga  ist  eigentlich  erst  aus 
dem  Christentum  heraus  entstanden,  ist  aber  doch  für  die 
Urkunde  meist  Schmuck^*").  Entbehren  die  Urkunden  der 
römischen  Kaiser  zwar  der  Arenga,  so  doch  nicht  der  folgen- 
den Formeln: 

h.  Narratio,  c.  Petitio,  d.  Dispositio. 

Diese  drei  Teile  in  einem  Abschnitte  zu  behandeln,  ist 
wohl  möglich,   denn   nur   die  Narratio   hat   formales  G-epräge, 

135)  Ditt.  Ol-    Gr.  168.  III. 

1^«)  ebda  2.57.  »")  ebda  315,  IV,  V. 

>3»)  Viereck  S.  Gr.  V.  i'^)  IRA.  1  =  Ditt.  Syll.-  n.  350. 

1*0)  Erben  Urkundenlehre  I.    S.  339. 


302  Odilo    Haberleitner, 

während  für  die  zwei  anderen  Urkundenteile  ein  Einpassen  in 
eine  strenge  Formel  nicht  möglich  ist. 

Die  N  a  r  r  a  t  i  o  behandelt  die  Vorgeschichte  des  Rechts- 
aktes und  führt  öfters  auch  die  Namen  der  Intervenienten  in 
sich^^^).  Für  die  römischen  Urkunden  gilt  das  ähnlich.  Der 
Kaiser  berichtet  von  dem  Erscheinen  von  Gesandten  am  kaiser- 
lichen Hofe,  welche  das  Psephisma  oder  irgend  einen  recht- 
lichen Akt  vor  den  Kaiser  bringen.  Der  Kaiser  berichtet  über 
die  Abgabe  des  Aktes  durch  die  Gesandten;  auch  der  Inhalt 
einer  Vorentscheidung  kann  sich  in  dieser  Formel  finden. 

Diese  Formel  ist  längst  bekannt,  wenn  auch  nie  ein  festes 
Schema  für  sie  gebildet  wurde.  Es  kommen  starke  Aende- 
rungen  vor,  doch  sehließt  man  sich  auch  hier  an  die  helle- 
nistische Zeit  an. 

Für  das  Erscheinen  der  Gesandten  am  Hoflager  bedient 
man  sich  der  Verba :  Tiapayc'yveaO-a^  evxuyy^aveov,  Ip^ea^-ac;  für 
das  Abgeben  der  Briefe  usw.  auoSiSovac;  für  das  ,zur  Kennt- 
nis nehmen",  „erfahren",  „gehört  haben"  TiuvxJ-aveaiJat,  im-, 
dvaycyvwaxstv,  Ytyvwaxecv,  [xavödvstv.  Hatten  die  Gesandten 
außer  der  schriftlichen  Botschaft  noch  einen  mündlichen  Be- 
scheid dem  Kaiser  zu  entrichten,  dann  wurde  dies  urkundlich 
ausgedrückt  durch  orjXouv. 

Es  folgen  an  das  Vorhergegangene  anschließend  nun  die 
wichtigsten  Formeln: 

1.  ol  upsa^eic,  0|xü)v  evsxuxov  Iv  Toiixifj  \).oi  xaJ  xö  '^ri^ia\i.a, 
a.KobovxcC,  ....  ^*-). 

2.  dTcoSovxwv    [loi  xwv   ufxexspwv   Tipeaßlwv   xö  ck.  t|;f;cpca{xa 

U[I,ö)V  ^^^). 

3.  dvayvoüs  "cö   So'O'ev   pioc  bno   xwv   ufxsxepwv  Tipeaßeuxwv 
4jYj(^ta{ia  eyvtov  .  .   .  ^**). 

4.  ol  Tcpsaßets   ujxöv  &u$  ....  Tipo?  [le  eKi[i.f\)xxs.   v.cd  xö 
(j'YjcptaiJLa   (XTieSoaav  xa:  ....  eoyjXwaav,  öaa  .   .  .  ^^^). 

5.  'Erayvoug  ex  xe  xwv  ypa|ji[xdxwv  %a\  oioi.  xoü  Tipsaßeuov- 
xos  .  .  .  ^^^). 

1*1)  Erben  a.  a.  0.   S.  347  f.  '^'-)  IRA.  33  =  IG.  XII/3  174. 

1")  IRA.  11.5  =  Lafosc.  n.  5.  »")  IRA.  180  ==  IG.  VII,  2711. 

'«)  IRA.  257  =  Ditt.  Syll.«  373. 

"^)  IRA.  519  =  Ditt.  Syll.2  384.     Vgl.  bes.    für    svxuyxävsiv    noch 
Laqueur,  Quaestiones  .  .  .  Straßburg  1904.    S.  17—19  u.  S.  29  f. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  303 

Oefters  kommt  noch  der  Vermerk  hinzu:  „Die  Gesandt- 
schaft führte  N.  iV."  'ETipf.aßeuev,  v.pdxiaxa  enpsaßsuev,  upza- 
ßeuwv  ri'/  ^'*').  Dieser  Vermerk  steht,  wenn  nicht  in  der  Haupt- 
formel bereits  die  Gesandten  angeführt  worden  sind,  meist 
gegen  Schluß  der  Urkunde. 

Sehen  Avir  näher  zu,  so  erkennen  wir  aus  der  Vergleichung 
mit  Briefen  hellenistischer  Könige  eine  Herübernahme  einer 
griechischen  Formel,  ein  Herübergreifen,  das  schon  in  repu- 
blikanischer Zeit,  seit  der  Unterwerfung  Griechenlands,  statt- 
gefunden hatte.  Nicht  nur  Formeln  der  Königsurkunden 
wie  z.  B.  Tiapsyevovxo  rcpo;  "fiiiotc,  Tcpeaßsuia:  xo  xe  4^yjcpia[JLa 
diisSoaav  ^^^),  sondern  auch  solche  Urkunden,  die  den  römischen 
Magistraten  der  Republik  zugehören,  sind  uns  Beweis  dafür. 
Ein  Beispiel  bietet  der  Brief  des  Consuls  C.  Maiilins  Volso 
^''7i89')  Dieser  Brief  weist  die  Formel  auf.  'Evexu/f^v  ■^fjirv 
ol  Txap'  ujjilv  upeaßeis,  6i  x6  xe  (jJYjcptajjia  dueSwxav  >tac  auxo: 
S'.eXeyyjaav  ^*^),  Die  Formel,  die  in  kurzem  dargelegt  wurde, 
steht  an  zweiter  Stelle  im  römischen  Kaiserbrief,  nur  einmal 
schiebt  sich  zwischen  den  Gruß  und  diese  Formel  die  Höflich- 
keitsphrase ein:  Si  valetis  usw.  ^^°).  Die  nun  kurz  skizzierte 
Formel  der  Narratio  ist  nur  in  griechischen  Briefen  zu  finden, 
obwohl  eine  Narratio  auch  in  lateinischen  Urkunden,  jedoch 
in  keine  Formel  eingekleidet,  zu  finden  ist  ^^^). 

Auch  der  Vermerk  eTtpeaßeuev  findet  sich  in  lateinischem 
Gewände:  Egerimt  legati  .  .  .,  oder  Decretum  vestrum  accepi 
....  legatos  dimisi  ....  ^^^). 

Seit  Traian  scheint  in  den  römischen  Kaiserbrief  auf- 
genommen worden  zu  sein  die  Formel:  'ETtpsaßsusv  6  Ssiva, 
Co  x6  ecpoStov  ooö-yjxw,  d  [xt]  Tipocxa  uTieaxexac,  oder  vollständiger 
6  Tipsaßeuwv  '^v,  w  x6  scpoScov  So^O^/ixü),  d  ys  [irj  Tzpoly-ot,  uTieaxexo, 
XT]V    Tcpsaßstav    UTro/la[Jißdv£:v  ^^^].      In     hellenistischen    Briefen 

>")  IRA.  534  =  Ditt.  Syll.^  386:  IRA.  543  =  Lafoscade  n.  24, 
IRA.  584  =  IG.  (CIA)  III,  36. 

"8)   Ditt.  Or.  Gr.  8,  VI,  12  u.  a,  m. 

"ä)  Viereck  S.  Gr.  III.  'so)  jra.  ]  =  Ditt.  Syll.^  350. 

15»)  ü.  a.  z.  B.  IRA.  329  =  CIL.  X  n.  8038,  IRA.  336  =  CIL.  II 
n.  1423.     IRA.  353  =  CIL.  IX,  5420. 

''-)  IRA.  329  u.  336.     Siehe  Anm.  151. 

1«)  IRA.  534,  544,  582  (Ditt.  Syll.  ^  386,  Lafoscade  23,  Waddington 
Voyage  II  Texte  p.  128  n.  243  d)  vgl.  dazu  Lafoscade  De  ep.  S.  65  und 
Anm.  3.     Vgl.  Bourguet,  De  rebus  delphicis,  S.  70,  Z.  8  u.  18. 


304  Odilo    Haberleitner, 

scheint  diese  Formel  nicht  vorzukommen.  In  der  Folgezeit 
erhält  auch  sie  ein  anderes  Gepräge,  bis  sie  in  dem  VII.  bis 
VIII.  Jh.  fast  vollständig  verschwindet.  Allerdings  treffen  wir 
in  der  Narratio  mittelalterlicher  Urkunden  noch  auf  Analogien 
der  erstgenannten  Formel.  So  heißt  es  in  einem  Papstbrief: 
Pervenit  ad  aures  nostras,  quod  .  .  .  ^^^)  oder  in  einer  Urkunde 
Karls  des  Großen  (779 — 83).  Notum  sit  .  .  .  qiialiter  veniens 
Helmericus  ahba  in  presentiam  nostram  nobis  innotuit  .  .  ^^^). 

Ueber  P  e  t  i  t  i  o  und  Dispositio  läßt  sich  betreff 
ihrer  Formulierung  keine  Norm  aufstellen.  Die  Petitio  ent- 
hält die  Bitte  des  Empfängers,  die  Dispositio  die  Entschei- 
dung des  Kaisers. 

Die  S  a  n  c  t  i  o  und  die  Co  rrobo  ratio  findet  sich 
in  den  Urkunden  der  römischen  Kaiser  bis  auf  Hadrian  nicht. 

Das    Schlußprotokoll, 
e.  Die  Datierung. 

Die  Datierung  zählt  zu  den  wichtigsten  inneren  Merk- 
malen der  Urkunden  ^^^).  Sie  ist  meist  das  einzige  Mittel,  die 
Urkunden  chronologisch  zu  ordnen  (obwohl  hie  und  da  auch 
der  Inhalt  Stützpunkte  gibt  für  zeitliche  Einordnung). 

Die  Datierung  der  römischen  Kaiserbriefe  nimmt  bezüg- 
lich ihres  Wertes  eine  Mittelstellung  ein.  Die  Urkunden 
der  hellenistischen  Zeit  sind  bei  weitem  ungenauer  datiert,  als 
die  der  Kaiserzeit,  hingegen  müssen  diese  weit  zurückstehen 
hinter  der  Datierung  mittelalterlicher  Urkunden,  besonders  seit 
dem  Ende  des  XIL  Jahrhunderts. 

Die  Datierung  in  den  römischen  Kaiserurkunden  erfolgt  auf 
zweifache  Art.  Entweder  ist  nur  das  Amtsjahr  {Jahr  der  trih. 
pot.,  des  Consulats  oder  des  imperiums)  gegeben  und  zwar  im 
Titel  enthalten.  Auch  können  Ehrennamen  (wie  pater  Patriae) 
und  Siegernamen  {Germanicus^  Dacicus)  eine  chronologische 
Einordnung  erleichtern.  Oder  es  kann  die  Datierung  genauer 
sein,    die  Angabe   des  Jahres  im  Titel  und  gegen  den  Schluß 


*")  Pflugk  Harttung  Acta  pont.  Rom.  ined.  I,  45,  ähnl.  47. 
155)  Mon.  Germ.  DD  Karol.  I.  n.  151. 
»5«)  Erben  Urkundenlehre  I.    S.  324. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  305 

hin  die  genauere  Datierung  nach  Ausstellort,  Tag  und  Monat 
der  Ausstellung. 

Hie  und  da,  besonders  in  den  Militärprivilegien  wird  auch 
die  Konsulardatierung  verwendet  ^^'). 

Bei  einigen  Briefen  sind  auch  Vermerke  der  Empfänger 
oder  der  Kaiser  vorhanden,  welche  die  Datierung  erleichtern. 
Für  letztere  gibt  ein  gutes  Beispiel:  IRA.  366  =  CIL.  IL 
1423:  ^^Decretum  vestrum  accepi  VIII.  J:a.  August,  legatos 
dimisi  IUI.  Jca  easdem^^.  Für  den  V^ermerk  seitens  des  Em- 
pfängers : 

IRA.  542  =  BCH.  XI.  1887  S.  109  ff.  'ÄTzoXXwvtoc 
^iX'.Tzizou  äTisowxa  xr^v  eTciaioXr^v  AoXXcw  Tcuaiixö  äpyovx: 
z-Q  Tzpb  a  Loöüv  Macwv  ev  £y.x/.7]c;:a  ähnlich  IRA.  534,  544 
(BCH.  a.  a.  0.). 

Für  die  Kaiserbriefe  erscheint  es  von  Wichtigkeit,  die 
Titel  der  einzehien  Kaiser  chronologisch  an  Hand  einer  Tabelle 
festzustellen.  Die  Tabelle,  die  sich  am  Schlüsse  dieses  Auf- 
satzes befindet,  ist  zusammengestellt  nach  Urkunden,  schrift- 
stellerischen Zeugnissen  und  an  Hand  von  Clinton,  Fasti 
Hellenici  Bd.  II  und  Fasti  Homani  Bd.  I  (für  Augustus  vgl. 
die  Tabelle  bei  G  a  r  d  t  h  a  u  s  e  n  :  Kaiser  Augitstus,  Bd.  I/3 
am  Schlüsse).  (Vgl.  die  im  Anhang  angeführte  Litei-atur). 
Die  Tabelle  schließt  jedoch  die  Kaiser  Galba,  Otho  und 
Vitellius  aus ,  da  diese  nur  wenige  Monate  regiert  und 
von  ihnen  —  mit  Ausnahme  einiger  Militärprivilegien  Galbas  — 
keine  inschriftiich  erhaltenen  Urkunden  auf  uns  gekommen  sind. 

Die  Datierungsformel  ist  im  Lateinischen  eingeleitet  mit 
Datum  ^^^),  während  in  griechischen  Briefen  das  entsprechende 
Verbiim  'EoöO'rj  selten  gesetzt  wird  ^^°). 

Selten  findet  sich  die  den  Griechen  eigentümliche  lokale 
Datierung  ^'^°).  Die  gewöhnliche  Art,  Briefe  zu  datieren,  ist 
auch  für  die  griechischen  die  der  Römer  u.  zw.  werden  sowohl 


15')  Die  Militärprivilegien  können  überhaupt  als  Muster  für  genaue 
Datierung  angesehen  werden.  Konsalardatierung  z.  B.  bei  IRA.  329  = 
CIL.  X  n.  8038. 

ifisj  jjyj.  ^jg  Militärprivilegien  sind  ausgenommen. 

159)  Unter  den  Kaiserbriefen  bis  Hadrian  führt  nur  der  Brief  Cali- 
gulas  das  'EooxVyj  IRA.  18u  =  IG.  VII  2711.  Vgl.  auch  Lafoscade  de 
ep.  n.   10.5.     Aus  der  Opramoasinschrift. 

1«»)  IRA.  33  =  IG.  XII/3  174. 

Fhilologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),   2.  20 


306  Odilo    Haber  leitner, 

die  Datierungsart  wie  auch  die  termini  dem  römischen  Kalender 
entlehnt,  indem  man  die  lateinischen  Monatsnamen  und  die 
feststehenden  Tagesbezeichnungen  einfach  griechisch  schreibt, 
und  mit  upö  und  der  Zahl  die  Stellung  des  Tages  im  Monate 
festlegt. 

In  unseren  Kaiserbriefen  sind  an  griechisch  geschriebenen, 
dem  Sprachgebrauch  nach  lateinischen,  Monatsnamen  zu  ver- 
zeichnen: der  Februar,  März,  Mai,  August,  September,  Ok- 
tober, November.  An  Tagesbenennung  die  Kaienden,  Nonen 
und  Iden.  Für  den  August  haben  wir  in  einem  Falle  auch 
eine  Gleichstellung  mit  dem  Monate  Mcaoprj  festzustellen^®^). 
Während  das  Tzpb  eine  Uebersetzung  des  lateinischen  ante 
darstellt,  werden  andere  auf  die  Datierung  bezügliche  Worte 
nur  griechisch  geschrieben,  wie  z.  B.  Txpiois  =  pridie  und  iv 
7ipivx£Trtoi5  =  in  prindpns^'^^). 

Notwendigerweise  sollte  bei  jeder  Urkunde  auch  der  Aus- 
stellungsort —  eine  wichtige  Ergänzung  der  Datierung  — 
angeführt  sein.  Allerdings  fehlt  uns  meistens  der  Schluß, 
wohin  eben  die  Datierung  zu  stehen  kommt;  aber  nicht  selten 
ist  der  Ausstellungsort  —  auch  bei  erhaltener  Datierung  — 
überhaupt  nicht  genannt.  Die  Ortsaugabe  steht  mit  'Atxö  mit 
dem  Genetiv  regelmäßig  am  Schluß.  Seltener  kommt  'Ev  mit 
dem  Dativ  vor  ^"^). 

Während  uns  für  die  Kaiser  Augustus  bis  Traian  in- 
clusive eine  Datierung  nicht  schwer  fällt,  ist  sie  bei  Hadrian 
etwas  schwieriger.  Denn  Hadrian  bekleidete  das  Consulat  nur 
dreimal  und  nennt  sich  von  120   an  stets   consul  III.  uKoaoc, 

Auch  die  imperatoria  potestas  gibt  er  selten  an,  so  bleibt 
uns  nur  die  trib.  potestas  zur  Einordnung  in  richtiger,  chrono- 
logischer Folge. 

Die  hellenistischen  Könige  datieren  nach  dem  örtlichen 
Kalender,  teils  nach  attischen,  teils  ägyptischen  u.  a.,  Monats- 


'«•)  IRA.  530  =  BGU.  I.  n.  140. 
i62\  eb(ja. 

"»)  IRA."l80  =  IG.  VII  2711.  'Ev  steht  in  Verbindung  mit 'ESö^vj. 
Bei  'Atcö  war  das  'ESdO-vj  vielleicht  überflüssig.  In  lateinischen  Ur- 
kunden finden  wir:  in.     (IRA.  358  =  CIL.  IX  5420). 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  307 

und  Tagesnamen    und  sie  führen  gewöhnlich  das  Regierungs- 
jahr exouc,  Sigle  | ,  mit  IterativzahP  "*)  an. 

Für   die   römische  Kaiserzeit   finden  wir  diesen  Gebrauch 
nur   in   Urkunden    von    Beamten    und   in    Privaturkunden  ^''^). 
Die  Kanzlei  der  Kaiser  von  Byzanz,  der  Päpste  und  auch    der 
römisch-deutschen    Kaiser    ahmten    letzteren    Gebrauch    nach, 
indem    auch    sie   nach    der   Regierungszeit    der  Herrscher    die 
Urkunden  datierten  ^'^''). 

f.  Der  Schliisswimscli. 

Die  Urkunden  der  Päpste  bis  auf  Leo  IX.  (1049 — 1054) 
weisen  einen,  an  die  Unterschrift  des  Papstes  angehängten 
Schluß  w  u  n  s  c  h  auf,  der  aus  den  Worten  :  Bene  vcdete 
besteht.  Seltener  sind  Fälle  mit  anderen,  herzlicheren  Worten 
wie:  Dens  te  in  columen  cnsfodiat^'^''). 

Das  Sene  valete  ist  formelhaft  und  tritt  uns  auch  schon 
(meist  mit  Weglassen  des  Bene)  in  den  Urkunden  der  römischen 
Kaiser  entgegen.  Während  in  lateinischen  Urkunden  Valete  (in 
späterer  Zeit:  Bene  valere  cup'mius)  ^^^)  gebraucht  wird,  gibt 
es  für  die  griechischen  Briefe  zwei  Formen,  entweder  das 
Euxu/söv  oder  "EpptoaS'ac.  Das  letztere  tritt  uns  seltener  ent- 
gegen, hie  und  da  in  der  erweiterten  Form  sppwaö'ac  ö[Aac 
£Uxo|Jiat.  Besonders  Hadrian  gebraucht  in  seinen  Briefen  das 
suxuxstxe,  auch  Caligula  in  dem  einen  uns  erhaltenen  Brief  an 
das  xoivhv  xwv  'Aya-wv  xxX.  Von  21  Briefen,  die  die  Gruß- 
formel aufweisen,  haben  14  das  euxu^etie.  Das  E\}x\jyzlxt  ist 
in  hellenistischer  Zeit  meist  der  Gruß  der  Untertanen,  die 
nicht  sppwaös  gebrauchen  ^^''■^). 

In  der  Kaiserzeit  scheint  dieser  feine  Unterschied  verloren 
gegangen  zu  sein,  denn  man  gebraucht  die  beiden  Ausdrücke 
beliebig.  Doch  scheinen  der  „Graeculus"  Hadrian  und  seine 
Nachfolger,  die  Antonine,  das  sOiuyscxs  vorgezogen  zu  haben  ^^°j. 

'°'^)  Vgl.  Ditt.  Or.  Gr.  137. 

»ß")  Vgl.  LafoBcade  De  ep.  127,  128  =  BGÜ.  I  n.  19  col  II.  BGU. 
III  747  verso. 

'««)  Vgl.  Brandi  Archiv  f.  Ukdenforsch.  I/i  S.  42  ff. 

"')  Schmitz  Kallenberg  in  Meisters  Grdriß  der  Geschichtsw.  I,'i 
S.  184.     Brandi  a.  a    0.  37  f.  u.  42. 

i«8)  lüA.  336  =  CIL.  II  1423,  IRA.  353  =  CIL.  IX  5420. 

169-)  y^  Wilamowitz  Reden  S.  235  Anm.  3. 

"")  Lafoscade   De   ep.    S.  64    und    Note  8.     Diese    Grußformel    ist 

20='^ 


308  Odilo    Haber  leitner, 

Der  Spracligebrauch  in  den  Briefen  der 
Kaiser. 

Gleichsam  als  Anhang  zu  vorliegender  Studie  sollen  in 
folgenden  Zeilen  die  Ausdrücke  zusammengestellt  werden,  die 
in  griechischen  Kaiserbriefen  vorkommen  und  entweder  vom 
Lateinischen  ins  Griechische  übersetzt  oder  von  denen  latei- 
nische Worte  nur  in  griechische  Form  gekleidet  sind. 

Die  Uebertragung  des  Kalenders  mit  Beibehaltung  der 
Ausdrücke  in  griechische  Buchstabenform  ist  bereits  erwähnt 
worden  ^"^). 

Von  Uebersetzungen  ins  Griechische  fällt  u.  a.  auf  Ilapepi- 
ßoXrj  xfic,  -/^ei\iO(.oiac,  Xeycwvo;   =   castra  hiberna  legionis  ^^^). 

Weitere  bemerkenswerte  Uebersetzungen  kommen  in  der 
Intitulatio  vor.  AüxoxpaTwp  =  Imperator,  Seßaaxös  =  Äu- 
gustus,  'Apiaio;  =  Optimus,  dpxtepe'J^  (Jisytaxog  =  pontifex 
maximus,  ün;axo$  =:  consuh  uti.  aTcoo£oeoy[ji.£vo;  =  consiil  desig- 
natus,  avö'UTiatos  =  proconsul,  nccxrip  TcatpiSo^  =  pater  pa- 
triae u.  V.  a.,  T£C[jirjxyj;  oioc  ßioo  =  censor  perpetuiis.  Direkte 
Verkleidungen  in  griechische  Form  sind  u.  a.  v.viO(xip  =  censor, 
£v  Tzpivz-enioic,  =  in  principiis  u.  m.  a. 

Das  'Ayaö'^  "^^yCQ  ist  direkt  den  griechischen  Urkunden 
entnommen. 


Vergleichen  wir  im  Zusammenhange  nochmals  die  Urkun- 
denteile der  römischen  Kanzlei  mit  denen  des  Mittelalters,  so 
müssen  wir  feststellen ,  daß  von  den  inneren  Merkmalen ,  die 
der  Urkunde  zukommen,  bei  den  römischen  Urkunden  vor- 
handen sind: 
1.  Intitulatio,  Inscriptio  und  Salutatio 

gleich  der  mittelalterlichen  Intitulatio  (Inscriptio)  und 
Pronuntiatio,  (Enger  schließen  sich  die  Papstbullen  an 
diese  alte  römische  Form  an.) 


meistens  vom  Kaiser  selbst  ausgefertigt  worden  und  in  vielen  Fällen 
als  Subscriptio  (im  eigentl.  Sinne)  zu  betrachten. 

"•)  Siehe  oben  S.  306. 

"2)  IRA.  530  =  BGU.  I.  140.  Dieses  Aktenstück  stellt  sich  über- 
haupt als  Uebersetzung  aus  dem  Lateinischen  dar.  Vgl.  dazu  den  Auf- 
satz von  U.  Wilcken  im  Hermes  XXXVH  (1902)  S.  84—90  und  die 
daselbst  angeführte  Literatur. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum.  309 

2.  die  Narratio, 

3.  die  Petitio, 

4.  die  Dispositio :  2 — 4  entsprechen  den  mittelalterlichen  For- 

men. 

5.  die  Datierung, 

Aus  Hadrianischer  Zeit  läßt  sich  ein  Ansatz  für  eine  In- 
vocatio  feststellen. 

Die  Arenga,  Poenformel,  Corroboratio  und  die  Subscrip- 
tiones  fehlen  für  die  Zeit  von  31  v.  Ch.  bis  137  n.  Ch.  gänzlich. 
In  späterer  Zeit  treten  erst  die  Unterschriften  des  Kaisers  und 
seines  Beamten  auf  ^'^). 

Die  Urkunden  der  römischen  Kaiser  bilden  in  ihrer  Ent- 
wicklung eine  Stufe  der  Vermittlung  zwischen  Orient  und 
Occident. 

Es  ist  nicht  eine  rein  mechanische  Entwicklung,  die 
wir  vor  uns  sehen,  nicht  eine  bloße  Herübernahme  fremder 
Einflüsse,  es  ist  vielmehr  eine  organische.  Das  römische 
Wesen  drückt  auch  den  Urkunden  der  Kaiser  seinen  Stempel 
auf.  Diese  organische  Entwicklung  bleibt  aber  nicht  stehen. 
Es  tritt  ein  neuer,  mächtiger  Kulturfaktor  hinzu,  das  Christen- 
tum. Dieses  läßt  die  alten  Einrichtungen  bestehen,  wandelt 
nur  das  um,  was  unbedingt  umgeschaffen  werden  muß  und 
fügt  Neues  hinzu.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachten 
wir  auch  die  Weiterentwicklung  in  den  Urkunden.  Die  großen 
Kanzleien  des  Mittelalters,  die  von  Byzanz  im  Osten,  der 
deutschen  und  französischen  Könige  im  Westen,  die  der  Päpste 
und  des  normannisch-sizilischen  Reiches  haben  direkt  oder 
indirekt  von  den  Römern  gelernt.  Nicht  allein  verschiedene 
Einrichtungen  der  römischen  Kanzlei,  wie  das  Archiv  und 
Registerwesen  haben  sie  übernommen,  in  den  Urkunden  aller 
genannten  Kanzleien  schimmert  unter  der  Decke  christlicher 
Neuerungen  das  Kleid  der  alten  römischen  Kaiserurkunde 
hindurch. 


'")  Vgl.  CIL.  YIII  10570.     Cuq  in  Memoires  presentes  ä  l'acad.  d. 
inscr.  et  heiles  lettres  1884.    S.  368. 


Chronologische  Tabellen.    (Siehe  Text  S.  305). 

Außer  den  im  Texte  erwähnten  Werken  wurden  noch  herangezogen: 
Asbach,  Rom.  Kaisertum  und  Verfassung.  Köln  18'J6.  Von  demselben  Aufsätze 
im  Bhein.  Museum  XXXV.  S.  174  ff.  und  in  den  Bomier  Jahrbüchern  LXXIX. 
S.  105  ff. :  Chambahi  A.,  De  magistratibus  Flaviorum.  Bonn  1882.  Die  Artikel 
von  V.  BoMen,  Aelius  Hadrianus;  Groag,  Claudius;  Stein,  C  o  c  - 
ceius  Nerva  in  Pauly  Wiss.  RE.  I/i  c.  493  ff.;  III/2  c.  256  ff.  IV/i  c.  113  ff. 
Die  Frosopographia  imperii  Bomani  I— III.   und   Weber,   H  a  d  r  i  a  n   S.  277  ff. 


1.  C.  Caesar  Octavianus  Augustus. 


31   a.  Chr.  Sept.  2.-14  n.  Chr.  Aug. 


19/ 


Jahr 


Trib.  pot. 


Con- 
sulat 


impera- 

toria 
potestas 


pater 
patriae 


Andere 
Beinamen 


Bemerkungen 


T.Chr. 
31 


30 
29 
28 

27 


26 
25 
24 
23 


22 

II 

21 

III 

20 

IV 

19 

V 

18 

VI 

17 

VII 

16 

VIII 

15 

IX 

14 

X 

in 


IV 

V 

VI 

VII 


VIII 
IX 
X 
XI 


VI 


VII 


VIII 


IX 


X? 


Schlacht  bei  Actium; 
nach  Casaiua  Dio  LI.  1. 
Uebernahme  des  Prin- 
zipats (2.  Sept.) 


princ.  Senat. 
Augustus.    'Uebernahme   des  Prin- 
(Jänner  16.)  zipats.    Vgl.  Mommsen 
Staatsrecht  IP    p.  724 
u.  Anm.  3. 


Die  tri  bunizischen  Jahre 
zählen  von  Anfang  Juli 
d.  einen  bis  Ende  Juni 
des  anderen  Jahres. 
Auch  von  hier  an  (23 
V.  Ohr )  zählte  man  die 
Kaiserjahre. 


IFür  die  imp.  pot.  sind 
nur  teilwei.se  die  Zahlen 
Ifestzustellen.  Imp.  pot. 
jl  — V  in  den  Jahren  a. 
Chr.  n.  43,  40,  ''»/a:,  87., 
1  34—83. 


0.  Haberleitner,  Studien  z.  d.  Acta  Impevatorum  Romanorum.     311 


Jahr 

Trib.  pot. 

Cou- 

sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater           Andere 
patriae       Beinamen 

Bemerkungen 

T.  Chr. 

13 

XI 

dpXispsüs  = 

12 

XII 

}    X. 
}    XII 

pont.  max. 

11 

XIII 

10 

XIV 

9 

XV 

XIII 

8 

XVI 

XIV 

7 

XVII 

6 

XVIII 

5 

XIX 

XII 

XIV? 

4 

XX 

3 

XXI 

2 

XXII 

XIII 

seit.  5.  IL 

Der   Ehrenname    pater 

patriae  bleibt  bis  zum 

Lebensende. 

1 

XXIII 

n.  Chr. 

1 

XXIV 

2 

XXV 

XV 

3 

XXVI 

4 
5 

XXVII 
XXVIII 

}  XVI? 

6 

XXIX 

XVII 

7 

XXX 

8 

XXXI 

X  XVIII? 
/   XIX 

9 

XXXII 

10 

XXXIII 

XX 

11 

XXXIV 

12 

XXXV 

13 

XXXVI 

14 

XXXVII 

XXI 

Augustus  stirbt  zu  Noia 
n.  Chr.  14.  Aug    ■»/s-o. 

NB.  nach  Gardthausen  Kaiser  Augustus  I/3  S.  1352  ff.  u.  CIL.  P/i  p.  160—181. 

2.  Tiberiiis  (Julius)  Caesar  Augustus.     14  n.  Clir.  Aug.  20.— 87 

März  16. 


Jahrj  Trib.  pot. 

1 

Con-     ^^P^.'-'^- 
1    ,        toria 

potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

15 

16 

17 

XVII 

XVIII 
XIX 

VII 

Augustus. 

pontifex  ma- 

ximus.   &p'/j.s- 

peüg. 

Die  erste  trib.  pot.  führte 

Tiberius  a.  Chr.  n.  6  auf 

5  Jahre. 

Das  Consulat  bekleidete 

er  zum  erstenmal 

13  V.  Chr. 

312 


Odilo    Haberleitnei", 


Jahr 

Trib.  pot. 

Con- 
sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

18 

XX 

III 

19 

XXI 

•20 

XXII 

VIII 

21 

XXIII 

IV 

22 

XXIV 

23 

XXV 

24 

XXVI 

25 

XXVII 

26 

XXVIII 

27 

XXIX 

28 

XXX 

29 

XXXI 

30 

XXXII 

31 

XXXIII 

V 

VIII 

Tiberius   führte  nur   8 
mal  die  imp.  pot.    Das 
5.    Consulat   übernahm 
er  mit  Seian  auf  5  Jahre. 

32 

XXXIV 

33 

XXXV 

34 

XXXVI 

35 

XXXVII 

36 

XXXVIII 

37 

— 

Stirbt  am  Kap  Misenum 
am  16.  März. 

3.   Caius  Caesar  Caligula.     37  März  16. — 41  Jänner  24. 


m  -n        i.     Con-     ^™P .''  '       pater 
Irib.  pot.        ,    ,       tona         ^,  -^ 


Jahr 


Andere 
Beinamen 


Beul  erkun  gen 


37 


38 
39 
40 
41 


II 
III 
IV 


II 
III 
IV 


seit  Regie- 
rungsan- 
tritt. 


(Germanicus), Caligula  war  37  im  Juli 
Augustus.    I       consul  suffectus. 
pont.  max. 


Ermordet   zu  Rom   am 
24.  Jänner. 


4.  Ti.  Claudius  (Nero)  Caesar  Augustus.  41  Jänn  25.-54  Okt.  13. 


Jahr 


Trib.  pot. 


Con- 
sulat 


impera- 

toria 
potestas 


pater 
patriae 


Andere 
Beinamen 


Bemerkungen. 


41 


1  (II?)      seit  41. 


Augustus     !  Claudius  rechnet  die 
Germanicus.  trib.     pot.     von     Ende 
pont.  max.    |  Jänner  an. 


Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanoruui. 


313 


Jahr 

Trib.  pot. 

Con- 
sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

42 

II 

n 

III 

Consul    I    war    er   mit 
Caligula  i.  J.  39. 

43 

III 

III 

sehr 
fraglich 
es  findet 
sich  III, 
IV,  V  u. 

VIII. 

44 

IV 

VIII 

Die  imperatoria  potes- 
tas  ist  ungleich   ange- 

führt.    Vgl.    Groag   in 

Pauly-Wiss.    RE.    III/2 

c.  2778  (sub  256)— 2836. 

45 

V 

X?XI? 

46 

VI 

XI  u.  XII 

Censor. 

47 

VII 

IV 

XIV? 
XV? 

Vgl.  Groag  a.  a.  0. 
c.  2802  f. 

48 

VIII 

XVI 

49 

IX 

XVI? 

1 

XVII  u. 

XVIII? 

50 

X 

XVIII? 

XIX,  XX, 

1 

1 

XXI? 

51 

XI 

V 

XXil. 

XXIV, 
XXV? 

52 

XII 

XXVI 

53 

XIII 

XXVII 

54 

XIV 

Ermordet  zu  Rom  Okto- 
ber 13. 

5.  Nero  Claudius  Caesar  Auffustus.     54  Okt.  13.— 68  Juni  9. 


Jahr  Trib.  pot. 

Con- 
sulat 

impera- 
toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

54 

I 

I 

seit  Regie- 
rungsan- 
tritt. 

pont.  max. 

Die   trib.   pot.   rechnet 
von  13,  Okt.  an. 

55 

II 

I 

56 

III 

II 

57 

IV 

II 

58 

V 

III 

III 

59 

VI 

IV 

60 

VII 

IV 

V 

61 

VIII 

VI 

314 


Odilo    Haber  leitner, 


1 

Jahr  Trib.  pot. 

Con- 
sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

62 

IX 

' 

VII 

63 

X 

VIII 

64 

XI 

IX 

65 

XII 

X 

66 

XIII 

XI 

67 

XIV 

68 

XV 

V 

Ließ  sich  in  den  servi- 

lianischen     Gärten     zu 

Rom  ermorden  am  9. 

Juni. 

6.  Galba,  7.  Otho  u.  8.  Vitellius  werden  ob  ihrer  allzu  kurzen  Regierungs- 
zeit nicht  weiter  skizziert. 


9.  T.  Flavius  Yespasianus.     69  Juli  1.— 79  Juni  23. 


Jahrj  Trib.  pot. 


Con- 
sulat 


69  I        I 


70 


71 
72 
73 

74 
75 
76 
77 
78 
79 


II 


III 
IV 
V 
VI 
VII 

vin 

IX 
X 
XI 


im  per  a- 

toria 
potestas 


pater 
patriae 


Andere 
Beinamen 


Bemerkungen. 


II 

1 

III 

VI 

IV 

V 

XIII 

VI 

XIV? 

vn 

XVIII 

vm 

XVIII? 

XIX 

IX 

seit  Regie- 
rungsan- 
tritt. 


pont. 


Cos.  I  (suffectus)  war 
Vespasian  a.D.  51.  Die 
trib.  pot.  von  1.  Juli  an. 
Die  imperatoria  potes- 
tas kann  auch  hier  nicht 
genau  festgestellt  wer- 
den. 


Stirbt  auf  dem  sabini- 

schen  Landgute  am  23. 

(24)  Juni. 


10.  Titus  Flavius  Tespasiamis 

79  Juni 

14.— 81  Sept.  13. 

Jahr 

T"b-  !-*•    s^uTai 

impera-            , 

tiria     i     ^f'' 
potestas  i    P^t"^« 

Andere               Bemerkungen 
Bemamen                               ° 

79 

80 
81 

IX 

X 

XI 

VII 

vm 

XIV 
XV 

Seit  79. 

censor.  u. 
pont,  max. 

Die  trib.  pot.  zählt  von 

1.  Juli  an.     Cos.  I  mit 

Vespasian  i.  J.  70. 

Stirbt    auf    demselben 
Landgute  ('wie  sein  Va- 
ter) am  13.  Sept. 

Stadien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorun). 


3i; 


11.  T.  Fliivius  Domitiaims.     81  Sept.  13.-96  Sept.  18. 


Jahr 

Trib.  pot. 

Con- 
sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

81 

I 

VII 

I 

Seit  Be- 
ginn der 
Regierung 

TSlflYJXTJS    8l&- 

ßiou  censor. 

Cos.  I  war  Domitian  72. 
(suffectus  f.  Titus.)   Die 
trib.  jiot.  V.  13.  Sept.  an. 

82 

II 

VIII 

II 

dominus.      Die    übrigen  Beinamen 

pont.  max. 

sind  chronologisch  nicht 
einzuordnen,    wie  auch 
die  imper.  pot.  Schwie- 
rigkeiten   betreifs    der 
Einordnung  bereitet. 

83 

III 

IX 

84 

IV 

X 

V? 

85 

V 

XI 

86 

VI 

XII 

87 

VII 

XIII 

88 

VIII 

XIV 

89 

IX 

90 

X 

XV 

XXI? 

91 

XI 

92 

XII 

XVI 

XXII 

93 

XIII 

94 

XIV 

95 

XV 

XVII 

96 

XVI 

Ermordet   zu  Rom   am 
17.  Sept. 

12.  M.  Cocceius  Nerva.     96  Sept.  18.— 98  Jan.  25. 


Jahr  Trib.  pot. 


Con- 
sulat 


impera-  . 

toria    I      P^ 
potestas  I   P^^"^^ 


Andere 
Beinamen 


Bemerkungen 


96 


97 
98 


II 
III 


III 
IV 


seit  Regie- 
rungsan- 
tritt. 


pont.  max. 


trib.  pot.  V.  18.  Sept.  an. 
Cos.  I  war  Nerva  71  mit 
Vespasian,  cos.  II  im 
Jahre  90  mit  Domitian. 

Stirbt   zu  Rom   am  25. 
Jänner. 


316 


Odilo    Haber  leitner 


13.  (ülpius)  Nerya  Traianus.     98  Jan.  25.— 117  Aug.  11. 


Jahr 

Trib.pot. 

Con- 
sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

98 

II 

II 

97  Beinamen 
Germanicus 
u.  imp.  III. 
pont.  max. 

trib.  pot.  I  u.  COS.  I  seit 

der  Adoption  a.  D.  97. 

trib.  pot.  zählt  ab 

Oktober. 

99 

III 

seit  99. 

100 

IV 

III 

101 

V 

IV 

102 

VI 

III 

103 

VII 

V 

104 

VIII 

IV 

103  Dacicus. 

105 

IX 

106 

X 

V 

107 

XI 

108 

XII 

VI 

109 

XIII 

110 

XIV 

111 

XV 

112 

XVI 

VI 

113 

XVII 

114 

XVIII 

VII 

115 

XIX 

VIII 

116 

XX 

114  Optimus. 

117 

116  Parthi- 
cus. 

Stirbt  in  Selinus  in  Ki- 
likien  am  11.  Aug. 

14.  P.  Aelius  Traianus  Hadrianus.     117  Aug.  11.— 138  Juli  11. 


Jahr 

Trib.  pot. 

Con- 
sulat 

impera- 

toria 
potestas 

pater 
patriae 

Andere 
Beinamen 

Bemerkungen 

117 

1 

I 

pont.  max. 

trib.  pot.   seit.  August. 

118 

11 

II 

Hadrian  führt  von  120 

an  ständig  im  Titel 

cos.  III. 

119 

III 

III 

120 

IV 

121 

V 

122 

VI 

123 

VII 

124 

VIII 

Studien  zu  den  Acta  Imperatorum  Romanorum. 


317 


Jahr  Trib,  pot. 

ry          impera- 
^7;       toria 
^"^^^    potestas 

pater           Andere 
patriae       Beinamen 

Bemerkungen 

125 

IX 

126 

X 

127 

XI 

128 

XII 

pater 
patriae 

Vgl.  dazu  V.  Rohden  in 
Pauly-Wiss.  RE.  I/i    c. 
493  (sub  64)  —  521  be- 
sonders c.  508. 

129 

XIII 

130 

XIV 

131 

XV 

132 

XVI 

133 

XVII 

134 

XVIII 

135 

XIX 

II 

lieber  die   imp.  pot.  I. 
sind    wir    nicht    genau 

untei-richtet;  wahr- 
scbeinlicli  ist  sie  in  das 
Jahr  107  zu  setzen,  als 
er  in  Pannon.  inf.  weilte. 

136 

XX 

137 

XXI 

138 

XXII 

Stirbt  zuBaiae  11.(10.) 
Juli. 

Innsbruck. 


Odüo  Haberleitner. 


Misceilen. 

4.  Die  Weltkarte  des  Agrippa. 

Ich  erlaube,  daß  die  bekannte  Pliniusstelle  (NH  3,  17), 
nach  der  Augustns  eine  Weltkarte  ex  destinatione  et  commen- 
tariis  M.  Agrippae  habe  darstellen  lassen ,  noch  immer  nicht 
genügend  erklärt  worden  ist.  E.  Schweder,  der  auch  in  dieser 
Zeitschrift  (54,  319  ff.  und  528  ff.)  über  dieses  Thema  geschrie- 
ben hat  —  seine  Ausführungen  haben  in  vielen  Punkten,  so- 
viel ich  weiß,  keine  Zustimmung  gefunden  —  übersetzt  (S.  320) 
die  Worte  ex  destinatione  et  commentariis  „nach  dem  Ent- 
würfe und  den  Kommentarien"  des  Agrippa  lind  sagt  (S.  529), 
daß  man  unter  den  Kommentarien  eine  Schrift  des  Agrippa 
verstehen  müsse  ^),  nicht  aber,  wie  einige  angenommen  hätten, 
die  testamentarischen  Bestimmungen  des  Agrippa  ^).  In  diesem 
Punkte  wird  man  Schweder  beistimmen  müssen,  da  ja  Fron- 
tin (De  aquaed.  101)  eine  Schrift  des  Agrippa  unter  dem  Titel 
Commentarii  zitiert,  in  der  von  den  Wasserleitungen  der  Stadt 
Rom  gehandelt  wird.  Und  auf  diese  Schrift  nehme  auch  Pli- 
nius  (a.  a.  0.)  Bezug.  Dann  müsse  aber  auch  das  Wort  desti- 
natio  einen  verwandten  Begriff  bezeichnen  und  mag  etwa 
unserem  , Entwurf  entsprechen.  Diese  Forderung  ist  freilich 
richtig,  aber  diese  Bedeutung  hat  das  Wort  destinatio  docli 
sonst  nicht.  Und  wir  brauchen  allerdings  an  dieser  Stelle  ein 
Wort,  das  soviel  wie  Entwurf  bedeutet,  im  zeichnerischen, 
kartographischen  Sinne,  denn  für  die  Darstellung  der  Weltkarte 
am  Porticus  war  doch  das  graphische  Moment  die  Hauptsache. 
Und  das  kommt  im  Worte  destinatio  nicht  zum  Ausdruck. 

Wäre  es  wohl  zu  kühn,  für  ex  destinatione  zu  schreiben 
ex  delineatione?  Dieses  Wort  entspricht  dem  Sinne,  den  der 
Zusammenhang  fordert.  Plinius  braucht  das  Wort  zwar  sonst 
nicht,  und  die  Wörterbücher  führen  bloß  eine  Stelle  an :  Ter- 
tuUian.  adv.  Valentin.  27.  In  delineationem  superioris  Christi, 
aber  wenn  Plinius  35  von  Apelles  sagt :  Arrepto  carbone  ex- 
tineto  e  foculo  imagineni  in  jmriete  delineavit,  so  mag 
Plinius  auch  schon  das  Wort  delineatio  gekannt  haben. 

Dresden.  Carl  Erich  Gleye. 


')  Das  war  auch  die  Ansicht  Alfred  von  Gutschmids. 

-)  Detlefsen  (Ursprung,  Entwickelung  und  Bedeutung  der  Erd- 
karte Agrippas,  Berlin  1906  S.  3)  will  nur  die  Worte  ex  destinatione 
auf  die  testamentarischen  Bestimmungen  beziehen,  commentarii  wären 
schriftliche  Ausarbeitungen,  Zeichnungen,  Maaßangaben  etc. 


Miscellen. 


319 


5.  Zu  Martial  III  58,  12  ff. 

Vagatnr  oiiinis  turba  sordidae  chortis, 
Argutus  anser  gemmeique  pavones 
Nomeuque  debet  quae  rubentibus  pinnis 
Et  picta  perdix  Numidicaeque  guttatae 
Et  impiorura  phasiana  Colchorum ; 
Rhodias  supevbi  feminas  premuiit  galli. 
Diese  Verse  geben  bekanntlich  ein  Bild  des  Hiihnerhofes, 
Avie    ihn    sich    Fanstinus    auf    seinem    ertragreichen    Landgute 
bei  Bajae  hielt   (über  die  Absicht  des  Dichters  vgl.  in  E'ried- 
läuders  Ausgabe    die  Anmerkung  zu  III  47).     Wenn    nun    G. 
Friedrich   auf  S.   117    dieser  Zeitschrift   mit  Gerland   an- 
nimmt, daß  an  dieser  Stelle  mit  picta  perdix  der  Birkhahn 
gemeint   sei,    weil    „in    der  Tat  picta  nicht    auf  das  Rebhuhn 
(perdix  cinerea:  Linne)  passe",  so  ist  das  eben  eine  Vermutung. 
Bei  der  Lektüre  obiger  Verse  muß  vor  allem  zweierlei  auffal- 
len:    Fürs    erste,    daß    es    sich  nur  um  zahme  oder  gezähmte, 
zum  größten  Teile    nach  Italien    eingeführte  Hühner   handelt, 
die  zum  Zwecke  der  Mast  auf  den  Gütern  reicher  Leute  anzu- 
treffen sind,    und  dann    daß  Martial   in  seinen  Xenien    (epigr. 
lib.  XIII)  fast  all  dieses  Geflügel  unter  den  Delikatessen  auf- 
führt wie  Martial  ja  stark  zur  Selbstwiederholung  neigt  (Fried- 
länders  S.  20) 


III  58,  12  ff. 
vagatur  omnis  turba  sordidae 
chortis 

arffutus  anser 


gemmeique  pavones 


nomenque   debet    quae   ruben- 
tibus pinnis 


Numidicaeoue  guttatae 


et  impiorum  phasiana  Colcho- 
rum. 


XIII  45  Pulli  gallinacei. 
at  nunc  accipe  chortis  aves. 

XIII  74  Anseres. 
Haec     servavit    avis    Tarpeia 
templa  Tonantis. 

XIII  70  Pavones. 

Miraris ,    quotiens    gemmantes 

explicat  alas 

XIII  71  Phoenicopteri. 

Dat  mihi  pinna  rubens  nomen, 

sed  lingua  gulosis 
Nostra  sapit. 

XIII  73  Numidicae. 
Ansere  Romano  quamvis  satur 

Hannibal  esset, 
Ipse   suas    numquam   barbarus 
edit  aves. 

XIII  72  Phasiani. 
Argoa  primum  sum  trauspor- 

tata  carina: 
Ante  mihi  notum  nil  nisi  Pha- 
sis  erat. 


320  Miscellen. 

In  dieser  Gegenüberstellung  fehlt  absichtlich  das  Pendant 
zu  pieta  perdix,    weil    ohne  genauere  Prüfung  drei  Stellen  in 
Betracht  kommen  könnten,  nämlich : 
XIII  61   Attagenae.   Inter  sapores  fertur  alitum  primus 

lonicarum  gustus  attagenarum. 
XIII  65  Perdices.       Ponitur  Ausoniis  avis  haec  rarissima  mensis : 

Hanc  in  piscina  ludere  saepe  soles  ^). 
XIII  76  Rusticulae.  Rustica  sim  an  perdix,  quid  refert,  si  sa- 
por  idem  est  ? 
Carior  est  perdix.     Sic  sapit  illa  magis. 

Mit  Rücksicht  aber  darauf,  daß  nur  ein  buntfarbiges,  in 
Tiergärten  und  Geflügelhöfen  häufiger  gezüchtetes,  in  Italien 
nicht  bodenständiges  —  denn  das  geht  aus  der  ganzen  Auf- 
zählung bei  Martial  hervor  —  Huhn  in  Betracht  kommt, 
dessen  Fleisch  wegen  seiner  Vortreff  1  ich keit  von  den  Alten 
sehr  geschätzt  ward,  kann  vom  gewöhnlichen  Rebhuhn  (per- 
dix) und  Haselhuhn  (rustica)  nicht  die  Rede  sein.  Es  dürfte 
außerdem  große  Schwierigkeiten  haben  nachzuweisen,  daß  Reb- 
hühner im  allgemeinen  zur  Aufzucht  sich  eignen.  Nur  vom 
A  t  t  a  g  e  n  (Frankolinhuhn),  einem  Mittelgliede  zwischen  Fa- 
sanen und  Feldhühnern  ist  uns  dies  aus  dem  Alterturae  be- 
kannt -)  und  nur  ihm  kommen  alle  die  Eigenschaften  zu,  die 
nach  dem  vorstehenden  die  picta  perdix  haben  muß. 

München.  Otto  Frohst. 


^)  Die  Erklärung  dieses  Verses,  wie  sie  Friedrich  a.  a.  0.  gibt,  hat 
viel  für  sich.  Vielleicht  aber  ist  eine  Anspielung  auf  Tispcsiv,  wovon 
7rsp5i£  vielfach  abgeleitet  wird  (vgl.  Ziiumermann,  Archiv  f.  lat.  Lexi- 
cogr.  12  [1902]  S.  58H)>  dem  oft  boshaften  Witze  Martials  eher  zuzu- 
trauen. Oder  wollte  der  Dichter  jener  Sorte  von  Lüstlingen  einen  Hieb 
versetzen,  die  in  ihrer  Geschlechtsbefriedigung  der  perdix  ähneln,  von 
der  es  Isid.  orig.  12,  7,  6o  heißt:  perdix  de  voce  nonien  habet,  avis  dolosa 
atque  imniunda.  nam  masculus  in  masculum  insurgit  et 
obliviscitur  sexum  lilndo  praeceps? 

^)  Näheres  hierüber  bei  Marx  in  Pauly-Wissowas  Real-Enzyklopädie 
II  2153  f.  Die  Streitfrage,  ob  attagen  Haselhuhn  oder  Frankolinhuhn 
bedeute,  scheint  mir  müßig  zu  sein;  denn  offenbar  bezeichneten  die 
Römer  mit  attagen  ein  von  der  rustica  verschiedenes  Huhn,  das,  wie 
die  Beibehaltung  des  gr.  Namens  besagt,  ursprünglich  in  Italien  nicht 
heimisch  war.  Die  Heimat  des  Frankolinhuhnes  aber  ist  in  Klein- 
asien, Griechenland  etc.  und  von  dort  aus  trat  es  seine  Wanderung 
nach  den  Mittelmeerländern  an.  Wenn  Blümner  „der  Maximaltarif  des 
Diocletian"  zu  IV  30  S.  77  bemerkt,  der  attagen  habe  nie  gefüttert 
also  nie  Haushuhn  werden  können,  so  sprechen  die  im  Thes.  ling.  lat. 
s.  v.  attagen  gebrachten  Beispiele  besonders  Plin.  nat.  10,  133  eher 
gegen  als  für  diese  Ansicht. 


XL 

Der  Koer  Kadmos. 

Herodot  VII  163  f.  berichtet,  daß  Gelon,  der  Tyrann  von 
Syrakus,  auf  die  Kunde  von  der  Uebersclireitung  des  Hellesponfc 
durch  die  Perser  Kao[iov  tgv  Sxüö-sü)  avopa  K(bov  mit  einer 
großen  Geklsumme  und  der  Ermächtigung  zu  Unterhandlungen 
nach  Delphi  gesandt  habe,  damit  er,  wenn  Xerxes  siege,  ihm 
das  Geld  gebe  und  Gelons  Unterwerfung  anbiete,  andernfalls 
mit  dem  Gelde  wieder  zu  ihm  zurückkehre.  Dann  fährt  der 
Geschichtschreiber  fort:  6  5s  Kao[xo;  outoc,  Ttpoxepov  touxwv 
Ttapaos^ajxevo;  uapa  Tiaxpc;  xupavvcSa  K(|)a)v  so  ßsßrjxuLav  exwv 
xe  elvai  xat  Secvoö  Itciövzoc,  ouSsvo?,  äXXx  bnb  ocxatoauvrjs  ic, 
[jiiaov  Kwotai  xaxa^stg  xtjv  ap/jjv  olyexo  ic,  SixsXtrjv,  e-jd-7. 
Tiixpa.  (die  Hskl.  a)  oder  [isxa  (ß)  ^afifwv  ia/e  xe  xa:  xaxorxrjae 
TiöAiv  ZayxXyjv  X7]v  £^  MsaarjVYjV  {isxaßaAoüaav  x6  oüvo{i.a.  Hero- 
dot fügt  bei,  Gelon  habe  dies  getan,  weil  er  Kadmos  als  ge- 
rechten Mann  kannte,  und  Kadmos  habe  Gelons  Vertrauen 
auch  gerechtfertigt;  denn  er  sei  nach  dem  Siege  der  Griechen 
bei  Salamis  mit  dem  Gelde  nach  Syrakus  zurückgekehrt.  Nimmt 
man  dazu  noch  die  Notiz  des  Suidas  s.  v.  'ETrcy^apjiog  :  xcvsg  ok 
aüxov  (sc.  'ETti/ap^xov)  Kwcv  avsypa'jiav  xwv  |ji£xa  Ka§[xou  de, 
HixeXcav  [xexoixTraavxwv,  so  hat  man  damit  alles,  was  uns  die 
Alten  über  diesen  Kadmos  überliefert  haben. 

Kadmos  ist  nach  Herodot  der  Sohn  des  Skythes,  und  einen 
Skythes  erwähnt  derselbe  Historiker  auch  VI  22  f.  Nach  der 
Seeschlacht  bei  Lade  laden  die  Zankläer  die  Samier,  die  sich 
der  Perserherrschaft  nicht  fügen,  sondern  eine  Kolonie  gründen 
wollten,  durch  Boten  ein,  in  Kaie  Akte  in  Sizilien  sich  anzu- 
siedeln.    Die  Samier  nahmen  die  Einladung  an,  und  zu  ihnen 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  3.  21 


322  J-  Sit  zier, 

gesellten  sich  auch  einige  vertriebene  Milesier.  Als  sie  aber 
nach  Lokri  in  Unteritalien  kamen,  überredete  sie  der  mit  Zankle 
verfeindete  Anaxilas,  der  seit  494  Tyrann  von  Rhegium  war, 
sich  lieber  der  Stadt  Zankle  zu  bemächtigen,  indem  er  darauf 
hinwies,  daß  sie  dies  leicht  tun  könnten,  da  die  Zankläer  mit 
ihrem  König  Skythes  zur  Eroberung  einer  sikelischen  Stadt 
ausgezogen  seien.  Die  Samier  gingen  auf  den  Vorschlag  ein. 
Die  ihrer  Stadt  beraubten  Zankläer  riefen  Hippokrates,  den 
Tyrann  von  Gela,  der  ihr  Bundesgenosse  war,  zu  Hilfe.  Dieser 
ließ  den  Skythes,  den  Alleinherrscher  ((Jtouvapxov)  von  Zankle, 
nebst  seinem  Bruder  Pythogenes  gefesselt  nach  Inykon  bringen, 
die  Stadt  aber  überließ  er  den  Samiern,  mit  denen  er  einen 
Vertrag  abschloß,  während  er  den  größten  Teil  der  früheren 
Bewohner  als  Sklaven  mit  sich  wegführte;  von  der  Habe  in 
der  Stadt  erhielt  er  die  Hälfte,  die  auf  dem  Lande  vollständig. 
Dem  Skythes  aber  gelang  es,  aus  Inykon  nach  Himera  und 
von  da  zu  Dareios  zu  entfliehen.  Koä  (jl:v  ^vöfxcaE  Aapeioc, 
fährt  Herodot  fort,  Tcavtwv  dvSpwv  OLxacÖTaxov  elvat,  baoi  iv. 
xfii  'EXXdooc,  ■Kap''  iwuxov  dveßrjaav.  xal  yccp  7iapaayjaa[jL£vo; 
ßaoiXea  kq  SLy.cXcTjV  aTitxexo  xa:  auxt^  ex  xfj;  I^txsXcy];  OTXcaci) 
Trapa  ßaa:Xea,  ec,  8  yripat  [xeya  öXßco;  ewv  ixeXeuxyjae  ev  IlipaYjat. 
Die  letzte  Geschichte  berichtet  aus  Herodot  anch  Aelian  v.  h. 
Vin  17,  der  den  Skythes  wegen  seiner  Gefangenhaltung  in 
Inykon  Tvuxlvo?  nennt. 

In  diesem  Bericht  des  Herodot  wird  Skythes  einmal  ßaa:- 
Xeuc  und  zweimal  (iouvapyog  xwv  Zayy.Xatcov  genannt,  Benen- 
nungen, die  für  die  Selbständigkeit  des  Skythes  in  Zankle 
sprechen.  Damit  stimmt  überein,  daß  das  Verhältnis,  in  dem 
er  zu  Hippokrates  steht,  als  aufxfjtaxta  bezeichnet  wird,  und 
dasselbe  folgt  auch  aus  dem,  was  wir  über  sein  Auftreten 
hören;  er  faßt  den  Plan,  in  Kaie  Akte  eine  Kolonie  der  Jonier 
zu  gründen,  er  lädt  die  Samier  dazu  ein,  er  führt  Krieg  mit 
einer  sikelischen  Stadt,  er  ruft  den  Hippokrates  zu  Hilfe,  kurz, 
überall  handelt  er  selbständig.  Ich  halte  daher  die,  wie  es 
scheint,  jetzt  unter  den  Gelehrten  allgemein  herrschende  An- 
sicht, Skythes  sei  unter  der  Oberherrschaft  des  Hippolcrates 
gestanden,  für  unrichtig.  Hätte  Zankle  dem  Hippokrates  ge- 
hört, so  wäre  Anaxilas  nicht  als  Feind  der  Zankläer,  sondern 


Der  Koer  Kadmos.  323 

des  Hippokrates  bezeichnet,  so  wäre  Hippokrates  nicht  zu  Hilfe 
gerufen  worden,  sondern  selbst  herbeigeeilt,  so  wäre  er  nach 
seinem  Erscheinen  vor  der  Stadt  anders  aufgetreten.  So  aber 
handelte  es  sich  für  ihn  nur  darum,  den  Schlag,  durch  den 
Anaxilas  Zankle  von  Gela  trennen  und  mit  Rhegium  vereinigen 
wollte,  zu  parieren  und  die  Bundesgenossenschaft  mit  Zankle 
aufrecht  zu  erhalten;  aus  dem  Bestreben,  dies  auf  die  leich- 
teste Art  zu  erreichen,  erklärt  sich  seine  Handlungsweise  gegen 
die  Samier  und  gegen  die  Zankläer. 

Hätte  sich  Hippokrates  auf  die  Seite  seiner  bisherigen 
Bundesgenossen,  der  Zankläer,  gestellt,  um  im  Verein  mit  ihnen 
den  Samiern  die  Stadt,  in  deren  Besitz  sie  waren,  wieder  zu 
entreißen,  so  hätte  dies  mindestens  zu  einer  längeren  Belage- 
rung geführt,  in  die  sicherlich  auch  Anaxilas,  der  ja  eine  starke 
Flotte  hatte,  eingegriffen  hätte.  Dies  wollte  Hippokrates  ver- 
meiden, und  daher  griff  er  zur  diplomatischen  Kunst,  die  ihn 
auch  rasch  zum  Ziele  führte.  Er  bot  den  Samiern  die  Stadt 
unter  der  Bedingung  an,  daß  sie  ein  Bündnis  mit  ihm  schlös- 
sen ;  die  Samier ,  die  sich  vor  einen  schweren  Krieg  g-estellt 
sahen,  gingen  gerne  darauf  ein  und  hielten  an  der  Abmachung 
auch  treu  fest,  wie  sich  daraus  ergibt,  daß  sie  nach  Thuk. 
VI  4,  6  bald  darauf  von  Anaxilas,  der  sich  in  seiner  Berech- 
nung getäuscht  sah ,  angegriffen  und  aus  Zankle  vertrieben 
wurden.  Nach  Abschluß  des  Vertrags  mit  den  Samiern  mußte 
Hippokrates  aber  auch  dafür  sorgen,  daß  die  Ruhe  in  Zankle 
migestört  blieb.  Dies  konnte  er  nur  erreichen,  wenn  er  die 
Zankläer  unschädlich  machte.  Daher  trennte  er  zunächst  Füh- 
rer und  Heer.  Unter  Ausnützimg  der  Erbitterung  der  Bürger 
beschuldigte  er  den  Skythes,  daß  durch  seine  Schuld  die  Stadt 
verloren  gegangen  sei,  und  sandte  ihn  und  seinen  Bruder  ge- 
fesselt in  die  Gefangenschaft  nach  Inykon ;  die  führerlose  Menge 
schleppte  er  dann  in  die  Sklaverei,  während  er  300  Vornehme 
den  Samiern  zur  Hinrichtung  übergab,  die  diese  allerdings  nicht 
vollzogen. 

Man  sieht  aus  dieser  Darlegung,  daß  man  auch  die  Be- 
handlung des  Skythes  durch  Hippokrates  nicht,  wie  es  ge- 
wöhnlich geschieht,  als  Beweis  für  seine  abhängige  Stellung 
anführen  darf.    Ebensowenig  folgt  diese  aber  aus  Herodot  VH 

21* 


324  J-  Sitzler, 

154,  wo  erzählt  wird,  daß  sich  Gelon  bei  der  Belagerung  von 
Kallipolis,  Naxos,  Zankle,  Leontini,  Syrakus  und  vieler  Städte 
der  Sikeler  durch  Hippokrates  durch  Tapferkeit  ausgezeichnet 
habe,  und  daß  keine  der  genannten  Städte  SouXoauvr^v  Tzpbc, 
'iTTTcoxpaxeo;  aTiEcpuys  außer  Syrakus ,  das  die  Korinthier  und 
Kerkyräer  nach  der  Niederlage  am  Heloros  (492)  gerettet 
hätten.  Zunächst  ist  soviel  klar,  daß  die  hier  erwähnte  Be- 
lagerung von  Zankle  nicht  der  oben  besprochene  Hilfezug  des 
Hippokrates  sein  kann ;  denn  dabei  fand  keine  Belagerung  statt 
und  war  überhaupt  keine  Grelegenheit,  bei  der  sich  Gelon  durch 
Tapferkeit  hätte  hervortun  können.  Auch  für  die  Folgezeit 
läßt  sich  eine  solche  nicht  annehmen ;  sie  muß  daher  in  die 
frühere  Zeit  fallen  und  ist  wahrscheinlich  jene  Belagerung, 
durch  die  Zankle  zum  Abschluß  eines  Bündnisses  mit  Hippo- 
krates gezwungen  wurde.  Dieses  Verhältnis  zwischen  Gela  und 
Zankle  würde  dann  Herodot  mit  SouAoauv/j  bezeichnen,  und 
ähnlich  müßte  auch  das  Verhältnis  des  Hippokrates  zu  den 
andern  an  unserer  Stelle  erwähnten  Städte  gewesen  sein,  über 
das  wir  leider  nichts  erfahren. 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  ob  dieser  Skythes,  der  Al- 
leinherrscher von  Zankle,  der  im  Bundesverhältnis  zu  Hippo- 
krates steht,  ein  und  dieselbe  Person  mit  Skythes,  dem  Vater 
des  Kadmos  von  Kos,  ist.  Bei  Herodot  findet  sich  keine  dar- 
auf hinweisende  Bemerkung ;  aber  daraus  läßt  sich  nicht 
schließen,  daß  er  beide  für  verschiedene  Personen  hielt;  denn 
derartige  Hinweise  fehlen  auch  sonst  bei  ihm,  vgl.  z.  B.  6,  92 
mit  9,  75,  wo  ohne  Verweisung  beidemal  von  demselben  So- 
phanes  die  Rede  ist.  Es  rührt  dies  von  dem  nicht  ganz  fer- 
tigen Zustande  her,  in  dem  das  Werk  auf  uns  gekommen  ist; 
man  vergleiche  darüber  auch  R.  W.  M  a  c  an  ,  H  e  r  o  d  o  t  u  s. 
The  s  e  V  e  n  t  h  ,  e  i  g  h  t  h  and  n  i  n  t  h  b  o  o  k  s.  1908.  vol. 
I  part  1  p.  LHI  f.  Von  den  neueren  Gelehrten  lassen  manche 
die  Frage  unentschieden.  Andere  weisen  die  Identität  der  bei- 
den Skythes  zurück,  darunter  auch  Holm,  F  r  e  e  m  a  n  und 
E.Meyer.  Sie  stützen  sich  dabei  besonders  auf  Herodot 
VIT  164,  eine  unsicher  überlieferte  Stelle,  die  sie  irrtümlicher- 
weise so  auffassen,  als  ob  Kadmos  die  Samier  nach  Sizilien 
begleitet  hätte,    sowie  darauf,    daß    kein  Beweis    für    eine   so 


Der  Koer  Kadmos.  325 

frühzeitige  Unterwerfung  der  Insel  Kos  durch  die  Perser  vor- 
liege. Ebensowenig  liegt  aber  auch  einer  dagegen  vor.  Für 
die  Gleichheit  der  Person  der  beiden  Skythes  trat  schon  K. 
0.  Müller,  Dorier  P  S.  171  ein,  und  von  neueren  Gelehr- 
ten schließen  sich  ihm  Paton  and  Hicks,  The  inscrip- 
tions  of  Cos  p.  XXI  f.,  Macan  in  seiner  Ausgabe,  Cru- 
sius,  Untersuchungen  zu  Herondas  S.  36  und  auch  Busolt 
II-  S.  782  Anm.  2  an,  der  mit  Recht  bemerkt,  daß  mancher- 
lei für  die  Identität  spreche. 

Zunächst  ist  dies  der  Name,  der,  worauf  Paton  und 
Hicks  aufmerksam  machen,  ungewöhnlich  und  selten  ist,  so 
daß  es  auffallend  wäre,  zu  ein  und  derselben  Zeit  zwei  bedeu- 
tende Männer  mit  diesem  Namen  zu  finden.  Dazu  kommt, 
daß  Skythes,  der  Alleinherrscher  von  Zankle,  und  Kadmos,  der 
Sohn  des  Skythes  von  Kos,  beide  gleichmäßig  von  Herodot 
wegen  ihrer  Gerechtigkeit  gelobt  werden.  Liegt  es  nicht  am 
nächsten,  hierbei  an  eine  Vererbung  dieser  Eigenschaft  vom 
Vater  auf  den  Sohn  zu  denken,  statt  anzunehmen,  diese  da- 
mals so  seltene  Tugend  sei  fast  gleichzeitig  bei  Mitgliedern 
zweier  verschiedener  Familien  vorgekommen?  Weiter  hören 
wir,  daß  sich  Kadmos  demselben  Zankle  zuwendet,  das  Skythes 
leitete,  mit  denselben  Samiern  in  Verbindung  tritt,  die  Skythes 
einlud,  und  demselben  Anaxilas  schadet,  der  das  Unglück  des 
Skythes  verursacht  hatte.  So  hat  es  ganz  den  Anschein,  als 
ob  der  Sohn  als  Rächer  seines  Vaters  auftreten  wollte.  End- 
lich geht  Skythes  nach  seiner  Absetzung  zu  dem  Perserkönig, 
bei  dem  er  aufs  freundlichste  aufgenommen  wird.  Deutet  dies 
nicht  darauf  hin,  daß  er  ihm  schon  von  früher  bekannt  war? 
Woraus  ließe  sich  aber  eine  Bekanntschaft  leichter  erklären, 
als  wenn  Skythes  Tyrann  von  Kos  war?  War  er  ein  Sizilier, 
so  konnte  sein  Name  kaum  nach  Persien  gelangen ;  so  groß 
war  seine  Bedeutung  und  sein  Ruf  nicht.  Faßt  man  alle 
diese  Momente  zusammen,  so  wird  man  kaum  in  Abrede  stel- 
len können,  daß  der  Sizilier  Skythes  auch  der  Tyrann  von 
Kos  war. 

Nimmt  man  danach  nur  einen  Skythes  an ,  so  erhebt 
sich  sofort  die  Frage  nach  der  chronologischen  Reihenfolge, 
in  der  man  sich  seine  Tätigkeit  in  Sizilien  und  Kos  zu  denken 


326  -  J.  Sit  zier, 

hat.  Die  Gelehrten  sind  darüber  geteilter  Ansicht ;  die  einen 
lassen  seinen  Aufenthalt  in  Sizilien  der  Tyrannis  in  Kos  vor- 
ausgehen, die  andern  ihr  nachfolgen.  Daß  ich  mich  den  letz- 
teren anschließe,  habe  ich  im  Vorhergehenden  schon  angedeu- 
tet; es  bleibt  also  nur  übrig,  die  Gründe  anzugeben,  die  mich 
dazu  bestimmen. 

Die  Samier,  die  sich  der  Stadt  Zankle  bemächtigten,  wur- 
den, wie  wir  oben  sahen,  von  vertriebenen  Milesiern  begleitet. 
Damit  stimmt  die  Nachricht,  daß  sie  unter  der  Regierung  des 
Anaxilas,  der  494  Tyrann  von  Rhegium  wurde,  nach  Unter- 
italien gekommen  seien.  Da  sie  vermutlich  sobald  als  mög- 
lich Jonien  verlassen  haben,  wird  man  die  Eroberung  Zankles 
durch  sie  in  das  Jahr  493  setzen  dürfen.  In  ebendemselben 
Jahre  floh  dann  Skythes  zu  König  Dareios.  Wer  nun  der 
Ansicht  ist,  daß  Skythes  erst  nach  dieser  Zeit  Herrscher  von 
Kos  wurde,  der  muß  in  die  Jahre  492—485,  das  Todesjahr 
des  Dareios,  den  Aufenthalt  des  Skythes  in  Susa,  die  feste 
Begründung  der  Herrschaft  von  Kos  und  deren  üebergabe  an 
Kadmos,  die  Reise  nach  Sizilien  und  die  Rückkehr  nach  Susa, 
sowie  endlich  den  weiteren  Aufenthalt  in  dieser  Stadt  zusam- 
mendrängen, gewiß  viel  für  die  kurze  Zeit,  und  dazu  kommt 
außerdem  noch,  daß  Herodot,  der  sich  hierin  so  unterrichtet 
zeigt,  kein  Wort  von  der  Tyrannis  in  Kos  hier  einfügt,  trotz- 
dem die  Erwähnung  der  Freundlichkeit  des  Dareios  gegen 
Skythes  die  beste  Gelegenheit  dazu  geboten  hätte. 

Dieses  Ergebnis  wird  durch  eine  Betrachtung  der  Nach- 
richten über  Kadmos  bestätigt.  Dabei  handelt  es  sich  um  die 
Erklärung  der  schon  oben  angeführten  Stelle  des  Herodot  VH 
164.  Aus  dieser  läßt  sich  auf  keinen  Fall  schließen,  daß  Kad- 
mos gleichzeitig  mit  seinem  Vater  in  Sizilien  war,  wie  manche 
Gelehrte  wollen;  denn  auf  Seiten  seines  Vaters  kann  er  nach 
dem  Wortlaut  unserer  Stelle  bei  dem  Anschlag  der  Samier  auf 
Zankle  nicht  gestanden  sein.  Dies  ergibt  sich  auch  daraus, 
daß  er  nicht  wie  sein  Vater  Skythes  und  sein  Oheim  Pytho- 
genes  von  Hippokrates  in  die  Gefangenschaft  geschleppt  wurde, 
was  doch  sicherlich  geschehen  wäre,  wenn  er  zugegen  gewesen 
wäre.  So  bliebe  nur  die  Annahme  übrig,  daß  er  mit  den  Sa- 
miern   gemeinschaftliche   Sache   gegen   seinen   Vater   gemacht 


Der  Koer  Kadmoa.  327 

hätte,  und  so  müssen  diejenigen  die  Stelle  auffassen,  die  mit 
der  Hs-Klasse  ß  [iexa  xwv  2a{X'!ü)v  lesen ;  aber  dagegen  spricht, 
was  wir  sonst  über  den  Charakter  des  Kadmos  und  sein  Ver- 
hältnis zu  seinem  Vater  hören.  Offenbar  hätte  auch  Herodot 
weder  den  einen  noch  den  andern  dieser  Fälle,  wenn  er  vor- 
gekommen wäre,  unerwähnt  gelassen ;  denn  daß  die  Sache  ihm 
unbekannt  geblieben  wäre,  ist  nach  der  ganzen  Art  seines  Be- 
richtes über  diese  Vorgänge  und  Familie  unglaublich. 

Demnach  kann  Kadmos  erst  nach  der  Flucht  des  Skythes 
aus  Sizilien  nach  Zankle  gekommen  sein.  Bei  Paton  and 
H  i  c  k  s  a.  a.  0.  wird  nun  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß 
Kadmos  später  mit  andern,  die  die  persische  Knechtschaft  nicht 
ertragen  wollten,  darunter  mit  dem  Vater  des  Epicharmos,  den 
Samiern  nach  Sizilien  gefolgt  sei.  Aber  diese  Erklärung  tut 
den  Worten  Herodots  Gewalt  an,  die  —  die  Lesart  [lezd  an- 
genommen —  ausdrücklich  besagen:  ev'&cx,  {Jisra  Sa[Aowv  Sa/£ 
~z  y.y.1  '/.cizoiy.rios.  rcÖAiv;  keinesfalls  können  diese,  wenn  Kad- 
mos später  kam,  die  erste  Besetzung  Zankles  durch  die  Samier 
bezeichnen.  Liest  man  aber  mit  der  Hs-Klasse  a  -apa  Za- 
[Ji:'ü)v,  so  wird  damit  ebenfalls  auf  eine  spätere  Zeit  hingewie- 
sen, mag  mau  nun  annehmen,  daß  die  Samier  ihre  Stadt  frei- 
willig dem  Kadmos  übergeben  haben,  oder  daß  dieser  sie  mit 
Gewalt  genommen  hat.  Im  letzteren  Falle  könnte  er  nur,  wie 
Stein  u.  a.  glauben,  im  Auftrag  und  mit  Unterstützung  des 
Anaxilas  gehandelt  haben,  dem  sonst  die  Vertreibung  der 
Samier  aus  Zankle  zugeschrieben  wird.  Erscheint  dies  aber 
wahrscheinlich,  Avenu  man  bedenkt,  wie  sein  Vater  von  An- 
axilas behandelt  wurde,  und  daß  er  selbst  der  Vertrauensmann 
des  Gelon,  des  Feindes  des  Anaxilas,  war?  Ich  halte  demnach 
die  Lesart  "apa  für  unrichtig. 

Aber  noch  ein  anderer  umstand  spricht  dafür,  daß  Kad- 
mos erst  nach  der  Entfernung  des  Skythes  nach  Zankle  ge- 
laugte; Herodot  fügt  zu  Zankle  die  Worte  ty]v  sc  'MzaariYr;'^ 
[xsxaßaXoüaav  xo  cuvo[Jia  hinzu.  Daraus  folgt  für  jeden ,  der 
die  Stelle  ohne  Voreingenommenheit  liest,  daß  Zankle  zu  der 
Zeit,  als  Kadmos  dahin  kam,  schon  den  Namen  Messene  hatte. 
Aus  Thukydides  VI,  4,  5  f.  wissen  wir,  daß  Anaxilas  die  TJm- 
nennung  nach  seiner  Vaterstadt  vornahm,  nachdem  er  die  Sa- 


328  J-  Sitzler, 

mier  nicht  lange  nach  der  Eroberung  wieder  aus  Zankle  ver- 
trieben und  die  Stadt  mit  einer  buntgemischten  Bevölkerung 
besiedelt  hatte.  Wir  sehen  also,  daß  auch  von  diesem  Ge- 
sichtspunkt aus  die  Lesart  izccpcc  SajJiiwv  sich  nicht  halten  läßt. 

Nun  fehlt  es  aber  nicht  an  Gelehrten,  die  den  Thukydi- 
des  des  Irrtums  zeihen ;  zu  diesen  gehört  auch  B  u  s  o  1 1 ,  der 
Griech.  Geschichte  11^  S.  782  sagt,  die  Samier  hätten  Zankle 
zu  Ehren  des  Anaxilas  in  Messene  umgetauft.  Dies  ist  nach 
dem  oben  geschilderten  Verlauf  der  Einnahme  Zankles  durch 
die  Samier  unwahrscheinlich  und  wird  auch  dadurch  widerlegt, 
daß  die  Samier  tatsächlich  c5  r.o)jM  Oa-epov,  w^ie  es  bei  Thu- 
kydides  heißt,  von  Anaxilas  vertrieben  wurden;  das  Verhältnis 
zwischen  den  beiden  war  also  jedenfalls  kein  freundliches. 
Kein  Schriftsteller  spricht  von  einer  Umnennung  Zankles  durch 
die  Samier;  denn  die  Stelle  Herodots  kann,  wie  wir  gesehen 
haben,  nicht  so  aufgefaßt  werden.  Busolt  kann  sich  nur 
auf  Münzen  der  Stadt  mit  den  samischen  Typen  und  der  Le- 
gende Meaayjvc'wv  stützen,  vgl.  Head,  bist.  uum.  p.  134;  aber 
ein  solcher  Beweis  kann  gegen  das  ausdrückliche  Zeugnis  des 
Thukydides,  der  sich  gerade  hier  besonders  gut  miterrichtet 
zeigt,  nicht  aufkommen.  Man  muß  vielmehr  sehen ,  ol)  man 
die  Münzen  nicht  in  Uebereinstimmung  mit  den  historischen 
Nachrichten  unterbringen  kann,  und  dies  ist  hier,  wie  sich 
zeigen  wird,  wohl  möglich. 

Andere  Gelehrte  fassen  die  Herodotstelle  anders  auf,  um 
nicht  annehmen  zu  müssen,  daß  Kadmos  erst  nach  der  Um- 
nennung Zankles  in  Messene  dahin  gekommen  sei.  Sie  lösen 
nämlich  die  Worte  xrjV  s;  MsaarjVyjv  |jLcTaßaAOöaav  xö  ouvojjia 
ans  ihrer  Verbindung  mit  laye  x£  xy.l  v.axoixriaz  tioXiv  Zi^(vXi]v 
los  und  lassen  sie  nur  vorfi  Standpunkt  Herodots  aus  beigefügt 
sein  :  „er  nahm  Zankle,  das  seinen  Namen  in  Messene  änderte". 
Hätte  Herodot  dies  sagen  wollen,  so  hätte  er  sich  klarer  aus- 
gedrückt, zumal  es  durch  Beifügung  von  üaxspov  oder  liaxepov 
Touxwv  so  leicht  gewesen  wäre.  Um  diese  Erklärung  zu  stüt- 
zen, weist  M  a  c  a  n  in  seiner  Anmerkung  zu  der  Stelle  noch 
darauf  hin,  daß  es  doch  wohl  Tztlvj  Msaayjvrjv  xyjv  iE  (sie)  Zay- 
y.XyjS  [xexaßaXoüaav  (oder  jJiexaßeßXr/.ucav)  x6  cüvopia  lauten 
müßte,    wenn    die  Stadt  schon   vor   der  Ankunft  des  Kadmos 


Der  Koer  Kadmos.  329 

den  Namen  Messene  gehabt  hätte.  Dieser  scharfsinnige  und 
an  sich  richtige  Einwand  übersieht  nur,  daß  der  ungenaue 
Ausdruck  Herodots  hier,  wie  an  andern  Stellen,  aus  der  Quelle 
des  Geschichtschreibers  herrühren  kann ;  hatte  diese  erzählt 
wie  sich  die  Samier  Zankles  bemächtigten ,  dann  aber  bald 
darauf  von  Anaxilas  vertrieben  wurden,  der  den  Namen  der 
Stadt  in  Messene  umänderte,  so  kann  es  nicht  auffallen,  wenn 
sie  fortfuhr,  daß  Kadmos  mit  den  Samiern  Zankle,  das  den 
Namen  in  Messene  geändert  hatte,  wieder  einnahm. 

Nach  alledem  muß  man  an  der  Ueberlieferung  Herodots 
und  Thukydides'  festhalten  und  annehmen,  daß  Kadmos  erst 
nach  der  Umnennung  Zankles  in  Messene  durch  Anaxilas  die 
Stadt  mit  den  Samiern  eroberte.  Wann  nahm  nun  Anaxilas 
die  Umnennung  vor?  Die  Samier  bemächtigten  sich,  wie  wir 
oben  sahen,  um  493  Zankles;  nach  Thukydides  wurden  sie  cö 
TioXXw  üaTcpov  von  Anaxilas  vertrieben.  Ich  möchte  diese  Ver- 
treibung und  damit  die  Umnennung  der  Stadt  in  das  Jahr 
491,  das  Todesjahr  des  Hippokrates,  des  Verbündeten  der  Sa- 
mier, setzen ,  da  ich  glaube ,  daß  dies  für  ihn  der  günstigste 
Zeitpunkt  war;  denn  aus  Herodot  VII  155  wissen  wir,  daß 
sich  die  Geloer  beim  Tode  des  Hippokrates  gegen  seine  Söhne 
Eukleidas  und  Kleandros  empörten,  um  ihre  Freiheit  wieder 
zu  erlangen.  Diese  konnten  also  den  Samiern  nicht  zu  Hilfe 
kommen;  aber  die  Samier  wollten  ihre  Stadt  wieder  haben  und 
setzten  den  Kampf  fort.  Kadmos  stellte  sich  an  ihre  Spitze 
und  gewann  auch  wirklich  die  Stadt  wieder  zurück.  Dabei 
Avird  er  von  Gelon,  der  sich  mittlerweile  zum  Herrn  von  Gela 
aufgeschwungen  hatte,  unterstützt  worden  sein;  wenigstens 
finden  wir  ihn  später  wieder  als  Vertrauensmann  des  Gelon. 
Man  wird  daraus  schließen  dürfen,  daß  er  treu  zu  Gelon  hielt 
und  daß  darin  eben  die  o:7.a:oa6vr;  bestand,  die  Gelon  an  ihm 
kenneu  imd  schätzen  lernte.  Die  Eroberung  Zankles  durch 
Kadmos  kann  nicht  lange  nach  der  Vertreibung  der  Samier 
durch  Anaxilas  stattgefunden  haben.  Setzt  man  sie  etwa  in 
das  Jahr  490.  so  ergibt  sich  zwischen  der  Abreise  des  Skythes 
und  der  Anwesenheit  des  Kadmos  in  Sizilien  ein  Zeitraum  von 
3 — 4  Jahren,  der  die  Verlegung  der  Tyrannis  des  Skythes  in 


830  J.  Sit  zier, 

Kos  in  die  Zeit  nach  seinem  Aufenthalt  in  Sizilien  gewiß  un- 
möglich macht. 

Skythes  war  also  vor  seiner  Ankunft  in  Sizilien  Allein- 
herrscher von  Kos.  Um  nun  die  Zeit  seiner  Tyrannis  genauer 
zu  bestimmen,  muß  man  zunächst  seinen  Aufenthalt  in  Sizilien 
ins  Auge  fassen.  Er  war,  wie  ich  oben  gezeigt  habe,  im  J. 
493,  als  die  Samier  Zankle  eroberten,  Herrscher  dieser  Stadt. 
Der  Bericht  Herodots  darüber  macht  den  Eindruck,  daß  Sky- 
thes diese  Stelle  schon  längere  Zeit  einnahm.  Wann  er  nach 
Sizilien  kam,  läßt  sich  nicht  angeben;  ich  glaube,  daß  dies 
schon  vor  Ausbruch  des  Jonischen  Aufstandes  geschehen  ist. 
Ebensowenig  kennen  wir  den  Grund,  der  ihn  zur  Aufgabe 
seiner  Herrschaft  in  Kos  und  zur  Abreise  nach  Sizilien  ver- 
anlaßte :  nur  soviel  steht  fest,  daß  es  nicht  zu  Feindseligkeiten 
zwischen  ihm  und  dem  Perserkönig  kam ;  denn  von  Sizilien 
kehrte  er  zu  diesem  zurück  und  wurde  freundlich  aufgenom- 
men. Die  Tyrannis  in  Kos  muß  Skythes  lange  bekleidet  ha- 
ben, da  er  sie  eu  ^eßr^xulav,  Avie  Herodot  sagt,  seinem  Sohne 
übergeben  hat ;  erlangt  wird  er  sie  nach  dem  Regierungsantritt 
des  Dareios  haben,  als  auch  in  anderen  Städten  angesehene 
Bürger  mit  Unterstützung  der  Perser  an  die  Spitze  der  Re- 
gierung traten,  die  ebenfalls  von  den  Griechen  Tyrannen  ge- 
nannt wurden. 

Vor  seinem  Weggang  nach  Sizilien  übergab  Skythes  die 
Herrschaft  über  Kos  seinem  Sohne  Kadmos.  Wie  lange  sie 
dieser  weiter  führte,  wissen  wir  nicht.  Herodot  sagt,  er  habe 
sie  dann  freiwillig,  ohne  daß  ihm  irgend  eine  Gefahr  drohte, 
aus  Gerechtigkeitsliebe  zugunsten  der  Koer  niedergelegt.  Dies 
wird  um  die  Zeit  des  Ausbruchs  des  Jonischen  Aufstandes  ge- 
wesen sein ,  als  der  Freiheitsdrang  der  Griechen  auch  in  an- 
dern Städten  die  Tyrannen  beseitigte;  auch  Aristagoras  in 
Milet  legte  damals  seine  Herrschaft  nieder.  Jetzt  war  Kos 
eine  Republik,  und  in  diese  Zeit  scheinen  die  Münzen  zu  fal- 
len, die  He  ad,  bist.  num.  S.  535  vor  das  Jahr  480  setzt, 
vgh  auch  Paten  and  Hicks  a.  a.  0.  Ob  sich  Kos  nach 
der  Einäscherung  von  Sardes,  wie  die  meisten  karischen  Städte, 
an  dem  Aufstand  gegen  die  Perser  beteiligte,  ist  nicht  über- 
liefert; ich  glaube  es  nicht,  weil  ich  annehme,  was  bei  Hero- 


Der  Koer  Kadmos.  331 

dot  allerdings  nicht  zum  Ausdruck  gebracht  ist,  daß  Kadmos 
auch  nach  der  Niederlegung  der  Tyrannis  unter  seinen  Mit- 
bürgern weiter  lebte.  Hätten  nun  diese  gegen  die  Perser  ge- 
kämpft, so  hätte  sich  auch  Kadmos  bei  der  Stellung,  die  er 
unter  seinen  Mitbürgern  einnahm,  nicht  fernhalten  können; 
dies  hätte  ihn  aber  mit  dem  Großkönig  verfeindet  und  unge- 
eignet dazu  gemacht,  als  Unterhändler  des  Gelon  im  J.  480 
nach  Delphi  zu  gehen.  Als  aber  nach  dem  Fall  von  Milet 
und  der  Wiedereroberung  Joniens  die  Perser  auch  Kos  mit  der 
Unterwerfung  bedrohten,  zog  Kadmos  mit  andern  freiheitslie- 
benden Bürgern  nach  Sizilien ,  wo  sein  Vater  eben  Unglück 
gehabt  hatte.  Kos  wurde  von  dem  Großkönig  dem  Herrscher 
von  Halikarnass  zugeteilt,  und  als  dieser  starb,  verwaltete  es 
seine  Gemahlin  Artemisia,  vgl.  Herod.  VII  99. 

In  Sizilien  gelang  es  dem  Kadmos,  die  von  Anaxilas  aus 
Zankle  vertriebenen  Samier  wieder  zurückzuführen  und  im  An- 
schluß an  Gelon  die  Stadt  zu  leiten,  wie  schon  oben  bemerkt 
wurde.  In  diese  Zeit  gehören  die  Münzen  Zankles  mit  sami- 
schem  Gepräge  und  der  Inschrift  Meaar^/'fwv ,  und  in  dieselbe 
Zeit  fällt  auch  der  Herod.  VI  24  erwähnte  Besuch  des  Skythes 
in  Sizilien,  der  ohne  Zweifel  seinem  Sohne  galt.  Anders  ur- 
teilt darüber  allerdings  M  a  c  a  n  in  seiner  Ausgabe ;  er  hält 
alles,  was  wir  von  Skythes'  Aufenthalt  in  Sizilien  hören,  für 
eine  Episode  seiner  Reise.  Aber  eine  solche  Auffassung  ver- 
trägt sich  mit  dem  Wortlaut  des  Herodotischen  Berichtes  nicht 
und  ist  auch  an  sich  unwahrscheinlich;  denn  wer  wird  sich 
auf  einer  Reise  in  solche  Unternehmungen  einlassen?  Außer- 
dem vermißt  man  bei  dieser  Annahme  den  Grund,  warum  Sky- 
thes, der  in  diesem  Fall  nach  Niederlegung  seiner  Herrschaft 
in  Kos  an  den  Hof  nach  Susa  gegangen  wäre,  eine  Reise  von 
hier  nach  Sizilien  machen  wollte.  Endlich  würde  Herodot, 
wenn  man  M  a  c  a  n  s  Erklärung  folgte,  die  Rückkehr  des  Sky- 
thes zu  Dareios  mit  Unrecht  als  Beweis  seiner  ocxaLoauvr]  an- 
führen, da  Skythes  ja  nicht  freiwillig  und  aus  eigener  Wahl, 
sondern  nur  notgedrungen  gegen  seine  Absicht  an  den  persi- 
schen Hof  zurückgekehrt  wäre. 

Wie  lange  Kadmos  Zankle-Messana  behauptete,  wissen  wir 
nicht;  später  ist  Anaxilas  wieder  Herr  der  Stadt.  Kadmos 
befindet  sich  bei  Gelon ,  der  ihn  im  J.  480 ,  wie  oben  schon 
bemerkt,  nach  Delphi  sandte,  einmal  weil  er  ihn  als  gerechten 
Mann  kennen  gelernt  hatte,  und  dann  weil  er  als  Sohn  des 
Skythes  dem  Perserkönig  bekannt  war.  Von  Delphi  kehrte 
Kadmos  wieder  zu  Gelon  zurück,  ohne  daß  wir  über  seine 
weiteren  Schicksale  etwas  hören.  Sein  Vater  Skythes  starb 
als  Greis   in  Susa,   jedenfalls    vor  480,    dem  Zug   des  Xerxes. 

Freiburo-  i.  Br.  J.  Sitder. 


XII. 

Platonjca. 

1.  Meine  Studien  über  Piatons  Leben  und  Schriften  haben 
mich  veranlaßt,  die  angeblichen  platonischen  Briefe  einmal 
anzusehen.  Eine  größere  Abhandlung,  die  ihnen  (mitsamt  den 
angeblichen  Speusipposbriefen)  gewidmet  ist,  wird  demnächst 
unter  meinen  „Neuen  Untersuchungen  über  Piaton"  bei  C.  H. 
Beck  in  München  erscheinen.  Aber  einige  Nebenbetrachtungen, 
die  ich  dort  übergangen,  mögen  hier  mitgeteilt  werden.  Die 
alten  Beweise  dafür,  daß  Plato  Ep.  XIII  unecht  ist,  glaube 
ich  für  alle  Zukunft  vollends  hinlänglich  verstärkt  zu  haben. 
Aber  ganz  in  allen  Teilen  windig  und  nichtig  kann  der  Inhalt 
dieses  Briefes  doch  nicht  sein.  Daß  sein  Verfasser  einige 
Kenntnis  der  wirklichen  Verhältnisse  besaß,  zeigt  nicht  nur 
die  in  6;  tote  sKOAtavojxst  363  c  steckende  gute  Amtsbezeich- 
nung. Ich  meine  aber,  das  Zuverlässigste,  was  er  mitzuteilen 
hat,  dürfte  die  Zahl  und  das  Alter  der  dSeX^cSwv  •9-uyaxsps; 
Piatons  in  861  cd  sein.  Es  heißt  von  ihnen  eloi  (jloc  aosXcp'.- 
S(Ji)V  •9'uyaTcpE;  xwv  aTzoöavouawv  .  .  Tsttaps^,  ■}]  fisv  vüv  eizlya- 
[10?,  ii  dz  dxxaetcc,  r]  oe  a|icxpcv  npoc  ipiolv  eteaiv,  ij  os  oützw 
evcauat'a.  Tocüxaq  exooieov  £{xoc  eaicv  .  .  .  v.al  xa;  {jtvjxepa;  5s 
aOxwv  syw  e^eoioxa  .  .  rj  jiev  oüv  UTisuaiTCTrw  ya[xeixat,,  doEX^f]; 
cOja  auxö)  ■öuydxrjp.  Was  darum  und  daran  hängt,  mag  ge- 
fabelt und  zusammengeklügelt  sein.  Aber  daß  Piaton  wirk- 
lich einige  seiner  Nichten,  darunter  eine  Tochter  der  Potone 
und  Schwester  des  Speusi2)pos,  mit  Heiratsgut  ausstattete, 
wahrscheinlich  weil  die  Väter  der  Mädchen  vor  der  Zeit  ge- 
storben waren,  und  daß  er  später  auch  um  die  Töchter  dieser 
Nichten  sich  wieder  fürsorglich  annahm,  das  dürfte  geschicht- 
lich sein.     Es  scheint  mir  unzweifelhaft,  daß  man  den  nächsten 


C.  Ritter,   Platonica.  333 

Verwandten  Piatons  nicht  bloß  in  der  Akademie,  sondern,  als 
die  Akademie  eine  anerkannte  geistige  Großmacht  geworden 
war,  auch  außerhalb  ihr  in  Athen  Beachtung  schenkte.  Eben 
darum,  meine  ich,  konnte  ein  Briefschreiber,  der  Piatons  Maske 
annahm,  nicht  einfach  darauf  los  schwindeln  über  seine  Nich- 
ten und  ihre  Töchter :  diese  lebten  wahrscheinlich  zum  Teil 
noch  in  Athen  zur  Zeit,  da  der  Brief  entstand.  Es  scheint 
mir  aber,  daß  die  weiblichen  Verwandten  des  Philosophen,  der 
selbst  keine  eigene  Familie  gründete,  in  dessen  Leben  eine  ge- 
wisse, wenn  auch  recht  bescheidene,  Rolle  gespielt  haben.  Und 
ich  wage  in  dieser  Annahme  eine  kühne  Vermutung.  Die 
Berichte  über  Piatons  Tod  lauten  bei  Diogenes  L.  III,  2  f. : 
TcXsuxä  S',  w?  cprjoov  "EpfxcrcTio;,  ev  yajjio:;  CcCTtVwv,  xw  Tcpwxq) 
£X£!,  xfj^  öyoÖTj;  xa:  sxatoax'^g  ÖAu[Jt7xta6oc,  ßccu^  sxo,  £V  TzpoQ 
10'.:;  GYGOY/.ovxa.  Nsav-Q-v];  ce  cpyjaiv  auxov  xstxapwv  %al  oydor]- 
■K0V1CX.  xeXsuxf^aac  sxwv.  Die  übrigen  Berichte  sind  mit  diesen 
am  bec|uemsteu  zusammengestellt  von  S.  Mekler  in  seiner  Aus- 
gabe des  Index  Herculanensis  p.  20  f.  als  Anmerkung  zu  dem 
von  dem  herkulanensischen  Papyrus  selbst  Col.  II  33  ff.  ge- 
gebenen Texte:  xexsXeuxYjXsva:  S'  ini  ©eocpi'Xcu  .  .  auxöv  ßcw- 
aavx'  exTj  Suo  xac  oySorjXovxa.  Ich  hebe  nur  noch  den  bei 
Suidas  erhaltenen  heraus :  sßi'ü»  ezr]  ß'  xac  ti'.  xsXsuxcc  Se  en: 
xf^c,  pr/  dXviiTiidooc,  .  .  .  euii)-/ri%-ri  6'  ev  iopx^j  xac  utivwv  aTxsßfo). 
Hermippos  ist,  wie  bekannt,  ein  recht  unzuverlässiger  Gewährs- 
mann. Trotzdem  könnte  hier  seine  Angabe  vollständig  richtig 
sein.  Suidas  mit  seinem  eüw^Yj-ö-rj  ev  eopx-^  scheint  dasselbe 
zu  meinen,  was  bei  Hermippos  bestimmter  ev  yä^iw  oecTxvwv 
heißt.  Eine  genauere  Schilderung  der  letzten  Augenblicke  des 
sterbenden  Philosophen  liegt  wahrscheinlich  im  Index  Hercu- 
lanensis Col.  V  vor,  allerdings  schwer  verstümmelt.  Mekler 
p.  13  schreibt  darüber:  „quae  sequuntur  quin  ad  ultimam 
Piatonis  noctem  sind  referenda  non  dubito,  Wilamowitzi  po- 
tissimum  commento  columnae  quintae  argumentum  prementis 
fidem  habens."  Ich  gebe  den  Text,  soweit  er  ordentlich  zu- 
sammenhängt, mit  den  von  Mekler  aufgenommenen,  zum  Teil 
freilich  noch  recht  unsicheren')  Ergänzungen  und  Korrekturen: 

^)  Die  zweifelhaftesten  sind  von  mir  durch  beigesetztes  (?)  gekenn- 
zeichnet. 


334  C.  Ritter, 

.  .  o'  UTzb  öpatTY];  ey  ys  [i£Ao;  y^pjjioTxe  oaxxuXov  evocooij?  (?) 
^u9'{j,6v  (?)  •  auxGtlt  S'  w?  Tcapa^povocTj  xs  cpcoveiv  xöv  ÜXaxwva 
y.ac  ETtspwx'^aa:,  xoO  5'  zItzqvto^  '  'Evvosi;  ü);  TxavxT]  x6  ßapßa- 
pov  a[jia^£C  •  ax£  ye  Ttapa  pu^[Ji6v  cp6a:;  (?)  ßapßapo;  cpipouaa 
xä^  (?)  TiVGta?  (?)  aouvaxst  {iaäscv  •  i^aöfjvat  {jisyccXw;  xat  iv 
£u5ia  {xsyaXyj  xöv  avopa  -OTiTiu^ECV  (?)  £7i£t  (?)  xa:  (?)  xaöx'  ird 
voöv  Tjpx^'c'  auxüi  y.at  (?)  .  .  laoyEt  oia^-Epfxav-ö-ivxog  bk  [xäXXov 
(?)  £7.  .  .  Tvjoq  2)  £y£pa£to;  vuxxwp  .  .  Was  wir  ziemlich  sicher 
erkennen  mögen,  ist,  daß  eine  thrakische  Sklavin  mit  der  Flöte 
aufspielt  und  daß  Piaton  dem  Lied  sehr  heiteren  Gemütes  zu- 
hört. Aus  dem  Testament  Piatons  bei  Diogenes  L.  III  42  er- 
sehen wir,  daß  Piaton  außer  4  Sklaven  auch  eine  Sklavin 
hinterließ,  die  nach  seinem  letzten  Willen  die  Freiheit  erhalten 
sollte.  Sie  hieß  "ApX£[jicc,  nicht  ©paxxa.  Ich  schließe  daraus, 
daß  die  hier  geschilderte  Szene  nicht  in  sein  eigenes  Hans  zu 
verlesen  ist.  Weiter  aber  möchte  ich  verwerten,  was  Mekler 
S.  15  oben  beifügt :  in  jiaginae  calce  scholium  exstat  sive 
additamentum  litteris  minutioribus  scriptum.  Die  erste  Zeile 
entzifferte  Crönert  als  7jßouX£xo  N£avi)7;C,  in  der  zweiten  ist 
.  .  'o  £x'  (oder  .  .  o'  eti')  ÄOcXcpco  ....  deutlich.  Mekler  meint 
dazu  „de  philosophi  stirpe  Neanthem  egisse  in  libro  de  viris 
illustribus  consentaneum".  Ich  aber  lasse  der  Phantasie  die 
Zügel  und  stelle  den  Zusammenhang  her:  die  Flötenspielerin, 
der  Piaton  zuhört,  habe  zur  Hochzeitsfeier  einer  jener  in  Ep. 
XIII  aufgezählten  dSEX^iowv  Ouyaxdpcc  aufgespielt;  Piaton,  der 
die  Braut  ausstattete,  habe  am  Festschmause  teilgenommen  als 
heiterer  Gast  voll  Befriedigung,  knzl  xac  xaOx'  im  voöv  fipy^zx' 
auxcp.  —  Die  jüngste  der  4  Mädchen  des  18.  Briefes,  die  im 
Herbst  366  o\jtm  £vtaua:a  war,  ist  jedenfalls  zur  Zeit  von 
Piatons  Tod  tKlya-iioc,  gewesen.  Die  beiden  Angaben  des  Dio- 
genes Laertios  und  des  Snidas  xeXeuxä  ev  yafjiot;  und  £ütoyj|97] 
o'  £v  £opxrj  y.a.1  urcvwv  äm^iü)  scheinen  mir  zu  den  Spuren  des 
Herkulanensischen  Textes  zu  passen. 

2.  Die  viel  besprochene  Schilderung  der  strengen  Mienen 
Piatons  durch  den  Komiker  Amphis  bei  Diogenes  L.  III  28 
hat  mich  oft  in  Gedanken  beschäftigt.      Die  Worte  lauten  in 


2)  Tivos  von  W.  Crönert  festgestellt  im  Hermes  38  (1P03)  S.  381. 


Platonica.  335 

unserer  Ueberlieferung :  w  IlXaxwv 

(b;  oüSsv  f^aö'a  ttXyjv  axuöpcona^scv  {jiovov 
(jjaTisp  xoyXia.;,  Ccjjivü)^  eTür^pxw;  xä;  öcppöc. 
Die  Vergleichnng  mit  dem  y.oyV.xz,  hat  noch  niemand  recht 
begreiflich  machen  können.  Ich  glaubte  einmal  die  Lösung 
gefunden  zu  haben,  da  ich  mir  eine  Tigermuschel  (Cj^praea 
tigris)  betrachtete,  denn  die  Aehnlichkeit  der  geschweiften  und 
grob  eingekerbten  Mittelspalte  ibrer  Schale  mit  einer  finster 
gerunzelten  (und  emporgezogenen)  Augenbraue  fiel  mir  auf. 
Aber  ich  ließ  mich  von  einem  Zoologen  belehren,  daß  die  bei 
uns  früher  so  häufig  verbreitete  Ziermuschel  aus  dem  Indischen 
Ozean  stamme  und  darum  den  Alten  vielleicht  kaum  bekannt 
gewesen  sei.  Bei  Aristoteles,  der  freilich  die  Muscheltiere  sehr 
wenig  eingehend  behandelt,  sucht  man  ihre  Schilderung  ver- 
gebens. Auch  konnte  ich  keine  Stelle  finden,  worin  eine 
Muschel  ähnlicher  Bildung  wie  jene  Porzellanscbnecke  als  xo/- 
X''a?  und  die  Schalenspalte  einer  Muschel  als  o'fpu;  bezeichnet 
wäre.  So  mußte  ich  mein  Fundstück  als  Lausegold  verwerfen 
und  mich  Heibig  anschließen,  der  die  Stelle  für  verdorben  er- 
klärt, weil  die  Schnecke  keine  Augenbrauen  habe.  Nun  be- 
merke ich  zwar,  daß  S.  Reinach  eine  Erklärung  aufgestellt 
hat,  recht  ähnlich  der,  die  ich  mir  zu  eigen  machen  wollte. 
Er  bemerkt  (bei  Bernouilli,  Griech.  Ikonogr.  II  S.  19  A.  3) 
„daß  der  Vergleich  nicht  zwischen  Plato  und  der  Schnecke, 
sondern  zwischen  den  zusammengezogenen  Brauen  und  der 
Spirale  eines  Schneckenhauses  gemacht  werde''.  Das  hätte 
mich  fast  ermutigt,  zu  meinem  alten  Erklärungsversuch  zu- 
rückzukehren, zumal  da  die  kleineren  Cypräen,  von  denen 
verschiedene  Arten  das  Mittelmeer  bevölkern,  eine  recht  ähn- 
liche Form  der  Schalenspalte  aufweisen.  Und,  sagte  ich  mir, 
die  nahe  liegende  Uebertragung  des  Wortes  ocppu;  mochte  sich 
ein  Komiker  ohne  weiteres  erlauben.  Allein  die  gelegentliche 
Beschäftigung  mit  den  Epistolographen  brachte  mich  auf  eine 
andere  Spur:  Es  gibt  einen  Brief  des  Alkipbron,  dem  eben 
unsere  Schilderung  des  Philosophen  zum  Vorbild  gedient  zu 
haben  scheint,  (IV,  7  Schepers)  Thais  an  Euthydemos.  Sein 
Anfang  lautet:  'E^  oo  cpoXoaocpscv  eTisvoVjaa;,  cs[xv6;  xt?  h(k^O'd 
xa:    xa?    ocppö;   uTcep  xou;  xpoxcx^ou;  sTif] pac.   etxa  axfjpia  s/wv 


336  C.  Ritter, 

y-ocl  ßcßXtScov  [Jista  '/Xipocc  dq  tyjv  axaSr][X£cav  ao^elq,  xr^v  Ss 
yj(ji£Tspav  otvccav  w;  ouSe  towv  Tipotepov  Trapep/^Tj.  ejxavT]?, 
Eu^uSyjfAS  •  ■i^  oux  o!a»9-a  ocos  ^ativ  6  aocpcatVjS  ouiog  6  saxuO'pw- 
Tcaxw?  xoct  Tous  ■9-au(i,aaxoüä  toutoo^  oie^'.wv  Tipo?  b[i7.c,  Xoyouc. 
W.  Sclimid  macht  mir  unter  anderem  den  Einwand,  daß  axu- 
■ö-pcoTia^ctv  und  ai'pstv  xccq  öcppö;  später  fast  stehend  sei  bei  der 
Schilderung  des  anspruchsvoll  mürrischen  Philosophen.  (Eine 
Stelle,  die  mir  selbst  aufgestoßen  ist,  findet  sich  Plat.  Mor. 
59  b  d.  adul.  et  am.  c.  17:  £i;  öqjpuv  al'pouacv  fßri  xb  7rpay|Jia 
y.ac  xoXaxcUOuacv  eaxu'O'pwTTraxoxs;).  Indes  das  örcep  xoug  xpo- 
xacpou;  bei  Alkiphron  ist  eigenartig  und  beim  Zusammentreffen 
von  axu8'p(i)7ca!^£LV,  a£[ji,vö)c,  £;raip£tv  (nicht  einfach  alpEiv)  xccc, 
öcppö^  von  hüben  und  drüben  die  Aehnlichkeit  mit  dem  be- 
denklichen waTtsp  %oy}.ia,;,  immerhin  so  auffallend,  daß  ich  an- 
nehmen möchte,  es  werde  aus  leichter  Entstellung  von  Ö7i£p 
xpoxdcpoug  durch  unglückliches  Raten  eines  Abschreibers  unser 
(joaTtsp  -/.oyXiocg  erst  entstanden  sein.  Wenigstens  wem  die 
Vergleichung  so  wie  sie  da  steht  zu  stumpf  oder  auch  zu  kühn 
ist,  dem  mag  mein  Vorschlag  empfohlen  sein,  bei  Amphis 
urc£p  xpoxäcpou^  einzusetzen. 

3.  lieber  die  Porträtbüsten  Piatons,  die  von  den  Archäo- 
logen mit  der  Berliner  Herme  Castellaui  zusammengenommen 
und  zufolge  der  Inschrift  dieser  Hernie  auf  Piaton  gedeutet 
werden,  hat  0.  Benndorf  1899  (J.  H.  d.  Oesterr.  Arch.  Inst. 
II  S.  251)  das  Urteil  gesprochen:  „Alle  jene  Köpfe,  selbst 
der  beste  im  Vatikan,  dem  ein  gewisser  Anflug  von  Eleganz 
nicht  abzusprechen  ist,  sind  mehr  oder  weniger  geringe  Dutzend- 
arbeiten der  römischen  Zeit  und  trotz  ihrer  unzweifelhaften 
Zusammengehörigkeit  so  verschiedenartig  im  Ausdruck,  daß 
man  mehr  eine  Summe  einzelner  Merkmale  als  ein  festes  Bild 
erhält.  Es  ist,  als  wenn  man  die  Züge  von  Schiller  und  Goethe 
lediglich  in  der  Marktware  unserer  kleinen  Gips-  oder  Bis- 
quitbüsten  besäße.  Man  wird  geduldig  weiter  beobachten  und 
suchen  müssen,  bis  einmal  ein  Glücksfund  wie  der  Sophokles 
des  Lateran  ein  durchschlagendes  Kunstwerk  schenkt,  das  den 
Typus  eindrücklich  und  für  immer  feststellt".  Zu  den  9  Dar- 
stellungen, die  Benndorf  im  Auge  hatte,  ist  inzwischen  noch 
eine  zehnte  (Kopf  im  Museum  von  Aix)  hinzugekommen.     Das 


Platonica.  337 

Urteil  Benndorfs  wird  aber  heute  noch  gelten.  Ich  glaube 
namentlich,  daß  das  Bild  der  vatikanischen,  mit  der  Inschrift 
Zenon  versehenen  Herme,  das  z.  B.  dem  Piaton  Windelbands 
(Frommanns  Klassiker  der  Philosophie  IX)  vorgesetzt  ist,  uns 
einen  recht  falschen  Eindruck  gibt.  Bernoulli  (Griech.  Ikono- 
graphie II  S.  30  f.)  äußert  sich  bei  Vergleichung  dieser  Herme 
mit  der  Berliner  dahin:  ihr  um  einige  Jahrhunderte  höheres 
Alter  ^)  und  der  Umstand,  daß  eine  größere  Anzahl  nahe  ver- 
Avandter  Darstellungen  sie  unterstützen,  verleihe  ihr  das  größere 
Gewicht.  „Die  Berliner  Hei-me  erschiene  danach,  obgleich 
gerade  auf  ihr  der  Nachweis  des  Platobildnisses  beruht,  als 
die  am  wenigsten  treue  Kopie.  Indes  in  einem  Punkte  dürfte 
sie  trotzdem  dem  Original  näher  kommen  als  der  Zeno.  Die 
Breite  der  Stirn  wird  so  ausdrücklich  als  Charakteristikum  des 
Plato  überliefert,  daß  man  erwarten  muß,  sie  auch  in  seinem 
Bildnis  stark  betont  zu  sehen.  Bei  den  römischen  Repliken 
wird  man  in  dieser  Beziehung  eher  enttäuscht".  .  .  „Wenn 
wir  also  geneigt  sind,  die  Schädelbildung  der  Berliner  Herme 
für  ikonisch  authentischer  zu  halten  als  die  sog.  Zeno,  so  muß 
man  es  fast  bedauern,  daß  nicht  auch  noch  ihre  anderen  Ab- 
weichungen als  Züge  des  Originals  betrachtet  werden  können. 
Namentlich  der  ruhige,  von  keinem  Unmut  oder  Schmerz  ge- 
trübte Ausdruck  derselben  stimmt  so  viel  besser  zu  unserer 
Vorstellung  von  dem  'göttlichen  Plato',  daß  wir  ihm  gerne  den 
Vorzug  geben  vor  dem  mürrischen,  unzufriedenen  des  Zeno. 
Aber  es  scheint,  daß  an  dieser  Morosität  nicht  gerüttelt  wer- 
den kann,  da  schon  die  Komiker  darauf  anspielen  und  die  neu 
entdeckten  Wiederholungen  sie  jeweilen  bestätigt  haben.  — 
Auch  die  majestätische  Breite  des  Bartes  und  seine  Gliederung 
in  Strähne,  obschon  sie  an  und  für  sich  mindestens  ebenso 
platonisch  anmuten,  wie  der  Keilbart  der  anderen  Hermen, 
stehen  zu  allein,  um  für  das  Ursprüngliche  angesehen  werden 
zu  können.  Was  den  Verfertiger  des  Berliner  Kopfes  zu  der 
Umgestaltung  bewogen,  lassen  wir  dahingestellt.  .  .  Die 
Herme  macht  trotz  dem  gelockten  Barte  einen  durchaus  ehr- 
würdigen Eindruck".      Also   auch  Bernoulli  hat  das  sehr  be- 


')  Sie   ist   nach  Winter   um  die  Mitte    des    1.  Jahrh.  v.  Chr.  gear- 
beitet, die  Berliner  Herme  setzt  Robert  ins  2.  oder  3.  Jahrh.  v.  Chr. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  3.  22 


338  C.  Ritter, 

stimmte  Gefühl,  daß  der  Gesicbtsausdruck  der  vatikanischen 
Büste  verfehlt  sein  müsse,  —  nur  beschwichtigt  er  die  Mah- 
nung zur  Vorsicht,  die  sich  daraus  ergibt,  durch  die  Erinner- 
ung an  „die  Komiker".  Was  er  dabei  meint,  ist  nichts  anderes 
als  jene  oben  behandelte  eine  Stelle  des  Amphis.  Merkwürdig, 
daß  gerade  auf  sie  einst  auch  Visconti  (Ikonogr.  Gr.  I  233) 
sich  berief,  um  eine  in  den  charakteristischen  Zügen  von  jenem 
Zenon-Platon  außerordentlich  verschiedene  kleine  Büste  als 
echtes  Bild  des  Philosophen  Piaton  zu  erweisen,  indem  er  be- 
hauptete, es  sei  „d'apres  la  description  que  les  anciens  nous 
ont  laissee  de  ses  traits  et  de  ses  Images,  impossible  de  ne 
pas  le  reconnaitre".  Demnach  ist  das  Komikerfragment  offen- 
bar nicht  ganz  eindeutig.  Vor  allem  dürfte  es  jedoch  nütz- 
lich sein,  daß  man  sich  klar  mache  (was  ich  anderswo  näher 
auszuführen  im  Begriff  bin),  jene  Verse  haben  vielleicht  gar 
nicht  dazu  dienen  sollen,  die  gewöhnliche  Miene  des  Philo- 
sophen zu  kennzeichnen;  es  sei  ganz  wohl  denkbar,  daß  sie 
nur  den  vorwurfsvollen  Ausdruck  beschreiben,  den  sein  Gesicht 
in  einem  bestimmten  Falle  annahm.  Wir  kennen  ja  den  Zu- 
sammenhang nicht,  aus  dem  sie  herausgerissen  sind.  Dann 
aber  weiter:  Wenn  die  Berliner  Herme  erstens  die  äußeren 
Umrisse  der  Kopfbildung  wohl  am  richtigsten  widergibt,  wenn 
sie  zweitens  (wie  Bernoulli  S.  31  auch  zeigt)  allein  geeignet 
ist  die  Brücke  zu  bilden  zwischen  dem  übertrieben  breitstir- 
nigen  Pariser  Kopf,  den  ßeinach  für  das  echteste  Abbild  er- 
klärt, und  den  viel  schmäleren  Köpfen  der  römischen  Samm- 
lungen, außerdem  aber  drittens  ihr  Ausdruck  am  ehesten  be- 
friedigt, —  ist  es  dann  nicht  der  natürlichste  Schluß,  daß  wir 
diesen  Ausdruck  als  den  am  ehesten  zutreffenden  anerkennen 
müssen?  Ich  bin  überzeugt,  es  wäre  z.  B.  Windelband  (oder 
seinem  Verleger?)  nicht  eingefallen,  den  vatikanischen  Kopf, 
der  uns  so  verdrießlich  anblickt,  diese  „nicht  gerade  intelli- 
gente philisterhafte  Physiognomie,  welche  gegen  einen  Philo- 
sophen zu  sprechen  scheint"  *),  seiner  auf  ein  größeres  Publi- 
kum berechneten  Darstellung  Piatons  vorzusetzen,  sondern  er 
hätte  sicherlich  eher  die  Berliner  Herme  gewählt,  wenn  nicht 


*)  Diese  Charakterisienuig  hat  Heydemann  davon  gegeben,  als  der 
Kopf  noch  nicht  auf  Piaton  gedeutet  wurde. 


Platonica.  339 

deren  Arbeit  so  roh  wäre,  daß  der  gewöhnliche  Beschauer  an 
ihr  wirklich  keine  Freude  haben  kann,  während  die  glatte 
Eleganz  der  vatikanischen  Büste  auf  dem  Titelbilde  wenigstens 
besticht.  Um  ihr  mehr  als  bestechenden  Schein  zuschreiben 
zu  können,  müßte  ich  zuvor  darüber  Belehrung  erhalten,  wie 
es  denn  zu  erklären  sei,  daß  die  rohe  und  späte  Berliner  Kopie 
so  überzeugend  wertvolle  Züge  enthalte,  wenn  sie  nicht  eben 
nach  einem  Originale  von  großem  Wert  und  eigenartiger  Be- 
deutung gefertigt  wäre.  Ich  wage  auch  die  Frage  zu  stellen, 
ob  denn  wirklich  ganz  ausgemacht  ist,  daß  die  10  Köpfe  alle 
eine  und  dieselbe  Person  darstellen  sollen.  Ich  glaube  es  immer 
noch  nicht,  weiß  allerdings  wohl,  daß  darüber  mit  Anspruch 
auf  Beachtung  zu  urteilen  mir  schon  deshalb  nicht  zusteht, 
weil  ich  nicht  in  der  Lage  war,  die  Köpfe  wirklich  zu  be- 
trachten und  so  zu  vergleichen,  ja  nicht  einmal  von  allen  zu- 
reichende Abbildungen  gesehen  habe.  Leider  enthält  ja  auch 
das  neueste  Werk  von  Bernoulli  nur  eine  Auswahl  von  sol- 
chen, und  wenn  ich  diese  mit  dem  im  Jahrbuch  des  D.  Arch. 
Instituts  und  in  den  Jahresheften  des  Oesterr.  Arch.  Instituts 
Gegebenen  zusammenhalte,  so  fehlt  immer  noch  Wichtiges. 
Die  Versicherung  Bernoullis  aber  (S.  30)  „wenn  man  sämtliche 
Köpfe,  die  Berliner  Herme  eingeschlossen,  in  eine  fortlaufende 
Reihe  mit  jeweilen  flacher  und  breiter  werdendem  Schädel 
ordnet  ^),  wobei  der  Pariser  ans  Ende  zu  stehen  kommt,  so 
ist  der  Unterschied  zwischen  den  unmittelbar  auf  einander 
folgenden  kaum  merkbar.  In  Bezug  auf  den  Ausdruck  sind 
die  Abweichungen  noch  geringer.  Einzig  der  in  Strähne  ge- 
gliederte Bart  der  Berliner  Herme  verrät  eine  künstlerische 
Absichtlichkeit,  welche  über  die  gewöhnliche  Kopistenlicenz 
hinauszugehen  scheint"  genügt  mir  nicht  ganz  und  ich  kann 
mich  auch  nicht  völlig  beruhigen  bei  der  (S.  33)  von  ihm  ab- 
gegebenen Erklärung  über  die  Unechtheit  des  Namens  Zenon 
auf  der  vatikanischen  Herme:  „Derselbe  ist  schon  vor  der 
Entdeckung  der  Berliner  Herme  als  höchst  verdächtig  bezeich- 


^)  Ich  würde  es  mit  herzlichem  Dank  anerkennen,  wenn  ein  Ar- 
chäologe sich  entschlöße,  eine  Zusammenstellung  sämtlicher  Köpfe  in 
guten  Stirn-  und  Seitenansichten  zu  geben,  zusamt  den  Abbildungen 
von  Gemmen  u.  s.  w.,  die  in  Betracht  kommen  können. 

22* 


340  C.  Ritter, 

net  worden  [Visconti  Ikon,  Gr.  I  207  An.  Nur  Heydemann 
äußerte  nocli:  An  der  Echtheit  der  Inschrift  zu  zweifehl  finde 
ich  keinen  Anhalt,  Jen.  Litt.  Ztg.  1876  p.  477].  Er  ist 
flüchtig  und  nachlässig  auf  eine  wahrscheinlich  viel  früher  ver- 
fertigte Herme  eingeritzt  und  muß  im  Konflikt  mit  der  Ber- 
liner Platoaufschrift,  welche  zeitlich  mit  der  Arbeit  ihrer  Herme 
übereinstimmt,  notwendig  den  Kürzeren  ziehen".  Ob  wirklich 
die  beiden  Inschriften  mit  einander  „im  Konflikt"  stehen? 
Das  wäre  erst  sicher,  wenn  uns  ein  hinlänglich  beglaubigtes 
Bildnis  des  Stifters  der  Stoischen  Schule  nachgewiesen  wäre, 
dessen  Verschiedenheit  von  dem  angeblichen  Zenon  der  vati- 
kanischen Sammlung  in  die  Augen  fiele.  Einstweilen,  so- 
lange sich  z.  B.  der  Einwand  hören  läßt,  die  Farnesinische 
als  Zenon  bezeichnete  Herme  dürfte  den  Epikureer  dieses 
Namens  darstellen  (vgl.  Bernoulli  II  S.  137),  kann  man 
zweifelnd  fragen:  warum  sollte  der  Stoiker  Zenon  dem  Piaton 
nicht  soweit  ähnlich  gewesen  sein,  wie  die  vatikanische  Herme 
der  Berliner  ähnelt?  Ich  gebe  ohne  weiteres  zu,  daß  die 
Wahrscheinlichkeit  nicht  eben  groß  ist  und  daß  insbesondere 
die  Schmalheit  des  Kopfes  jener  Farnesiuischen  Herme  als  ge- 
wichtiges Anzeichen  in  die  Wagschale  fällt  für  den  Begründer 
der  Stoa,  der  nach  dem  Zeugnis  des  Apollonios  von  Tyros  (bei 
Diog.  VII,  1)  ioyybc,  rjv  UTTOfJiyjxyjc.  Was  wir  über  seinen  Ge- 
sichtsausdruck hören,  stimmt  sowohl  für  den  Farnesinischen 
als  für  den  vatikanischen  Kopf:  axuyvöv  xe  elvai  xa:  ucxpcv 
xac  x6  TipoawTiov  auv£aTiaa{X£vov  (Diog.  VII,  16).  Wären  meine 
Bedenken  über  die  Zusammengehörigkeit  der  10  Köpfe  gründ- 
lich zerstreut,  dann  bliebe  damit  immer  noch  der  Wert  der 
vatikanischen  Herme  sehr  anfechtbar.  Der  Kopf  im  Museum 
von  Aix  z.  B.  stellt,  so  weit  ich  aus  der  Abbildung  bei  Ber- 
noulli ersehen  kann,  für  mich  in  viel  annehmbarerer  Weise 
als  jener  einen  Piaton  dar.  Daß  der  vatikanische  Kopf  ein 
gelungenes  Porträt  Piatons  sei,  werde  ich  glauben,  wenn  mich 
erst  die  Schüler  Christs  von  der  Echtheit  des  13.  und  2.  Pla- 
tonischen Briefes  überzeugt  haben  werden:  zu  ihnen  paßt  dieser 
Ausdruck. 

Schon   W.  Heibig   hat   im    Jahrbuch    des   D.  Arch.  Inst. 
(S.  75  ff.)    versucht,    einen   zweiten   Typus    der  Piatonporträts 


Platonica.  341 

nachzuweisen,  der  den  Philosophen  als  Greis  darstellt.  Der 
Kopf  einer  bei  Chiusi  gefundenen  Berliner  Doppelherme  „mit 
kahler  Stirn  und  welkem  Fleisch"  soll  ihn  vertreten;  das 
Gegenstück  ist  Sokrates.  Außerdem  hat  Heibig  (S.  72  und 
77  f.)  auf  eine  athenische  Doppelherme  aus  dem  3.  Jahrh.  n. 
Chr.  aufmerksam  gemacht,  die  zwei  bärtige  Köpfe  einander 
ijeffenüberstellt,  von  denen  der  eine  mit  hoher  Wahrscheinlich- 
keit  als  Piaton  in  Anspruch  zu  nehmen  sei.  In  dem  anderen 
will  Heibig  ein  Phantasiebildnis  von  Pythagoras  sehen  (Sokra- 
tes kann  es  nicht  sein),  da  die  Zusammenstellung  Pytliagoras- 
Platon  bei  der  „geistigen  Richtung  der  damaligen  Generatio- 
nen" ohne  weiteres  verständlich  wäre.  lieber  die  erste  dieser 
Doppelhermen  bemerkt  dann  Benndorf  (S.  253)  folgendes: 
„Eine  Doppelhernie  des  kön.  Museums  in  Berlin  [Beschreib, 
d.  ant.  Skulpt.  n.  299]  vereinigt  mit  einem  Bildnisse  des  So- 
krates nach  Heibig  ein  solches  des  greisen  Piaton.  Der  Ber- 
liner Katalog  scheint  diese  Auffassung  abzulehnen  und  die 
Skizze,  die  er  mitteilt,  verstattet  als  solche  kein  eigenes  Ur- 
teil". Bernoulli  sagt  von  ihr  (H  S.  23),  sie  sei  „von  einer 
gewissen  allgemeinen  Verwandtschaft  mit  der  Kastellanischen 
Herme,  aber  der  Scheitel  völlig  kahl;  vielfach  verletzt  und 
von  unbedeutender  Arbeit  (18  cm  hoch)"  und  (S.  26)  sie  sei 
„zu  schlecht  erhalten  und  nach  Maßstab  und  Arbeit  zu  unbe- 
deutend, um  einen  größeren  Einfluß  auf  die  Frage  ausüben 
oder  sie  gar  entscheiden  zu  können".  Von  der  athenischen 
Doppelherme  gibt  Benndorf  (Fig.  138  auf  S.  254)  eine  Ab- 
bildung nach  einem  Gipsabguß  der  Wiener  Sammlung.  Sie 
unterscheidet  sich  von  dem  bekannten  bisher  durch  10  Num- 
mern vertretenen  Typus  nach  Bernoullis  Kennzeichnung  (II 
S.  29)  durch  eine  schmalere,  höhere  Stirn,  durch  einen  kür- 
zeren Bart,  durch  anders  angelegtes  Haar  und  eine  andere 
Bildung  der  Nasenwurzel".  Bernoulli  zählt  sie  eben  deshalb 
(als  Nr.  12)  unter  den  zweifelhaften  Darstellungen  auf.  Sollte 
die  Benennung  Piaton  für  den  einen  der  beiden  Köpfe  zu- 
treffen, so  wäre  die  Benennung  Pythagoras  für  den  andern 
trotz  dem  was  Heibig  dafür  beibringt  kaum  annehmbar.  Es 
spricht  gegen  sie  nicht  nur  der  von  jenem  erwähnte  Umstand, 
daß    die   Münzstempel,    auf   denen    Pythagoras   vorkommt,  ein 


342  C.  Ritter, 

anderes  Bild  zeigen,  sondern  namentlicli  auch  der,  daß  der 
fragliche  Kopf  wie  sein  Gegenstück  Porträtzüge  trägt.  Heibig 
schreibt  zwar:  „fragen  wir,  welcher  andere  Philosoph*')  in 
solcher  Weise  mit  Plato  zusammengestellt  werden  konnte,  so 
bleibt  nur  die  Möglichkeit  an  Pythagoras  zu  denken".  Aber 
das  ist  nicht  richtig.  Warum  sollte  nicht  an  irgend  ein  spä- 
teres Schulhaupt  der  Akademie  gedacht  werden,  mit  dem  der 
Stifter  der  Schule  eben  so  gut  zusammengestellt  werden  konnte, 
wie  z.  B.  Metrodoros  mit  Epikuros  oder  auch  wie  Piaton  sel- 
ber mit  Sokrates?  Außerdem  mag  man  an  Piaton- Archytas 
denken.  Bei  der  engen  persönlichen  Freundschaft,  die  die 
beiden  großen  Männer  verband,  mußte  der  Gedanke,  sie  in 
plastischer  Darstellung  zu  vereinigen,  den  Zeitgenossen  nahe 
liegen.  Und  die  Herme  kann  ja  wohl  Nachbildung  eines  alten 
Originals  sein.  Von  Archytas  ist  (nach  Bernoulli)  bis  jetzt 
kein  Bild,  sondern  nur  die  zu  einem  solchen  gehörige  Basis 
bekannt. 

Besondere  Wichtigkeit  hat  Benndorf  einem  für  die  Wiener 
Sammlung  erworbenen  leider  stark  beschädigten  Marmorkopfe 
(15  cm  hoch)  beigemessen,  den  er  (Tafel  IV  von  vorn,  Fig. 
137  S.  252  von  der  Seite)  zur  Abbildung  bringt.  Er  findet 
„die  Form  des  sehr  großen  und  auffällig  langen  Schädels  mit 
den  bisherigen  Bildnissen"  (d.  h.  denen  des  anderen  Typus) 
„voll  übereinstimmend"  und  erklärt  die  Abweichungen  größten- 
teils aus  der  „höheren  Altersstufe,  die  zur  Darstellung  gebracht 
ist".  Auffällig  ist,  wie  er  bemerkt,  „die  abnorme  Große  beider 
Ohren".  „Man  wird",  meint  er,  „hierin  ein  Anzeichen  von 
Treue  erblicken  dürfen  und  damit  den  Gesamteindruck  beglau- 
bigt finden,  in  dem  sich  eine  gewisse  müde  Milde  mit  schwer- 
stem Ernste  paart,  und  der  an  sich  einheitlicher  und  natür- 
licher wirkt,  als  was  andere  Köpfe  in  Verzerrung  bieten".  „In 
Stirn-  und  Haarbildung"  stehe  diesem  Wiener  Kopfe  der  der 
Athenischen  Doppelherme  am  nächsten,  dem  übrigens  ein 
zweiter  im  Athenischen  Nationalmuseum  aufbewahrter  Kopf 
sehr  ähnlich  sein  soll.  Bernoulli  äußert  sich  über  den  Wiener 
Kopf,  der  ihm  so  zweifelhaft  ist  wie  die  mit  ihm  verwandten 


")  Nämlich  außer  Sokrates. 


Platonica.  343 

Athenischen,  sehr  vorsichtig:  „Trotz  der  allgemeinen  Aehn- 
lichkeit ')  ist  der  Eindruck  nicht  der  der  Identität.  Nament- 
lich fehlt  die  charakteristische  Haaranlage  über  der  Stirn ;  das 
Haar  ist  hier  dünn  und  tritt  in  zwei  Winkeln  zurück". 

Ich  kann  nur  so  viel  sagen,  daß  es  mich  außerordentlich 
freuen  würde,  wenn  der  von  Heibig  mit  schüchterner  Zurück- 
haltung eingeführte,  von  Benndorf  anerkannte  zweite  Typus 
Platonischer  Porträtdarstellungen  sich  als  haltbar  bewähren, 
wenn  neuere  Untersuchungen  den  Zweifeln  und  Bedenken,  die 
seiner  allgemeinen  Anerkennung  im  Wege  stehen,  ein  Ende 
machen  würden.  Denn  so  etwa,  wie  uns  der  Wiener  Kopf 
und  die  Athenische  Doppelherme  sein  Bild  mehr  nur  andeuten 
als  zeigen,  möchte  ich  mir  Piaton  vorstellen  dürfen.  Freilich 
auf  Gefühlen  ruhende  Vorurteile  und  Wünsche  entscheiden 
hier  nicht.  Aber  so  viel  ist  sicher:  über  die  Vermutungen 
sind  wir  immer  noch  nicht  hinaus;  wir  wissen  heute  noch  nicht, 
wie  Piaton  wirklich  aussah. 

Tübingen.  C.  Ritter. 


Nämlich  mit  den  Büsten  des  andern  Typus. 


XIII 

De  Mercurio  Arislophaneo. 

I. 

Sequentibus  paginis  de  Mercurio  ab  Aristophane  depicto 
disputabo.  Magni  enim  est  momenti  ad  naturam  dei  ipsam 
cognoscendara  docuraentuin  religionis  Atticae  tarn  grave  atque 
verba  comici  nostri  singula  recte  intellegi.  Et  primum  quidem 
ad  Pluti  fabulam  nos  convertamus,  ubi  inde  a  v.  1099 
Mercurius  in  scena  versatur. 

V.  1098:  ouoelq  eotxev  •  aXXa  SYjxa  t6  dvpioy 
cpO'eyyofievov  aXXws  xXauacä 
xXauocäv  eodem  modo  a  7«Xaua(£iü),  —  exat)  conformatum  ac 
Xl^-iöcv,  vu[JLcptav  cet.,  i.  e.  janua  morbo  quodam  afifecta  semper 
in  60  est  ut  ploret  —  jam  Cario  januara  sine  causa  lamen- 
tantem  est  clausurus  quum  ipse  deus  subito  apparet  speciem 
sine  dubio  lamentabilem  prae  se  ferens  neque  ab  ea  rerum 
condicione  caelestium  quae  in  Olympo  jam  regnat  lamentatione 
digna  abhorrentem.  Jam  velim  ante  oculos  ponas  et  ipsam 
januam  quae  plorantis  in  modum  cardinibus  vertitur  et  deum 
januae  praesidera,  xöv  axpocpatov,  axpocpea,  tio- 
Xuaxpocpov,  axpocpcoü^ov,  qui,  genius  quidam  januae,  Stridoren! 
cardinum  moleste  vertentium  effecit:  nullus  dubites  quin  deus 
jam  primum  appareat  neque,  ut  vulgo  interpretantur  editores, 
jam  antea  janua  pulsata  a  conspectu  Carionis  se  abdiderit. 
Deus  enim  ac  janua  fere  idem  valent  (nolocioq,  TipoTcuXaio;, 
■npbc,  x-^  uuXcSc,  TxuXr]56xo;),  signa  vero  dei  Athenis  sicut  tota 
Attica  usitatissima,  hermas  dico,  ante  portas  et  urbis  et  aedi- 
ficiorum  civium  positos,  ubicunque  conspiciebantur  (v.  Prel- 
ler-Robert Gr.  Myth.  I  402).  Quam  ob  rem  equidem 
sentio  Mercurium  re  vera  januam  omnino  non  attigisse  (quam- 


S.  E  i  t  r  e  m ,  De  Mercurio  Aristophaneo.  345 

quam  alias  deus  joci  plenus    est    mendacissimus),    sed   januam 
tamquam  indicium  dei  miseri  jam  affiituri  rerumque  divinarum 
lamentatione  dignarum  ploratum   edidisse.     Recte  igitur  schol. 
P,  [laxTjV  xa  Xüjv  xXatovxwv  (xi^eixac. 
V.  1118. 

xa:  xü)v  [X£v  aXXwv  [xoc  d-züiv  yjxxov  [jleXsc, 
eyü)  5'  dcTiöXwXa  xä7i:x£tp'.(X[j.at.  (Kor. )  Hwcppovei?. 
Rebus  domiui  afflictis  servus  sui  semper  curiosus  sibique 
soli  consulens  transfugium  meditatur,  ejus  igitur  criminis  re- 
vera  v.  1150  arguitur:  xauxo|JioX£iv  aaxsiov  elvac  aoc  ooxe:.  Le- 
pidissimum  sane  inventum  comici  nostri  hie  babemus  neque 
tarnen  Aristophanis  proprium  est.  Eodem  enim  modo  apud 
Aescbyium  Prometh.  v.  974  ratioHes  suas  causae  Olympioriim 
anteponit  cavens  ne  in  numerum  ceterorum  deorum  ab  adver- 
sario  vexatorum  referatur : 

(Prüm.)    x^iow;  xXcowvxa;  übe  xou;  sjjiou;  eyü) 

£X8'pou;  loot|JLC'  xac  ae  o'  ev  xouxoi;  Xeyü). 

(Herm.)  r]  v.  ä  [ik  yap  x:  oujjicpopac;  eTZMX'.ä. ; 
Versibus  proximis  igitur  suum  tantum  damnum  lamentatur 
servorum  omnium  exemplar,  superiorum  deorum  infimus,  ma- 
lorum  pessimus,  miserorum  miserrimus.  Eundeui  in  modum 
Mercurius  Aeschyleus  Olympicorum  partibus  quamqiiam  pueri- 
liter  melius  carte  fungitur.  Qui  deus  in  ectypo  quo  templum 
Minervae  in  arce  Atheniensium  extructum  Phidias  adornavit 
totius  Olympiorum  consessus  extremus  sedet,  vere  mortalibus 
humana  atque  fere  servili  indole  proximus  accedit,  nunc  certe 
—  ut  apud  comicuni  nostrum  legimus  —  res  humanas  cae- 
lestibus  anteponeus  m  o  r  t  a  li  s  fieri  vult  servus! 

V.  1122  öa'  sixos  saxcv  "E  p  [j,  ■:^  v  eaö-istv  —  se  ipsum 
nomine  commemorat,  ad  h  e  r  m  a  s  simul,  ut  suspicor,  referens 
qui  ad  januas  institorum  m  a  n  e  apertas  (cf.  Liban.  Or.  X 
p.  294,  Blaydes)  frequentes  exstabant,  quorum  magnus  nume- 
rus in  ipso  Atheniensium  foro  erat,  ubi  potissimum  oi  xaxcrjXcc 
secundum  Piaton.  ßep.  371  d  sedebant:  et  se  miserum  prae- 
dicat  et  blanditias  voluptatesque  praeteritas  amplexatur  — 
pueriliter  sane  et  ut  misericordiara  commoveat.  Olim  us- 
que  a  primo  diluculo  etiam  a  sordidissimis  colebatur  religio- 
sissime. 


346  S.  Eitrem, 

V.  1 1 23  vuvc  CS  7X  £  c  V  ö)  V  a  V  a  jj  a  0  7]  V  a  v  a  r:  a  6  o  [jl  a  t. 
Otium  sibi  molestissimum  quod  sacrificia,  i.  e.  bellaria  omnis 
generis,  oraissa  iiuntio  deorum  velocissimo  itineris  semper  stu- 
dioso  creaverunt  commiseratur :  e  a  m  ob  causam  Mercurius 
semper  in  itinere  est!  ut  ipse  scilicet  dapibus  fruatur!  Contra 
cena  carenti  domi  remanendum  est. 

Divinum  mebercule  muuus  servoque  neque  Olympico  nun- 
tio  dignissimum.  —  Ceterum  animus  fert  ut  d  v  a  ß  d  o  r]  v 
cum  scholiis  nonnullis  sie  interpreter:  dvw  e/tov  xov  Tiooa  e; 
TÖv  äWov.  Talem  fere  in  ectypo  supra  commemorato  si  nou 
Mercurium,  at  certe  Hartem  sedentem  mortalesque  deorum 
conventui  appropinquantes  observantem  finxit  Phidias.  Digito 
igitur  porrecto  oculos  vel  potius  animos  spectatorum  ad  ima- 
ginem  notissimam  is  qui  partes  dei  egit  convertere  potuit. 

V.  1127  e  tragoedia  aliqua  desumptum  olim  fortasse  Mer- 
curius nuntins  Jovis  ipse  protulit:  sie  carte  cavillatio  ludicre 
augetur  (schol.  tantum:  utco  t'.vo^  aldepia;  cpwvf];  r^y.oujs.). 

V.  1129.  Vulgo  vox  daxiüXcd^siv ,  ubi  praecedens  xwXtj 
ludicre  repetitur,  ad  Mercurium  „trepidantem  et  tripudiantem " 
(van  Leeuwen)  refertur,  utpote  qui  fame  conficiatur.  Quae 
notio  versui  1131  oouvyj  ae  izepl  xd  cnXdyyyix  'ioiy.i  xt,  axps- 
cp£tv  inesse  videtur.  Tarnen  mea  quidem  sententia  äay.iü'kid^zv^ 
ad  Mercurium  alatum,  pennis  et  petaso  et  pedibus  affixis  (cf. 
Av.  578)  ornatum,  est  referendum :  identidem  e  terra  alternis 
pedibus  paululum  evolans  domum  humanam  neque  jam  caeles- 
tem  (cf.  aföpiav  quod  sine  dubio  liie  plus  quam  simplex  illud 
£v  £u5:'a,  siih  clivo,  valet)  quo  volando  pervenitur,  intrare  fru- 
stra  conatur.  Conferas  velim  Eubul.  fr.  8  ubi  totum  jocum 
bujuscemodi  saltationis  elodlleixloii  atque  xaxappcüv  continere 
apparet. 

Ceterum  fieri  potest  ut  poeta  hie  non  solum  rusticum 
illum  xü)V  'Aoy.wXcwv  ludum  sed  rem  quandam  ad  eultum 
Mercurii  pertinentem  significet;  memor  enim  sis  velim  histo- 
riae  illius  Apemosynae  a  Mercurio  vitiatae,  de  qua  Apollodo- 
rus  II  2,  1,  4  sie  tradit:  ""Epjjifj;  auxTj;  spaaSs:;  w;  cpEoyouaav 
auxTjv  y.axaXaßsÖv  oux  yjoovaxo  (:r£ptrjv  ydp  auxoü  xö  xd/£'. 
xwv  Tzooüy),  xazci  xf;^  öooö  ^  ü  p  a  a  q  uTtEaxptüOE  VEOodp- 
xouc,    £cp'  d;  öXtail&öGa  f^vixa  driö  xf^;  xpYjVTj;    et^ävyje:   cpösi- 


De  Mercurio  Aristophaneo.  347 

pexac.  Quae  coria  veicotpxa,  lubrica  quae  vestigium  viatorum 
non  recipinnt  atque  iit  cadant  efficiunt,  pertinere  videntur  ad 
^ivou;  hymn.  in  Mercur.  v.  124  commemoratos  (vide  quae  ex- 
posui  Philol.  V.  LXV  260) ;  denique  suspicor  equidem  et  xtr- 
p'jy.ov  (vgl.  Merc.  KwpuxtwTr^S)  et  aaxov  (cf.  Gruppe  Gr- 
Myth.  327,  750)  eundem  ad  cultum  Mercurii  referundos  esse. 
V.  1131  aperte  mea  quidem  sententia  Mercurium  signi- 
ficat  axpocpaöov  (aliter  ludit  poeta  v.  1154).  Olim  autem 
deus  januam  cardinibus,  nepl  xoug  aTpocpLyya;,  vertit,  nunc  vero 
se  ipsum  visceribus,  tz  £  pl  xa  ouX  öcy  X"^  °^i  torquet !  Am- 
bigue  vero  dictum  est  et  illud  uepl  xa  QTuA^c/ycx. ,  sc.  „quod 
ad  viscera  attinet  a  te  jam  commemorata"  et  „circum  vis- 
cera"  neque  dnbitationis  locus  relinquitur,  modo  animo  tibi 
fingas  deum  ipsum  prope  fores  stantem  atque  seuiper  aedes 
intrare  conantem. 

De  V.  1132  plura  infra  disputabo  (Pac.  v.  433). 
Tunc  -f]  Tiopof]  V.  1133  insequitur  quae  vini  fungatur  vice 
sitienti  (Hemsterhuisius) ;  e7:tT::wv  „adbibens"  unum  illud  dicit 
„inter  cenam  (TiXaxoövxa,  xioylvjv,  onXdyyva)  bibendi  esse  tem- 
pus"  (quod  propter  van  Leeuwenium  moneo,  contra  recte  fere 
Blaydesius).      Nimirum    Cario    cibo   vinoque    exsatiatus    (cf.  v. 
699)    suo  modo  patronum  divinum  eo  condonat  quo  condonari 
vult.     Hie    vero  dubium    esse   non   potest  quin  poeta   comicus 
epici  poetae  et  ipsius  omnes  Mercurii  partes  ridicule  trac- 
tantis  vestigia  premat,  dico  hymn.  in  Merc.  294  sqq. 
t6x£  6y]  xpaxü^  "Apyetcpovxrj? 
0  i  (1)  V  ö  V  Tiposr^xev,  äeip6\}.zyoc,  [JLSxa  X^P^-i 
xXrjixova  y  a  a  x  p  ö  $  epiö-ov,  axaaO-aXov  d  y  y  £  X  c  co  x  T;  v. 
Neque  multum  differt  Mercurius  ille  domum  reversus  at- 
que antrum  intrans: 

aüpy]  ÖTccDpiv^  EvaXiyx'.o?  rjiix'  b[ii-/Xr] 
(cf.  Philol.  1.  1.  260,  n.  17).  Mercurius  quod  alias  aliis  con- 
donat nunc  ipse  contra  accipit.  Equidem  vero  opinor  rem  de 
qua  hie  agitur  latius  patere:  perlegas  velim  quae  0.  Jahn 
Sachs.  Ber.  VII— VIII  p.  48  ad  tales  crepitus  ventris  quos 
„pro  numinibus  habuerunt"  (Clem.  Recogn.  V  20)  illustrandos 
adnotavit  neque  dubites  quin  tales  ayysXco  (dyyeX^wxai)  pro- 
digia  quaedam  Mercurii  propria  habita    sint.     Fuit  enim  deus 


348  S.  Eitrem, 

KXer]S6v:o?.  Mercurius  itaque  et  pedendo  et  sternuendo  ominis 
auctor  fit  (v.  Philol.  LXV  270  sq. ;  afferre  fortasse  licet  etiam 
Plut.  De  Iside  et  Os.  c.  14  de  more  Aegyptiorum).  Facitne 
huc  xuxewv  ßXyjxwvcas  Av.  Pac.  v.  712,  sc.  qui  ventrem  inflat 
atque  ut  crepitet  facit? 

Carlo  vero  etiam  ad  nuntium  deorum  celerrimum,  et  olvo- 
yoov  (Athen.  X  425  c,  cf.  infra)  et  ayyEXov,  xpox^v  Aioq 
(Aesch.  Prom.  491)  alludit:  aTzoxpiy^oiv  xauTyjv  oOx  av 
cpö-avotc,  partesque  fere  easdem  servus  hie  atque  divinus  ille 
infans  Homericus  agit  (v.  quae  Philol.  vol.  LXV  270  adno- 
tavi).  Post  V.  1133  Carlo,  qui  simul  cum  t^  iiopbji  se  con- 
vertlt,  jam  in  eo  est  ut  domum  intret:  retlnet  eum  deus  nihil 
Indlgnatus,  fleblll  voce  jam  supplex  f actus. 

Tum  V.  1134  ap'  wcpeXfjaac;  av  xc  xöv  aauioö  cpi'Xov  plena 
atque  propria  vis  verbo  cp  c  X  o  v  asserenda:  prae  ceterls  enlm 
deis  Mercurlum  a  m  1  c  u  m  mortalium  appellabant.  Jam  II. 
XXIV  373  sie  eum  appellat  Priamus  senex  cptXov  texvov,  iti- 
dem  Calypso  Od.  V  88  aiSoio;  xe  cpcXog  xe,  tum  v.  Hymn.  in 
Merc.  525,  Hippon.  fr.  16  B,  Aesch.  Ag.  493  cpiXov  XYjpuxa, 
Phryn.  fr.  58  K.  &  cpcXxaö-'  'Ep|jL^,  Ar.  Nub  1478,  Pac.  416, 
718,  393  cp:XavöpQ;T:ü)xaxo?;  Orph.  h.  28,  4  cpcXavope,  9  cptXe 
d-yriXQlc,  £v  dvccy-zcat?,  Luc.  Char.  1  w  cptXxaxov  'Ep[Jiao:ov,  He- 
liod.  V  15  Y.d(.XXi(3Xoq  xac  dyatJ-wxaxo^  xwv  -Osöjv,  Plaut.  Cas. 
238  homis. 

Per  totam  auteni  haue  scenam  coquum  deorum,  cujus 
in  animo  epulae  dapesque  solae  sunt,  atque  mortalis  domini 
cocjuum  ^),  imaginem  illius  divini  expressam  (cf.  v.  190  sqq.), 
inter  sese  colloqui  animo  est  retinendum  (v.  schol.  ad  v.  1134 
Dübn.).  Jam  v.  1107  Jovem  totum  mundum  in  unum  confusurum 
cum  coquo  una  in  lance  omnia  commiscente  contendit  Mer- 
curius. 

V.  1187  autem  6  \idyeipoc,  amicus  Carionis  et  quidem 
praecipuus  audire  vult :  deus  qui  semper  carnis  cupiditate  uri- 
tur  et  jam  hymn.  Homer,  v.  64  xpetwv  epaxi^wv  dXxo 
xaxd    oxoTziri'^    nunc    adulescens    factus    zpea;    veavcxov 


')  In  V.  1105  adnotatione  dignum  videtur  Carionem  sie  irrederi 
Uta  ceteris  •9-epä7couat  sejungatur  bestiarumque  in  numerum 
referatur. 


De  Mercurio  Aristophaneo.  349 

desiderat  (v.  1137).  Qiii  olim  bellaria  omnis  generis  devora- 
bat,  nunc  fame  confectus  simplici  pane  carneque  contentus  est. 
Famem  enim  ferre  omnino  non  valet,  unnm  illud  x  a  t  a  cpa- 
yEtv  in  animo  est.  Neque  mirnm:  Mercurius  enim  primus 
ignem  e  lignis  contritis  elicuit,  tum  primus  deis  sacrificavit 
divinaeque  rei  operatus  ipse  culinae  Olympicae  praefectus  est. 
Fabulae  ritusque  veterum  Indorum  eundem  transgressum  illu- 
strant.  Eandem  divini  sacerdotis  sive  coqui  naturam  leviter 
jam  Homerus  quoque  perstrinxit  Od.  V  101  sq.  ubi  longioris 
itineris  Mercurium  valde  pertaesum  est:  nullam  mortalium 
urbem  se  vidisse,  ouSe  Tic,  ayxt  ßpoxwv  nöXic,  oixe  %-BolaiV  \  tspa 
TS  ps^ouao  y.od  s^atxou;  IxaTo^ißac.  Quin  quod  ab  Antolyco 
praecipue  cultus  est  (Od.  XIX  397):  xw  yap  y.zxc(,pio[xeva. 
(X  Tj  p  c  a  xal£v  /  äpy&y  r]o'  ept'cpwv  •  o  bi  ol  Tipöcppwv  a[x'  ömjost). 
Neque  sine  veritatis  specie  conjicere  licet  etiam  alios  poetas 
comicos  ante  vel  post  nostrum  Aristophanem  studiose  non 
modo  servum  sed  coquum  deorum  descripsisse.  Apud  Lucianum 
quidem  multa  deprendere  mihi  videor  quae  eodem  spectant. 
Jam  Prom.  c.  10  deum,  ut  mihi  videtur,  a  Prometheo  irrisum 
huc  revocare  libet:  exetvcov  (sc.  xwv  av^pwnwv)  oOx  eaxcv 
öaxi:;  xtp  (layetpü)  axaupoö  av  xt^ifjOacxo,  et  xa  xpsa  ediwv  xa- 
d-elc,  xöv  SaxxuXov  xoö  J^(ji)[jioü  xi  T^epceXcxtJLrjaaxo  t/  6v:x(ji[iiv(üv 
dTcoa7T:aaa;  xt  y.axs^po'/ß-iovj ,  dXXa  auyyvwiJLr^v  dTiovE[jtouacv  ky.ei- 
vcic,'  et  0£  xa:  r.dv\j  opyiaO-slev  v)  xovouXoug  Ivexpicpavxo  V]  xaxd 
xcppyjs  ETidxa^av,  dv£axoXo7r:a-9'7]  6s  ouo£:i;  Tcap'  aoxoc?  xwv  xyj- 
/"axouxwv  £V£xa,  Tales  enim  v.o\if\)£ia;  qualium  Prometheus 
numerum  convivarum  arguit  commisit  et  ipse  Mercurius,  quin 
in  xpewv  5:avo[i'^,  in  partibus  singulis  victimarum  rite  divi- 
dundis,  similis  furti  crimine  tenebatur,  quod  testatur  hymn.  Ho- 
mer, in  Merc.  129  (v.  Philol.  1.  1.  p.  257,  259).  Neque  multo 
post  Prometheus,  verbis  owxyjp  idwv  usus,  (c.  18),  tecte  et 
deos  omnes  et  qui  accusatoris  partes  agit,  Mercurium  ipsum, 
significat  (cf.  Hom.  hymn.  XVIII  12,  XXIX  8,  Od.  VIII  335). 
V.  1140  £yü)  a'  av  Xav^dv£:v  ettolouv  d£:.  Idem  enim  hie 
deus  ac  filius  Antolycus,  qui  secundum  Hes.  fr.  112  Rz,  oxx: 
X£  X^p'^-  '^d'^^oY.z'j ,  d£:S£Xa  Tidvxa  x:'9-£ax£V,  valet,  cf.  Pherec. 
fr.  63  (schol.  Od.  XIX  395)  dyz  ydp  xaüxrjv  xr]v  zky^riv  r.apoc  xoö 
Tcaxpoi;,  wax£  zohc,  dv{)-pd)Ti;ou;,    Sx£  xXstixo:  x:,  Xavx^dvstv. 


350  S.  Eitrem, 

V.  1147:  jam  uuus  e  servis  fieri  vult  deus.  Certior  enim 
factus  nihil  cibi  esse  domo  efFerendum  (oüx  sxcpopa,  v.  1138) 
unum  illud  relictum  sibi  esse  videt  se  ipsum  in  aedes  tamquam 
servnm  intromitti,  ut  ßcoToov  sibi  inveniat  (v.   1165). 

Mercurius  qui  aliis  auxilium  ferre  seiet  (Iptouvto?  =  jxsya- 
XcücpcXY];  Corn.  16,  cf.  £ij£p|Ji:a,  'Ep{xara  döoig)  jam  ipse  anxilio 
indiget  ((bcpeXetv  v.  1135):  6  xleTzz-rjc,,  Xrjtaxrjp,  cprjXrjxrjs 
nunc  graviore  epitbeto  ornatur,  sc.  x  o  ly^w  p  üy^o  c,  (v.  1141) 
neque  alio  ascendit  gradu  poeta  v.  565 :  uavu  yoöv  %Xe7üX£LV 
xcajjitov  eaitv  xal  xou;  xoiyouc,  Siopuxxecv.  Pervulgatum  enim 
dei  dictum  xotvog  6  'Epixfje,  xoovöv  xö  "Ep|Jiatüv  ad  patellas,  non 
ad  piagas  pertinet  (1141)!  Iratum  ut  consoletur,  in  cpcXav- 
^pwTiov  (Ar.  Pac.  393),  cp^avSpov  (Orph.  h.  XXVIII  4),  eO- 
vouaxaxov  (Ar.  Pac.  602)  se  convertit  deus :  [xyj  [ivr^ao  y.  a  %  yj  - 
c^c,  —  obliviscatur  igitur  oportet  Cario  xoö  xazoö,  injuriae  et 
a  collega  divino  et  mebercule  a  domino  ipso  plagarum  auctore 
illatae  ! 

Neque  aliter  v.  1147  duplex  notio  verbo  ^6  v  01x05 
inest:  nam  custos  januae  deus  TipoTiuXato?  seniper  domi  rema- 
net.  Jusjurandum  vero  Mercurii,  dei  perfidi  perjurique 
(cf.  Od.  XIX  395,  hymn.  in  Merc.  274,  383  sqq.  quaeque 
Philol,  V.  LXV  269  sq.  scripsi)  nibili  est.  Stupefactus  igitur 
Cario  v.  1148  interrogat  sitne  revera  relicturus  deos  per  quos 
jam  juravit.  Per  p  a  t  r  e  m  autem  Jovem  et  quidem  domi- 
num juravit  adulescens  quod  jusjurandum  Cario  v.  1116  irri- 
sionis  causa  repetivit. 

Sequentibus  versibus  Mercurius  x  u  v  s  c  v  xe  vöov  -/.od  bkI- 
xXoTxov  i]d-oc,  prae  se  fert  —  talia  enim  Pandorae  apud  Hes. 
Opp.  67,  77  sqq.  donavit  —  neque  multum  differt  imago  a 
poeta  comico  depicta  ab  illa  Aeschylea  celeberrima:  utrique 
enim  indoles  servilis  atque  canina  innata  est,  cui  unum 
illud  valet :  ibi  remanendum  ubi  optime  vivatur  i.  e.  cenetur 
(cf.  1118  sq.).  Jam  pridem  Mercurius  ille  hymni  Horaerici 
sacrificans,  omnia  commodis  suis  i.  e.  ventre  suo  mensus, 
utilitati  ceterorum  deorum  nihil  servit.  Ibidem  infans  in  cunis 
recubans  quanti  xa  Swpa  hominum  faciat  primum  aperte  de- 
claravit  (v.  168): 


De  Mercurio  Aristophaneo.  351 

vöäc  |JL£x'  ai)-avaxccac  dSwpr^xoc  xa:  cHiaxoi 
auxoö  X'^Se  [xevovxe;  avE^ofieO-'. 
Nimirnm  oaixö;  exacpo?  illic  fieri  vult  (v.  436).  —  Suspicor 
vero  etiani  nostrae  fabulae  v.  1114  sv.  vocibns  oO  XLßavwxov 
ou  Sacpvyjv,  oü  (|;aiax6v  se  ipsum  honore  defraudatum  prae  ce- 
teris  commiserari  (ture  certe  saepius  Mercurio  sacrificatur,  cf. 
e.  q.  G  e  r  h  a  r  d  Ges.  akad.  Abh.  T.  67,  1). 

V.  1153  sqq.  seriem  cognominum  a  vilissimo  (axpocpato?)  2) 
usque  ad  nobilissima  (T^yspidvco;,  evaywvio?)  pertinentem  deus 
ipse,  jam  vero  Tistacvou?,  (Preller-Robert  Gr.  Myth. 
I  418,  4),  qiii  olim  ipsum  Apollinem  ira  incensum  mollire  et 
sibi  amicum  conciliare  potuit,  praeter  spem  repulsis  acceptis 
animosior  factus  persequitur.  Incipit  a  re  proxima,  a  janua 
propter  quam  jam  diu  stat,  per  quam  (xa  Txp6\)upa)  coram 
Jove  liymn.  Homer.  III  384  jurat.  Neque  poeta  mores  jam 
simplices,  aKXobc,  xpcnou;  (v.  1158)  praedicare  potuit  nisi  di- 
vini  illius  infantis  memor  qualis  bymn.  III  13,  439  tc  o  X  6 - 
X  p  0  n  0  c,  fingitur.  'Hy  £  [x  6  v  c  o  ?  vero  Mercurius  quamquam 
euaxoTios  (bymn.  Homer.  II  22,  III  73,  IV  262,  II.  XXIV  24) 
vulgo  audit,  non  quo  caecos  recta  via  ducat,  sed  quia 
errantes  vel  viae  nescios  vel  in  teuebris  versantes  ad  itineris 
finem  perducit  (Aristopbanem  poestea  imitatus  est  Lucianus 
in  dial.  qui  Timon  inscribitur).  A  t  h  e  n  i  s  vero  splendido 
hoc  epitbeto  ornatus  a  praetoribus  verno  tempore  celebratus 
est :  Atbeniensium  igitur  Yjy£(x6va  ipsum  Cario 
extenuat  detrectatque. 

Ea  tandem  condicione  intrare  licet  deo  ut  omnium  uno 
vilissimo  munere,  sc.  diaconi,  fungatur,  cf.  Od.  XV  319 
(cum  schol.): 

Tiöp  x'  £5  vrjfjaac  oia  x£  ^üXx  Sava  X£aaaat 
Satxp£Oaac  xe  xa:  ÖTixfjoac  xac  otvo)(ofjaac 
oloi  X£  xoi;  ayaO'Ocac  TiapaSpwwac  ^EpyjE?. 
Qnarum  rerum  peritiam  Ulixes  ad  auctorem  divinum  et  quidem 
Mercurium    refert:    'Ep[JL£'Lao    Exr^xt  otaxxcpou  o;  pä  x£   uavxwv 
j  av^'pwTztüV  Epyocat  /dpcv   xa:   xöSo;    ÖTzd^ei.     Itaque  usque  ab 
Homeri   temporibus    servum  Olympiorum    omnibus    mortalibus 


naXiyxäTi-^Xos  tarn  est  sordidae  condicioiiis  ac  (xi  ■/.a.Tzr^}d5sc,  v.  1120. 


852  S.  Eitrem, 

servis   in    singuHs  quoque    rebus    antecellentem   finxerunt    sibi 
Graeci,  coliierunt  certe  servi  ipsi  ^). 

Quod  vero  sie  intromittitur  deus  oKAdy/yDiv  cupidus  (v. 
1130)  ut  statim  ventriculos  lavet  (1168),  qui  sine  dubio  ipsi 
deorum  niinistro  saepenumero  obvenerunt  (cf.  Pac.  fin.),  Xouxpcc 
Mercurii  (e.  g.  Pausan.  VIII  16,  1,  cf,  hymn.  in  Mercur.  v.  241 
veöllouxoc,  et  v.  268  atque  quae  Philo).  1.  c.  p.  267  exposui) 
in  animum  revoco,  Nimirum  lavatum  mittitur  qui  et  ipse  la- 
vationi  studet.  Quantum  vero  differt  hie  Mercurius  ab  illo 
puero  lautitiarum  studioso  qualera  se  ipse  principio  colloquii 
V.  1120  sqq.  perhibuit !  Qui  demisso  animo  a  TiuXacü)  ince- 
pit,  tune  repulsis  exagitatus  pro  y]yeixov'M  se  vendere  vult,  jam 
in  servorum  infimorum  numerum  redactus  est.  Per  totam 
igitur  scenam  deus,  cujus  persona  tragoediarum  scriptores  sae- 
penumero usi  sunt,  a  servo  niortali,  omnes  partes  fugitivi  illius 
divini  servi,  alias  Atheniensibus  notissimas,  atque  etiam  epi- 
theta  Sacra  in  ridiculum  trahente,  irridetur,  sieut  ipse  Mercu- 
rius hymni  Homeriei  olim  fratrem  Apollinem  aemulum  et 
auctoritate  et  natu  majorem  ir.iziiiivoc,  avaocsirjv  (v.  156)  irri- 
dens  ludibrio   habuit.     Quin    quod    Cai'io    exadversum    servum 

^)  Litteras  perlustrana  nonnulla  huc  pertinentia  inveni  quae  satis 
clare  ostendunt  quantum  valuerit  illa  imago  Homerica  apud  scriptores 
sequentes:  Aesch.  Prom.  941  xöv  toö  lupdcvvou  Sidxovov.  Similiter 
scholiai5ta  quoque  Aristophaneus  ad  v.  1153.  Eodem  judico  etiam 
Anaxandr.  fr.  57  (II  160  Kock),  ubi  potenti  dotnino  servus  gloriatur, 
pertinere : 

t6  vexiap    iaO-iü)  uävu 
lidiKüv  SiaKÖvü)  x'  dp.ßpo:jiav  y.ai  x  öj  Att 
ö  t  a  X  0  V  ö  xal  osiivög  si|i,'  sxia-coxe 
"Hpq:  XaXcöv  xai  K'JTtp'.St  uapaxa&v^iisvoj. 

Eadem  in  re  exquisite  describenda  multus  est  Luc.  D.  d.  XXIV 
1 :  E  ü)  ^  £  V  egavaatavxa  oaipEiv  xöauji^iöoiov  bsl  xal  S'.aaxpwaavxa 
xyjv  xXioiav  süO-Exioavxä  xe  sxaoxa  Trapsoxävat  xcp  Ail .  .  .  >cal  suavsX&övxa 
ixi  x£xcivi[i£vov  Tcapaxi'S-evai  xy)v  diißpoaiav'  Ttplv  5e  xov  ViWVTj- 
xov  xoOxov  ohoyoo^  t/XcLv,  xal  xö  vixxap  iycb  k^ky^zov  .  .  .  (§  2)  5  i  a  - 
X  0  V  0  ö  [i  a  i  (xotg  'AXx|iYjvv]g  xal  Z£[isX7]g)  .  .  el  yoöv  Suvaxöv  rjv  ,  vj^icog 
dv  Tjgtcoca  TXSTipdoO-ai  woTitp  oi  i  v  y  ^  x  a  x  w  g  S  o  u  X  e  0  o  v  x  s  5 
....  (Maia:)  oößei  ic,  "A^-{og  .  .  [itj  xal  TrXvjyds  ßpa5'jvo)v  Xdßigg.  —  Cha- 
ron  2:  xoüxtov  xö  7cpäy[ia  T^Xvjywv  atxtov  xaxaaxr^asxai  |iot.  .  .  .  oOx  dxov- 
SuXov. 

Similiter  iu  Orco  quoque  apud  Charonta  Mercurius  potius  servi 
quam  adjutoris  partes  austinet,  v.  Luc.  mort.  dial.  4  et  10  ubi  curat 
ne  scapham  intrantes  nimium  onerent  naviculum.  Catapl.  4  custodi 
ergastuli  vel  lorario  haud  dissimilis  est;  Charon  1  olvox.ö(i)V,  Sacr.  8 
ÖTiripsxTis  xal  dyysXtacpöpo;.  Denique  C  e  r  e  r  i  et  Proserpinae  servit 
Kai  bei  Epigr.  785,  Proserpinae  dii'^cTioXoj  Orpb.  h.  57. 


De  Mercurio  Aristophaneo.  353 

tarn  flebilem  se  ipse  pro  domino  gerit  v.  115G:  xi  ouv  'Epjjifjv 
TtaXtyxaTirjXov  yj  [x  ä  5  osi  xpecpsiv  atque  alias  saepe  (cf.  v.  1168): 
ad  servitium  revera  mortale  vel  eo  demissius  cadit  minister 
divinus!  Tantam  igitur  sibi  sumit  arrogantiam  servus  Athe- 
niensis  quantam  alias,  e.  g.  Pacis  in  fabula  quam  jamjam  per- 
scrutabimur,  Mercurins  ipse. 

IL 

Jam  multis  annis  ante  quam  Pluti  fabula  data  est,  Ari- 
stophanes  Mercurium  ita  loquentem  atque  agentem  induxerat 
qualem  et  pii  Athenienses  colebant  et  poetae  celebraverant, 
scilicet  in  Pacis  fabula,  v.  180  sqq.  Ibi  quoque  mea  sen- 
tentia  multa  accuratius  definire  licet  quam  interpretibus  vide- 
tur,  dummodo  cultum  dei  Atheniensem  ante  oculos  ponas. 

V.  150  7zi%-VJ  ßpoToö  [JL£  TxpoaeßaX'  —  öa[jifj  vel  cpwv/j 
supplenda  secundum  scholiastas.  Recte  sane :  nempe  c  o  q  u  u  s 
divinus  odorandi  epularum  nidoris  sagacissimus  est  indagator^). 
Verba  vero  antecedentia  xiq  ev  Acö;  {)upaiacv,  in  quibus  tragici 
quid  inveuit  editor  van  Leeuwen,  aperte  xov  xcpoTiuXacov  •8'eov 
vel  potius  xöv  -ö-upaöov  (Inschr,  aus  Pergamon  II  325,  cf.  322, 
I  244),  xöv  ev  TipoO'upo:^  (Preger  Inscript.  metr.  n.  119),  per 
quae  TipoQupa  hymn.  in  Merc.  384  jurat  (cf,  etiam  v.  158,  271) 
significat:  janitor  ^)  igitur  coeli  (v.  195  xiXzoöv  [loi  xov  Af, 
cf.  Plut.  1131  et  Philol.  vol.  LXV  251)  et  quidem  impuden- 
tissimus  qui  omnia  ex  advenis  percontatur  neque  conviciorum 
ullum  novit  modum  liic  inducitur  Mercurius. 

V.  180.  Per  Herculem  jurat  is  qui  alterum  deum  palae- 
strae  saepissime  sibi  arae  sociuni  adiunxit.  Neque  tarnen  se 
fortem  praestat  auctor  ille  omnium  palaestrae  virtutum. 

V.  188  autem  ridicule  per  terram  jurat  is  qui  coelum 
habitat,  ad  Mercurium  vero  libenter  jurantem  et  pejerantem 
conferas  velim  quae  ad  Pluti  v.  1147  adnotavi.  Ceterum  lec- 
tores    ad   statuam  Mercurii   in  Areopago    erectara    atque   inter 

*)  Vehementissime  nidore  tentatur,  hymn.  in  Merc.  131  ö  §  p.  tj  yäp 
p.iv  exsLps  xocl  äB-ävaxöv  usp  lovta  yjSsIa  (aliter  neque  recte  quod 
videam  Robertus  verba  accipit  facetiarum  plena,  Hermes  XLI  ^^94:). 
De  antro  odoris  pleno  ib.  281  narratur:  öS[i7j  £[isp6eaaa  bC  oöpeos  *?jY3c- 
^BOi.0  xiSvaxo,  cf.  v.  65. 

'°)  Talis  primum  apparet  H.  XXIV  446  sqq.  ä--fap  5'  wigs  u'jXag  xal 
är^öasv  ö-/r,'x<;,  cf.  Lucian.  quoque  D.  d.  IX  1  [verba  NeptuniJ  upooccy- 
YeiXov  aüxö). 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  3.  23 


354  S.  E  i  t  r  e  m  , 

Plutonem    et   T  e  r  r  a  m    collocatam    (Paus.  I  28,  6)    provoco 
(cf.  Aesch.  Pers.  628   yß-övioi   oai|xov£;    äyvoi,   Vi]  xs,  tlocI  'Ep- 

R  .  .  .)• 

V.  188.  Facile  deus  mortem  minatur  m  o  r  t  a  1  i  ipse 
quidem  mortuorum  dux  atqne  mortis  expers. 

V.  ISO  vinitor  sollers  laudatur  is  qui  e  Tpu^,  xpay-ifj  nomen 
traxit  Trygaeus ,  sie  M  e  r  c  u  r  i  i  animum  captans  qui  alias 
pacifer  litium  amans,  spaatrjS  TrpayiJLaTüJv,  non  fuit.  Neque 
vero  deus  ipse  a  vinetorum  studio  abborruit  quod  statua  Mi- 
tylenis  erecta  atque  carmine  iuscripta  satis  demonstratur  (CIGr 
II  476,  V.  infra).  Accedit  oz^'.o;, ,  peritissimus  enim  omnium 
rerum  opifex  laudatur  deus,  e.  g.  Od.  XV  318  (v.  supra). 

V.  192  iterum  xa  xpea  vebementissime  coqui  nares  mo- 
vent  (cf.  Plut.  1134,  Hymn.  in  Merc.  131  oojjiy]  yap  (xtv  eiecps), 
alias  xa  axsuapia  divina  (Plut.  1139)  asservantis,  i.  e.  surri- 
pientis  (van  Herwerden).  Neque  multum  differt  Mercurius  ille 
e7ic9-aXa[Jitxyj;  cujus  mentionem  fecit  Hesychius  s.  v.,  v.  Pbilol. 
1.  1.  267.  Ceterum  xa  x'^'i^P^'^^cc  v.  202  sine  dubio  ad  ter- 
tium  Anthesteriorum  diem  (a  Dionysiis,  cum  agitur  fabula, 
haud  longo  intervallo  separatum),  qui  x  »J  "^  P  o  ^  dictus  M  e  r  - 
curio  /{J-oviü)  sacer  erat,  referenda  sunt.  Illo  enim  die 
ollae  leguminum  plenae  mortuis  offerebantur  quas  Mercurius 
in  usum  suum  convertisse  hie  insimulatur.  Ita  enim  explicat 
schob  Acbarn.  1076  :  xat  ■9-6£:v  xol;  x^'^^^'-*  'EpM'Ti  X^^^'^^'v '  't^'^i* 
§£  yüxpac,  Oöbivoc  ysuaaaO-a:  •  xoüzo  oe  uot7]aao  xobc,  Tzepicsoid-iy- 
xac,  iXaaxo[X£VOus  xöv  'EpjJiTJv  xod  Tzepi  xwv  a7iO'9-av6v- 
x(i)V.  In  eodem  verbo  ludit  poeta  v.  922:  xc'6'  äXXo  y'  tj  xau- 
xy]V  yßxpMc,  tSpuxEov;  (Chor)  x'^'^P^'^'^^^  &an£p  |i,£(Jicp6|Ji£vov  'Ep- 
{jiiSlov;  Neque  tamen  nego  sie  quoque  risum  captare  poetam 
comicum  ut  deminutivis  totum  caeli  suppellectile  splendidum 
nihili  esse  ludicre  fingat.  Tum  a[Jicpop£:'Sca  quoque,  si  cum 
schob  ad  V.  |JL£xpa  interpreteris ,  in  Mercurium  quadrant:  is 
enim  %at  [Jiexpa  %ac  axaxJ-fxa  invenisse  dicitur  (Diod.  V  75). 

V.  195  xdX£a6v  [ioi  xöv  Af:  nuntii,  dyyiXou,  vice  fungi- 
tur  Mercurius  (cf.  Luc.  D.  d.  IX  1). 

V.  206  sqq.  eo  modo  accipere  licet  ut  digito  deus  ad  arcem 
atque  templum  Minervae  oculos  spectatorum  convertat:  ibi 
enim  dei    vere    remotissimi    altissimo  loco,    quem  xOxxapov  (v. 


De  Mercurio  Aristopbaneo.  355 

199)  (i.  e.  TÖ  }co:X6xaTov    xa:  [i.u/acxaxov,    scliol.)  appellare  li- 
cuit  poetae,  sedebant : 

tva  [XY]  ßXsTiotev  [Aa/ofxevou^  u|xa?  Itc 
|xrjo'  dvTißoXouvTtüv  ijlTjOs  £v  aüaöavoi'aio. 
V.  211:  facillime  sie  consiliuni  deorum  interpretatur  Mer- 
curius  y-fipnl,  ayyeXoc:,  euvofx^ac;  dioioc,  cpuXa^  (S.-Btr. 
Akad.  Berol,  188,40  in  inscriptione  P  e  r  g  a  m  i  reperta)  qui 
ipse  interpretis  divini  vice  fungitur  et  belli  declarandi 
et  p  a  c  i  s  faciendae  peritissimus  habebatur.  Jam  in  hynm.  in 
Merc.  312  liteni  ad  Jovem  judicem  rejecerat:  ob;  oi  oiy.ri'^ 
v.cd  bi^o  Tcapa  Zrjv:  Kpovcwvt.  Quare  postea  optime  a  poeta 
nostro  is,  qui  ex  omniura  hominum  sententia  bellicosos  sicut 
Pisandrum  illum  v.  395  aspeniatur  Martemque  odit  (457),  ad- 
jutor  Pacis  cujus  naturam  paciferam  praedicat  v. 
533  (oö  ydp  T^Sexac  |  aüxrj  noifjx^  prjfxaxcwv  ocxavixwv)  in  lucem 
protrahendae  perhibetur.  Rectissime  igitur  scholiasta  ad 
V.  450  adnotavit  quod  huc  quidem  pertinet:  dixximc,  Tcpo- 
sxa^c  xöv  'EpjifjV  d)g  al'x'.ov  x-qc,  dvaywy^s  ttj^  Eipyjvrjs.  Affero 
etiam  Orph,  h.  XXVIII  28  ubi  caduceus  etpyjvvjg  otxXov  d[ji£[x- 
cfs;  vocatur,  Aen.  Sophist.  7  xpaxfjpa  axfjaavxsi;  olov  ev  eilpfjVTrj 
Gr,ovodi.c,  7:otT]aü)[Ji£9'a  ■Oecöv  [lev  'EpfX'^  .  .  .  ol  ty]v  axdatv  T^[jiiv 
{jt-iXi;  oieXoaav,  tum  Plaut.  Amph.  82 : 

propterea  pace  advenio  et  pacem  ad  vos  fero, 
itidem  Ov.  M.  XIV  291  pacifer ,  Ov.  F.  V  565  sq.  arhiter 
pacis  et  armorum.  STiovooffopoi;  igitur  unusquisque  est 
nuntius  pacis  condiciones  afferens,  cf.  Arist.  Ach.  211  coUe- 
giaque  complura  sacra  quibus  auctoribus  indutiae  per  dies 
festos  Omnibus  indicantur  (e.  g.  Thuc  V  49,  Xen.  Hell.  IV 
7,  2).  Sic  tandem  intelligimus  quomodo  fieri  posset  ut  isto 
ipso  tempore  Mercurius  multo  majore  cura  quam  olim  a  pacis 
cupidissimis  (v.  401)  coleretur.  Neque  aliter  dei  pacem  dant 
(cf.  schol.  ad  v.  212),  Mercurius  vero  pacem  fert  pa- 
cisque  amator  Bellum  tumultuantem  perter- 
ritus  ignaviaque  motus  fugit  v.  233.  Quare  ignaviae 
crimine  nunc  arguitur  idemque  postquam  Polemus  scenam 
reliquit  —  servili  sane  ingenio  —  reversus  alte  spirat  saper- 
bitque.  —  Ceterum  animadvertendum  est  in  eodera  versu 
adventum  novae  personae  in  scenam  prodeuntis  eundem  in  mo- 

23* 


356  S.  Eitrem, 

dum  ac  in  tragoediis  frequentissime  significari  (Oed.  regis 
eaeci  facti,  Ajantis  Sophoclei  al.). 

V,  362  denuo  Mercurius  e  porta  aedinm  caelestium  prodit, 
utpote  qui  d-upcäo;,  ad  januam  tarn  quam  alter  Cerbe- 
r  u  s  (v.  313)  semper  vigilet  omnique  clamore  excitetur  (v. 
supra).  Iterum  Mercurius  yß-ovioc,  mortem  audaci  minatur,  quod 
ansam  dat  Trygaeo  cavillandi  Mercurium  sortium  praesidem 
V.  365  appellanti.  Nihil  tarnen  nisi  risura  captat  impius:  nam 
alias  'EpiJioQ  xXf^po^  in  sortitione  (XdyrjOi;,)  primum  et  quidem 
felicissimum  indicat  cui  praecipue  favit  'EpfJtfjs  T  6  /  w  v 
vel  5a([xwv  dyaö-og  —  liic  vero  longe  aliter  mortis  condemnatum, 
cui  p  r  i  m  o  ingredienda  est  via  luctuosa  ad  Orcum  ducens 
(cf.  schol.),  significat,  eum  igitur  qui  adversa  fortuna,  i.  e.  ut 
vult  Trygaeus  adverso  Mercurio,  ouaepiaia,  ipse 
xaxoSaijjiwv  utitur. 

V.  367  contra  ad  deum  alludit  mercaturae  patronura 
mercatorumque  fautorem,  i  \in  oAoclov,  xepoefiTTopov, 
ayopatov,  twv  y-aTirjX'lowv  patronum  (Plut.  1120,  ubi  po- 
stea  convicio  7raXcyxa7iY|Xou  oneratur  1156  haud  se- 
cus  ac  6  '/.li-KTTiq  v.  1141  in  xoiywpüyov  calumniandi  scilicet 
causa,  in  sensum  deteriorem,  detorquetur  —  id  convicium  re- 
vera,  tanquam  epitlieton  dei  sacrum,  a  nonnullis  ceteris  dei  or- 
namentis  ascribitur !)  qui  deis  Olympicis  frumentum  Lesbicum 
Eresi  pecunia  comparat  (Arctestr.  Hedyp.  fr.  4,  7)  atque  in 
Orco  quoque  apud  Charonta  eodem  officio  fungitur,  Luc.  d. 
mort.  IV  1.  Irridet  igitur  Trygaeus  Mercurium  forcnsem  ver- 
bis  aTT  6  XwXa;,  r][x7T:  6  Ayjxa,  arc  o  Xo6[j,£vo^  similiter  sonantibus 
insulse  ludens:  is  demum  qui  quo  .  .  .  emat  possidet,  perire 
—  et  vendere  [y.KZ\xv:o\öLv)  \  —  potest:  tw  'E[JL~oAa:(p  soli 
divites  mercatores  omnia  debent,  v.  Plut.  1155  (Plaut.  Am- 
phitr.  1  sqq.).  Tali  modo  etiam  verba  i;  t:v'  -/jjjiepav  de  mer- 
cimoniis  stato  die  vendundis  plenam  vim  accipiunt. 

Ab  eodem  deo  divitiarum  auctore  ipsoque  igitur  divite 
atque  patrono  xwv  xpaTtet^txcov  tres  drachmas  v.  374 
mutuari  vult:  si  hie  quoque  sicut  supra  v.  278  (ubi  ö  [iuiTw- 
t6;  mysteriorum  commemorandorum  ansam  praebuisse  videtur) 
Samothracica  mysteria  dicere  vult  poeta,  tum  jocus  hilarior 
exit:  illa  enim  in  insula  IMercurius  vel  Casmilus,    quartus 


De  Mercurio  Aristophaneo.  357 

Cabirus,  particeps  fuit  vastoruin  donorum  omnium.  Hie  lecto- 
res  ad  vasculum  pictura  rubra  ornatum  provoco  ubi  Mercurius 
pro  sue  canem  fallaciter  sacrificat,  quod  vasculum  a  Studniczka 
Arch.  Jahrb.  VI  (1891)  258  sqq.  (cf.  vol.  VII  144  sqq.)  pub- 
lic! juris  factum  atque  lianc  in  sententiam  explicatum  est. 
Itaque  si  Mercurium  ipsum  pecuniam  praebere  oportet  ut  vic- 
tima  ipsi  offerenda  ematur,  tunc  deus  xspowo^  plane  decipitur. 
Quae  explicatio  v.  386  sqq.  confirmari  videtur :  d  xi  xzxocpia- 
[Asv&v  x'^iploiov  oIg^'Oc  Ttap'  sfxoö  ys  xaxeSvjSoxto^ :  ut  Gallorum 
more  dicam  ä  fourhe  foiirhe  et  demi!  —  Tarnen  equidem  aliam 
quoque  viam  praeterire  nolim  qua  ad  rectum  verborum  sen- 
sum  perducamur:  potestne  fieri  ut  in  versu  insequenti  369 
(Herrn.)  xac  {jiyjv  £TC'.x£xpt^|^a:  ye.  (Tr.)  xaxa  xw  xpoTicp 
oux  r^o^-bixriv  dyai^öv  xoaouxov:  Xaßwv; 
de  corpore  post  balneum  unguentis  perfricando  verba  dei  acci- 
piat  Trygaeus?  Huc  igitur  dixo  X  o  6  [x  £  v  o  s,  haud  longe  ab 
dTüo/lou6|ji£vo^  distans,  duxisse  cavillationis  plenum  videtur.  Ef- 
fecitne  deus,  qui,  ut  vulgo  constat,  occultare  potest  qui  id  orat 
(Plut.  V.  1140),  ut  hie  quoque  tan  tum  „bonum"  latuerit  for- 
tunatum  ? 

V.  376,  cf.  3S0  sq.  S  e  r  v  i  est  omnia  domino  indieare, 
Mercurii  omnia  Jovi  balbutire  —  silere  enim  nequit:  in  suum 
igitur  usum  vertit  poeta  cognomen  Aoycoc,  xf^pu^,  rjTzspoTCEu- 
X  fj  ;  hymn.  H  o  m.  282,  cf.  Luc.  Prom.  4  axwfjiuXos  £c 
•/.od  SixavLxo^  (et  olim  quidem  o^xatog!),  5  Ttpö;  Xo^'oc;  xolc, 
Sixavcxoc?  Pj'^wp,  D.  d.  XXIV  1  £v  xalc,  ex^Xrioiaic,  xyjpuxxeiv 
xal  pfjxopaj  £x5oodax£cv;  Orph,  h.  XXVIII  10  yXwaar];  ostvov 
öizXov  xö  a£ßda[jnov  dv{)'pa)TT:oi,ac  (cf.  v.  12),  v.  4  ib.  Xoyou  ■9'vr^- 
xolai  TTpocp-^xa,  Nonn.  Dion.  XXVI  283  sq.  yXwaayj;  -/^yeiJLOvfja 
oocp'^S,  Theod.  Prodr.  Carm.  astr.  301  sq.  (Bruch  mann 
Epith.  deor.  109)  axwiJLoXo;  et  IdXoq;  dator  sermonis  Carm. 
Epigr.  Buch.  1528  a  =  CIL  VI  520,  facundus  Hör.  Carm.  I 
10,  1,  Martial  VII  74,  l,  Ov.  F.  V  668.  Denique  nemo  neseit 
Mercurium,  Sewv  xfjpuxa,  Pandorae  vocem  dedisse  (Hes. 
Op.  79).  Jam  vero  dominum  trueulentum,  scilicet  Jo- 
vem  tonantem,  cui  domino  poteutissimo  serviens  ipse  revera 
gloriatur,  invocat  (sicut  apud  Aesch.  Prom.  1017  et  1062 
Weil)    —    ipse    enim   servus    ridiculus    irrisusque    nihil    apud 


358  ^-  Eitrem, 

Trygaeum  minis  assequitur  (nunc  quoque  ut  supra  v.  188  ad 
extrema  descendit  mortem  minans).  Jam  vero  Mercurius, 
vanorum  omnium  mancipiornm  exemplar,  5  k  a  tiotcx,  ipse  blan- 
diter  appellatus  v.  377  paululum  ut  apparet  delenitur '').  Blan- 
ditiis  enim  alios  aggreditur,  blanditiis  et  ipse,  sicut  natura 
adulatorum  secum  fert,  facillime  aditur ,  cf.  Plaut.  Amph. 
992  sqq.: 

ut  filium  bonum  patri  esse  oportet,  itidem  ego  sum  patri : 
amanti  su  bparasitor,  bortor,  adsto  etc. 
Eundeni  in  modum  accipiendum  est  v.  385  Co  bianod-''  'EpfJf^ 
(v.  648,  711)  sicut  ille  Bourgeois  gentühomme  poetae  comici 
Gallicani  supercilium  grande  affectans  blandidissimis  adulatoris 
verbis  superbit  fastiditque.  Cumnlus  vero  assentationi  v.  389 
accedit:  oux  dxoüeic,  olot,  -S'WTteuouat  g\  d  ava^  5  e  a  7t  o  x  a  ^). 
Neque  aliter  Cretensium  in  insula  diebus  festis  servi  domino- 
rum  partes  agebant,  v.  Atben.  XIV  p.  639  b:  euwxoujjiivwv 
yap  xwv  oix£tG)v  oi  oeaTioiac  ÜT^r^psxoöa'.v  npbc,  xac  S^axov^'a;. 
Uterque  igitur  servus  vel  ococov,  ut  Graecorum  more  dicam, 
„  adulatur" :  sie  Mercurius  quae  ipse  possidet  dono  dedit  Pan- 
dorae  (Hes.  Op.  78): 

'vjJEUOsa  {)•'  al\s.\iXio\)c,  x£  A  6  y  ou  c,  *xa:  eticxXotcov  fj8oc. 
Adulationem  vero  Trygaei  irrisione  quadam  misceri  patet 
V.  382  [iYj  vuv  X  a  X  rj  a  TTj  s  ,  Ataaopiac  o\  w  'E  p  [jnfj  S  t  o  v :  et 
vox  Xaxelv  vel  Xaxrjoofjiac,  quae  est  sublimioris,  nempe  epicae, 
dictionis,  repetita  et  deminutivuni  'EpfJiyjS^ov  hoc  ostendunt  (cf. 
Luc.  Charon  1  Ttpö;  xoö  uaxpoc,  o)  _cp{Xxaxov  'Ep[Jiao:ov).  Ridi- 
cule  enim  Mercurius  eodem  noraine  appellatur  ac  signum  ejus 
usitatissimum  quod  vulgo  ante  portas  demorum,  in  foro,  in 
viis,  ante  templa  vel  templorum  aditus  (e.  g.  in  Propylaeis 
Atbeniensibus),  ante  portas  urbis  ubique  conspicere  licuit,  sci- 
licet  h  e  r  m  a  p  a  r  v  u  1  u  s.  Sic  v.  924  miseri  bermulae  vel 
Mercurioli  (utrumque  enim  intelligere  licet  et  intelligendum 
est)  meutionem  facit  Xantbias :  ^uxpataiv  w airsp  (Ji£[xcp6{Aevov 
'EpjJifjOLov  (sc.  copuxeov  xyjv  Eüprjvyjv). 

Denique  ut  Mercurium  loquacem  illustrem,  addo  historiam 

*)  Alio  modo  Ssanötyjc  appellatur  Luc.  d.  d.  XX  7,  cf.  ävag  Samo- 
thraciae  celebratum. 

')  Talern  Apollinem  appellat  Bdelycleon  Vesp.  875,  Aesculapium 
inulier  Plut.  748  (schol.  =  ßaoiXsO  'AaxXr/Tc.d). 


De  Mercurio  Aristophaneo.  359 

illam  veterem  de  B  a  1 1  o  narratam  omnia  cuivis  garriente : 
ipsum  enim  Baxxov  nihil  a  Mercurio  ipso  abhorrere  judico 
(ßaTToXoyeiv,  ßaxxapi^ecv  onomatopoeetice  formata  sunt).  Neque 
abhorret  Mercurius  loquax  Lucianeus  Charon  c.  1 :  el  xivcc  XaXov 
vexpov  eupoos,  sxecvo)  uap'  oXov  xov  tcXoüv  otaXsyirj.  Eodem  modo 
jam  in  hymno  Homerico  v.  170  xö  öaptl^etv  plurimi  fecit  prae- 
cipuum  atque  singulare  commodum  deorum  habens.  —  Ad  v. 
389  ubi  deus  animum  ostendit  timore  poenae  semper  anxium, 
affero  Od.  V  99:  Zebc,  e\ii  y'  Yjvwyst  Seöp'  eJ.'ö-qji.ev  oux  ed-i- 
Xovxa,  Luc.  D.  d.  XXIV  eaxi  yap  xic,,  tb  [X'^xep,  ev  cupavtii 
^so;  a,d-Xi(hxspoc,  e[xoö,  de,  xoaaOxa  upayii-axa  exw  [iovoc,  xa{xvwv 
xat  Tipbq  xoaauzocc,  uTtr^peaia?  Scaajxwpi-evoi;  etc.  Oboedire  etiam 
refraganteni  necesse  est. 

V.  405 :  law?  yäp  av  ti  e  t  a  a  t  g  sfxe  dictionis  ornatae 
TiapaxpaYwSoOvxt  convenientis  est  secundum  editorem  van  Leeu- 
wen  neque  miruiii  quia  Mercurius  ipse  üecatvoui;  est  (Cnidi 
sc,  V.  Newton  Halicarn.  Inscr.  n.  30),  cf.  mid-ooiY.ccioawoq 
(Wessely  Denkschr.  Wien.  Ak.  1893,  2,  13)  eidemque  con- 
tra ab  aliis  disertis  persuaderi  potest.  Jam  vero  oeauoxTjs 
V  e  r  u  s  videri  vult  servus  si  verba  ejus  magnifica  animadver- 
tas,  cf.  Carionem  fabulae  Pluti  et  Anaxandr.  fr.  57.  —  Cete- 
rum  observes  velim  quibus  gradibus  Trygaeus  ut  animum  dei 
sibi  conciliet  ascendat:  jam  vero  postquam  et  preces  et  vota 
parum  valuerunt,  Mercurium  ayyeXov  appellat  cui  magnum 
uuntiare  summo  est  honori.  Aliter  vero  ac  Trygaeus  sentit 
Mercurius  ventris  solum  studiosus. 

V.  406  sqq.  Quae  res  hie  indicatur,  in  memoriam  lecto- 
ribus  attentioribus  illud  vetus  consilium  quod  in  Aeschyl.  Prom. 
nobis  traditur  revocat.  Et  tunc  regnum  deorum  infestatum 
est  et  nunc  iterum  a  liberis  Titanidos  illius  antiquae  Theae 
(Hes.  Theog.  135,  371)  in  discrimen  vocatur. 

V.  414.  Fugisse  videntur  interpretes  fabulae  verba  Mer- 
curii,  xoö  [xayecpou  (quod  cognomen  aemulo  certe  Apollini 
additur),  e  furura  et  quidem  coquorum  loquendi  more  re- 
petita.  Sol  Lunaque  dies  suffurantur  orbesque  maligne  arro- 
dunt  eadem  ratione  ac  condus  promus  ipse  caelestium  aedium 
omnia  eodem  more  ligurrit.  Placentae  vero  et  ad  lunae  rotae- 
que   speciem  formabantur    (aeXf^vac,    d[JLa^toes,    v.  Lob  eck, 


360  S.  E  i  t  r  e  m  , 

Aglaoph.  p.  1006,  1074,  cf.  etiam  xp&x6;,  Tpo/taxo;,  xuzXos) 
et  ipsi  Mercurio,  a  quo  placentae  quoque  certae  nomen 
tenebant  (v.  Lobeck  1.  1.),  offerebantur  (CIA  II  1651,  Ar.  Plut. 
1126  TiXaxoOvTo;  ToO  'v  xexpdoi  7i;£7i£|ji[X£Vou,  ib.  v.  1121  oüvoöttoc, 
1136  äpxoQ).  Videntur  igitur  conjurati  imprimis  deorum  coquo 
placentarum  amatore  detrimentum  intulisse.  Similiter  loquitur 
V.  564  sq.  qui  versus  uni  Mercurio  proprii  sunt.  Neque  ab- 
horrent  a  tali  coqui  ingenio  v.  608  sqq. :  talia  enim  facillime 
Mercurio,  flamini  caelesti,  obversari  potuerunt  (s^lcpXsgs  ty]v 
noXiv  I  £[jLßaXtov  arccV'O-fjpa  [itxpöv  M£yapiyvO0  ^ri^iö\ia,xoQ  \  xoci 
^^£cpua7]a£V  xoaoöTov  tc6X£(jlov  etc.).  Idee  nescio  an  re  vera 
ap  \i  <xx  lüXi  a  q  v.  415,  a  van  Leeuwenio  quoque  notatum, 
genuina  sit  lectio.  Nam  Erythris  IIuXios  ä  p  [locx  ex)  q  Mer- 
curius  colebatur  (Rev.  arch.  1877,  1,  119)  atque  IL  XXIV  440 
equos  regit,  690  equos  ad  currum  jungit. 

Eadem  Mercurii  natura,  dei  qui  o  m  n  i  a  ad  s  u  a  m  u  t  i- 
litatem  refert,  proxinns  quoque  versibus  magis  elucet: 
in  illo  Homerico  hymno  infans  divinus  omnibus  artibus,  ut 
honores  vere  Olympicos  assequatur,  utitur,  sacrificans  vero 
omnes  deos  se  uno  excepto  sollemnibus  partibus  defraudat  (v. 
quae  Philol.  v.  LXV  258  sq.  scripsi)  —  at  nunc  aliter!  Omnes 
honores  qui  ceterorum  deorum  proprii  sunt  ultro  offer t  deo 
parum  divino  adulator  neque  jam  indignatur  Mercurius  con- 
juratione  quae  deos  omni  honore  orbabit:  ipse  enim  idem  stu- 
det  ac  conjurati!  Aliter  enim  moratum  sibi  non  fingit  deum 
Trygaeus,  ac  ipse  poeta  hymni  Homerici  puerum  parum  pu- 
dentem  sibi  finxit.  Vestigium  fortasse  expressum  illius  poetae 
etiam  hie  deprehendere  licet  si  veterem  illum  aemulum  Mer- 
curii, fratrem  scilicet  Apollinem,  äXe^ixav-ov  v.  422  intellegas. 
Omni  enim  Graecia  Apollo  colebatur,  aemulus  fratris  minoris. 
Avarus  utique  deus,  et  für  et  sacrilegus  qui  in  Pluti  fabula 
ad  mortales  transfugit,    aliter  XP^^^PP'^'^^ii    ^-  ^25  apparet. 

Quin  idem  et  aurum  et  argentum  mortalibus  dat.  cf.  Luc. 
Tim.  41 :  w  Zeö  xepdaxiz  -/.at  (fiXoi  Kopußavx£5  y.ccl  'E  p  [x  ■^ 
x£po  w£  Tc6ö-£V  xoaoüxov  /puaiov,  hymn.  Homer,  in  Merc.  180 
Tiop^Yjaw  xac  y^pu  a  bv  äXiq  x'  al'^-wva  awrjpov,  v.  249  TioXXo; 
5s  yjp^JOOQ  XE  y.al  apyupo?  evoöv  'ixeixo ,  Aesch.  Eum.  946. 
Xpuati;    vero    etiam    nympharum    nomen    saepius    invenitur: 


De  Mercurio  Aristoplianeo.  361 

ad  talem  quandam  fortasse  spectat  Mercurius  nympharum  ama- 
tor?*^)  An  ad  auriim  deis  inferis  gratum  (v.  Norden  ad 
Verg.  Aen.  VI  169,  3,  E.  R  i  e  s  s  Rh.  Mus.  XLIX  189  sq., 
qui  Artemid.  I  77  aifert)? 

Ita  neque  Mercurio  xw  cpcXw  mortalium  neque  servo  do- 
mini  partes  agenti  neque  deo  ayyeXw  persuadere  potuit  sup- 
plex  Trygaeus:  donum  demura  praesens  et  aurum  refulgens 
cunctantem  vincit. 

V.  429:  ut  opem  sibi  praestet  lapides  removentibus  orant 
choreutae.  Id  vero  SrjfJLCOupytxw?  facere  potest  quia  Ttavxwv 
av^pci)Ttwv  epyo'.ac  X^P-'^  '^^'■^  vJöooq  ÖTcat^et  (Od.  XV  320;  Orpb. 
h.  XXVIII  9  spyaacats  ETiapwye,  similiter  v.   12). 

Tum  pincernae  Olympici  officio  fungitur  deus  v.  433 
sq.  recte  a  van  Leeuwen  illustratis.  Complura  vero  testimonia 
praeter  Alcaenm  Sapphoque  ab  hoc  editore  praeterita  addere 
possum  (cf.  Cic.  De  div.  I  46  ubi  ausvowv  in  somnio  apparet 
matri  Phalaridis  tyranni  et  Blaydes  quoque  ad  Plut.  v.  1132) 
et  primum  quidem  Anaxandr.  fr.  57  (II  160  Kock),  tum  Strat- 
tidis  fr.  22  (I  717  Kock): 

'Epjifj?  öv  eXxoua'  ol  [xsv  ex  r.poyoioio'o^ 
ol  o'  iv.  xaotaxou  y'  l'  a  o  v  l'  a  w  x  £  x  p  a  |x  £  v  o  v  , 
Phot.  (Hes.)  'EpjJi^s  •  Tcoaew^  doöc,^  wg  dya^S-oü  oai'ixGVo?  xat  Acc? 
atox'^po;.     Itaque  huc  quidem  revocandus  est  Plut.  v.   1132: 

ol'[JLOt  oe  xuXtxos  l'aov  t  a  co  x  £x  p.a|Ji,  £  v  r^  S, 
ubi  schol. :  .  .  .  zolc,  jxev  akXoic,  Sc'Soxat  axpaxo^  aTTOvSi^,  xw  0£ 
'EpfiTj  xexpa{X£vy],  alius  vero  schoh:  caov  l'aq)  uSwp  &i.'vw.  Cf. 
Luc.  Charon  1  ubi  Mercurius,  ne  ideni  sibi  oivo)(ooüvx:  ac  Vol- 
cano  accidat,  timore  commovetur.  Imprimis  mentione  dignus 
est  Longus  IV  34 ,  2 :  6  xpaxrjp  e^  o5  auEVOouacv  °Ep[Jifj 
(nocte  sc). 

Apud  Kaibel  Epigr.  815  Cretense  (CIG  2569)  Eriunio 
OTiovorj  quotannis  consecratur,  Mercurium  vero  [vini]  vineto- 
rumque  tutorem  Lesbi  in  insula  cultum  invenio  IGI  II  476 
(supra  ad  v.  190  laud.).  Denique  dies  festi  Coi  celebrati, 
'EpiJLOö   aTTOvSac,    huc    sunt    revocandi    (Ant.  Lib.   15).     Etiam 


^)  In  hydria  celeberrima  a  Miclia  pictore  adornata  prope  Venerem 
XpuoEtg  invenitur,  in  parte  contraria  X  p  u  a  i  g  cum  Demophonte  collo- 
quitur  (Furtwängler-Reichholdt  Gr.  Vasenmalerei  T.  8  sq.). 


362  S.  Eitrem, 

ectypa  compluribus  Graeciae  Asiaeque  minoris  locis  reperta 
atque  Cybeles  nomine  vulgo  nota  ubi  Mercurius  oi^oxöoc,  re- 
praesentatur,  liic  commemoranda  sunt.  Mercurium  Baccho 
olvoyooxi'na.  vel  potius  cantharum  praebentem  ut  equidem  inter- 
pretor  (non  recte  Pernice)  vides  in  hydria  delineatum  Arch. 
Jahrb.  XXI  (1906)  142  sqq.,  T.  1. 

Hie  vez'o  si  hymu.  in  Merc.  v.  130  sqq.  recorderis  eaque 
quae  Philol.  1.  1.  p.  258  scripsi  in  mentem  revoces,  nuUus  du- 
bites  quin  deorum  olvoxooc,  bic  t  o  t  a  m  aTiovorjV  —  ipse  aTiev- 
5(DV  —  ipse  ebibat!     Neque  aliter  agit  v.  456. 

V.  432  epycp  'cpcaXoO[x£V  in  mentem  illum  'Ei^taXxrjV,  dae- 
monem  salacissimum  (=  Panem,  Inciihonem)  spectatoribus 
revocat  neque  aliter  in  eodem  verbo  v.  1348  ludit.poeta:  wv 
d'vex'  omb'bQZ  '^<p  Tieet  xwS:  ^(aptv  |  aXX'  oux  arcoSwaet?  o\jo 
ecpcaXeig  olo  oxi  (cf.  v.  471  £7I£[X7h'tctü)).  "Epyw  vero  de 
venere  quoque  intelligendum,  cf.  II.  V  429  [xstepxso  spya  ya- 
[xoio,  Solon.  ap.  Plut.  Sol.  31  epyov  al.  Eandem  in  sententiam 
si  non  uT:oupy£:v  (v.  430  =  67i'/]p£T£tv),  at  certe  axaX£U£iv  (v. 
440  =  auvouacaaac)  accipiendum  mihi  videtur,  quae  proxima 
vox  apud  coquum  qui  igni  foci  praesidet  (cf.  Callim.  h.  III  691 
no^ifi  x£XPi[Ji£Vog  od%-Xi)  e  axaXaö-öpac  (van  Leeuwen)  in  axaX£U£cv 
av^paxas  convertitur.  Mercurium  vero  amori  libidinique  prae 
ceteris  deis  indulgere  inter  omnes  constat,  cf.  v.  456 

"EpiiTj  Xapta:v  "Qpaiatv  'AcppoStirj  Ilo^to,  Lucian.  D.  d.  15, 
1:  TW  'Hcpacaxtp  cpO-ovöJ  (o:a  xov  ipwxa  xfjs 'Acppooc'xrjc),  ib.  17, 
2,  Anaxandr.  fr.  57  K:  KuTtpiS:  7iapaxa^Yj|i£V05.  Ejusdem  rei 
argumento  est  Phot.  s.  v.  xpiy.i'-pa'Xoq,  quem  hermam  secundum 
Philochorum  Proclides  erexit  'l7i7rap)(ou  £  p  a  a  x  f;  $. 

V.  447  sq.  sie  demum,  ut  mea  quidem  sententia  fert,  in- 
telliguntur  si  patronum  ipsum  institorum  (xwv  xaiurjXwv)  hie 
adesse  memineris.  Qui  tres  versus  Mercurio  dandi  mihi  vi- 
dentur  (jam  antea  eundem  in  modum  se  ipse  aliorum  pertae- 
sus  xXOTxyjg  irrisit,  v.  402).  V.  454  tandem  unus  deorum  ser- 
vus  ignavus  verbera  semper  timens  belluraque  perosus  recte 
proferre  potest.  Quin  quod  v.  450  sqq.  Mercurium  et  hujus 
operis  adjutorem  et  servum  deorum  teete  significant.  Sic  enim 
intelligi  potest  quomodo  a  praetore  ad  mancipium  repente  des- 
cendat  poeta,  perpetuo  igitur  Mercurius,  qui  re  vera  Plut.  1150 


De  Mercurio  Aristophaneo.  363 

r^uTOptoXr^ae ,  irridetur  (apud  Lvician.  Char.  2  crimen  transfu- 
giendi  lioi*ret:  'Acc%-dnep  dTioopavxa  uKb  xoö  A:6s).  Nihil  vero 
obstat  quominus  praetores  quoqne  Athenienses  belli  duces  ig- 
naviae  arguat  Äristoplianes.  Chorum  certe  efficiunt  non  servi, 
sed  avSpec  'Axxcxo:  yswpyoi  (v.  Avgum.  fabulaej. 

V.  457  'Apec  be  [J.fj  .  .  .  [xrjo'  'EvuaXuo  ye  sine  dubio  a 
Mercurio,  poena  servili  jam  commemorata  anxius  factus.  pro- 
nuntiatur,  odit  enim  pacifer  deus  belli  studiosun],  cf.  Corinnae 
frg.  11,  qiiae  pugnam  Mercurii  Martisque  secundum  fabulam 
Tanagrae,  ut  judico,  populärem  narravit.  Neque  tarnen  nudo 
Martis  nomine  aequiescifc  puer,  sed  ridicule  anxius  'EvuaXLOv 
quoque,  vocem  tumultus  militaris  memoriae  epicae  plenam,  e 
Serie  numinum  pacis  fautorum  removere  sedulo  studet.  —  Se- 
quentibus  versibus  Aristophanes  Mercurium,  deam  Pacem  e 
spelunca  protrahentem,  nobis  ostendit:  jam  velim  in  memoriam 
tibi  revoces  quam  saepe  vasorum  pictores  nobis  Mercurium 
diu)(07io[Ji7T;6v  Proserpinam,  ad  superos  reducem,  comitantem  de- 
lineaverint  neque  reginam  inferorum  solam,  sed  Herculem 
alios  quoque  (cf.  e.  g.  Harrison  Prolegom.  277,  602  sq.). 
Sine  dubio  quod  Aristophanes  in  scena  repraesentavit,  Athe- 
niensibus  spectantibus  nihil  novi  vel  miri  praebuit. 

V.  496  xcxxöivxes  zfic,  EipyjVyjs  cjTräx'  avopsctü;:  aperte  vis 
obscoena  Omnibus  bis  verbis  inest,  fortasse  etiam  verbo  iTze\i- 
Tttuxetv  et  xoupyov  v.  471  sq.,  verisimiliter  v.  502  quoque  eun- 
dem  in  modum  accipiendus:  TzpGixoi  yap  auxYjV  xolc,  axopo- 
Boic,  YjXeJ4>ax£  „ perfricuistis  alliis  neque,  ut  par  erat,  un- 
guentis  suavissimis"  vel  ut  cum  Homero  Od.  XVIII  133  loquar: 
xaXXst,  .  .  .  a(j.ßpoac(i)  oowTiep  euaxecpavoe  Ku9-£p£ca  xp^exai.  A 1- 
I  i  u  m  vero  [Megaricum]  idem  valet  ac  membrum  virile  ^),  cf. 
Hes.  axopoSow  •  auvouaoa^^w,  de  Pane  allio  caedendo  Theoer.  VII 
106,  de  pharmaco  eodem  modo  tractando  Hippon.  fr.  5  (=  Tz. 
Chil.  23,  726 — 56,  cf.  J.  Harrison  Prol.  97,  5:  enxdxiq  para- 
aavxej  exeövo^  eic,  xb  nioq  ax  c  X  X  a  t  c;  etc.),  omnino  de  vi  allio- 
rum  purgatoria  Cratin.  fr.  232  et  Diphili  fr.  126  Keck  (v. 
Gruppe  Gr.  Myth.  p.  S89).  Eundem  in  modum  historiam 
quam  apud  Athenaeum  IX  372  a  de  Latona  ventrem  ferente 
legimus  interpretor:  ioxopoxJai  xtjv  Ayjxto  xuouaav  x6v 'AtiöX- 
*j  Estne  sie  liexdpxiov  quoque  v.  568  (Spx'.g  testiculus)  intelligendum  ? 


364  S.  E  i  t  r  e  m  , 

Xwva  X  t  X  X  fj  a  a  t  yri^uXXiooc,  •  oib  oyj  xy]c,  XL[i.f;;  [sc.  Theoxeniis 
Delphis  agendis]  x£xu/7;yw£vat  xauxr^s  neque  verba  Xenarchi 
apud  Athen.  II  p.  63  /ly}o\}  i;  a  üv  o  ixo  q  yrijevri:;  ^oX'^oq 
aliter  intelligenda  sunt.  Ad  nostri  veio  poetae  verba  proxime 
accedit  populus  ille  fabulosus  cujus  mentio  fit  apud  Lucian. 
V.  h,  I  13:  Sxopooo[xaxoi,  si  axöpooov  ideni  ac  izioq^  [xaxxctv 
vero  idem  ac  aXeccpecv  (cf.  Lexicograph.)  valent.  Denique  lec- 
tores  talium  verum  studiosos  ad  Liebrechti  librum  utilissimum 
Zur  Volkskunde  p.  139  refero  (=  Hieronymi  Martmi  Novell, 
etc.  p.  158  sqq.  quocum  conferenda  sunt  Aristoph.  Nub.  1083 
et  verba  Catulliana  XV  18  sq.:  quem  attractis  pedibus  patente 
porta  I  percurrent  raphanique  raugilesque  —  de  poena  m  o  e- 
c  h  o  r  u  m  ,  v.  etiam  Juv.  X  317)  ubi  facetiae  narratiunculae 
illius  obscoenae  eadem  in  vi  uUii  vertuntur.  Nostro  igitur 
loco  „allium  Megaricum"  Pacem  deam  fastidiosam  eandemque 
nitidam  puellam  exacerbavit  {iGy.opödiaz  ^  van  Leeuwen),  i.  e. 
Pacem  vitiavit,  i.  e.  Martern,  xfjs  xpo[j,{i,uo^uepuYjj,ca^ 
(conj.  Blaydes  v.  529)  amantem,  excitavit. 

V.  522  ou  yap  ecxov  oiy.od-ev:  „  omnia  quaecunque  ad 
amphoras  vel  vinum  pertinent,  domi  desunt",  una  cum  vino 
et  ipsa  epitheta  deae,  quae  vinum  mortalibus  condonat,  eva- 
nuerunt. 

V.  548.  Animadvertendum  est  hie  quoque  magnum  Mer- 
curii  de  pace  restituta  gaudium,  cf.  supra  ad  v.  211.  Sagaci- 
tas  vero  dei  in  artibus  artifici  cuique  assignandis  ad  eundem 
Mercurium  Xc/vtxyjv  vel  ovjpLioOpyov  referenda  qualem  jam  v.  429 
vidimus. 

V.  603  sqq.  Mercurius  ooXioc,,  mendax,  fallax  (Poet. 
Lat.  min.  III  291 ;  rectissime  van  Leeuwen  v.  605  sqq.  expli- 
cat)  totum  belli  statum  agricolis,  clientibus  suis  aocpwxaxots, 
i.  e.  stultissimis ,  ut  coqui  ingenium  decet,  describit:  inde 
fumi  similitudo  coquo  notissimi  atque  omnino  deis  universis 
desiderati  (Luc.  Prom.  19).  V.  648  sqq.  X'ö'ovto?  ((|)uxo7iO[X7i6c, 
xafxoas  xöv  dioxwv  apud  Pytbagoreos^°)  fingitur,  'Ep[xrjV£Ws 
autem,  interpretis  (Verg.  Aen.  IV  356,  378),  vice  v.  661  sqq. 
fungitur.     Neque  mirum  xov  Wc'O-upcaxTjV,  cujus  nomine 

^'')  Vere  nunc,  neque  irrisionis  causa  ut  ante  SiajiöxYjg,  v.  648  (711) 
audit.     Fax  et  ;xdxvia  (657j  et  Ssanoivoc  (7U5)  appellatur. 


De  Mercurio  Aristophaneo.  365 

cnm  Venere  «j^t^upw  Amoreque  in  ipsa  Atheniensium  urbe 
colebatur  (Harpocr.  s.  v. ,  cf.  c  u  1 1  u  m  P  h  a  r  i  s  c  e  1  e  - 
berrimum,  Paus.  VII  22,  2  sqq.,  Eust.  Od.  p.  1881,  1, 
vasa  picta  nonmilla  ubi  hermae  delineati  exstant,  Ger- 
hard Abhandl.  II  129)  ciijusque  in  aures,  pudore  moti,  su- 
surraverunt  multi  auxilio,  praesertim  in  anioribus,  egentes,  nunc 
et  ipsum  verba  susurrantis  deae  accipere  eaderaque  auditoribus 
officiose  proferre.  Sicut  Pharis  (Paus.  1.  1.)  is  qui  deum  pre- 
cibus  adit  clam  omnibus  mortalibus  in  aurem  Mercurii, 
hermae  signo  repraesentati,  quaestionem  insusurrat,  responsum 
vero  foro  abiens  voce  fortuito  oblata  accipit  (epwta  Tzpbc,  xö 
oug  TÖv  •9-eöv  öTzolov  xc  xai  sxaaxo)  xo  epwxr^jxa  eaxt.  xö  diib 
xouxou  Se  aTiecatv  ex  xf]5  dyopätc,  £TOcppa^a|JL£Vos  xa  wxa  •  npo- 
eXd-wv  5e  ec,  xö  Ixxös  xa^  X^'-P'^-i  Äixsaxev  aTiö  xwv  wxwv  xac 
:^axcvo5  av  £7caxouayj  cpwv^;,  [xavx£U|Jia  T^yEtxac  —  confert  Pau- 
sanias  oraculum  Apidis  Aegjptiuni)  —  sie  Mercurius  boni 
consihi  auctor  N  u  b.  v.  1478  sqq.  aures  praebet  Strepsiadi 
quid  moliatur  incerto,  nostro  autem  loco  ille  non  tarn  minister 
precnm  (Carm.  epigr.  1528  B  Büchel.)  quam  minister  vocum, 
deae  vel  mortalium,  ayyEXcs,  eodem  modo  susurranti  deae,  in- 
quirentibus  vel  respondentibus  (693  sqq.)  mortalibus  operam  dat. 
Denique  dubium  esse  non  potest  quin  v.  706  sqq.  Mer- 
curius 0  p  o  r  a  m  et  T  h  e  o  r  i  a  m  ,  £  x  a  t  p  a  5  vel  Tiopvai;,  ut 
vult  scholiasta,  adducens  mortalibusque  in  matrimonium  dans 
munere  vujJicpaycbyou  perfungatur: 

wax'  oOoETiox',  (I)  OEarcocva,  dcfTjaG[x£a'9-a  aou. 
(Herm.)  'i%'i  vöv,  i-id  xox>xoic,  xt]v  'Ouwpav  Xocjjißave 

yuvacxa  aauxco  xrjvo£  xax'  £v  xol?  aypoc; 

xauxif]  ^uvoLxwv  £X7io:oO  aauxw  ßoxpus. 
Mercurius  enim  omnis  fertilitatis,  et  hominum  et  animalium  et 
agrorum,  auctor,  nympharum  dearumque  amator  (Röscher 
Hermes  76  sqq.),  cujus  signum  proprium,  berma,  membro  vi- 
rili  ornatum  ubicunque  conspiciebatur,  hie  tamquam  matri- 
m  o  n  i  i  patronus  a  poeta  fingitur ;  neque  tamen  vana  fictio 
est  huie  scaenae  adaptata.  Latius  enim  hoc  Mercurii  offi- 
cium patet:  talis  dux  et  Venerem  Anchisae  —  deum  mor- 
tali  —  et  Eurydicen  reducem  Orpheo  —  mortuam  vivo  — 
et  Alcumenam   Rhadamanthyi   —   mortuam   principi  judicique 


366  S.  Eitrem, 

beatorum  (Ant.  Lib.  33)  —  condonat,  talis  Herculem  Oui- 
plialae  comrnercatur  (ApoUod.  II  6,  3,  1) ,  talis  in  Paridis  ju- 
dicio  deis  certantibus  viam  monstrat,  talis  fortasse  nympbarum 
quoque  chorum  ducit.  Qua  in  re  lectores  ad  ea  quae  alibi 
brevi  sum  propositurus  refero  (v.  S.  R  e  i  n  a  c  h  Rep.  des  vases 
peints  s.  V.  Noce,  impr.  I  234,  521  [=  Mus.  It.  II  T.  1],  II 
152 — 4,  161,  224)  ^^).  Neque  abborret  quartus  mensis  dies  et 
nuptiis  et  Mercurio  et  Veneri  (cf.  Pbilol.  1.  1.  282)  assignatus 
{Hes.  Opp.  800,  hymn.  in  Mercur.  19,  Plut.  Symp.  IX  3,  2). 
Jocose  verba  solita  stc'  apoxto  7ca:'S(i)v  yvrjaLtov,  jam  per  se  agri- 
colae  vufjtcpcü)  accomodata,  in  forraulam  vinitori  convenientiorem 
redigit:  extcocoö  ßoxpu?.  Vis  vero  propria  verbis  illis  ev 
zolc,  dypoic,  za.ÜT'Q  ^uvotxwv  inest:  sine  dubio  ad  nuptias 
sacras,  tepöv  yajjiov,  Cereris  Jasionisque  celeberriraas  quae  in 
agris  a  religiosis  agricolis  ut  suspicor  efficiebantm*  (v.  Od.  V 
125,  Hes.  Tb.  969),  spectat  poeta.  'OTiwpav,  Pomonam,  igitur 
Mercurius  Tpuyatq),  vinitori,  in  matrimonium  dat  et  ipse  vine- 
torum  Studiosus  (Kaib.  Epigr.  812  quod  Bacchus  quidam  de- 
dicavit:  öninq  paocvYj  ota  Tiocvxbc,  j  ä[iT:eXQC,  wpaöov  xapTiov  iyri 
ß  0  T  p  u  (1)  v) :  cultum  tarn  sacrum  quam  rusticum  tangit  vitae 
rusticae  amator,  certe  laudator,  Aristopbanes,  atque  mea  qui- 
dem  sententia  bene  sciens  ipsum  Mercuriuni  buc  induxit.  Talis 
enim  deus  non  ab  eo  abborret  Cabiro  quem  C  r  u  s  i  u  s  Beitr. 
zur  gr.  Myth.  14  sq.,   18  sq.  delineavit. 

Quin  quod  Merciirii  medici  (vel  mysteriorum  pai'ticipis? 
cf.  bymn.  in  Cerer.  209)  ceterum  sane  satis  ignoti  y.  710  sqq. 
vestigium  deprehendere  mihi  videor  memor  bymn.  mag.  ßr. 
Mus.  Papyr.  XL  VI  10  (427):  taaat  xa  ^poxQiV  äly-fpccix  aoixc, 
■O-epauetats  (Gruppe  Gr.  Myth.  1337).  Medicus  autem  fuisse 
videtur  deus,  alias  ubertatis  auctor  juventutisque  fautor,  in  re 
veneria  sola,  pubertatem  restituens  atque  adimens  (cf.  Petron. 
Sat.  140  Buch.)  ^-).  Nisi  huc  Mercurium  quoque  Lucianeum  Jovi 
Bacchum  enixo  opitulantem  (D.  d.  IX  2:  a7i£i[ji:  o'  ouv  üowp 
auxcT)  Ttpo^  x6  xpau{jia  ol'awv  xat  xa  aXXa  Txotrjawv  a  vofxtt^exat 
waTiep  Xsxoc)  revocare  vis.  Ibidem  Luc.  Charon  7  carmine  ex 
Homero    repetito    tamquam    etiwo^    aciem    oculorum    Charonti 

")  Cf.  Lucian.  Philopatr.  7:  tqv  dasXyo|jiavoüvta  eul  loi;  lioi^ixotg. 
^'')  Cf.  Rhein.  Mus.  LXVI  334. 


De  Mercurio  Aristophaneo. 


367 


debilitatam  in  immensum  äuget  (Alias  quoque  Danai  post 
sponsos  trucidatos   cum  Minerva  purgat,  Apollod.  II  1,  5,  11). 

Quae  supra  disputavi  eo  spectant  ut  viri  docti  sibi  per- 
suadeant  Aristophanem  in  Mercurio  delineando  Atheniensibus- 
que  exhibendo  divinam  dei  indolem  etiam  in  singulis  rebus 
expressisse,  epitheta  sacra  oecasione  data  in  usum  suum  con- 
vertisse  atque  omnino  Mercurium  taleni  qualem  sibi  Atbenien- 
ses  prae  aliis  dei  studiosissimi  (v.  van  Leeuwen  ad  Pac.  924) 
ministrum  Olympiorum  fingebant  delineasse.  Nonmüla  quoque 
et  ab  Aeschylo  et  auctore  hymni  Homerici  mutuatus  est,  ve- 
stigia  vero  comoediae,  jam  ante  Aristophanem  servo  divino 
delectatae,  nobis  jam  non  dispicienda  arbitror  poetam  legere 
potuisse. 

Christiania.  S.  Eurem. 


Mercurius  dÖYYs;io5  p.  357. 

„  äyopalog   sim.  356,  362. 

„  (xp[iaxeös  360. 

,  Siaxovos  351  sq. 

SöXwg  364. 
„  rjXep.ü)v  850. 

„  xep5(j)0g  356  sq.,  360. 

,  xXsuxYjs  sim.  349  sq. 

„  \s.dYs.ipoz    348  sq.,    351, 

353  sq.,  359. 
n  olvo)(6os  361. 

„  usiaivoug  351,  359. 

„  TtuXalog  sim.  345,  356. 


Mercurius  axpocpaio?  sim.  845,  347. 
.,  xü^wv  356. 

cpiXos  348,  350. 
„  yß-oviog  854. 

„  cjjt,&up'.axrj5  364. 

libidinosus  346  sq.,  362. 
„  facundus  357. 

„  medicus  366. 

„  ominis  auctor  347  sq. 

„  pacifer  354,  355. 

„  pavasitus  358. 

„  perjuius  350,  353. 

servus  deorum  350. 


XIV. 

Aristoteles  und  die  Vorsoi<ratiker. 

Aristoteles  nimmt  im  Verlaufe  seiner  physikalischen  und 
metaphysischen  Untersuchungen  über  Sein  und  Werden  der 
Dinge  stete  Rücksicht  auf  seine  Vorgänger,  indem  er  entweder 
deren  Uebereinstimmung  mit  seiner  eigenen  Meinung  hervor- 
hebt, oder  ihre  abweichende  Auffassung  auseinander  setzt.  In 
diesen  Rückblicken  erscheinen  ol  äpy^cdoi,  ol  Tcpoxepov,  ol  Tipw- 
xo:  u.  ä.  teils  in  ihrer  Gesamtheit  oder  in  ihrer  Mehrzahl  als 
TiavTsg,  Tzkeiaxoi  etc.  citiert;  teils  sind  es  einzelne  Gruppen  oder 
Schulen,  als  Ivioi,  xiveQ,  deren  besondere  oö^ao  mitgeteilt  wer- 
den. Soweit  diese  Referate  und  Urteile  des  Aristoteles  an 
bestimmte  Namen  einzelner  Philosophen  anknüpfen,  finden  sich 
dieselben  in  Diels'  Fragmenten  der  Vorsokratiker  wiedergege- 
ben: die  allgemein  gehaltenen  Besprechungen  älterer  Lehr- 
meinungen dagegen  sind  von  Diels  —  dem  Plane  seines  Buchs 
entsprechend  —  nicht  aufgenommen.  Dieselben  enthalten  aber 
nicht  unwichtige  Beiträge  zum  Verständniß  der  voraristoteli- 
schen Philosophie.  Und  es  ist  wichtig  zu  constatieren ,  daß 
Aristoteles  den  Zweck  verfolgt,  die  einzelnen  Schulen  nach  den 
ihnen  eigentümlichen  Lehren  scharf  zu  characterisieren  und  so 
die  verschiedenen  Theorien  neben  einander  zu  stellen.  So  er- 
scheinen die  lonier,  die  Eleaten ,  die  Pythagoreer,  die  Ato- 
misten,  die  Platoniker  als  geschlossene  Schulen;  aber  auch 
Empedokles  und  Anaxagoras  treten  durchaus  als  die  Häupter 
zweier  Schulen  auf,  daher  genauer  von  oc  uepc  'Ava^ayGpav 
und  ol  Tcep:  'E[i,7t£6o7vXea  die  Rede  ist.  Ich  will  im  folgenden 
diese  allgemeinen  Urteile  des  Aristoteles  über  die  älteren 
Schulen  zusammenstellen.  Ich  lege  mir  dabei  aber  eine  dop- 
pelte Beschränkung  auf,    indem  ich  einmal  nur  die  Vorsokra- 


Otto   Gilbert,    Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.         369 

tiker  berücksichtige,  sodaun  nur  diejenigen  Lehren  wiedergebe, 
die  der  prinzipiellen  Begründung  ihrer  Weltanschauung  und 
Naturaufifassung  gelten^). 

Die  Einheitlichkeit  der  gesamten  älteren  Speculation  kommt 
darin  zum  Ausdruck,  daß  die  letztere  von  festen  Prinzipien, 
apxa:  xa:  aüxiao,  ausgeht,  von  denen  sie  die  Welt  in  ihrem 
Sein  und  Werden  beherrscht  sein  läßt.  Diese  Prinzipien  stellt 
Aristoteles  wiederholt  zusammen  (vgl.  194a  21  ff.;  194b  16 
—33,  identisch  mit  1013a  24—34;  198a  23;  715a  4;  983a 
24  ff.)  und  definiert  dieselben  als  1)  xb  iE,  ou  yovcxac  xi  evuTtap- 
XovToq,  kurz  17  üXrj  oder  tö  üTwGX£C[X£vov  ;  2)  od-ev  Yj  dpyji  ifj? 
[iexaßoX-^?,  kurz  yj  apx^j  xf^s  xtvi^aewc,  oder  x6  xivfjaav;  3)  xö 
£t5o5  xa:  xö  TiapaSetytxa,  oder  6  ^^öyoc,  6  xoü  x:  ryv  ehoci,  kurz 
xö  scoog,  oder  6  loyoc,  x"^;  ouaiocc,,  oder  i^  ouata;  4)  xö  xeXo^, 
oder  xö  ou  evexa.  Und  daß  tatsächlich  diese  Prinzipien ,  die 
für  Aristoteles  den  Kern  und  Mittelpunkt  aller  Welterklärung 
bilden,  auch  für  die  Vorsokratik  den  Inhalt  aller  Speculation 
ausgemacht  haben,  das  hebt  Aristoteles  im  Rückblick  auf  seine 
Darstellung  der  älteren  philosophischen  Forschung  in  den  Wor- 
ten hervor  988  a  21  öxi  xwv  Xeyovxwv  Tispc  apjc^;  xac  acxc'ag 
O'obeli;  e^w  xwv  ev  xolc,  izepi  cp'jaewQ  i^jicv  oiwpLafjisvwv  el'prjxsv, 
dXXa  uavx£5  djxuSpö);  {xev  execvwv  Be  tküc,  cpocivovxat  O-cYydvovxsg. 
Und  dieses  Urteil  bekräftigt  er  noch  einmal  993a  11  ff.  und 
setzt  ausdrücklich  1000  b  32  hinzu  ex:  de  ouo'  eyxexecpr^xev 
o'jO£Ci;  Bxipac,  Xiyziv,  äXXd  xa?  aOxd?  drcdvxwv  Hyouaiv  o(,pydc,. 
Daher  er  auch  981  b  28  sagt :  xtjV  övo[Jia^G[ji£vrjV  oo'-{iiav  Tcspt 
xd  7ip(I)xa  al'xca  xa:  xd?  dp/dg  uuoXaixpdvoija:  Tidvxej;  und  983  b 
3  5f]Xov  yap  ox:  xdxeüvo:  (näml.  0:  7T;pGX£pov  r^fjiwv  £:;  £7T;:ax£(];:v 
xöv  ovxwv  eX^ovxc?  xa:  9:Xoao'>pfjaavx£?  Trep:  xfic,  dXryO-£:ag)  Xe- 
youaiv  dp/dg  xcvag  xa:  a:x:a;.  Es  handelt  sich  also  bei  der 
gesamten  älteren  Speculation    stets    um    feste  Prinzipien,    und 


')  Dem  im  Text  Gesagten  entsprechend  führe  ich  nur  Stellen  an, 
die  in  Diels'  Fragmente  der  Vorsokratiker  nicht  aufgenummeu  sind. 
Wo  ich  ausnahmsweise  mich  auf  Angaben  beziehe,  die  sich  auch  in 
der  Diels'schen  Sammlung  finden,  eitlere  ich  diese  nach  den  Ziffern 
von  Kapitel  und  Referat  der  letzteren.  Betreffs  der  Pythagoreer  ver- 
weise ich  auf  meine  Abhandlung  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  22,  28ft'. ; 
145  ff. ;  dieselben  sind  im  folgenden  nur  gelegentlich  berücksichtigt. 
Ebenso  sind  Urteile  über  Plato  nur  zur  Vergleichung  liier  und  da 
herangezogen. 

PhJlologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  3.  24 


370  Otto    Gilbert, 

zwar  um  dieselben,  deren  Erforschung  auch  die  Aristotelischen 
Untersuchungen  gelten.  Sehen  wir  daher  zunächst,  wie  sich 
die  einzelnen  Schulen  dem  von  Aristoteles  an  erster  Stelle  ge- 
nannten Prinzip  der  uXfj  oder  des  üuox£C{X£Vov  gegenüberstellen. 

Hierfür  ist  von  hohem  Interesse  die  Charakteristik  184  b 
15  ff.,  die  in  lapidarer,  aber  völlig  erschöpfender  Kürze  sämt- 
liche vorsokratische  Schulen  zeichnet:  alle  späteren  Aeuße- 
rungen  des  Aristoteles  sind  nur  Kommentare  zu  diesem  Texte. 
Die  Worte  lauten:  dvayxr]  o  rjioi,  (xtav  £ivao  tyjv  apx^jv  y) 
uXbiouc,  [of-pyj]  hier  in  spezieller  Fassung  als  uXr^),  v.cd  ei  jjiiav, 
riToi  dxivyjxov  —  t)  xtvoufxsvrjV  —  '  oi  ok  uXecou?,  9}  TiSTiepaa- 
\iiyac,  9]  äneipou^,  '/.al  ei  Tzeuepccoiivjcc.  'fj  ouo  v)  xpetg  ij  zixxapec, 
ri  äXXov  Tivd  dpi^-ixov,  xac  d  dTiecpou^,  7^  —  xo  yivoc,  ev,  o'/j]- 
[xaxt  5e  7^  dozi  Siacpepouaa? ,  7^  xa:  i^ccvriaq.  Wir  haben  da- 
nach die  gesamte  Vorsokratik  in  zwei  Kategorien  zu  scheiden, 
je  nachdem  angenommen  wird 

L  [xca  dpXTj  (d.  h.  die  uXr;  einheitlich),  und  zwar  entweder 
1)  %:vou{JL£vyj,  oder  2)  äv.ivr]ioq;  oder 

IL  TiXetou;  dpxac  (d.  h.  die  ulrj  von  Haus  aus,  xaxd  cpu- 
aiv,  geschieden),  und  zwar  entweder  1)  in  begrenzter  Zahl  (2, 
3,  4);  oder  2)  in  unbegrenzter  Zahl  (äneipoi) ;  und  diese  letz- 
teren {äneipoi)  wieder  entweder  a)  xo  ysvog  ev,  oder  b)  svavxcai. 

Scheiden  sich  hier  die  Vertreter  der  Lehre  von  der  \ii(x. 
uXt]  in  solche,  welche  die  letztere  xcvoujxsvvj ,  und  in  solche, 
welche  dieselbe  als  ocxivrizoc,  auffassen,  so  Averden  damit  lonier 
und  Eleaten  in  charakteristischer  Weise  gezeichnet  und  unter- 
schieden. Daß  die  ersteren  tatsächlich  die  lonier  sind,  deutet 
Aristoteles  selbst  an,  indem  er  die  jJLta  uXr]  xtvou[Ji£vyj  als  die 
Lehre  der  cpuat,xoc  bezeichnet:  ol  [xev  d£pa  cpdaxovx£S  £cvat  ol 
0  uowp  XYjV  Tcpwxrjv  v.pyjjv.  Daß  hier  Anaximenes  und  Thaies 
gemeint  sind,  kann  nicht  bezweifelt  werden:  damit  ist  aber 
nicht  gesagt,  daß  Aristoteles  nur  diese  beiden  Philosophen  der 
ionischen  Schule  zugerechnet  wissen  will.  In  der  Parallelstelle 
328  b  33  nennt  er  neben  der  Luft  das  Feuer  und  (Jiexa^u  xi, 
womit  Heraklit  und  Anaximander  gemeint  sind.  Daß  ferner 
Hippon  und  Hippasus,  sowie  Diogenes  v.  Apollonia  hierher 
gehören,  ersieht  man  aus  984  a  3  ff.  Genau  dieselben  Männer 
zählt   auch  Simplicius   cpua.  23,  21—25,  12    auf.     Alle   diese 


Aristoteles  und  die  Vovsokratiker.  371 

Männer  werden  damit  als  eine  zusammengehörit^e  Schule  er- 
wiesen und  daß  dieses  tatsächlich  die  Ansicht  des  Aristoteles 
gewesen,  zeigen  die  zahlreichen  Bezugnahmen,  welche  immer 
wieder  das  ev  als  die  Lehre  der  dieser  Schule  Angehörenden 
hervorheben.  Es  ist  das  £V,  die  [liv.  ap/jj,  die  \i.l(x.  cpuat;,  das 
£v  U7tox£i[j,£Vov ,  aus  dem  alle  Dinge  der  Welt  hervorgeben. 
Ich  führe  die  Hauptstellen  hier  an:  184 b  16  [xca  apxrj  — 
TipwTT]  üXri;  186a  l9  x6  £^  cö  (sv  ov);  187a  12  £V  xb  ov  awfxa 
TÖ  ü7iox£C[i£Vov,  aus  dem  sie  TöcXXa.  yEWwaiv  (2  A  16);  189  b  2 
Ol  [itav  xcva  cpuaov  zhai  XeYovxtq  xb  ttäv;  193  a  21  ol  [jlev  yfjV, 
Ol  5£  Tiüp,  Ol  6'  dlpa  cpaa:v,  oi  Be  üSwp  —  xr]V  cpuacv  zlvai  tt]v 
tG)V  övtwv;  298  b  30  £v  xc  (xövov,  e^  o\>  xaöxa  uavxa  [Ji£xa- 
axrj[jtax:J^£a^at  7r£cpux£v;  303  b  9  zvioi  yap  £v  {jlovov  (axo'.X£Lov) 
ünoxid-evTcci^  xac  xoOxo  oc  [X£V  üocop,  oc  S'  aipa,  oc  oe  Tiöp,  o[  S' 
—  duEcpov  (50);  314  a  8  oaoo  sv  xc  x6  uav  Xdyouacv  £!vaL  xat 
Tiavxa  £^  £vög  y£vvwaLV;  314  b  3  xö  ü;iOX£c[ji£Vov  xauxö  xal  £v; 
328  b  34  xrjv  67rox£:[j,£VYjv  (jXtjv  o[  [xiv  cpaatv  £!vat  [icav;  332  a 
4  xwv  Tuatxwv  aw[xaxü)v  uXr^,  waTC£p  xat  oox£ö  £Vool?,  üowp  xal 
drjp  xac  xa  xotaüxa;  983  b  8  £^  ou  soxiv  djiavxa  xd  övxa  xac 
£^  ou  ytyvExat  Tipwxou  xac  £15  8  cp'ö-EcpExac  X£X£uxaiov  —  axoc/slov 
xac  dp/jjv;  996  a  8  oöaca  xwv  ovxcov  —  x6  u7rox£C{Ji£Vov  —  TiOp, 
6  0£  uSwp,  6  oh  depo. ;  1001  a  15  xö  £V  xoüxo  xac  x6  ov,  £^  oö 
xd  övxa  £cvac  x£  xac  y£yov£vac;  1014b  32;  1053b  16  xö  ev; 
1066  b  35  £V  —  £^  oö  yEvvwac  xaOxa  (xd  axocX£ca). 

Ich  habe  absichtlich  die  Hauptstellen  einzeln  angeführt, 
um  zu  zeigen,  daß  wir  es  hier  tatsächlich  mit  einer  festen, 
innerlich  geschlossenen  Lehrmeinung,  einer  Schule,  zu  tun  ha- 
ben ,  deren  Charakteristisches  die  Einheit  des  Stoffs  ist.  Die 
Angehörigen  dieser  Schule  unterscheiden  sich  nur  dadurch 
unter  einander,  daß  die  einen  vom  Wasser,  die  andern  von  der 
Luft,  wieder  andere  vom  Feuer  oder  von  einem  noch  unge- 
schiedenen Urstoife  die  kosmische  Entwicklung  ausgehen  lassen. 
Nach  dem  Ausspruche  989  a  5  (988b  30)  ooO'Ecg  yoüv  xwv 
üoxepoy  Tj^cwoE  xac  Sv  XEyovxwv  yfjv  Ecvac  axocX£^ov  —  xwv  Bh 
xpcwv  (Wasser,  Luft,  Feuer)  axocXECwv  Exaaxov  EcXrjcpE  xpcxr^v 
xcva  sollte  man  annehmen,  keiner  habe  die  Erde  als  die  (xca 
und  Tipwxrj  uXyj  gelehrt.  Aber  es  ist  zu  beachten,  daß  Aristo- 
teles ausdrücklich    ou9-£cs  xwv  uaxEpov    sagt :    wir  wissen ,    daß 

24* 


372  Otto    Gilbert, 

sowohl  Pherekydes  (71  A  8.  10),  wie  Xenophanes  (11  B  27) 
die  Erde  als  die  TipwtT]  üXrj  faßten,  daher  Aristoteles'  Aus- 
sprüche 193a  21;  1014b  33  keinen  Widerspruch  enthalten, 
wie  er  auch  989a  9  die  Annahme  uavxa  elvac  y^v  nicht  nur  als 
die  Meinung  der  TzoXXoi,  sondern  auch  des  Hesiod  bezeichnet. 
So  erklärt  sich  auch  das  Urteil  des  Verf.  der  Schrift  tt.  cpuato; 
av^pwTCOu  (Littre  6,  32)  über  die  welche  xb  sv  xa:  xö  ttccv  als 
apxrj  setzten :  Xsyec  5'  aurewv  6  [X£v  xic,  cpaaxwv  alpa  ecvat  zoüxo 

—  6  o£  Tiöp,  6  oe  uowp,  6  os  y^v;  er  wird  hier  vor  allen  Xeno- 
phanes im  Auge  haben. 

Eine  besondere  Erwähnung  verlangt  das  aTtscpov  Anaxi- 
manders.  Ueber  das  aTiSLpov  als  solches  handelt  Aristoteles 
cpua.  Y  4 — 8:  hier  werden  aber  von  späterem  Standpunkte  aus 
verschiedene  Begriffe  koufundiert.  Wird  das  aTietpov  hiernach 
(187  b  8)  xaxoc  (üLsye^os,  xaxa  nlfid-oc,  und  xax'  ewos  definiert, 
so  ist  die  Beziehung  xaxa  TzXfi^-oq  erst  durch  Zeno's  Specula- 
tionen  hineingetragen  worden.  Das  Anaximandersche  aueipov 
wird  durch  die  Definition  207  b  35  charakterisiert :  cpavepov 
oxc  WS  üXrj  x6  ciTzeipov  eaziv  al'xcov,  xat  öxt  xö  {Jiev  stvac  aOxö) 
axsprjaos,  x6  be  y.a%-^  auxo  uTcoyw£''p,£v&v  x6  auvs/es  xa:  xö  ata\)-r]- 
xov.  Hiernach  ist  es  die  Materie  schlechthin  (üXtj  —  uuoxsi- 
[jtevov  —  acaxj-yjxov)  und  zwar  die  sowohl  quantitativ  (auvsx^?), 
wie  qualitativ  (axeprjati;)  noch  ungeschiedene.  Daher  das  Ur- 
teil 200  b  17  xö  äneipov  £[xcpacv£xac  Tipwxov  £v  xco  auve/s^  *  oib 
xocl  xolc,  bp'.L,o\iiyoic,  xb  auv£X£S  au|jLßacv£:  Trpo^xp'^j^aa^ac  uoX- 
Xaxis  xw  Xoyw  xw  xoO  äizeipoo,  d.  h.  es  findet  oft  eine  Ver- 
wechselung des  auv£Xes  mit  dem  aTiEtpov  statt.  Das  gilt  auch 
von  Anaximander,  der  seinen  Urstoff  aber  nicht  allein  als 
auv£X£S,  sondern  zugleich  als  dopiaxov,  d.  h.  qualitativ  unge- 
schieden, faßte. 

Dem  Anaximanderschen  a7C£cpov  gilt  die  Charakteristik 
203b  6 — 15  (2  A  15).    Der  hier  gebrauchte  Ausdruck  aTOcpov 

—  7r£pi£X£tv  a7i:avxa  wird  in  wenig  veränderter  Fassung  303  b 
12  nzpiey^eiy  cpaa:  Tiavxag  xobc,  oopavous  ämipov  öv  wiederholt 
(ebenso  auch  332  a  25  xö  ämipov  xat  xö  7i£pL£Xovj,  so  daß  kein 
Zweifel  sein  kann,  auch  hier  sei  Anaximander  gemeint.  Dieses 
aTi£Lpov  wird  hier  aber  zugleich  als  üoaxoc,  X£7ix6x£pov  aepoc; 
Tiaxuxspov,  oder  203  a  18;    205  a  27;  332  a  21    als   ein   pi£aov 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  373 

zwischen  Wasser  und  Luft  gezeichnet,  während  187  a  12;  332  a 
21;  988a  30  von  einem  £v  die  Rede  ist,  welches  Tiupo?  [Jiev 
Tcuxvoxepov,  dspo^  ok  iBizxozepov  sei,  oder  welches  ein  (xera^u 
von  Luft  und  Feuer  sei  328  b  35.  Zeller  hatte  alle  diese  An- 
gaben (Philos.  d.  Gr.  1  ^,  258)  auf  einen  Idaios  bezogen  und 
Diels  ist  ihm  darin  gefolgt,  indem  er  die  Stellen  988a  23  ff. : 
30ob  10  fF.;  187a  12  unter  Idaios  (50)  vereinigt.  Die  einzige 
Notiz,  die  wir  über  diesen  letzteren  haben  (Sext.  math.  9,  360) 
bezeichnet  aber  ausdrücklich  als  Lehre  desselben  aepa  Tiavxwv 
e!vac  apx^v  xac  OTOiy^elov.  Danach  war  dieser  sonst  unbekannte 
Philosoph  ein  Anhänger  der  Lehre  des  Anaximenes  und  die 
Beziehung  jener  Stellen  auf  ihn  ist  ausgeschlossen.  Jene 
Charakteristika  können  also  nur  auf  Anaximander  bezogen 
werden.  Das  erkennen  auch  die  Kommentatoren  Alexander 
und  Simplicius  ('fua.  149,  5  if.)  an;  die  Beziehung  des  |JL£ia^6 
durch  Nikolaus  v.  Damaskus  und  Porphyrius  (das.)  auf  Dio- 
genes V.  Apollonia  dagegen  ist  notorisch  falsch ,  da  wir  die 
diese  Beziehung  widerlegenden  Angaben  des  letzteren  noch  vor 
uns  haben.  Nun  haben  wir  noch  eine  andere  Erwähnung  des 
Anaximanderschen  auecpov  bei  Aristoteles  204  b  22  —  35;  205a 

4  f.     Hier  heißt    es    tog  Xeyouai   xive;    xö  Tuapa  xcc  axoiyzla   iE, 

05  xaüxa  y^vvöaiv  —  •  siac  yap  X'.vs^  oi  xoüxo  uoiouai  xö  arcst- 
pov,  äXk'  oux  aipa  9}  uowp  —  vOv  o  exspov  zlvoci  cpaacv  e^  ou 
xaöxa  (näml.  xa  axoc/el/x).  Und  zwar  wird  dieses  anscpov  hier 
ausdrücklich  als  ocnXöi^,  nicht  prädikativ  (wie  Anaximenes'  drjp 
aTtStpo?)  gedacht,  definiert.  Hier  ist  jeder  Zweifel,  es  sei  nicht 
von  Anaximander  die  Rede ,  beseitigt :  auch  Simplicius  479, 
30  ff.  nimmt  als  selbstverständlich  Anaximander  geraeint  an. 
Diels  hat  die  Stelle  nicht  aufgenommen,  aber  sie  ist  sehr  wich- 
tig. Der  allgemeine  Ausdruck  xö  Tiapd  xd  axaiy^ela,  läßt  auch 
hier  darauf  schließen ,  daß  Anaximander  sein  äneipov  nur  als 
ein  Tcpoxepov  oder  [izxccEp  der  axaiyeicc  bezeichnet  hatte.  Ari- 
stoteles' Definitionen  desselben  einmal  als  ixupöi;  Tiuxvoxepov, 
dspo^  XsTixoxepov,  ein  andermal  als  tioaxo;  XsTixoxspov,  depo^ 
Tcuxvöxspov;  oder  allgemein  als  |xty[Aa  187  a  23;  1069  b  22; 
wie  die  wechselnden  Ausdrücke  kxxp'.yziv  187  a  21  (2,  9  Diels) 
und  Y£vvav  204  b  24  sind  nichts  als  Schlüsse  und  Kombina- 
tionen aus  dem  qualitätslosen  dTretpov. 


374  Otto    Gilbert, 

Nach  Aristoteles'  Angabe  haben  alle  Physiker  über  das 
äKE'.pov  gehandelt  und  dasselbe  als  apXYjV  x'.va  gesetzt  203  a  1  ff . 
(45  B  28);  16  ff.;  203b  4;  208a  2  cpai'vovtsci  Se  Tiivies  xat  oi 
äXXoi  d)s  üXt[j  xP^!^^"^°^  '^V  auscpcp ;  richtiger  271b  2  auf  ol 
Tzlelaxoi  Twv  dp}(atwv  cptXoaocpwv  beschränkt.  Denn  so  absolut 
ist  das  uavxes  jedenfalls  falsch:  die  Angabe  stimmt  nur  für 
Anaximander  und  Anaximenes,  für  die  Pythagoreer  und  Plato, 
für  Anaxagoras  und  die  Atomisten ;  von  den  Eleaten  hat  nur 
Melissus  sein  sv  als  aTieipov  gefaßt.  Auffallend  ist  die  Angabe 
205  a  25  xac  oio:  toüto  ouoelc,  xo  ev  v.al  aixeipov  Ttüp  ETCocrjasv 
oüSe  y^v  Töiv  cpuaLoXoywv,  aXX'  r;  üocop  V]  aepa  (Anaximenes) 
t)  tö  [xeaov  autwv  (Anaximander) :  einen  Physiker,  der  das  uSwp 
als  dcTieipov  faßte,  kennen  wir  nicht.  Vielleicht  hat  Hippon 
diese  Lehre  vertreten:  denn  von  Thaies  wird  bestimmt  berich- 
tet, daß  er  den  Kosmos  und  damit  die  Materie  als  ein  £v 
UETiepaafiEvov  faßte. 

Auf  Anaximenes  beziehe  ich  332  b  10  ff.  Aristoteles  will 
hier  nachweisen,  daß  auch  ein  (jiaov  als  ev  und  Urstoff  nicht 
in  Betracht  kommen  könne  und  sagt  in  Bezug  darauf  waiiep 
Soxer  xialv  ir^p  [Jiev  xat  elq  uöp  laexaßaXXecv  xal  zic,  üSwp,  üowp 
Se  xal  dq  depa  xal  eü^  yyjv  •  xd  5'  ioyjxxy.  ouxext  stg  dXXriXcc. 
Das  ist  genau  das,  was  vom  dr^p  des  Anaximenes  berichtet 
wird,  der  dpatou|JL£VO?  in  Feuer  sich  wandelt,  uux,vo6[j.evo^  zu- 
nächst in  Wasser,  sodann  in  Erde.  Der  Kern  des  Aristote- 
lischen Referats  besteht  darin,  daß  die  eaxaxa,  also  Feuer 
einer-,  Erde  anderseits,  keine  Verwandlung  zic,  dAXrjXa  vorneh- 
men können.  Es  hat  demnach  das  Feuer  nicht  die  Fähigkeit, 
ohne  weiteres  in  Erde  überzugehen  —  wie  Aristoteles  den 
elementaren  Wandlungsprozeß  faßt  — ,  sondern  muß,  um  in 
Wasser  und  Erde  überzugehen,  zunächst  wieder  in  Luft  sich 
rückverwandeln.  Der  hier  gezeichnete  elementare  Prozeß  ent- 
spricht also  der  Heraklit'schen  d'vw  und  xdxw  6S6?;  es  scheint 
also,  daß  diese  schon  von  Anaximenes  gelehrt  wurde.  Aristo- 
teles selbst  dagegen  vertritt  den  xuxXo?  der  axaiy^ela^  daher 
Philoponus  z.  d.  St.  247,  27  (ed.  Vitelli)  das  xuxXw  jener 
Lehre  gegenüber  betont.  Im  all  gem.  vgl.  hiezu  meine  meteo- 
rol.  Theorien  59  ff. 

Der  ionischen  [xia  äpyji  x:vou|JL£vyj  tritt  die  eleatische  {j-ia 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  375 

äp/j]  ay.i'vrjxo^  gegenüber.  Daß  Aristoteles  dieses  £V  der  Elea- 
teii  in  Beziehung  zum  Kosmos  selbst,  also  in  physikalischem 
Sinne,  auffaßt,  zeigt  schon  die  Stellung,  die  er  jenen  neben 
den  übrigen  physikalischen  Schulen  gibt  cpua.  a  2.  Aristoteles 
hebt  es  aber  auch  ausdrücklich  298  b  21  hervor,  daß  die  Elea- 
ten  {iTjSsv  ccaXo  uapa  ttjV  tö)V  aiad-r^xihv  ouao'av  u7ioXa[i,ßavouacv 
elvai,  daher  nach  eleatischer  Lehre  1001  a  32  auavxa  xa  ovxa  e'v 
und  186  a  19  sv  ecSei.  Vgl.  dazu  noch  1010  a  1  ff.  (18  A  24). 
Das  eleatische  ev  ist  daher  nur  —  wie  ich  an  anderem  Orte 
gezeigt  habe  —  als  die  dem  Kosmos  immanente  materielle 
Grundsubstanz  zu  verstehen. 

Gegenüber  den  loniern  und  Eleaten  erscheinen  alle  üb- 
rigen physikalischen  Schulen  insofern  verbunden ,  als  für  sie 
der  Stoff  in  TiAsiou;  ap/a:  zerfällt.  Wie  184  b  15  ff.,  so  hebt 
Aristoteles  auch  sonst  oft  (vgl.  314  a  8;  330  b  7;  1001a  16; 
1014b  32;  1028  b  4)  diesen  Gegensatz  hervor.  Dasselbedrückt 
die  Scheidung  322b  6  in  Tiavxsg  oi  xe  xa  axof/ela  ysvvwvxei;, 
xa:  ol  XX  sx  xwv  oxoiyeiwy  (yevvwvxei;)  aus :  die  ersteren  lassen 
die  Einzelelemeute  aus  dem  sv,  als  der  Tipcoxvj  ap/^r),  hervor- 
gehen, die  letzteren  dagegen  fassen  die  Elemente  als  die  ur- 
sprüngliche und  natürliche  Scheidung  der  Materie  und  lassen 
aus  ihnen  die  Einzeldinge  entstehen.  Hier  erscheinen  also  die 
Elemente  selbst  als  die  gemeinsame  Lehre  Aller:  es  ist  nur 
der  Unterschied,  daß  sie  für  die  einen  eine  secundäre,  für  die 
andern  eine  primäre  Bildung  sind.  Daher  das  Urteil  302  a  18 
im  Anschluß  an  die  Definition  des  oxoiy^elov  als  desjenigen  sie, 
0  xaXXa  aü){ji,axa  ooacpscxac  evuTcap/^ov  Suvajjieo  v^  evspysca:  xoi- 
oüxo'/  Y^-P  "^^  "^^  axo'.yzlo'/  änocvxzc,  -xa:  £v  änaai  ßouXovxac  Xs- 
yscv;  und  1059b  23  in  Bezug  auf  xa  xaXou[X£va  bno  xtvwv 
axoc/el(x:  xaOxa  Tiavxei;  £vuT:ap;(ovxa  xolc,  au^%-ixoic,  x'.d-kaaiy. 
Das  6ti6  xcvcdv  bezieht  sich  nur  auf  die  Benennung  der 
Elemente  als  axo'.yßoc  (erst  Plato  gebrauchte .  diesen  Namen), 
nicht  auf  die  Elemente  selbst.  Es  ist  aber  wohl  zu  beachten, 
daß  die  von  Allen  angenommene  Vierzahl  der  Elemente  keines- 
wegs einen  verschiedenen  Ranoj  der  einzelnen  ausschließt:  hier- 
aus  erklärt  sich  die  verschiedene  Setzung  von  zwei,  drei  oder 
vier  Elementen.  Für  die  gesamte  Specuhition  steht  es  nämlich 
fest,    daß  Feuer    und    Erde    die    beiden  Hauptelemente    sind. 


376  Otto   Gilbert, 

Dieser  üeberzeugung  gibt  schon  Parmenides  —  in  seiner  Schein- 
lelire  —  Ausdruck,  indem  er  330b  18  nur  diese  beiden  als 
die  Grundstoffe  annahm,  während  er  Luft  und  Wasser  als  ans 
der  Mischung  von  Feuer  und  Erde  hervorgegangen  ansah  (18 
A  35),  ihnen  also  keine  selbständige  Bedeutung  zuerkannte. 
So  kann  Aristoteles,  obgleich  ihm  die  Yierzahl  der  Elemente 
feststeht,  dennoch  wie  selbstverständlich  nzpl  xofv  cuotv  eSt^siv 
298b  7:  Feuer  und  Erde  bilden  eben  nicht  nur  räumlich  die 
Pole  des  Kosmos,  sondern  auch  die  evavTia  alles  kosmischen 
Werdens.  Alle  evavtca  verlangen  aber,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  ein  jisia^u,  und  so  hat  die  Natur  zwischen  jene  Pole 
ein  |j.£xa^u  eingeschoben,  welches  räumlich  und  genetisch  der 
Vermittlung  jener  beiden  Grundelemente  dient.  In  diesem 
Sinne  kann  Aristoteles  auch  von  drei  Elementen  sprechen  276  b 
1;  277b  13.  Dieser  mittlere  Stoff  muß  sich  dann  aber  wieder, 
um  die  vollkommene  Verbindung  zwischen  Feuer  und  Erde 
herzustellen,  in  zwei  Massen  scheiden,  deren  eine  mehr  nach 
der  Erde,  deren  andere  mehr  nach  dem  Feuer  gravitiert  oüp. 
ß  3.  Auf  diese  Weise  macht  sich  Aristoteles  die  Notwendig- 
keit der  Vierzahl  der  Elemente  klar,  indem  er  zugleich  oup. 
0  4 — 6  die  Begriffe  des  ßapu  und  y.oOcpov,  wie  der  avw  und 
xaTW  X''vyjai5,  als  durch  die  Natur  selbst  gegeben,  mit  den- 
selben verbindet.  Diese  begriffliche  Begründung  haben  seine 
Vorgänger  nicht:  oi  akXoi,  sagt  er  329  b  4,  bno^i[ieyoi  ypöiv- 
xao,  xod  ouoev  Aeyö'jacv  S'.a  xi  auxat  xod  xcaaüza:  (näml.  at 
dp^aL  =  axaiyjclcc).  Sie  nehmen  eben  die  vier  Elemente  als 
durch  die  Erfahrung  gegeben  hin.  Und  hat  nach  Aristoteles 
jedes  der  vier  Elemente  seinen  xoTzoq  oder  seine  o'fcdpcn,  (oup. 
0  3;  ß  4),  so  schließt  er  sich  auch  darin  den  älteren  Philo- 
sophen an.  Denn  der  Ausspruch  310  b  1  sAsyov  oi  apy^aioi 
OTc  xö  oii^oiov  cpspoixs  TTpös  xö  o|xocov  soll  offenbar,  darauf  weist 
der  Zusammenhang,  erklären,  weshalb  der  Erdkörper,  die 
Wassersphäre,  die  Atmosphäre,  endlich  die  himmlische  Feuer- 
sphäre in  sich  abgeschlossene  und  stofflich  einheitliche  Gebiete 
sind.  Hiermit  hängt  auch,  ö  xivec,  dTiopoüat,  zusammen  337a 
8,  Std  xi  i'/Ä'^xoM  xwv  awjxdxüjv  dq  xr]v  oix£''av  cp£p&[ji£vou  yüpfx^ 
£V  xö)  dTidpw  XP^^'P  °'^  oi£axäai  xd  awfxaxa. 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich,  daß  die  verschiedene  Auf- 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  377 

fassung  der  Zahl  der  Elemente  als  zwei,  drei  oder  vier  nur 
eine  formale  Bedeutung  hat.  So  kann  Aristoteles  380  b  17 
sagen  xac  a/^eSc-v  xauta  Xeyooatv  oi  xt  56o  y.a:  ol  ipicc  tcoioöv- 
T£(;  •  uXyjv  Ol  [i£v  T£|xvoua:v  de,  ouo  to  [Jieaov,  ot  5'  sv  [xovov 
Tioioöacv.  Was  Aristoteles  hier  sagen  will,  ist  klar;  es  ist  mir 
aber  wahrscheinlich,  daß  er  oi  xe  xpicc  xo(.l  ol  xexTapa  izoioüvTec, 
schreiben  wollte.  Die  Vertreter  der  Drei-Elemente-Theorie 
deutet  Aristoteles  329  a  1  ol  |.i£v  TcOp  xac  yfjv,  ol  ob  xaüxa  xe 
xac  depa  xptxov  nur  an;  wahrscheinlich  ist  hier,  wie  auch  Plato 
Soph.  242  C  D,  Ion  gemeint,  den  wir  auch  sonst  als  Vertre- 
ter der  Lehre  von  drei  Elementen  kennen;  nach  330b  16  ver- 
trat auch  Plato  £V  xacg  Scatplasacv  die  Lehre  von  den  drei 
Elementen. 

Vier  Elemente  lehrte  bekanntlich  Empedokles.  Während 
also  seine  Vorgänger  einem  oder  zweien  der  Elemente  den 
Vorrang  gaben,  sodaß  die  andern  als  sekundäre  Bildungen  er- 
schienen, stellte  Empedokles  die  vier  Grundstoffe  als  xaxa 
cpuatv  gleichwertig  auf.  Darauf  beziehen  sich  die  Worte  333  a 
16  ■8-au{j,aa£C£  6'  av  xic,  xwv  XEyovxwv  tcX£C{i)  zvbg  xa  oxoiy^Bia 
xwv  awfj-axwv  wax£  |jly]  ji£xaßaXX£LV  £1?  dAXvjAa,  xa^-dTcep  'E[X7C£- 
SoxXfjs  9^cjc,  TiGiq  evöix^xai  XlyEiv  axjxolc,  elvoci  a6[xßXy]xa  xa 
axoc/eloc.  'Aaixoi  XdyEt  ouxw  ■  xaöxcc  yap  lad  xe  iidvxa.  Die 
letzten  Worte  sind  die  eigenen  Worte  des  Empedokles,  der 
Fr.   17,  27  von  den  axocX£^a  sagt 

xaöxa  yap  lad  x£  uavxa  xat  fjXixa  jewccv  £aa:, 
sie  also  gleich  an  Kraft  und  Bedeutung,  wie  an  Alter,  d.  h. 
als  gleich  ursprünglich  (f/Xc^  schon  Od.  a  373)  bezeichnet : 
Aristoteles  will  die  Gleichheit  der  vier  Elemente  nicht  aner- 
kennen, da  ihm  Feuer  und  Erde,  wie  wir  sahen,  die  Avich- 
tigsten  GXOiy^Elcc  sind.  Auf  die  Struktur  der  Empedokleischen 
Elemente  dagegen  beziehen  sich  die  Worte  305  a  1  d  oh 
axYja£xac  nou  /;  oidX'jaic,,  rjxoi  axo|JLOv  £axac  xö  awfxa  £V  (j)  l'axa- 
xac,  Yj  o:a:pcXov  [jl£v  ou  \xeyxoi  5cacp£{>rja6pL£Vov  ou5£7rox£,  v.7.%-d- 
7i£p  £0'.x£v  'EfXTCcOoxXfj^  ßouX£xa:  X£y£:v :  Empedokles  faßte  da- 
nach die  •9'paua[xaxa  eXdyiaxa,  aus  denen  er  das  einzelne  Ele- 
ment sich  aufbauen  ließ,  zwar  nicht  als  äxo[ioc,  aber  als  so 
kleiu,  daß  praktisch  eine  weitere  Teilung  derselben  nicht  mög- 
lich war.     Vgl.  dazu  noch  325b  5.  20  ff.;  327a  11  ff. 


378  Otto    Gilbert, 

Den  Vertretern  einer  begrenzten  Zahl  von  apxat'  treten 
endlich  184  b  20  diejenigen  gegenüber,  welche  dntipoi  a.pX'^^ 
statuieren.  Aber  auch  hier  macht  Aristoteles  noch  eine  Schei- 
dung: die  einen,  die  Atomisten,  fassen  diese  dp/^a:  dcTietpoL  als 
TÖ  ylvos  £V,  die  andern  als  ivavTcac,  Unter  den  letzteren  kann 
nur  Anaxagoras  und  seine  Schule  verstanden  werden.  Denn 
die  Atomisten  fassen  ihre  Atome  nur  als  a/j^fxaac,  d.  h.  äußer- 
lich,  unterschieden  auf;  Anaxagoras  dagegen  läßt  die  Atome, 
d.  h.  seine  b^oio^tgr],  schon  von  Natur,  d.  h.  wesentlich  und 
innerlich,  verschieden  sein.  Es  gibt  keinen  Ausspruch, 
der  so  scharf  wie  dieser  den  Gegensatz  der  Lehre  des  Anaxa- 
goras gegen  diejenige  der  Atomisten  zum  Ausdruck  bringt. 

Damit  haben  wir  die  üebereinstimraung  und  die  Unter- 
schiede der  vorsokratischen  Lehren  über  die  Materie  kennen 
gelernt.  Die  Uebereinstimmung  wird  nun  noch  dadurch  er- 
höht,  daß  für  Alle  die  Ewigkeit  der  Materie  feststeht:  das 
wird  als  xotvT]  66^a  xwv  cpuatxwv  wiederholt  und  sehr  bestimmt 
hervorgehoben  187a  27.34;  317b  29;  984a  32;  1062b  24. 
Es  wird  dieses  auch  schon  durch  die  dp/j;  bezw.  dp/ai  aus- 
gedrückt, welche  alle  annehmen.  Denn  Aristoteles  sagt  788  a 
14  xox)XO  ydp  eaxc  xö  dp/jf/  eivai,  xö  auxrjv  [jiev  aixiav  elva: 
tigXXwv,  xauxTj;  o  aXXo  dvwi^ev  [i-r^ö-sv.  In  dem  Begriffe  dp/jj, 
wie  ihn  Anaximander  zuerst  geprägt  hatte,  liegt  schon  ent- 
halten, daß  ihr  nichts  voraufgeht,  sie  selbst  also  das  erste  ist. 
Anderseits  aber  verlangt  dieser  Begriff,  daß  aus  ihr  alles  an- 
dere  entsteht.  Denn  eine  dp/jj  setzt  eine  Fortsetzung  voraus, 
daher  die  Worte  185  a  4  r;  ydp  dp^i]  xcvo?  r;  xtvwv.  Der  Wel- 
tenstoff als  dpyjj  trägt  im  Keime  die  Entwicklung  zum  Kos- 
mos und  zu  den  Einzeldingen  in  sich. 

Die  übergewichtliche  Betonung  des  materiellen  Prinzips, 
Avelche  die  gesamte  Vorsokratik  charakterisiert,  rechtfertigt 
Aristoteles'  Urteil  über  xwv  Tipwxwv  cpcXoaocpryadvxwv  ol  TzktLoxoi 
983  b  7:  xdg  ev  uXrjs  ^^os.i  [idvag  M-i^^rfiOLV  dp/^a?  stvai  Trdvxwv; 
ähnlich  984  a  16.  Daher  die  Würdigung  des  zweiten  Prinzips 
5ö'£v  77  dp/jj  xfj;  xiv/jaew;  984  a  18  als  ein  Fortschritt  der 
Speculation  dargestellt  wird.  Wenn  aber  die  Fassung  der 
Worte  TipoVovxwv  0'  oüxw;  aOxö  xö  TipÄyfjia  wSercoirjaev  auxoi^ 
7.a:   auavdyxaae  "Qffitlv  den  Schein  erweckt,  die  älteren  Schulen 


Aristoteles  und  die  V^orsokratiker.  379 

hätten  überhaupt  der  Frage  nach  der  xcvr^ais  keine  Beachtung 
geschenkt,  so  ist  das  falsch.  Es  heißt  250  b  15  ausdrücklich 
siva:  [JLev  guv  x'.vrp'.v  nivzzz,  cpaaJv  oE  uep:  cpuaswi;  t£  Xlyovxsc 
und  daß  gerade  die  lonier  der  Bewegung  eine  große  Bedeu- 
tung beilegten,  zeigt  schon  ihr  Grunddogma  von  der  apx^]  (d. 
i.  uXyj)  xcvou|X£vrj;  daher  333  b  16  ol  o  autYjv  tr^v  uXr^v  (näml. 
als  atxtov  Ysvlacü);  v.y.1  cpO'cpä:)  •  dTiö  tauiY];  yap  eova:  xtjv  %''- 
vrjatv.  Das  Urteil  über  die  lonier  984a  29  ouO-sv  souax^pavov 
sauTGi^  kann  also  nur  heißen:  sie  machten  sich  die  Beant- 
wortung der  Frage  6^£V  -f]  ap/i]  iric,  v-'M^aEtac,  leicht.  Sie 
ließen  eben  ihr  ev  und  die  aus  demselben  hervorgegangenen 
Bildungen  als  lebendige  Wesen  sich  aus  sich  selbst  bewegen 
und  entwickeln.  So  haben  sie  gerade  in  der  Annahme  einer 
unausgesetzten  Bewegung  aller  Dinge  die  hohe  Bedeutung  der 
letzteren  anerkannt  und  die  wiederholten  Polemiken  gegen  die 
(puacoXoyot,  welche  behaupten  uavta  xa  a-'a'O-rjxa  xiveca-ö-at  aec 
253  b  6;  265  a  30;  201a  25  gelten  den  loniern,  als  deren 
charakteristischster  Vertreter  dann  speziell  Heraklit  erscheint 
(265  a  6  p£iv  yap  cpaaiv  ds:  xocl  cp^cv£iv). 

Den  schroffsten  Gegensatz  gegen  die  lonier  bilden  die 
Eleaten  mit  ihrer  Lehre  von  der  Äpyji  oder  üXr;  dx^'vyjxoc. 
Ueber  sie  sagt  Aristoteles  984a  29  ev.oi  yE  xwv  ev  X£y6vxü)v, 
wcTiEp  f;XXYj^£VX£;  uTüo  xauxTj?  xfjg  ^r^xrjcjEü)^  (näml.  nach  dem 
Urspriinge  der  xtvrjacs),  xö  £v  dxcvrjxöv  cpaacv  £cva'.  xa:  xrjv  cp6- 
a:v  SXr/^  — .  Da  für  die  aristotelische  Forschung  die  Bewe- 
gung in  der  Natur  die  selbstverständliche  Voraussetzung  ist 
(185  a  12  igficv  5'  bKOV.eiad'iJi  xd  cp6a£c  7]  udvxa  y)  £vca  xcvo6jj,£va 
elvac),  so  sind  die  scharfen  Urteile  über  die  eleatische  Lehre 
erklärlich.  Er  bezeichnet  dieselbe  als  dppwaxia  z'.c,  o:y.voiy.;, 
253  a  32;  als  geradezu  unphysikalisch  184  b  25;  und  begrün- 
det dieses  sein  Urteil  cpua.  a  2.  3.  4.  8;  325  a  2 — 23  eingehend. 
Die  letztere  sehr  wichtige  Polemik  bat  Diels  nicht  richtig  ge- 
ordnet, indem  er  die  Zeilen  2 — 16  unter  Melissas  (20  A  8), 
13 — 19  unter  Parmenides  (18  A  25)  anführt.  Die  Hervor- 
hebung des  är.eipov  (Zeile  15)  zeigt,  daß  hier  gerade  Melissas 
gemeint  ist,  dessen  Lehre  von  der  des  Parmenides  sich  da- 
durch unterschied,  daß  er  das  £V  d7i£cpov,  der  letztere  dagegen 
7t£7i£paa{JL£vov  faßte.    Es  ist  also  vielmehr  2  — 13  die  allgemeine 


380  Otto    Gilbert, 

eleatische  Lehre,  während  13 — 16  speziell  Melissus  betrifft. 
Und  ebenso  ist  der  Ausspruch  254  a  25  v.y.d-a.Tzep  cpaat  ttveg 
ecvac  TÖ  &v  aus'.pov  %ocl  txyj.yrjxoy  ausschließlich  auf  Melissus  ge- 
münzt. So  kann  Aristoteles  984  b  1  sein  Urteil  über  lonier 
und  Eleaten  dahin  zusammenfassen:  oOö-ev:  auveßrj  xyjv  xoiauxTjv 
auvtoetv  alziocv,  d.  h.  keiner  von  ihnen  hat  die  wahre  Ursache 
der  kosmischen  Bewegung  erkannt. 

Einen  Fortschritt  der  Speculation  zeigen  diejenigen  Phy- 
siker, welche  die  Materie  nicht  als  ev,  sondern  als  uXecw,  d.  h. 
wenigstens  als  ouo,  faßten  984  b  3  ff.  Denn  damit  ist  die 
Möglichkeit  der  Setzung  zweier  ochlca  gegeben,  der  unbeweg- 
ten Materie  und  eines  bewegenden  atxiov,  daher  über  sie  das 
Urteil:  x.pöivzixi  yap  6)c,  xtvr^xczr^v  exovxt  xw  Tiup:  xyjv  cpuatv, 
uSaxt  Se  xac  y^  xocl  lolc,  xooo6xot;  xo\)Vccnlov.  Aber  während 
diese  Physiker  —  es  sind  vor  allen  Parmenides  in  seiner  Schein- 
lehre und  die  Pythagoreer  gemeint  —  das  bewegende  Prinzip 
noch  in  der  Materie  selbst,  wenn  auch  einem  besonderen  Teile 
derselben,  suchen,  gehen  Empedokles,  Anaxagoras,  Leukipp 
und  Demokrit  über  diese  hinaus,  daher  984  b  8  ff.  diese  Män- 
ner, gleichsam  öti'  aüxr^c  x*^;;  aXrjö-eia?  avayxa^oiaevo'.,  sich  der 
Erfassung  der  wahren  Ursache  der  Bewegung  nähern.  Denn 
für  Aristoteles  ist  das  Entscheidende,  daß  die  kosmische  xcvrj- 
oic,  auf  ein  überkosmisches  Prinzip  zurückgeht,  welches  selbst 
dxtvrjxov  ist;  und  dieses  Tipwxov  zcvoüv  kann  man  ebensowohl 
in  den  Empedokleischen  veixo?  und  cpcXia,  wie  in  dem  voö?  des 
Anaxagoras,  wie  in  der  vom  Stoffe  selbst  getrennten  ewigen 
xtvrjat?  der  Atomisten  erkennen.  Das  wird  auch  265  b  17  ff. 
ausgesprochen,  wo  Avieder  die  drei  Lehrmeinungen  des  Empe- 
dokles, des  Anaxagoras,  der  Atomisten  zusammen  erscheinen, 
und  ihnen  sodann  die  ionische  Lehre  von  der  Bewegung,  so- 
wie Piatos  Lehre  gegenübergestellt  wird.  Diels  hat  aus  diesem 
allgemeinen  Referate  nur  das  Urteil  über  die  Atomisten  (55 
A  58)  herausgenommen:  aber  gerade  die  Zusammenstellung 
aller  Lehrmeinungen  über  diese  Frage  ist  sehr  instructiv.  Und 
ebenso  heißt  es  1072  a  4  oxt  o'  svepysta  upoxepov ,  (Jiapx'jpsc 
'Ava^ayopa^  (ö  yap  voO?  svepyeLa),  y.cd  'EjjlttsoöxX'^;  cp^Xtav  xat 
velxog,  xat  ol  de:  Xeyovxe?  xivr^atv  etva:,  w^Tiep  Asuxititio^.  Als 
xtvoOvxa  im  Empedokleischen  Sinne  erscheinen  vsixo^  und  cpcXca 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  381 

auch  314  a  17:  aber  Empedoldes  hatte  sich  mit  der  Aufstel- 
lung dieses  Bewegungsprinzips  im  allgemeinen  begnügt,  ohne 
seine  Wirkungen  im  einzelnen  auszuführen,  wie  333b  22  ff. 
hervorgehoben  wird. 

In  die  Lehre  von  der  ylvrpiq  gehören  auch  die  Fragen 
nach  der  tu^^J  und  dem  auxojxaTov,  wie  Aristoteles  198  a  1  ff, 
darlegt.  Während  dieser  die  Wirksamkeit  dieser  Begriffe  — 
wenn  auch  nur  xaxa  au{i,[3eßrjX,6(;  ■ —  im  Naturleben  anerkennt, 
verhalten  sich  alle  Vorsokratiker  denselben  gegenüber  ableh- 
nend 198  b  12.  Daher  in  der  Auffassung  dieser  alles  £^  Ävay- 
xyjs  iazl  xa:  ycvexat  —  ouoev  movzo  ouo'  exetvo:  sövai  dviö  xux'/jS- 
Die  ganze  kosmische  Stoffbewegung  steht  danach  unter  dem 
eisernen  Zwange  der  Notwendigkeit.  Doch  weist  Aristoteles 
196a  15  ff.  auf  die  Widersprüche  hin,  deren  sich  seine  Vor- 
gänger in  dieser  Beziehung  schuldig  gemacht  haben. 

Die  wichtigste  Wirkung  der  xtvyja:?,  des  Bewegungsprin- 
zips, ist  nun  die,  daß  durch  sie  die  Materie  in  evavxta  ge- 
schieden wird.  Diese  Lehre  wird  wieder  als  die  gemeinsame 
aller  Voraristoteliker  bezeichnet  und  sie  ist  zugleich  der  Angel- 
punkt der  Aristotelischen  Lehre  selbst,  Ilavxsi;  or\  xävavxia 
o.gya.(;  Tiolouacv  (apxac  hier  in  weiterem  Sinne),  heißt  es  188  a 
19;  und  wieder  188  b  27  Tidvxe?  ydp  xd  csxov/ßoL  xcd  xd^  uti' 
auxwv  xaAoujJteva^  dp/^dg,  xaiTiep  dveu  Xoyou  XL'O-evxes,  ö(iW5 
xdvavxca  Xeyouaiv,  w;7r£p  utc'  a,V)-r\c,  xf\c,  akri%-sioi.c,  dvayxaa'ö-ev- 
xs;;  ähnlich  noch  189  b  8  ff. ;  1004b  29  ff.;  1075  a  25  ff. ; 
1087  a  30  ff.  Allgemein  charakterisiert  Aristoteles  diese  evav- 
xta  189  b  10  als  üTispox'^  xac  'iXXtv^^i:;,  als  ein  [xaXXov  xa:  fyxxov 
und  sagt  von  dieser  Lehre  loixt  TtaXaid  ecvac  xolI  caixri  r}  66^a, 
6x:  x6  £v  xocl  uTiepox^  xaJ  sXXsup^s  dpx«:  xwv  övxcov  eloi.  Ari- 
stoteles scheidet  aber  die  Vertreter  dieser  Lehre  in  zwei  xpo- 
noi:  oc  [xev  dpy^odoi  xd  ouo  |ji£v  Koiely  xö  6'  £v  ndaysiv,  xwv  o' 
uaxEpov  x:v£5  xouvavxcov  x6  [X£v  £V  tioc£iv,  xd  0£  ouo  TidaxE^v 
cpaac  [iaXXov.  Daß  unter  den  letzteren  vor  allem  Plato  zu 
verstehen  ist,  sagt  Aristoteles  187  a  17  direkt:  (ö^mp  x6  |j.£ya 
cpr^ai  IlXdxwv  xac   xö  [icxpov,    -Xt^v    oxt  ö  {jlev  xaöxa  7vO:£C  üXrjv 

xö    0£    £V    XÖ    eloo^,     OL    §£   XÖ    [Jt£V    £V    XÖ    6uOX£t[JL£VOV    uXtJV  ,     xd    S' 

evavxca  otacpopdg  xac  ä'^yj.  Hiernach  fassen  also  die  Vorsokra- 
tiker die  üXrj  als  leidendes  Prinzip,    während    die  £vavxia    das 


382  Otto   Gilbert, 

eigentliche  uotyjXLXOV  sind.  Das  ist  falsch.  In  Wirklichkeit 
liegen  für  die  Vorsokratiker  die  evavxcotrjTS?  in  der  uXrj  selbst, 
welche  letztere  sich  nur  dadurch  unterscheidet,  daß  sie  sich 
entweder  selbst  dynamisch ,  vitalistisch  entwickelt ,  oder  zu 
ihrer  Entwicklung  in  die  evaviia  des  Anstoßes  von  außen 
bedarf. 

Daß  die  Materie  in  ihrer  leichteren  oder  schwereren,  in 
ihrer  loseren  oder  festeren  Struktur  Gegensätze  aufweist,  ist 
die  einstimmige  Lehre  aller  philosophischen  Schulen.  Für 
Aristoteles  steht  es  deshalb  fest,  daß  ein  acTiov  -Kiyoüv,  welches 
in  letzter  Linie  auf  das  göttliche  dxovyjxov  zurückgeht,  diese 
wechselnde  Gestaltung  der  uXtj  vornimmt  und  daß  demnach 
diesen  svavxta,  d.  h.  den  wechselnden  Erscheinungsformen  der 
Materie,  ein  Zustand  der  letzteren  zu  Grunde  liegt,  in  dem 
dieselbe  noch  unentwickelt,  als  Tcpwxrj  üXvj,  unbewegt  ruht.  In 
diesem  Zustande  ist  die  üXy]  für  Aristoteles  ein  [xiaüv  332  a  35, 
7ra{}-y]xtx6v  324  b  18,  osxxcxgv  320  a  2;  sie  ist  ein  äeidec.  und 
a[JLOpcpov  306b  17,  ein  äöpioTov  209b  9  mid  ayvwaxov  1036a 
8 ,  ja  ein  dvaca{)"V]xov  und  doch  dy^wpiaxov  332  a  35.  Damit 
tritt  diese  Urhyle  in  engste  Beziehung  zum  änzipov  Anaxi- 
manders,  welches  gleichfalls  207  a  26  deibec,  und  dyvwaxov  und 
dopcaxov  ist.  Mit  dem  Urteile,  welches  Aristoteles  über  das 
ämipov  204  b  29  fällt  douvaxov  o'  elvai  xoooOxov  —  oxi  ou% 
laxe  TOioüTov  aü)[JLa  alad-qxbv  Tcapa  xd  GzoiX^lx  %aAou(X£Va  — 
cpatvexat  ouoev  hat  Aristoteles  sich  selbst  das  Urteil  gesprochen: 
seine  Hyle  in  der  eben  charakterisierten  Form  existiert  nicht, 
sie  ist  eine  reine  Fiction. 

Diese  Lehre  des  Aristoteles  gibt  aber  den  Gedanken  wie- 
der, von  dem  die  gesamte  Speculation  beherrscht  wird.  Den 
wechselnden  Formen  der  Hyle ,  in  denen  dieselbe  bald  fester 
bald  aufgelöster  erscheint,  muß  ein  Zustand  vorauf  gehen  oder 
zu  Grunde  liegen,  der  als  ein  \i.eaoy,  ein  (Jisxa^u,  ein  upoxspov 
die  Entwicklung  nach  entgegengesetzten  Richtungen  erklärt. 
Aus  dieser  Forderung,  daß  den  evavxta  eine  exepa  cpuac?  zu 
Grunde  liegen  muß,  die  als  solche  ein  Tipoxepov  gegenüber  dem 
xaxrjYOpou[X£VOV  der  gegensätzlichen  Qualitäten  bildet,  und  wel- 
ches demnach  als  uuoxei'iJievov  ysvet  und  dpc^{JLW  ev,  dagegen 
dö£c  ouo,  nämlich  ein  upoxepov  und  üaxepov,    bildet  189  b  24 ; 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  383 

190  b  24,  ist  Aristoteles'  Theorie  von  axeprjats  und  dooc,  von 
ouva[jics  und  evsp^eca  hervorgegangen,  die  hier  nicht  näher  dar- 
zulegen ist.  Wohl  aber  müssen  wir  den  Theorien  der  Vor- 
sokratiker selbst  noch  eine  kurze  Betrachtung  widmen. 

Von  den  loniern  heißt  es  187  a  12  (2  A  16)  ol  jjisv 
yap  £V  TiotYjaavxsi;  x6  ov  awfxa  xo  OTioxsLfxevov  —  t&aXoc  yev- 
vwat  Tiuxvoxrjxt  xac  [xavoxrjxt,  tioXIoc  TrotoOvxss  •  xaöxa  o  eaxcv 
xavavxca;  und  diese  Charakteristik  der  ionischen  Lehre  wird  so 
oft  wiederholt  (188a  22;  265  b  30;  303  b  15;  330  b  9),  daß 
kein  Zweifel  sein  kann,  wir  haben  es  hier  mit  einem  allge- 
mein ionischen  Dogma  zu  tun.  Aristoteles  vermag  sich  aber 
nicht  —  trotzdem  er  in  Wirklichkeit  sich  aufs  engste  mit  der 
ionischen  Lehre  berührt  —  zu  einem  unbefangenen  Urteile 
über  diese  Lehre  zu  erheben.  Und  so  gelangt  er  zu  völlig 
widersprechenden  Aeußerungen  über  dieselbe.  Er  erklärt  aus- 
drücklich 189b  2  fiP.,  daß  ein  [xsxa^u  oder  sxepov  (xwv  axocX£^'wv), 
d.  h.  also  das  aTis'.pov,  am  besten  der  Wirklichkeit  entspreche, 
da  sich  aus  ihm  am  leichtesten  die  Entwicklung  in  die  evavxia 
erklären  lasse,  während  die  Elemente  selbst,  Feuer  und  Erde, 
Luft  und  Wasser,  schon  an  sich  (Jtsx'  evavxcoxi^xtov  aujjLTCSTCXEy- 
(jLSva  seien  und  so  auf  ein  Tcpoxepov  oder  [jcexa^u  hinweisen,  aus 
dem  sie  sich  entwickeln  können;  er  erklärt  aber  umgekehrt 
303  b  10  ff.  gerade  das  Feuer  als  den  geeignetsten  Ausgangs- 
punkt der  Stoffentwicklung  und  das  [xeaov  als  das  ungeeig- 
netste hierfür.  Und  er  preist  ferner  einerseits  die  ionische 
Lehre  von  dem  ev  in  den  Worten  322  b  12  eE,  hbq  dvayocTj 
Asyetv  xy]v  -nolrioi'^  (51  A  7),  während  er  anderseits  die  Unmög- 
lichkeit dieses  ev  nachzuweisen  sucht  (1067  a  2  ff .  =  205  a  4  ff.), 
weil  dasselbe  keine  svavxca  zulasse. 

Dieselbe  Inconsequenz  zeigt  Aristoteles  auch  in  der  Kritik 
der  Gegensatzlehre  der  andern  Schulen.  Denn  wenn  er  dem 
Empedokles  188  b  34  vtly.oc,  und  cptXca  als  evavxta  gibt,  so  ist 
in  Wirklichkeit,  wie  Simplicius  154,  7  hervorhebt,  dieser  Ge- 
gensatz als  das  ev  ttocoüv  zu  fassen  und  die  evavxta  des  Stoffs 
liegen  in  dem  Gegensatze  des  Tiup  gegenüber  den  andern  Ele- 
menten 330b  19  (21  A  36).  Und  ebenso  ist  für  Anaxagoras 
nicht  der  Gegensatz  des  ev  und  der  noXld  187  a  21  das  Ent- 
scheidende, sondern  dieser  Gegensatz  liegt  in  den  dpxac  duec- 


384  Otto   Gilbert, 

pot  evavxta:  184  b  22.  In  atom istischem  Sinne  ist  xb  atspeöv 
Tta:  xivov  188  a  22  (55  A  45)  die  evavxioxrjs;  in  pythagorei- 
schem 188  b  34  x6  uepLxxöv  vm  äpxiov.  Die  letztere  gehört 
aber  schon  einer  späteren  Entwicklungsphase  der  pythagorei- 
schen Lehre  an.  Dürfen  wir  aus  dem  [leya.  xat  [Jttxpov  Piatos 
einen  Schluß  ziehen,  so  war  in  älterer  Fassung  der  Gegensatz 
schon  in  dem  öiizeipov  selbst  enthalten.  Es  ist  mir  nicht  un- 
wahrscheinlich, daß  gei'ade  diese  nach  allgemeiner  Ueberzeu- 
gung  die  Entwicklung  der  Materie  beherrschende  svavxioxyjs 
den  Pythagoreern  den  Gedanken  eingegeben  hat,  die  Materie 
selbst  als  Suag  zu  bezeichnen. 

Aristoteles  schließt  sein  Referat  über  die  älteren  Lehren 
von  den  evavxta  mit  der  Bemerkung  188  b  30  Scacpepouac  5' 
äXXrikMV  xw  xobc,  \iev  Tipoxspa  xobq  6'  uaxepa  Xajjtßavsiv  xac  xoug 
|j.£V  yvwpifxtbxepa  xaxx  xov  Xoyov,  xobc,  Ss  -/.ccxcc  xyjv  ai'a^rjaiv. 
Aristoteles  will  die  Begriffe  des  p-sya  xat  [Aixpov  189  a  8  als 
die  höheren  und  vorzuziehenden  gefaßt  wissen,  während  er  die 
rein  sinnlichen  Merkmale  uuxvov  [Jiavov,  •ö-epjxov  f\)\}Xpöv  u.  a. 
als  secundär  und  minder  bezeichnend  faßt.  Das  ist  aber  eine 
unberechtigte  Diftelei.  Denn  da  es  sich  für  alle  Vorsokratiker 
ausschließlich  um  die  Gestaltung  des  Stoffs  handelt,  so  ist  die 
jxavoxyjs  und  uuxvoxrj^  tatsächlich  die  eigentlich  charakteristi- 
sche havxioxTjC,,  die  von  allen,  wenn  auch  in  verschiedener 
Weise,  und  ebenso  von  Aristoteles  selbst  zum  Ausdruck  ge- 
bracht wird.  In  Wirklichkeit  lösen  sich  denn  auch,  wie  Ari- 
stoteles ausdrücklich  hervorhebt  188  b  35,  die  scheinbaren 
Widersprüche  der  verschiedenen  Schulen  auf  w^xs  xauxa  Xe- 
yetv  7iw;  xat  exspa,  exspa  [xsv  w^Tiep  v.od  Soxsc  xolq  nXsicjxoic,, 
xaüxa  0£  fi  avaXoyov. 

"Ox:  Yj  X7,xcc  xoKOV  cpopa  npüxrj  xi];,  xtVTgaeü)?,  [xapxupoOao 
Tzdvxec,,  sagt  Aristoteles  265  b  17.  Diese  Raumbewegung  löst 
aber  zugleich  alle  Stoffveränderung  aus,  welche  letztere  ein 
Werden  der  Substanz,  ysveat^  und  cpO-opa,  einen  Wandel  der 
Qualität,  äXXotwatc;,  und  eine  quantitative  Mehrung  und  Min- 
derung, aügrjacs  [le'MOiq,  nach  sich  zieht.  Zwar  heißt  es  1075  b 
16  5ta  xi  dsl  eaxoci  yivBaic,  xat  xb  amov  yeveaews  oöSe:?  Xeyet, 
aber  mit  dem  Stoffwandel  selbst  hatten  sich  alle  Forscher  be- 
schäftigt.    Aristoteles  legt  wiederholt  die  Gegensätze  dar,  von 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  385 

deuen  die  ältere  Forschung  beherrscht  wird.  So  werden  298  b 
12  ff.  die  Lehrmeinungen  der  Eleaten,  welche  jede  yeveac^  ver- 
neinen, 14—24  (14—20  bei  Diels  18A25);  sodann  die  der 
•O-eoXoyot,  unter  denen  besonders  Hesiod  und  Pherekydes  zu 
nennen  sind,  24 — 29;  weiter  die  der  lonier  29 — 33,  denen 
alles  nur  ein  (jLeTaaxr^IxaxtCsa^ac  des  £v  ist;  endlich  die  der 
Pythagoreer  und  Piatos  33  ff.  wiedergegeben.  Demselben 
Zwecke  dient  314a  6  ff.:  allgemein  werden  die  äpxaio'.  in  zwei 
Kategorien  geschieden,  deren  eine  ysvEa'.?;  und  dXko'nüoic,  iden- 
tificiert,  deren  andere  die  beiden  Prozesse  verschieden  faßt. 
Daß  die  ersteren  die  lonier  sind,  wird  8  ff.  dargelegt:  ihnen 
als  den  Vitalisten  werden  die  Mechanisten  11  ff.  gegenüber- 
gestellt. Daß  diese  Verschiedenheit  der  Auffassung  des  Wer- 
dens aus  ihrer  Grundlehre  folgt,  wird  sodann  314  b  1  ff.  dar- 
gelegt. Auch  322  b  6  ff.  werden  die  lonier  denen ,  welche 
tzXe'm  axoiyjc.i<x  als  durch  die  Natur  gegeben  annehmen,  ent- 
gegengesetzt; denn  für  jene  ist  alles  Werden  nur  ein  dXXcc- 
oOa^-a:  des  ev,  für  die  letzteren  ist  die  Möglichkeit  einer  wirk- 
lichen yevsais  gegeben.  Vitalisten  und  Mechanisten  werden 
auch  334a  16  ff.  einander  gegenüber  gestellt:  Sactg  [jlsv  oo- 
y.tl  u  sivat  v.o'.ycv  (das  ionische  £v)  ■>)  [xeTaj^aAXscv  (näml.  die 
axoixeta)  elq  äXXrika  (wie  Aristoteles  selbst),  dvdyy.ri  tl  -O-atspov 
TO'JTWV,  xal  ■O-axepov  au|Ji[jaiv£:v  oisoic,  Se  [xyj  uotoOaov  e^  aXXri- 
Xwv  yeveaiv  —  tcXyjv  de,  ix  xoiyo^^  tOIv^-oxjc,  — ,  als  deren  Ver- 
treter 26  Empedokles  erscheint:  hier  bleiben  die  axoiyelcn.  aw- 
^6{JL£va  und  y.axa  {xcxpa  uap'  oiXXriXa  auyx£''[i£va.  Auf  Empe- 
dokles wird  sich  auch  327  a  11 — 16  beziehen  [ü^nep  cpaac 
xtv£$) ;  hier  erscheint  der  elementare  Stoff  zwar  als  axjyzyiq, 
aber  doch  so,  daß  er  xaxa  xa;  Äcpa^  sich  an  einander  schließt 
und  in  diesen  Fugen  gebrochen  werden  kann.  Auch  das  ist 
nur  eine  mechanische  Auffassung  des  Stoffwandels,  welche  eine 
äXXoliüoi:;  ausschließt.  Daher  auch  989  a  19—30;  329  b  1  die 
Polemik  gegen  Empedokles.  Am  consequentesten  aber  wenden 
die  Atomisten  den  Mechanismus  der  Stoffzusammensetzung  an : 
ihnen  gilt  besonders  Y£v.  a  2.  Scheiden  sie  nominell  zwischen 
y£V£aLi;  und  iXXoib)o:q,  so  ist  in  Wirklichkeit  jene  nur  eine 
auyxpcat?  und  S'.axpcatc,  diese  eine  hexccO-ecjc?  der  Atome  (54  A 

Philologus  LXVIII  (X.  F.  XXII),  3.  25 


386  Otto   Gilbert, 

9).     Im    allgem.   verweise  ich   hierfür  auf  meine  meteorolog. 
Theorien  253  ff. 

Im  kosmischen  Werden  sind  nun  aber  zwei  Momente  zu 
unterscheiden:  die  Entstehung  des  Kosmos  als  solchen  und 
die  stete  Neubildung  der  Einzeldinge  im  Naturprocesse.  Denn 
ist  auch  der  Stoff  in  seiner  Gesamtheit  ewig,  der  Kosmos 
selbst  ist  geworden:  279b  12  Ycv6[X£vov  (xev  ouv  aTravxe?  ehxi 
tpaacv  (xöv  oOpavov).  Daher  ndvxec,  ol  usp:  cpuasw^  tc  Xiyoyxec, 
die  xcvrjai?  in  Beziehung  zum  y.OG\iono'.el^  und  zur  yevea:? 
(der  ovta)  setzen  250  b  15.  Und  ebenso  wird  640  b  4 — 17  als 
die  gemeinsame  Lehre  aller  apxo^'^oi  die  xoajxoTiou'a  und  die 
Erzeugung  der  ^wa  und  cpuxa  aus  der  blf]  durch  Einwirkung 
eines  xcvoüv  dargelegt ;  vgl.  auch  986  b  8  ff.  Eine  kurze  Prü- 
fung aller  Lehren  über  die  Kosmosbildung  findet  sich  250b  11  ff. 
Gegen  die  welche  dr^eipouc,  xoapious  statuieren  (Anaximander, 
Anaximenes,  die  Atomisten)  richtet  sich  die  Polemik  250  b 
18—21  (vgL  276  b  21);  gegen  die  welche  nur  £va  x6a[Jioy  an- 
nehmen 21  ff.  Die  letzteren  werden  unterschieden,  je  nach- 
dem sie,  wie  Anaxagoras,  den  Stoff  eine  unendliche  Zeit  ruhen 
lassen,  um  ihn  dann  für  eine  unendliche  Zeit  zum  Kosmos 
sich  bilden  zu  lassen  250  b  24  ff. ;  252  a  10  ff. :  279  b  10—280  a 
11;  301  a  11  ff. ;  oder,  wie  Empedokles,  die  Perioden  des  Ruhens 
und  der  Bewegung  sich  abwechseln  lassen  251b  28 — 252  a  5; 
289  a  4  ff.  Es  lassen  alle  den  Kosmos  aus  einem  ev  hervor- 
gehen: die  lonier  erreichen  dieses  durch  die  Einheit  des  Stoffs; 
Empedokles,  Anaxagoras  und  die  Atomisten  durch  das  |i.ry|Jta, 
in  dem  die  Elemente  oder  Atome  von  Haus  aus  vereinigt 
waren.  Daher  die  letzteren  drei  Schulen  öfter  zusammen  ge- 
nannt werden:  veüxo;  voO?  aut6[aatGV  640b  7;  1069b  21  heben 
das  charakteristische  Moment  der  Kosmosbildung  in  der  ver- 
schiedenen Auffassung  dersell)en  hervor.  Zu  Empedokles  vgl. 
noch  284  a  24  ;  295  a  7  ff\;  800  b  1  ff. ;  1068  b  22;  zu  Anaxa- 
goras 288  b  22  ff.;  zu  den  Atomisten  196  a  24  ff.  (55  A  69); 
300  b  31—301  all;  641  b  15.  Auf  Einzelheiten  der  Kosmos- 
bildunj?  ist  hier  nicht  einzucrehen :  nur  einiges  Gemeinsame  sei 
hervorgehoben.  Interessant  ist  die  Angabe  291  a  18,  &c,nep 
Travtes  cpaai'v,  daß  die  Gestirne  elx'  sv  ocipoc,  Tzlr^d-ei  x£xu[ji£vcp 
xaxa  xö    Tiav    el'xE    Tiupo;    getragen    werden :    vgl.   dazu    meine 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  387 

nieteorolog.  Theorien  677  fF.  Auch  die  Lehre,  daß  die  Sterne 
Kugelgestalt  haben,  soll  von  allen  vertreten  sein  290a  7. 
Ferner  mag  auf  o  cfoßoövxa'.  oi  uspc  cfuaewi;  1050  a  22  ff.  hin- 
gewiesen werden,  daß  Sonne.  Sterne  und  der  ganze  Himmel 
einmal  zum  Stillstand  kommen.  Daß  der  Himmel  Feuer,  wird 
zwar  nur  als  die  Meinung  einiger  269  b  11;  289  a  16  {oi  nü- 
ptva  cpaaxovTSs)  und  speziell  des  Anaxagoras  270  b  24  (46  A  73) 
angegeben,  ist  aber  in  Wirklichkeit  die  Lehre  fast  der  ge-> 
samten  Vorsokratiker. 

Wir  wenden  uns  jetzt  der  Betrachtung  der  dritten  dp/rj 
xa:  ahioc  zu,  der  Frage  nach  der  Guata.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  die  Aristotelische  ouaia  einer  Untersuchung  zu  unter- 
ziehen :  Avir  müssen  uns  auf  die  Tatsache  beschränken,  daß 
die  ooata  für  Aristoteles  aus  zwei  Factoren  sich  bildet,  deren 
einer  der  Stoff,  deren  anderer  die  Form  ist.  Wie  die  letztere 
mit  dem  ersteren  sich  verbindet,  ihn  bildet  und  gestaltet, 
bleibt  der  Erkenntnis  mehr  oder  weniger  verborgen:  nur  das 
Resultat  dieses  Processes  kommt  in  den  övia  selbst  zum  Aus- 
druck, die,  jedes  in  seiner  individuellen  Eigenheit,  ein  auvoAov 
von  Stoff  und  Form  darstellen.  Geht  Aristoteles  unzählige 
Male  auf  das  Wechselverhältniß  von  uXrj  einerseits,  von  elooc, 
oder  [iopcpi^  anderseits  ein,  so  deutet  er  doch  immer  an,  die 
Form  sei  das  wesentlichere.  Sehen  wir  nun,  was  die  einzel- 
nen Schulen  der  Vorsokratiker  hierüber  gelehrt  haben. 

Aristoteles  bezeichnet  die  Frage  xt  xo  öv,  d.  h.  tIq  ij 
ouaia  als  xö  rcaXai  xe  y.v.1  vOv  xa:  de:  ^r^xo6|ji£Vov  xac  dTüopoulJievov 
1028  b  3.  Tatsächlich  haben  denn  auch  schon  die  lonier  diese 
Frage  zu  lösen  gesucht.  Ueber  sie  sagt  Aristoteles  298  b  29 
Ol  Se  xd  |ji,£v  dXÄa  Tiavxa  ycvsa^ac  xe  cpaac  xal  peiv ,  ecvac  oe 
Tcayiws  ouOsv ,  ev  oi  u  |jl6vov  ü;i;o|.i£V£iv ,  iE,  ou  xaOxa  Tidvxa 
\iex(xaX'f][i'(x.zlL,ea%'ai  Tiecpuxsv '  OTcep  ioixaai  ßQuAea-B-at  Jiyeiv  dX- 
loi  xe  Tzollol  xo(.l  "HpdxXecxog.  Und  in  gleichem  Sinne  wird 
983  b  6  als  Inhalt  der  ionischen  Lehre  angegeben,  daß  ein  ev, 
eine  [Ata  cpuacg  in  allem  Wandel  des  Stoffs  erhalten  bleibt,  xfj; 
{xev  O'jo'.occ,  "jTiGixevouarj?,  xot;  oe  TiaO-ea:  [xexaßaXXouarjs.  Hierzu 
sind  noch  193  a  18  0'.;  194  a  19;  996  a  7  ff .  u.  a.  St.  zu  ver- 
gleichen. Falsch  ist  es,  wenn  Aristoteles  1001  b  32  ff.  den 
elementaren    Grundstoff  nur    nach    seiner   Qualität    anerkannt 

25* 


388  Otto    Gilbert, 

wissen  will:  sagt  er  doch  selbst  1002  a  2  xö  awjjia  xb  xaöxa 
uenovd'bc,  jxovov  utuo[X£V£c  uic,  ovxc  xa:  obo'.cc  xti;  o5aa.  Für  die 
lonier  war  also  die  ganze  kosmische  Entwicklung  der  Wandel 
eines  einzigen  Grundstoffs,  der  als  ouoicc,  als  der  substanzielle 
Kern,  in  allen  Einzeldingen  sich  erhielt.  Es  heißt  daher 
richtig  1002  a  8  O'.omp  ol  [jlev  tzoXXoI  xal  ot  Tipoxepov  xyjv  oOatav 
xai  xb  Sv  c[)ovxo  xö  aw[ia  £:vac,  xa  Ss  aXXa  xouxou  7T;a'9'rj,  oiaxs 
xao  xa?  apx^G  xa$  xwv  a(D[xax(i)v  xwv  Svxwv  £:vac  apxsc?.  Für 
die  lonier  gab  es  also  nur  eine  ouac'a  alod-fjxri :  die  Form  ord- 
nete sich  für  sie  durchaus  dem  Stoffe  unter.  Daher  193  b 
28  ff.  von  den  Tcspc  cpuaew?  lijovTeq  wohl  gesagt  wird,  daß  sie 
TCEpc  axrwiocxoc,  der  einzelnen  Dinge  reden,  diese  Formen  sind 
ihnen  aber  nur  die  Wirkungen  der  £vavxia  189  b  8  ff. ;  187  a 
14;  1004  b  29,  die  sich  aus  dem  einheitlichen  Stoffe  ausschei- 
den und  an  seiner  Gestaltung  tätig  sind.  Der  Tadel  des  Ari- 
stoteles 185  a  6  ff. ;  335  a  24  ff.  ist  daher  berechtigt:  wenn 
alles  nur  die  Umbildung  eines  £V  ist,  hört  jede  Individualität 
auf,  daher  385  b  35  die  Worte  E^atpoOa:  x6  xi  fiv  ehcci  xccl  xy]v 
|xopcpr|V. 

Dasselbe  Urteil  gilt  auch  für  die  späteren  Schulen:  die 
Substanz  bleibt  eine  stoffliche,  die  Form  als  solche  tritt  zurück. 
Daher  die  allgemeinen  Urteile  1069  a  25  ff.  über  die  dpxatoc, 
die  in  ihrem  Suchen  nach  der  ouaia  die  [xca  aüa^rjXYj,  die  doch 
nur  cp'9'apxYj,  anerkennen  ("/jv  ttccvxe?  oixoXoyoöacv,  heißt  es:  vgl. 
dazu  997  a  34;  1028  b  18;  1029  a  33),  während  sie  die  Form 
als  untergeordnet  auffassen ,  daher  642  a  24  der  Tadel  und 
1060  a  24  t^yjXEtxac  g/eSöv  utio  xwv  y^ocpitaxdxti)^  6ic,  o6ad  xic,  äpxri 
xcd  ouac'a  xocauxyj  (näml.  xö  elBoc,  xa:  "q  [xopcpyj). 

Für  diejenigen  Physiker,  welche  mehr  als  einen  Grund- 
stoff annahmen,  mußte  sich  dann  die  ouac'a  auch  vielseitiger 
gestalten:  Aristoteles  erklärt  bestimmt  1028b  4,  daß  den  Ele- 
menten oder  Atomen  entsprechend  die  ouac'a  verschieden  de- 
finiert wurde;  1001  a  17  ff. 

Erst  mit  Empedokles  begann  —  wenn  wir  die  Pythago- 
reer  hier  vorläufig  bei  Seite  lassen  —  die  Forschung  sich  der 
Frage  nach  der  Form  und  damit  zugleich  nach  der  ouac'a  der 
Dinge  zuzuwenden.  Es  heißt  194  a  18  etic  {jccxpöv  yap  xc  [iipoc, 
'E[X7ce5oxXfi(;    xac    Arjjxoxpcxo?   xoO    ecSou?   xac    xoö    xc    r^v    £cvac 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  389 

f/];avTo;  vgl.  auch  642  a  18  (21  A  78).  Wenn  aber  Aristoteles 
geneigt  ist,  mit  dem  iJLcyfia  aller  Stoffe  als  dem  iv  ov  1001  a 
12;  996  a  7  den  Begriff  der  cfcXia  sowolil  wie  der  ouaca  zu 
verbinden,  so  ist  das  töricht:  es  ist  wahrscheinlich,  daß  Em- 
pedokles,  indem  er  dem  Feuer  eine  Sonderstellung  gegenüber 
den  andern  Elementen  gab,  ihm  damit  zugleich  eine  formende 
Tätigkeit  zuwies :  die  Stellen  984  b  3  ff . ;  335  a  14  ff.;  1070  b 
12  deuten  diese  formende  Kraft  des  Feuers  bestimmt  an.  Aber 
indem  Empedokles  vom  materialistischen  Standpunkte  aus  die 
cppovrjatg  der  aio%'y]aic,  gleichsetzte  und  die  letztere  als  das  Re- 
sultat stofflicher  Mischung  ebenso  wie  die  Dinge  selbst  einer 
steten  Veränderung  unterworfen  sein  ließ ,  nahm  er  sich  die 
Möglichkeit  den  Einzeldingen  eine  bleibende  ouata  zu  geben, 
und  den  Sinnen  zugleich  die  Fähigkeit,  eine  solche  zu  erken- 
nen 1009  b  15  (21  B  106). 

Derselbe  Tadel  trifft  auch  die  Atomisten :  avatpoOac  ooatav 
xac  TÖ  xc  r^v  ecvac,  heißt  es  von  ihnen  allgemein  1007  a  20; 
1010  b  26,  was  1005  b  35  ff. ;  1009  b  11  ff.  bestätigt  wird. 
Doch  heißt  es  anderseits  auch  von  Demokrit  194  a  20  eni  jxc- 
xpöv  [lipoc,  xoü  doouc,  xac  xoO  xi  ryv  ehai  rjtpaxo.  Jedenfalls 
hat  er  den  Formen  insofern  seine  besondere  Aufmerksamkeit 
gewidmet,  als  seine  arcetpa  äxo\ix  auch  arcscpa  axirjiJtaxa  waren 
303  a  10  ff. ;  daher  Aristoteles  184  b  21  als  das  Characteristi- 
sche  seiner  Lehre  die  apxas  dTzeipooc,  ax%axc  yj  doei  Scacpspou- 
cac,  angibt.  Da  aber  diese  verschiedenen  Formen  mechanisch 
mit  dem  Stoffe,  d.  h.  mit  den  Atomen,  verbunden  waren,  so 
blieb  auch  für  die  Atomisten  die  üXt]  das  eigentlich  Bleibende, 
die  ouaca  1042  b   11. 

Dem  Anaxagoras  gilt  noch  der  besondere  Tadel,  daß  er 
die  Gegensätze,  in  ihrer  allgemeinsten  Form  als  öv  und  [xyj  öv 
ausgedrückt,  im  Stoffe  selbst  gegeben  sein  ließ.  Da  nun  nach 
Anaxagoreischer  Lehre  in  allen  Dingen  von  allem  etwas  vor- 
handen war,  so  ließ  er  damit  das  Wesen  der  Dinge  sich  selbst 
aufheben  und  es  gilt  daher  auch  ihm  das  Wort,  daß  er  die 
ouaca  aufhebt,  indem  er  1006a  1  xö  auxo  ecvac  xac  [xt]  ecvac 
UTcoXaiißavec.     Vgl.  dazu  1007  b  25;    1009  a  25  ff. ;    1063  b  24. 

Haben  alle  diese  Denker  die  Form  unmittelbar  mit  der 
uXyj  verknüpft,    sie  dieser  untergeordnet  und  aus  ihr  sich  ent- 


390  Otto   Gilbert, 

wickeln  lassen,  so  gebührt  den  Pythagoreern  das  Verdienst, 
dem  Stoffprinzip  das  Formprinzip  selbständig  gegenübergestellt 
zu  haben.  Die  Materie  ist  für  sie  die  gestalt-  und  formlose 
Masse,  die  erst  durch  die  von  außen  an  sie  herantretende  und 
nun  integrierend  mit  ihr  sich  vereinigende  Form  in  die  Ein- 
zeldinge übergeführt  wird.  In  der  consequenten  Ausgestaltung 
dieser  Lehre  sind  die  Pythagoreer  soweit  gegangen,  die  Ele- 
mente, welche  seit  Alters  ausschließlich  dem  Stoffe  als  solchem 
nach  seinen  Scheidungen  galten,  gleichfalls  in  Formen  umzu- 
ändern, die  demnach  nur  äußerlich,  in  den  Oberflächen  der 
Dinge,  mit  diesen  letzteren  sich  verbinden,  während  das  Innere 
derselben,  als  die  ungeformte  Stoffmasse,  von  ihnen  unberührt 
bleibt.  So  kann  Aristoteles  1002  a  8  ff.  den  npoxtpov,  welche 
TY]v  ouatav  xa:  xö  ov  movzo  tö  awjxa  ecvac  die  uaxepov  v.al  ao- 
cpwiepot  gegenüberstellen,  welche  die  ouaia  in  den  apc^|xo:, 
d.  i.  eben  in  den  äußeren  Formen ,  erkannten  (45  B  8).  Er 
hebt  aber  anderseits  bestimmt  hervor,  daß  die  pythagoreischen 
Speculationen  über  xö  xi  eaxcv  oder  die  ouata  nur  ein  etzcuo- 
'ka.'nüc,  opi^Bo^ai  gewesen  seien  987  a  19  ff. 

Das  Bedenkliche  dieser  Theorie  des  Formprinzips  liegt  in 
der  äußerlichen  Auffassung  desselben.  Die  Formen  sind  hier 
nur  als  die  eTir-pavscat  der  Dinge  gefaßt:  der  Stoff  als  solcher 
bleibt  von  ihnen  unberührt.  So  bedeutet  die  Aristotelische 
Lehre  zweifellos  einen  außerordentlichen  Fortschritt.  Die  Form 
als  solche,  xö  eoSoc;  oder  i]  jxopcp-)^,  tritt  für  ihn  nicht  von  außen 
an  die  Dinge  heran,  sie  gestaltet  diese  von  innen  heraus.  Ist 
es  zumeist  der  Inhalt  selbst,  welcher  die  Form  bildet  und  be- 
seelt, so  hat  auch  Aristoteles  den  formgebenden  Factor  als 
Energie  mit  dem  Stoffe  selbst  organisch  verbunden.  In  dieser 
seiner  Eigenschaft  als  das  den  Stoff  gestaltende  Prinzip  steht 
dasselbe  unter  der  Einwirkung  eines  dritten  Factors.  Hierüber 
heißt  es  335  b  5  ff.  oCo  xa:  6)c,  [xsv  üXrj  x&üx'  laxcv  odxiov  xot; 
yevqxolq ,  6)c,  oe  xö  ou  svexsv  t^  [xopcpyj  xa:  xö  doog '  xoOxo  o' 
£ax:v  6  löyoc,  6  xfic,  exaaxou  ouatai;.  öet  dk  Tipo^efvac  xa:  xrjv 
xp:xrjv,  y)v  äizxvxeq  [liv  ovetpwxxoua:,  Xsys:  S'  cuoe:?.  Und  nun 
folgt  335  b  9  ff.  die  Darlegung,  daß  weder  die  Ideenlehre  den 
Tatsachen  gerecht  zu  werden  vermag,  noch  die  Auffassung  der 
Materialisten:  ouSexepoc  oe  Xeyooa:  xcxX&i;,  weil  sie  den  eigent- 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  391 

liehen  Anstoß  zu  dem  {Jtexaaxrjpiaxi^sa^ai,  der  uXrj  in  die  [iopcpi^ 
nicht  zu  erklären  vermögen.  Denn  xb  xiveüv  xa:  Tiocetv  gehört 
einer  exepa  düva[Lic,  und  diese  ouvafxcg  glaubt  Aristoteles  in  der 
engen  Verbindung  aller  energetischen  Tätigkeit  mit  der  Got- 
tessubstanz gefunden  zu  haben,  die  selbst  ein  axcvrjxov  dennoch 
die  Quelle  aller  kosmischen  Bewegung  ist. 

Mit  diesem  göttlichen  axtvrjtov  verbindet  nun  Aristoteles 
die  vierte  und  letzte  ocpyri  xac  ahioc  des  Weltgeschehens,  näm- 
lich den  Zweckbegriff.  Tb  ou  £V£xa,  heißt  es  1072  b  1,  ist 
ev  xolq  axtvTjto?;  996  a  22.  Dieses  dxcvrjxov  und  selbst  npG)- 
xov  xcvoöv  ist  zugleich  xb  apcaxov,  x6  dyccd-o^,  welches,  ohne 
a[iapxr][Jia  und  ccacpS-opa,  Ursprung  und  Quell  alles  Guten  in 
der  Welt  ist  1051  a  20;  1075  a  11.  Denn  die  cpuacs,  d.  h.  die 
bewegte  Materie,  steht  unter  der  unausgesetzten  Einwirkung 
jenes  selbst  unbewegten,  aber  alle  Bewegung  bedingenden  ver- 
nünftigen Prinzips,  und  ihre  spya  müssen  deshalb  gleichfalls 
ein  aya-B-ov  und  xaXov,  ein  dpcaxov  und  ßeXxiaxov  zum  Aus- 
druck bringen  415  b  15;  1252  b  34;  639  b  19.  Dieses  Gute 
und  Schöne  zu  bewirken  ist  eben  der  Zweck,  der  als  das 
höchste  Weltprinzip  in  letzter  Linie  auf  die  Gottesvernunft 
zurückgeht:  alle  Bewegung  ist  erst  die  Folge  jenes  639  b  14. 
Sonach  ist  der  Zweckbegriff  unmittelbar  mit  dem  höchsten 
Gottesbegriff,  der  göttlichen  Vernunft  zusammenfallend,  welche 
letztere  durch  die  von  ihr  ausgehende  Bewegung  jenen  Zweck- 
begriff an  und  in  der  uXv]  verwirklicht.  Dieses  Zweckprinzip, 
xö  xsXoi;  oder  x6  ou  evexa,  offenbart  sich  sowohl  im  allgemei- 
nen in  der  Ordnung  und  Schönheit  der  Welt  1075  b  24,  wie 
in  den  stets  von  neuem  sich  bildenden  Formen  der  Dinge:  die 
letzteren  stellen  den  eigentlichen  Zweck  und  damit  das  bezweckte 
dya^ov  dar  996  a  22  ff. ;  996  b  12.  Die  unter  der  Einwirkung 
der  von  der  Gottheit  ausgehenden  Bewegung  stehende  cpuac? 
kann  so  selbst  mit  dem  xiXoc,  und  dem  ou  evexa  identifiziert 
werden  194  a  28;  198  b  4;  196  b  21 ;  199  a  7 ;  199  b  15.  Es 
ist  aber  dabei  festzuhalten,  daß  nicht  die  Materie  als  solche 
diesen  Zweckbegriff  in  sich  trägt,  sondern  daß  derselbe  ihr 
erst  von  oben  zugebracht  wird :  so  wird  200  a  32  nicht  die 
Materie  ai'xcov  des  xeXo?,  sondern  dieses  letztere  wird  al'xiov  der 
Materie,    die   sich    erst   unter    der  Einwirkung  des   xiXoc,   zur 


392  Otto    Gilbert, 

Form  entwickelt.  In  der  Materie  selbst  ist  immer  ein  wider- 
strebendes, ja  ein  xaxoTiocov  Element,  welches  erst  durch  das 
wirkende  Zweckprinzip  gleichsam  überwunden  und  bezwungen 
werden  muß,  um  so  in  die  Form,  und  damit  zu  seinem  eigent- 
lichen layjxxov  und  dya^ov  und  xeXoc,  überführt  zu  werden : 
övios  yap  xcvos,  heißt  es  192  a  16,  %-eioD  xa:  ayot.d'Oü  v.cd  ecpe- 
Toü,  xb  |JL£V  ivavToov  auxw  cpajjtev  scvac,  xb  Se  ö  7t£(f)uxev  k^>i- 
zad-cci  xac  öpiyead-o(.i  auxcö  xaia  xrjv  eaux&ü  cpuacv.  So  fallen 
für  Aristoteles  198  a  24  Bewegung,  Form  und  Zweck  im  we- 
sentlichen zusammen.  Die  Materie  ist  nur  dazu  da,  in  Be- 
wegung gesetzt  und  so  in  bestimmte  Formen,  eben  ihren 
Zweck,  überführt  zu  werden,  welcher  letztere  eben  dem  aya- 
•O-ov  entspricht. 

Wie  verhalten  sich  nun  die  vorsokratischen  Schulen  die- 
sem Zweckbegriffe  gegenüber?  Aristoteles  stellt  dem  Zweck- 
begriff das  Kausalprinzip  gegenüber  und  bezeugt,  daß  die 
älteren  Denker  in  der  Hauptsache  nur  das  letztere  anerkennen. 
Das  führt  er  cpua.  ß  8.  9  (vgl.  642  a  2.  31  ff.)  des  näheren  aus. 
Dem  ou  evexa  steht  das  avayxaiov  entgegen  und  von  dem 
letzteren  heißt  es:  eic,  xauxr^v  xrjv  ahiay  dvayouac  Ttdvxeg. 
Während  also  Aristoteles  das  dvayxaiov  in  der  Natur  seinem 
höheren  Zweckbegriffe  untergeordnet  wissen  will,  ist  für  die 
älteren  Schulen  das  dvayxatov  und  damit  die  Frage  nach  Ur- 
sache und  Wirkung  an  erster  Stelle  stehend.  Ist  200  a  14 
iv  xYj  uXv]  xb  dvayxalov,  x6  o'  ou  evsxa  ev  xw  Xoyw,  so  ist  es 
erklärlich,  daß  die  älteren  Schulen,  die  das  Hauptgewicht  auf 
die  uXt]  legten,  damit  zugleich  das  dvayxatov  und  den  Kausal- 
begriff an  die  erste  Stelle  rückten.  Aber  Aristoteles  sucht  zu 
zeigen,  daß  die  Annahme  der  üXt]  als  dp^rj  eine  höhere  dpxr] 
voraussetze:  scxe  [xtj  eaxac,  heißt  es  1075  b  24,  Tzapcc  xd  aüa- 
■ö-yjxd  dXAa,  oux  eaxac  dpxrj  xcci  xd^ic,  -Kai  ysveac?  xac  xd  oüpd- 
vta,  alX  de:  xfjs  dpx'^?  ^pXY],  üc,mp  xoi<;  ^eoXoyois  xa:  xoic, 
cpuacxoc?  Tcäacv;  1091a  33  ff.  Und  ebenso  genügt  auch  die 
Setzung  zweier  einander  gleichwertiger  Prinzipien  nicht,  da 
diese  eine  dritte  xuptwxepa  dp/^Yj  verlangen  1075b  17;  1071b 
28:  Tcwi;  ydp  xivr^^Yjaexat,  eü  [xrj^ev  eaxa:  evepyeta  al'xLov;  Diese 
Fi-age  beantwortet  sich  nur  vom  aristotelischen  Standpunkte 
aus  1072  a  19  ff. 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  393 

So  kann  das  allgemeine  Urteil  des  Aristoteles  über  die 
Vorsokratiker  988  b  6  ff.  dahin  lauten :  xo  o'  o5  svsxa  al  Tcpa- 
^ets  v.cd  a.1  jjL£Taßo).ac  xac  ai  x^vr^asts,  xpoTiov  (jlsv  icva  Xeyouacv 
aÜTtov,  ouxü)  0£  (d.  h.  als  eigentlichen  Zweck)  ou  Xeyouacv,  ou 
S'  öv  Tcsp  7t£',f'j"/.£V.  Und  von  den  loniern  speziell  heißt  es 
988  b  11  ff .  oi  TÖ  £V  Yj  To  ov  cpaaxovTE?  £:va(,  tyjv  Tocauxrjv  cpuacv, 
T'^S  [i£V  ouaca^  al'xoov  cp aacv  £!vac ,  ou  (xrjv  xouxou  ye  £V£xa  t) 
thai  7iYcyv£a9-at.  (j5(;x£  A£y£tv  x£  xal  jjiyj  Aiyecv  uw?  au|j,ßaov£i 
a'jxo:^  xaya9-öv  acxtov  *  ou  yap  (xnXGic,  äXXcc  y.y.xy.  ouii'^efirfAbc, 
Xeyouatv.  Das  Gute  erscheint  hier  also  nicht  als  Zweck  der 
Bewegung  und  als  gewolltes  Ziel  des  Werdens,  sondern  nur 
als  accidentell,  ohne  prinzipielle  Bedeutung.  An  und  für  sich 
hätte  gerade  die  Lehre  von  den  ivavxta,  welche  die  lonier  ver- 
treten und  nach  der  das  eine  £vavxcov  zum  xaxov  wird,  sehr 
wohl  mit  dem  Zweckbegriffe  sich  vereinen  lassen  1075  a  28  ff., 
wenn  jene  materiellen  Evavxca  eben  einer  höheren  <x,pX^l  unter- 
geordnet wären;  aber  Aristoteles  bemerkt  1075b  11:  7ravx£S 
oi  zivyyxioc  Xiyoyzec,  ou  XP^Jövxat  xoc^  iyavxioic,,  e%v  jjir]  puS'jJii'ar] 
xic,  (Alexander  will  dafür  717,  33  pcx-d-uiiip-Q  lesen)  d.  h.  wenn 
man  nicht  willkürlich  und  gegen  ihre  eigenen  Absichten  ihre 
Lehre  modeln  will.  Und  eben  weil  sie  von  den  ivavxta  keinen 
rechten  Gebrauch  machen  können,  schalten  sie  den  Zweckbe- 
griff als  solchen  tatsächlich  aus. 

Von  den  Eleaten  heißt  es  1091  b  13  ff.  xwv  §£  xa^  axcvrj- 
XGOc,  ouaiaq  £cvac  XEyovxwv  oi  [i£V  cpaaiv  aüxö  xb  £V  x6  Äya'ö'öv 
auxö  £cvat  *  ouoiocv  \ievxoi  xb  £v  auxoü  &>ovxo  elvM  [xaXcaxa.  Die 
göttliche  Weltsubstanz  der  Eleaten  war  also  das  absolut  Gute. 
Aber  indem  die  Eleaten  diese  Substanz  von  der  Erscheinungs- 
oder Wirklichkeitswelt  völlig  lostrennten,  haben  sie  auch  nicht 
vermocht,  dem  Zweckbegriff  und  dem  dyaö-ov  seinen  rechten 
Platz  zu  geben. 

Den  Pythagoreern  gilt  das  Wort  1075  a  32  ol  Be  xb  £X£- 
pov  xwv  £vavxcü)v  uXrjv  tcocoüciv,  w^uEp  ol  xb  avcaov  xw  i'aco  v) 
xCo  £v:  xa  noXXä.  Vgl.  dazu  201  b  19  ff.  Zf^o^i  Se  axoTioüaiv 
wg  xt^Eaatv  aOxTjV  (näml.  xtjv  xivTjatv)  EVtot,  EXEpoxr^xa  xaS  dvt- 
aoxr^xa  xal  xö  [xi]  ov  cpdaxovxe?  ecvao  xtjV  xivrjacv;  und  Simplic. 
z.  d.  St.  428,  16  ff.  Das  dTistpov  erscheint  hier  als  das  inhalt- 
lich doptaxov   und   zugleich  dopiaxw^  xivou|jievov   (201  b  24  f.), 


394  Otto    Gilbert, 

an  das  nun  das  nipac,  als  l'aov  und  fipe\iiZ,ov  herantritt.  Da 
dieses  formende  Prinzip  —  wenigstens  in  späterer  Auffas- 
sung —  als  das  dya^ov  characterisiert  wird,  so  erscheinen  die 
Pythagoreer  tatsächlich  als  Vertreter  eines  ZweckbegrifFs.  Denn 
die  Form  tritt  als  dya^ov  und  damit  zugleich  als  den  Stoff 
zweckmäßig  gestaltend  an  den  letzteren  selbst  heran.  Vgl. 
noch  1087  b  5;  1091b  31;  1091a  24;  1093  b  12  ff.  Indem  aber 
die  Pythagoreer  das  äntipoy  oder  äyiao^  zugleich  mit  dem  xaxov 
identifizierten  1075  a  34 — 36,  ließen  sie  alle  Dinge  am  xaxov 
teilhaben  und  hoben  so  selbst  das  dya^ov,  welches  im  Tcspa? 
sich  mit  ihnen  vereint,  wieder  auf;  daher  1091  b  35  ff.  die 
Worte  ol  §e  Xsyouac  xo  dvcaov  ttjv  toO  xaxou  cpuaiv '  au[ißacv£C 
Sy)  Tidvxa  xd  övxa  [jisxexetv  xoO  xaxoö  e^w  ivbq  auxou  xoö  Ivos. 
Diesen  Gesichtspunkt  hebt  auch  Alexander  (der  freilich  die 
Worte  1075  a  33  x6  civiaov  xw  law  speziell  auf  Plato  bezieht) 
717,  16  ff.  (ed.  Hayduck)  hervor,  und  bemerkt  zugleich  (820, 
8  ff.),  daß  so  die  Begriffe  xaxov  und  dya^Q-ov  zu  Oaxepoyev^ 
werden,  in  dem  dieselben  erst  secundär  den  Hauptbegriffen 
£V  und  Suo  (rcepa?  und  dTietpov)  hinzutreten.  Auch  in  dieser 
Fassung  gelangt  also  das  dya^ov  als  der  eigentliche  Zweck- 
begriff nicht  zu  seinem  Rechte. 

Dem  Empedokles  und  Anaxagoras  ist  Aristoteles  bereit 
ein  größeres  Verständnis  für  den  Zweckbegriff  zuzugestehen. 
Auf  sie  bezieht  sich  1075  a  38  ff. :  ol  5s  xoOxo  [xsv  op^w^  oxt 
dpxV  (näml.  x6  dya^ö-ov),  oiXXx  uwe  xö  dya^ov  dp/vj  ou  Xeyou- 
acv,  Tioxspov  d)?  xiXoc,  9]  ws  xcv^aav  r]  wg  tltoz,:,  und  988b  8  ff . 
ol  [X£v  ydp  voöv  Xeyovxe^  7^  <:pi'kiocy  w;  dya-S-öv  (xev  xc  xauxa^ 
Tccc,  ccixiac,  xc^Q-saaiv ,  ou  {jLr]v  wg  evexd  ys  xouxtov  yj  ov  t^  yty- 
v6[j.ev6v  xc  xwv  ovxwv,  dXX'  w;  dTio  xouxwv  xdg  xtv/jaEcs  oOaag 
Xeyouatv.  Obgleich  Aristoteles  hier  also  anerkennt,  daß  Em- 
pedokles und  Anaxagoras  durch  Setzung  des  dya^ov  als  dpxi^ 
einen  Fortschritt  der  Forschung  indicieren,  so  schränkt  er 
diese  Anerkennung  doch  wieder  durch  den  Vorwurf  ein,  der 
Zweckbegriff  sei  von  ihnen  nicht  in  seiner  wahren  Bedeutung 
erkannt;  er  sei,  wie  sie  ihn  anwenden,  nur  ein  anderer  Aus- 
druck des  Bewegungsprinzips  (x6  xtvfjaav).  Speziell  dem  Empe- 
dokles gelten  dann  die  Worte  1075  b  1  ff.  dxoTiwg  Ss  xac  'E{ji- 
TrsSoxX-^S  •  XTjV  ydp   cpcXc'av   Tzoiel   xö    dya^O-öv  •  aüxT]  5'  dpx>j  xac 


Aristoteles  und  die  Vorsokratiker.  395 

w?  xivoöaa  (auvaysL  yap)  y.a:  <hc,  OXyj  •  [lopcov  yap  toO  (jttyjjLaxo;, 
et  OYj  xa:  xm  auxw  auiaßllBr^xev  tb?  üXyj  xac  apxTi  ^-"^^^  ^^^  f^g 
■xtvoöv  Tc,  aXXa  tö  y'  scvac  ou  Tauto.  xata  Tiotepov  ouv  cpcXta; 
atoTtov  6s  xat  xö^  acpO-apxov  etvac  xö  verxo?  *  xoOxo  5'  saxcv  auxö 
^  xoö  xaxoD  cpuats.  Vgl.  noch  988a  14  ff.;  1091b  11;  985a 
3;  1000  a  24  ff.  Die  Identification  der  Empedokleisclien  cpcXt'a 
mit  der  uXvj  bezw.  einem  Teile  dieser  ist  falsch ;  jene  ist  nur 
als  bewegende  Kraft  zu  verstehen.  Dadurch  aber,  daß  Empe- 
dokles  mit  dieser  vereinigenden  Kraft  den  Begriff  des  dya^ov 
verband,  ist  er  dem  Aristotelischen  Zweckbegriff  des  Äya^ov 
wenigstens  näher  gekommen.  Anderseits  hat  er  aber  durch 
gleichzeitige  Setzung  des  xaxov  als  o^pyj]  die  alleinige  Geltung 
des  dya^dv  als  des  Zwecks  aufgehoben.  Auch  die  Kommen- 
tatoren z.  d.  St.  Asklepius  (32,  26  ed.  Hayduck),  Alexander 
(33,  12  ff.  ed.  Hayduck)  heben  hervor,  daß  Empedokles  dcya^ov 
und  xaxGV  als  zwei  cchicci  eingeführt  habe;  sie  betonen  aber 
gleichzeitig,  daß  die  Dinge  durch  Teilhaben  am  vsixo;  auch 
des  xaxov  teilhaftig  werden;  so  Syrian  (184,  30  ff.  ed.  Kroll), 
Alexander  (823,  17). 

Dem  Anaxagoras  gelten  gleichfalls  die  schon  oben  ange- 
führten Worte  988  b  8  ff.  Dazu  ist  zu  vergleichen  1075  b  8 
'Ava^ayopa;  oe  6)c,  xcvoöv  xö  dyaO-ov  dpxxjV  •  6  ydp  voüc,  XLVst, 
aXloc  xtv£L  £V£xd  x'.vog,  w^xe  'ixzpov;  vgl.  dazu  noch  988  a  14  ff. ; 
1091b  11  f.;  984  b  15  ff.  (46  A  .58).  Auch  den  voO;  des  Ana- 
xagoras will  also  Aristoteles  nicht  als  den  Zweckbeo^riff  voll 
und  rein  zum  Ausdruck  bringend  anerkennen. 

So  kann  Alexander  Aphrod.  (in  seinem  Kommentare  zur 
Metaph.  63,  1  ff.)  sagen,  daß  vor  Aristoteles  niemand  richtig 
über  den  Zweck  gehandelt  habe.  Denn  für  Aristoteles  steht 
es  fest,  daß  der  Zweckbegriff,  dem,  als  dem  höchsten  Prinzipe 
alles  kosmische  Werden  sich  unterordnet,  nur  aus  der  Schei- 
dung einer  vergänglichen  und  unvergänglichen  Welt  sich  er- 
klären läßt.  Und  die  Nichtunterscheidung  dieser  beiden  Wel- 
ten ist  der  schwere  Irrtum,  an  dem  nach  Aristoteles  Urteil  die 
gesamte  Vorsokratik  leidet.  Daher  1075b  13  die  Worte:  o:x  xc  xd 
[Asv  cp'O-apxd  xd  S'  dcp'9-apxa  oOosc^  Xeye:  Midvxa  ydp  xd  ovxa  koioü- 
acv  £x  xwv  auxwv  dpxwv,  was  1000  a  5  ff.  näher  ausgeführt  wird. 

Halle  a.  S.  Otto  Gilbert. 


XV. 

Erchanberts  von  Freising  Donatkommentar. 

TJeber  das  grammatische  Werk  des  Preisinger  Lehrers 
und  späteren  Bischofs  Erchanbert,  das  s.  IX — X  ziemlich 
verbreitet  gewesen  ist,  sind  bisher  nur  wenige  Notizen  veröf- 
fentlicht. Wenn  sich  nun  auch  keine  neuen  grammatischen 
Quellen  daraus  erschließen,  so  ist  das  umfängliche  Werk,  das 
die  Ars  minor  und  maior  behandelt,  sowohl  wegen  des  Be- 
triebes der  grammatischen  Studien  im  Süden  von  Ostfranken 
als  auch  wegen  der  Behandlung  der  Quellen  wert,  etwas  näher 
betrachtet  zu  werden.  Es  ist  nämlich  noch  nicht  ausgemacht, 
ob  die  Grammatik  Hrabans  früher  fällt,  als  Erchanberts  Do- 
natkommentar; es  scheint  sogar,  als  ob  letzterem  die  Priorität 
zukomme  ^).  So  würde  eigentlich  Erchanbert  in  gewissem 
Maße  als  der  Begründer  der  grammatischen  Studien  in  Ost- 
franken in  ihrer  literarischen  Porm  auszusetzen  sein.  Ja  es 
stand  ihm  zweifellos  auch  ein  größeres  Quellenmaterial  zu 
Gebote,  als  dem  Hraban,  dessen  Grammatik  hauptsächlich  auf 
Priscian,  Diomedes  und  Beda  fußt. 

Ich  benutze  zu  den  folgenden  Notizen  den  Monac.  14846 
aus  dem  Anfang  des  10.  Jahrhunderts,  der  im  ältesten  Regens- 
burger Kataloge  (Becker,  Catal.  bibl.  ant.  N.  42  p.  128)  je- 
denfalls unter  den  Erchanperti  III  (N.  420  ff.)  mitgezählt  ist, 
während  er  im  Katalog  von  1B47  (von  mir  hrsg.  im  Cen- 
tralbl.  f.  Bibl.  wesen  20,  5  ff.)  wie  die  meisten  den  Artes  libe- 

*)  Erchanbert  ist  835—853  Bischof  gewesen,  seinen  Kommentar 
aber  hat  er  früher  geschrieben,  da  sowohl  Monac.  6414  wie  6031  in 
der  Aufschrift  Erchanbert!  magistri  haben,  wie  der  alte  Salisburgensis, 
s.  Becker,  Catal,  bibl.  ant.  115,  57.  Hrabans  Grammatik  ist  aber  mög- 
licherweise erst  nach  842  entstanden,  vgl.  E,  Dümmler,  Berliner  S.-B. 
1898  S.  34. 


M.  Manitiu3,  Ercbanberts  von  Freising  Donatkommentar.     397 

rales  angehörigen  Bücher  fehlt.  Die  Handschrift  trägt  außen 
auf  dem  Einbanddeckel  den  Vermerk  Dieta  super  Donatum 
und  die  Signatur  Y  4.  Innen  hat  eine  Hand  saec.  XVI  ein- 
getragen Glossa  in  utramque  editionem  Donati  Pauli  Pisani 
(beide  Worte  ausgestrichen)  vel  Albini  vel  Strabouis.  Auf 
fol.  1  a  stehen  zunächst  ohne  Ueberschrift  zwei  Distichen  von 
Hand  saec.  X: 

Etharti-)  tumulus  hie  fulget  cespite  pulcro, 

Conditus  et  magni  nobilis  ingenii, 
Gloria  quem  tollet  per  longa  pristina  vit§ 
Mens  intenta  fuit  auxit^)  et  ad  dominum. 
Darunter   steht   von   Hand    saec.   XV  Dicta   super   Dona- 
tum.    Während    der    Verfasser    des    ältesten    Katalogs    noch 
wußte,  von  wem  der  Kommentar  verfaßt  war,    haben    spätere 
Bibliothekare    hiervon    keine    Kenntnis    mehr    gehabt,    denn 
fol.   1  b  beginnt  der  Kommentar   ohne   Aufschrift  —  nur  eine 
Zeile  ist  dafür  leer  gelassen  —  und    er  endet  fol.   105  b  ohne 
Explicit   oder    sonstige  Andeutung,    und   zwar   mitten    in    der 
Materie,  so  daß  das  eigentliche  Ende  fehlt.     Das  letzte  Blatt 
der  Handschrift  bringt  wieder  ein  Gedicht  von  Hand  saec.  X : 
0  pie  magne  potens  defensor  et  inclite  rector, 
Plebis  amor,  patrie  pater  et  pietatis  amator, 
Civis  in  orbe  manes,  vox  regum,  lingua  salutis, 
Karus  ubique  petis  nobis  dulcisque  manebis, 
Stella  micas  lucida  mundo  ceu  sidus  in  alto, 
Atque  nites  placido  semper  vultuque  sereno, 
Formosus  facie,  nimium  formosior  ecce 
Moribus  et  factis  dictis  quis  factura  micis^). 
Auf  der  Rückseite   fol.  122b  steht  eine  Federprobe:  ene 
fidelis    prima   credendi,    genommen    aus    Prudentius    Psychom. 
praef.    1.    Das    Gedicht   bezieht    sich    wohl  nach  Vs.   1  und  2 
auf  einen  Bischof  und  ist  Abschrift. 

Um  Erchanbert  selbst  zu  Worte  kommen  zu  lassen,  gebe 
ich  zuerst  seine  Einleitung  zur  Ars  minor  und  bemerke,  daß 
die  Handschrift   anfänglich   gut    geschrieben   ist,    während    in 


^)  Es  ist  vielleicht  Echarti  zu  lesen. 

^)  Muß  wohl  vexit  heißen. 

*)  Muß  wohl  heißen  quoque  f actus  amicis. 


398  M.  Manitius, 

den  späteren  Partien  eine  Menge  Flüchtigkeiten  unterlaufen. 
Fehler  und  Versehen  sind  im  Anfange  vom  gleichzeitigen 
Korrektor  berichtigt  worden,  später  sind  viele  stehen  ge- 
blieben. Außer  dem  Korrektor  haben  noch  andere  Hände 
kleine  Aenderungen  gemacht,  und  daß  der  Text  noch  in  spä- 
teren Zeiten  benutzt  wurde,  ergibt  sich  aus  Randbemerkungen 
von  einer  Hand  saec.  XIH — XIV,  die  z.  B.  f.  5  b,  18  b  und 
19  a  eingetragen  sind.  Die  Einleitung  zur  Ars  minor  hat 
folgenden  Wortlaut: 

„Inter  omnes  artes  liberales  grammaticam  raerito  dignitatis 
principalitatem  tenere  nullus  ignorat,  qui  aliqando  studiosus 
in  his  singulis  aliquam  scientiara  scrutando  cognovit°).  Quippe 
quae  reliquas  aetate  atque  utilitate  longe  precedit.  Nam  origo 
ac^)  fundamentum  haec  eadem  dicitur  esse  artium  liberalium^). 
Quid,  rogo.  in  omni  aedificatione  suo  fundamento  vetustius  est? 
Utilitas  autem  eiusdem  artis  etiam  minus  doctis  patet.  Sed 
quoniam  artis  feci  mentionem,  dicendum  primo  quid  sit  ars 
vel  unde  dicatur.  Ars  est  comprehensio  preceptorum  ad  uti- 
litatem  usui  accommodata  per  artificis  sui  exercitationem  ^). 
Sive,  ut  alii,  ars  est  uniuscuiusque  rei  scientia^).  Dicitur 
autem  ars  a  greca  ethimologia  AIIOTECAPHTES  id  est  a  vir- 
tute^°).  Alii  volunt  artem  dictam  esse  ab  artando  veP^)  a  con- 
stringendo  ^^)  eo  quod  artis  preceptis  cuncta  concludit  ^').  Queri- 
tur  a  nonnullis  persona  locus  tempus  et  causa  istius  scrip- 
tionis,  per  quas  quattuor  species  haud  facile  liber  quilibet 
commendabitur.  Ad  quod  dicendum,  quia  scriptor  fuit  Donatus, 
conscripcionis  locus  Roma,  causa  autem  scribendi  hec  fuit  ut 
puerorum  vel  adolescentiorum  ingenia  per  interrogationes  et 
responsiones  accenderet  atque  ad  altiora  provocaret  investi- 
ganda,  Studuit  autem  memoratus  scriptor  tempore  Constantis 
et  Constantii  filiorum  Constantini  imperatoris.  Eodem  quoque 
tempore,    prout    tradente   magistro    percepi,    floruit  Victorinus 

')  Cognoscit  gibt  Monac.  6414  nach  Keil.  De  grammaticis  quibus- 
dam  etc.     (Erlangen  1868)  p.  23. 

^)  et  Monac.  6414.  ')  Aus  Isidor  Etym.   1,  5,  1. 

®)  Aus  Asper  bei  Keil  G.  L.  5,  547,  5  f. 

8)  Aus  Pompeius  G.  L.  6,  95,  4. 

1»)  Aus  Isidor  Etym.  1,  5,  2. 

")  artiendo  id  e  ursprünglich,  korrigiert. 

'-)  Aus  Cassiodor  G.  L.  7,  213,  15.  ^^)  Aus  Pompeius  p.  95.  8.. 


Erchanberts  von  Freising  Donatkommentar,  399 

rethor  Rom?'*).  Titulus  vero  ipse  iuxta  qnedam  exemplaria 
talis  est :  Incipit  prima  edicio  Donati  grammatici  urbis  Romae. 
Cuius  intellectus  hie  est:  Incipit,  subauditur  legi  sive  doceri 
vel  scribi  aut  amari  vel  tale  aliquid  huiusmodi.  Quae  ideo 
prima  dicitur,  quia  de  eadem  arte  in  secunda  edicione  plenius 
atque  utilius  disputat.  Editio  est  explanatio  vel  conditio  sive 
creatio  et  dirivatur  a  verbo  edo,  quod  significat  creo  vel  pro- 
fero  vel  condo,  a  genetivo  enim  '^)  participii  id  est  editus 
editi,  addita  o  fit  eadem  particula  id  est  editio.  Donati,  hie 
persona  scribentis  ostenditur.  Grammatici  nomen  est  officii 
vel  professionis.  Urbis,  urbs  vocatur  ab  orbe,  quod  antiquae 
civitates  in  orbem  id  est  in  modum  circuli  fiebant,  sive  ab 
urbo  parte  aratri,  quo  muri  designantur,  unde  est  illud :  Op- 
tavitque  locum  regno  et  concludere  sulco '").  Rom§  a  Romulo  '') 
suo  conditore  nomen  sortita  est.  Hinc  iam  sciendum  quid  sit 
grammatica  vel  unde  dicatur  quidve  habeat  officii  vel  quibus 
modis  constet.  Est  autem  grammatica  litteralis  scientia  et  hoc 
secundum  substantiam  qualitatis ;  secundum  superficiem  vero 
soni'®)  a  gramma  grammatica  nomen  accepit.  Gramma  quidem 
grec?  quod  latin§  littera  sonat,  inde  grammaticus  literator^^) 
vel  literalis  sive  literatus  dici  potest.  Officia  ^°)  artis  gramma- 
tica sunt  quattuor,  leccio,  enarratio,  emendatio  iudicium.  Leccio 
est  secundum  accentus  ad  sensuum  necessitatem  propria  pro- 
nunciatio.  Enarratio  est  secundum  poetae  voluntatem  unius- 
cuiusque  discretionis  explanatio.  Emendatio  est  errorum  apud 
poetas  et  figmentorum  reprehensio.  Iudicium  est  bene  dicto- 
rum  comprobatio. 

Constat  autem  grammatica  ars  modis  tribus,  natura  auc- 
toritate  et  consuetudine-').  Natura,  ut  illud,  quod  masculinum 

")  Aus  Hieron.  chron.  ad  annum  2373  (Eusebius  ed.  Schöne  2,  19.^). 

^=)  Hier  wie  öfters  steht  die  irische  Kürzung  H  für  enim.  Die  Worte 
id  est  editus  —  particula  stehen  am   Unterrand  von  fol.  3  ". 

'^)  Urbs  —  sulco  aus  Isidor  Etym.  15,  2,  3. 

")  Ursprünglich  romalo. 

18)  Vgl.  Kubisca  22  (Hisperica  famina  ed.  Jenkinson  p.  56). 

19)  Aus  Sergius  G.  L.  4,  487,  2. 

-'')  Officia  —  comprobatio  aus  Maximus  Victorinus  G.  L.  6,  1S8, 
6  —  12.  Die  Lesarten  ad  und  discretionis  ergeben  engsten  Anschluß  an 
Sangall.  877  s.  IX  — X,  der  somit  Kopie  des  von  Erchanbert  benutzten 
Exemplars  sein  dürfte. 

■')  Vgl.  Augustin  bei  Keil  G.  L.  5,  494,  4  und  Maximus  Victorinus 
G.  L.  6,  lt^9,  3. 


400  M.  Man  itius, 

sit,  alio  genere  nequaquam  pronuncias.  Auctoritate,  auctores 
latinitatis  in  generibus  nominum  vel  verborum  dissonantes 
scripta  sua  ediderunt  et  quia  nullius  illorum  persona  contemp- 
nitur,  nullius  dicta  respuuntur.  Consuetudine,  hoc  est  in  dubiis 
latinis  seu  barbaris  verbis  secundum  diversitatem  locorum  usu 
in  gente  fit  diversitas  accentuum.  Adiciunt  quidam  et  quartum 
id  est  rationem,  sed  ut  mihi  videtur  in  hac  arte  idem  ratio 
quod  natura. 

Sed  ne  te,  o  lector  ^-),  diucius  suspensum  teneam,  dicam 
que  sit  inter  substantiam  qualitatis  et  superficiem  soni  diffe- 
rentia.  Ubicumque  invenitur  in  diffinitione  verbum  substan- 
tivum  est,  diffinitio  substanti^  intelligitur,  sicuti  dicimus  litera 
est  pars  minima  vocis  articulatae  ^^),  item  pes  est  sillabarum 
et  temporum  certa  dinumeratio  ^^),  simili  mod  onomen  est  pars 
orationis  -^)  et  reliqua.  Ubi  vero  reppereris  dicitur  vel  dictus 
dicta  dictum,  diffinicionem  soni  intellegetur.  Verbi  gratia: 
Littera  dicta  quasi  legitera,  pedes  dicti  quod  ipsis  lege  metro- 
rum  incedimus  et  alia  huiusmodi. 

Exhinc  denique  fit  questio,  qua  ratione  Donatus  partium 
orationis  textum  non  a  litera  vel  voce  ut  plures  sed  a  nomine 
incipere  vellet.  Manifestum  etenini  est  unumquodque  nomen 
literis  constare.  Sed  li§c  interrogatio  solvitur  hoc  modo.  Quo- 
niam  noverat  ipsam  literam  vel  vocem  nomen  esse,  ideo  a 
nomine  maluit  inchoare.  Queritur  quoque  a  nonnullis  quare 
haec  pars  id  est  nomen  primum  inter  ceteras  locum  sorciatur. 
Quibus  respondendum  est,  quia  merito  primum  locum  sibi 
defendit  qu§  et  principalis  est  et  plus  ceteris  necessaria.  Nam 
uniuscuinsque  rei  notitia  a  suo  nomine  revelabitur,  nisi  enim 
nomen  scias,  rerum  cognitio  perit  -^).  Nominibus  enim  solum- 
modo  iunctis  plerumque  plenus  intellectus  repperitur,  ut  illud : 
Inicium  sapenti§  timor  domini, " 

Aus  dieser  Vorrede  ergibt  sich  die  Abhängigkeit  Erchan- 
berts  von  seinen  Quellen,  zu  denen  also  auch  Maximus  Vic- 
torinus  zählt,  der  in  karolingischer    Zeit   mehrfach  verwendet 


^^)  neteolecter,  o  übergeschrieben. 

")  In  der  Hs.  steht  •  u  •  a.,  vgl.  Donat  bei  Keil  G.  L.  4,  367,  9. 

•")  In  der  Hs.  steht  -ed.,  vgl.  Donat  p.  369,  17. 

")  Donat  p.  372,  2.  -^)  Isidor  Etym.   1,  7,   1. 


Erchanberts  von  Freising  Donatkonunentar.  401 

wird  und  gewöhnlich  Maximianus  heißt,  vgl.  Hagen,  Anecd. 
Helv.  p.  CCLI  f.;  Clemens  Scottus  im  Bern.  123  f.  la  und 
8  a  und  Cruindmelus  ed.  Huemer  13,  34.  Dieselbe  Abhängig- 
keit erweist  sich  im  Kommentar  zur  Ars  minor,  in  dem  Pris- 
eian  und  die  Donaterklärung  des  Pompeius  als  Hauptquellen, 
hervortreten,  ohne  daß  sie  öfter  genannt  werden'-').  Einzeln 
werden  Augustin  (fol.  10  b)  und  Isidor  (fol.  16  b  =  Etym.  3,  3,  2) 
angeführt.  Die  späteste  bekannte  Quelle,  die  benutzt  ist,  ist 
der  Auszug  des  Paulus  aus  Festus.  Es  ist  nicht  ohne  In- 
teresse, zu  sehen,  wie  hier  alte  echte  Gelehrsamkeit  mit  neue- 
ren entsetzlichen  Etymologien  in  Verbindung  gebracht  wird. 
So  heißt  es  fol.  40  b :  dius  fidius  videtur  significare  Jovis 
filius.  Jovis  enim  grece  Dius  dicitur,  fidius  pro  filius  accipi- 
tur,  quia  sepe  antiqui  pro  1  litera  d  utebautur  dicentes  fidius 
pro  filius,  sedda  pro  sella.  Vel  aliter:  medius  fidius 'i- medi- 
cator  fidelis  quod  significat  Mercurium  qui  credebatur  apud 
gentiles  nuntius  esse  inter  deos  et  homines.  Hier  ist  Paulus' 
Auszug  (ed.  Thewrewk  de  Ponor  p.  131,  4  ff.)  wahrscheinlich 
mit  Scaurus  (Keil  G.  L.  7,  13,  14  oder  23,  17)  verbunden, 
während  der  medicator  fidelis  nach  karolingischer  Erfindung 
schmeckt.  Und  fol.  55  a  Dicitur  augurium  quasi  avium  garri- 
tus  kommt  von  Paulus  p.  2,  7  -^).  An  zwei  Stellen  führt 
Erchanbert  auch  seinen  Lehrer,  leider  ohne  Namen,  als  Auto- 
rität an,  nämlich  fol.  2  b  Eodem  quoque  tempore,  prout  tra- 
dente  magistro  percepi,  floruit  Victorinus  rethor  Rom§  und 
fol.  40  b  nt  edepol  castor  et  reliqua.  Ut  ego  instruente  ma- 
gistro didici,  istud  fuit  iuramentum  gentilium  Romanorum 
et  ut  rustice  apud  eos  -^)  usualiter  dicebatur.  Diese  Stellen 
gehen  ohne  Zweifel  auf  Niederschrift  eines  vom  Lehrer  ge- 
haltenen Vortrags  zurück. 

Wenig    tritt  im  Kommentar  zur  Ars  minor  das  Prunken 
mit    griechischen    Kenntnissen    hervor,    das    sich  im  9.  Jahr- 

^^)  So  gleich  im  Beginn  bei  der  Erklärung  von  nomen  fol.  6  °,  wo 
Priscian  (G.  L.  2,  57,  1 — 4)  abgeschrieben  wird.  Ebenso  fol.  1)  *  sicut 
dicimus  arhitmetica  Nichomachi,  gramniatica  Aristarchi  (p.  57,  6  f). 
Genannt  wird  Priscian  fol.  11  a.  U  a.  22  a.  23  ^  u.  a. ,  Pompeius  14  a 
und  18  a. 

^^)  Der  Schluß  dieses  Abschnitts  heißt  auguria  consuluntur,  auspicia 
autem  ultro  veniunt  stammt  aus  Isidor  Dift'erentiae  6. 

^^)  Ursprünglich  nos. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  3.  26 


402  M.  Manitius, 

hundert  häufig  kundgibt  und  sowohl  auf  die  nicht  selten  von 
alten  Grammatikern  gebrauchten  und  erklärten  griechischen 
Worte  als  auch  auf  die  tatsächliche  Kenntnis  dieser  Sprache 
zurückgeht,  die  eine  Anzahl  karolingische  Gelehrte  besaßen. 
Doch  ist  eine  Stelle  recht  bezeichnend  für  die  Unerfahrenheit 
Erclianberts,  der  es  auch  hier  nicht  unterlassen  kann,  eine 
krasse  Etymologie  mit  einzuflechten,  obwohl  ihm  der  Sinn 
des  betreffenden  Wortes  klar  gewesen  sein  muß.  Er  schreibt 
fol,  14  b  Et  est  compositum  nomen  sacerdos  sacrum  ^°)  dans  ^^). 
Est  epicenon'i'promiscuum^^).  Omnia  dubia  in  sexu  EPICENA 
(übergeschrieben  von  Hand  saec.  XI  erisena)  dicuntur.  Non^^) 
enim  in  sua  natura  sed  in  nostra  ratione  permulta  animalia 
mixta  sunt  quia  a  nobis  non  discernuntur  in  sexu  ut  est 
aquila  anguilla  et  alia  multa.  Alii  dicunt  non  per  p  sed  per 
n  debere  scribi  illud  nomen  "i^epicenon  (wieder  übergeschrieben 
erisen)  et  esse  compositum  ex  greco  et  latino;  grece  enim  eut 
super  latine,  cenon  vero  lutum  dicitur.  Qu§  compositio  sie 
intelligitur  epicenon  id  est  snpermixtum.  So  gebrach  es  hier 
völlig  an  der  Sicherheit  im  Verständnis. 

Von  Interesse  ist  eine  Erweiterung  zu  Priscian.  Es  heißt 
nämlich  fol.  26  a :  quod  possunt  equidem  etiam  hominum  inve- 
niri  nomina  neutri  generis  ut  in  maribus  hoc  busion  ^^)  hoc 
eliconion  quomodo  etiam  in  feminis  glicerium  dorcium  ^^).  Die 
Grundlage  hierzu  bildet  Prise.  G.  L.  2,  587,  21  f.,  die  Quelle 
für  die  Erweiterung  ist  Prise.  2,  148,  16.  Und  zwar  ist  Priscian 
in  einer  dem  Sangall.  904  nahestehenden  Ueberlieferung  be- 
nutzt. Die  übergeschriebene  Glosse  bocha  liängt  wohl  mit 
bueea  zusammen. 

Erchanbert  hat  aber  auch  die  Ars  maior  erklärt.  Er  be- 
reitet in  der  Ars  minor  darauf  vor  fol.  37  b  fervesco  calesco 
fervere  calere  incipio;  de  his  formis  in  maiore  editione  cum 
ad  has  perventum  fuerit  favente  Christo  latius  disseremus. 
Und  an  drei  Stellen  der  Erklärung   zur  Ars  maior  bezieht  er 


^°)  Ursprünglich  sacro. 

3»)  Nach  Isidor  Etym.  7,  12,  17.  _ 

32)  Wie    im  Kommentar    zur  Ars    maior   im  Bern.    522   bei  Hagen 
XL,  12  f. 

33)  Hagen  p.  XL,  13  ft.  34)  Uebergeschrieben  bocha. 
^^)  Uebergeschrieben  sophroniü. 


Erchanberts  von  Freising  Donatkonimentar.  403 

sich  auf  sein  frülieros  Werk.  Nämlich  fol.  64  b  In  minore 
editione  quoniam  de  comparatione  satis  me  dixisse  existimo 
minus  hie  laborandum  est;  fol.  71a  Figurae  nominibus  acci- 
dunt  duae  figurate^*')  dictiones  ut  in  minore  editione  demon- 
stravi.  Und  fol.  83  b  Quoniam  in  priore  editione  me  de  hac 
parte  satis  dixisse  arbitror,  plura  nunc  de  hac  eadem  scribere 
non  opus  esse  videtur.  In  der  Handschrift  steht  daher  auch 
zwischen  den  beiden  Artes  fol.  58  b  nur  Explicit  editio  I  in- 
cipit  secunda.  Hierauf  folgt  die  Einleitung,  deren  Wortlaut  ist : 
Notandum  in  primis  quod  has  partes  maiores  raaioribus 
et  intellectu  fortiovibus  Donatus  conscripsit.  Quem  ad  modum 
enim  minorem  edictionem  minus  intellegentibus'i'pueris  quasi 
per  interrogationem  pueri  et  responsionem  magistri  ordinavit, 
ita  hanc  acutioribus  doctoribus  sine  ulla  iam  interrogatione 
vel  responsioue  composuit,  qui  quasi  roborato  iam  ingenio  non 
indigentes  interrogatione  per  se  quae  volunt  legere  et  intelle- 
gere possunt,  Hanc  etiam  decorando  suis  circumdedit  orna- 
mentis  ab  human§  scilicet  vit§  qualitate  ^^)  illam  conformans. 
Debet  autem  in  hac  arte  secunda,  ut  quidam^^)  contendunt, 
hie  ordo  teneri  ut  ante  partes  in  capite  vox  littera  atque 
syllaba  ponatur,  in  fine  autem  illarum  pedes  toni  barbarismus 
soloecismus  metaplasmus  et  Schemata  collocentur  ^^).  Infans 
etiam  cum  nascitur  primo  vocem  sine  sensu  emittit,  postea 
cum  etiam  aliquid  discernere  novit,  litteras  et  syllabas  iubetur 
cognoscere,  deinde  partes  componere  illarumque  compositionum 
habere  peritiam,  quibus  cognitis  naturas  syllabarum  et  accen- 
tuura  regulas  oportet  sedulus  discat.  In  quo  cum  iam  ali- 
quanto  imbuitur,  latinitatis  amore  captus  vel  loqui  aliquid 
latine  vel  dictare  gaudet.  Sed  quia  necdum  est  in  arte  per- 
fectus,  incurrit  in  barbarismura,  id  est  in  dictando  et  loquendo 
Vitium  facit.  Quorum  dedecus  cum  iam  cautiore  oculo  nove- 
rit  declinare  securus  abhinc  elegantioribus  verbis  su§  dictatio- 
nis  sententias  ornat  *°).  Sed  ego  predicfco  ordiue  ad  presens 
neglecto  de  partibus  quam  brevissime  possum  narrare  incipiam. 
Ex  his  due  sunt  principales  partes  orationis.    Principales  par- 


^*)  Ursprünglich  figurae.  ^^)  qualitate  Handschrift. 

3*)  quidem  Handschrift.  ^^)  collocetur  Handschrift. 

*"}  ornat'  Handschrift. 

26* 


404  ^-  M  anitius  , 

tes  merito  dicende  sunt  nomen  et  veibum*^),  quia  in  liis  tota 
nostra  locutio  consistit.  Hinc  qnidam  haut  futilis  huius  artis 
auctor  harum  duarum  partium  sentiens  principalitatem  sie 
ait*^):  Omne  enim  quod  mente  concupimus  nomine  et  verbo 
explicamus.  Nam  Donatus  VIII  partes  difinivit  sed  cetere  VI 
ad  liaec  duo  revertuntur  •  i  •  ad  nomen  et  verbum.  Nam  *^) 
pronomen  a  nomine  nasci  videtur  cuius  semper  officio  fungi- 
.tur.  Adverbium  enim  verbo  semper  adheret  et  maxima  parte 
de  nomine  oritur.  Participium  a  nomine  et  verbo  nascitur 
quoniam  de  utroque  participat.  Coniunctio  autem  et  prepo- 
sitio  et  interiectio  in  contextum  **)  istarum  cadunt. 

Die  Erklärung  zur  Ars  maior  hält  sich  in  etwas  engeren 
Grenzen  als  die  frühere,  außerdem  bricht  das  Werk  fol.  105  b 
in  dem  Abschnitt  De  pedibus  ab  und  die  letzten  Kapitel  über 
Toni,  Barbarismus,  Soloecismus,  Metaplasmus  und  Schemata, 
die  in  der  Vorrede  angekündigt  werden,  sind  nicht  erhalten  ^°). 
Auch  für  diese  Erklärung  sind  Priscian  *'^),  Pompeius  ^'^)  und 
Isidor  *^)  Hauptquellen,  denen  Erchanbert  das  meiste  verdankt, 
ohne  daß  er  sie  aber  gebührend  anführt. 

Hierzu  kommt  zunächst  Macrobius,  aus  dessen  Saturn.  1, 
15,  10.  12  er  folgendes  excerpiert:  fol.  69  b  Kaiende  a  greca 
origine  nomen  traxerunt,  quia  kalo  verbum  grecum  est  •  i  •  voco. 
Priscis  enim  temporibus  minor  pontifex  kalata  •  i  •  vocata  in 
capitolium  plebe,  quot  numero  dies  a  Kalendis  ad  Nonas 
superessent,  repetito  verbo  kalo  pronuntiabat.  Nam  oportebat 
Nonarum  die  populäres,  qui  in  agris  essent,  in  urbem  con- 
fluere  scituros  quid  esset  eo  mense  faciendum. 

Sodann  Servius'  Kommentar  zu  Vergil.     Erchanbert  sagt 


")  Aus  Consentius  G.  L.  5,  338,  6  f. 

^2)  Consentius  G.  L.  5,  338,  7. 

*3)  Natu  —  cadunt  aus  Isidor  Etym.  1,  6,  2. 

**)  complexum  Isidor. 

*^)  Auch  der  Anfang  der  Hs.  ist  nicht  erhalten,  da  am  Unterrande 
von  fol.  16^  die  Quaternion  VII  steht;  so  fehlt  Quaternio  1—5,  deren 
Inhalt  sich  aus  dem  ältesten  Regensburger  Kataloge  nicht  ergibt. 

*")  Angeführt  z.  B.  fol.  IT':  83b.  85b.  96  ^,  benutzt  außerdem  z.  B.  fol. 
60b  (syncategoremata).  68  b  (das  Citat  aus  ]\Iartial  1,  65). 

*')  Angeführt  fol.  61  *  88  b,  benutzt  außerdem  z.  B.  62  *  (Dimi- 
nutiva). 

*8)  Benutzt  in  der  Einleitung  (s.  oben),  fol.  102  a  (Etym.  1,  15,  5) 
und  fol.  103  a— 105  b. 


Erclianberts  von  Freising  Donatkommentar.  405 

fol.  82  a  Iiide  Virgilius  in  biicolicon  *^ :  *Dic  mihi,  Danieta, 
cuium  pecus  ?  an  Moelibei?  Hunc  versum  Servius  haud  vilis 
aiictor  bis  verbis  exponit.  Cuium  antiqui,  ait,  vitans  omoeo- 
teleuton  ne  diceret  cuius  pecus;  quod  modo  trium  est  gene- 
rum  antiqui  dicebant   sie  meus  niea  meum,  cuius  cuia  cuium. 

Ferner  Pbocas,  der  scbon  Aldbelm  und  Älcbvine  bekannt 
war  und  sich  im  9.  Jahrhundert  in  Lorsch  und  in  Murbach 
befand.  Erchanbert  nennt  ihn  fol.  86  b  Vescor  secundum 
Focam  ^°)  grammaticum  pastus  sum  facit,  fero  pro  feris  ferit^^) 
fers  fert  facit.     Die  Stelle  steht  bei  Keil  G.  L.  5,  438,  16  f. 

Das  Werk  von  Beda  de  metrica  ratione  wird  in  karo- 
lingischer  Zeit  stark  benutzt.  Erchanbert  polemisiert  unter 
Anerkennung  von  Bedas  Verdiensten  gegen  eine  Stelle  fol.  96  a 
Extra  quam  formam  u  littera  i.  n.  u.  o.  h.  (Donat  bei  Keil 
G.  L.  4,  367,  15)  hanc  rationem  quamquam  Beda,  magnum 
sanctae  ecclesiae  membrum,  infirmare  temptaret,  a  Prisciano 
tamen  aliisque  quam  plurimis  vera  esse  firmatur,  s.  Keil  G. 
L.  7,  221,  28  f.  Also  eine  ähnliche  Polemik  gegen  einen 
von  Priscians  Lehre  abweichenden  Grammatiker,  wie  fol.  88  b, 
wo  sich  Erchanbert  gegen  Pompeius  wendet:  Negant  non- 
nuUi  et  maxime  ille  falsiloquus  Pompeius  indulgens  non  esse 
participium  nee  ab  eo  nasci  adverbium  posse,  sed  illos  Pris- 
ciani  semper  invicta  re  vincit  auctoritas;  vgl.  fol.  77  a  lüde 
Priscianus  huius  artis  eminens  auctor  dicit. 

Ueber  die  Einführung  von  y  und  z  ins  römische  Alphabet 
bemerkt  Erchanbert  fol.  100b:  Hanc  questionem  ita  solvunt 
scolastici  Romanorum.  Deridebantur  a  Grecis  quasi  non  pos- 
sent  ob  difficultatem  ^^)  propriae  [lingnae]  sonare  suas  litteras. 
Idcirco  Romani  ad  expellendas  a  se  huiusmodi  inrisiones 
duas  litteras  y  videlicet  et  z  ceteris  Grecorum  litteris  dificil- 
lius  sonantes  sibimet  adduxerunt  in  grecis  tantummodo  nomi- 
nibus  illas  scribentes^^).  Hier  begibt  sich  der  Autor  auf  ein 
gefährliches  Gebiet,  wie  zumeist,  wenn  er  auf  Griechisch  zu 
sprechen  kommt.     Hierzu   ist   besonders    die   Etymologie   von 

")  Ecl.  3,  1.  50)  focum  Handschrift. 

5»)  fert  Handschrift. 

52)  Obtificultate  Handschrift.  Entweder  ist  proprie  zu  schreiben 
oder  linguae  zu  ergänzen. 

°')  scripentes  Handschrift. 


406  ^^'  M  a  n  i  t  i  u  s  , 

syllaba  zu  vergleichen,  wo  zu  Isidor  Etym.  1,  15,  1  noch  ein 
Zusatz  kommt,  der  zur  Erklärung  Isidors  eine  andere  hinzu- 
fügt, die  auf  den  schon  im  früheren  Werke  genannten  Lehrer 
Erchanberts  zurückgeht,  von  diesem  selbst  aber  mit  gerechtem 
Mißtrauen  betrachtet  wird.  Es  heißt  fol.  100  b  Syllaba  grece 
latin§  conceptio  sive  complexio  dicitur.  Syllabae  nomen  com- 
postum  ex  tribus,  si  non  me  tradicio  magistri  fefellit,  id  est  ex 
si  et  lempsis  et  pannitou.  Si  ponitur  sepe  pro  con  sicut  di- 
cimus  sinagoga  congregatio,  syneresis  conglutinacio ;  lempsis 
preensio,  baniton  ^*)  litterarum  interpretatio.  Dicta  autem 
syllaba  apo  toy  syllabanita  grammaton,  id  est  concepcione 
literarum.  Syllabanin  grece  concipere  dicitur  latin?,  unde  vere 
est  illa  syllaba,  qu§  ex  pluribus  nascitur  litteris. 

Endlich  ist  noch  einiges  über  den  Schlußabschnitt  De 
pedibus  zu  bemerken.  Die  einzelnen  Versfüße  werden  hier 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Bedeutung  ihrer  griechischen 
Namen  behandelt  und  der  ganze  Abschnitt  dem  Isidor  entlehnt. 
Freilich  finden  sich  Zusätze,  die  teilweise  mit  dem  stimmen, 
was  bei  Julian  von  Toledo  im  Abschnitt  De  pedibus  über 
Isidor  hinausgeht,  den  oder  dessen  Quelle  Julian  ja  auch  hier 
benutzt  hat.  Die  Benutzung  Julians  ist  natürlich  möglich^-''), 
da  er  sich  im  9.  Jahrhundert  in  Fulda  und  Lorsch  (und  in 
St.  Riquier)  befand.  Erchanbert  müßte  dann  zu  Isidor  jene 
Zusätze  aus  Julian  genommen  und  andere  damit  verbunden 
haben,  die  entweder  auf  seinen  Lehrer  zurückgehen,  oder  von 
ihm  selbst  erdacht  wurden.  Daß  das  letztere  stattgefunden 
hat,  ergibt  sich  ohne  weiteres  aus  der  Bemerkung  fol.  61b 
Et  Carolus  Saxonicus,  quia  Saxoniam^'')  viriliter  regno  Fran- 
corum  subegit;  dieser  Beiname  ist  nämlich  sonst  nirgends  be- 
zeugt und  nur  der  römischen  Sitte  nachgebildet.  Dies  ganze 
Verhältnis  ist  aber  wenig  wahrscheinlich,  da  Erchanberts  Text 
mehrfach  mit  Julian  übereinstimmt,  während  er  sonst  zu  Isi- 
dor neigt.     Allerdings  ist  den  Isidorausgaben  nicht  zu  trauen, 


°*)  Sollte  hier  ein  Zusammenhang  mit  dem  von  den  Iren  gebrauch- 
ten Wort  bannita  =  Silbe  stattfinden? 

55)  Vgl.  hierzu  auch  fol.  66^  Tarn  bonus,  ut  aiunt  quidam,  melior 
accipitnr,  tam  malus  pro  peior  mit  Julian  bei  Hagen,  Anecd.  Helv. 
p.  CCXXI,  18. 

5^)  saxonicam  Handschrift. 


Erchanberts  von  Freising  Donatkommentar.  407 

und  da  infolge  dieser  Umstände  die  Quellenfrage  nicht  ohne 
weiteres  gelöst  werden  kann,  so  setze  ich  den  Abschnitt 
Erchanberts  hierher  und  zwar  so,  daß  alle  Konvergenzen  mit 
Julian  am  Eande  namhaft  gemacht  werden,  und  alle  auf  Julian 
oder  auf  Erchanbert  oder  dessen  Lehrer  zurückgehenden  Zu- 
sätze cursiv  gedruckt  sind. 

Fol.  103  a  Pirrichius  ■")  dictus  est  quia  hie  assidue  vel 
in  certamine  vel  in  ludo  puerili  sepius  frequentabantur. 
Pirrichius  quasi  ignitus  dicitur,  nam  pyr  grece  ignis  dicitur  ^^). 
Sicut  enim  ftanima  ignis  nunc  elevatur  nunc  äepromitur,  sie  in 
pyrrichio  fit  elevatio  et  positio  ut  fuga^  honus.  Vel  ab  Pyrro 
Achillis  filio  qui  ioco  saltandi  aptum  genus  carmini  per  hunc 
pedem  canendum  primus  invenit^''). 

Spondeus  ^°)  tractus  vel  sacrificalis  dicitur,  spondeon  enim 
grece  protraliere  vel  sacrificare  sonat.  Nam  sponde  tractus 
quidam  dicitur,  id  est  sonis,  qui  fundebatur  circa  aures  sacri- 
ficantium.  Unde  et  hi  qui  tybiis  canebant  in  sacris  gentilium 
spondiales  nominabantur.  Spondeus  in  comparatione  pyrrichii 
longus  tractus  est. 

Jambus  ^^)  detractor  vel  detrahens,  iambozin  grece  detra- 
here  dicitur.  Per  hoc  genus  mctri  pravq  inventiones  vel  detrac- 
tiones  vel  convicia  maxime  canehantur. 

Trocheus  ^^)  rota  vel  rotahilis,  trochos  enim  grece  rota 
dicitur.  Qui  inde  hoc  nomen  accepit  quia  celerem  conversio- 
nem  facit  cantilen^  et  quasi  rota  velociter  currit  in  metris. 

Tribrachus  "^^j  quia  sit  ex  tribus  brevibus  nomen  accepit, 
brachos  enim  grece  hrevis  dicitur. 

Molosus  ^'^)  dictus  a  saltatione  Molosorum  quam  exercue- 
runt  armati.  Mola  nomen  est  insule  in  qua  pes  iste  primum 
inventus  est  et  ex  ea  sihi  vocahuluni  traxit.  Insula  ^^)  dicitur 
quasi  inter  soJum  vel  quia  est  in  salo  id  est  in  mari. 


")  Isid.  Etym.  1,  17,  2. 

^^)  Hierzu   vgl.    Isidor    ed.    Migne   82,  89    Anm.    h    und    ed.   J.  du 
Breul  p.  7. 

59)  Juliani  ars  bei  Keil  Q.  L.  5,  322,  14  f. 

60)  Isidor  ],   17,  2. 

")  Isidor  1,   17,  4.     Die  Reihenfolge    ist  hier    wie  bei  Julian,    der 
ebenfalls  den  Jambus  vor  den  Trochäus  setzt. 

«2)  Isidor  1,  17,  3.  ^^)  Isidor   1,  17,  5, 

«*)  Isidor  1,  17,  6.  ß»)  Isidor  14,  6,  1. 


408  ^^-  M  a  n  i  t  i  u  s  , 

Anapestus  repercussor  vel  repercussio,  quasi  longa  syllaba 
duas  breves  repercutiat^^). 

Dactilus^')  a  digito  dictus  quia  a  longiore  nodo  inclioaiis 
desinit  in  duas '''^)  breves.  Sic  et  ipse  pes*^'')  dactilus  iunctu- 
ram  unam  habet  longara  et  duas  breves,  unde  et  manus  obpansa 
palma  dicitur  et  pendentes  digiti  dactili. 

Ampbibrachus  '^^)  ciramibrevis,  quod  in  utraque  parte 
habeat  brevem  syllabam  longa  in  medio  interiacente ;  bracliis 
enim  grece  brevis  dicitur. 

Amphimacrus  ''^)  circumlongns,  quod  due  liinc  inde  long^, 
habeat  in  medio  brevem  inclusam.  Macros  autem  longus 
dicitur. 

Bachius  ''-)  hachans  vel  insaniens  a  Bacho  äeo  vini  qui  et 
Liter  pater,  eo  quod  eo  pede  Bachia  '^)  •  i  •  Liberi  sacra  cele- 
brabantur. 

Antibachius  '*)  quod  sit  bachio  contrarius. 

Procelenmaticus  '^)  quod  sit  ad  celeumam  caneutibus  ap- 
tus  et  potest  interpretari  prqnavalis.  Ä  trihus  partihus  istud 
nomen  compositimi  est,  a  prqposifioue,  a  celeos  '  i  '  nave,  ah  uma 
•  i  '  cantico  vel  carmine  nautis  convenienti. 

Dispondeus  ^^)  et  ditrocheus  et  diiambus  dicuntur  quod 
geminis  constant. 

Antispastus  '"^)  quod  sit  ex  contrariis  sillabis,  ex  brevi  et 
longa  et  brevi. 

Choriambus  ^^)  qtiasi  chorialis  quia  ex  hoc  pede  compo- 
situm Carmen  choris  aptissimum  est. 

Jonici  '^)  sane  propter  numerorum  inequalem  sonum  dicti, 
habent  enim  binas  longas  syllabas  binasque  correptas,  vel  ut 
alii  ah  auctore  vocantiir.     Minor  dicitur  quia  ah  eo  quod  minus 

««)  Vgl.  Isidor^l,  17,  7  und  col.  91  Anm.  a. 

•')  Isidor  1.   17,  8. 

***)  So  Julian  p.  ;-i2o,  15 ;  Isidor  hat  duos. 

"'•')  So  Julian  p.  323,  15;  Isidor  hat  iste.  Somit  steht  der  Ab- 
schnitt Julian  näher. 

'0)  Isidor  1,  17,  9.  ")  Isidor  1,  17,  10. 

'-)  Isidor  1,  17,  11. 

'^)  So  Julian  p.  323,  33;    Isidor  hat  Bachica. 

'*)  Isidor   1,   17,   12. 

'^)  Isidor  1,  17,  13.  Von  hier  an  fehlt  das  Stück  bei  Julian  p.  323. 
Zur  Komposition  des  Wortes  vgl.  oben  syllaba. 

'«)  Isidor  1,   17,  14.  ")  Isidor  1,  17,  15. 

")  Isidor  1,  17,  16.  ")  Isidor  1,  17,  17. 


Erchanberts  von  Freising  Donatkonimentar.  409 

est  incipit  id  est  a  hrevihus  siUabis,  et  maior  quouiam  longq 
preponuntur  in  ipso. 

Peones  ^^)  ab  inventore  dicti. 

Epitriti^^)  vocati  quod  semper  tres  longas  syllabas  habe- 
ant  et  uiiam  brevem.  JEpitriti  supertrini  vel  supertertii  eo  quod 
supier  fertiam  longam  in  aliqiio  loco  hrevis  inveniattir^^). 

Man  sieht  aus  diesem  letzten  Abschnitt  einen  Umstand, 
der  ziemlich  große  Teile  des  ganzen  Werkes  betrifft,  nämlich, 
daß  man  es  beim  Kommentar  zur  Ars  maior  oft  nicht  mehr 
mit  einer  Erklärung  zu  Donat,  sondern  mit  einer  gramma- 
tischen Schrift  zu  tun  hat,  die  fast  ein  Lehrgebäude  der  Ars 
darstellt.  Die  Behandlung  selbst  ist  sehr  verschieden,  doch 
läßt  sich  deutlich  das  Streben  nach  Etymologie  und  Wort- 
bedeutung erkennen,  das  den  Erchanbert  auch  mehrmals  dazu 
führte,  lateinische  Worte  ins  Fränkische®^)  zu  übertragen, 
vgl,  fol.  64  b,  69  a,  85  b,  s.  Steinmeyer  u.  Sievers,  Althoch- 
deutsche Glossen  2,  100^^).  Hierzu  kommt  die  dem  Zeitalter 
eigentümliche  Vorliebe  für  Griechisch,  aber  Erchanbert  hat 
es  in  dieser  Sprache  nicht  weit  gebracht,  da  er  weder  die 
Formen  richtig  gibt,  noch  auch  von  richtiger  Ableitung  etwas 
versteht.  Hier  wäre  als  Ausnahmefall  zu  erwähnen  fol.  69  a 
Nam  grece  fit  verbum  TOPEOrO  et  significat  celo^^), 
TOPEOfTEC  celator,  TOPEOrCIC  celatum,  TOPErMÄTdici- 
tur  celatura,  Avelche  Worte  ihm  wohl  aus  einem  Lexikon  zu- 
geflossen sind.  Gegen  die  ausführliche  und  gründliche  Arbeit 
eines  Smaragd  steht  allerdings  Erchanberts  Werk  sehr  zurück, 
aber  mit  den  dürftigen  Arbeiten  von  Paulus,  Alchvine  und 
Hraban  verglichen  macht  es  sowohl  an  sich  wie  auch  durch 
die  ziemlich  ausgebreitete  Literaturkenntnis  seines  Verfassers 
einen  nicht  unbedeutenden  Eindruck.  Auffällig  ist  bei  Erchan- 
bert endlich  der  Mangel  an  Dichtercitaten,  die  nur  ganz  aus- 
nahmsweise zugelassen  werden  und  wohl  sämmtlich  den  be- 
nutzten Quellen  entstammen.  Irgend  welchen  Zusammenhang 
mit  einem  zeitgenössischen  Werke  scheint  der  Donatkommentar 
nicht  zu  haben,  dagegen  ist  er  für  den  Unterricht  benutzt 
worden,  wie  die  deutschen  Glossen  in  Monac.  19440  und 
6414  und  die  lateinischen  in  Monac.   14846  erweisen. 

Radebeul.  M.  Manitius. 


80)  Isidor  1,  17,  18.  81)  Tsidor  1,  17,  19. 

82)  Mit  diesem  Wort    schließt  fol.  105 b  das  Werk  mitten  im  Ab- 
schnitt. 

83)  Wie  das  schon  vor  ihm  Smaragd  in  seiner  Grammatik  getan  hat. 
8*)  In  unserer  Handschrift  fehlt  fol.  85  b  sorbillo  "i"  parum  eorbeo 

thiutisee  sufu. 

8*)  Also  richtiger  als  im  Comm.  Einsidl.  bei  Hagen,    Anecd.  Helv. 
239,  22. 


XVI. 

Der  erste  punische  Krieg. 

In  einem  früheren  Bande  dieser  Zeitschrift  (N.  F.  XIV 
S.  102 — 148)  habe  ich  die  Herkunft  unserer  Ueberlieferung 
über  den  ersten  panischen  Krieg  besprochen  und  die  Zeit  der 
wichtigsten  Ereignisse  in  ihm  festzustellen  versucht.  Seitdem 
sind,  zum  Teil  in  dieser  Zeitschrift,  verschiedene  Aufsätze  er- 
schienen, deren  Verfasser  zu  meinen  Ergebnissen  Stellung  ge- 
nommen und  meine  Aufstellungen  bekämpft  haben :  Prospero 
Varese,  II  calendario  romano  all'  etä  della  prima  guerra  punica. 
Roma  1902  (Studi  di  storia  antica.  Fase.  III),  dessen  Chrono- 
logie Beloch  (Griech.  Gesch.  III 2  S.  213)  und  Schermann 
(der  erste  punische  Krieg  im  Lichte  der  Livianischen  Tradition. 
Tübingen  1905)  angenommen  haben;  Ake  Eliaeson,  Ge- 
schichte Sardiniens  und  Corsikas  im  1.  punischen  Kriege.  In.- 
Diss.  Upsala  1905;  J.  Lüterbacher,  „Chronologische  Fragen 
zu  Livius"  (Philologus  N.  F.  XVIII  S.  137—41)  und  „Bei- 
träge zu  einer  kritischen  Geschichte  des  1.  punischen  Kriegs" 
(Philol.  N.F.  XX  S.  398-426);  0.  Leuze,  Die  Schlacht  bei  Pa- 
normos  (Phil.  N.  F.  XX  S.  135—152).  Da  ich  die  Einwände 
gegen  meine  chronologischen  Ansätze  mehrfach  nicht  als  be- 
rechtigt anerkennen  kann,  so  komme  ich  hiermit  noch  einmal 
auf  einige  der  strittigen  Fragen  zurück,  doch  kann  ich  von  einer 
Bekämpfung  der  von  Varese  aufgestellten  Theorie  absehen, 
nachdem  Lüterbacher  ihre  Unhaltbarkeit  und  die  Unmöglich- 
keit der  sich  aus  ihr  ergebenden  Ansätze  im  einzelnen  nach- 
gewiesen hat. 

Die  Schuld  an  dem  Kriege  schiebt  Philinos  (Polyb.  III 
26,  3)  den  Römern  zu,    sie    verstießen,    als    sie   nach  Messana 


Friedrich  Reuss,   Der  erste  puniscbe  Krieg.  411 

übersetzten,  gegen  einen  frühereu  Vertrag,  der  den  Römern 
gebot,  von  Sizilien,  den  Karthagern,  von  Italien  sich  fernzu- 
halten. Polyb.  bestreitet  das  Vorhandensein  eines  solchen  Ver- 
trags, Avährend  die  römische  Ueberlieferung  ihn  zwar  aner- 
kennt (Servins  zu  Verg.  Aen.  IV  628),  aber  durch  die  Kar- 
thager damit  brechen  läßt,  daß  sie  nach  dem  Tode  des  Pyrrhos 
den  Tarentinern  eine  Flotte  zu  Hilfe  geschickt  hätten  (Liv. 
per.  14;  XXI  10,  5  u.  8).  Daß  man  hier  es  mit  einer  nach- 
träglichen Erfindung  der  Römer  zu  tun  hat,  bedarf  kaum  der 
Erwähnung.  Dio  Cassius  verteilt  die  Schuld  auf  beide  Seiten : 
„Die  Römer  werfen  den  Karthagern  ihr  Eingreifen  in  Tarent, 
die  Karthager  den  Römern  ihr  Bündnis  mit  Hiero  vor",  sieht 
den  wahren  Grund  aber  in  dem  gegenseitigen  Mißtrauen  und 
dem  Verlangen  nach  dem  Besitze  des  anderen  (Dio  Cass.  43  ; 
Zonar.  VIII  8).  Eine  Weiterbildung  der  römischen  Tradition 
nimmt  Meltzer  bei  Orosius  an  :  IV  3,  1  u.  2  Tarentini  Pyrrhi 
morte  comperta  ....  Carthaginiensium  auxilia  per  legatos 
poscunt  atque  accipiunt.  conserto  proelio  vicere  Romani,  in- 
dessen Orosius  stimmt  hier  wörtlich  mit  Zonaras  VIII  6  über- 
ein, der  zunächst  berichtet :  KapXT^jOovcoug  STcexaXeaavto,  knel 
xac  xov  IIuppov  TS'ö'vavat  £}i,a^ov,  dann  aber  fortfährt :  ol  Kccp- 
XT^Sovtoc  6ic.  evaTCOvSot,  xoiq  Pwfxacots  ÄusTrXeuaav.  Die  Nach- 
richt von  einem  Kampfe  zwischen  Römern  und  Karthagern 
vor  Tarent  muß  einem  Mißverständnisse  des  Orosius  selbst 
ihre  Entstehung  verdanken.  Wie  er  zu  solchen  Mißverständ- 
nissen kommt,  dafür  ist  die  Vergleichung  von  III  17,  1  mit 
der  hier  benutzten  Vorlage,  Justin  XI  14,  1  ff.,  lehrreich :  Aus 
der  Angabe  suadentibus  ut  pons  Cydni  fluminis  interscinderetur, 
legt  Orosius  sich  zurecht:  Darius  ....  Alexandro  ab  Aegypto 
revertenti  apud  Tarsitm  hello  opponit.  Hier  wie  an  der  oben 
angeführten  Stelle  darf  man  seiner  Mitteilung  keine  weitere 
Beachtung  schenken;  anders  steht  es  freilich  mit  seinen  Wor- 
ten in  IV  5,  2  eo  tempore  Carthaginienses  dato  adversum  Ro- 
manos auxilio  Tarentinis ,  cum  a  senatu  per  legatos  argue- 
rentur,  turpissimam  rupti  foederis  labern  praesumpto  accumu- 
lavere  peiurio,  die  uns  mit  einem  neuen  Zuge  der  von  der 
römischen  Annalistik  vertretenen  Darstellung  bekannt  machen. 
Während  ich   die  Schlacht   am  Longanos  dem  Jahre  265 


412  Friedrich    Reuss, 

zuweisen  zu  müssen  glaubte,  setzt  Luterbacher  sie  ins  Jahr 
269  V.  Chr.  Diodor  nennt  zwar  Hieron  in  seinem  Schlacht- 
berichte nicht  weniger  als  6 mal  '^y.aiXeüz,  aber  „wenn  Diodor 
den  Hiero  schon  in  dem  Berichte  über  die  Schlacht  ßaacXsu^ 
nennt,  so  ist  er  eben  ungenau".  Den  Eindruck  der  Üngenauig- 
keit  macht  indessen  Diodors  Bericht  keineswegs  (xov  TiXrjaoov 
Xocpov  TÖv  xaXoupLsvov  ©wpaxa),  auch  berührt  er  sich  aufs  ge- 
naueste mit  den  Angaben  Polybs  (z.  B.  XXII  13,  2  Tiapa  tov 
Aoixavov  7i;o-ca|ji6v  —  I  9,  7  ntpl  xov  Aoyyavov  Tcoxafxov,  13,  5 
6  axpaxrjyög  st^wypTjO-rj  —  I  9,  8  xöv  T^yepiovwv  lyxpaxT]?  yevo- 
(j.£Vos  ^a)yp''a)  und  geht  auf  eine  gute  griechische  Vorlage 
(Philinos)  zurück.  Dazu  ist  mit  Luterbachers  Erklärung 
nichts  gewonnen,  es  bleiben  vielmehr  die  Schwierigkeiten,  die 
Mommsen  bestimmt  hatten,  die  Schlacht  in  spätere  Zeit  herab- 
zurücken. Nach  der  Schlacht  baten  die  Mamertiner  die  Rö- 
mer und  Karthager  um  Hilfe,  der  karthagische  Feldherr  eilte 
aus  Lipara  herbei  und  besetzte  die  axpa  von  Messana.  Damit 
sind  wir  in  die  Anfänge  des  ersten  punischen  Krieges  hinein- 
geführt, und  die  Annahme  eines  Intervalls  von  5  Jahren 
zwischen  Schlacht  am  Longanos  und  Beginn  des  Kriegs  zwi- 
schen Römern  und  Karthagern  läßt  sich  durch  nichts  recht- 
fertigen. Das  hat  Luterbacher  erkannt  und  läßt  daher  die 
Karthager  der  axpa  wieder  verlustig  gehen:  „Diese  wurde 
aber  bald  wieder  entfernt,  wie  Diodor  in  einer  Lücke  erzählte 
(TiaXtv  dTcexaxeaxa^r^aav  dg  dacpaXetav  xov  £iprj|jL£vov  xpoTiOv). 
Nachdem  also  beiden  die  Unterwerfung  Messanas  mißlungen 
Avar  (aTiOTiETixwxoxss  xf^c,  Msaarjvrjj),  verabredeten  sich  Hiero 
und  die  Karthager  zu  gemeinsamer  Bekämpfung  der  Mamer- 
tiner". Die  gleiche  Lücke  der  Erzählung  müßte  sich  auch 
bei  Polyb  finden,  denn  auch  er  bringt  nichts  über  eine  Ent- 
fernung der  Karthager  aus  Messana  in  früherer  Zeit,  sondern 
meldet  nur  ihre  durch  das  Eingreifen  der  Römer  herbeige- 
fülirte  Vertreibung  aus  der  Stadt  (I  11,  4).  Luterbachers 
Deutung  der  Worte  Diodors  ist  nicht  zu  halten,  die  Mittei- 
lung TidXiv  (XTcexaxsaxa-ö'rjaav  zlc,  dacpaXsiav  xov  £iprj|ji£Vov  xpo- 
Tiov  bezieht  sich  auf  die  Errettung  der  Stadt  Messana  aus 
der  Hand  Hieros  durch  die  Karthager  (§  7  xaxaXaßtov  Tobq 
Ma|jL£pxovou;  [iilAovzai   T^apaaodva:  xy,v  toXiv  dv£7i£ca£  x.  x.  X,). 


Der  erste  punische  Krieg.  413 

Dem  entspricht  auch  die  Fortsetzung  der  Diodorschen  Erzäh- 
lung in  XXII  13,  9  6  5s  Ispwv  xaTaaTpaxryyrj^eii;  0t;6  xoö  Oo''- 
vtxo;,  xrjv  T.oA'.o^yJ.y.v  äTüoyvGu;  £7iavfjA-9-£v  ei^  ^Supaxoaa;,  Tiepcßov]- 
Tov  £ur^[j,£ptav  7i;£pi7i£Tioirj[j.£vo;.  Der  nächste  Satz,  der  die  Worte 
d7i:07i£TtX(Dx6T£;  xfjs  MsaaTjVr^s  enthält,  schließt  das  Excerpt  ab, 
mit  ihm  greift  der  Excerptor  in  eine  spätere  Zeit  über,  in  der 
die  Karthager  Messana  verloren  hatten  und  mit  Hiero  ein 
Bündnis  abschlössen.  Auf  den  Abschluß  dieses  Bündnisses 
wird  dann  in  dem  anschließenden  Excerpt  Bezug  genommen  : 
XXIII  1,2  ETTOtTjaavxo  yap  au[ji.[xaX''av  („sie  hatten  nämlich 
ein  Bündnis  abgeschlossen").  Auch  Luterbacher  ist  es  nicht 
gelungen,  die  Schwierigkeit  zu  beseitigen,  die  darin  liegt,  daß 
die  Karthager  etwa  5  Jahre  lang  im  ungestörten  Besitze 
Messanas  sich  befanden,  ich  komme  daher  auf  den  von  mir 
vorgeschlagenen  Ausweg  zurück:  Hiero  hatte  bereits  vor  der 
Schlacht  am  Longanos  in  Syrakus  den  Titel  König  (Polyb 
I  9,  6  äacfaXw?  fjSrj  xa  xocxoc  xtjV  ä^'/rp  otE^fjyev  d.  i.  269  vor 
Chr.),  nach  der  Schlacht  (Diod.  XXII  13,  9  Tisptßor^xov  tm^- 
{X£p:av  7:£p'.7i;£T:Gir|[j,£Vo?)  gewann  er  zahlreiche  Bundesgenossen 
und  wurde  auch  von  ihnen  als  König  anerkannt  (Polyb  I  9,  8 
ßaaiÄEus  uTio  Tiavxwv  TipoarjyopEu^Yj  xwv  au[Ji{xaxwv  vgl.  Zonar. 
VIII  6  ^C7v£)ias  Ä7;aar;?  r^p^£  [xr/.poO). 

Die  Mamertiner  mögen  um  270  mit  den  Römern  in  Be- 
ziehungen getreten  sein  (Zon.  VIII  6),  aber  diese  Beziehungen 
waren  vor  der  Hand  nicht  freundschaftlicher  Natur,  wie  des 
Zonaras  Ausdruck  b^oXo^(i'x  Scsxpouaavxo  (hinhalten,  täuschen) 
ergibt.  Bei  dem  Bündnis  der  Römer  mit  Hiero  (Zon.  VIII  6 
£(i)S  6  'Ilptov  —  auv£lX£v)  und  dem  Verhältnis  der  Mamertiner 
zu  der  Legion  in  Rhegion  ist  eine  andere  Voraussetzung  so 
gut  wie  ausgeschlossen.  Erst  als  sie  sich  au  die  Römer  mit 
der  Bitte  um  Hilfe  gegen  Hiero  wandten,  schlössen  diese  mit 
ihnen  ein  foedus  ab  (Polyb  III  26,  6),  weshalb  ihre  Stadt  bei 
Florus  II  2  als  civitas  foederata  bezeichnet  wird  und  sie  socii 
genannt  werden.  Damit  löste  sich  die  Freundschaft  Hieros 
mit  dem  römischen  Volke.  Dieses  brachte  aber  den  Mamer- 
tinern  nicht  sofortige  Hilfe,  und  so  gelang  es  den  Karthagern, 
Hiero  zu  hintergehen  und  sich  in  den  Besitz  der  Burg  Mes- 
sana zu  setzen.     Darnach  erst  wurde  der  Tribun  Gaius  Clau- 


414  Friedrich    R e u s s , 

dius  abgesandt,  und  die  karthagische  Besatzung  mußte  wieder 
aus  der  Stadt  abziehen  (Polyb  a.  a.  0.  xa:  (j,£xa  taüia  os.o- 
[ihoic,  eßoTj^Tjaav).  Dies  trieb  Hiero  auf  die  Seite  der  Kar- 
thager, mit  denen  verbündet  er  sich  zur  Belagerung  Messanas 
entschloß.  Zum  Entsatz  der  Stadt  wurde  vom  Senate  der 
Konsul  Appius  Claudius  geschickt:  periocha  16  contra  quos 
et  Hieronem  regem  Syracusanorum  auxilium  Mamertinis  feren- 
dum  senatus  censuit,  cum  de  ea  re  inter  suadentes,  ut  id 
fieret,  dissuadentesque  contentio  fuisset  (Florus  a.  a.  0.  quam- 
quam  territaret  novitas  rei),  Aurel.  Victor  37  consul  ad  Ma- 
mertinos  liberandos  missus  est,  quorum  arcem  Carthaginienses 
et  Hiero  rex  Syracusanorum  obsidebant,  Oros.  IV  7,  1.  Die 
Dauer  des  Kriegs  wird  nach  Liv.  31,  1,  3  und  30,  44,  1  u.  2 
auf  23  Jahre  angegeben  (so  Eutrop  und  Orosius).  Diese 
Berechnung  will  Luterbacher  damit  erklären,  daß  Livius  den 
Krieg  nicht  mit  dem  Uebergange  des  Konsuls  nach  Messana, 
sondern  mit  der  erst  im  Jahre  263  erfolgten  förmlichen  Kriegs- 
erklärung begonnen  habe.  Abgesehen  davon,  daß  von  einer 
solchen  die  Quellen  nichts  berichten,  ist  diese  Annahme  auch 
an  sich  höchst  unwahrscheinlich.  Schon  nach  der  Aufnahme 
des  Tribunen  C.  Claudius  in  Messana  war  den  Römern  das 
Ultimatum  gestellt  worden,  daß  ihnen  der  Krieg  erklärt  würde, 
wenn  sie  nicht  bis  zu  einem  bestimmten  Tage  aus  Sizilien 
abzögen  (Zonar.  VIII  9 ;  Diod.  XXIII  1,2  sav  {XTj  xyjv  zcc/iovt]v 
Ix  T-^S  SixsXcas  a7:aXXaxTWVTao) ;  trotz  der  vom  Konsul  noch 
einmal  aufgenommenen  Verhandlungen  (Diod.  XXIII  1,  3,  Po- 
lyb. I  11,  10)  hat  man  gewiß  mit  der  Ausführung  dieses  Vor- 
habens nicht  noch  ^2 — ^/^  Jahr  gezögert,  die  förmliche  Kriegs- 
erklärung erfolgte  vielmehr,  als  die  Römer  die  Forderung  der 
Karthager  und  ihres  Verbündeten  Hiero  abwiesen,  worauf 
diese  die  bei  ihnen  in  Sold  stehenden  Italiker  töteten  und 
Messana  angriffen  :  Zonar.  VIII  9  w;  o'  oux  £7i£i>ovTO  ol  Pw- 
{xa:o:,  T0U5  xz  (xia^o^opoövxas  uap'  auxGC?  £^  TtaX:a?  dcTOXXEtvav 
y.ac  x-(i  Msaayjv^  7ipoa£ßaXov.  Wie  9,  19,  12  und  21,  10,  7 
denkt  auch  Livius  31,  1,  3  nur  an  eine  24jährige  Dauer  des 
Kriegs ;  der  zweite  punische  Krieg  wurde  nicht  nach  dem 
17ten,  sondern  im  17ten  Jahre  beendet  (30,44,2),  und  so 
führen  die  63  zwischen   dem  Bejjinn   des  Iten   und  dem  Ab- 


Der  erste  punische  Krieg.  415 

Schluß  des  2ten  puuischen  Kriegs  liegenden  Jahre  (31,  1,  3) 
gleichfalls  auf  eine  24jährige  Dauer  des  ersteren.  Luterbacher 
scheint  mir  hier  durch  Varese  beeinflußt  zu  sein,  der  den 
Krieg  mit  263  v.  Chr.  beginnen  läßt,  um  aus  diesem  Anfange 
Polybs  £Xo;  TeaaapeaxacOExaxov  (I  43,  3)  zu  erklären,  wenn  er 
auch  diesen  Erklärungsversuch  mit  Recht  verwirft. 

Die  Ereignisse  des  Jahres  264  übergehend  bemerke  ich 
nur,  daß  Diodor  (XXIII  3)  gewiß  nicht  'Eyeaxav,  sondern 
'ExsxXav  (Polyb.  I,  15,10)  geschrieben  hat,  und  daß  wohl  nur 
ein  Versehen  der  Ueberlieferung  oder  des  Excerptors  vorliegt. 
Egesta  schloß  sich  erst  im  nächsten  Jahre  den  Römern  an, 
nicht  gezwungen,  sondern  freiwillig  (Zonar.  VIII  10  und  Diod. 
XXIII  5).  Die  Mitteilung  von  dem  Triumphe  des  Appius 
Claudius  bringt  Eutrop  nicht  allein,  sondern  sie  steht  auch 
bei  Sil.  Ital.  VI  662  iustum  ducebat  triumphum.  Auf  das 
Jahr  264  bezieht  Luterbacher  Plin.  H.  N.  XVI  192  contra 
Hieronem  regem  CCXX  naves  ejffectas  diebus  XLV  tradit  Piso, 
doch  kann  nicht  erst  Plinius  effectas  irrtümlich  vom  Bau  der 
Schiffe  verstanden  haben,  sondern  schon  Piso  hat  es  so  auf- 
gefaßt, da  ja  die  Notiz  die  Schnelligkeit  des  Flottenbaues 
hervorzuheben  bestimmt  ist.  Gegen  die  sonst  angenommene 
Beziehung  auf  den  Flottenbau  des  Jahres  254  v.  Chr.  scheint 
die  Zahl  der  Tage  zu  sprechen,  doch  mögen  sich  die  45  Tage 
vielleicht  auf  drei  römische  Monate  verteilen  und  so  Polybs 
£7  Tp:[iYjVw  (I  38, 6)  rechtfertigen.  In  der  Bestimmung  der 
Flotte  hat  Plinius  allerdings  geirrt,  wenn  er  diese  mit  contra 
Hieronem  regem  angibt. 

Leider  sind  wir  über  das  Jahr  263  sehr  unorenügend  unter- 
richtet,  Polyb  berichtet  sehr  wenig  und  Diodors  von  Hause 
aus  eingehende  Darstellung  liegt  uns  nur  in  Bruchstücken 
vor.  Die  Einnahme  Catinas  meldet  außer  Eutrop  auch  Plin. 
VII  110  (anno  urbis  CCCCLXXXXI).  Von  einem  Triumphe 
des  Konsuls  M.  Valerius,  der  auch  den  Beinamen  Messala  er- 
hielt, berichten  Eutrop  und  die  Konsularfasten,  und  nach  Plin. 
XXXV  7  verherrlichte  ein  Gemälde  in  der  Curie  seinen  Sieg 
über  Hiero  und  die  Karthager.  Wahrend  Ihne  und  Schermann 
diese  Ueberlieferung  verwerfen,  läßt  Luterbacher  sie  gelten, 
doch  mag  vielleicht  Plin.  zu  seiner  Bemerkung:  sed  pace  Messa- 


416  FriedrichReuss, 

larum  dixisse  liceat,  etiam  mentiri  clarorum  imagines  (XXXV  2) 
Grund  gehabt  haben. 

Schwierig  ist  die  zeitliche  Anordnung  der  Diod.  XXIII  9 
erzählten  Ereignisse.  Luterbacher  setzt  den  ersten  Angriff  auf 
Mytistratos  und  die  Wegnahme  von  Camarina  und  Henna  in 
das  Jahr  261/60  v.  Chr.;  ersteres  halte  ich  nicht  für  wahr- 
scheinlich, setze  vielmehr  den  Angriff  ins  Jahr  260/59,  letz- 
teres widerstreitet  der  Anordnung  Diodors  und  Polybs.  Der 
Wegnahme  Camarinas  und  Hennas  geht  bei  Diodor  die  Nieder- 
metzlung  der  Römer  bei  Therma  voraus  (Diod.  XXIII  9,  4), 
diese  aber  fand  nach  Polyb  (I  24,  3  {xsxa  xijv  vaujjiaxtav)  nach 
der  Seeschlacht  von  Mylä  statt.  Uebergangen  ist  Diod.  XXIII 
9,  4  vor  xpiTov  oe  TioXiopxfjaavxes  das  Jahr  259/8,  in  dem  nach 
Polyb.  I  24,  8  die  Römer  nichts  Erwähnenswertes  vollbrachten ; 
alles,  was  von  xpixov  oe  TzoXiopxrfsccvxeQ  an  bei  Diodor  folgt, 
gehört  ins  Jahr  258,  wie  sich  ans  Polyb.  I  24,  9  und  Zonar. 
VIII  11  ergibt.  Polyb.  hat  I  24,  5  u.  6  die  Ereignisse  auf 
Sardinien  zusammengefaßt  und  ist  schon  beim  Jahre  258  an- 
gelangt. Eliaeson  findet*  den  Grund  dafür  in  der  Verwechslung 
der  beiden  Scipionen,  die  in  zwei  auf  einander  folgenden  Jahren 
(260  und  259  v.  Chr.)  Konsuln  waren,  doch  handelt  es  sich 
nicht  um  das  Jahr  259,  sondern  258.  Unberechtigten  An- 
stoß nimmt  er  an  xccq  biaoiü^-eioac,  vaO^  (Polyb.  I  24,  5),  da 
Hannibal  noch  im  Jahre  260  nach  Karthago  zurückkehrte. 
Den  Bericht  des  Zonaras  über  die  Ereignisse  auf  Sardinien 
und  Corsika  (VIII  11)  mit  Eliaeson  auf  Philinos  zurückzu- 
führen, verbietet  der  Vergleich  von  "/.sivTai  5'  Iv  ToJ  TupaTjVLXw 
TreXayet  aXXrjXwv  öXi'yov  duexouaaL,  6?  [xc'av  ocuzäq  uoppw^ev 
e!vac  Soxelv  mit  Florus  II  2  Sardiniam  annexamque  ei  Corsi- 
cam,  der  auf  gemeinsamen  Ursprung  schließen  läßt.  In  das 
Jahr  258/7  gehört  ein  Angriff  des  Konsuls  A.  Atilius  Cala- 
tinus  auf  die  Insel  Lipara  (Polyb.  I  24,  13  und  Zonar.  VIII  12), 
gegen  die  sich  auch  die  Konsuln  des  nächsten  Jahres  nach 
Zonaras  wandten. 

Nach  dem  Siege  bei  Eknomos  verlegten  die  Römer  den 
Kriegsschauplatz  nach  Afrika.  Weil  sie  nach  Zonar.  c.  12  iv. 
xffC,  Meaar^vr^s  ausliefen,  so  nimmt  Meltzer  an,  sie  seien  dort- 
hin zurückgegangen,   um   ihre  Verluste   wieder   auszugleichen, 


Der  erste  punische  Krieg.  417 

indessen  wenn  sie  auoli  nach  Poljb.  sich  mit  Lebensmitteln 
frisch  versehen  und  die  genommenen  feindlichen  Schiffe  wieder 
hergestellt  haben,  so  sind  sie  doch  schwerlich  nach  Messana 
zurückgegangen,  sondern  haben  ihren  Sieg  für  die  Landung 
in  Afrika  ausgenutzt.  Die  Unzuverlässigkeit  und  Erfindungs- 
armut der  römischen  Geschichtschreibung  gibt  sich  in  der  von 
Zonaras  und  Valer.  Maxim.  VI  6,  2  mitgeteilten  Erzählung 
über  die  Gesandtschaft  Hannos  an  die  Römer  kund,  genau 
derselbe  Vorgang  wird  Diod.  XXVII  12  aus  dem  zweiten  pu- 
nischen  Kriege  mitgeteilt :  Ttävxwv  ßowvxwv  ajxuvaa^ac  xou; 
aaeßsis  6  2]%ot:(i)v  oux  e^rj  oziy  TipatTscv  a  zolq  Kapj^r^oovtoci; 
eyxaXoOaiv  Zon.  VIII  12  ßowvxwv  tcvwv  auXXaßeiv  auiov  .  .  . 
„dv  xoOxo  TiocTjorixs" ,  sitüev,  „oOoev  ex:  xpeixxoxjc,  xwv  Atßuwv 
saeo'ö'e". 

Die  Niederlage  von  Tunes  erlitten  die  Römer  auch  nach 
Luterbachers  Ausatz  im  Sommer  255,  ließen  aber  die  Flotte 
unter  M.  Aemilius  Paulus  und  Ser.  Fulvius  Paetinus  nicht  im 
Frühjahr  254,  sondern  im  Herbst  255  auslaufen.  Er  hält  es 
für  unwahrscheinlich,  daß  die  geringen  Truppen  in  Clupea 
sich  fast  ein  Jahr  lang  gegen  die  karthagische  Uebermacht 
gehalten  haben  ohne  ausgehungert  zu  werden,  übersieht  aber 
dabei  Polyb.  I  36,  7  oca  xe  xr^v  yevvacoxTjxa  xac  xy]v  x6Xjj,av  xwv 
dvSpwv  ouSa[xwg  eXeiv  5uvd{jievo:  xiXoc,  dueaxrjaav  x'^s  TzoXiop- 
xtas.  Freilich  sollen  nach  ebendemselben  die  Römer  auf  die 
Nachricht  von  der  Niederlage  sofort  daran  gegangen  sein,  eine 
Flotte  auszurüsten  und  den  in  Clupea  stehenden  Rest  des 
römischen  Heeres  abzuholen,  aber  die  Ausführung  ihres  Vor- 
habens muß  doch  länger  gedauert  haben,  als  Luterbacher  ver- 
mutet. Zunächst  mußte  die  Nachricht  nach  Rom  gebracht 
und  die  Flotte  in  seetüchtigen  Stand  gesetzt  werden.  Von 
dieser  Absicht  erhielten  die  Karthager  Meldung,  als  sie  be- 
reits von  der  Belagerung  Clupeas  Abstand  genommen  hatten, 
und  wurden  dadurch  bestimmt,  ebenfalls  neue  Schiffe  zu  bauen 
und  Rüstungen  zur  See  zu  treffen.  Beim  hermäischen  Vor- 
gebirge kam  es  zum  Zusammenstoß  der  Flotten.  Wenn  es 
nun  Polyb.  I  36,  10  heißt,  die  römische  Flotte  sei  xfjc,  -ö-epeia; 
dpxo[A£vrj;  ausgelaufen,  so  wird  man  gewiß  den  Ausdruck  wört- 
lich und  nicht  von  einem  neuen  Amtsjahr,  sondern  von  einem 

Pbilologus  LXTIII  (X.  F.  XXII),  3.  27 


418  Friedrich    Reuss, 

neuen    Kriegsjahr   zu    verstehen   haben,    eine   Auffassung,    die 
auch    für  I  39,  1    durch    Diodor   XXIII  19,  1    gefordert    wird. 
Dies  wird    man   um  so  mehr   gelten    lassen    müssen,    als  man 
sonst   mit   Luterbacher   zu    einer    unhaltbaren  Auffassung   von 
Polyb.  I  37,  4  ixexa^ij  yap  enoioüvxo  töv  TiXoüv  xfjs  ^^pit^yoc,  y.oi.1 
xuvo;  iniTolfi;,  gezwungen  ist.     Polyb.  soll  bei  diesen  Worten 
nicht,  „wie  er  später  zu  tun  pflegt",  an  den  kosmischen  Auf- 
gang der  Gestirne  denken,  sondern  an  den  Aufgang  bei  Sonnen- 
untergang, und  der  Seesturm  soll  in  den  Dezember  255  v.  Chr. 
fallen.    Hätte  der  Geschichtschreiber  diese  Jahreszeit  im  Auge, 
dann  würde  er  die  ouaic,,  nicht  die  imxolri  'ßp^wvos  erwähnen, 
wie    dies    z.  B.  Diod.  XIX  56,  5    geschieht    (vgl.    dazu   meine 
Auslassungen  gegen  Unger  in  Philol.  XXXIX  S.  106).    Geben 
die   alten  Schriftsteller   zur  Bezeichnung    der  Jahreszeiten  den 
Auf-  und  Untergang   von  Gestirnen  an,    so    können    sie  dabei 
doch  nicht  willkürlich    verfahren,    sondern  müssen  sich  einem 
ganz  feststehenden  Gebrauche  anschließen,  wenn  ihre  Angaben 
nicht    zweideutig    und   somit   unzuverlässig    sein    sollen.     Ihre 
Kalenderangaben    sind    auf    den  Frühaufgang    und  Frühunter- 
gang der  Gestirne  gestellt,   und   diesem    Gebrauche   entspricht 
auch  Polyb.  II  16,  9  und  IX  43,  4  xocxa  dxfxrjV  toO  %-epouq  and 
xata   xr]v   xuvos   eTitxoXrjv,  III  54    xyjv    xf^c,  IlXecaoog  Suatv  und 
x-^i;  ob  X^<^''"^Si  IV  37,  2  xr^v   xf^s   nXeiaoog  eticxoXy^v  —  xfi<;  O-e- 
pdocq   ev:axa[X£vyj<;,  V  1,  1;    IX  18,  2.     Daß    der    Schriftsteller 
mit   dieser  für   die   Schiffahrt   gefährlichen    Zeit   den  Winter, 
nicht  den  Sommer   bezeichne,    ist   eine   durch    nichts  gerecht- 
fertigte Annahme,  vgl.  Soltau,  Rom.  Chronologie  S.  74.    Ent- 
weder   dürfte  Luterbacher   die  Niederlage    des    Regulus    nicht 
in  den  August  255    rücken    oder   er   müßte    auch    die  Konse- 
quenz daraus  ziehen  und  den  Aufgang  des  Orion  und  den  um 
diese   Zeit   eingetretenen    Seesturm   dem   Jahre  254    zuweisen. 
Weil  die  Karthager    Hasdrubal   nach    Sizilien    sandten,    sollen 
nach  Luterbachers  Ansicht  die  Konsuln  des  Jahres  255/4  dort 
mit  verlängertem    imperium    geblieben    sein,    dem    steht    Zon, 
VIII  14   ol'xoL   xcclq  vaual    xalc,  TieptawO-scaats   aTOTiXsuaav    ent- 
gegen.    Ich  kann    mich  daher    auch  nicht  mit  der  Verteilung 
der  Aufgaben  für  das    Jahr  254  einverstanden  erklären:    „Da 
also  die  Konsuln  den    ganzen  Sommer  bei  der  Flotte  bleiben. 


Der  erste  puniscbe  Krieg.  419 

leiteten  die  Prokonsuln  den  Krieg  zu  Lande. "  Von  letzterem 
ist  in  keinem  Berichte  die  Rede,  die  Eroberung  von  Fanormos, 
der  wichtigste  Erfolg  im  Landkriege,  war  das  Werk  der  Kon- 
suln (Polyb.  I  38,  6 — 10).  Die  Konsuln  des  Jahres  255/4 
feierten  am  2.  bezw.  am  3.  Januar  253  einen  Triumph;  diesen 
späten  Termin  hielt  ich  für  erklärlich  bei  der  Annahme,  daß 
sie  erst  254  ausgelaufen  sind  und  nach  dem  Siege  am  her- 
mäischen  Vorgebirge  die  Römer  in  Clupea  gerettet  haben. 
Ich  finde  sie  auch  jetzt  noch  wahrscheinlicher,  als  die  Vor- 
aussetzung Luterbachers :  „Durch  die  glücklichen  Erfolge  des 
Jahres  254  milder  gestimmt,  bewilligte  der  Senat  jetzt  den 
Triumph." 

Unmöglich  ist  es,  die  Katastrophe  des  Jahres  253/2  in 
der  Enge  zwischen  Afrika  und  Sizilien  eintreten  zu  lassen. 
Auf  diese  bezieht  Luterbacher  Polyb.  I  39,  6  5ta  uopou,  weil 
sie  I  37,  1  oiapavxes  tov  uopov  unter  Tiopo^  zu  verstehen  ist. 
Die  Flotte  war  auf  der  Rückkehr  von  Panormos  nach  Rom 
begriffen,  als  sie  in  einen  heftigen  Sturm  geriet  (Polyb.  I  39,  6), 
das  spricht  für  die  Nachricht  des  Orosius,  daß  die  Flotte  beim 
Vorgebirge  Palinurus  auf  Felsen  getrieben  und  gescheitert  sei. 

Der  Frage,  welchem  Jahre  die  Schlacht  bei  Panormos 
angehört,  ob  251  oder  250,  hat  0.  Leuze  eine  eigene  Ab- 
handlung gewidmet,  in  der  er  durch  richtige  Interpretation 
der  Worte  Polybs  eine  Vermittlung  zwischen  den  beiden  An- 
sätzen zu  gewinnen  sucht.  Eine  sichere  Entscheidung  läßt 
sich  schwer  treffen,  da  manches  für  beide  Ansätze  und  man- 
ches gegen  sie  spricht;  ich  habe  mich  in  meinem  frühereu 
Aufsatze  für  das  Jahr  251  entschieden,  ohne  indessen  die  da- 
bei vorliegenden  Schwierigkeiten  zu  verhehlen.  Den  Sommer 
250  scheint  der  Umstand  auszuschließen,  daß  der  Sieg  noch 
in  das  Amtsjahr  des  Metellus  fiel  (Diod.  XXIII  21  Kaiy-iXiou 
Toö  üTiaxGu,  Frontin,  Florus,  Eutropius,  Orosius,  Zonaras), 
gegen  den  Sommer  251  erregt  Bedenken,  daß  zur  Zeit  der 
Schlacht  der  Konsul  C.  Furius  Sizilien  schon  verlassen  und 
Polyb.  schon  der  Zurüstung  einer  Flotte  unter  den  Konsuln 
des  Jahres  250  gedacht  hat  (I  39,  15).  Einen  dieser  beideu 
Zeitpunkte  glaubte  man  wählen  zu  müssen,  da  nach  der  Dar- 
stellung Polybs    der   Kampf   in    die    Zeit   der   Ernte   zu  fallen 

27* 


420  Friedrich   Reuss, 

scheint.  Letzteres  bestreitet  Leuze  und  ermittelt  durch  eine 
eigenartige  Interpretation  der  Worte  Polybs  den  letzten  Monat 
von  Metellus  Amtstätigkeit,  den  April  250,  als  Zeitpunkt  des 
römischen  Siegs  von  Panormos.  Polybs  Worte  lauten:  I  40,  1 
TÖv  Ss  KaixiXcov  ev  xw  navopfjiq)  Scatptßetv  xo  Xoctiöv  [iipoz 
iXovxot.  xfj?  axpaxia^,  ßouXofJieoov  ecpeSpeOaao  xolc,  xwv  au[X|jiaX(i)v 
•KO-pnolq  ax[xa^ouar^g  x-qc,  auyxo|xto^5.  Man  hat  bisher  dx|j,a- 
uo6ar]s  xi]c,  auyxofAiS"^!;  kausal  gefaßt,  und  diese  Auffassung 
wird  gestützt  durch  §  5  cp^scpovxo?  xgu^  xxpTzobq  auxoO,  über 
die  Leuze  mehr  spitzfindig,  als  einleuchtend  bemerkt:  „Diese 
Handlungsw^eise  scheint  nur  dann  verständlich  zu  sein,  wenn 
das  Getreide  noch  nicht  zur  Ernte  reif  war.  Sonst  hätten  die 
Punier  es  doch  wohl  eher  selbst  geschnitten  und  zur  eigenen 
Verproviantierung  benutzt,  zumal  sie  von  Metellus  gar  nicht 
belästigt  wurden."  Hasdrubal  will  es  dem  Feinde  unmöglich 
machen,  sich  mit  Lebensmitteln  zu  versehen  und  verwüstet 
daher  alles  Land  bis  an  die  Stadt  Panormos,  ein  Ernten  für 
das  eigene  Heer  hätte  seine  Kampfzwecke  vereitelt  und  den 
Feinden  Gelegenheit  zu  einem  Ueberfall  geboten.  Die  von 
Leuze  gestellte  Frage,  warum  die  Punier  nicht  die  Feldfrüchte, 
wenn  sie  reif  gewesen  wären,  zum  eigenen  Besten  verwandt 
hätten,  müßte  bei  den  alten  Schriftstellern  unzählige  Male 
gestellt  werden.  Warum  vernichtete  z.  B.  Agesipolis  bei 
Xenoph.  Hell.  V  3,  14  die  Lebensmittel  (scp^scps  xov  atxov)  und 
benutzte  sie  nicht  zur  eigenen  Verproviantierung?  Ebensowenig 
trifft  die  Vermutung  zu,  Metellus  würde,  wenn  er  die  Bundes- 
genossen beim  Einbringen  der  Ernte  hätte  schützen  wollen, 
nicht  in  der  Stadt  geblieben  sein,  sondern  sein  Heer  in  einzelnen 
Abteilungen  nach  den  Feldern  der  Bundesgenossen  als  Schutz- 
wachen gesandt  haben.  Diese  Praxis  hat  er  gewiß  auch  geübt 
gegen  karthagische  Streifscharen,  die  von  Lilybäum  aus  die 
Ernte  der  Bundesgenossen  gefährdeten,  aber  sie  versagte  gegen- 
über einem  anrückenden  feindlichen  Heere,  dem  gegenüber 
das  römische  Heer  nicht  im  freien  Felde  zu  erscheinen  wagte, 
sondern  sich  hinter  den  Mauern  der  Stadt  hielt.  Unter  Ab- 
lehnung der  herkömmlichen  Uebersetzung :  „Da  die  Ernte  im 
vollen  Gange  war"  legt  Leuze  dem  Worte  dx(j,aL£tv  die  Be- 
deutung „an  der  Zeit  sein",  „fällig  sein"  unter  und  gibt  dem 


Der  erste  punische  Krieg.  421 

Genetiv  absolutus  die  Geltung  eines  hypothetischen  Temporal- 
satzes: Hasdrubal  erfuhr,  daß  Metellus  mit  dem  Reste  des 
Heeres  in  Panormos  sich  aufhalte,  in  der  Absicht,  die  Feld- 
früchte der  Bundesgenossen  zu  schützen,  wenn  die  Ernte 
fällig  sei.  Die  Aufklärungstruppen  Hasdrubals  haben  hier 
ihre  Schuldigkeit  in  vollstem  Maß  getan,  wenn  sie  selbst  die 
für  eine  eintretende  Voraussetzung  gefaßten  Pläne  des  feind- 
lichen Führers  ihrem  Feldherrn  zu  melden  wußten.  Die  für 
dxjxat^etv  geforderte  Bedeutung  erkennt  Leuze  auch  sonst  bei 
Polyb.,  so  XX  11  Ix:  xfj;  auvouaca^  ax[xa^ouarj;  =  da  es  noch 
um  die  Zeit  war,  da  die  Abendtafel  bei  dem  König  zu  sein 
pflegte  (Plut.  Anton.  32  dx\iaZ,o{)aric,  x-^s  awoualaq),  XXII  13 
iriQ  Travyjyupews  axpiai^ouar^? ,  I  17,  9  dx(jiak^ouayj5  5s  ific,  toO 
a^Tou  auvaywyf]!;,  III  100,  8  X'^s  löpccq  dx[JiaI^ouarj;  npbc,  xtjV  auy- 
xo|xt6i^v,  sie  trifft  für  keine  der  angeführten  Stellen  zu  und 
ist  auch  ausgeschlossen  durch  Verbindungen  wie:  r^  voaoc,  d%- 
(Jid^ec  (Thuk.  II  49),  xoQ  tioXsjxou  dy.\i.oc.Z,ovxoq  (Thuk.  III  3,  1), 
xoö  ■ö'spous  xac  xoö  ac'xou  dx[j,d^ovxos  (Thuk.  II  19,  1 ;  vgl. 
III  1,1;  IV  2,  1  ;  V  3,  19,  Xenoph.  Hell.  I  2,  4  ;  Dion.  Hai. 
III  34),  dx[xa^ouayji;  x-^?  vuxxo?  (Herod.  II  1,  12),  dxjjia^ouayji; 
xfic,  Stacpopäc;  (Plut,  Nie.  c.  11)  u.  a.  Mit  axiaat^ouarj?  zi]C, 
ouyxoiJtcS'^S  wird  durch  eine  bestimmte  Zeitangabe  das  Bleiben 
des  Metellus  motiviert,  die  Situation  entspricht  genau  der  in 
V  95,  5  auvdTCXovxo;  xoö  •9'£p:a{XGü  .  .  .  'Apaxo^  scpr^opeus  x-^  xoO 
oi'xou  G\)yy.o\iiB'Q  (vgl.  IV  66,  7),  bei  Xenoph.  Hell.  VII  5,  14 
aXXw?  X£  xai  a:xou  auyxo[xiS"(j,  Thuk.  III  15,  2.  So  erweist  sich 
Lenzes  Interpretation  als  unmöglich,  und  wir  bleiben  vor  die 
Alternative  gestellt,  ob  wir  uns  für  Juni  251  oder  250  ent- 
scheiden sollen.  Für  ersteres  hatte  ich  geltend  gemacht  Plin. 
VIII  6  elephantos  Italia  primum  vidit  ....  anno  urbis  472, 
Roma  autem  in  triumpho  Septem  annis  ad  priorem  annum  ad- 
ditis,  eadem  plurimos  anno  502  victoria  L.  Metelli  pontificis 
in  Sicilia  de  Poenis  captos,  doch  hält  Leuze  mir  entgegen: 
„Die  von  Plinius  gegebene  Zahl  ist  nach  der  sogenannten 
Katonischen  Aera  angesetzt,  wie  auch  die  Zahl  472  für  die 
Schlacht  bei  Heraklea".  Manius  Curius  Dentatus  (Eutrop. 
II  14  primus  Romae  elephantos  quatuor  duxit,  Senec.  de  brev. 
vitae  13)    hat   sieben   Jahre    nach  472,    d.  i.    479  a.  u.    oder 


422  Friedrich    R  e  u  s  s , 

275/4  (A.  CDLXXIIX  .  .  .  Febr.)  triumpliiert,  diese  Angabe 
ist  auf  die  Varronische  Aera  berechnet ;  dann  kann  aber  für 
das  Jahr  472  nicht  Katonische  Aera  vorausgesetzt  und  dies 
nicht  auf  die  Schlacht  von  Heraklea  bezogen  werden,  da  sonst 
die  Zahl  Septem  nicht  passen  würde,  Italien  hat  die  Elefanten 
des  Pyrrhus  auch  nicht  zum  ersten  Male  nach  der  Schlacht 
von  Heraklea  gesehen,  sondern  bei  der  Ankunft  des  Pyrrhos 
auf  der  Halbinsel.  Hier  ist  Plinius  insofern  ungenau,  als  er 
diese  mit  dem  Beginn  des  tarentinischen  Kriegs  (472  a.  u., 
d.  i.  282  n.  Chr.)  gleichsetzt.  Weder  472  noch  479  sind  also 
nach  der  Katonischen  Aera.  berechnet,  man  darf  dies  daher 
auch  nicht  für  die  3te  Zeitangabe  behaupten  und  muß  anno 
502  trotz  Leuzes  Einsprache  mit  victoria  captos,  nicht  mit 
vidit  verbinden.  Ob  freilich  die  Zahl  502  richtig  überliefert 
oder  503  herzustellen  ist,  will  ich  nicht  entscheiden,  erstere 
gibt  ein  zu  frühes  Datum  an. 

Schwierigkeiten  bereiten  Polybs  Worte  in  I  39,  12  ol  yap 
Pü){X3cooi  diaoaxf-eiar^c,  cpYj|j,rjs  ne.pl  x^;  ev  xyj  Acßuvj  [i-ax^js,  Sx:  xa 
■ö-rjpca  xa;  x£  xdE,eic,  auxwv  ScaaTiocaat  xaJ  touc,  TcXstaxou^  5ta- 
^%-eipai  xwv  dvopwv,  o'jxwg  f^aav  XKxacpoßoi  xobc,  eXecpavxa?,  oiQ 
enl  ouo  EVLOcuxo'j;  xouc,  e^fj^  xwv  TzpoecprjjAsvwv  xacpwv,  TioXXaxtg 
(ji£v  £V  x^  AcXußactxcSc  X^P'^i  '^-oIXcx.kk;  o'  ev  xtj  ^sXcvouvxca  napa- 
xaxx6[x£voi  xolg  izo'ktiiio'.q  ev  e^  xac  xcevxe  axaStocc,  oux  e-O-apprjaav 
oudinoTE  xaxap^a:  zfic,  [Jtax>]S  ouo'  et^  xoü^  ©[xaAou?  xa-ö-oXou 
auyxaxaß-^vai  totiouc,  oeotoxei;  xr^v  xwv  eXecpavxwv  £cpo6ov,  zu 
denen  Lenze  bemerkt:  „Mit  e^y]?  xwv  TipoetprjjJievwv  xacpwv  weist 
Polj'bius  auf  das  zuletzt  von  ihm  behandelte  Amtsjahr  501 
Varr.  zurück,  nicht  aber  auf  die  Niederlage  des  Regulus,  wie 
Reuß  meint.  (Denn  mit  StaSo'ö-ecarjg  ^>''fi\irjQ  Tiepc  xfic,  ev  x^ 
AißuTy  |iaxvjc;  wird  nur  der  Grund  für  die  Elefantenfurcht  der 
Römer  angegeben,  nicht  der  Anfangspunkt  für  die  in  §  12 
genannten  2  Jahre.)  Die  .  .  .  sich  anschließenden  zwei  Jahre 
sind  die  Amtsjahre  502  und  503".  Die  Römer  sind  schon 
im  Jahre  254  v.  Chr.  (500  a.  u.)  in  den  Besitz  von  Pa- 
normos  gelangt,  Hasdrubal  ist  in  dem  gleichen  Jahre  mit 
einem  Heere  und  140  Elefanten  nach  Sizilien  geschickt  worden, 
schon  für  dieses  Jahr  muß  man  daher  annehmen,  daß  die 
Römer   in   der   Gegend   um    Lilybäum   oder    Selinus  6  oder  5 


Der  erste  punische  Krieg.  423 

Stadien  weit  den  Feinden  gegenüberstanden.  Soll  die  Furcht 
erst  2  Jalire  nach  der  Niederlage  des  Regulus  die  Römer  be- 
fallen und  abgehalten  haben,  in  ebenem  Gelände  den  Feinden 
entgegenzutreten  ?  Nicht'  zufrieden  damit,  schaltet  Lenze  auch 
das  Jahr  253  (501  a.  u.)  aus  und  rechnet  nur  die  Jahre  502 
und  503  a,  u.  An  den  Schluß  des  letzteren  legt  er  die 
Schlacht  bei  Panormos,  die  der  Elefantenfurcht  ein  Ende 
machte,  und  findet  so  die  Angabe  des  Polybios  aufs  genaueste 
zutreffend.  Verständlicher  ist  die  Deutung,  die  Luterbacher 
Polybs  Worten  gegeben  hat:  „Polyb  weiß  nichts  von  den 
Konsuln  des  Jahres  252/1,  deshalb  sind  für  ihn  zwischen  der 
Ankunft  des  Hasdrubal  in  Sizilien  und  dem  Konsulat  des  L. 
Cäcilius  und  C.  Furius  nur  zwei  Jahre  vergangen  (statt  drei)**, 
aber  in  dem  Exkurse,  dem  die  angeführte  Stelle  gehört,  nimmt 
der  Gescbichtschreiber  auf  die  Ereignisse  von  252  Rücksicht: 
I  12,  13  öepfxav  oh  [jlcvov  xoci  AiTiapav  eqeT:oliöpv.r^GC(.v  £V  toutoc? 
xol;,  yccipolc.  Das  natürlichste  bleibt  immerhin,  als  Ausgangs- 
punkt Polybs,  den  er  mit  xöJv  Ttpoecpvjptevwv  xatpwv  im  Auge 
hat,  die  unmittelbar  vorher  erwähnte  [idyr^  ev  x^  Aißuv]  zu 
nehmen,  seit  der  die  Römer  nicht  mehr  im  offenen  Felde  zu 
erscheinen  wagten.  Meine  beiden  Erklärungen  von  ou'  evcau- 
X065  hält  Leuze  für  unrichtig,  weil  bei  ihnen  eine  unrichtige 
Angabe  Polybios  vorgeworfen  würde,  indessen  will  dieser  Ein- 
wand bei  dessen  summarischem  Berichte  wenig  bedeuten.  Viel- 
leicht ist  auch  ein  Fehler  der  Ueberlieferung  nicht  ausge- 
schlossen, durch  welchen  ursprüngliches  S'  mit  Su'  statt  mit 
xixxapac,  wiedergegeben  ist.  Ein  Zwischenraum  von  4  Jahren 
würde  aus  dem  Sommer  255  in  den  Sommer  251  v.  Chr. 
führen. 

Varese  (S.  28)  hält  mir  entgegen,  daß  in  der  Zeit,  in 
welcher  ich  den  Konsul  Furius  von  Sizilien  abziehen  ließei 
dieser  dort  kaum  angekommen  sein  könne.  Der  Konsul  Aure- 
lius  Cotta,  der  nach  Oros.  IV  9, 13  allein  von  den  Konsuln 
des  Jahres  252  in  Sizilien  Krieg  geführt  zu  haben  scheint, 
feierte  am  18.  April  251  einen  Triumph  de  Poenis  et  Siculis, 
hat  also  vor  Beendigung  seines  Amtsjahres  die  Insel  verlassen 
und  die  Fortsetzung  des  dortigen  Kriegs  seinen  Nachfolgern 
überlassen.    Leuze  kann  schlechterdings  keinen  einleuchtenden 


424  Friedrich    Reuss, 

Grund  dafür  finden,  weshalb  Furius  schon  im  Sommer  251 
mit  der  Hälfte  des  Heeres  aus  Sizilien  wieder  abgezogen  sein 
soll.  Polyb.  gibt  uns  allerdings  dafür  keinen  Grund  an,  weil 
er  nur  in  einem  kurzen  Ueberblick  den  24jährigen  Krieg  be- 
handelt, liegt  aber  die  Annahme  außerhalb  des  Bereichs  der 
Möglichkeit,  daß  Furius,  der  nicht  nach  Rom  zurückgekehrt 
(so  Zon.  VHI  14  w?  Tipbq  ty^v  TwfxrjV  au^pev  6  ^oüpioq),  son- 
dern nach  Italien  abgerückt  ist  (Polyb.  I  40,  1  tiuO"6[x£voi;  töv 
eva  Twv  atpaxrjywv  |X£Ta  xfj^  yj\iiatiac,  6uva(X£(i)s  elc,  xrjv  'IxaXiav 
dnYilXdxTi'0!.i)  gleich  nach  seiner  Ankunft  auf  Sizilien  die  Wei- 
sung erhalten  hat,  mit  der  Hälfte  des  Heeres  die  italische 
Küste  gegen    Angriffe   der   karthagischen   Flotte  zu  schützen? 

Mit  dem  Jahre  251  scheint  allerdings  die  Erwähnung 
der  Konsuln  des  Jahres  251  bei  Polyb.  I  39,  15  unvereinbar, 
indessen  wird  hier  (§  9 — 15)  nicht  die  Erzählung  weiterge- 
führt, sondern  eine  Darlegung  der  Gesamtlage  gegeben,  auf 
die  auch  dann  in  I  41,  2  zurückgegriffen  wird.  Daß  Polyb. 
mit  xaxaaxT^aavTes  axpaxrjyou^  die  Wahl,  nicht  den  Amtsantritt 
der  Konsuln  bezeichne,  kann  ich  Leuze  nicht  zugeben  und 
verweise  zu  seiner  Widerlegung  auf  I  52,  5  axpaxYjYOu?  ^axa- 
axT^aavxEs  uapauxtoia  xöv  exepov  auxwv  £^£7r£|JL7iov.  Den  Anstoß, 
den  ich  daran  genommen  habe,  daß  Polyb.  I  39,  15  nur  des 
Baues  von  50  Schiffen  gedacht  wird,  während  I  41, 3  die 
Konsuln  mit  200  Schiffen  auslaufen,  hält  Leuze  für  unbe- 
rechtigt, aber  auch  Luterbacher  hält  es  für  geboten,  an  der 
ersten  Stelle  ey^axov  vor  7i£Vxr]Xovxa  einzusetzen. 

Trotzdem  ich  so  daran  festhalte,  daß  der  Sieg  von  Pa- 
normos  wahrscheinlich  dem  Jahre  251  angehört,  will  ich  die 
Möglichkeit  der  anderen  Datierung,  die  Luterbacher  annimmt, 
nicht  bestreiten.  Wenn  Frontin,  Florus,  Eutropius,  Orosius, 
Zonaras  den  Metellus  als  Konsul  bezeichnen,  so  gehen  sie 
wahrscheinlich  alle  von  derselben  Vorlage  (Livius)  aus.  Dieser 
mag  aber  den  Inhaber  der  prokonsularischen  Gewalt  miß- 
bräuchlich noch  Konsul  genannt  haben,  wie  dies  häufig  ge- 
schieht, z.  B.  Cornel.  Nep.  Cato  I  3,  Livius  31,49;  36,83; 
38,  35.  Dasselbe  darf  erst  recht  bei  Diodor  oder  seiner  Quelle 
angenommen  werden,  unterscheidet  doch  auch  Polyb.  vielfach 
noch   nicht    die   Titel   der  stellvertretenden    Beamten,    obwohl 


Der  eiste  punische  Krieg.  425 

sich  bei  ihm  Äv^uTiaxo^  (XXI  10,11)  findet  (L.  Hahn,  Progr. 
d.  neuen  Gymnas.  zu  Nürnberg  1906,  S.  29).  Damit  verliert 
aber  das  Argument,  welches  hauptsächlich  gegen  das  Jahr 
250  ins  Feld  geführt  wird,  erheblich  an  Beweiskraft. 

Seinen  Triumph  feierte  Metellus  im  August  250,  während 
des  diesem  vorausliegenden  Sommei's  führte  Regulus  im  Auf- 
trage der  Karthager  Friedensverhandlungen  in  Rom.  Den  Be- 
richt Diodors,  daß  man  seiner  verarmten  Familie  zwei  vor- 
nehme karthagische  Gefangene  übergeben  habe,  hält  Luter- 
bacher  für  erlogen.  Dagegen  spricht  aber,  daß  diese  Nach- 
richt auch  in  die  ältere  römische  Tradition  aufgenommen 
worden  ist :  Gellius  VII  4,  1  Tuditanus  autem  somno  diu  pro- 
hibitum  (Diodor  So'  ajxsXscav  ccüxbv  exXeXooTisvac  xo  (^■^v)  atque 
ita  vita  privatum  refert,  idque  ubi  Romae  cognitum  est,  no- 
bilissimos  Poenorum  captivos  liberis  Regiili  a  senatu  deditos 
et  ab  his  in  armario  muricibus  praefixo  destitutos  eademque 
insomnia  cruciatos  interisse,  vgl.  Zon.  VIII  15  a  Tiu^opisvoo  — 
avTaTioxxeovat.  Später  ist  dieser  Zug  der  Tradition  beseitigt 
worden,  und  so  lesen  wir  Sallust  Catil.  I  51, 6  item  bellis 
Punicis  Omnibus,  cum  saepe  Carthaginienses  in  pace  et  per 
inducias  multa  nefaria  facinora  fecissent,  nunquam  ipsi  per 
occasionem  talia  fecere:  magis  quid  se  dignum  foret,  quam 
quid  in  illos  fieri  iure  posset,  quaerebant. 

Wenn  die  römischen  Schriftsteller  auch  darin  einig  sind, 
dem  Konsul  Claudius  Pulcher  seinen  Frevel  gegen  die  heiligen 
Hühner  vorzuhalten,  so  begeht  er  doch  nach  den  einen  diesen 
in  Rom,  nach  den  andern  auf  dem  Meere.  Zu  den  ersteren 
gehört  Livius :  Serv.  zu  Vergil  Aen.  VI  198  eos  in  Tiberim 
praecipitavit,  periocha  19  contra  auspicia  profectus,  vgl.  Cic.  de 
divin.  I  16,  29  cum  vitio  navigasset,  die  andere  Version  da- 
gegen vertreten  Sueton  Tiber.  2  mari  demersis,  Florus  II  2 
ibi  statim  classe  demersa,  ubi  ille  pullos  praecipitari  iusserat, 
Valer.  Max.  II  4,  3  abici  in  raare  eos  iussit.  Die  Darstellung 
des  Livius  ist  die  ursprüngliche,  aus  ihr  ist  mißverständlich 
die  abweichende  Erzählung  entwickelt  worden,  worauf  der 
sonst  gleichlautende  Wortlaut  schließen  läßt,  z.  B.  per.  19 
qui  contemptis  auspiciis  male  pugnaverat,  Eutrop  contra  au- 
spicia pugnavit  u.  a.     Diese  Entstellung  mag   schon    frühe  in 


426  Friedrich    Reuss, 

einem  Auszug  aus  Livius  vorgenommen  sein  und  aus  ihm  auch 
in  Sueton  übergegangen  sein. 

Daß  Frontin  I  5,  6  dieselbe  Begebenheit  erzählt,  wie  Zo- 
nar.  VIII  16,  kann  nicht  bezweifelt  werden,  doch  darf  man 
schwerlich  mit  Luterbacher  C.  Duilius  als  Führer  des  gegen 
den  Hafen  von  Hippo  vorgehenden  Greschwaders  betrachten ; 
näher  liegt  es,  eine  Entstellung  des  Namens  aus  Caecilius  bei 
Frontin  vorauszusetzen. 

Für  die  Schlacht  bei    den  ägatischen  Inseln    gibt  Eutrop 
den   10.  März  als   Datum   an,    doch  glaubte  ich  aus    verschie- 
denen Gründen  auf  ein  früheres,  noch  dem  Jahre  242  v.  Chr. 
angehörendes  Datum  schließen  zu  müssen.    Varese,  der  selbst 
allerdings,    wie  Luterbacher  nachgewiesen    hat,    hier   zu    ganz 
verfehlten  chronologischen  Ansätzen  gelangt  ist,    hält  mir  die 
Worte  des  Zonaras  entgegen:  in    e^oSco  oüorjC,  autw  ttj;  «PX"^?! 
durch  welche  die  Zeitangabe  Eutrops  Bestätigung  fände.    Die 
Worte   würden  allerdings  jeden   Zweifel   niederschlagen,    wenn 
sie  sich    auf   die   Zeit   des   Sieges    bezögen,    sie    beziehen    sich 
aber    auf    die    Zeit    der    Friedensverhandlungen    zwischen  Lu- 
tatius  Catulus  und  den  Karthagern.    Zwischen  diesen  und  der 
Schlacht  hat    aber  eine  Frist    gelegen,    die   wir  uns  nicht  all- 
zu kurz  vorstellen  dürfen.     Die  Lage  Karthagos   war   vor  der 
Niederlage    eine    verhältnismäßig    günstige:     Liv.  21,  41,   11 
nunquam  terra  marique  magis  prosperae  res  nostrae  visae  sunt 
quam  ante  consules  L.  Catulum  et  A.  Postumium  fuerunt,  Zon. 
VIII  17  tva  ol  Kap)(rjo6vc&c  e^  xeXsiav  dTcoyvwaLV  xous  Voi\i(x.io\)c, 
Toö   vauxr/toö    xaxaaxyjawGcv ,    diese   traf   sie    daher    unerwartet 
(Polyb.  I  62,  1  aTrpoaooxTjxws),  und  sie  waren  deshalb  anfangs 
zur   Fortsetzung    des   Kriegs    gewillt    (Polyb.  162, 2  ff.).     Der 
Krieg  ist  auch  weitergeführt   worden,    es    ist  zu  Kämpfen  um 
Eryx  gekommen,  wo  Lutatius  conserta  piigna  2000  Karthager 
getötet  haben  soll  (Oros.  IV  10,8,    vgl.  Liv.  21,  10,  7;  41,6; 
28,  41,  5).     Erst   nach    diesen    Kämpfen    werden    Gesandte    zu 
Lutatius  und  darauf  nach  Rom  geschickt  (Oros.  IV  11,  1).    So- 
lange irgend  eine  Hoffnung  auf  Sieg  bestand,  ließ  Barkas,  der 
mit  unbeschränkter  Vollmacht  ausgestattet  war,  nichts  unver- 
sucht und  trat  erst  dann  mit  den  Römern  in  Unterhandlungen, 
als  jede  Aussicht  auf  Erfolg    geschwunden  war  (Polyb.  I  62, 


Der  erste  punische  Krieg.  427 

4  n.  5),  doch  wies  er  auch  jetzt  noch  jedes  Ansinnen  zurück, 
das  er  mit  seiner  Soldatenehre  für  unvereinbar  hielt  (Diod. 
XXIV  13). 

Die  Abtretung  Sardiniens  kann  Livius  nicht,  wie  Scher- 
mann glaubt,  unter  die  Friedensbedingungen  aufgenommen 
haben,  dem  widerstreitet  aufs  bestimmteste  21,  1,  5  Sardiniam 
inter  motum  Africae  fraude  interceptam.  Die  Zeit,  da  die 
Insel  von  den  Karthagern  abgetreten  wurde,  läßt  sich  aus 
Florus  feststellen :  II  6  bellum  Punicum  post  primum  vix 
quadriennii  requies,  ecce  alterum  bellum.  Zwar  hat  Florus  den 
Krieg  mit  Hannibal  im  Sinn,  doch  können  seine  Worte  nur 
auf  den  Kampf  um  Sardinien  bezogen  werden,  der  demnach 
im  Jahre  237  v.  Chr.  auszubrechen  drohte.  Den  gleichen 
Zeitpunkt  gewinnen  wir  aus  Livius.  Vor  der  Schlacht  am 
Ticinus  erinnert  Hannibal  seine  Veteranen  an  ihre  zwanzig- 
jährige Dienstzeit,  d.  i.  237/6—218/7  (Liv.  21,  43,  13,  vgl. 
41,  6),  an  einer  anderen  Stelle  (21,  16,  5)  dagegen  wird  diese 
bis  zum  Falle  Sagunts  auf  23  Jahre  berechnet.  Livius  rechnet 
hier  trotz  des  Zusatzes  inter  Hispanas  gentes  vom  Ende  des 
1.  punischen  Kriegs  bis  zur  Eroberung  Sagunts,  d.  i. 
241/40 — 219/8  v.  Chr.  Wir  kommen  also  auch  hier  auf  einen 
Abstand  von  4  Jahren  zwischen  1.  punischem  Kriege  und  dem 
Ausgange  des  Söldnerkriegs,  Auf  das  Jahr  237/6  führt  auch 
Liv.  21,  40,  5  a  quibus  Stipendium  per  viginti  annos  exegistis 
(237/6 — 218/7),  denn  damals  scheint  den  Karthagern  die  Zah- 
lungsfrist auf  20  Jahre  verlängert  worden  zu  sein  (Lutevbacher 
Phil.  18  S.  137  ff.).  Man  darf  daher  nicht  mit  Luterbacher  be- 
züglich der  Dauer  des  letzteren  der  Polybianischen  Textüber- 
lieferung (I  88,  7  xpicc  sxrj  xat  [t-fivac,  xexxapa;)  vor  der  Dio- 
dorschen  (XXV  6  xexxapa  sxyj  y.al  [xfjva^  xsxxapa;)  den  Vor- 
zug geben.  Ich  hatte  zur  Verteidigung  der  letzteren  auf  die 
abgerundete  Zahl  des  Livius  (21,  2,  1  per  quinque  annos)  hin- 
gewiesen, doch  will  Luterbacher  diesen  Hinweis  nicht  gelten 
lassen.  Mit  Liv.  22,  25,  12  biennii  clades  ist  indessen  nichts 
gegen  mich  bewiesen,  da  es  sich  hier  ohne  Rücksicht  auf  Zeit- 
dauer und  Zeitabstand  um  die  „Niederlagen  der  beiden  letzten 
Jahre",  dort  dagegen  um  die  Zeitdauer  des  ganzen  Kriegs 
handelt.  Der  Ausbruch  des  Söldnerkriegs  muß  daher  in  die 
erste  Hälfte  des  Jahres  241/40  fallen,  ein  Umstand,  der,  wie 
ich  früher  ausgeführt  habe,  gleichfalls  nicht  für  die  unbe- 
dingte Zuverlässigkeit  des  von  Eutrop  übei'lieferten  Datums 
spricht. 

Wesel.  Friedrich  Beuss. 


XVII. 

Karer  und  Leieger. 

Zur  Lösung  des  ethnologischen  Problems,  das  uns  die 
kretisch-mykenische  Kultur  stellt,  ist  mehr  als  ein 
Vorschlag  gemacht,  ohne  eine  allseitig  befriedigende  Lösung 
zu  bringen.  In  den  großen  Zusammenhang  der  Geschichte 
des  Orients  hat  neuerdings  E.  Meyer  in  der  2.  Auflage  des 
I.  Bandes  seiner  Geschichte  des  Altertums  versucht,  die  ägäische 
Welt  einzureihen.  Hier  sollen  nur  Vorgänge  innerhalb  derselben 
behandelt  werden,  um  für  religions-  und  sagengeschichtliche 
Untersuchungen,  in  deren  Verlauf  wir  in  diese  Aporien  ge- 
kommen sind,  den  Boden  zu  ebnen.  Der  Name  der  Karer 
hat  bisher  für  die  minoische  Periode  der  Insel  Kreta  eine 
große  Rolle  gespielt:  W.  Dörpfeld^)  spricht  von  karisch-lyki- 
scher  Kultur,  ein  Ausdruck,  der  schon  fast  zur  Vulgata  ge- 
worden ist ;  andere  geben  die  sogenannte  Inselkultur  den 
Karern  und  Lelegern,  und  selbst  P.  Kretschmer  wagt  in  seiner 
Einleitung  zur  Geschichte  der  griechischen  Sprache  zwischen 
diesen  beiden  Völkern  nicht  zu  scheiden,  zumal  da  ihn  nur 
ihre  Zugehörigkeit  zur  gleichen  Rasse,  ihre  sprachliche  Ver- 
wandtschaft interessiert. 

Ich  will  versuchen,  speziell  für  Karer  und  Leieger  an  der 
Hand  des  litterarischen  Materials  die  griechische  Tradition 
festzustellen  und  diese  durch  archäologische  Tatsachen  zu 
stützen.  Eine  Karte  müßte  die  Verteilung  der  ungriechischen 
Bevölkerung  und  ihre  Wanderungen  verdeutlichen.  So  viel 
wird  vielleicht  jetzt  schon  deutlich  werden,  daß  im  2.  Jahr- 
tausend   eine    Grenze    zwischen    Rhodos-Kleinasien    einerseits 


1)  AM.  190.^.  258,  1907.  576.     Am   treffendsten   hat   Noack    liomer. 
Paläste  1903.  34  auf  Lykien  verwiesen. 


Wolf  A  1  y  ,   Karer  und  Leleger.  429 

und  Kreta- Griechenland  anderseits  läuft,  die  erst  um  1300 
infolge  einer  großartigen  Expansion  Kretas  gelegentlich  über- 
schritten wii'd.  Aber  was  damals  von  Westen  nach  Osten  vor- 
drang, können  nicht,  wie  man  bisher  glaubt,  die  Karer  gewesen 
sein,  deren  Mitwirkung  innerhalb  des  ägäischen  Kulturkreises 
vor  dem  Ende  der  mykenischen  Epoche  so  gut  wie  ausge- 
schlossen ist. 

Ich  gehe  von  Kleinasien,  von  der  Landschaft  Karlen  aus, 
die  ihren  Namen  von  den  Karern,  ursprünglich  *Kafipez  {Hoff- 
mann, griech.  Dialekte  III.  323)  führt.  Daß  diese  nächstver- 
wandt mit  den  Lydern  und  Mysern  sind,  geht  aus  der  Schil- 
derung des  Nation alheiligtums  in  Mylasa,  die  uns  Herodot  1. 
171  ff.-)  giebt,  klar  hervor:  Kultgenossen  des  Zeus  Kariös 
sind  außer  den  Karern  die  genannten  beiden  Stämme  „als 
Brüder  der  Karer";  ausgeschlossen  sind,  außer  allen  andern 
die  Kaunier  trotz  ihrer  karischen  Sprache.  Herodot,  der  die 
Karer  von  den  Inseln  eingewandert  sein  läßt,  hält  die  Kaunier 
infolge  dessen  mit  vollständiger  Verkehrung  der  Tatsachen 
für  Autochthonen ;  seiner  bemerkenswert  objektiven  Bericht- 
erstattung jedoch  verdanken  wir  den  Zusatz:  sie  selbst  behaup- 
ten aus  Kreta  zu  stammen,  was  durch  ihre  merkwürdigen  unkari- 
schen Sitten  bestätigt  wird.  Vielleicht  hat  sogar  eine  Stadt 
Kaunos  auf  Kreta  existiert  (Steph.  Byz.  370.  6),  obgleich 
diese  Nachricht  aus  der  Herodotstelle  zurecht  gemacht  sein 
kann.  Urverwandtschaft  der  Karer  mit  den  Lykiern,  Kretern, 
Kauniern,  wie  sie  Kretschmer  nachweist,  wird  durch  den 
Brauch  von  Mylasa  nicht  in  Abrede  gestellt,  wie  denn  auch  einem 
Dorer  das  Betreten  eines  ionischen  Heiligtums  verwehrt  war,  vgl. 
IG.  12.  5.  225,  Herod.  5.  72 ').  Aber  jene  3  Stämme  um- 
schloß ein  besonders  enges  Band  der  Blutsverwandtschaft;  sie 
treten  als  Einheit  den  verwandten  Stämmen  gegenüber.  Man 
wird    es    also    gern    glauben,    daß   Zeus    Kariös   nach    Steph. 


^)  M  u  a  0  i  0  '.  jJiEV  v.ot.1  iV  u  5  0  T  a  i  [ietsoxt,  (uj  xaatYVTjXciai  ioüat  xolat 
KapoJ  .  .  .  6aoi  Se  Icivtcg  aXXou  sS-vsog,  QjjLoyXwaao'.  TOlac  Kapal  Eyevovxo, 
TO'Jtoiai  bh  O'j  jiixa.  oi  ds  Ka'jvioi  aOTd/_i)-ovcS  SoxeIv  ip-oi  sioL  •  a'JxoL  jievto!, 
k%  Kpr,xyj5  cpocol  Eivai. 

^)  Esivcp  Ao)p'.^  OL»  M\i.iz  —  w  gstv»  Aay.E5a!,p.övi.E,  TiiXiv  X(üpe.i  [ii^os 
sJi&L  l£  x6  ipöv  •  O'J  yäp  •SsiiiTöv  AcüpisOa-.  Tiaptsvai  ivd-aOxa  (auf  die  athe- 
nische Akropolis). 


430  Wolf  Aly, 

Byz.  G29.  1  ^)  auch  in  Torrhebos  in  Lydien  verehrt  wurde, 
wo  Kariös  für  den  Sohn  des  Zeus  und  der  Torrhebia  galt. 

Zeus  Kariös  wird  vielfach  mit  dem  Zeus  von  Labraun  da 
verwechselt,  der,  wie  ein  altkretischer  Gott,  wie  Sozon  in 
Pisidien,  ApoUon  in  Thyateira,  Tennes  auf  Tenedos,  Hephai- 
stos  im  Mutterland  und  der  bekannte  hettitische  Gott^)  das 
Doppelbeil  führt.  Schon  die  geographische  Verbreitung  des 
Symbols  lehrt,  daß  nichts  lokalkarisches  dahinter  stecken 
kann.  Noch  deutlicher  spricht  die  Inschrift  Le  Bas  voyage 
arch.  III  415^),  wo  Zeus  Stratios,  d.  h.  eben  nach  Herod.  5. 
119^)  der  Gott  von  Labraunda,  neben  Zeus  Kariös  er- 
scheint. Auch  ein  dritter  Gott  in  Mylasa,  Zeus  Osogoa  oder 
auf  griechisch  Zenoposeidon  ist  fern  zu  halten.  Dieser  hat  als 
Meergott  in  dem  Triton  von  Itanos  und  dem  Zeus  Skyllios 
von  Gortyn*^)  wie  der  Gott  mit  Doppelbeil  seine  nächsten 
Verwandten  auf  Kreta.  Von  Zeus  Kariös  wissen  wir  nur  aus 
Strabo  659^):  Man  erzählt,  daß  vor  Alters  ein  Dorf  da  war, 
Vaterstadt  und  Königsburg  der  Karer  um  Hekatomnos.  Sonst 
ist  er,  Aveil  er  Griechen  von  seinem  Kult  ausgeschlossen  hat, 
verschollen.  Nicht  einmal,  daß  er  die  Doppelaxt  geführt  hat, 
wie  man  vielfach  behauptet,  wissen  wir.  Diese  kommt  viel- 
mehr dem  Zeus  Stratios  von  Labraunda  zu. 

Wir  entnehmen  aus  den  Kulten  von  Mylasa,  daß  es  in 
Karlen  neben  den  eigentlichen  Karern  eine  ebenfalls  nicht- 
griechische Bevölkerung  gab,  deren  religiöse  Symbole  nahe 
Beziehungen  vor  allem  zu  Kreta  verraten.  Man  könnte  das 
Verhältnis  von  Labraunda  zu  Mylasa    mit   dem    von    Amyklai 


*)  Hekataios?  we^en  der  Form  xaXsdjjisvov  (Meineke). 

°)  Für  Kreta  cf.  Burrows ,  the  discoveries  in  Crete  2ö  u.  ö.  für 
Sozon  Usener  Götternamen  174  f.,  Apollon  in  Thyateira  BMC. 
Lydia  29.  3  fl„  Tennes  BMC  Troas  17  und  Steph.  Byz.  615.  22,  He- 
phäst auf  dem  Madrider  Puteal,  für  die  H  e  1 1  i  t  e  r  E.  Meyer  GdA. 
12  2,  S.  633  ff. 

^)  Z.  14  0£Ojivyia-o'j  cepECüg  Aiög  Kcxpioo  ...  16  Aioy.Xs'ioug  xoü  IIoXu- 
xXeixo'j  cspEWg  Aiöj  Zxpaxiou  xal  "Hpag. 

')  'Eg  Aäßpauv5a  iz  ^'-^S  ^Tpaxiou  Ipov. 

*)  So  ist  dieser  sonst  unbekannte  Gott  wohl  zu  deuten,  vgl.  S  ky  1  - 
1  a,  die  Tochter  des  Triton ,  Dionysos  Skyllitas  auf  Cos  inscr. 
of  Cos  37,  und  den  mythischen  Taucher  S  k  y  1 1  i  e  s  Herod.  8.  8.  Für 
Itanos  vgl.  Svoronos  Num.  de  la  Crete  taf.  18  f. 

*)  'laxopslxai  Ss  xcüiivj  uKocpgai  x6  rcaXaiöv,  Txaxpig  8e  xal  ßaoiXeiov  xwv 
Kapwv  xöv  Txspi  xw  '£xaxö|iv(p. 


Karer  und  Leleger.  431 

zu  Sparta  vergleichen.  Labraunda  lag  12  Kilometer  nördlich 
von  Mylasa  nach  den  Bergen  zu  und  war  das  ältere,  von  der 
Urbevölkerung  gepflegte  Heiligtum,  Diese  Ureinwohner  sind 
Leleger  gewesen. 

Vorangestellt  seien  die  Stellen  der  homerischen  Epen,  so 
wenig  auch  positiv  durch  sie  bewiesen  wird.  Die  Lykier  spielen 
im  Epos  als  Bundesgenossen  der  Troer  eine  große  Rolle. 
Und  das  ist  nicht  die  einzige  Beziehung  zwischen  der  Troas 
und  dem  Süden.  Die  Lyder  werden  gar  nicht  genannt,  die  Karer 
und  Myser  im  SchifFskatalog  II.  2.  858  u.  8671°)  und  in  der 
notorisch  jungen  Dolonie  10.  428  ff.  ^'),  die  Myser  auch  13.  5, 
14.  512  u.  24.  278  an  jungen  Stellen,  endlich  die  Karer  in  einem 
allerdings  nicht  datierbaren  Grleichnis  4.  142  ^-) :  wie  wenn 
ein  Weib  Elfenbein  mit  Purpur  färbt,  eine  Meionierin  oder 
K  a  r  e  r  i  n  .  .  .  Nun  gehört  allerdings  Ilias  4  zum  alten 
Bestand ;  ich  glaube  aber  nicht,  daß  eine  so  vereinzelte  Stelle 
und  noch  dazu  ein  Gleichnis,  das  sich  leicht  aus  dem  Zu- 
sammenhang lösen  läßt  und  sehr  nach  einem  verschönenden 
späteren  Zusatz  aussieht,  viel  für  die  Epoche  der  Karer  be- 
weist. Mit  den  Lelegern  steht  es  allerdings  nicht  viel  besser. 
Auch  sie  stehen  in  der  Dolonie  10.  429  (s.  Anm.  11)  und  in  den 
jungen  Versen  der  Theomachie  20.  96  ^^) ;  und  selbst  die 
Lokalisierung  von  Lelegern  in  Pedasos  am  Satnioeis  (südliche 
Troas)  21.  86^^)  mag  nicht  zu  viel  Gewicht  haben.  Dem- 
gegenüber weise  ich  darauf  hin,  daß  sie  nicht  im  Schiffskata- 
log genannt  werden,  daß  sie  also  damals  kein  historischer 
Stamm  gewesen  sind,  wie  sie  die  Ilias  in  großer  Zahl  kennt. 
Ja,  wir  dürfen  den  Lelegernamen  dort  gar  nicht  erwarten,  da 


^°)  858  Muaiüv  ds  .  .  .  867  NäaxY)g  au  Kapwv  ■fjy-^aazo  ßapßapocpwvwv, 
c'i  MiXrjTOv  £}(°^  "I>9-ipwv  t'  Spog  dxptxöcpuXXov  MaiävSpou  is  paäg  MuxäXyjg 
x'  alTceivä  xdpyjva. 

")  IIpöc;  |isv  aXög  Käpeg  otal  Ilaioveg  dyxuXöxogot  .  .  .  xal  AdXsyss 
xal  Kaüxcüvsg    5iot  xs  üsXaaYoi  •    upög  66[jißp7]s    S'  äXa^ov  Aöx;ot  MuaoL  x' 

")  'Sc  S'  Sie  xig  x'  iXecpavxa  yuwri  cpoivixi  [aiy/vifl  Mr)ovlc  -fjs  K  ä  s  i  p  a , 
Tiapy^iov  £jji|i£vai  tuuwv. 

^3)  "Eyx.£'-'  x°''Xv.ei(i>  A  e  X  e  y  a  g  y.ai  Tptöag  ivaipsiv  (bei  Lyrnessos  und 
Pedasos). 

^*)  piivuv&äSiov  ÖS  [IS  tir^xvjp  ysivaxo  Aao9-ÖY),  O-uyaxvjp  "AXxao  yipovxog, 
'AXxsü),  05  AeXeyöooi  cfiXomxoXiiioiciv  dväaaEi,  Il7]5aaov  aiTtr.eaoav  Ixcuv  iTti 
Saxviösvxu 


432  WolfAly, 

dessen  große  geographische  Verbreitung  ihn  zur  Genüge  als  Sam- 
melnamen ^^)  erweist.  Dieser  kann  jedoch  die  Karer  nie  mit- 
umf'aßt  haben,  da  die  Leleger  in  Karien  gerade  im  Gegensatz 
zu  diesen  in  ihrer  Eigenart  erkennbar  sind.  Erwähnung  von 
historischen  Lelegern  sind  ganz  selten,  während  die  Karer  seit 
Archilochos  frg.  24  B*,  dem  absolut  ältesten  Zeugnis  ihrer  Exi- 
stenz ^^),  als  ein  tapferes  kraftvolles  Volk  immer  mehr  hervor- 
treten, auch  das  schon  ein  Moment,  das  uns  nötigt,  beide  Völker 
scharf  zu  scheiden. 

Am  leichtesten  ist  dies  in  Karien  selbst,  wo  Kallisthenes 
bei  Strabo  611^^)  berichtet,  es  seien  in  Karien  in  der  Gegend 
südlich  Mylasa  8  Städte  der  Leleger  gewesen;  6  davon  habe 
Maussolos  zu  Halikarnaß  vereinigt,  außerdem  seien  es  Suan- 
gela  und  Myndos.  In  ganz  Karien  und  in  Milet  seien  Leleger- 
Gräber  und  -Schanzen  und  Spuren  ihrer  Ansiedluugen;  Strabo 
kennt  sie  sogar  bis  nach  Pisidien  hinein  (p.  570)  ^^).  Diese 
Leleger  setzt  Philippos  von  Theangela^^)  in  seiner 
Spezialschrift  „Karer  und  Leleger"  bei  Athen.  271  B.  den  spar- 
tanischen Heloten  und  thessalischen  Penesten  gleich:  „Die 
Karer  gebrauchen  Leleger  als  Sklaven  seit  Alters  und  jetzt 
noch".  Wie  hoch  der  Leleger  dort  im  Werte  stand,  läßt 
eine  merkwürdige  Mitteilung  bei  Plutarch  quaest.  Gr.  46 
p.   302  B^°)  erkennen,  der  sie   auffälliger  Weise  mit  Minyern 

'^)  Vielleicht  zunächst  Stammesname  ,  wie  der  der  Hellenen,  der 
frühzeitig  auf  verwandte  Stämme  übertragen  ist? 

1®)  Kai  St)  'jiiy.oupog  w^  is  K  ä  p  y.£xXy;ao[iai. 

")  'Ev  5s  xrj  jisaoyaLCic  twv  'AXixapvaaaecüv  xä  n  iQ  S  a  a  a  bn  auxwv 
(den  Lelegern  der  Troas)  ö'/o\ia.a%i^zx  ^v  nöXig,  xal  i]  vöv  x  ^  P  *  H  ■>]  - 
Saale;  Xeysxai.  $aal  8'  iv  aux'^  xal  öxxw  TidXsig  (bvc^a&ai  öto  xwv 
AsXsywv  TTpöxepov  eüavSprjaävxwv,  waxe  xal  xrjs  Kap  ia.  c,  xaxaa^s^v  xfjg 
(isXpL  M'Jv5ou  xal  BapyuXicüv  •  xal  XY,g  n  (.  o  t  5  i  a  g  a.noxe[iia^c(.i  ■n.oXXfj'^. 
"foxspov  S'  ä|ia  xolc,  Kapal  oxpaxeuö^isvoi  y.axsiisptaö-vjoav  sie,  6Xyjv  xtjv 
'EXXäSa  xal  7]cpaviaö-y]  xö  yt^oz '  xcöv  d'  oxxto  uö^^ecov  xäg  %i  MaüowXog 
£15  p,tav  xTjv 'AXixapvaaaöv  auvvjYaYsv,  (bg  KaXXioO-evYjs  ioxopsT.  Souä- 
ysXa  5e  xxl  MüvSov  Siscp-JXags  .  .  .  'Ev  SXy;  bk  Kapiq.  xal  Iv  Mi^xcp  AeXs- 
ycüv  xäcpoi  xal  ipi>\i.a.xx  xal  t^vv)  xaxoixuov  Sslxvuxau  Für  Milet  vgl. 
Steph.  Byz.  452.  9  nach  Didyraos,  für  Megalopolis  in  Karien  dens. 
438.  9,  476.  7. 

**)  *aal  S'  aüx&ts  (den  Pisidiern)  xwv  AeXiyfüv  auy'^a'^aiJ-tX*'^/^^^  xivag 
x6  TiaAa'.öv,  uXävyjxa^  ävO-pcLnoug  xal  aop,|j,£ivai  5iä  xr,v  öiioioxponiav  aüxö9t. 

'*)  <I>  l  X  t,  71  Ti  0  f  ö  6eaYT^'*-^'J?  ^"^  "^fp  7:epi  Kapmv  xalAeXe- 
Y  0)  V  cr)'{-^pä.\i.\iot.xi  (FHG  IV  475)  xaxaXsgag  xoü?  AaxsSaiiiOviwv  EiXwxas 
xal  xo'jg  BsxxaX'.xoüc;  Tisveaxag  xal  Käpäg  cprjoi  xots  AeXegiv  (b^  olxsxaig 
XpTioao&aL  TiäXat  xs  xal  vöv. 

'")  Atä  xl  T  p  a  X  X  i  a  V  0  l   xa&apx^pa   xaXo'joi  xöv  opoßov  xal  ■/.pG)yxoi.i 


Karer  und  Leleger.  433 

zusammen  nennt :  Weshalb  nennen  die  Trallianer  die  Kicher- 
erbse xa^apTTjp  und  brauchen  sie  zumeist  zur  Reinigung  und 
Sühnung?  Weil  Leleger  und  Minyer  sie  einmal  vor  Alters 
aus  der  Stadt  vertrieben  und  das  Land  besetzt  hielten.  Später 
kamen  die  Trallianer  zurück,  siegten  und  da  sie  die  Leleger, 
die  weder  gefallen  noch  geflohen ,  sondern  an  Mangel  an 
Lebensmitteln  und  Schwäche  dageblieben  waren,  lebend  oder  tot 
nichts  achteten,  machten  sie  ein  Gesetz:  Wer  von  den  Trallianern 
einen  Minyer  oder  Leleger  tötet,  soll  rein  sein  für  einen  Scheffel 
Erbsen  an  die  Verwandten  des  Getöteten.  E.  Rohde  Psyche  L 
266.  1  bezieht  das  Gesetz  auf  die  argivischen  Vollbürger 
von  Tralles.  Wer  die  Verhältnisse  in  Halikarnaß^*)  kennt, 
wird  vermuten,  daß  die  Bürger  von  Tralles  zu  einem  guten 
Teil  Karer  waren.  Die  Leleger  waren  Sklaven,  denn  es  ist  der 
Gipfel  der  Mißachtung,  ein  Mord  so  zu  behandeln.  Es  war 
nichts  als  eine  lächerliche  Scheinbuße,  trotz  des  ursprünglich 
kathartischen  Charakters  der  Kichererbse. 

Auch  außerhalb  Kariens  giebt  es  Leleger  im  westlichen 
Kleinasien.  P  i  s  i  d  i  e  n  ist  schon  genannt.  Antandros 
nennt  Alkaios  frg.  65  B  *.  Lelegerstadt,  in  Uebereinstimmung 
mit  den  genannten  Zeugnissen  der  Ilias.  Auch  Gargara  ^^) 
in  der  Troas  wird  bei  Steph.  Byz.  199.  1  so  genannt.  Hatten 
wir  in  Karien  Minyer  neben  den  Lelegern,  allerdings  bei 
einem  verhältnismäßig  späten  Autor,  so  nennt  Konon  41  nach 
Ephoros  aus  Herodot  7.  42  dasselbe  Antandros  pelasgisch  und 
stützt  sich  dabei  offenbar  auf  Ilias  2.  841,  wo  im  troischen 
Larisa  Pelasger  genannt  sind.  Diese  drei  Völker  scheinen 
sich  also  nahe  zu  stehen.  Endlich  sagt  Pherekydes  von  Athen 
bei  Strabo  632^^),  auf  der  Strecke  Phokaia-Samos  seien 
von  den  Joniern  Leleger  vertrieben  worden. 

lidXiaxa  ■r.pbc,  xäg  äqjoaicuoeis  xal  tobg  xa-9-app,0'Jj ;  ^  6t:  AeXeyEg  xaL  Mtvüat 
TÖ  TiaXatöv  ^jeXäjavxsg  aüxoüg  xvjv  mXiy  y.al  xy]v  xcüpav  xaxEix^ov,  uoxepov 
S'  oi  TpaXXLavo:  "xaxsX&övxsg  xaL  xpaxv^aavxsg,  öoot  xwv  AsXiytüv  oü  diz^-f^ä.- 
pyjoav  oüS'  l^uyov,  äXXä  Si"  a|j.r//^aviav  ßiou  xal  aaS-dveiav  uTtsXei^d-rjoav 
a'JxdS-t,  xo'Jxtüv  ouSsva  Xoyov  s}(ovx£g  oüxs  ^oüvxcüv  oüx'  auoXXujxevcüv,  vöiaov 
efl-evxo  x6v  xxeövxxa  MivJr^v  -?)  AeXsya  TpaXX'.avöv  xaS-apov  efvat  [jisStfivov 
öpößcDv  duoiiSTp-^^oavta  xoic,  oiv.sioic,  xoO  cpov£u9-ivxog. 

2')  Vgl.  die  Masse  der  ungriechischen  Eigennamen  in  der  Inschrift 
CB  5727  =  Dittenb.  Syll.^  11. 

2-)  räpyapa  .  .  'AXxiidcv  5e  SvjXuxwg  xyiv  Täpyapov  cpvjaiv.  Iv  f  xa- 
x(|)xouv  AeXsyes.     Das  scheint  also  auch  Alkman  gesagt  zu  haben. 

^')  TaüxYjs  ÖS  (xf,s  'IwvixYjs  napaXtag)  cpyjal  ^spex'JSyji;  (FHG  I  98) 
Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  3.  28 


434  WolfAly, 

Soweit  das  kleinasiatische  Festland.  Beachtet  man  außer 
den  angeführten  Zeugnissen  noch  die  Tatsache,  daß  sich 
Lydien  seit  etwa  700  nach  Westen  ausbreitet  und  augenschein- 
lich die  Küste,  die  es  den  Griechen  abnimmt,  vor  diesen 
nicht  besessen  hat,  so  ergiebt  sich,  daß  Karer,  Myser,  Lyder 
gegen  Ende  der  mykenischen  Epoche  von  Osten  her  einge- 
brochen sind.  Sie  fanden  bereits  eine  Bevölkerung  vor,  die 
die  Griechen  den  nicht  griechischen  Stämmen  des  Mutterlan- 
des angeglichen  haben  und  darum  beide  Teile  Leleger  nennen, 
ein  Name,  der  jedoch  im  äußersten  Süden  und  Norden  nie 
im  Gebrauch  gewesen  zu  sein  scheint,  wie  die  Eteolcreter,  die 
Eteokarpathier  und  Lykier  einerseits,  die  Pelasger  und  Tyr- 
rhener  andrerseits  beweisen,  die  offenbar  in  denselben  Zusam- 
menhang gehören. 

Komplizierter  sind  die  Verhältnisse  auf  den  griechischen 
Inseln.  Unser  ältestes  Zeugnis  und  zugleich  dasjenige,  das  die 
ganze  augenblicklich  herrschende  Verwirrung  angerichtet  hat, 
Herodot  1.  171  -*),  setze  ich  wörtlich  her,  da  es  abgesehen 
von  einem  kleinen  Irrtum  doch  im  wesentlichen  richtig 
ist :     Die    K  a  r  e  r    sind    auf    das    Festland    gekommen    von 


TtpÖTspov,  TTjV  5s  i^fiz  TiapaXiav  ]xs'/^pi  $  cü  x  a  t  a  g  xal  X  i  o  v  xal  ^  ä  [jl  o  v, 
%Z  'Ayy.aiog  ^iP"/.£,  AsJ.syaj.  'ExßAv^ö-f^vai  ob  äijLCfOTipous  bnö  löv  'Iwvwv 
xal  slg  xa  Xo'.Tidc  p.epY)  zf^c,  Kapia?  iy.Tieoatv.  Für  Chios  vgl.  Paus.  7.  4.  8. 
nach  Jon  (FHG  II  50),  der  dort  Kreter  und  Karer  kennt;  wegen  der 
letzteren  vgl.  S.  437. 

^*)  Eiai  Se  Toüxcüv  K  ä  p  s  g  [Jisv  ä,my\ie\oi.  ig  tyjv  rjTrsipov  ix  xöv  vi^- 
otüv  ■  TÖ  Y^p  ■mxXa.iby  iö'mc,  Mivw  xaxrjxooi  xal  xaXeö[jisvot  AsXs- 
Y  s  g  sT^ov  xäg  vT^oou?  cpdpov  [xsv  ouSeva  öttioxsXsovxss,  5aov  xai  ^y"^  Suva- 
Tcs  elp.1  (iTii)  [laxpdxaxov  sstxeoO-ai  ccxo^  •  oi  Ss  oxtüg  Mivwg  Ssoixo,  en/.fj- 
pouv  ol  xäg  vsag"  &xe  Si]  Mivco  xe  xaxeoxpajiiJievou  y^l''  tioXXyjv  xal  euxu^sov- 
xog  x(p  TioXeiiip,  x6  Kapixöv  f^v  eS-vog  XoYt|iü)xaxov  xöv  sO-vetov  (x;rävxü)v 
xaxä  xo'jxöv  Sjia  xöv  y^pö-jow  ij.axp(|)  [liX'.axa.  xai  ocpi  xpi^ä  i^zu  pri\i  az  ex. 
ifi^Bzo,  xolo!.  0'.  "EXXyjve;  äy^pr^aoi.wxo  •  xai  yäp  iul  xd  xpävsa  X  ö  cp  o  u  g 
entSsio^'at  Käpej  elat  oi  xaxaSs^avxsg  xai  lul  xäg  äaniSag  xä  a  yj  [x  r^  t  a 
TioiEla&ai  xai  5  x  oc  v  a  äontoi.  o3xoi  etat  ot  Ttoivjoäiievoi  Tipcbxoi  •  xecüg  Ss 
äveu  dxävwv  icpöpsov  xäg  äoTitSag  Ticcvxsg,  ot:xep  iwö'soav  dantat  xf^'^jo^a-) 
XEXa^iwat  oxuxlvoiot  olvjxt^ovxeg  uspl  xoTai  aOxsat  xe  xai  xotat  dptaxepolot 
wiioioi  7:epixei}ievoi  •  |j.£xi  Sl  xoü;  Kdpag  x?^'''V  ö^xspov  noXXö  Acoptstg  xs 
xai  'Iwveg  igavdoxTjoav  £x  xöv  vr^otüv,  xai  cjicü?  I;  xt]v  Yjnetpov  d;iixovxo. 
Kaxd  [lev  5y]  Kdpag  ouxcü  K  p  ■^  x  e  g  XsYouai  y^veaS-at  •  ou  ixevxot  aOxol 
YE  6[jLoXoYeouoi  xoüxoiai  ot  Kdpeg,  dXXd  vojjiil^ouot  aOxol  Icüuxoüg  efvai 
aöxöx^ovag  TjKsipwxag  xai  xq3  övöjiaxt  xq)  aüxq)  alel  5'.axp£wp.£- 
voug  xcpnep  vSv.  Zuletzt  völlig  unzureichend  besprochen  von  Ph.  Kropp, 
die  minoisch-mykenische  Kultur  im  Lichte  der  Ueberlieferung  bei  He- 
rodot L.  1905,  13. 


Karer  und  Leleger.  435 

den  Inseln ;  denn  vor  Alters  hatten  sie  als  Untertanen  des 
Minos  unter  dem  Namen  Leleger  die  Inseln  inne. 
Sie  zahlten  aber  keinen  Zins,  soweit  ich  durch  möglichst 
ausgedehnte  Erkundigungen  erfahren  konnte,  sondern  bemann- 
ten, so  oft  Minos  es  brauchte,  dessen  Schiffe.  Da  nun  Minos 
viel  Land  unterworfen  hatte  und  im  Kriege  glücklich  war, 
war  das  karische  (damals  also  lelegisch  genannte)  Volk 
von  allen  Völkern  bei  weitem  das  angesehenste.  Und  sie 
(die  richtigen  Karer)  machten  3  Erfindungen,  die  die 
Hellenen  in  Gebrauch  nahmen ;  denn  die  Karer  waren  es, 
die  zuerst  zeigten,  den  Helmbusch  auf  die  Helme  zu 
binden  und  auf  die  Schilde  Schildzeichen  zu  machen, 
und  Handhaben  haben  sie  zuerst  an  die  Schilde  gemacht. 
Bis  dahin  trugen  alle  die  Schilde,  soweit  sie  Schilde  zu  ge- 
brauchen pflegten,  ohne  Handhabe  und  steuerten  sie  mit 
ledernen  Tragriemen  um  Nacken  und  linke  Schulter.  Lange 
Zeit  nachher  wurden  die  Karer  von  Dorern  und  Joniern  von 
den  Inseln  vertrieben  und  kamen  so  auf  das  Festland.  Ueber 
die  Karer  erzählen  so  die  Kreter.  Nicht  jedoch  stimmen  die 
Karer  selbst  mit  diesen  überein,  sondern  halten  sich  selbst 
für  alteingesessene  Festlandsbewohner,  und  immer  hätten  sie 
denselben  Namen  wie  jetzt  gehabt. 

Soweit  Herodot;  und  das  Letztere  ist  unbedingt  richtig, 
da  die  Karer  über  sich  selbst  doch  wohl  am  besten  Bescheid 
gewußt  haben.  Aber  auch  der  erste  Teil  der  Erzählung,  das, 
was  die  Kreter  sagen,  ist  durchaus  glaubwürdig,  wenn  wir 
ihn  auf  die  Leleger  beziehn  und  von  dem  Versehen  Herodots 
absehen,  diese  mit  den  Karern  zu  identifizieren,  wozu  er  ledig- 
lich durch  den  Umstand  veranlaßt  wurde,  daß  beide,  Karer 
und  Leleger  in  alter  Zeit  auf  den  griechischen  Inseln  bezeugt 
sind.  Seinen  Irrtum  haben  die  Späteren  übernommen,  wie 
Thukydid.  1.  4,  Philochoros  bei  Strabo  397,  Steph.  Byz.  272. 
6,  Ael.  NA.  12.  30.  Wir  werden  später  sehen,  daß  sich  das 
Auftreten  der  Karer  durch  ihre  sogenannten  Erfindungen  an 
der  Hand  der  Denkmäler  datieren  läßt;  wenn  sie  vor  den 
Griechen  auf  den  Inseln  gesessen  haben,  so  ist  dieses  unmög- 
lich in  minoischer  Zeit  der  Fall  gewesen.  Leleger  dagegen 
haben  wirklich  auf  den  Inseln  gesessen,  wo  sie  durchweg  als 

28* 


436  Wolf  Aly, 

Vertreter  der  mythischen  Urzeit  gelten,  vergl.  Fick  vorgr. 
Ortsn.  115.  Ich  wiederhole  hier  nur  die  Zeugnisse,  in  denen 
Leleger  ausdrücklich  genannt  sind,  und  sehe  von  den  auf  dem 
Namenschatze  beruhenden  Kombinationen  deshalb  ab,  weil  da 
allerdings  karisch  und  lelegisch  nicht  reinlich  zu  scheiden  ist. 
Auf  S  a  m  0  s  und  C  h  i  o  s  kennt  sie  der  schon  genannte  Phere- 
kydes,  Astypalaia  (die  Insel)  heißt  nach  Steph.  Byz.  140. 
10  Mutter  des  Ankaios,  des  alten  Lelegerkönigs  von  Samos, 
auf  Euboia  endlich  nennt  sie  Skymnos  571^^).  Von  den 
Karern  dagegen  wissen  wir  nur  folgendes.  Thukydides  1.  8 
giebt,  nachdem  er  1,  4  nach  Herodot,  dessen  Werk  er  offen- 
bar kennt,  kurz  über  Minos  und  dessen  Karer  referiert  hat, 
den  authentischen  Fundbericht  dessen,  was  sich  426  bei  der 
großen  Reinigung  der  Insel  Delos  ergab  ^"j :  Es  seien  über 
die  Hälfte  der  ausgenommenen  Gräber  karische  gewesen,  die 
man  an  der  mitbegrabenen  Waffenrüstung  und  der  Bestattungs- 
weise erkannt  habe.  Was  das  mit  den  Waffen  auf  sich  hat, 
ist  schwer  zu  sagen;  denn  die  oben  erwähnten  Erfindungen 
der  Karer  können  damit  nicht  gemeint  sein,  da  sie  zu  Thu- 
kydides Zeit  schon  längst  von  den  meisten  Griechen  übernom- 
men waren.  Vielleicht  meint  Thukydides  das,  was  Herodot 
5.  112  von  einem  karischen  Schildknappen  erzählt,  er  habe 
mit  einem  Sichelschwert  SpsTiavo)  gekämpft,  derselben  Waffe, 
deren  sich  auch  die  karischen  und  lykischen  Schiffe  nach 
Herodot  7.  92  —  93  bedient  haben.  Jedenfalls  klingt  der  Be- 
richt des  Thukydides  zuverlässig.  Der  Inhalt  dieser  Gräber, 
der  in  einer  großen  Grube  auf  Rheneia  gefunden  ist,  zeigt,  was 
für  Leute  diese  Thukydideischen  Karer  gewesen  sind.  Leider 
ist  außer  den  kurzen  Notizen  im  JHSt.  22.  47  noch  nichts  publi- 
ziert. Die  mit  außerordentlicher  Sorgfalt  von  Herrn  Ephoros 
Stavropulos  wieder  zusammengesetzten  Gefäße  befinden  sich  im 
Museum  von  Mykonos  und  gehören  dem  melischen,  rhodischen 

'^^)  npcüTou^  5'  SV  auTY;  (Euboia)  cpaatv  olxf;aat  npb  toO  (iiyäSag  auvoinoug 
Ai.XBfOLg,. 

■^)  AVjXou  yäp  xaO-ÄtpoiisvT]?;  unb  'A9-yjvoclü)v  äv  xcpSs  tw  uoXijJicp  xotl 
TÖv  9-yjx(T)v  ävaipc9-£'.acov,  Saai  •^^aav  xwv  teS-'/Süitcüv  Iv  xv;  vV^otp,  UTtep  y^ji'.oo 
Käpeg  ilyävrjaav,  yvcüad-svisj  zfi  zz  ay.Bu-Q  twv  dnXan  guvxeS-aiJiiisvv;  xai  xcp 
TpoTitp  w  V  ' j  V  sTt  ^ocTi-o'jat.  Aus  letzterem  geht  hervor,  daß  er  wirk- 
lich historische  Karer  meint.  WHgen  der  Waffen  vgl.  den  hettischea 
Krieger  mit  Sichelschwert  und  Rundschild  Perrot-Chipiez  IV  S.  741. 


Karer  und  Leleger.  437 

und  früliattisclien  Stile  an.  Die  ältesten  Gefäße,  protomelische 
und  protorliodische,  stehen  dem  geometrischen  Stile  sehr  nahe 
und  erinnern  etwa  an  die  ältesten  Münzen  von  Milet. 
Aelter  als  geometrisch  ist  nichts  ^').  So  weist  diese  Nach- 
richt die  Karer  deutlich  in  nachmykenische  Zeit.  Allerdings 
ist  es  möglich,  daß  auf  Rheneia  nur  ein  Teil  des  Gräberinhalts 
bisher  gefunden  ist ;  auf  Delos  sind  in  der  Tat  kürzlich  eine 
ganze  Menge  mykenische  Scherben  zu  Tage  getreten.  Wir 
müssen  also  mit  der  Möglichkeit  neuer  Funde  rechnen.  Die 
mykenischen  Scherben  auf  Delos  beweisen  aber  nichts,  da  diese 
Insel,  wie  schon  der  lykisch-kretische  Leto-Kult  und  die 
kretische  Britomartis  zeigen,  bereits  in  minoischer  Zeit  be- 
siedelt war  und  ähnlich  wie  Melos  und  Thera  unter  kretisch- 
lykischem  Einfluß  gestanden  hat. 

Die  übrigen  Nachrichten  von  den  Karern  sind  zeitlos. 
Abgesehen  von  S  y  m  e  und  anderen  Inseln,  die  unmittelbar 
zu  Karien  gehören,  hieß  Astypalaia  nach  Steph.  Byz, 
140.  9  Pyrrha,  „als  die  Karer  sie  inne  hatten",  Naxos 
nach  dems.  468.  8  von  einem  gleichnamigen  Führer  der  Karer. 
Auch  Kos  hieß  nach  Hellanikos  bei  Steph.  359.  15  Karis 
und  auf  Samos  gab  es  einen  Berg  Kariös  CJG  2905,  vgl. 
Aristoteles  bei  Rose,  A.  Fs.  p.  517.  Die  Stadt  Karis  auf  Chios 
nach  Ephoros  bei  Athen.  105  D  leitet  allerdings  Fick,  Hattiden 
u.  Danub.  15  wohl  mit  Recht  her  von  den  xapios;,  den  See- 
krebsen. Wenn  Nikolaos  Dam.  bei  Steph.  Byz.  580.  1  als  Be- 
wohner von  Skyros  Pelasger  und  Karer  nennt,  so  entnahm  er 
letztere  aus  Herodot,  was  übrigens  bei  den  übrigen  Zeugnissen 
nicht  ausgeschlossen  ist.  Auch  folgende  Kombination  ist  hier 
kaum  zu  verw^enden.  Wenn  Steph.  Byz.  331.  14  behauptet,  bei 
den  Karern  hieße  Hermes  Imbraraos,  so  ist  zwar  der  Name  der 
Insel  Imbros  offenbar  ein  sehr  nahestehendes  Wort ;  daß  Karer 
dort  gesessen  haben,  beweist  das  nicht.  Als  besonders  charak- 
teristisch hebe  ich  hervor,  daß  die  Karer,  wo  sie  überhaupt 
sicher  bezeugt  sind,  nie  in  die  mythische  Urzeit  verlegt  werden. 

Dazu  stimmt  nun,  was  uns  Reicheis  homerische 
Waffen  für  die  sogenannten  Erfindungen  der  Karer  gelehrt 

^'')  only   one  Mykenaean  vase    occurs   and  that   of  poor    and  late 
style. 


438  WolfAly, 

haben.  Es  handelt  sich  um  den  Helmbusch,  die  Handhabe 
des  Schildes  und  das  S  c  h  i  1  d  z  e  i  c  h  e  n.  Der  mykenische  Helm 
hatte  zwar  auch  einen  Busch,  doch  dieser  ist  von  dem  späteren 
griechischen  wesentlich  verschieden  imd  kam,  wie  Reichel 
Ab.  43  b  und  die  Faustkämpfervase  von  Hagia  Triada  zeigen, 
unmittelbar  aus  der  Helrakappe  hervor.  Die  Lophosröhre  des 
griechischen  Helmes  ist  vor  der  Aristonothosvase  nicht  nach- 
zuweisen (Reichel  99,  106,  110);  wie  aber  ein  karischer  Krie- 
ger ausgesehen  hat ,  lehrt  Plutarch  Artax.  10,  der  berichtet, 
die  Perser  hätten  des  Haarbuscbes  wegen  die  Karer  Hähne 
genannt  ^^).  Das  paßt  eben  so  schlecht  auf  den  mykenischen 
Helm  wie  gut  auf  den  griechischen  mit  der  Lophosröhre. 
Die  Handhabe  ist,  wie  Herodot  ganz  richtig  sagt,  an  dem 
großen  mykenischen  Schilde  nicht  vorhanden,  sondern  erst 
am  Rundschilde,  der  jünger  als  der  große  ist,  nachzuweisen, 
und  zwar  nicht  vor  dem  4.  Firnißstil.  Der  Rundschild  ist  im 
Osten  zu  Hause  ^^) ;  auch  die  Sardana,  die  wir  seit  Ramses  IL 
als  ägyptische  Söldner  kennen  und  die  ins  westliche  Klein- 
asien gehören,  führen  ihn,  während  die  westgriechischen  Dorer 
den  homerischen  Schild  beibehalten  haben,  vgl.  Handb.  IV  1. 
2.  304.  Auch  das  Schildzeichen  hat  erst  Sinn  am  Rund- 
schild; es  ist  ein  Zeichen  verständnisloser  Interpolation,  wenn 
der  Verfasser  von  II.  11.  36 — 37  dem  mykenischen  Schilde 
ein  Schildzeichen  gibt,  wie  Reichel  42  näher  ausgeführt  hat. 
Auf  die  Karer  also  führte  man  eine  sehr  bedeutsame 
Aenderung  des  Kriegswesens,  die  gegen  Ende  der  mykenischen 
Epoche  eingetreten  ist,  zurück.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  an 
der  Richtigkeit  der  Tradition  zu  zweifeln.  Wir  kennen  wirk- 
lich die  Karer  als  Söldner  in  Hellas  seit  Archilochos,  vgl. 
auch  Strabo  662^°)  und  sehen  deutlich,  wann  und  warum  ^^) 
sie  nach  Hellas  gekommen  sind.  In  diesem  Zusammenhang 
seien  die  noch  fehlenden  Zeugnisse   aus  dem  Mutterlande  und 

^^)  Kai  yap  aütoüc  xoüg  Käpaj  äXEXxpudvas  ol  Ilepaai  Sia  •coüg  Xöcpoug, 
ofg  v.oo\i.omi  ICC  xpccvYj,  upGarjyopeuov. 

»ö)  Vgl.  Heibig,  österr.  Jahreshefte  XII  1905  S.  1,  besonders  S.  44, 
der  andere,  wenig  wahrscheinliche  Gründe  für  das  Fehlen  des  Rund- 
schildes auf  mykenischen  Denkmälern  anführt. 

3°)  Outot  de  (die  Karer)  xaO-'  öXr^v  inXavVj'S-TjTav  iyjv  'EXXäSa  tita&oü 
OTpaTEÜovieg  vgl.  Anm.  37. 

^')  Vgl.  auch  ihr  Auftreten  als  Seeräuber  s.  u.  Eine  geschlossene 
Wanderung  des  Volkes  ist  es  nicht  gewesen. 


Karer  und  Leleger.  439 

den  Kolonien  angeführt ,  die  deutlich  zeigen ,  daß  die  Le- 
leger durchaus  der  mythischen  Zeit  angehören ,  während 
die  Karer  in  historischer  Zeit  mit  den  Hellenen  mehrfach  in 
enger  Verbindung  gestanden  haben. 

Die  Leleger  werden  häufig  in  der  allerältesten  Sagen- 
geschichte vieler  griechischer  Städte  genannt.  Unsere  Quellen 
sind  verhältnismäßig  gut,  teils  Reste  des  Heroenkultes  teils 
epische  Tradition.  In  Sparta  in  der  Gegend  von  Aphetai 
hatte  Lelex  ein  Heroon,  wie  Paus.  3.  12.  5  erzählt.  Die 
Nachricht  giebt  nicht  viel  aus;  doch  zeigt  sie,  daß  man  ein- 
mal den  Lelex  als  einen  der  Urväter  gedacht  hat,  dessen 
Grab  man  pflegte.  Daher  soll  nun  auch  Lakedaimon  Lelegia 
geheißen  haben  Paus.  4.  1.  2,  Lelex  ist  der  älteste  König, 
älter  als  Amyklas  und  all  die  andern  Paus.  3.  1.  1.  Steph. 
Byz.  407.  1.  Auch  Messenien  wird  von  Paus.  4.  1.  2  nach- 
träglich in  diesen  Zusammenhang  gezogen,  da  es  nach  der 
Schwiegertochter  des  Lelex  benannt  sein  soll.  Megarische 
Leleger  nennt  Paus.  4.  36.  1.  in  Pylos.  Solideren  Boden 
treffen  wir  erst  in  Megara,  wo  ein  solches  Ahnengrab  am 
Abhang  der  Burg  Nisaia  nach  dem  Meere  zu  lag  Paus.  1. 
44.  3  ^^).  Lelex  soll  aus  Aegypten  gekommen  sein  Paus.  1, 
39.  6.  Das  hängt  offenbar  zusammen  mit  dem  in  den  Hiketiden 
des  Aischylos  niedergelegten  Sagenkreise  und  muß  irgendwie  auf 
reeller  Grundlage  beruhen,  da  Aegypten  nun  einmal  das  alte 
Kulturland  ist,  und  die  Beziehungen  Megaras  zu  Kreta,  einer 
Station  auf  dem  Wege  dorthin,  bekannt  sind.  Doch  haftet 
die  Tradition,  wie  die  Sage  des  Danaos  zeigt,  nicht  an  dem 
Namen  des  Lelex ;  man  hat  eine  bekannte  Sage  auf  den  Orts- 
heros übertragen.  In  denselben  Kreis  gehört  noch  Trozen, 
wo  allerdings  nur  Ovid  met.  8.  567,  623  den  Helden  Lelex 
kennt.  Zu  diesen  Spuren  muß  die  alte  Bevölkerung  von  Arkadien 
und  der  Kynuria  in  irgend  welcher  Beziehung  stehen ;  genaueres 
ist  nicht  bekannt. 

Dieser  Peloponnesische  Lelegerkreis  ist  von  dem  mittel- 
griechischen   zu    trennen,    der    von   Leukas   bis   nach    Euboia 


**)  Kaxaßäai  5s  sn  zr^Q  dxpoTtöXscüg  (Nisaia)  |iVYip,ä  kau  Tipög  S-aXäaaij 
AeXeyog,  ov  d'^tx&iiEvov  ßaaoXeöaai  Xifouaiy  l§  AIyutixoü,  naiSa  Se  elvat 
IlooetScüvog  xal  AißÜYjg  xfjS  'Eudcfou. 


440  Wolf  Aly, 

reicht.  Unser  ältester  Zeuge  ist  Hesiod  Frg.  115  Rz'^).  der 
den  L  o  k  r  o  s  Führer  lelegischer  Völker  nennt.  Alles  Uebrige 
verdanken  wir  den  Politien  des  Aristoteles,  aus  denen  Strabo 
822  ^^)  berichtet,  die  Leleger  hätten  besessen  :  den  westlichen 
Teil  von  Akarnanien  und  die  Insel  Leukas,  Lokris 
und  B  öo  t  i  e  n.  Auf  E  u  b  o  i  a ,  das  eng  dazu  gehört,  kennen  wir 
sie  schon.  Wir  sind  nicht  berechtigt,  das  alles  für  Konstruk- 
tion zu  halten.  Denn  wenn  Aristoteles  den  Namen  Leleger  in 
weiterem  Umfange  als  andere  gebraucht,  so  wird  er  dazu 
seinen  Grund  gehabt  haben ;  Reste  ungriechischer  Stämme  hat 
es  sicher  in  jenen  entlegenen  Gegenden  gegeben.  Vereinzelt 
steht  die  Mitteilung  bei  Steph.  Byz.  89,  1  ^^)  nach  Suidas, 
Amyros  östlich  des  boibeischen  Sees  sei  lelegisch  gewesen. 

Niemand  wird  behaupten  wollen,  wir  seien  über  die  Aus- 
dehnung der  Leleger  oder  der  Stämme,  die  diesen  Namen  ver- 
dienen, vollständig  orientiert.  Doch  zeigen  die  Angaben  der 
Alten  deutlich,  daß  eine  geschlossene  einheitliche  Urbevölke- 
rung durch  die  von  Norden  her  einbrechenden  Griechenstämme 
auseinandergesprengt  und  bei  Seite  gedrängt  ist.  Wir  finden 
sie  daher  vorwiegend  in  abseitsliegenden  Winkeln  Griechen- 
lands, im  äußersten  Osten,  im  Westen,  im  Süden.  Besonders 
die  Zersplitterung  des  lokrischen  Stammes  ist  ein  bleibendes 
Denkmal,  daß  es  Avirklich  so  gewesen  ist,  wie  die  griechische 
Tradition  lehrt.  Ich  meine  natürlich  mit  der  Südwanderung 
der  Griechen  nicht  die  dorische  Wanderung,  sondern  das 
erste  Vordringen  griechischer  Stämme,  das  an  den  Namen  der 
Achäer  anknüpft,  obgleich  auch  dieser  nur  als  pars  pro  toto 
verstanden  werden  darf.  Damals  also  hat  sich  eine  Schicht 
griechischer  Stämme  über  die  lelegische  Urbevölkerung  gelegt. 
Nach  der  dorischen  Wanderung  gibt   es  im  Mutterland  keine 

")  'H  TOI  yäp  Ao-Kpbc,  A  s  X  e  y  w  v  7iYr;aato  Xaöv,  xo'jg  |5ä  ixoxe  KpovCdrjc 
Zeug  ä90-tTa  |j.T(§ea  el5(b;  Xextou;  £x  yatyjs  dXsag  Tidpe  AsuxaXitüvi.  Da- 
nach Piin.  NH  4.  27,  für  Physkos  in  Lokris  auch  Steph.  Byz.  675.   10. 

2*)  'Ev  [lev  yäp  xfi  'Axapvävwv  cfYjal  (Aristoteles  in  der  entspr. 
Politie)  TÖ  jiev  exetv  aOx'^f  Koup^^iaj,  lö  bk  TipoasoTceptov  AeXeyag,  slza. 
TyjXeßdaj.  'Ev  Se  x^  xwv  AixwXcöv  xoOs  vöv  A  oy.  p  ob  c,  AeXeyas 
xaXei  •  xaxaoy^eiv  5e  y.al  xy)v  B  o  i  ü)  x  l  a  v  aüxo'jg  cpyjotv  •  ö[j.oiü)g  5s  v.ai  sv 
T-^  '0  71 0  u  V  X  ( 0)  V  xal  M  e  Y  a  p  £  tu  V.  'Ev  51  x-^  A  e  u  x  a  S  i  cu  v  xai  aOxöx- 
5«vd  xiva  AeXeya  övoiid^eu 

'^)  "Ajiupog  TiöXic  öeoaaXiag  .  .  .  SooiSag  5'  sv  xtxig  YevsaXoyiatc  6xt 
ouxot  sxaXoövxo  'Eop5o£,  öaxepov  Se  AeXeysg. 


Karer  und  Leleger.  441 

Leleger  mehr ;  sie  sind  aufgesogen,  wie  überhaupt  eine  dreifache 
Schichtung  nur  ganz  gelegentlich,  z.  B.  in  Lakedaimon,  nach- 
zuweisen ist. 

Ganz  anders  ist  das  Bild,  das  uns  die  Ueberlieferung  von 
dem  Verhältnis  der  Karer  zu  den  Hellenen  entwirft.  Keine 
Spur  weist  in  heroische  Zeit  zurück,  alles  spricht  für  ein 
intimes  Zusammenleben  seit  frühhistorischer  Zeit,  eine  Ver- 
bindung, in  der  freilich  die  Hellenen  allein  das  führende 
und  kulturbringende  Element  gewesen  sind.  In  Athen 
opferte  die  Familie  des  Isagoras  nach  Herod.  5.  66  ^'^)  dem 
Zeus  Kariös;  das  kann  nach  dem,  was  wir  von  diesem  Gotte 
wissen,  nur  bedeuten,  daß  die  Sippe  aus  Karlen  stammte  und 
sich  dessen  noch  erinnerte.  Ein  Karer  ist  auch  jener  Exeke- 
stides,  den  Aristophanes  in  den  Vögeln  764  verhöhnt.  Auch 
der  Sklavenname  Karion  gehört  hierher  '").  Das  Orakel  vom 
Ptoion  konnte  noch  im  Jahre  479  dem  Abgesandten  des 
Mardonius,  Mys  von  Euromus  in  Karlen,  in  seiner  Mutter- 
sprache Bescheid  geben  nach  Herod.  8.  135^®);  unsichere 
Spuren  scheinen  nach  Epidauros  und  H  e  r  m  i  o  n  e  zu 
weisen  ^^).  Auch  auf  die  Verbindung  der  Karer  mit  Phöniziern 
bei  Thuk.   1.  8  sei  hingewiesen. 


'*)  Oüouat,  Se  oi  ouyysvsls  aÜToü  (des  Isagoras)  All  Kaptö). 

3^)  El  5s  SoöXög  ioTt  y.al  Kap  wgnsp  'EgrjXsatiSyjg.  Für  Kapiwv  vgl. 
Pape-Benseler  624;  bemerkenswert  ist  schol.  Fiat.  Lach.  187  B:  Käpsg 
yäp  Soxoöot  np&zoi  iii.o9-ocfopy)oai,  69-ev  xal  elg  itöXsfiov  auxoüg  upoitax-cov. 
'EvTsO^)-EV  yctp  xal  xo'j;  |xtxpoüg  oxpaTitöxag  xtvsg  K  a  p  i  (ü  v  a  g 
Tipoayjyöpsuov. 

2*)  .  .  ,  xal  Txpöxaxs  xöv  Tcpöjiavxtv  ßapßäpcp  yXwaarj  XP*^  •  •  •  "^^"^  ^'^ 
Eöpcüjisa  MOv  sgapTxäaavxa  ixap'  aüxöv  xyjv  ecpspovxo  SsXxov,  xä  Xey6\is\(x. 
ÜTtö  xou  Txpocf rjxou  Ypäcfeiv  ig  auxrjv,  cpdvat  5s  K  a  p  i  •)[)  |iiv  yX(baa'Q  y^pöLv, 
danach  Paus.  9.  23.  6. 

^^)  Nicht  hierher  gehört  die  Burg  K  a  r  i  a  von  Megara.  Der 
Name  (bei  Paus.  1.  40.  6,  Steph.  Byz.  o59.  12)  ist  von  König  Kar  ab- 
geleitet, wie  Kadmeia,  Kekropia,  Minoa.  Sein  Grab  auf  dem  Wege 
nach  Korinth  Paus.  1.  44.  6.  Dieser  selbst  gehört  wieder  zusammen 
mit  dem  Gott  (Apollon)  Kaplvog,  dessen  pyramidalen  Stein  im  alten 
Gymnasion  von  Megara  Paus.  1.  44.  2  nennt.  Mit  dem  Karneios  (so 
Wide  Laken.  Kulte  S.  86)  hat  er  nichts  zu  tun.  Nach  der  Form  seines 
Fetisch  steht  er  eher  dem  Agyieus  nahe.  Ueber  das  Suflfix-tvo;  vgl. 
Kret.  ApoUonk.  S.  21.  Nun  ist  als  Name  des  alten  Gott-Königs  die 
Bezeichnung  „der  Karer "  undenkbar.  Viel  eher  möchte  man  Zeus  Ka- 
raios  von  Böotien  heranziehen  (vgl.  Hesych,  JG.  7.  3208,  Kratin  II  85 
Meineke,  wonach  Photios  lex.  Käpiog  Zeü?  zu  korrigieren  ist.  Dazu 
die  Eigennamen  KaptXog  in  Selinunt  JGA  57,  Kapiwv  im  Kopai  CB 
bb6.  5  (nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Sklavennamen  Cärio)? 


442  Wolf  Aly, 

Endlich  sind  Karer  auch  in  die  Kolonien  gekommen. 
Am  P  o  n  t  u  s  gab  es  einen  Karerhafen  *°),  in  Memphis 
hießen  die  beiden  Fremdenviertel  nach  Steph.  Byz.  359.  20  u. 
268.  9*^)  Hellenikon  und  Karikon,  ein  Zeichen,  daß,  seit 
überhaupt  Fremde  nach  Aegypten  hineingelassen  wurden,  Hel- 
lenen und  Karer  Hand  in  Hand  gegangen  sind.  So  treten 
beide  zusammen  auch  als  Söldner  in  ägyptischen  Diensten  bei 
Herodot  3.  11  auf.  Karer  scheinen  ebenso  an  den  Söldner- 
inschriften von  Abu  Simbel  *^)  beteiligt  gewesen  zu  sein.  Dazu 
noch  ein  Punkt  aus  dem  Privatleben :  Herod.  5.  88  versichert 
uns,  die  ionische  Kleidung  sei  ursprünglich  karisch  gewesen. 
Und  auch  die  Stellung  der  Karer  im  griechischen  Sprichwort 
lehrt  ein  Zusammenleben  in  historischer  Zeit,  z.  B.:  Schlimm 
sind  die  Lyder,  schlimmer  die  Aegypter,  am  schlimmsten  von 
allen  die  Karer  (als  Seeräuber)  oder:  Den  Karer  karisch  be- 
handeln, etwa  in  dem  Sinne:  Auf  einen  groben  Klotz  gehört 
ein  grober  Keil  ^^). 

Zum  Schluß  sei  bemerkt,  daß  unbeirrt  durch  den  von 
Herodot  verschuldeten  Irrtum  die  antike  Gelehrsamkeit  bereits 
das  Richtige  gesehen  hat.  Der  Chronograph  bei  Diodor  5. 
84  ■**)  sagt,  nachdem  er  die  Thalossakratie  des  Minos  vor  dem 

Danach  ist  Fick  VO.  111  zu  korrigieren:  Nicht  die  Leleger  erschie- 
nen später  als  die  Karer  in  Megara,  vgl.  Paus.  1.  39.  6,  sondern  vor 
die  Leleger  setzte  die  Sage  bereits  den  alten  Gott-König  Kar.  Dies 
ist  übrigens  die  einzige  Spur  einer  Lelegerwanderung. 

Ebenso  ist  wohl  über  Aristoteles  bei  Strabo  374  zu  urteilen:  tj  5'  'Eui- 
5ai}pog  IxaXelxo  'EuL^apog  •  cpv;ot  yäp  'ApiaxoxeXvjg  xaiaa^slv  auTY)v  Kapag 
üjoTisp  v.(xX  'EpiiLovyjv.  Die  Quantität  des  a  würde  entscheiden.  Wie  soll 
denn  überhaupt  'Eirixocpog  von  dem  Volksnamen  der  Karer  abgeleitet 
sein? 

^")  Kapöv  Xt[jiYjV  vgl.  Pape-Benseler  620 ,  wegen  des  Namen  vgl. 
Kapwv  äaxu  am  Taurus  App.  b.  civ.  1.  97,  Kapwv  xü)|jLai  in  Babylonien 
(Deportation)  Diod.  19.  12.  1. 

*')  KaptxGv  xöuog  ISicci^cüv  4v  Meiicp'.Si,  ev9-a  Kapeg  clxT^oavte^  iTriyaii^as 
Ttpög  M£p,cpiTag  7iOLyjaäp.svoi  KapojxejJicptxat,  ix^TiS-rjoav  —  'EAXvjvixöv  vcal 
•Kapixöv  TOTiot  dv  Me[iq;t,§i. 

^■^)  Vgl.   CB.  5261  a  Anm.  zu  HsXsqog. 

*^)  AuSol  TTOvyjpol,  Seüxepoi  5'  Aly'Juxtoi,  -rpixot.  81  uävxwv  Kapsg  igw- 
Xsaxaxoi  und  upög  Kapa  xapi^sif;,  Stellen  bei  Pape-Benseler  620,  wo 
fälschlich  hierher  gezogen  ist:  'Ev  xapl  6|Jiiv  6  xiv5uvog  „um  nichts". 

*■•)  Msxä  51  XYjv  Tpoia?  äcXioaiv  Käpsj  aOgrjO-svxss  era  xö  TiXelov  iO-aXaxxo- 
xpocxr^oav  xaL  xwv  KuxXdScüv  vrpwv  "/.paxrjOavxeg  xtvä;  pisv  IStq:  xaxsaxov 
xai  xoüg  £v  auxalg  xaxoixoOvxas  Kpfjxag  egeßaXov  xiväg  5s  xoiv^  |Ji£xä  xöv 
Tcposvoixoüvxtüv  Kpr;X(Jöv  xaxqjxrpav.  uaxepov  5s  xwv  'EXXt^vcüv  aü^Y)9-evxtüv, 
ouveßyj  lä-z  uXstouc;  xwv  KuxXdcScov  ^-i^Qw^i  olxio&Yjvai  xal  loüg  ßapßäpoug  Kä- 
pag  ig  aüxcöv  exjtEoelv. 


Karer  und  Leleger.  443 

Troika  erwähnt  hat:  Nach  der  Einnahme  von  Troia 
wuchsen  die  Karer  gewaltig  und  herrschten  zur  See.  Die 
Kykladen  eroberten  sie  und  behielten  sie  teils  selbst,  nachdem 
sie  die  dort  wohnenden  Kreter  hinausgeworfen  hatten,  teils 
bewohnten  sie  sie  gemeinsam  mit  den  alten  kretischen  Ein- 
wohnern. Später  als  die  Hellenen  wuchsen,  geschah  es,  daß 
die  meisten  Kykladen  besiedelt  und  die  barbarischen  Karer 
hinausgeworfen  wurden.^  Woher  er  diese  Kenntnis  geschöpft 
hat,  kann  uns  hier  gleichgültig  sein;  jedenfalls  hat  er  Recht. 
Die  Leleger  nennt  er  Kreter,  wie  auch  schon  von  E.  Meyer  her- 
vorgehoben wurde,  daß  der  Name  der  Leleger,  wie  die  home- 
rischen Zeugnisse  zeigen,  vei'hältnismäßig  jung  ist.  Auch  das 
beweist;  denn  so  lange  ein  lebendiges  Zusammenleben  griechi- 
scher und  nichtgriechischer  Stämme  bestand,  wird  man  geneigt 
gewesen  sein,  die  Einzelstämme  individuell  zu  bezeichnen.  Das 
ist  Brauch  im  alten  Epos.  Mit  der  dorischen  Wanderung  hört 
ihre  selbständige  Existenz  auf.  Man  hat  damals  versucht,  die 
nichtgriechischen  Elemente  unter  dem  Namen  Leleger  zusam- 
menzufassen, ohne  daß  derselbe  durchgedrungen  ist.  Später 
hat  eine  vollständige  Vermengung  mit  Pelasgern,  Tyrsenern, 
Minyern  und  Kretern  dazu  geführt,  mit  diesem  Namen  nichts 
anderes  als  eine  bestimmte  Art  von  Barbaren  zu  bezeichnen. 
Wir  besitzen  in  dieser  Vermengung  ein  Anzeichen  für  die 
ethnologische  Zusammengehörigkeit  der  genannten  Stämme. 

Ich  kehre  zum  Ausgangspunkt  zurück.  Obgleich  Urver- 
wandtschaft der  Kreter  und  Leleger  mit  den  „Kleinasiaten" 
nicht  geleugnet  werden  kann,  ist  doch  die  Verbindung  früh- 
zeitig unterbrochen.  Nur  Lykien,  Labraunda,  Troas,  Tenedos 
u.  a.  scheinen  Reste  des  alten  Bestandes  zu  sein.  Die  Grenze 
ist  noch  heute  erkennbar.  Die  kleinasiatische  Lautverschiebung 
von  nth  zu  nd  reicht  bis  nach  Rhodos  (Lindos,  Kamyndos,  Bry- 
gindara),  während  sie  auf  Kreta  unbekannt  ist  (vgl.  Laby- 
rinthes, Radamanthys,  Pyranthos,  Syrinthos,  Berekynthos). 
Und  auch  die  archäologischen  Tatsachen  scheinen,  bisher  wenig- 
stens, soweit  aus  den  wenigen  Funden  geurteilt  werden  darf, 
dafür  zu  sprechen;  weder  auf  Rhodos  noch  in  Milet  ist  bis- 
her Altkretisches  gefunden.  Mit  dem  Zusammenbruch  des 
Hettiterreichs    von    ßoghazkiöi    und    der    Einwanderung    der 


444  Wolf  Aly,    Karer  und  Leleger. 

Phryger  im  Norden  ist  auch  im  Süden  mit  der  Gründung  von 
Milet,  Priene,  Magnesia,  Ephesos  von  Kreta  aus  die  Grenze 
überschritten ;  damals  muß  auch  der  Vorstoß  der  Karer,  Lyder, 
Myser  von  Osten  nach  Westen  stattgefunden  haben  ^^) ,  der 
sich  bis  in  historische  Zeit  fortsetzt.  Nach  dem  Zusammen- 
bruch des  Minosreiches  haben  die  Stürme  der  dorisch-ionischen 
Wanderung  die  Grundlage  für  die  eigentlich  ionische  Kultur 
unter  starken  Einfluß  des  Orients  geschaffen  und  die  älteren 
Beziehungen  verdunkelt. 

So  teilt  die  kretische  Religion  nur  die  Anfänge  mit 
Kleinasien,  das  seine  eigene  sehr  komplizierte  Geschichte  hat. 
Für  die  weitere  Entwicklung  dürfen  wir  Material  nur  in 
Hellas,  Lykien,  der  Troas,  auf  den  Inseln  und  gelegentlich 
als  älteste  Schicht  in  Kleinasien  erwarten.  Unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt wäre  eine  Analyse  der  kleinasiatischen  Kulte,  vor 
allem  unter  Benützung  der  Inschriften,  sehr  wünschenswert. 
Auf  Kreta  werden  leider  die  griechischen  und  römischen  Denk- 
mäler und  Inschriften  bisher  den  minoischen  gegenüber  ver- 
nachlässigt, sodaß  wir  erst  später  auf  mehr  Material  und  mehr 
Klarheit  hoffen  dürfen. 

Freiburg  i.  B.  Wolf  Ali/. 


")  Aebnlich    äußert    sich    bereits  Dümmler  AM    11.  45,    vgl.  auch 
Thraemer  Pergamos  L.  1888  S.  356  ff. 


Miscellen. 

6.  T5dt>y. 

(Zu  dem  Schifferlied  aus  Oxyrhynchos) 

NaOxac  ßu'O-oxufAaxoSpojAOt 
äXc'wv  TpcTwves  Ooaxwv, 
xa:  NecXöxac  yX'JxuSpG|j,oc 

xa  yeXwvxa  uXeovxsg  u  6  a  x  7] , 
5     XTjV  auyxpcatv  eiTiaxe  cpi'XoL 

neXdyouc,  v.al  Nei'Xou  yovcfxou. 
Diesen  Sechszeiler  haben  Grenfell  und  Hunt,  Oxyrli. 
Pap.  III  Nr.  425  aus  einem  Papyrus  des  2.  oder  3.  Jahrh. 
n.  Chr.  ediert.  Wilamowitz  schreibt  in  den  Gott.  Gel.  Anz. 
1904,  670 \  einige  Irrtümer  der  Herausgeber  stillschweigend 
korrigierend:  „Ein  merkwürdiges  Liedchen  der  Nilschiffer,  un- 
versehrt   erhalten,   Versmaß  ^^  —  ^^  —  |  --  ^ ^    zum  Schluß 

-  -  ^ ^).     Sinn  'Seeschiffer  und  Nilschiffer,  zieht  einmal  eine 

Parallele  zwischen  See  und  Nil',  da  konnten  zahllose  Verse 
auf  dieselbe  Melodie  improvisiert  werden"^).  Als  Einleitung 
zu  einem  poetischen  Agon  bezeichnet  die  Verse  Crusius  Philol. 
66,  315. 

Statt  uSaxr]  haben  die  Herausgeber  (zuletzt  Crönert,  Rhein. 
Mus.  64,  444  f.)  üoaxa  in  den  Text  gesetzt.  Aber  auch  diese 
Stelle  ist  unversehrt :  das  zeigt  die  Metrik.  Wir  besitzen  ein 
umfangreicheres  Lied  des  gleichen  Maßes,  den  auf  einem  Pa- 
pyrus   des    angehenden    4.  Jahrh.  ^)   überlieferten    christlichen 

^)  Ich  lese  lieber  NsiXob.  Für  Verkürzungen  unbetonter  Silben 
bietet  der  Amherst-Hymnus  (Anm.  3)  genügend  Beispiele. 

^)  Die  o'JyxpLatg  spielt  schon  in  das  Prooimion  hinein:  aXtwv  und 
yXuy.ubp6\ioi  sind  im  engsten  Sinn  zu  fassen ;  aus  yciV'.\iou  hört  man 
leicht  ätpuyexoug  zu  TieXävouc;  heraus;  auch  Tpiicüveg  klingt  wie  Spott. 
Es  war  wohl  eine  Art  Trutzgesang  eingeleitet. 

ä)  Amherst-Papyri  ed.  Grenfell  and  Hunt,  23  mit  Tafel  II;  auch 
in  Cabrols  Dictioniiaire  d'archeol.  ehret,  et  de  liturgie  I  s.  v.  acro- 
stiche  mit  Tafel  und  bei  Wessely  in  der  Patrologia  orientalis  IV  205. 


446  Miscellen. 

Taufhymnus,  ein  alphabetisches  Akrostichon  in  Tristichen  wie 
dieses : 

Jrpoüc,  6  Tia'ö'WV  ivl  tuttocs*) 
tTcwv  Ott  vwxa  Tcapexw 
tva  [xr]  •9'avdTW  TiepcKsarj^g). 
Die  etwa  70  erhaltenen  Verschlüsse  sind  bis  auf  10^  ■9'Eou  par- 
oxytonisch,  die  Schlußsilben  fast  alle  lang^).     Die  gleichen  Ge- 
setze gelten  für  das  Schifferlied ;    somit  ist  uddzrj  gesichert  und 
gleichzeitig   erklärt,    warum    der  Dichter,    ein  Mann  aus  dem 
Volk,  wie  es  scheint,  die  seltsame  Form  ^)  hervorgeholt  hat. 

Nebenbei:  durch  die  Identität  des  Metrums  in  diesen  so  ver- 
schiedenartigen Dichtungen  fällt  Licht  auf  die  Tatsache,  daß 
Areios  seine  religiösen  Ideen  in  Müller-,  Schiffer-  und  der- 
gleichen Liedern  verbreitet  hat  (Philostorgios  2,  2). 

München.  Patd  Maas. 


7.  Zu  Thuk.  I,  24,  3. 

Ta  xeXeuxaca  npb  xoOSe  xoö  7ioXe{i,ou  6  S^fios  aöxwv  (d.  i. 
xwv  'ETCioa|xvt(i)v)  s^eoLW^e  lobc,  ouvaxou?,  ol  ok  dTieX-S'övxes 
fjiexd  xü)V  papßdpwv  eXtj^ovxo  xou;  ev  xrj  nöXei  xaxd  xe  yfjv  xac 
xaxa  •9'dXaaaav.  Krüger  bemerkt:  „dTcsXQovxes  nach  ihrer 
Vertreibung;  ineXd-oyxec,  vermutete  Haase  Lucubr.  p.  60". 
Böhme-Widmann:  „dTieXÖGVxe^  sc.  ex  xf^;  TioXew?  Tzpbc,  xoü; 
ßapßdpou^".  Fr.  Müller  (Kommentar,  Leipzig  1894)  nimmt 
„oi  in  eld-  öv  X  B  Q  =  ol  cpeuyovxe?,  die  zu  den  Barbaren  über- 
gegangenen Vertriebenen".  Classen-Steup:  „ 1 7i  eX^övxe^  mußte 
mit  Haase  st.  aneld-ovxec,  der  Hss.  geschrieben  werden;  denn 
der  enge  Zusammenhang  des  part.  aor.  mit  dem  vb.  finitum 
verlangt  eine  unmittelbare  Einwirkung  des  erstem  auf  das 
zweite  (iXfjt^ovxo),  die  in  dem  Ueberfall  (eTieXx^ovxe?),  nicht 


*)  ETO  TOUTots(?)  Pap,:  corr.  G.-H.,  cf.  10^.  IP.  IT». 

^)  3*  Y'^lJ-°"'  TjXu&ss  ßaaiXf/og  Pap.:  lies  ßaaiXewg,  auch  wegen  der 
Paenultima.  Da  7^  .  .  .  Xov  nichts  beweist,  ist  5^  [iaxpö&ev  die  einzige 
sichere  Ausnahme.  Länge  der  Schlußsilbe  ist  Regel  bei  Babrios,  bei 
einigen  Anakreontikern  (vgl.  Crusius,  Philo).  47,  23ti),  streckenweise  bei 
Synesios,  und,  unter  gleichzeitiger  Vermeidung  des  Hiatus,  in  den 
Anakreonteen  der  Tragopodagra  30 — 58.  Durchgebende  Paroxytonese 
ist  nach  Babrios  erst  im  4.  Jahrh.  wieder  bezeugt,  doch  läßt  sich  eine 
Vorstufe,  vermiedene  Endbetonung,  schon  im  3.  Jahrh.  v.  Chr.  erkennen 
(Hanssen,  Rhein.  Mus.  38,  220  ff.). 

')  mXd-{yi  mag  eingewirkt  haben,  Krumbacher  erinnert  mich  an 
neugr.  SevSpyj. 


Miscellen.  447 

in  dem  Abzug  (aueX^oviEi;)  enthalten  ist".  Der  in  diesen 
Erklärungen   nicht   gesuchte   Gegensatz   zu    e^eoo'to^e  (d.  i.   ex 

xfiQ  TioXeco;,  sc.  Ttpbc,  xou?  ßapßäpou«;,  denn  Tcpoaocxoöac  auxT]v 
(d.  i.  'EucSafxvov)  TauXavxLOt.  ßapßapo^,  h.  es  §  1  desselben  Ka- 
pitels) ist  zweifellos  —  iTiaveX^-ovxzc, ,  wie,  wenn  zu  ändern 
wäre ,  geändert  werden  müßte ,  aber  das  überlieferte 
d7ieX\)'6vT£;  kann  das  ja  mit  und  ohne  in  ol'xou  heißen 
(z.  B.  I,  92,  2  ol  npea^eic,  exatspcov  aKfiXd-ov  in  oiy.o\)  äveni- 
xXrjxws;  I,  95,  6  ol  §e  ala%-Q\i£yoi  dnfjX9-ov;  III,  4,4  7i£[ji,7toi)- 
otv  ic,  xd?  'A^Yjvac;  oi  MuxcXrjvato:  — ,  eC  tiw?  Tcetaeiav  xd;  vaü; 
dixeXiJ-ecv) ;  es  gehört  [Jiexd  xwv  ßapßdpwv  zu  beiden  Verbalbe- 
grilfen,  und  das  umständliche  ol  de  dneXd-ö^xec,  dnb  xöv  ßap- 
ßdpwv  in  ol'xoi)  ptsxd  xwv  ßapßdpwv  hXfiQovxo  xou;  ev  xv)  nöXei 
—  hat  Thukydides  gekürzt. 

Leipzig.  Johannes  Baunack. 


8.  Zu  Vergils  Eclog.  I  59.  60. 

Die  Verse  Vergils    Eclog.  I  59.  60    las    man    bis   in  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  immer  so: 

Ante  leves  ergo  pascentur  in  aethere  cervi 
Et  freta  destituent  nudos  in  litore  pisces. 
Die  Lesart  aethere  bieten  P.  R.a.  b.  c. ,  Servius,  Aldhelm,  Probus 
in  Institut,  artium  (=  H.  Keil,  Grammatici  latini  IV  149,  3) 
und  Priscianus  (=  M.Hertz,  Grammat.  lat.  III  26,  11),  während 
Wakefield  aus  dem  Codex  Moretanus  4.  aeqitore  einsetzte,  was 
schon  Gerda,  Burmaun  und  Triller  (()bservat.  criticae  p.  27) 
vorgeschlagen  hatten;  aequore  wurde  dann  durch  H.  Keil  im 
Philologus  II  (1847)  S.  166  aus  M.  Valerius  Probus  nachge- 
wiesen, [vgl.  M.  Valerii  Probi  Commentarius  in  Vergilii  Buco- 
lica  et  Georgica  ed.  H.  Keil  (1848)  p.  5,  13]  und  seitdem 
lesen  an  dieser  Stelle  aequore  0.  Ribbeck,  sowohl  in  seiner 
großen  Ausgabe  (vgl.  auch  seine  Prolegomena  p.  165)  als  in 
seiner  Textausgabe,  ferner  Ladewig- Schaper,  während  sich 
Ameis  (Spicileg.  explicat.  Vergil.  1851  p.  3),  Schenkel  (Zeit- 
schrift für  Oesterreichische  Gymnasien  III  1852  S.  394),  Wag- 
ner (Lectiones  Vergilianae  im  Supplementband  zum  Philologus  I 
1860  p.  311)  und  auch  Forbiger  (editio  IV  1872)  wiederum 
mit  den  alten  Gründen  für  Beibehaltung  der  Lesart  aethere 
aussprachen. 

Ich    möchte    für    die    Lesart    aequore   eine    Parallel- 
stelle   anführen ,    die    ich  bisher  in  keinem  Kommentar  zu 


448  Miscellen. 

Vergil  gefunden  habe,  die  aber  m.  E.  entscheidend  ist, 
nämlich  Archilochos  bei  Stobaios  Florileg.  CX  10  (= 
Bergk  P.  Lyr.  Graec*  74,  31): 

}i,y]5'  öxav  SeXcprac  ■8-^pec  avxaiJie^jiwvTai  vo\i6y 
evaXwv  v.oc'i  acptv  'ö-aXiaar^g  '}^yks.vzoi.  7.u{Jiata 
cfiXtep'  fjTtcipou  yevrjtao,  TOLac  5'  i^ou  -^  öpo?  ^). 
Diese  Verse    des  Archilochos ,    die   ebenso  als  diejenigen  Ver- 
gils  die  Unglaublichkeit  oder  Unmöglichkeit  bezeichnen  sollen, 
scheinen  mir  geradezu  das  Vorbild  für  Vergil  gewesen 
zu  sein,  denn  es  entsprechen  genau :   hzX^Üvtc,  des  Archilochos 
den  pisces  des  Vergil,  ■ö-V/pe?,  jagdbares  Wild,  den  cervi,  YjTcet- 
po?  und  opoc,    dem  in  litore,  und    gewissermaßen    als  4.  Glied 
der     Gleichung     nun     auch    vojjiö?    lydXioc,    und    fjxeevca    xu- 
[iaxa  dem  in  aequore  Vergils! 

Auch  die  Nachahmung  dei-  Vergilischen  Verse  durch 
Nemesianus  Eclog.  I  75 : 

Namque  prius  siccis  phocae  pascentur  in  arvis 
Insuetusque  freto  vivet  leo. 
spricht  entschieden  für  die  Lesart  aequore! 

Gotha.  Max  Schneider. 


^)  So  conjicierte  G.  Hermann  (Elementa  doctr.  Metrie,  p.  49)  für 
das  handschriftliche  xoloi  S'  vjSü  t^  v  Spog,  das  Schneidewin  Delectus 
poetarum  II  p.  189 ,  Meineke  fStobaei  Floril.  IV  57,  10  und  Bergk, 
Poet.  Lyr.  Graec.  ed.  II  (185::!)  ed.  III  (1856)  ed.  IV  (1882),  auch  in 
seiner  Anthologia  Lyrica  ed.  I  (1854).  ed.  II  (1868),  E.  Buchholz,  Antho- 
logie aus  d.  Lyrikern  d.  Griechen  I  p.  89  im  Texte  beibehielten. 
Valckenaer  conjicierte:  toIolv  y/Soöv  y' opoc,  Fr.  Jacobs  (Animadversiones 
in  Epigr.  Anthol.  Graec.  Brunkii  I,  p.  I  pag.  162j  xolaiv  -/iSiov  5"  fjv  Spog, 
Emperius  (nach  der  Mitteilung  von  Schneidewin  im  Philologus  I  (1846) 
S.  34o)  ToToL  6'  oupoc  y^tio'/.  Schneidewin  selbst  vermutete  (Ibycus  Rheg. 
p.  104)  Toloiv  ä.vo'x^-Q  8'  öpof,  0.  Schneider  (Ztschft.  für  die  Altertums- 
wissenschaft 1840  S.  94)  Tolai  o' T/S-s'  ^  öpog  und  Härtung  tolai  b"  r]bowriw 
öpog  (sei.  Süj),  M.  Schmidt  (Rhein.  Mus.  N.  F.  V  1847  S.  623)  xoiat  5' 
Yj5uv3-(j  ^iog  (cf.  Hesych.  =  äxpa-  -/.opu'-f r^  •  öpog  )^aX£:iöv  •  xpYjiJLVÖi;).  Bergk 
edierte  im  Texte  Poet.  Lyr.  Graec.  ed.  I  (184.3)  -cotc.  5'  y^X'Jyiov  Spog  und 
vermutete  in  der  adnotatio  critica  zur  ed.  III  xdiai  5'  öXr^eiv  öpos  und 
in  der  ed.  IV  Toig  ö'  dcSi;]  S'Js'.v  (SÖTcxeiv)  opo^.  Haupt  nahm  merkwürdi- 
gerweise (s.  dagegen  Bergk  P.  L.  G.  ed.  IV)  an  opof  Anstoß  und  schlug 
(Analecta  im  Hermes  II  1867  S.  331)  xotoi  5'  ^  SOr,  nipoc,  vor.  —  Zur 
Vermeidung  des  Hiatus  zwischen  yjSü  und  fj  würde  m.  E.  schon  die 
Aenderung  xclai  S'  ■?(  5  o  g  f/  öpoj  genügen. 


Juni  —  Oktober  1909. 


XVIII. 

Griechischer  Sprachbrauch. 

(Vgl.  Philologus  LXV  N.  F.  XIX  S.  142  ff.) 

18. 

Eine  Erklärung  ist  erforderlich  für  einen  Passus  der  In- 
schrift aus  Kalaurea  in  Bechtels  Sammlung  der  gr.  Dialektin- 
schriften 3380  Z.  12:  xäc,  oe  siy.ovas  xad-acpcc^  ttoisIv  ev  zki- 
cpavsaTaxo).  Die  Schwierigkeiten  für  das  Verständnis  liegen  in 
£v  £7t:cpavea~at(p.  Sie  werden  gehoben,  wie  mir  scheint,  durch 
den  Vergleich  zweier  Philostratosstellen,  vita  Apollonii  V  29 
p.  96  syw  yap  tiXoutou  yjtiyjö'ei^  ouoe  £V  |x  £  c  p  a  %  i  w  tzoxs. 
olb(x.  und  V.  Ap.  VII  11  p.  111  ^q  \ikv  'HpaxXloug  aipeati;,  r^v 
cprjat  np65ty,og  £v  Ecp-z^ßco  kliad-oci  auTov  ^).  £V  [leipayJM  und 
£v  Ecprjßw  sind  adverbiale  Bestimmungen  von  höchst  eigentüm- 
licher Art;  ihre  Parallele  führt  darauf,  £v  ETir^avEaraxw  gleich 
£Ki(f(x.viaxa.xa  zu  deuten.  Nicht  ganz  gleichartig  ist  Oxyr. 
Pap.  III  478,  34,  wo  von  einem  Manne  gesagt  wird,  er  sei 
gestorben  h  bmpexiaiy.  Die  Herausgeber  erklären  richtig 
'im  Alter  von  mehr  als  sechzig  Jahren';  wörtlich  'unter  den 
Leuten,  die  über  die  sechzig  hinausgelangen'.  Der  Plural  be- 
reitet auch  unserem  Verständnis  keine  Schwierigkeiten.  Näher 
liegt  wieder  ein  anderer  Fall.  Ed.  Schwartz  hat  gezeigt  ^), 
daß  sich  in  der  hellenistischen  Gräzität  ein  Dativ  Eauxw  findet, 
der  offenbar  den  Sinn  unseres  'allein'  (vgl.  unser  'für  sich') 
hat.  Die  Beispiele,  die  oben  gegeben  sind,  scheinen  mir  nun 
die  Möglichkeit  darzutun,  diesen  Begriff  auch  durch  £v  lautw 
wiederzugeben  (vgl.  unser  'an  sich'),  und  tatsächlich  steht  im 

1)  Wahrscheinlich  auch  V  33  p.  98    §v  vem    vgl.  Fleckeisens  Jahr- 
bücher 1895  S.  255. 

2)  Index  Lectionium  Gott.  1905  S.  8  ff. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  4.  29 


4.50  ^-  Radeimacher, 

Proömium  des  Buches  Sirach :  ou  yap  iao5uvap,£t;  a  u  i  a  e  v 
i  ocu  Tolc,  "Eßpaiaxc  XeyciJLeva  xac  Sxav  [lexBveyß'ri  sii;  exepav 
yXwaaav.  Ich  möchte  zweifehi,  ob  ev  mit  Recht  getilgt  werden 
darf  ^),  und  auf  eine  Verfluchung  aus  Karthago  (Audollent 
242,  16)  verweisen,  wo  es  heißt:  opy.it^w  oe  töv  d-eoy  xöv  xoO 
Ssuxspou  axepewjJiaxog  ev  eauxw  xrjv  56va[A:v  s/^ovxa.  Die  Ueber- 
setzung:  'ich  beschwöre  dich,  den  Gott,  der  alleiniger  Macht- 
haber der  zweiten  Feste  ist',  gibt  ohne  Zweifel  den  besten 
Sinn.  Freilich  muß  zugestanden  werden,  daß  auch  eine  andere 
Auffassung  von  iv  eauxw  gegeben  ist:  'der  die  Macht  in  sich 
trägt',  doch  kommt  man  mit  ihr  zuletzt  auf  dasselbe  hinaus. 
Entscheidend  ist  Cornutus  (S.  40,  10  Lang),  weil  er  den  Ge- 
gensatz einführt:  xtjv  5c'  ötxXwv  Soaxpiaiv  ifißaXwv,  Iva  xs  (= 
Iva)  xö  yevvaiov  xxi  avSpelov  auxoc  xe  ev  eauxots  xa:  ys  iiz 
dXXrjXou5  xö  otxecov  xf^c,  etpyjvr];  evaafjievcl^wau 

19. 

Oolvc^  6  KoXocpwvtos  TtotyjXT]?  uepc  Nt'vou  Xeywv  ev  xw  TxpwTcp 
xwv  'Ia{xßü)v  • 

avYjp  Ncvos  xc?  eyeveö-',  ü)?  eyw  xXuw 
'Aoauptot,  oaxo;  sc)(£  xP'^'^e^o'J  tiovxov 
xa:  xaÄXa  t:oXXov  TiXeova  Kaaiücou  (l'au.jj.ou. 
So  Athenaeus  530  e  nach  der  Ueberlieferung.  Meineke 
änderte  um  des  Metrums  willen  xXuw  in  'xouco  (axouw),  xpuacou 
steht  richtig  in  der  Epitoma,  endlich  hat  Moritz  Haupt  xac 
xaXXa  uoXXov  durch  xdXavxa  uoXXw  ersetzt,  geleitet  durch  die 
Umschreibung  des  Epitomators  eixe  xpua''ou  xdXavxa  txoXXw 
TtXeova  Kaaraou  tjjd|x^ou.  Damit  ist  ein  richtiger  Sinn  und 
guter  Zusammenhang  hergestellt,  vielleicht  aber  zu  Unrecht 
eine  sprachliche  Besonderheit  beseitigt.  Der  Epitomator,  weil 
er  gewöhnliches  Griechisch  schrieb,  konnte  gar  nichts  anderes 
geben  als  tioXXw  uXeova.  Dagegen  ist  die  Ueberlieferung  des 
Verses  txoXXov  TiXeova,  und  das  werden  wir  wohl  zu  respek- 
tieren haben  auf  Grund  einer  Parallelstelle,  die  allbekannt  ist ; 
denn  sie  steht  in  der  Antigone  des  Sophokles,  gilt  natürlich 
der  älteren  Kritik  als  korrupt  V.  86: 


*)  Schwartz,  Index  lectionum  Gott.  1908  S.  22. 


Griechischer  Sprachbrauch.  451 

oi'jjiot  xaxauoa*  ttoXXov  £X'9'tü)v  eaet 
aiyöjaa. 
Dabei  steht  fest,  daß  koXXö:;  bei  Sophokles  noch  einmal 
begegnet  Tracb.  1196;  auch  da  bat  man  athetiert  oder  geän- 
dert. Heute  haben  wir  gelernt,  die  Jonisnien  der  Tragödie 
mit  anderen  Augen  anzusehen ,  und  kein  Vernünftiger  wird 
mehr  die  Richtigkeit  der  Ueberlieferung  bezweifeln.  Es  bleibt 
übrig,  für  die  Sprache  des  Joniers  Phoenix  die  Consequenz 
zu  ziehen. 

Ich  bringe  eine  andere  Sache  zur  Besprechung,  nur  um 
eine  Frage  zu  tun ;  denn  volle  Aufklärung  kann  erst  eine  ge- 
naue Untersuchung  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  in 
allen  verfügbaren  Fällen  geben.  Im  Oid.  Coloneus  V.  1132 
weist  der  Blinde  die  Gemeinschaft  mit  Theseus  ab  unter  der 
Begründung:       nGiC,  a'  av  ad-liOQ  ye^oic, 

•ö-cyeiv  •8'sXyjaacfJi'  avopog,  w  x'.c,  oux  svc 

xyjXcs  xaxwv  ^uvocxo^ ;  oux  eywye  ae, 

oöS'  o5v  saaw  •  xolc,  yäp  kinzeipoic,  ^poxGi^ 

[iovoic,  otov  T£  auvraAacTiwpEöv  xaSs. 
Ist  sjjnxetpoc  richtig,  so  kann  man  darunter  in  der  Tat 
nur  die  Oidipustöchter  verstehen,  aber  merkwürdig  ist  doch, 
daß  auf  ein  Wort,  das  ohne  einen  abhängigen  Objekts-Genitiv 
kaum  existieren  kann,  ein  Genitiv  C^poxwj)  folgt,  der  nichts 
mit  ihm  zu  tun  hat;  man  wird  ja  ßpoxwv  mit  iJi&voti;  zu  ver- 
binden haben.  Und  man  wünschte  einen  anderen  charakteri- 
stischeren Gedanken :  daß  der  Schuldlose  mit  dem  Schuldigen 
nichts  gemein  hat,  daß  Gleich  und  Gleich  zusammengehören. 
Hense  hat  demnach  ejiTtfjpot^  für  iiimipoic,  einsetzen  wollen, 
meines  Erachtens  genau  das,  was  wir  brauchen.  Es  wäre 
nach  unserer  Kenntnis  der  Dinge  freilich  wieder  ein  Jonis- 
mus ;  das  braucht  uns  nicht  abzuhalten,  die  Conjectur  für 
wahrscheinlich  anzusehen.  Zur  Wortsippe  gehören  außer  nr^p6c, 
und  Ttyjpöw  noch  avccTiyjpog,  dvazcrjpca,  dvarc/^pow,  und  so  ist 
denn  in  den  Zusammenhang  unserer  Betrachtung  eine  Bemer- 
kung zu  ziehen,  die  Phrynichus  macht  Bekk.  p.  9,  22  dvaTiTj- 
p:a  ocd  toö  v]  trjv  Trpwxrjv,  ou  oio:  x-^^  sc  occp^'oyyou  w;  ol  d^cc- 
■ö'EtS.  Damit  konkurriert  eine  alte  Glosse,  nach  Suidas  dva- 
7T;y]poav'  ouxw;  'Apcaxocpdvv];  IIXouxw,  dagegen  nach  dem  Anti- 

29* 


452  ^-  Radermacher, 

atticisten  Bekk.  p.  78,11  dvaTrecpiav  "Apiaxocpavrjs  IIXouki). 
Leider  hatte  ich  zu  einer  Controlle  der  gesamten  Ueberliefe- 
rung  die  notwendigen  kritischen  Ausgaben  nicht  zur  Verfü- 
gung, teils  weil  sie  überhaupt  nicht  vorhanden  sind,  teils  weil 
sie  auf  der  Münsteraner  Bibliothek  fehlten  ;  ich  notiere  aber 
doch  kurz  folgendes.  dvdnBipoc,  statt  dvccTirjpos  haben  alle 
alten  Handschriften  Lucas  14, 13  und  14,  21 ;  dvocTzzipia.  schreibt 
der  alte  Parisinus  Aristoteles  rhet.  1386  a,  11,  desgleichen  dvck- 
Tzzipoc,  der  Marcianus,  die  älteste  Handschrift  der  ersten  Klasse, 
bei  Aristoteles  bist.  an.  9,  12,  dvocueipix  die  beiden  besten 
Handschriften  Arist.  de  part.  an.  2,  17  (drcs'.piav  P).  Die  Be- 
lege werden  sich  wahrscheinlich  leicht  mehren  lassen.  Daß 
r]  allein  richtig  ist,  kann  gar  nicht  bezweifelt  werden ;  daß  £t 
sehr  früh  daneben  auftrat,  lehrt  Phrynichus.  Es  scheint  sich 
hier  in  der  Tat  nicht  um  eine  einfache  Verschreibung  zu  han- 
deln, sondern  um  die  Umgestaltung  eines  Wortkörpers  unter 
dem  Einfluß  der  Volksetymologie,  so  wie  sich  (isia^u  in  [xe- 
xoEp  wandelt  unter  der  Einwirkung  von  6^65,  sßpal'xos  in 
d,8pacx6;  (AudoUent  Def.  tab.  41  A  11,  Wünsch,  Zaubergerät 
S.  35),  weil  (x^poc,  vorschwebt.  Natürlich  sind  es  nur  'Un- 
gebildete', bei  denen  dvdTtrjpo?;  von  avcstpo;  beeinflußt  wird. 
Aber  es  wäre  nach  Lage  der  Dinge  doch  nicht  wunderbar, 
wenn  die  Sophokleshandschriften  £|X7i£cpo;  für  e\nzripQC,  schreiben. 
Ich  benutze  die  Gelegenheit,  da  von  der  Tragödie  die 
Rede  ist,  um  aus  Gründen  eines  fest  formulierten  Sprachge- 
brauchs eine  Textveränderung  zu  empfehlen,  die  Wecklein 
freilich  nicht  einmal  der  Aufnahme  unter  die  coniectnrae  mi- 
nus probabiles  würdig  erachtet  hat  ^).  Ausgegangen  sei  von 
einer  Stelle  des  Aristophanes  Nub.  1363  y.ä\ia  [i.ö'kic,  [xev,  dX?.' 
ö{x(ös  yjvea/öjjLTjV  d.  h.  es  fiel  mir  schwer  auszuhalten,  ich  tat 
es  aber  doch.  Sophokles  formt  den  Gegensatz  nicht  so  scharf; 
auf  das  jJioXts  verzichtet  aber  auch  er  nicht: 

Antigone  1105  oi(xor  (löXi;  [xev,  -xapSc'a?  0'  kE,ioxoc\i!X,i 
Philoktet  329  (I)  Tcat  Hocavioc,  e^spw  '  [JloXi?  5'  ipw. 
So  drückt  sich   auch  Euripides  einmal  aus  Phoen.  1421 : 

[iÖXlC,    jJl£V,    £^£T£lV£    5'  ZIC,    '^Ttap    ^CCpO?, 

*)  Ich  hatte  sie,  freilich  ohne  Belege,  vorgeschlagen  Observationes 
in  Eurip,  misc.  8  Anm.  2. 


Griechischer  Sprachbrauch.  453 

aber  in  den  Bacchen  882  hat  er  den  vollen  Gegensatz: 
öp^iaiai  jJLÖA'.;,  üXa  6\nsic, 
Tioaiöv  TÖ  •8'ccov  ad-i'JOi. 
Natürlich  kann    sich  dieser  Gegensatz    auch    anders  kon- 
struieren,   so  bei  Alciphron    ep.   II  35,  3:    £X^  ■^^'■^   ^^  ußpew? 
avopa,    oux   excöaa  [jlsv    ö|iü)5   ck  lyw,    oder  bei  Plato  Rep.  X 
607  A:  ßca  jjlsv  öhw;  5e  dTO/ovia:,  oder  Euripides  Hei.  1232: 
ypö'Hoc  [ikv  fjXÖEv,  äXa'  ö[i.(o;  atvw  xaoe  und  Cratinus  in  einem 
Fragment  des  Trophonius :  X^-P-  ^'^i  Moüaa,  ypovia.  \xkv  r^xstc, 
6[i(i)?  S'  T^X^s:.     Endlich  Pionius  im  Leben  des  Polycarp  XXX : 
y.7,1  of^  ^padiiüc  (isv,  <x)X  6[Jiw;  xexpopisvw;  aTzsxpovaxo. 

Wenn    es    nun   in   den  Schlußworten    der    euripideischen 
Troades  (1331)  heißt: 

tu)  xaXatva  tzoXic,  '  c[i.(d;  0£  Tipdcpsps  7i6oa  aöv  £t:c 
TcXdcxa?  'Axa-G)v, 
so  zeigen  die  vorangestellten  Beispiele,  daß  iu  diesen  Worten 
etwas    in  Unordnung    sein    muß,    weil    b\i.(j)C,   des  Gegensatzes 
entbehrt.     Die  Anrede   ist   an  Hekabe    gerichtet,    die   in    den 
vorhergehenden  Versen  von  sich  gesagt  hatte: 
tw  lij) 

xpo[i£pa  xpo[j.epa  [jilXsa,  cpspsx'  £- 
[xöv  l'xvo?  •  :x'  inl  xaXa'.vav 
Bo'jXeiov  a[i£pav  ß:ou. 
Also  eine    alte  Frau,    der   die  Glieder  zittern;    schwerem 
Los  geht  sie  gezwungen    entgegen.     Sollte  da  nicht  der  Chor 
passend    zu   ihr   sagen:    cw,    xaXatva,    {j.cX:;    Ö|jlü);    o£   Tcp6'4;£p£ 
Tücoa  aöv  £-c  7:Xaxa; 'Ax^iöv  ?     Auf  das  [isv,    das  andere  Bei- 
spiele nahelegen,    wird    man    verzichten    können,    da   es  auch 
Philoktet  329  fehlt  5). 


'°)  Unklar  ist  mir,  warum  Wecklein  meine  Bemerkuno'  zu  Androm. 
404  ignoriert  hat.  So  geringfügig  die  Sache  vom  Standpunkt  des  Con- 
jecturalkritikers  ist,  so  lehren  die  von  mir  angeführten  Beispiele  doch, 
daß  die  Griechen  in  Wendungen  wie  ii  Syj-a  [loi  ^y,v  fjSO  peinlich  ver- 
meiden, die  betonte  Form  des  Pronomens  anzuwenden,  selbst  wenn  ein 
Gegensatz  eingeführt  wird.  Das  ist  charakteristisch  für  das  Ethos  des 
Volkes  und  verdient  darum  beachtet  zu  werden.  Ich  füge  zu  der  Stel- 
lensammlung (Observationes  in  Eur.  misc.  p.  11)  hinzu  Achilles  Tatius 
p.  118,  11  Hercher  xi  ydp  jie  xal  gfjv  ext,  Ssl;  Xenophon  Ephesius  I 
14,  5  xi  Y*?  ^axi  |ioi  (sie)  ^f^v  ävsu  ao'j  (sie).  —  xi  [lot,  ^^v  sagt  der  Kaiser 
Marcus  Antoninus. 


454  ^-  Rader  mache  r, 

20. 
Ein  neues  Gedicht  des  Antipatros  ist  Oxyrh.  Pap.  IV  662 
Col.  III  veröffentlicht,    dessen  Anfang,    von  Wilamowitz  ver- 
bessert ^),  lautet: 

S'wXr;Vü)V  dX6/o:;  avxpr^'!a:v  r|0£  xepaaia 
xavo'  'Axpwpetxa  Ilav:  xa9-"/iy£[i.öv: 
xac  Tipotofiocv  ÄXfifjXa  xat  auxGveov  xoos  xocTipou 
Sspixa, 
Ueberliefert  ist  unter  anderem  v.y.l  T^ystiovi,  danach  in  der 
Behandlung  nicht  abzutrennen  eine  Inschrift  bei  Kaibel  Inscr. 
It.  1449 

y.ti\).a.i  AupriAio;  'Avxwvioc;  6  xal 
ispsuc;  xüjv  Xc  \)£wv  Tiavxtov  Tcpöxov  BovaSir^? 
eixa  [jir^xpos  %-t&v  xa:  Atovuaou  xal  T^y^l^'^'^'^S- 
Hier  hat  Bloch '')  Acovuaou  ywa^y]Y£[Ji6vo;  hergestellt.  Man 
könnte  die  Frage  aufwerfen ,  ob  nicht  y.azvje\iövo<;  auf  dem 
Steine  steht  und  einfach  verlesen  ist.  Ein  Jonismus ,  im 
Kultnamen  festgehalten,  wäre  zuletzt  nicht  merkwürdiger,  wie 
ÄpxiYjxpd;  in  einem  für  alle  Zeit  feststehenden  Titel.  Natür- 
lich sieht  die  Sache  für  das  Antipatrosgedicht  etwas  anders 
aus,  weil  die  Dorismeu  den  Ton  bestimmen.  yjSe  weist  frei- 
lich auf  Mischung;  vor  allem  schreibt  der  Dichter  zwar  xe- 
pdcaxa  'Axpwpixa,  aber  T^yefxovL,  nicht  ay£[Ji6vt.  xävo'  ist  nicht 
überliefei-t.  Ein  sicheres  Urteil  ist  nicht  möglich,  namentlich 
deshalb,  weil  die  Frage,  ob  es  nicht  einen  Sondergott  'HY£[Ji(ji)V 
gab,  auf  Grund  der  beiden  Zeugnisse  sehr  wohl  diskutierbar 
wird;  man  vergleiche  die  'Hysiiovrj  (Usener,  Göttern.  133  ff.) 
und  den  deus  ^wxTjp.  Man  müßte  dann  im  Epigramm  xwvSe 
Ilav:  nach  dem  Muster  Bax/Y]  d-zoxi  und  ähnlichem  unmittelbar 
verbinden. 

Schwankende  Aspiration  bei  7.a-y]Y£ji,(i)V  könnte  auf  der 
Inschrift  auch  als  ein  Merkmal  der  Koine  gelten,  neuerdings 
hat  Crönert  dafür  reiche  Belege  gesammelt:  Mem.  Herculanensis 
S.  150  ff.  Ich  trage  nach  aTivjau/aaa;  Acta  Philippi  66,  oOx 
äp(Jiöi^£t  Martyr.  Petri  et  Pauli  58,  ZavxcTiTiT]  Martyr.  Petri  5.  ucps- 
xuixoXoyEü)  Schol.  Ar.  Av.  181  ist  nach  dem  Muster  von  a.(fzlrJ.- 

•^)  Göttinger  Gel.  Anz.  1904  S.  669. 
')  Philologus  N.  F.  VI  S.  582  ff. 


Griechischer  Sprachbrauch.  455 

L,(Ji  und  ähnlichem  sicher  zu  halten,  xaiyjfjia^euaav  kommt  aus 
Nechepso  hinzu  bei  Vettius  Valens  S.  354,  2.  xar/j[jia^£U|i£va 
habe  ich  bei  Dionys  de  antiquis  orat.  S.  7,  1  nach  den  Hand- 
schriften hergestellt.  Bei  Heliodor  Aeth.  S.  193,  26  Bekker 
war  aus  der  Ueberlieferung  xaxo^xexEuaeov  wohl  xaxtxeTsuaetv 
zu  entnehmen,  xax'  "Aorj  erscheint  auf  Defixiouen  Audollent 
S.  36.  Was  nur  handschriftliche  Variante  ist,  wie  sex'  e^'^s 
bei  Asclepiodotus  Tact.  2,  3  codd.  ABC,  läßt  man  besser  bei- 
seite. Ein  Zweifel  kann  sein,  ob  bei  Vettius  Valens  S.  35,  35 
dTxaipw  nicht  vielmehr  als  aTxaipw  gleich  dcpacpö  zu  deuten 
ist,  das  S.  36,  12  und  öfter  in  gleichem  Sinne  erscheint. 

Ich  kehre  nach  dieser  Abschweifung  zurück  zu  Antipatros. 
Merkwürdig  ist  in  seinem  Gedicht  noch  auxoveov  (oder  auxö 
veov).  Das  kann  mit  alten  Zusammensetzungen  wie  auxoTxaxwp, 
auxo(xiQXü)p,  auxaoeAcpos  nicht  verglichen  werden,  ebensowenig 
mit  echten  Composita,  wie  auxoxeXsuy-os,  auxoQ-dvaxoc.  Es  hat 
nichts  zu  tun  mit  philosophischer  Terminologie;  von  auxo  xa- 
X6v,  dem  Schönen  an  sich,  führt  keine  unmittelbare  Verbin- 
dung zum  auxö  vsov  oepfjta  des  Dichters.  Doch  haben  Spätere, 
wohl  beeinflußt  von  der  Ausdrucksweise  der  Philosophen,  auxö 
zu  einem  Begriff  gesetzt,  gewissermaßen  um  ihn  in  idealem 
Sinne  zu  steigern,  so  Lucian,  wenn  er  diall.  meretr.  14,  4  von 
einem  ovo?  auxö  Xupci^wv  spricht,  Alciphron  III  24,  2  mit  auxö 
axaTxaveüg  sSoxouv,  oder  vielmehr  auxoaxaTcaveu?  eoöxouv,  da 
alle  Handschriften  so  schreiben.  Man  mag  byzantinisches  au- 
xoTtpaoxrj?  vergleichen  (Byz.  Ztschr.  1904  S.  353).  Ich  ver- 
stehe danach  unter  auxovsov  ospjjia  das  'Ideal  eines  frischen 
Fells'. 

Wien.  L.  Raclermacher. 


XIX. 

Spiritus  asper  und  lenis  in  der  Umschreibung 
hebräischer  Wörter. 

Die  Untersuchungen  von  H.  Jacob  söhn  über  die 
Aspiration  bei  Homer  (Philolof^as  67,  3,  4)  veranlassen  mich, 
hier  einen  Punkt  der  biblischen  Philologie  zur  Sprache  zu 
bringen,  der  noch  lange  nicht  die  Beachtung  gefunden  hat, 
die  ihm  gebührt,  die  Aspiration  und  Psilose  bei  semitischen 
Wörtern,  besonders  Eigennamen  im  griechischen  Alten  und 
Neuen  Testament. 

F.  A.  Hort  (1828—1892)  behandelt  in  der  Introduction, 
die  er  der  Ausgabe  des  griechischen  Neuen  Testaments  bei- 
gab, das  er  1881  mit  B.  F.  Westcott  (1825—1901)  nach 
sorgfältigster  Vorbereitung  veröffentlichte,  in  §  405 — 416 
„Breathings,  Accents  and  other  accessories  of  printiug".  Nun 
ist  ganz  richtig  was  er  dort  zunächst  ausführt,  daß  die  hand- 
schriftliche Ueberlieferung  in  diesem  Stück  nicht  in  die  Ent- 
stehungszeit der  neutestamentlichen  Schriften  hinaufreicht. 
Unsere  ältesten  Handschriften  sind  schon  durch  mehrere  Jahr- 
hunderte davon  getrennt  und  haben  selber  weder  Akzente 
noch  Spiritus ;  diese  treten  erst  in  späteren  Jahrhunderten  auf. 

Ebenso  richtig  ist,  daß  er  (§  408)  für  die  Eigennamen 
auf  die  lateinische  Uebersetzung  als  das  älteste  Zeugnis 
hinweist,  ob  sie  mit  oder  ohne  H  geschrieben  werden.  Er 
wendet  aber  dagegen  ein,  dies  Zeugnis  sei  evidently  discon- 
nected  from  the  Palestinian  pronunciation  of  Greek,  the  true 
object  of  search.    So  kam  er,  mit  seinem  Mitarbeiter,  zu  dem 


E  b.  Nestle,  Spiritus  asper  u.  lenis  in  d.  ümschr.  hebr.  Wörter.     457 

Entschluß,  dem  Hebräischen  und  Aramäischen  zu  folgen,  und 
Aleph  und  Ain  durch  lenis,  He  und  Cheth  durch  asper,  bei- 
spielsweise also  auch  'Eßpaco^  zu  schreiben,  und  ebenso  allen 
mit  Jod  beginnenden  Namen  den  Lenis  zu  geben.  „No  better 
reason  than  the  false  association  with  lepoc,  can  be  given  for 
hesitating  to  write  'lepsixca-,  'lepetxw,  'l£poa6Xo(i.a(-[i,£iTrj;), 
'lepouaaXrjfx. " 

Gegen  dies  Prinzip  hätte  ihn  mißtrauisch  machen  sollen, 
was  er  selbst  unmittelbar  darnach  in  §  409  hervorhebt,  daß 
in  Gal.  2,  14  die  besten  Zeugen  ou)^  louoaVxö)?  bieten,  und 
ebenso  an  der  einzigen  Stelle  des  Alten  Testaments,  wo  Ge- 
legenheit zu  Aspiration  vor  einem  derartigen  Namen  sei,  Su- 
sanna 56,  wiederum  3  von  den  4  ältesten  Handschriften  ouy^ 
louooc.  Daraus  schien  zu  folgen,  daß  bei  hebräischem  Jehu- 
(und  Jeho-)  the  aspirate  sound  coalesced  in  pronunciation  with 
the  semi-vowel.  Danach  sollten  louSato?  und  alle  Ableitungen 
von  louoac;,  ebenso  wie  lo)poi\i  und  Iwaaccax  den  Asper  haben ; 
sie  hätten  aber  verzichtet  the  common  usage  in  diesem  Stück 
zu  verlassen. 

Dieser  Grundsatz  wurde  von  H.  B.  S  w  e  t  e  übernommen 
in  seine  Ausgabe  des  griechischen  Alten  Testaments  (erste 
Ausgabe  1887  I  p.  XIV): 

„The  breathings  of  proper  names  whether  transliterated  or 
made  to  assume  a  Greek  form,  have  been  brought  into  con- 
formity  with  the  System  adopted  by  Dr.  Westcott  and  Dr. 
Hort  in  their  edition  of  the  Greek  New  Testament. 

Nicht  die  Namen,  überhaupt  nicht  das  semitische  geht 
an,  aber  von  Interesse  ist,  was  unmittelbar  weiter  mitgeteilt 
wird: 

The  first  band  of  B  (=  codex  Vaticanus)  has  not  been  fol- 
lowed  in  the  very  frequent  use  of  ouyfji  5ou,  nor  on  the 
other  haud  in  the  almost  equally  common  employment  of 
oujt  before  certain  words  which  begin  with  an  aspirated 
vowel. 

Noch  einfacher  löste  de  Lagarde  das  Dilemma  in  seiner 
(unvollendeten)  Ausgabe  der  Lucianischen  Septuagintabearbei- 
tung   (1883):    er  ließ   bei    allen  Namen,    die   nicht  gräcisiert 


458  Eb.  Nestle, 

sind,   Spiritus    und  Akzente    weg,    von  A5a[x  und  Eo£[x  in  1. 
Mose  an  bis  zu  Ea^rjp,  A|xav  und  Aoap  im  Buch  Esther. 

Auch  die  neue  große  Cambridger  Septuaginta  von  Broo- 
ke-Maclean  (T.  1  Genesis  1906),  befolgt  das  System  von 
Westcott-Hort  und  S  w  e  t  e. 

Nun  habe  ich  zwar  schon  in  meinen  Septuagintastudien  V 
(Maulbronner  Programm  von  1907  Nr.  733)  S.  7  f.  an  je  einem 
Beispiel  für  Akzente  und  Spiritus  gezeigt,  wie  verkehrt  das 
ist;  es  scheint  aber  angezeigt,  darauf  zurückzukommen. 

Hort,  Westcott,  Swete  sind,  wie  ich,  Theologen ;  nun  ist 
fast  gleichzeitig  mit  meinem  Programm  von  philologi- 
scher Seite  R.  Helbings  Grammatik  der  Septuaginta  er- 
schienen, d.  h.  der  erste  die  Laut-  und  Wortlehre  behandelnde 
Teil  (Vorwort:  Sept.  1907).  „Lautlehre,  Akzent  und  Spiritus" 
ist  der  erste  Abschnitt  überschrieben,  Akzent  und  Spiritus  sind 
auf  S.  24 — 26  behandelt  und  im  Abschnitt  über  die  Tran- 
skription der  hebräischen  Eigennamen  wiederum  S.  30  f.  Ak- 
zent und  Spiritus.  Was  über  die  Akzente  gesagt  ist,  lasse 
ich  unberücksichtigt,  über  die  Spiritusfrage  gibt  diese  Gram- 
matik ganze  6  Zeilen ;   sie  lauten  : 

Schwierig  ist  ebenfalls  die  Spiritusfrage ;  man  liest  z.  B.  bei 
Swete  'Aßpaa(i,  neben  'A^i\iektx^  obwohl  beide  Namen  mit 
K  beginnen.  Für  naturgemäß  halte  ich  es,  wenn  man  um 
Konsequenz  zu  bewirken,  die  Regel,  die  Westcott-Hort 
für  das  N.T.  vorschlagen ,  auch  für  die  LXX  übernimmt. 
Wir  setzen  also  für  X  und  U  den  lenis,  ebenso  für  anlau- 
tendes %  für  n  und  n  den  Asper. 

Das  ist  nun  freilich  kurz  und  bequem  ;  es  ist  ein  hüb- 
scher Zufall,  daß  meine  Gegenthese  als  Beispiel  eben  den  von 
Üelbing  angeführten  Namen  Abrahams  wählte,  den  ich  übri- 
gens bei  Swete,  soweit  ich  kontrollierte ,  seinem  System 
entsprechend  (s.  o.)  überall  mit  Lenis  geschrieben  finde.  Auf 
welcher  Stelle  Helbings  Angabe  beruht ,  weiß  ich  nicht. 
Sollte  bei  Swete  einmal  der  Asper  stehen  geblieben  sein,  so 
ist  das  nur  ein  Versehen,  aus  der  Druckvorlage.  Warum  trotz 
beiderseitigem  Aleph  bei  Abraham  der  Asper,  bei  Abimelech 
der  Lenis  richtig  ist,  zeigte  ich  in  meinem  Programm:  Der 
Asper  folgt  aus  dem  in  Sommers  griechischen  Lautstudien 


Spiritus  asper  u.  lenis  in  cl.  Umschreibung  hebräischer  Wörter.     459 

besprochenen  griechischen  Gesetz,  daß  Aspiration  ans  der  Mitte 
des  Worts  an  den  Anfang  trete  (vgl.  dazu  Kretzschmers 
Anzeige  BPh  WS.  1906,  2).  Dasselbe  Gesetz  erklärt  die  von 
Westcott-Hort  ganz  richtig  beobachtete,  aber  in  ihrem 
Grund  nicht  erkannte  Tatsache,  daß  aus  hebräischem  Jehuda 
griechisches  (ou^)  louSa  wurde. 

Dasselbe  Gesetz  erklärt  uns  auch,  warum  die  älteste  la- 
teinische Umschreibung  des  Namens  Jesus  Hiesus  neben  Jhe- 
sus  ist.  Siehe  dazu  Wordswort  h -White  zu  Mt.  1,  1 
in  ihrem  lat.  N.T.  mit  dem  Nachtrag  auf  S.  776,  und  meine 
Bemerkung  in  Hastings,  Dictionary  of  Christ  and  the 
Gospels  1906,  I,  860. 

Hier  in  einer  philologischen  Zeitschrift  darf  ich  wohl 
auch  an  das  Zeugnis  ei'innern,  das  in  Catulls  84stem  Ge- 
dicht zu  dieser  Frage  vorliegt: 

Chommoda  dicebat,  si  quando  commoda  vellet 

Dicere,  et  insidias  Arrius  hinsidias. 
Et  tunc  mirifice  sperabat  se  esse  locutum, 
Cum  quantum  poterat  dixerat  hinsidias. 
Credo,  sie  mater,  sie  liber  auonculus  eins, 

Sic  maternus  auos  dixerat  atque  auia. 
Hoc  misso  in  Syriam  requierant  omnibus  aures ; 

Audibant  eadem  haec  leniter  et  leviter. 
Nee  sibi  postilla  metuebant  talia  verba. 
Cum  subito  affertur  mmtius  horribilis, 
lonios  fluctus,  postquam  illuc  Arrius  isset, 
Jam  non  lonios  esse,  sed  Hionios. 
G.  F  r  i  e  d  r  i  c  h  in  dem  neuen  Kommentar  (Teubner  1908 
S.  508)  führt  dazu  die  Stelle  Quintilians  an,  die  auf  das  Epi- 
gramm Catulls  Rücksicht  nimmt,  (1,  15,  19:  cuius  (des  Buch- 
staben H)    ratio  mutata   cum  temporibus  est  saepius.     Parcis- 
sime  ea  veteres   usi  etiam   in    vocalibus.    cum  'oedos  ircos'que 
dicebant,    diu  deinde   seruatum,    ne   consonantibus   aspirarent, 
ut 'Graccis'  et  in  'triumpis';  erupit  brevi  tempore  nimius  usus, 
ut  'choronae,    chenturiones,   praechones'  adhuc   quibusdam   in- 
scriptionibus  maneant,  qua  de  re  Catulli  nobile  epigramma  est) ; 
außerdem    die    Bemerkung    des    Nigidius    Figulus    bei    Gell. 
13,  6,  3:    rusticus    fit    sermo    si   adspires   perperam.     Auf  die 


460  Eb.  Nestle, 

weiteren  Zusammenhänge  dieser  sprachlichen  Erscheinung  ein- 
zugehen, hatte  Friedrich  keine  Veranlassung ;  auch  ich  kann 
sie  hier  nicht  weiter  verfolgen,  möchte  nur  gegenüber  der  in 
einer  Grammatik  doppelt  unangebrachten  diktatorischen  Regel: 
jwir  setzen  also  für  x  und  u  den  lenis,  ebenso  für  anlauten- 
des ■'",  den  Grundsatz  betonen: 

Erstes  Erfordernis  ist,  die  U  e  b  e  r  li  e  f  er  un  g,  die  bisher 
fast  vollständig  vernachlässigt  wurde ,  sorgfältig  zu  sammeln. 
Dabei  wird  für  das  griechische  A.T.,  der  Codex  Ambrosianus 
A  147  infr.  in  erster  Linie  in  Betracht  kommen  (F  nach  der 
gewöhnlichen  Bezeicbnung,  dem  IV/V.  Jahrhundert  zugewiesen), 
von  dem  Swete  sagt:  The  MS  has  not  only  a  frequent  and 
varied  punctuation,  but  Stands  alone  amongst  early  uncial 
Codices  in  exliibiting  breathings  and  accents 
prima   m  a  n  u  ^). 

Bei  den  neutestamentlichen  Handschriften  wurde  auf  Ak- 
zente und  Spiritus  von  den  Kollatoren  bisher  kaum  geachtet. 
Im  Vaticanus  sind  sie  spät,  aber  trotzdem  lehrreich  und  nach 
der  Photographie  leicht  zu  studieren ;  andere  Handschriften 
müßten  an  Ort  und  Stelle  untersucht  werden. 

Mit  dem  Ergebnis  der  biblischen  Handschriften  wäre  das 
aus  den  Werken  von  Philo,  Josephus  und  ältesten  Kirchen- 
lehrern zu  gewinnende  zu  vergleichen.  Stimmt  Philo  und  Jo- 
sephus mit  den  biblischen  Handschriften  überein,  dann  ist  die 
Ueberlieferung  um  so  sicherer.  Nun  vergleiche  man  in  Niese  s 
Josepbus  nur  das  Register: 

"AßpaiJio?    (p  1  e  r  u  m  q  u  e  "A<^p(x.\Loq    e  x  t  a  t ,    semel  'Aßpa- 
|xr;S,  raro  'Ajjpaa|ji). 

Neben  den  griechischen  Handschriften,  haben,  wie  schon 


*)  Zehn  Tage  ehe  diese  vor  mehr  als  Jahresfrist  geschriebenen 
Zeilen  mir  zur  Korrektur  zugingen,  erhielt  ich  von  Prof.  Sickenberger 
in  Breslau  folgende  Karte  (18.  10.  09):  „Prof.  Krumbacher  erzählte  mir 
vor  einigen  Tagen  in  München,  daß  er  die  auch  in  Ihrer  Einführung^ 
S.  .53  stehende  Notiz,  daß  die  Akzente  im  ambros.  Hexateuch  von  erster 
Hand  seien,  eigens  in  Mailand  kontrolliert  habe.  Es  sei  kein  Zweifel, 
daß  sie  von  viel  späterer  Hand  seien.  Es  gebe  keine  ünciale  mit  und 
keine  Minuskel  ohne  Akzente.  In  der  Annahme,  daß  Sie  diese  Nach- 
richt sehr  interessieren  wird,  teile  ich  sie  Ihnen  mit".  Ist  das  nicht 
ein  hübsches  Beispiel,  wie  jede  freundliche  Privatmitteilung  für  die 
OefFentlichkeit  wertvoll  werden  kann?  Hoöentlich  erfahren  wir  bald 
Genaueres! 


Spiritus  asper  u.  lenis  in  d.  Umschreibung  hebräischer  Wörter.     461 

Hort  andeutete ,  besondern  Wert  die  lateinischen,  aber 
nicht  bloß  die  Bibelhandschriften ,  sondern  insbesondere  die 
alphabetisch  geordneten  der  Onomastica  (vgl.  Lagarde's 
Ausgabe)  und  die  alten  Hymnen. 

Last  not  least  muß  das  Koptische  und  Syrische 
verglichen  werden.  Wenn  die  koptische  Schrift,  die  uns 
im  Jahr  95  n.  Chr.  erstmals  entgegentritt,  für  den  Hauchlaut 
(Spiritus  asper)  ein  eigenes  Zeichen  ausgebildet  hat  und  dieses 
vor  Worten  wie  sXtzic,  und  loo^  verwendet,  während  sie  sonst 
im  allgemeinen  bei  griechischen  mit  Spiritus  asper  beginnenden 
Wörtern  dem  Schriftgebrauch  ihrer  Entstehungszeit  entspre- 
chend denselben  nicht  ausdrückt,  und  wenn  gleichzeitig  im 
Lateinischen  der  Name  Helpidius  auftritt,  so  kann  die  Aspi- 
ration eines  solchen  Wortes  nicht  besser  bezeugt  werden. 

Welche  Erkenntnisse  durch  die  Vergewaltigung  die  mit 
dem  System  Hort-Helbing  der  Ueberlieferung  angetan  wird, 
ausgeschlossen  werden,  sei  nur  an  2  Beispielen  erläutert. 

Die  Protestanten  sind  durch  die  auf  das  Hebräische  zu- 
rückgehende Bibelübersetzung  Luthers  an  Hallelujah  und  Ho- 
sianna gewöhnt ,  und  so  drucken  Westcott-Hort  auch 
im  Neuen  Testament  aXXrjXouta  (Rev.  19,  1.  3.  4.  6).  Glück- 
licherweise blieben  Tischendorf  und  B.  Weiss  hinsicht- 
lich des  Spiritus  und  Akzentes  bei  der  alten  Schreibung  a,Xkr^- 
Xoü'.cc  und  so  bin  ich  durch  das  Majoritätsprinzip,  dem  meine 
Ausgabe  folgt,  in  diesem  Fall  davor  bewahrt  geblieben  eine 
meiner  Ueberzeugung  nach  falsche  Sache  in  den  Text  aufzu- 
nehmen, und  ist  die  richtige  Schreibung  mit  lenis  (sogar  ohne 
die  Erwähnung  der  andern)  auch  in  P  r  e  u  s  c  h  e  n  's  neues 
Wörterbuch  übergegangen. 

Bei  Hosianna  dagegen  hatten  schon  die  vorkritischen 
Ausgaben,  die  bei  AXXTjXouia  einmütig  noch  den  Lenis  hatten, 
den  Spiritus  asper ,  Erasmus  sogar  in  2  Worten  w;  avva ; 
ebenso  haben  ihn  Westcott-Hort  und  Weiß  wieder- 
hergestellt, obgleich  Lachmann  und  Tischendorf  ihn 
in  den  Lenis  verwandelt  hatten.  Hier  bietet  also  nach  dem 
gleichen  Majoritätsprinzip  meine  Ausgabe  das  nach  meiner 
Ueberzeugung  falsche.  Und  daß  der  Spiritus  asper  falsch, 
der  lenis  richtig  ist,    zeigt    schon,    ohne  Berücksichtigung  der 


462  I^b.  Nestle, 

Ueberliefernng,  eine  kleine  Erwägung.  Es  heißt  ja  im  Grie- 
chischen nicht  mehr  wie  im  Hebräischen  wacavva  (mit  i),  son- 
dern wie  im  Aramäischen,  oder  an  das  Aramäische  angenähert, 
waavva  (ohne  i),  und  für  das  Aramäische  ist  ja  eben  das  cha- 
rakteristisch, daß  es  nicht  wie  das  Hebräische  ein  Hiphil 
(^Tsn),  sondern  ein  Aphel  Ct^uek)  hat,  das  Wort  also  mit  lenis 
begann.  Das  bestätigt  nun  auch  die  lateinische  Bibel. 
Natürlich  darf  man  dabei  aber  nicht  nach  der  offiziellen  Aus- 
gabe von  1590/2  prüfen,  sondern  muß  nach  den  Handschriften 
bei  Wordsworth-White  sehen.  Ein  Blick  in  ihren  vor- 
trefflichen Index  verborum  genügt;  führt  derselbe  doch  neben 
den  Textstellen,  wo  das  Wort  vorkommt,  auch  die  Stellen  auf, 
wo  es  in  den  Beigaben  des  Textes  (Kapitularien  u.  s.  w.)  steht. 
Nur  in  2  Handschriften  ist  das  h  vorne,  wie  in  2  das  i  in 
der  Mitte  eingedrungen.  Daß  gelegentlich  auch  in  alten  Hym- 
nen Hosanna  und  Hosianna  vorkommt,  zeigt  Blume's  neue 
Sammlung  I  p.  12.  13.  Aber  noch  Hieronjmus,  der  doch 
Hebräisch  konnte,  hat  in  seinem  Liber- interpretationis  hebrai- 
corum  nominum  (S.  62  in  Lagarde's  Onomastica)  Osanna  sal- 
fivica,  quod  graece  dicitur  awaov  oy';.  Keine  der  von  Lagarde 
verglichenen  Handschriften  weist  ein  H  auf;  ebenso  S.  80 
Alleluia  laudate  dominum,  wo  wiederum  keine  Handschrift 
ein  H  hat. 

So  ist  das  von  Westcott-Hort  eingeführte  und  noch  von 
Helbing  empfohlene  Prinzip  nicht  bloß  eine  Vergewaltigung 
der  Ueberlieferung ,  sondern  eine  Verschlimmbesserung,  die 
uns  um  viel  Material  gebracht  hat,  das  über  Aussprache  und 
Betonung  —  von  den  Akzenten  gilt  das  gleiche,  wie  das  hier 
über  den  Spiritus  Ausgeführte  — ■  richtigen  und  wichtigen 
Aufschluß  geboten  hätte.  Möchte  sich  jemand  finden,  der  es 
sammelt  und  verarbeitet  ^). 

Maulbronn.  Eh.  Nestle. 


'■)  Wenigstens  in  einer  Anmerkung  unter  dem  Text  möchte  ich 
auf  einen  orthographischen  Punkt  aufmerksam  machen,  in  dem  gleich- 
falls die  gegenwärtige  Strömung  rückläufig  zu  werden  verdient,  das 
ist   die  Nichtunterscheidung   von   i    und  j,    u  und  v   in    den  Drucken. 


Spiritus  asper  u.  lenis  in  d.  Umschreibung  hebräischer  Wörter.     463 

Nachdem  einmal  die  Schrift  zu  dieser  Unterscheidung  vorgedrungen 
ist,  warum  sie  wieder  aufheben?  Man  vergleiche:  Im  Griechischen 
Neuen  Testament  laufen  2  Formen  des  Namens  Maria  neben  einander 
her,  die  Transkription  des  hebräischen  Mirjam  durch  Maptä|ji,  und  die 
gräcisierte  flektierende  Form  Mapia,  —  iag,  acc.  —  tav.  Lateinisch  druckt 
man  nun  beidemal  Mariam,  statt  Marjam  und  Mariam.  Nehme  ich 
die  Stadt  des  Priamus:  wie  einfach  unterscheidet  sich  Troja  als  zwei- 
silbig von  Troia  als  dreisilbig!  welche  typographischen  Künste  muß 
der  Thesaurus  aufbieten,  um  uns  zu  sagen,  wo  Achaia  dreisilbig  und 
wo  es  viersilbig  ist,  während  Achaja  sofort  die  Dreisilbigkeit  zeigen 
würde!  Oder  bei  u  und  v.  Das  Euangelium  und  die  Stammmutter 
aller  Menschen  druckt  man  jetzt  gleichmäßig  Ena,  die  Transkription 
des  Ulfilas  in  seiner  Gotenbibel  zeigt  mir,  daß  er  zwischen  Euangelium 
und  Eua  unterschieden  hat.  Wie  bequem  macht  sich  das,  wenn  ich 
letzteren  Namen  Eva  drucke.  Doch  auch  dies  wie  das  Obige  nur  zur 
Erwägung,  saluis  melioribus. 

Bei  der  Korrektur  kann  ich  noch  anführen,  daß  die  Charlotten- 
stiftung für  Philologie  auf  den  Leibniztag  1910  als  Preisaufgabe  aus- 
schrieb, aus  den  litei'arischen  Papyiü  nachzuweisen,  in  welchen  Fällen 
die  antiken  Schreiber  und  Korrektoren  die  Prosodie  bezeichnen ,  und 
wie  sie  das  tun.  Ein  ähnlicher  Nachweis  ist  jetzt  auch  für  Akzente 
und  Spiritus  nötig  und  möglich. 


XX. 

Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche. 

Von  Alters  her  sahen  die  Römer  den  ersten  März  als  Neu- 
jahrstag an  (Varro  L.  L.  6,  13.  33.  Atta  bei  Serv.  ad  Verg. 
Georg.  1,  43.  Ovid.  Fasti  1,  39;  3,  75.  135.  229,  Lyd.  De 
mens.  3,  15),  und  dabei  hätten  sie  es  auch  wohl  gelassen, 
wenn  sie  die  öffentlichen  und  Privatacte  nach  der  Jahreszahl 
einer  Aera  und  nicht  nach  den  Namen  der  jeweiligen  höchsten 
Beamten  datiert  hätten.  Solange  nun  der  Amtsantritt  dersel- 
ben unbestimmt  war,  das  Amtsjahr  somit  wechselte,  konnte 
die  Concurrenz  dieses  und  des  Kalenderjahres  noch  nicht  den 
althergebrachten  Neujahrstag  verdrängen.  Als  aber  vom  Jahre 
153  V.  Chr.  an  die  Consuln  regelmäßig  ihr  Amt  am  1.  Januar 
antraten  (Fasti  Praenest.  zum  1.  Jan.  CIL  I-  p.  231.  Liv. 
Epit.  47),  verband  sich  schon  bald  (Cic.  De  leg.  2,  21,  54)  im 
Bewußtsein  des  Volkes  der  Begriff  des  Jahres  und  seines  An- 
fangs mit  dem  Amtsjahre ,  und  als  vollends  der  Julianische 
Kalender  das  Jahr  mit  dem  1.  Januar  begann,  geriet  das  alte 
Neujahr  in  Vergessenheit,  und  die  Bekanntschaft  mit  ihm  be- 
schränkte sich  auf  die  Kreise  der  Gelehrten.  Wie  dieser  Vor- 
gang ganz  natürlich  war,  so  verstand  es  sich  von  selbst,  daß 
allmählich  das  neue  Neujahr  im  ganzen  römischen  Reiche  ge- 
feiert wurde.  Libanius  (In  Calendas  Vol.  I  p.  257  R)  und 
Ausonius  (Gratiarum  actio  7,  34)  sagen  ausdrücklich,  daß  der 
1.  Januar  in  allen  unter  der  römischen  Herrschaft  stehenden 
Ländern  als  Neujahrstag  begangen  wurde.  Letzterer  nennt 
insbesondere  Rom,  Constantinopel,  Antiochien,  Carthago,  Ale- 
xandrien  und  Trier  als  Schauplätze  der  Festlichkeiten.  Daß 
daneben,    namentlich    im  Oriente,    noch    die  lokalen  Kalender 


A.  Müller,  Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.    455 

mit  ihrem  verschiedenen  Neujahr  (Mommsen,  Staatsrecht  III, 
p.  707.  755)  fortbestanden,  lehrt  z.  B.  Julian  (Misop.  p.  346  Sp.), 
der  zu  Antiochien  im  Jahre  362  die  Hupwv  vou|ir]Vca,  d.  i.  den 
1.  November  (Paul.-Wiss.  V,  p.  1081),  und  im  J.  363  die 
Trayxocvo;  eopxYj,  d,  i.  den  1.  Januar,  feierte  (vgl.  Amm.  Marc. 
23,  1,  6). 

Ueber  die  Neujahrsfeier  in  ältester  und  alter  Zeit  haben 
wir  abgesehen  von  ganz  vereinzelten  Notizen  keine  Nachrichten, 
woraus  indessen  nicht  zu  schließen  ist,  daß  der  Jahreswechsel 
in  jenen  Tagen  ohne  charakteristische  Gebräuche  geblieben  sei. 
Seit  der  Augusteischen  Periode  fließen  die  Quellen  reichlicher 
—  besonders  sind  hier  Ovids  Fasten  und  Briefe  aus  dem  Pon- 
tus  zu  nennen  — ,  jedoch  handelt  es  sich  in  den  ersten  Jahrhun- 
derten der  Kaiserzeit  im  wesentlichen  auch  nur  um  gelegentliche 
Bemerkungen  der  Schriftsteller.  Erst  aus  dem  vierten  Jahr- 
hundert besitzen  wir  eingehende  Darstellungen  der  Festfeier. 
Libanius,  der  beredte  Anwalt  des  absterbenden  Heidentums, 
hat  eine  Rede  de,  y.odd'Jöxc,  (Or.  9.  Vol.  I  p.  256  ff.  R)  und 
eine  sxcppaac?  xwv  xaXavowv  (Vol.  IV  p.  1053  ff.  R)  geschrie- 
ben. Aber  trotz  seiner  ausführlichen  Darlegungen,  die,  ent- 
sprechend dem  heidnischen  Standpunkte  des  Verfassers,  die 
Feier  nur  loben  und  preisen,  würden  wir  nicht  zu  einem  rich- 
tigen Urteile  über  dieselbe  gelangen,  wenn  nicht  mehrere 
Kirchenväter  sich  in  besonderen  Reden  mit  dem  festum  ca- 
lendarum  beschäftigten.  Sie  hatten  dazu  allen  Grund.  Schon 
zu  Tertullians  Zeit,  als  es  noch  gefährlich  war  Christ  zu  sein, 
das  christliche  Leben  also  noch  in  Blüte  stand ,  gab  es  Ge- 
meindemitsflieder,  welche  die  heidnischen  Festfeiern,  nament- 
lich die  des  Neujahrsfestes,  nicht  entbehren  konnten  (Tertull. 
De  idolol.  14).  In  weit  höherem  Maße  war  das  der  Fall,  als 
das  Christentum  zum  Siege  gelangt  war  und  weite  Kreise  die 
neue  Religion  nur  äußerlich  angenommen  hatten.  Damals 
waren  Rückfälle  in  heidnische  Sitten  am  Neujahrstage  gang 
und  gäbe,  und  mit  heiligem  Eifer  predigten  die  Bischöfe  gegen 
die  zum  Teil  höchst  anstößigen  Gebräuche.  So  verdanken  wir 
den  Kirchenvätern  genauere  Kenntnis  des  Unfugs,  der  sich, 
teilweise  erst  im  Gegensatze  zum  Christentum,  der  ursprüng- 
lich   reineren  Feier    beigesellt   hatte.     Es    kommen    hier    von 

Philologus  LXVUr  (N.  F.  XXII),  4.  30 


466  Albert    Müller, 

Grieclien  in  Betracht  des  Asterios,  der  um  400  Bischof  von 
Amaseia  im  Pontus  war,  Xoyos  xair^yopcxö?  1f^c,  eopxf^c,  xwv 
xaXavSwv  (Homil.  4,  p.  57  ff.  ed.  Rüben.  1615)  und  des  Joh. 
Chrysostomus  um  390  in  Antiochien  gehaltener  Aoyo;  tcxXc, 
xaXdcvSats  (Homil.  23,  Vol.  I  p.  262  ff.  ed.  Francof.  1698). 
Von  Lateinern  sind  zu  nennen  Augustinus,  Sermo  198,  De 
calendis  Januariis  (Vol.  XXXVIII  p.  1024  ff.  Migne),  Ambro- 
sius,  Sermo  7  (Vol.  XVII  p.  617  f.  M);  Maximus,  um  420  Bi- 
schof von  Turin,  Sermo  16  (Vol.  LVII  p.  255  f.  M),  Petrus 
Chrysologus,  seit  433  Bischof  von  Ravenna,  Sermo  155  (Vol. 
LH  p.  609  f.  M)  und  die  Pseudoaugustinischen  Sermones  129 
u.  130  (Vol.  XXXIX  p.  2001  u.  2003  M). 

Aus  diesen  Quellen  ergibt  sich,  daß  das  Neujahrsfest  alle 
Kreise  der  Bevölkerung,  Hoch  und  Niedrig,  den  Kaiser  wie 
den  Sklaven,  berührte  und  eine  politische,  religiöse  und  ge- 
sellige Seite  hatte. 

In  erster  er  Beziehung  war  die  Hauptfeierlichkeit  der  Amts- 
anti'itt  der  Consules  ordinarii,  bei  dem  es  folgendermaßen  zu- 
ging. In  aller  Frühe  mußten  nach  alter  Sitte  Anspielen  an- 
gestellt werden.  Aber  schon  in  den  letzten  Zeiten  der  Repu- 
blik war  das  Einholen  derselben  eine  bloße  Förmlichkeit  ge- 
worden. Regelmäßig  wurde  durch  apparitores  jedem  der  bei- 
den Consuln  in  seine  Wohnung  gemeldet,  es  sei  ein  Blitz  von 
links  her,  also  das  auspicium  Optimum,  beobachtet  (Dion.  Hai. 
2,  6.  Cic.  De  div.  2,  35,  74.  Mommsen  Staatsrecht  V  p.  78). 
Darauf  legte  der  Consul  die  praetexta  an  (Liv.  21,  63,  10. 
Ov.  Fast.  1,  81).  Im  2.  Jahrhundert  änderte  sich  die  Tracht, 
indem  an  die  Stelle  der  praetexta  die  für  die  Triumphatoren 
übliche  ganzpurpurne  toga  picta  trat,  zu  der  dann  auch  die 
tunica  palmata  gehörte.  (Vgl.  die  Münzen  des  Antoninus 
Pins  aus  seinem  Consulatsjahre  140  bei  Cohen  II  p.  286  n. 
50  u.  Tafel  13,  und  des  Caesar  Marcus  aus  dem  Jahre  146 
bei  Eckhel  VII,  46;  vielleicht  auch  die  Darstellung  auf  dem 
Philopapposmonumente  nach  Köhler,  Athen.  Mitt.  I,  126;  He- 
rod.  1,  16  erwähnt  die  evtaüato;  Tiopcpupa).  Diese  kostbaren 
Gewandstücke  (abgeb.  bei  Baumeister,  Denkm.  fig.  1923)  ent- 
lehnte der  Consul  aus  dem  Tempelschatze  des  Capitolinischen 
Juppiter  (Vit.  Alex.  40.    Probi  7),    Gordian  I.  war  der  erste, 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  467 

welcher  ein  eignes  Costüm  besaß  (Vita  4)  *).  Ursprünglich 
gehörten  zu  dieser  Tracht  weiße  Schuhe  (Lydus  De  mag.  1,  32) ; 
in  ganz  später  Zeit  werden  goldene  erwähnt  (Cassiod.  Var, 
6,  1,  6).  In  der  Hand  trug  der  Consul  ein  sceptrum,  auf  dessen 
Spitze  ein  Adler  augebracht  war  (Vit.  Aurel.  13;  Amm.  Marc. 
29,  2,  5;  Prudentius  adv.  Symm.  1,  349). 

Noch  in  der  Morgenfrühe  versammelten  sich  nun  im  Hause 
des  Consuls  seine  Freunde,  um  ihm  ihre  Glückwünsche  darzu- 
bringen (Ov.  Ex  Pento  4,  4,  27;  4,  9,  4.  11).  Der  Sitte  ent- 
sprechend wurden  sie  dazu  aufgefordert.  In  der  Provinz  Bi- 
thynien  kam  es  vor,  daß  die  Beamten  beim  Antritt  ihres 
Amtes  wohl  an  tausend  Personen  einluden  (Plin.  Ep.  10,  116). 
So  weit  werden  die  Consuln  ihre  Einladungen  schwerlich  aus- 
gedehnt haben.  Man  lehnte  dieselben  nur  aus  ganz  erheb- 
lichen   Gründen   ab    (Symmach.   Ep.   5,  5;    6,  10.   36;    8,  21; 

9,  112.  113;  10,  3).  Nachdem  jetzt  die  zwölf  Lictoren  einge- 
treten waren  (Ov.  Fast.  1,  81)  und  die  fasces  erhoben  hatten 
(Verg.  Aen.   7,  173),    welche  mit  Lorbeer  umwunden  (Martial. 

10,  10,  1)  und  in  späterer  Zeit  auch  mit  den  Beilen  versehen 
waren  (Nov.  Justin.  25,  5,  1),  traten  die  Versammelten  zum 
Festzuge  an,  bei  dem  die  Senatoren  zu  beiden  Seiten  des  Con- 
suls, die  Ritter  vor  ihm  hergingen  (Ov.  Ex  Ponto  4,  9,  17). 
Als  der  Festzug  sich  nach  der  Art  des  Triumphes  gestaltet 
hatte,  ging  der  Consul  nicht  mehr  zu  Fuß,  sondern  fuhr,  und 
zwar,  wenn  er  Kaiser  war,  mit  vier  Pferden  (Eckhel  VlII 
p.  336) ,  oder  er  ließ  sich  in  einer  Sänfte  tragen  (Dio  Cass. 
60,  2.  Symmach.  Ep.  1,  101).  Es  ist  anzunehmen,  daß  die 
elfenbeinerne,  reich  mit  Schnitzwerk  verzierte,  sella  curulis 
im  Festzuge  getragen  wurde  (Ov.  Ex  P.  4,  9,  26).  Daß  dieser 
vom  Hause  des  Consuls  ausging,  war  durchaus  Regel.  Wenn 
Galba  sein  Consulat  im  Jahre  33  vom  Palatium  aus  antrat, 
so  beruhte  das  auf  seiner  Verwandtschaft  mit  der  Livia  (Plut. 
Galba  3).  Die  sich  drängende  Menge  der  Zuschauer  trug 
weiße  Kleider  (Ov.  F.  1,  80.    Ex  P.  4,  9,  21). 

*)  Wenn  in  späterer  Zeit  als  consularisches  Gewand  häufig  die 
trabea  genannt  wird,  so  ist  darunter  bald  das  ganze,  aus  toga  und 
tunica  bestehende,  Costüm  zu  verstehen  (Amm.  Marcell.  23,  1,  1;  25, 
10,  11;  26,  5,  6;  29,  2,  15;  Cod.  Theod.  8,11,4),  bald  nur  die  tunica 
palmata  (Ausonius  Id.  4,  92  -.  trabeam  pictamque  togam). 

30* 


468  Albert    Müller, 

In  der  spätem  Kaiserzeit  ließen  die  Consuln  Geld  unter 
das  Volk  auswerfen,  wodurch  ein  gewaltiges  Getümmel  ent- 
stand, das  Libanius  (IV,  p.  1054)  anschaulich  beschreibt. 
Asterios  (p.  57)  wirft  den  Consuln  diese  auf  Eitelkeit  beruhende 
Geldvergeudung  eindringlich  vor;  derselben  Meinung  scheinen 
die  Kaiser  Valentinian  und  Marcian  gewesen  zu  sein.  Sie  ver- 
boten im  Jahre  452  (Cod.  Just.  12,  3,  2)  solche  Verschwen- 
dung und  wiesen  die  Consuln  an ,  vielmehr  zur  Restauration 
der  Aqu'aducte  beizutragen.  Justinian  (Nov.  105,  2  §  1)  hob 
dieses  Verbot  auf  und  gestattete  das  Auswerfen  kleiner  Silber- 
münzen, und  dabei  blieb  es,  bis  Leo  der  Weise  (888 — 911) 
die  fragliche,  von  Justinian  selbstverständlich  nur  den  consules 
honorarii  erteilte,  Erlaubnis  zurücknahm  (Nov.  Leon.  94). 

Der  Zug  ging  auf  das  Capitol  2)  (Ov.  F.  1,  79;  Ex  P. 
4,  4,  29).  Dort  werden  sich  die  Conducte  der  beiden  Consuln 
getroffen  haben.  Diese  nahmen  nun  zum  ersten  Male  auf  dem 
auf  einem  tribunal  aufgestellten  curulischen  Sessel  Platz  (Ov. 
F.  1,  82).  Nachdem  sodann  die  probatio  der  beiden  Opfer- 
tiere, die  dem  Juppiter  (Tertull.  De  corona  12)  im  vorigen 
Jahre  für  gnädige  Behütung  des  Reiches  gelobt  waren,  statt- 
gefunden hatte  (Tertull.  Ad.  nat.  1,  10),  wurden  die  beiden 
weißen,  noch  nie  zur  Arbeit  gebrauchten,  Stiere  getötet  (Ov. 
F.  1,  83;  Ex  P.  4,  4,  31  f.),  und  zwar  für  jeden  Consul  einer 
(Liv.  41,  14.  15;  Ov.  Ex  P.  4,  9,  30),  sowie  für  das  nächste  Jahr 
das  gleiche  Opfer  gelobt  (Vit.  Elag.  15).  Auf  dem  vor  dem 
Tempel  des  capitolinischen  Juppiter  stehenden  Altar  brannte 
ein  Weihrauchopfer  (Ov.  F.  1,  75  f.).  Vermutlich  jetzt  übten 
die  Consuln  die  einzige  amtliche  Tätigkeit  aus,  die  sie  in 
später  Zeit  noch  besaßen,  die  Freilassung  von  Sklaven  (ülp. 
Dig.  1,  10,  1;  Amm.  Marc.  22,  7,  1;  Claudian.  In  IV.  cons. 
Honor.  612;  id.  In  Eutrop.  1,  310;  Cassiod.  Var.  6,  1;  Momm- 
sen  Staatsrecht  11^  p.  95  A.  3). 

Es  folgte  die  erste  Senatssitzung  des  neuen  Jahres  (Ov. 
Ex  P.  4,  4,  35),  in  welcher  der  consul  prior  (Gellius  N.  A. 
2,  15,  4;  Mommsen  Staatsr.  P  p.  38)  den  Vorsitz  führte.  Sie 
begann  etwa  um  Mittag  (Vit.  Elag.  15).     In  dieser  schwuren 

2)  In  christlicher  Zeit  in  eine  Kirche  (Coripp.  De  laudib.  Justini 
4,  264  S.  ). 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  469 

die  Senatoren,  die  Verfügungen  der  früheren  Kaiser  und  des 
jeweiligen  Staatsoberhauptes  halten  zu  wollen  (Dio  Cass.  53, 28), 
Tiberius  ließ  das  anfangs  nicht  zu  (Tac.  Ann.  1,  72),  später 
aber  schloß  er  sich  der  hergebrachten  Sitte  an  und  stieß  sogar 
den  Apidius  Merula  aus  dem  Senate,  weil  er  den  Eid  nicht 
geleistet  hatte  (Tac.  Ann.  4,  42) ;  Nero  warf  die  gleiche  Un- 
terlassung dem  Thrasea  Paetus  vor  (Tac.  Ann.  16,  22).  Die 
Art  der  Eidesleistung  war  verschieden.  Entweder  schwur  nur 
einer  der  Senatoren,  und  die  übrigen  erklärten  sich  damit  ein- 
verstanden, oder  jeder  einzelne  leistete  den  Eid  (Dio  Cass. 
58,  17;  59,  13).  Außer  andern  Verhandlungsgegenständen 
hatte  einer  der  neuen  Consuln  in  seinem  und  seines  Collegen 
Namen  dem  Kaiser  für  ihre  Ernennung  zu  danken  (Ov.  Ex  P. 
4,  4,  39;  Piin.  Paneg.  4.  90).  Da  diese  Dankrede,  wie  die 
des  Plinius  zeigt,  sehr  lang  zu  sein  pflegte,  dauerte  die  Sit- 
zung bis  spät  hin,  zumal  neben  allen  andern  Tractanden  nach 
einem  früheren  Senatsbeschlusse  noch  Reden  des  Augustus  und 
Tiberius  verlesen  wurden.  Claudius  schaffte  daher  in  seinem 
zweiten  Consulate  (42)  diese  Verlesung  ab,  indem  er  erklärte, 
es  genüge,  wenn  die  fraglichen  Reden  auf  eherne  Tafeln  einge- 
graben würden  (Dio  Cass.  60,  10).  Nach  der  Senatssitzung 
begaben  sich  die  Consuln,  wiederum  begleitet  von  Senatoren 
und  Freunden,  nach  Hause  (Ov.  Ex  P.  4,  4,  41).  Den  Be- 
schluß der  Feier  machte  ein  Festmahl,  das  in  älterer  Zeit  der 
Consul  den  Senatoren  und  Magistraten  gab.  Cicero  (Tusc. 
4,  2,  4)  erwähnt  die  epulae  magistratuum,  und  Plinius  (N.  H. 
14,  15,  97)  nennt  die  Weinsorten,  die  Caesar  in  seinem  dritten 
Consulate  seinen  Gästen  vorgesetzt  hatte.  In  der  späteren 
Kaiserzeit  lud  der  Kaiser  die  höchsten  Beamten  und  Senatoren 
ein.  Der  Biograph  des  Pertinax  (Vit.  6)  erzählt,  dieser  Kaiser 
habe  das  nach  der  Ermordung  des  Commodus  getan,  der  sei- 
nerseits diese  Sitte  nicht  beobachtet  hätte. 

Denselben  Eid  wie  die  Senatoren  hatten  am  Neujahrstage 
die  Beamten  zu  leisten.  Schon  im  Jahre  45  v.  Chr.  wurde 
geschworen,  neben  den  Gesetzen  auch  die  Verfügungen  Caesars 
zu  beobachten  (Appian.  B.  c.  2,  106) ;  in  gleicher  Weise  ver- 
pflichteten sich  die  Triumvirn  (Dio  Cass.  47,  18).  In  der  Fol- 
gezeit   schwur    man    auf  die  Verfügungen   aller  Cäsaren,    die 


470  Albert   Müller, 

nicht  für  ehrlos  erklärt  waren  (Dio  Cass.  47,  18),  sowie  auf 
die  bereits  ergangenen  der  regierenden  Kaiser  (Dio  51,20); 
später  wurde  die  Verpflichtung  auch  auf  die  noch  bevorstehen- 
den Erlasse  derselben  ausgedehnt  (Dio  57,  8).  Auch  dieser 
Eid  wurde  entweder  von  jedem  Beamten  oder  in  jeder  Kate- 
gorie von  einem  geleistet,  dem  sich  die  übrigen  anschlössen 
(Dio  60,  35).  Einige  Kaiser,  wie  Tiberius  (Dio  57,  8),  Nero 
(Tac.  Ann.  13,  11)  und  Claudius  (Dio  60,  10),  ließen  in  ein- 
zelnen Fällen  den  Eid  auf  ihre  Acta  nicht  zu.  Die  Kaiser 
selbst  brauchten  die  Befolgung  der  Verfügungen  ihrer  Vor- 
gänger nicht  zu  beschwören,  haben  den  Eid  aber  mitunter 
freiwillig  geleistet,  so  Tiberius  (Dio  57,  8)  und  Claudius  (Dio 
60,  25). 

Auch  das  Militär  hatte  am  1.  Januar  seinem  Kriegsherrn 
jedesmal  den  Eid  zu  erneuern.  Gleich  nach  Augustus'  Tode 
wurde  das  in  Anregung  gebracht,  aber  zunächst  ohne  Erfolg 
(Tac.  Ann.  1,  8).  Im  Jahre  69  war  es  jedoch  bereits  herge- 
brachte Sitte  (Tac.  Eist.  1,  55;  Suet  Galba  16;  Plut.  Galba 
22;  Lydus  de  mens.  4,  4). 

Von  den  für  das  Wohl  des  Staates  am  1.  Januar  darge- 
brachten Opfern  und  Gelübden  läßt  sich  ein  aus  dieser  Feier- 
lichkeit erwachsener  und  auf  den  3.  Januar  fallender  Act  nicht 
trennen  und  muß  ebenfalls  zu  den  Neujahrsgebräuchen  gerech- 
net werden.  Im  Jahre  44  beschloß  der  Senat  unter  den  über- 
triebenen Caesar  zuerkannten  Ehren  auch,  daß  alljährlich  für 
ihn  gebetet  werden  sollte  (Dio  44,  6).  Nachdem  Antonius 
von  Augustus  besiegt  war,  bestimmte  man  (Dio  51,  19),  die 
Priester  und  Priesterinnen  sollten  diesen  in  ihre  Gebete  für 
Senat  und  Volk  einschließen.  Um  diese  Gelübde  für  den 
Kaiser  nicht  mit  den  am  1.  Januar  üblichen  und  dem  Staate 
geltenden  zusammenfallen  zu  lassen,  verlegte  man  sie  auf  einen 
andern  Tag.  Im  Jahre  27  n.  Chr.  fielen  sie  auf  den  4.  Ja- 
nuar (CIL  VI,  2024),  im  J.  38  auf  den  3.  Januar  (CIL  VI, 
2028),  und  dabei  ist  es  geblieben.  Der  2.  Januar  war  dazu 
nicht  geeignet,  weil  der  erste  Tag  nach  allen  Kaienden  ein 
dies  ater  war  (Liv.  6,  1,  12;  Ov.  F.  1,  58;  Gell.  N.  A.  5,  7). 
Bei  diesen  vota  opferte  der  Consul  im  Triumphalgewande 
(Mommsen  Staatsrecht  P  p.  400  A.  2)  einen  weißen  Stier  (Ov. 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  471 

Ex  P.  4,  9,  49).  Der  Tag  wurde  im  ganzen  Reiche  festlich 
begangen  (Plin.  Ep.  10,  35  f. ;  100  f.)  und  als  Freudentag  an- 
gesehen. Als  Aelius  Verus  am  1.  Januar  138  gestorben  war, 
verbot  der  vota  wegen  Hadrian  ihn  zu  betrauern  (Vit.  Hadr. 
23).  Im  Jahre  399  gestatteten  Arcadius  und  Honorius  aus- 
drücklich, an  diesem  Tage  die  Veranstaltung  von  Festessen, 
nur  sollten  heidnische  Opfer  und  Gebräuche  vermieden  werden 
(Cod.  Theod.  16,  10,  17).  Im  sechsten  Jahrhundert  erwähnt 
Lydns  (De  mens.  4,  10)  die  ßoxa  uoußXLxa,  und  noch  im  J. 
692  lebte  das  Fest,  vermutlich  auch  mit  heidnischen  Gebräu- 
chen; denn  das  Concilium  Trullanum  von  diesem  Jahre  ver- 
bietet im  62.  Canon  den  Christen  xa  XeyG[ji£va  ßota  zu  feiern^). 

Sowohl  am  1.  wie  am  3.  Januar  wurden  von  allen  Prie- 
sterschaften Gebete  gesprochen  und  Opfer  dargebracht  (vgl. 
den  S.  470  erwähnten  Senatsbeschluß  vom  J.  30  v.  Chr.).  Ein 
Opfer  der  Arvalbrüder  für  Neros  zweites  Consulat  am  1.  Ja- 
nuar 57  s.  CIL.  VI,  2038.  Ebenso  hatten  am  3.  Januar 
sämtliche  PriestercoUegien  (Dio  59,  3,  4)  vota  auszusprechen, 
wie  die  Pontifices  (Tac.  Ann.  4,  17),  die  Augures  und  Septem- 
viri  (Plin.  Ep.  10,  13)  und  die  Arvalbrüder,  welche  an  die- 
sem Tage  nach  einem  Gebete  an  Juppiter,  Juno,  Minerva  und 
die  Salus  publica  dem  Juppiter  zwei  Stiere,  den  Göttinnen 
aber  je  zwei  Kühe  gelobten  (CIL  VI,  2059.  2065).  Der  Kaiser 
Tacitus  ließ  einen  Tempel  mit  den  Statuen  der  guten  Kaiser 
bauen,  denen  am  1.  und  3.  Januar  geopfert  werden  sollte 
(Vit.  Tac.  9).  Später  wurden  alle  diese  Opfer  verboten.  Li- 
banius  (Vol.  I  p.  260  R)  klagt,  daß  die  blutigen  und  unbluti- 
gen Opfer,  die  am  Neujahrstage  früher  überall  dargebracht 
seien,  infolge  kaiserlichen  Verbots  aufgehört  hätten. 

Auch  der  häusliche  Gottesdienst  wird  am  1.  Januar  nicht 
ohne  besondere  Feier  geblieben  sein.     In  den  Familien  wurde 


^)  Nicht  zu  den  Neu  Jahrsgebräuchen  sind  am  1.  Januar  abgehaltene 
Triumphe  zu  rechnen,  wie  der  des  L.  Antonius  vom  J.  41  v.  Chr.  (Dio 
48,  4)  und  der  des  Tiberius  vom  J.  7  v.  Chr.  (Dio  55,  8).  In  diesen 
Fällen  traten  die  betreffenden  Feldherren  ibr  Consulat  an  und  verban- 
den mit  dieser  Feierlichkeit  ihren  Triumph.  Ebensowenig  gehören 
hierher  Fälle,  in  denen  am  1.  Januar  Statuen  der  Kaiser  dediciert  wur- 
den, wie  das  corpus  corariorum  magnariorum  solatariorum,  d.  i,  die  Cor- 
poration der  Großhändler  mit  Sandalensohlen,  im  J.  287  den  Kaisern 
Diocletian  und  Maximian  Statuen  enthüllte  (CIL  VI,  1117). 


472  Albert    Müller, 

stets  an  den  Kaienden  den  Laren  geopfert  (Tibull.  1,  3,  33, 
Prop,  4,  3,  58  f.);  am  Neujahrstage  ging  aber  vermutlich  dem 
Larenopfer  eine  Spende  au  den  Janus  voraus.  War  es  doch 
allgemein  üblich,  bei  Opferhandlungen  den  Anfang  mit  einem 
Gebete  an  und  einem  Opfer  für  den  Janus  zu  machen  (Mar- 
quardt  Staatsverwaltung  III  p.  26  Anm.  5),  und  schloß  die 
Verehrung  der  Hausgötter  nicht  aus,  daß  man  sich  in  ein- 
zelnen Fällen  an  besonders  vorgeschriebene  Gottheiten  wandte 
(Marquardt  1.  c.  p.  128).  Man  spendete  dabei  wohl  den  für 
den  Janus  auch  sonst  üblichen,  aus  Mehl  und  Salz  bestehenden 
(Ov.  F.  1,  128)  und  Janual  genannten  (Festus  p.  104  M), 
Kuchen  sowie  Weihrauch  und  Wein  (Ov.  F.  1,  172).  Die 
eben  erwähnte  Klage  des  Libanius  bezieht  sich  vermutlich  auch 
auf  die  häuslichen  Opfer. 

Hier  möge  noch  bemerkt  werden,  daß  am  1.  Januar  zwei 
auf  der  Tiberinsel  gelegene  Tempel  dediciert  waren,  und  zwar 
im  J.  291  V.  Chr.  der  des  Aesculapius  (Liv.  Epit.  11.  Ov.  F.  1, 
289  ff.)  und  im  J.  194  v.  Chr.  der  des  Juppiter  (Liv.  34,  53. 
Ov.  F.  1,  293).  Im  J.  7  v.  Chr.  weihte  an  demselben  Tage 
Tiberius  als  Consul  die  Kapelle  der  Livia  ein  und  übernahm  die 
Herstellung  des  Concordiatempels  (Dio  55,  8). 

An  den  Jahreswechsel  knüpften  sich  verschiedene  super- 
stitiöse  Anschauungen,  von  denen  wir  einige  anführen.  Zu- 
nächst solche,  die  in  das  Gebiet  des  Tagewählens  gehören. 
Man  glaubte,  wenn  der  1.  Januar  mit  den  nundinae  zusam- 
menfiele, so  sei  in  dem  betreffenden  Jahre  Unglück  zu  erwar- 
ten. Dieser  Aberglaube  hat  sich  vermutlich  in  der  Zeit  zwi- 
schen 87  und  50  v.  Chr.  gebildet,  wo  mehrere  Jahre,  in  denen 
dieser  Zusammenfall  vorkam ,  Unglück  brachten.  Das  Jahr 
43  V.  Chr. ,  in  dem  sich  Unglück  an  Unglück  reihte ,  schien 
diese  Auffassung  besonders  zu  bestätigen.  Daher  traf  man, 
um  für  das  Jahr  40,  wo  die  nämliche  Constellation  zu  erwar- 
ten war,  diese  zu  vermeiden,  eine  eigentümliche  Maßregel. 
Man  schob  in  den  Februar  des  vorausgehenden  Jahres  einen 
außerordentlichen  Schalttag  ein  und  ließ  dann  im  Januar  des  be- 
treffenden Jahres  einen  Tag  weg  (Dio  48,  33.  Unger  Chrono- 
logie §  93).  Aehnlich  ist  folgendes,  was  wir  bei  Lydus  (De 
mens.  4,  10)  lesen.     Je    nach  dem  Wochentage,    auf  den  der 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  473 

1.  Januar  fiel,  prophezeite  man  für  den  Verlauf  des  Jahres 
Glück  oder  Unglück.  War  es  der  Sonntag,  so  waren  Krieg, 
Tod  hoher  Beamter  und  bürgerliche  Unruhen  zu  erwarten. 
Der  Montag  brachte  Kindersterben  und  Teurung  der  Lebens- 
mittel; der  Dienstag  Feuersbrünste  und  Seuchen,  aber  reiche 
Ernte  an  Wein  und  Oel;  der  Mittwoch  Sterben  von  Kindern 
und  im  mittleren  Lebensalter  stehenden  Frauen  u.  s.  w.  Chry- 
sostomus  (Hom.  23  p.  265)  und  Ambrosius  (Sermo  7,  p.  617) 
warnen  ihre  Gemeinden  eindringlich  vor  dem  Tagewählen. 

Aengstlich  achtete  man  auf  allerhand  Vorkommnisse,  in 
denen  man  ein  gutes  oder  schlimmes  Vorzeichen  zu  erkennen 
glaubte.  Knisterten  die  auf  den  Altären  brennenden  Zweige 
laut,  so  wurde  auf  ein  glückliches  Jahr  geschlossen  (Tib.  2,  5, 
81.  Ov.  F.  1,  75).  Widerwärtige  Ereignisse  am  Neujahrstage 
deutete  man  auf  Unglück.  Auf  den  Tod  des  Caligula  bezog 
man  den  Umstand,  daß  dem,  beim  Antritt  seines  vierten,  in 
sein  Todesjahr  fallenden,  Consulates,  geopferten  Stiere  die 
Leber  fehlte  (Plin.  N.  H.  11,  189).  Am  1.  Januar  des  Jahres 
68,  in  welchem  Nero  starb,  fielen  bei  der  Vorbereitung  des 
Opfers  die  Laren  um,  und  dem  Kaiser  wurde  ein  Ring  ge- 
schenkt, dessen  Stein  eine  Darstellung  des  Raubes  der  Proser- 
pina zeigte.  Gleich  darauf  am  Tage  der  Vota  konnten  die 
Schlüssel  zum  Capitol  nur  mit  Mühe  gefunden  werden  (Suet. 
Nero  46).  Weil  Galba,  als  er  am  1.  Januar  69  opferte,  der 
Kranz  vom  Kopfe  fiel  und  bei  der  Auspication  die  Hühner 
wegflogen  *),  erwartete  man  sein  Ende  (Suet.  Galba  18).  Un- 
glück ließ  eine  unter  Commodus  am  1.  Januar  plötzlich  ein- 
tretende Verfinsterung  befürchten  (Vit.  Comm.  16).  Komisch 
wrirkt,  was  Dio  (57,  18)  zum  Jahre  19  n.  Chr.  erzählt.  Nor- 
banus,  der  neue  Consul  dieses  Jahres,  war  ein  leidenschaft- 
licher Tubabläser;  es  machte  ihm  daher  Freude,  das  neue 
Jahr  und  den  Tag  seines  Amtsantritts  mit  Ausführung  eines 
Stückes  zu  begrüßen.  Da  nun  die  Tuba  nicht  nur  im  Kriege, 
sondern  auch  bei  Leichenbegängnissen  (Pers,  Sat.  3,  103  u. 
Schol.)  geblasen  wurde,    so  geriet  die  bereits  vor  dem  Hause 


*)  Dieses  beim  Amtsantritt  der  Consuln  sonst  nicht  übliche  auspi- 
cium  ex  tripudiis  scheint  Galba  als  Inhaber  des  militärischen  imperium 
angewandt  zu  haben.     Vgl.  Mommsen  Staatsrecht  P  p.  82  A.  2. 


474  Albert   Müller, 

versammelte  Menge  in  Schrecken  und  befürchtete  einen  wich- 
tigen Todesfall.  In  der  Tat  starb  am  10.  Oktober  Germa- 
nicus. 

Der  uralte,  schon  von  Xenophon  (Mem.  1,  1,  4.  14)  er- 
wähnte, Aberglaube,  nach  dem  man  von  den  zuerst  am  Tage 
gesehenen  Vögeln  sowie  begegnenden  Menschen  und  Tieren 
auf  Glück  oder  Unglück  schloß,  hatte  besonders  am  1.  Januar 
seine  Geltung  (Ov.  F.  1,  180).  Er  dauerte  noch  in  christlicher 
Zeit  fort.  Die  Bischöfe  Maximus  von  Turin  (Sermo  16  p.  258) 
und  Petrus  Chrysologus  von  Ravenna  (Sermo  18  p.  249),  so- 
wie Ps.  Augustinus  (Sermo  129  p.  2001)  und  das  Concil  von 
Auxerre  vom  J.  590  (Can.  4)  ermahnen  die  Gläubigen,  da- 
von abzulassen  und  lediglich  auf  Gott  zu  vertrauen. 

Gebildete  pflegten  sich  aus  Homer  und  Vergil  ein  Orakel 
zu  holen,  indem  sie  diese  Bücher  aufs  geratewohl  aufschlugen, 
um  den  Vers,  auf  den  ihr  Auge  zuerst  fiel,  als  solches  zu  be- 
nutzen (vgl.  über  die  sortilegi  Marquardt  Staatsverwaltung  III 
p.  102).  Die  Christen  bedienten  sich  statt  der  heidnischen 
Dichter  der  Bibel,  und  so  entstand  der  Gebrauch  der  sortes 
sanctorum  (seil,  bibliorum),  wogegen  das  eben  erwähnte  Con- 
cil Einsprache  erhob. 

Andere  Gebräuche  sollten  für  das  ganze  Jahr  gute  Ge- 
sundheit garantieren.  Trank  man  am  1.  Januar  in  aller  Frühe 
nüchtern  ungemischten  Wein,  so  bekam  man  im  Laufe  des 
Jahres  kein  Podagra  (Lydus  De  mens.  4,  8).  Als  Vorläufer 
der  im  Mittelalter  üblichen  Johannisfeuer  ist  für  uns  besonders 
interessant  der  Gebrauch ,  am  Neujahrstage  vor  den  Häusern 
Feuer  anzuzünden  und  zu  überspringen.  Diese  auch  an  andern 
Festen  übliche  Sitte  (Ov.  F.  4,  727.  781  f.),  von  der  man  sich 
wegen  der  reinigenden  Kraft  des  Feuers  gute  Gesundheit  ver- 
sprach, verbietet  das  Trullanische  Concil  vom  J.  692  (Can.  65). 

Grundsätzlich  ließ  man  den  Neujahrstag  von  Arbeit  frei 
(Libau.  Vol.  I  p.  258).  Wenn  dennoch  jeder  die  Hand  an 
sein  tägliches  Geschäft  zu  legen  pflegte  —  so  der  Handwer- 
ker (Ov.  F.  1,  169)  und  der  Landmann  (Colum.  R.  r.  11,  2, 
98)  — ,  so  war  das  keine  ernste  Arbeit,  man  wollte  vielmehr 
das  Geschäft  durch  einen  kurzen  und  glücklichen  Anfang  für 
das   ganze    Jahr    weihen.     Ebenso    verhielt   es    sich    mit    der 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  475 

Rechtsprechung.  Im  Prinzip  wurde  dieselbe  am  1,  Januar 
nicht  geübt  (Ov.  F.  1,  73  f.;  Cod.  Theod.  2,  8,  19;  Liban.  Vol. 
I  p.  258).  Damit  scheint  in  Widerspruch  zu  stehen,  daß  Ovid 
(F.  1,  165)  die  Frage  auf  wirft,  warum  der  1.  Januar  nicht 
ohne  Prozesse  sei.  Derselbe  ist  aber  nur  scheinbar;  denn  in  der 
Tat  wurde  nicht  verhandelt,  sondern  der  Prätor  nahm  zur  Er- 
öffnung seiner  Tätigkeit  nur  die  Klagen  an  (Lydus  De  mens. 
4,  4.    Mommsen  Staatsrecht  P  p.  596). 

Von  einem  schwer  zu  erklärenden  Aberglauben  berichten 
die  Pseudo-x\ugustinischen  Sermonen  129  und  130  (p.  2001 
u.  2003).  Hier  wird  erzählt,  daß  man  am  1.  Januar  nieman- 
dem, weder  seinem  Nachbar,  noch  einem  Fremden,  Feuer  von 
seinem  Herde  oder  sonst  eine  Gabe  auf  seine  Bitte  darreichte. 
Sollte  man  von  der  Verringerung  des  Herdfeuers  am  Neu- 
jahrstag eine  dauernde  Schädigung  des  Hauswesens  im  bevor- 
stehenden Jahre  befürchtet  haben?  Damit  wäre  aber  die  Ver- 
weigerung sonstiger  Gaben  an  bedürftige  Bittsteller,  die  mit 
der  allgemein  am  Neujahrstage  herrschenden  Gebefreudigkeit 
in  Widerspruch  steht,  nicht  erklärt.  Daß  übrigens  dieser 
Aberglaube  noch  im  8.  Jahrhundert  bestand,  werden  wir  weiter 
unten  erwähnen. 

Der  Neujahrstag  galt  als  laeta  dies  (Ov.  F.  1,  87).  Ueberall 
sollte  Freude  herrschen.  Selbst  während  der  Proscriptionen 
geboten  die  Triumvirn  bei  Todesstrafe,  das  Fest  mit  üblichem 
Frohsinn  zu  feiern  (Dio  47,  13).  Hinrichtungen  durften  nicht 
vollzogen  werden;  kamen  sie  dennoch  vor,  so  galten  sie  als 
böses  Omen  und  wurden  streng  getadelt  (Tac.  Ann,  4,  68.  70; 
Suet,  Tib,  61;  id,  Claud,  29;  Flor,  2,9,  17;  Plut,  Mar.  45), 
Man  pflegte  sich  im  Verkehr  nur  Angenehmes  und  Liebes  zu 
sagen;  laeta  verba  erwähnt  Ovid  (F,  1,  175)  und  laetas  pre- 
cationes  Plinius  (N.  H.  28,  2,  22).  Der  neue  Consul  beglück- 
Avünschte  die  Senatoren  in  der  ersten  Sitzung  (Ov.  Ex  P,  4,  4. 
37  f.) ;  bei  Begegnungen  drückte  man  sich  die  Hand  (Herod. 
1,  16)  und  bekräftigte  sein  Wohlwollen  durch  einen  Kuß 
(Asterios  p.  53),  Aber  mit  Glückwünschen  begnügte  man  sich 
nicht,  man  sandte  sich  auch  Geschenke.  Diese  Neujahrsgaben 
nannte  man  strenae.  Man  führte  dieses  Wort  auf  eine  Sabi- 
nische  Göttin  Strenia  zuräck  (Augustin.  Civ.  D.  4,  11;    Sym- 


476  Albert   Müller, 

machus  Ep.  10,  15;  Lydus  De  mens.  4,  4),  der  man  Einwir- 
kung auf  die  Gesundheit  zusclineb.  Bei  den  Sabinern  soll 
nach  Lydus  (1,  c.)  die  Gesundheit  geradezu  streua  geheißen 
haben.  Der  Zusammenhang  mit  strenuus  liegt  auf  der  Hand. 
Der  Sage  nach  hatte  schon  der  König  Tatius  aus  dem  Haine 
der  Strenia  Zweige  eines  „glücklichen  Baumes"  als  Neujahrs- 
geschenk erhalten  (Symmach.  Ep.  10,  15).  Felices  arbores 
sind  solche,  deren  Zweige  bei  religiösen  Handlungen  gebraucht 
zu  werden  pflegten,  namentlich  der  Lorbeer,  der  Oelbaum,  die 
Eiche  und  die  Myrthe  (Pauly-Wissowa  HI  p.  165).  Vermut- 
lich dachte  man  sich,  Tatius  habe  Zweige  vom  Lorbeerbaum 
bekommen,  dem  man  nicht  nur  reinigende  und  sühnende  (Plin. 
N.  H.  15,  30,  135),  sondern  auch  gesundmachende  Kraft  (Herod. 
1,  12)  zuschrieb.  Lydus  (1.  c.)  sagt,  man  habe  sich  Lorbeer- 
blätter geschenkt,  denn  dieses  cpuTOV  sei  üyiaaxLXov  (vgl.  Böt- 
tiger Kl.  Sehr.  I  p.  396).  Ferner  erfreute  man  sich  durch 
süße  Früchte,  wie  Datteln  (Ov.  F.  1,  185;  Martial.  8,  33,  11 ; 
13,  27)  und  Feigen  (Ov.  F.  1.  c;  Lydus  De  mens.  4,  5)  sowie 
andere  Süßigkeiten  (Ov.  F.  1,  189)  wie  Honig  (Ov.  F.  1,  186) 
und  Kuchen  (Lydus  De  mens.  4,  5).  Man  wollte  damit  den 
Wunsch  aussprechen,  das  ganze  Jahr  möge  angenehm  verlaufen 
(Ov.  F.  1,  187). 

Lieber  aber  als  diese  Naturalien  nahm  man  Geld  (Ov.  F. 
1,  192).  Ursprünglich  gab  man  einen  Aß,  der  sich  besonders 
zum  Neujahrsgeschenk  eignete,  weil  auf  seiner  Vorderseite  der 
Januskopf  mit  dem  doppelten  Gesichte  und  nicht  selten  mit 
dem  Glück  verheißenden  Lorbeer  bekränzt  abgebildet  war  (s. 
Baumeister  Denkmäler  p.  712  und  964  sowie  Figur  773  und 
1158).  Aber  schon  im  ersten  Jahrhundert  der  Kaiserzeit  war 
die  alte  Einfachheit  verschwunden,  und  nur  noch  der  arme 
Client  schenkte  seinem  Gönner  diese  geringe  Münze  (Martial. 
8,  38,  12);  an  die  Stelle  des  Kupfers  war  Gold  getreten  (Ov. 
F.  1,  221),  und  dabei  ist  es  geblieben.  Noch  im  6.  Jahrhun- 
dert erwähnt  Lydus  (De  mens.  4,  5)  die  Spende  von  Gold- 
stücken. Solche  Geschenke  erhielten  auch  die  Lehrer  am  Neu- 
jahrstage von  ihren  Schülern  (TertuU.  De  idolol.  10;  Liban. 
Vol.  I  p.  260;  Vol.  IV  p.  1055.  Hieronym.  ad  Ephes.  6,  4. 
Vol.  XXVI  p.  574  M).     Daß  die   strenae    als  uotwenig  ange- 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  477 

sehen  wurden,  zeigt  Paulus  (Dig.  26,  7,  12,  3),  nach  dem  der 
Vormund  verpflichtet  war ,  den  Großeltern  und  Verwandten 
seines  Mündels  solche  zu  schicken.  Zu  den  strenae  sind  auch 
die  Geschenke  zu  rechnen,  welche  die  Consuln  ihren  Freunden 
als  Dank  für  die  Begrüßung  und  Begleitung  beim  Amtsantritte 
zu  widmen  pflegten.  Nach  Plinius  (Ep.  10,  116)  erhielten  in 
Bithynien  die  zum  Ehrentage  der  Beamten  Eingeladenen  einen 
oder  zwei  Denare.  Mäßig  werden  auch  anfangs  die  Geschenke 
der  Consuln  gewesen  sein;  als  aber  die  Pracht  des  consulari- 
schen  Aufzugs  zunahm,  wurde  es  üblich  entweder  einen  Soli- 
dus,  etwa  12  M,  (Syram.  Ep.  9,  134)  oder  eine  silberne  Schale 
(Liban.  Ep.  941)  oder  Diptycha  zu  spenden.  Die  Deckel  dieser 
Schreibtafeln  (pugillares)  waren  oft  mit  Elfenbein  oder  edlen 
Metallen  verziert  (Claudian.  De  consul.  Stilich.  3,  347)  und 
zeigten  neben  dem  Namen  das  Bild  des  Consuls  sowie  andere 
Darstellungen ,  oft  von  Schauspielen ,  wie  sie  die  Geber  zu 
veranstalten  hatten  (Tierkämpfe  s.  bei  Baumeister  Denkm. 
p.  2107  Fig.  2356  und  2357).  Einfacher  (vgl.  Martial.  14,  3. 
4.  6.  7)  dürften  die  pugillares  gewesen  sein,  welche  Seneca 
zum  Geschenke  erhielt,  und  von  denen  er  (Ep.  87)  sagt,  sie 
machten  ihm  in  Verbindung  mit  Feigen  jeden  Tag  zum  Neu- 
jahr. 

Zu  erwähnen  sind  noch  Lampen  aus  Ton,  welche  auf  der 
Fläche,  die  das  zum  Eingießen  des  Oels  bestimmte  Loch  umgibt, 
eine  für  das  Neujahr  passende  Inschrift  trugen.  Es  hat  sich 
eine  Anzahl  derselben  erhalten.  Die  Inschrift  lautet  entweder 
annum  novum  faustum  felicem  tibi  (z.  B.  CIL  XV,  6202), 
oder  statt  tibi  mit  einem  Namen,  z.  B.  Joviano  (CIL  XV, 
6205).  Mehrfach  haben  sich  auch  Lampen  gefunden  mit  der 
Inschrift  ann.  n.  f.  f.  mihi  (z.  B.  CIL  XV,  6201  a  und  b)  oder 
ann.  n.  f.  f.  mihi  hie  (z.  B.  CIL  XV,  6197),  wo  der  Zusatz 
hie  „in  meinem  Hause"  bedeutet.  Exemplare  der  beiden 
letzten  Arten  waren  wohl  nicht  Geschenke,  sondern  wurden 
gekauft. 

Wenn  TibuU  (3,  1)  seiner  Neaera  am  1.  März,  dem  alten 
Neujahrstage,  eine  Rolle  Gedichte  schenkt,  so  liegt  die  An- 
nahme nahe,  daß  Bücher  auch  am  1.  Januar  verschenkt 
wurden.     Jedenfalls    schickte   man   sich    zur    reichlichen  Aus- 


478  Albert    Müller, 

stattung  der  Festtafel  am  Neujahrstage  allerhand  Producte 
des  Meeres  und  des  Landes  (Herod.  1,  16).  Als  vor  dem 
Christentume  der  Glanz  der  Saturnalien  erloschen  war,  mag 
auch  manches  von  den  Dingen,  die  Martial  im  14.  Buche  als 
Saturnaliengeschenke  aufführt,  am  Neujahrstage  gespendet 
worden  sein. 

Im  Laufe  der  Zeit  scheint  die  Freudigkeit  zum  Geben 
eher  zu-  als  abgenommen  zu  haben.  Libanius  (Vol.  I  p.  257 
und  Vol.  IV  p.  1055)  schildert  die  fröhliche  Gebestimmung  in 
überschwenglicher  Weise.  VV^er  sonst  zusammenscharre,  halte 
am  1.  Januar  Geben  für  Gewinn.  Das  Fest  lehre,  nicht  am 
Gelde  zu  kleben.  Die  Geschenke  wanderten  von  Stadt  zu 
Stadt,  von  Landsitz  zu  Landsitz  und  vom  Lande  in  die  Stadt 
sowie  umgekehrt.  Man  schicke  sich  Wildbret  und  Fleisch 
von  Haustieren  für  die  Tafel.  Alle  Straßen  seien  voll  von 
Menschen  und  Lasttieren,  welche  die  Geschenke  brächten.  Die 
Kirchenväter  gießen  aber  Wasser  in  den  Wein.  Nach  Asterios 
(p.  53  f.)  wurden  die  Geschenke  einerseits  sicher  erwartet, 
andrerseits  nur  ungern  gegeben  (vgl.  Augustin.  Sermo  198,  3 
p.  1025),  und  das  erhaltene  Geld  wurde  sofort  wieder  wegge- 
schenkt ;  es  ging  aus  einer  Hand  in  die  andere,  wie  der  Ball 
beim  Spiele,  üebrigens  gaben  nicht  nur  die  Reichen  und 
Hochgestellten  den  Niederen  und  Armen,  sondern  erhielten 
auch  von  letzteren  Geschenke.  Der  hohe  Beamte  beschenkte 
seine  Officialen,  und  diese  ihren  Vorgesetzten  (Liban  Vol.  IV 
p.  1054  f).  Manche  suchten  auch  durch  Geschenke  Vorteile 
zu  erreichen.  So  spendeten  die  Rennstallbesitzer  mit  voller 
Hand  den  Dienern  der  Magistrate  Gold,  um  sich  für  die  von 
den  letzteren  zu  gebenden  Spiele  zu  empfehlen.  Dasselbe 
taten  auch  Senatoren,  um  sich  den  Beamten  angenehm  zu 
machen  (Liban.  1.  c.)  Da  die  Kirchenväter  die  ganze  Sitte 
als  heidnisch  ansahen,  verwarfen  sie  dieselbe  entschieden, 
nannten  sie  geradezu  teuflisch  (Ps.  Aug.  129,  p.  2001)  und 
empfahlen  statt  der  strenae  Almosen  zu  geben  (Tertull.  De 
idolol.  14 ;  Augustin.  Serm.  198).  Sie  richteten  aber  mit  ihrem 
Widerspruch  wenig  aus.  Noch  das  Concil  zu  Auxerre  (can.  1) 
sah  sich  veranlaßt  im  J.  590  die  diabolicae  strenae  zu 
verbieten. 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  479 

Für  unsere   Anschauungen    höchst    auffallend   ist   es,  daß 
man  auch  dem  Kaiser  am  1.  Januar  seine  Huldigung  in  Gestalt 
einer  strena  darbrachte.     Schon  Augustus  forderte  infolge  eines 
Traumgesichtes  vom  Volke  eine  solche  Spende  (Suet.  Aug.  91). 
Er  nahm    sie   auf    dem  Capitol    in    Empfang,    indem    er    den 
Spendenden  die  hohle  Hand   hinhielt.     Aus  dem  Ertrage  ließ 
er    wertvolle    Götterstatuen   anfertigen   und    auf    den    Straßen 
aufstellen   (Suet.   Aug.    57.      Eine  Statue   des    Vulcan  Dessau 
93 ;  einen  Altar  des  Mercur  Dessau  92).     Anfangs  hatten  die 
Senatoren   zusammengeschossen   und    dem    Kaiser    die    Summe 
überreicht,  später  aber  händigten  sie  ihm  einzeln  ihre  kleineren 
oder  größeren   Geschenke    ein   (Dio   54,  35).     Das  wird  sich 
wohl  bis  tief  in  den  Januar  hinein  erstreckt  haben;  denn  Tibe- 
rius,  der    sich    dieser  Sitte   gegenüber    zurückhaltend  verhielt, 
nahm    die    strena  nur    am    1.  Januar  entgegen  und   wies  alle 
Personen,    welche   am  Neujahrstage   nicht  hatten   zu  ihm  ge- 
langen können   und    ihn   nun  im  Laufe  des  Monats  belästigten, 
entschieden    ab  (Suet.  Tib.   34).     Er   brachte    auch  wohl   den 
Festtag   außerhalb   Roms    zu,    um    die  strenae    zu    vermeiden 
(Dio  57,  8).     Caligula  dagegen  ließ  bekannt  machen,  er  werde 
an  den  Kaienden   die   strenae   in  Empfang    nehmen,    und    tat 
dies    im    Vestibulum    des    Palatiums,    wobei    ihm   Hoch    und 
Niedrig  als  Geber  recht  war  (Suet.  Cal.  42).     Anders  Claudius, 
der  sich  die  strenae  verbat  (Dio  60,  6.)     Indessen  dauerte  die 
Sitte  fort.     Es  wurden  sogar  besondere  Münzen  zur  Beglück- 
wünschung des  Kaisers  hergestellt.     Eckhel  (VI  p.  508)  führt 
eine  Münze   mit   der    Inschrift  SPQR   a.  n.    f.  f.  Hadriano  an 
sowie    eine    zweite    (VII  p.  11)  mit  SPQR   a.  n.  f.  f.  optimo 
principi  Pio.     Allmählich   wurde   aus    der   freiwilligen  Spende 
eine    regelmäßige    Abgabe.     Im   J.   384    brachte    Symmachus 
(Ep.  10,  15)  —  damals  Praefectus  Urbi,  als  welchem  ihm  die 
gesamte    militärische,   administrative    und    jurisdictionelle  Ge- 
walt im  Bezirk  der  Stadt  Rom  zustand  (Mommsen,  Staatsrecht 
IP   p.    1022)    —    den    Kaisern    Valentinian,     Theodosius    und 
Arcadius  je    eine  goldene  Schale   mit   5  solidi    im  Namen  des 
Senats  und    Volkes  dar.     Elf  Jahre    später   wurde    die  strena 
des  Kaisers  auf  72  solidi  festgesetzt  (Cod.  Th.  7,  24,  1). 

Selbst  wenn  die  Kaiser  abwesend  waren,  erhielten  sie  die 


480  Albert    Müller, 

strenae,  wie  Sueton  (Aug.  57)  und  Inschriften  (Dessau  92.  93) 
von  Augustus  bezeugen.  Caligula  war  am  I.Januar  40  wegen 
plötzlichen  Ablebens  des  designierten  Collegen  alleiniger  Consul 
und  in  Gallien  abwesend.  Da  begab  sich  der  Senat  auf  das 
Capitol,  vollzog  die  Opfer,  warf  sich  vor  dem  im  Tempel 
stehenden  Prachtsitze  des  Kaisers  zu  Boden  und  legte  die 
strena  auf  demselben  nieder  (Dio  59,  24). 

Die  Kaiser  erwiderten  aber  auch  die  Neujahrsgeschenke. 
Augustus  gab  nicht  nur  den  Senatoren,  sondern  auch  den 
übrigen  Bürgern  wenigstens  das  Doppelte  von  dem,  was  er 
empfangen  hatte,  zurück  (Dio  54,  35).  Tiberius  beschenkte  nur 
diejenigen,  welche  ihm  am  1.  Januar  die  strena  überreicht 
hatten  (Suet.  Tib.  34).  Ein  Gelehrter  in  Trier  hatte  Gratian 
eine  solche  gewidmet,  aber  keine  Gegengabe  erhalten.  Da 
bewirkte  Ausonius,  daß  ihm  sechs  Goldstücke  überwiesen 
wurden  (Auson.  Ep.  18).  Symmachus  (Ep.  10,  7)  erhielt  im 
J.  384  sogar  im  voraus  eine  strena,  wofür  er  sich  mit 
schwülstigen  Worten  bedankte.  Noch  unter  der  Gothenherr- 
schaft  teilte  derComes  sacrarumlargitiouum  reichliche  Neujahrs- 
geschenke aus  (Cassiod.  Var.  6,  7). 

Eine  eigentümliche  Geschichte  wird  von  Julian  erzählt. 
Dieser  Kaiser  wollte  am  1.  Januar  362  christliche  Soldaten 
durch  Gewährung  von  strenae  zum  Abfall  bewegen.  Er  ver- 
sprach ihnen  solche,  verlangte  aber,  daß  zuvor  jeder  Manu 
ihm  Weihrauch  opfern  sollte.  Einige  verweigerten  dies  sowie 
die  Annahme  des  Geschenkes,  andere  fügten  sich,  besannen 
sich  jedoch  bald  und  erkannten,  daß  sie  Christum  verleugnet 
hatten.  In  großer  Unruhe  begaben  sie  sich  nun  zum  Kaiser, 
warfen  das  Geld  weg  und  forderten,  er  solle  sie  töten.  Julian 
wollte  zunächst  darauf  eingehen,  begnügte  sich  aber  damit, 
sie  ins  Exil  zu  schicken  und  ihr  Vermögen  einzuziehen 
(Sozom.  5,  17;  Gregor.  Naz.  Or.  1  in  Julianum.  Vol.  I  p.  84  f. 
ed.  Col.  1690;  Landolf.  ad  Pauli  Hist.  Rom.  Vol.  II  p.  336 
Auct.  antiqu.). 

Wie  der  Herr,  so  der  Diener.  Dem  Kaiser  nachahmend 
suchten  die  aus  den  hochgestellten  Beamten  gewählten  Bot- 
schafter, welche  die  Kunde  von  der  Ernennung  neuer  Consuln 
in  die  Provinzen  zu  bringen  hatten  (Vit.  Hadr.  2)  Geldgeschenke 


Die  Neujahrsfeiei'  im  römischen  Kaiserreiche.  481 

für  ihre  Nachrichten  zu  erpressen.  Dem  machten  die  Verord- 
nungen C.  Theod.  8,  11,  1 — 4  ein  Ende.  Freiwillige  Gaben 
der  Reichen  blieben  gestattet.  Auch  die  Provinzialstatthalter 
forderten  von  den  Curialen  der  Städte  eine  strena.  Gegen  diesen 
Unfuty  richtete  sich  eine  Verfügung  der  Kaiser  Leo  und 
Maiorianus  vom  J.  458  (Nov.  Maior.  7,  1  §  12),  die  für  jeden 
Uebertretungsfall  eine  Strafe  von  1  Pfund  Gold  festsetzte. 

Von  dem,  was  das  Volk  besonders  im  4.  und  5.  Jahr- 
hundert beim  Jahreswechsel  anstellte,  können  wir  uns  nach 
Libauius  und  den  Kirchenvätern  einigermaßen  ein  Bild  machen. 
Es  ist  dabei  zu  beachten,  daß  man  des  Glaubens  war,  wie 
man  den  ersten  Tag  des  Jahres  verlebe,  so  werde  das  ganze 
Jahr  verlaufen.  Diese,  schon  von  Ovid  (F.  1,187  f.)  ausge- 
sprochene, Auffassung  hielt  sich  noch  nach  dem  Siege  des 
Christentums,  und  die  Kirchenväter  machen  ihren  Gemeinden 
daraus  einen  ernsten  Vorwurf  (Chrysost.  Hom.  23  p.  263.  Ps. 
August.  Serm.  129  p.  2002).  Auf  diesem  Boden  erwuchsen 
dann  folgende  Sitten  und  Gebräuche. 

Selbstverständlich  legte  man  Wert  auf  festliche  Kleidung 
(Liban.  Vol.  IV  p.  1053).  Wie  seinen  Körper,  so  schmückte 
man  auch  sein  Haus.  Der  alten  Sitte,  bei  festlichen  Gelegen- 
heiten die  Haustüren  mit  Girlanden  zu  verzieren  (Juven.  6,  51. 
79.  227),  kam  man  am  Neujahrstage  nach;  besonders  verwandte 
man  dazu  Lorbeerzweige,  an  die  man  Abends  auch  Laternen 
hängte.  Tertullian  (ad  Uxor.  2,  6)  spricht  von  einer  ianua 
laureata  et  lucernata  (vgl.  denselben  De  idolol.  15 ;  Liban. 
Vol.  IV  p.  1054;  Chrysost.  Hom.  23  p.  260).  In  derselben  Weise 
schmückte  man  die  Straßen,  besonders  den  Marktplatz,  mit 
Kränzen,  wobei  auch  die  Beleuchtung  nicht  fehlte.  Chrysosto- 
mus  (p.  263.  265)  vergleicht  die  so  geschmückte  Stadt  mit 
einem  aufgeputzten  eitlen  Weibe.  Auch  Räucherwerk  wurde 
auf  den  Straßen  verbrannt  (Tert.  Apol.  35).  Die  Gewerbtrei- 
benden  legten  in  ihren  Läden  die  Erzeugnisse  ihrer  Tätigkeit 
aus  und  wetteiferten  mit  ihren  Concurrenten  (Chrysost.  p.  263). 

Den  größten  Wert  legte  man  aber  auf  die  Tafelfreuden. 
Bei  den  Reichen  gab  es  sybaritische  Mahlzeiten,  aber  auch 
bei  den  Armen  war  der  Tisch  besser,  als  gewöhnlich  (Liban. 
Vol.  I  p.  257).     Es   scheint,    daß   die  Wohlhabenden   die  Be- 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  4.  31 


482  Albert   Müller, 

dürftigen  mit  Naturalien  unterstützten;  denn  Libanius  (Vol. 
IV  p.  1054)  sagt,  niemand  sei  so  arm,  daß  er  nicht  ein 
reiches  Mahl  bekäme.  Der  Landwirt  genoß  die  Früchte  seiner 
Wirtschaft  und  die  Ausbeute  seines  Jagdreviers;  der  Arbeiter 
kaufte  nach  Kräften  Lebensmittel  (Liban.  p.  1053).  Vom 
Kaiser  Alexander  Severus  wird  berichtet,  er  habe  für  gewöhn- 
lich sehr  einfach  gespeist,  aber  am  Neujahrstage  einen  Fasanen 
verlangt  (Vit.  37).  Weit  verbreitet  war  die  Sitte,  in  der 
Neujahrsnacht  einen  mit  Speisen  und  Getränken  reich  besetzten 
Tisch  aufzustellen  und  zum  Genuß  einzuladen.  Besonders 
war  das  in  Alexandrien  üblich  (Hieronym.  in  Jesaiam  65,  11. 
Vol.  XXIV  p.  663  M) ;  es  geschah  aber  auch  auf  dem  Lande 
(Ps.  August.  S.  129  p.  2001).  Da  TertuUian  einmal  (Apolog. 
35)  von  vicatim  epulari  spricht,  so  scheinen  hie  und  da  die 
Nachbarn,  vermutlich  auf  der  Straße,  gemeinschaftlich  gegessen 
zu  haben. 

Bei  diesen  nächtlichen  Mahlzeiten  ging  es  wüst  zu.  Es 
herrschte  arge  Trunkenheit.  Libanius  (p.  1055)  sagt,  für  viele 
sei  bei  dem  Feste  die  Hauptsache  das  Zechen;  gar  mancher 
müsse  am  1.  Januar  seinen  Rausch  ausschlafen.  Auch  in 
den  Kneipen  herrschte  wildes  Treiben.  Chrysostomus  (p.  262), 
Ambrosius  (S.  7  p.  617)  und  Augustinus  (S.  198,  p.  1024) 
klagen  bitter  darüber,  zumal  damit  wildes  Würfelspiel  ver- 
bunden war  (Tertull.  De  idolol.  14).  Als  natürliche  Folge 
schloß  sich  an  die  Gelage  nächtliches,  von  allerlei  Unfug  be- 
gleitetes Umherschweifen.  Schon  TertuUian  (Apol.  35)  spricht 
von  catervatim  cursitare.  Libanius  (p.  1054)  erzählt,  viele 
brächten  die  Nacht  mit  Singen,  Tanzen  und  Neckereien  hin, 
klopften  an  die  Türen,  sodaß  die  Hausbewohner  nicht  schlafen 
könnten,  und  drängen  sogar  in  die  Werkstätten  ein.  Nächt- 
liche Tänze  erwähnt  auch  Chrysostomus  (p.  262)  und  nennt 
sie  SiaßoXtxac  iravvuxtSes  (vgl.  Ambros.  S.  7).  Es  versteht  sich 
von  selbst,  daß  dabei  gottlose  Scherze  (Maximus  Taur.  S.  16 
p.  258)  vorkamen  und  liederliche  Lieder  gesungen  wurden 
(August.  S.  198  p.  1024.  1025.  1026). 

Am  Neujahrstage  selbst  wurde  viel  Unfug  auf  den  Straßen 
der  Städte  verübt.  Schon  TertuUian  (Apol.  35)  spricht  von 
iniuriae  und  impudentiae.     Asterios  (p.  56)  sagt,  die  Landleute 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  483 

scheuten  sich  am  1.  Januar  in  die  Stadt  zu  kommen;  denn 
sie  wären  dort  der  Verspottung,  Mißhandlung  und  Beraubung 
durch  Trunkene  preisgegeben.  Gewiß  war  es  unter  diesen 
Umständen  selbst  für  die  ruhigen  Bürger  unangenehm  auszu- 
gehen; aber  diese  waren  auch  im  eigenen  Hause  vor  Belästi- 
gungen nicht  sicher.  Scharen  von  Taschenspielern  und  Sceni- 
kern  belagerten  die  Türen,  namentlich  die  der  verhaßten 
Zöllner,  bis  ihnen  Geld  zugeworfen  wurde.  So  trieben  sie  sich 
von  einer  Tür  zur  andern  bis  zum  Abend  umher.  Auch 
Knaben  liefen  von  Haus  zu  Haus  und  brachten  kleine  Ge- 
schenke, insbesondere  Aepfel,  in  die  kleine  silberne  Nägel  ge- 
steckt waren,  wofür  sie  natürlich  das  Doppelte  wieder  bekamen 
(Aster,  p.  55). 

Sehr  beliebt  waren  Umzüge  in  Verkleidungen.  Die  mili- 
tärische Disciplin  war  damals  so  locker,  daß  selbst  Soldaten 
sich  solche  gestatten  durften.  Während  sie  Stütze  und  Schutz 
der  Regierung  bilden  sollten,  verspotteten  sie  dieselbe.  Sie 
setzten  einen  aus  ihrer  Mitte  als  Kaiser  auf  einen  Wagen, 
umgaben  ihn  mit  Trabanten  und  durchzogen  die  Straßen  unter 
Scherzen,  wie  sie  der  stupidus  oder  [itjipbc,  'f  aXaxpoi;  im  Mimus 
zu  üben  pflegte.  Ferner  costümierten  sie  sich  mit  langem 
Chiton,  Gürtung,  Schuhwerk  und  Haarschmuck  als  Weiber, 
ahmten  das  Spinnen  nach  und  sprachen  durch  die  Fistel 
(Aster,  p.  57).  Wohl  im  Hinblick  auf  diese  Ausschreitung 
heißt  es  bei  Fs.  Augustin  (S.  129  p.  2001),  man  dürfe  sich 
nicht  darüber  wundern,  wenn  Männern,  die  sich  als  Weiber 
verkleideten,  die  militärische  Tüchtigkeit  verloren  gehe.  Dies 
sind  auch  wohl  die  xwfjiwotac,  von  denen  Chrysostomus  (p.  263) 
spricht. 

Uebrigens  war  diese  Art  der  Verkleidung  in  weiten 
Kreisen  üblich.  Maximus  von  Turin  (S.  16  p.  257)  eifert 
dagegen,  ebenso  die  Ps.  Augustinischen  Sermonen  129  und 
130  (p.  2001.  2003),  und  das  Concil  zu  Auxerre  vom  Jahre 
590  (can.  1)  sowie  das  TruUanum  vom  J.  692  (can.  62)  hatten 
Veranlassung  dieselbe  zu  verbieten.  Aus  ersterem  Beschluß 
erfahren  wir  ferner,  daß  diese  Verkleidung  mit  dem  Ausdruck 
vetulam  facere  bezeichnet  wurde  (vgl.  Ducange  s.  v.  vetula), 
und    aus    letzterem,    daß    auch    Weiber    männliche    Kleidung 

31* 


484  Albert    Müller, 

anlegten.  In  gleicher  Weise  sprechen  sich  Maximus  (1.  c.) 
und  das  eben  erwähnte  Trullanum  (1.  c.)  gegen  Maskie- 
rung aus^). 

Man  war  aber  nicht  damit  zufrieden,  menschliche  Trachten 
anzulegen,  sondern  hatte  auch  seine  Freude  daran,  sich  in 
allerhand  Tiere,  Rinder,  Schafe,  reißende  Bestien  und  Unge- 
tüme, zu  verkleiden.  Besonders  beliebt  muß  die  Costümie- 
rung  als  Hirsch  gewesen  sein;  denn  cervulum  (oder  cervulam) 
facere  wurde  geradezu  technischer  Ausdruck  für  diese  Art  des 
Neujahrsvergnügens  (Ambros.  in  Ps.  41;  Maximus  1.  c. ;  Petrus 
Chrysol.  S.  155,  p.  611;  Concil.  Tolet.  IV  can.  10;  Concil 
von  Auxerre  can.   1). 

Offenbaren  Rückfall  in  das  Heidentum  zeigt  eine  in 
Ravenna,  wo  sich  im  Volke  sowohl  wie  in  den  höheren  Ständen 
noch  manches  Heidnische  gehalten  hatte,  übliche  Sitte,  von 
der  Petrus  Chrysologus  (1.  c.  p.  609)  berichtet.  Man  putzte 
die  im  Hause  verborgen  gehaltenen  (Hieronym.  ad  Jes.  57,  7. 
Vol.  XXW  p.  572 M)  Götterbilder  mit  wunderlichem  Costüm 
heraus  und  führte  sie  im  Zuge  durch  die  Straßen,  wobei  aller- 
lei Scherz  getrieben  wurde,  der  den  Zorn  des  Bischofs  in 
hohem  Grade  erregt.  Wenn  Chrysostomus  (p.  263)  von 
5ai[JL0V£(;  TiojJiTisuaavxei;  km  zfi(;  dyopä^  spricht,  so  meint  er 
wohl  eine  andere  Sitte,  nach  der  sich  die  Menschen  selbst  in 
Götter  verkleideten  und  durch  die  Stadt  zogen,  indem  sie 
was  von  unzüchtigen  Handlungen  der  Götter  erzählt  wird  nach- 
ahmten. Die  Teilnehmer  sagten  zu  ihrer  Entschuldigung,  das 
sei  kein  Frevel  an  der  christlichen  Religion,  sondern  nur 
Neujahrsfreude;  aber  von  diesen  Ausflüchten  will  Petrus 
Chrysologus  nichts  wissen.  Die  Zuschauer  scheinen  den  Teil- 
nehmern am  Zuge  Speisen  und  Getränke  gereicht  zu  haben, 
was  von  kirchlicher  Seite  aufs  äußerste  mißbilligt  wird  (Ps. 
Aug.  130  p.  2003). 

Mit  dem  1.  Januar  war  das  Kaiendenfest  noch  nicht  zu 
Ende.  Auf  den  Lärm  dieses  Tages  folgte  am  2.  Januar  eine 
stille  häusliche  Feier.  Man  blieb  zu  Hause,  und  wie  an  den 
alten  Saturnalien  kam  nun  auch  der  Sklave  zu  seinem  Rechte. 


^)  Interessant  ist,  daß  hier  in  so  später  Zeit  noch  TipoowTceia  >cw|jLixä 
ii  oaxupcxi  7]  xpayix*  genannt  werden. 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  485 

Mit  seinem  Herrn  betrieb  er  das  Würfelspiel  und  erfreute 
sich  bei  etwaigen  Versäumnissen,  selbst  bei  Trunkenheit, 
der  Straflosigkeit.  Auch  die  Kinder  hatten  es  gut ;  der  Päda- 
goge sowohl  wie  der  Lehrer,  beide  sonst  so  strenge,  waren 
heute  voll  Liebenswürdigkeit  gegen  ihre  Zöglinge.  Jedem 
war  ein  freies  Wort  gestattet;  alles  atmete  Frohsinn  und 
Freude.  Am  3.  Januar  fanden  hie  und  da  von  den  Statt- 
haltern gegebene  Circusspiele  statt,  nach  deren  Beendigung 
sich  die  Zuschauer  zu  Hause  den  Freuden  der  Tafel  und  des 
Würfelspieles  hingaben.  Am  4,  Januar  endlich  flaute  die 
Festfreude  ab,  und  die  Bevölkerung  begab  sich  zögernd  und 
langsam  an  ihre  gewohnte  Arbeit  (Liban.  p.   1055  f.) 

Die  Kirche  hat  stets  gegen  die  nach  heidnischer  Sitte 
fortdauernde  Neujahrsfeier  protestiert.  Chrysostomus  (p.  265) 
ermahnt  die  Gemeinde  ernstlich,  davon  abzulassen,  während 
jener  Umzüge  zu  Hause  zu  bleiben  und  das  neue  Jahr  mit 
frommem  Danke  gegen  Gott  zu  beginnen.  Augustin  (S.  198 
p,  1025)  fordert  auf,  statt  der  strenae  Almosen  zu  geben  und 
statt  im  Essen  und  Trinken  zu  schwelgen  zu  fasten  oder  sich 
doch  der  größten  Mäßigkeit  zu  befleißigen  (vgl.  August,  in 
Ps.  98,5;  Vol.  XXX VE  p.  1261  M).  Nach  Hieronymus  (ad 
Gal.  4,  8  u.  9,  Vol.  XXVI,  p.  403  M)  aßen  die  ernsten 
Christen  am  Neujahrstage  ungesäuertes  Brot.  Bei  Ps.  Augu- 
stinus (S.  130  p,  2003)  lesen  wir  eine  Aufforderung  an  alle 
Christen  mit  Ausnahme  der  Kranken,  zu  fasten  und  für  die 
an  heidnischer  Sitte  Festhaltenden  zu  beten.  Weiter  ging  das 
Concil  von  Tours  im  Jahre  567,  das  im  17,  Canon  für  den 
31.  Dezember  sowie  für  den  1.  und  2.  Januar  allgemeines 
Fasten  verordnete.  Das  Concil  von  Toledo  (633)  begnügte  sich 
allerdings  damit,  im  11.  Canon  das  Fleischessen  am  1.  Januar 
zu  verbieten.  Ferner  hoffte  man  Besserung  von  der  im  6. 
Jahrhundert  erfolgten  Einführung  des  festuni  circumcisionis 
und  der  Ansetzung  desselben  auf  den  1.  Januar.  Dieses  Fest 
wurde  im  Gegensatze  zu  der  schwelgerischen  Neujahrsfeier  zu 
einem  Bußtage  ausgeprägt,  an  dem  man  in  den  Kirchen 
Litaneien  veranstaltete  (Conc.  Turon.  1.  c.)  und  statt  des  Halle- 
luja  Trauergesänge  anstimmte  (Conc.  Tolet.  1.  c). 

Daß  die  Kirche  mit  diesen  Maßregeln  wenig  oder  nichts 


486  Albert   Müller, 

ausrichtete,  zeigt  ein  Schreiben  des  Bonifatius  an  den  Papst 
Zacharias  vom  J.  745  (Ep.  49,  6.  Vol.  LXXXIX  p.  747  M). 
Der  Apostel  der  Deutschen  schreibt  dem  Papst  mit  edlem 
Freimute,  wenn  Alemannen,  Baiern  oder  Franken  nach  Rom 
kämen  und  dort  Dinge  sähen,  welche  ihnen  zu  Hause  verboten 
seien,  so  glaubten  sie,  dieselben  seien  in  der  Metropole  von 
den  Priestern  gestattet,  und  machten  dann  den  heimischen 
Geistlichen  Vorwürfe.  So  hätten  sie  in  Rom  neben  der  Peters- 
kirche in  der  Neujahrsnacht  auf  der  Straße  Tänze  nach  heid- 
nischer Weise  gesehen  und  schandbare  Lieder  gehört.  Nacht 
und  Tag  sei  geschlemmt  und  niemand  habe  aus  seinem  Hause 
dem  Nachbar  Feuer  geben,  ein  Werkzeug  leihen  oder  über- 
haupt eine  Gefälligkeit  erweisen  wollen  (vgl.  oben  p.  475). 
Der  Papst  möge  diese  Gebräuche  in  Rom  abschaffen. 

Es  erhellt  hieraus,  daß  die  fraglichen  heidnischen  Sitten 
bei  den  germanischen  Völkern  Eingang  gefunden  hatten.  In 
der  Tat  wurden  sie  trotz  der  Bemühungen  der  Bischöfe  und 
der  Concilien  unentwegt  festgehalten.  Erst  im  11.  Jahr- 
hundert scheint  das  Fest  beim  Volke  in  Vergessenheit  geraten 
zu  sein.  Dahingegen  forderte  nun  der  niedere  Klerus  nach- 
drücklich ein  frohes  Neujahrsfest,  und  diesem  Verlangen 
konnte  die  Kirche  nicht  widerstehen.  Bald  gab  sie  zu,  daß 
jene  weltlichen  Lustbarkeiten  an  kirchliche  Feste  angegliedert 
wurden.  Nun  wurde  der  Skandal  groß.  Das  Heilige  wurde 
frech  verspottet.  Die  einzelnen  kirchlichen  Stände  feierten 
ihre  besonderen  Feste,  die  Diakonen  am  Stephanstage  (26.  Dec), 
die  Priester  am  Johannistage  (27.  Dec),  die  Subdiakonen  am 
1.  Januar  oder  auch  am  Epiphaniasfeste.  Dazwischen  fiel 
noch  auf  den  Tag  Innocentium  (28.  Dec.)  das  Kinderfest.  Bei 
diesem  ging  es  noch  anständig  zu.  Ein  zum  Bischof  gewählter 
Schüler  hielt  die  Messe  ab,  während  welcher  die  übrigen 
Knaben  die  besten  Chorstühle  besetzten  und  die  Stiftsherren 
sich  mit  den  niedrigen  Plätzen  begnügen  mußten.  Dieses 
Fest  wurde  im  Jahre  1274  vom  Salzburger  Concil  kirchlicher- 
seits  ausdrücklich  gestattet.  Erst  im  16.  Jahrhundert  wurde 
der  Kinderbischof  auf  den  britischen  Inseln,  in  Frankreich  und 
Spanien  sowie  den  protestantischen  Gebieten  Deutschlands  ver- 
boten.   In  Cöln  hielt  sich  die  Feier  bis  ins  17.,  in  Reims  und 


Die  Neujahrsfeier  im  römischen  Kaiserreiche.  487 

Mainz  bis  ins  18.  Jahrhundert  und  wurde  erst  durch  die  fran- 
zösische Revolution  abgeschafft.  Bei  den  übrigen  Festen  trieb 
der  Klerus  den  gröbsten  Unfug.  Wie  es  bei  denselben  zuging, 
möge  man  aus  den  folgenden  Notizen  über  das  festum  Hypo- 
diaconorum  oder  Stultorum,  entnehmen,  welches  wegen  mut- 
williger Nachahmung  kirchlicher  Gebräuche  am  berüchtigtsten 
war.  Hier  mußte  der  erwählte  Narrenbischof  seinen  Wählern 
einen  Schmaus  geben,  bei  dem  stark  getrunken  wurde.  In 
der  Kirche  erschienen  die  Kleriker  in  Tiermasken  oder  als 
Weiber,  Zuhälter  oder  Gaukler  verkleidet  und  räucherten  mit 
Blutwurst  oder  altem  Stiefelleder.  Statt  der  Responsorien  wur- 
den schmutzige  Lieder  gesungen  und  statt  der  Hostie  am  Altar 
fette  Würste  gegessen.  Würfelspiel,  Reigentänze  und  Prozes- 
sionen schlössen  sich  an.  Junge  Leute  zeigten  sich  im  Adams- 
costüm  unter  unanständigen  Gebärden  und  Reden.  Verbote 
der  Päpste  und  Concilien  hatten  keinen  Erfolg.  Auch  eine 
Encyklika  der  Pariser  theologischen  Fakultät  vom  Jahre  1444 
wäre  wohl  vergeblich  gewesen,  wenn  nicht  König  Karl  VII, 
im  Jahre  1445  die  weltlichen  Behörden  augewiesen  hätte,  die 
Feste  zu  verbieten.  Allmählich  hörte  der  Unfug  auf;  in  Eng- 
land jedoch  ist  das  Narrenfest  noch  im  Jahre  1530  nachzu- 
weisen (vgl.  hiezu  Ducange  s.  v,  Calendae,  IV  p.  481  ff.  und 
Herzog  Encyklop.  s.  v.  Nari'enfest).  Eine  ernste  kirchliche 
Feier  des  Neujahrstages  findet  sich  erst  seit  der  Mitte  des  16. 
Jahrhunderts  (Herzog  s.  v.  Neujahrsfest). 

Zum  Schluß  noch  folgende  Bemerkung.  Unsere  heutige 
Neujahrsfeier  weist  die  nämlichen  Momente  auf  wie  die  römi- 
sche. Zu  dem  feierlichen  Amtsantritt  der  Consuln  dürfen  wir 
mutatis  mutandis  die  Feiern  am  Sitze  des  Kaisers,  das  große 
Wecken,  die  Gratulationscour,  den  Gottesdienst  im  Schloß  und 
die  Paroleausgabe  in  Parallele  stellen.  Den  Opfern  der  Prie- 
sterschaften entsprechen  die  Gottesdienste  am  Sylvesterabende 
und  Neujahrstage.  Abergläubische  Gebräuche  zur  Erforschung 
der  Zukunft  werden  in  der  Neujahrsnacht  noch  heute  geübt. 
Glückwünsche  werden  nicht  nur  mündlich  ausgesprochen,  in 
ungezählten  Tausenden  gehen  die  Karten  nach  allen  Himmels- 
gegenden. Die  in  Frankreich  noch  heute  üblichen  strenae 
fehlen  auch  bei  uns  nicht  ganz.  Festliche  Veranstaltungen, 
Mahlzeiten  und  Bälle,  sind  noch  immer  beliebt,  und  der  nächt- 
liche Unfug  ist  auch  jetzt  der  Schrecken  des  ruhigen  Bürgers. 
Wir  haben  hier  also  wieder  einen  Beleg  für  den  oft  ausge- 
sprochenen  Satz,  daß  der  Mensch  in  seinem  Dichten  und  Trach- 
ten stets  der  nämliche  ist  und  die  daraus  hervorgehenden 
Handlungen  sich  nur  nach  den  Zeitverhältnissen  und  den  je- 
weilig zu  Gebote  stehenden  Mitteln  unterscheiden. 

Hannover.  Albert  Müller. 


XXI. 

Herakles  am  Scheidewege. 

I. 

Die  Epideixis  dieses  Titels,  deren  Umrisse  uns  Xenophon 
(Mem.  II,  1,  21—34  vgl.  DFV-  I  567  Nr.  1  u.  2)  nach  den 
^Qpoa  des  Prodikos  erhalten  hat,  ist  eine  moralische  Allegorie. 
Legt  man  die  Form  des  Dreiweges  zu  Grunde,  so  läßt  sich  ihre 
Szenerie  in  der  nebenan  ersichtlichen  Weise  schematisch  darstel- 
V ,  ,  len.     Der   Gott  ist  das  Vorbild    des 

,  /'^'AosTYi      Jünglings,  der  sich  bei  dem  Eintritte 

^         /  ♦        in    das  Mannesalter    zum  Guten  oder 

'HpaxX^s  \^  xaxü)  Bösen  entscheiden  muß.  Xenophon 
Kaxca  j^ebt  mit  dem  sie,  i^ßyjv  wpiiato  offen- 
bar in  engem  Anschlüsse  an  seine  Quelle  hervor,  daß  Herakles 
als  Ephebe  in  diese  Lage  kam.  Das  Alter,  in  dem  der 
Jüngling  Selbständigkeit  und  Waffen  erhielt,  war  der  Beginn 
des  zwanzigsten  Lebensjahres^)  (Poll.  III  105,  vgl.  Thal- 
heim in  Paulys  Realenz.  s.  v.  Ephebie).  In  diesem  Zeitpunkte 
legte  der  Ephebe  den  Waffeneid  ab  und  opferte  am  nämlichen 
Tage  dem  Herakles  (Athen,  XI  p.  494  f). 

Diese  mit  der  Ephebie  verbundenen  Einrichtungen  legen 
den  Gedanken  nahe,  daß  Prodikos  selbst  schon  in  seiner  Alle- 
gorie die  Beziehung  des  „Herakles  am  Scheidewege"  zur 
Ephebie  voraussetzte.  War  doch  diese  im  vierten  Jahrhun- 
derte bereits  über  ganz  Hellas  und  auch  über  die  Kolonien 
verbreitet,  namentlich  aber  in  Kleinasien  in  Uebung,  wo  sie 
in  Inschriften  die  häufigste  Erwähnung  findet.  Das  für  den 
Epheben  vorbildliche  Verhalten  des  „Herakles  am  Scheidewege" 

1)  Die  Jugend  umfaßte  also  19  Jahre,  eine  Frist,  die  sonst  auch 
als  metonischer  Zyklus  bekannt  ist. 


Wolfgang   Schultz,    Herakles  am  Scheidewege.        489 

wirft  auch  ein  neues  Licht  auf  die  Bedeutung  dieses  Gottes 
für  das  Gymnasion,  dem  er  mit  Hermes  verbunden  vorstand"). 

Einen  dem  von  Prodikos  ausgeführten  ähnlichen  Gedanken 
über  die  Stellung  des  Jünglings  zum  Leben  äußert  Lactantius 
VI  3:  „dicmit  enim  humanae  vitae  cursum  Y  literae  esse  si- 
milem,  quod  unus  quisque  hominum,  cum  primae  adulescentiae 
limen  attigerit  et  in  eum  locum  venerit  .partes  ubi  se  via 
findit  in  ambas'  haereat  metabundus  ac  nesciat,  in  quam  se 
partem  potius  inclinet".  Aber  Lactantius  bezieht  sich  nicht  auf 
Herakles ;  denn  er  redet  ganz  allgemein  vom  Wege  des  mensch- 
lichen Lebens.  Ja,  seine  Allegorie  geht  über  die  des  Prodikos 
hinaus,  da  sie  das  Verhältnis  zwischen  Jugend,  Tugend  und 
Laster  nicht  nur  auf  ein  hiviimi,  sondern  auch  auf  einen  dem 
biviuni  der  Form  nach  entsprechenden  Buchstaben  bezog. 

Hieraus  ergiebt  sich  die  Frage :  Hat  schon  Prodikos  das 
Thema  seiner  Epideixis  auf  den  Buchstaben  Y  (V?)  bezogen  vor- 
gefunden und  diese  Form-Allegorie  dem  moralischen  Lihalte 
seiner  Erzählung  zu  Liebe  vernachlässigt,  oder  hat  Lactantius 
eine  Fassung  überliefert,  die  unter  Benützung  der  Allegorie 
des  Prodikos  eine  Erweiterung  des  ursprünglichen  Symbol- 
bestandes darstellt  ? 

n. 

Obwohl  der  Ausdruck  in  quam  partem  inclinet  geradezu  an 
das  Tzpoox)dv<x.i  xri  dpexri  im  Schol.  Aristoph.  nub.  361  (DFV^ 
I  567,  11)  erinnert,  redet  doch  Lactantius  entschieden  nicht 
von  einem  Gotte,  sondern  von  einem  Buchstaben.  Seine  Vor- 
lage, aus  der  auch  der  metrische  Anklang  partes  ubi  se  via 
findit  in  ambas  stammen  muß,  kennen  wir  nicht,  und  aus  dem 
inclinet  dürfen  wir  gewiß  auch  keine  Schlüsse  ziehen.  Aehn- 
lich  wie  Lactantius  schildern  einige  dem  Vergil  zugeschriebene 
Verse  (Anth.  Lat.  H  416  Burm.)  den  Buchstaben  : 
„litera  Pythagorae  ^)  discrimine  secta  bicorni 


')  Als  weibliche  Gottheiten  sind  die  Musen  und  Athena  zugeordnet 
(Paus.  I  30,  2).  Die  Musen  entsprechen  dem  Hermes,  Athena  dem  He- 
rakles.    Vgl.  Minerva  und  Herkules  bei  den  Etruskern  (s.  u.  Anm.   5). 

^)  Ueber  Pythagoras  als  Erfinder  und  Verbesserer  der  Buchstaben 
vgl.  Bekker  Anecd.  Gr.  784,  12  ff.  u.  789,  9  f.  Solche  Ueberlieferungen 
konnten  durch  Anknüpfen  an  die  Säulen  des  Herakles  (s.  u.  S.  494) 
entstehen,    ferner    durch  Weiterbildung    der  Pythagoraslegende   selbst, 


490  Wolfgang  Schultz, 

tumanae  vitae  speciem  praeferre  videtur. 
nam  via  virtutis  dextrum  petit  ardua  callem 
difficilemque  aditum  primum  spectantibus  offert, 
sed  requiem  praebet  fessis  in  vertice  summo. 
molle  ostentat  iter  via  lata,  sed  ultima  meta 
praecipitat  captos  volvitque  per  aspera  saxa"  etc.*) 
Ausonius  Technopaegfn.  XIII  13  nennt  ihn  : 

„Pythagorae  bivium  ramis  pateo  ambiguis  Y" 
und  ähnlich  Persius  III  56: 

„et  tibi  quae  Samios  deduxit  litera  ramos 
surgentem  dextris  monstravit  limite  callem". 
Endlich  ist  noch  Martian.  Cap.  102  zu  vergleichen:    „literam 
quoque   quam    bivium    mortalitatis    asserere    prudens    Samius 
aestimavit". 

Ein  Blick  auf  diesen  Stand  der  Ueberlieferung  zeigt,  daß 
sie  ausschließlich  römisch,  resp.  italisch  ist.  Hellenische 
Traditionen  gleichen  Inhaltes  finden  sich  nicht.  Auch  ist  nur 
von  dem  Samier  Pythagoras,  nicht  aber  von  Herakles  die  Rede. 
Nichts,  scheint  es,  könnte  hindern,  diese  auf  italischen 
Boden  beschränkte  Lehre,  die  mit  der  Allegorie  des  Prodikos 
anscheinend  nur  den  Gedanken  an  zwei  gegensätzliche  Pfade 
des  Lebens  gemein  hat,  für  ungeeignet  zu  halten,  uns  zu  einer 
vor  Prodikos  gelegenen  Form  der  Allegorie  empor  zu  führen. 
Dies  wäre  zwar  bequem  gefolgert,  aber  falsch.  Denn  obgleich 
die  italischen  Autoren,  bei  denen  die  Lehre  vorkommt,  späten 
Zeiten  angehören,  finden  vnr  bildliche  Darstellungen  des  „He- 
rakles am  Scheidewege"  schon  auf  etruskischen  Spie- 
geln (Gerhard  155,  156),  wobei  Arete  durch  Minerva  ersetzt, 
also  eine  andere,  uns  sonst  vom  Paris-Urteile  her  (vgl.  S.  498) 
bekannte  Form  der  Erzählung  angenommen  ist  ^).    Wegen  die- 

welche  die  Auffindung  des  Pythagoras  durch  Mnesarchos  unter  den 
Lebensbaum  verlegte. 

*)  W.  H.  Röscher  wies  mich  darauf  hin,  daß  Buchstaben  von  der 
Form:  V,  Y,  Y  (s.  Baumeister,  Denkmäler  I  52),  wo  der  rechte  Strich 
fein  und  schräg,  der  andere  dick  und  steil  ist,  gemeint  zu  sein  scheinen. 

^)  Der  etruskische  Name  der  Kav.ia  (voluptas?,  durch  Flügel  und 
Darreichuncr  einer  lanx  satura  als  solche  gekennzeichnet,  vgl.  Welcker, 
Alte  Denkmäler  III  3 17)  ist  den  Darstellungen  nicht  zu  entnehmen. 
Daß  der  Stil  der  Darstellung  hellenisch  ist .  darf  nicht  gegen  den 
so  augenscheinlich  von  dem  allegorischen  Gehalte  der  Erzählung  des 
Prodikos  abweichenden  Inhalt   derselben    in  dem  Sinne  eingewendet 


Herakles  am  Scheidewege.  491 

ser  Abweichung  in  der  Auffassung  ist  auch  ein  Einfluß  der 
Epideixis  des  Prodikos  oder  ihrer  allenfalls  voi-handenen  Vor- 
bilder auf  die  etruskischen  Darstellungen  eben  so  ausgeschlossen 
wie  umgekehrt  ein  Einfluß  etruskisclier  Mythen  auf  die  Er- 
zählung des  Sophisten  unwahrscheinlich.  Wohl  aber  scheint 
die  etruskische  Auffassung,  die  an  Stelle  der  abstrakten  Be- 
griff'e  des  Prodikos  noch  lebendige  Gestalten  des  Mythos  ent- 
hält, eine  ältere  Form  des  Gedankens  zu  bieten. 

Dieser  ursprüngliche  Charakter  der  etruskischen  Ueber- 
lieferung  ist  von  großer  Bedeutung.  Selbst  ihr  Auftreten  bei 
Martianus  Capella,  der  uns  auch  sonst  wichtige  Belege  etrus- 
kisclier Disziplin  erhalten  hat,  kommt  als  Anzeichen  für  das 
italische  Wesen  dieser  „pythagoreischen"  Lehre  in  Betracht. 
Auch  enthalten  die  angeführten  Quellen  noch  deutlich  my- 
thische Züge,  welche  in  der  hellenischen  Fassung  des  Prodikos 
fehlen.  Hierher  gehört  die  Bezeichnung  des  Y  als  bicornis. 
Dem  Mythologen  ist  vom  Hörne  der  Amaltheia  her  und  vom 
zweihörnigen  Pan  die  Beziehung  solcher  „Hörner"  zu  Ober- 
welt und  Unterwelt  geläufig  *').   Noch  wichtiger  sind  die  rami 


werden,  als  wäre  seine  italische  Eigenart  deshalb  zweifelhaft,  da  er 
sich  ja  nur  hier  so  findet.  Die  Annäherung  an  das  Parisurteil,  na- 
mentlich durch  das  Vorkommen  Minervens,  ist  so  offensichtlich,  dabei 
aber  eine  genaue  Uebereinstimmung  so  zwanglos  vermieden,  daß  ra. 
E.  eine  echt  etruskische  Version  des  ursprünglichen  Mythos  hier  ange- 
nommen werden  muß.  Auch  konnten  die  Etrusker  eigene  Mythenver- 
sionen (vgl.  z.  B.  bei  Gerhard  181  und  Text  zur  Erklärung  des  von  Man- 
chen als  Tages  gedeuteten  Epeur  {?),  wo  ein  etruskischer  Mythos  in  hel- 
lenischem Gewände  auftritt)  gar  nicht  anders  darstellen,  als  es  hier  ge- 
schehen, da  sie  ja  nur  den  hellenischen  Stil  hatten.  Daß  übrigens  dieser 
, fremde  Einfluß"  vielleicht  doch  anders  als  dies  üblich  ist,  beurteilt 
werden  muß,  ergibt  sich  allein  daraus,  daß  die  sich  immer  mehr  bestä- 
tigenden Nachrichten  über  den  kleinasiatischen  Ursprung  der  Etrusker 
(resp.  der  Tyrrhener)  schon  von  der  Heimat  her  einen  starken  helleni- 
schen Einschlag  in  der  Kultur  eines  solchen  Mischvolkes  wahrscheinlich 
machen.  Wäre  es  bei  unserer  noch  immer  so  mangelhaften  Kenntnis  der 
etruskischen  Altertümer  gestattet,  im  Sinne  von  Brauns  „Tages  und  die 
heilige  Hochzeit  Minervens  mit  Herkules"  an  zu  nehmen,  daß  der  Wahl 
die  Vermählung  mit  Herkules  folgte,  dann  hätte  der  weiter  unten 
bloßgelegte  Zusammenhang  Mnesarchos-Tarchon  und  Pythagoras-Tages, 
da  Sohn  und  Vater  (Tages- Herakles)  wesenseins  sind,  vielleicht  noch 
eine  weitere  Bedeutung.  Doch  soll  diese  Vermutung  im  Folgenden 
nicht  in  Betracht  gezogen  werden. 

*)  Die  orphische  Theogonie  (Abel,  Orphica  p.  202  fr.  123  v.  16  laüpta 
5'  äiicpoxepio&s  5üo  xP'J'^sia  xepaxa  |  dvxoXtY)  xe  Süoig  xs,  d-sröv  obol  oüpa- 
vwjüvmv)  bezieht  z.  B.  die  beiden  Hörner  des  kosmisch  gedeuteten  Zeus 
auf  Aufgang  und  Untergang. 


492  Wolfgang    Schultz, 

des  Buchstabens.  Sie  beweisen,  daß  er  selbst  als  Baum  ge- 
dacht wurde.  Und  da  vom  Lebenswege  die  Rede  ist,  haben 
wir   unzweifelhaft   das  Y  als   den   zugehörigen  Lebensbaum  ^) 

'')  Vgl.  unten  (III)  über  Xsünv)  als  Lebensbaum,  unter  dem  Tages- 
Pythagoras  gefunden  wird.  Die  Gleicbsetzung  des  Buchstabens  Y  mit 
diesem  Baume  scheint  aber  erst  in  späterer,  das  ursprüngliche  Bild 
nicht  mehr  verstehender  Deutung  und  vielleicht  auch  unter  dem  Ein- 
flüsse der  besonderen  Form  V,  dahin  ausgelegt  vrorden  zu  sein ,  daß 
man  an  einen  Baum(stamm)  mit  zwei  Aesten  (oder  einen  Gabelweg  = 
biviuni)  dachte,  den  der  Buchstabe  von  der  Seite  gesehen  darstelle. 
Aber  die  alte  und  älteste  Auffassung  vom  Lebens-  oder  Weltenbaume, 
die  sich  bei  den  meisten  Völkern,  die  noch  im  Besitze  dieser  Mythen- 
motive  sind,  auch  unmittelbar  bezeugt  findet,  schreibt  dem  I3aume 
3  Aeste  oder  Wurzeln  zu,  so  daß  ihn  also  der  Buchstabe  von  oben 
(oder  von  unten)  gesehen  darstellen  sollte  und  seine  rami  einander 
gleich  gelten  mußten.  Bei  den  Hellenen  ist  Hermes  nach  dem 
ihm  gewidmeten  Homerischen  Hymnus  (v.  530)  im  Besitze  einer 
TpiuetyjXog  (SäßSoj.  Das  TpiuixyjXov  als  Pflanzenname  ist  gleichwertig 
mit  dem  xptcpuXXov  (Nie.  Thes.  522),  dessen  Gebrauch  bei  der  Zube- 
reitung des  Opferfleiscbes  Herodot  I  132  den  Persern  zuschreibt.  Deut- 
licher finden  wir  noch  bei  den  Germanen,  daß  drei  Wurzeln 
den  Baum  halten  (z.  B.  Gylfaginning  c.  15  bei  Hugo  Gering,  Die  Edda 

S.  309)  und  selbst  bei  den  Cechen  entsprießen  nach  der  Schilderung 
der  Libussasage  bei  Cosmas  von  Prag  dem  Stecken  des  Premisl  3  Zweige. 
Mehr  ähnliche  Ueberlieferungen  hier  zu  häufen,  sehe  ich  keinen  Anlaß. 
Nur  darauf  sei  noch  hingewiesen,  daß  in  einer  breiten  Schiebte  von 
Mythen  auch  4  Zweige,  4  Bestandteile  des  Baumes,  4  Quellen  unter 
ihm  usw.  unterschieden  werden,  wo  aber  immer  die  3  sich  als  ursprüng- 
lich zu  erkennen  gibt.  Auf  die  Gründe  dieses  Ersatzes  einer  älteren 
3  durch  eine  4  =  34-1  werde  ich  demnächst  (1910)  in  den  Mittei- 
lungen der  anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien  in  einem  Aufsatze 
über  „Gesetze  der  Zahlenverschiebung"  näher  eingehen.  Endlich  wären 
mit  diesen  Zahlen  für  die  Zweige  des  Baumes  auch  noch  weitere, 
mythische  Ueberlieferungen  von  dem  „ Zahlenbaume "  selbst  zu  verglei- 
chen ,  in  denen  auch  die  Zahlen  der  Blätter,  Blüten,  Früchte  usw. 
systematisch  angegeben  werden.  Indem  ich  mir  Ausführlicheres  hier- 
über für  eine  andere  Gelegenheit  vorbehalte,  verweise  ich  nur  Beispiels 
halber  auf  die  9999  Feigen,  welche  in  dem  Scheffel  Platz  finden  (Seher- 
wettstreit des  Mopsos  und  Kalchas,  vgl.  Mythol.  Bibl.  III  1  meine 
„Rätsel  aus  dem  hellenischen  Kulturkreise"  S.  140  f.  Nr.  340),  auf  die 
indische  Zahlenwette  zwischen  Vahuka  und  Rtuparna  im  Nalaliede,  auf 
den  insbesondere  in  ungarischen  Märchen  häufigen  Baum  mit  99  Blät- 
tern usw.,  oder  auch  schließlich  auf  die  germanische  9-Kraftwurz.  All 
das,  so  unvollständig  es  hier  angeführt  ist,  zeigt  doch  hoffentlich  schon 
zur  Genüge,  daß  systematische  Zahlen  allenthalben  an  den  Welten- 
und  Lebens-Baum  anknüpfen.  An  die  zahlreichen  Märchen,  in  denen 
3  Brüder,  von  dem  Baume,  einer  mit  Inschriften  versehenen  Säule  (man 
denke  an  die  Säulen  des  Herakles!),  einem  Ffahle,  einer  dreiseitigen 
Pyramide  oder  in  weiterer  Verblassung  selbst  einem  Steine  ausgehend, 
3  verschiedene  Lebenspfade  verfolgen,  brauche  ich  wohl  nur  im  Allge- 
meinen zu  erinnern.  Sie  erweisen  neuerlich  die  mythische  Zusammen- 
gehörigkeit der  Lebenswege  und  der  Zweige  des  Lebensbaumes.  Ja 
häufig  findet  sich  in  diesen  Erzählungen  auch  der  Zug,  daß  der  schwie- 
rigste Pfad    der  kürzeste  ist    und    allein   zum  Ziele    führt.     Also  auch 


Herakles  am  Scheidewege.  493 

zu  betrachten.  Wie  weit  die  Analogie  ging,  davon  haben  also 
unsere  Quellen  noch  Andeutungen  erhalten. 

III. 

Welche  Beziehung  hat  Pythagoras  zu  diesen  Vorstel- 
lungen ? 

Darauf  antwortet  die  Legende:  Sein  Vater  Mnesarchos 
war  einer  von  den  Tyrrhenern,  welche  Imbros,  Skyros  und 
Lemnos  bewohnten.  Er  fand  den  Pythagoras  in  Gestalt  eines 
neugeborenen  Knaben  unter  einem  Baume  (Porph.  V.  Pyth.  10). 
Der  Baum  war  eine  Weißpappel  ^)  (XeuxY]),  von  deren  Thau 
der  Knabe  ernährt  wurde.  Sie  ist  daher  der  in  dieser  Eigen- 
schaft wohlbekannte  Baum  des  Lebens.  Ganz  ähnlich  fand 
Tarchon  beim  Pflügen  in  einer  Ackerfurche  das  grauhaarige 
Tages-Kindlein,  das  die  Doktrin  der  Etrusker  offenbarte  (Joh. 
Lyd.  de  ostent.  3).  Dieses  der  Tages- Sage  entsprechende  Stück 
der  Pythagoraslegende  (vgL  meinen  Zusatz  zu  dem  Artikel 
Tages  in  Roschers  mythol.  Lexikon)  zeigt  deutlich,  wieso  man 
dazu  kommen  konnte,  ohne  daß  man  sich  je  den  Pythagoras 
am  Scheidewege  gedacht  hätte,  ferner  auch  ohne  daß  er  selber 
den  Buchstaben  erfunden  haben  mußte  (s.  o.  S.  489  Anm.  3), 
das  Y  als  litera  pythagorica  zu  bezeichnen  und  auf  den  sami- 
schen  Seher  zu  beziehen.  Es  gehörte  ja  als  ein  die  Form  des 
Lebensbaumes  darstellendes  Attribut  eben  so  zu  ihm  wie  etwa 
zu  Christos  das  Kreuzeszeichen  T.  Und  das  Alter  dieser  Sym- 
bolik des  Y  wird  man  nur  nach  dem  Alter  jener  Pythagoras- 

die  moralisierende  Deutung  scheint  nicht  Eigenthum  des  Prodikos  zu 
sein,  sondern  wird  schon  dem  Mythos  selber  angehört  haben.  Stoff 
hierzu  siehe  bei  Reinhold  Köhler,  Kleinere  Schriften  I  537  ff. 

®)  Die  Bezeichnung  des  Baumes  als  Weißpappel  fällt  auf.  da  der 
weiße  Baum  sonst  der  des  Todes  ist,  neben  dem  sich  der  Quell  des 
Vergessens  befindet  (so  die  weiße  Cypresse  des  orphischen  Goldplätt- 
chens  von  Petelia  v.  2  DFV  I  480,  10  Nr.  17).  Allem  Anscheine  nach 
liegt  hier  eine  Symbolik  durch  den  Gegensatz  vor  (vgl.  über  Gegen- 
satzsymbolik Lobeck  Agl.  878  ff).  G  e  m  e  i  n  t  ist  die  Schwarzpappel 
[a'ifeipoz).  Uebrigens  sind  beide  Bäume  einander  sehr  ähnlich  (Theophr. 
de  plant.  III  14,  2  [laxpöxspov  v-oü  Xsiöxepov  vj  aiysipog),  nur  daß  die  Blät- 
ter der  Schwarzpappel  auf  der  Rückseite  nicht  so  silbern  glänzen. 
Trifft  diese  Vermutung  zu,  dann  wurde  Samos  in  dem  delphischen 
Orakel  an  Ankaios  (Jambl.  V.  Pyth.  3)  offenbar  wieder  aus  euphemi- 
stischen Gründen  bloß  OuXXäg  genannt,  obgleich  es  nach  derselben  Stelle 
sonst  Y^  iJL£Xä[icüuXXog  hieß,  woraus  sich  der  richtige  Name  MeXaiiCfüXXag 
mit  Sicherheit  ergibt. 


494  Wolfgang   Schultz, 

legende  schätzen  können.  Diese  aber  scheint  eine  lebendige 
Wechselwirkung  zwischen  tyrrhenischer  und  hellenischer  (un- 
teritalisch-samischer)  Sage  voraus  zu  setzen  und  also  einer 
frühen,  vielleicht  vorpythagoreischen  Zeit,  an  zu  gehören. 

IV. 

Wodurch  kam  nun  aber  die  Beziehung  des  Herakles  zum 
Zwei-(Drei-)Wege  zu  Stande  ? 

Auch  hierauf  kann  nur  dann  geantwortet  werden,  wenn 
man  eine  fernere,  ebenfalls  auf  italischen  Boden  verweisende 
Nachricht  des  lobas  bei  Plut.  aet.  Rom.  59  p.  278  E  beachtet, 
nach  welcher  Herakles  das  Gefolge  des  Euandros  (nach  Plut. 
de  gen.  Socr.  7  p.  579  A  „zur  Zeit  des  Königs  Proteus")  die 
Buchstaben  lehrte.  Damals  aber  schloß  das  Alphabet  mit 
Y ,  da  'PXYQ  ausdrücklich  jüngeren  Erfindern  zugeschrieben 
werden.  Die  litera  philosophica  bezieht  sich  also  gerade  auf 
diesen  'HpaxX-^s  6  cfiXöoo^ioq  ö  Asy6(j.£Vos  Tupco?  (Cedren.  I  35). 
Nach  ihm  haben  die  Säulen  des  Westens  ihren  Namen,  den 
an  ihnen  angebrachten  Buchstaben  sollen  Pythagoras,  Piaton, 
ja  selbst  noch  Apollonios  von  Tyana  (Jambl.  de  myst.  H  2, 
Theophil,  ad  Autolyc.  HI  2,  Philostr.  V.  Apoll.  V  5)  ihre 
Weisheit  entnommen  haben.  Die  Säulen  selbst  wurden  als 
^uvosapia  oupavoö  xac  y^s  betrachtet,  die  auf  ihnen  verzeich- 
nete Weisheit  verdankte  dieser  Herakles  dem  „Pbryger"  Atlas 
(Clem.  Alex.  Strom.  I  15,  p.  306),  dem  —  freilich  mit  einer 
Verwechslung  des  Landes  (Libyen-Lydien :  Phrygien)  —  die 
Abfassung  der  Opuyia  Ypa[Ji|Jiaxa  zugeschrieben  wurde. 

Nicht  also  erst  in  Italien  hätte  Herakles  als  Erfinder  der 
mit  Y  endenden  Buchstabenreihe  gegolten,  sondern  es  müßte 
in  Lydien  zu  einer  Zeit,  da  die  Tyrrhener  eben  erst  ihre  klein- 
asiatischen Heimstätten  verließen,  geglaubt  worden  sein,  daß 
er  die  („Opuyta")  Ypdi.\i\ia.ia  mit  Y  abgeschlossen  habe.  Die 
Gleichsetzung  dieses  lydischen  Herakles  mit  dem  baal  phüo- 
sopJius  der  tyrischen  Phöniker  macht  jetzt  begreiflich,  wie 
Herakles  zu  den  Säulen  von  Gades  kommt,  sie  erklärt  das 
Hereinspielen  des  Atlas,  der  zum  Schlüsse  als  Nilo  natus  (Cic. 
de  nat.  deor.  III,  16)  nach  Aegypten  versetzt  und  zur  Beglau- 
bigung falscher  Opuyta  ypäjjL{jiaxa  benutzt  wurde,  sie  läßt  auch 


Herakles  am  Scheidewege.  495 

endHch  verstehen,  wieso  man,  als  die  Tyrrhener  schon  in 
Etrurien  saßen,  den  ihnen  zugehörigen  lydischen  Herakles  mit 
dem  arkadischen  Euandros  hellenischer  Kolonisten  und  jenem 
anderen  Herakles  in  Zusammenhang  brachte,  der  auch  in  den 
Gründungssagen  von  Rom  als  Bezwinger  des  Cacus  eine  Rolle 
spielt.  Aber  in  die  Heimat  dieses  Herakles  weist  es  wieder, 
wenn  ein  idäischer  Daktyle  seines  Namens  den  Erfindern  des 
Hexameters  zuzuzählen  isf). 

Die  Beziehung  des  Gottes  zur  Symbolik  des  letzten  von 
ihm  erfundenen  Buchstabens^")  muß  noch  vor  der  Auswanderung 
der  Tyrrhener  auf  kleinasiatischem  Boden  gegeben  gewesen 
sein.  Dann  hat  es  aber  auch  nichts  Verwunderliches  an  sich, 
daß  sie  einerseits  auf  etruskischen  Spiegeln  abgebildet,  ander- 
seits in  der  Epideixis  des  Prodikos  literarisch  erhalten  ist. 
Ja  da  Prodikos,  wie  wir  sahen,  die  Einrichtung  der  Ephebie 
voraus  setzt,  diese  aber  wohl  kaum  durch  eine  Laune  der  In- 
schriftenfunde besonders  stark  für  Kleinasien  bezeugt  ist,  weist 
auch  dieser  Zweig  der  Entwicklung  den  Weg  zum  Ursprünge. 
Und  noch  die  letzte  Schwierigkeit,  die  darin  liegt,  daß  das  Y 
sowohl  Symbol  des  Scheideweges  ist,  an  dem  Herakles  steht, 
als  auch  des  Lebensbaumes,  unter  dem  Pythagoras  gefunden 
wurde,  schwindet,  wenn  man  sich  die  Charakteristik  der  Pytha- 
goraslegende  vor  Augen  hält.  Denn  die  mythische  Vorstellung 
von  einem  Lebens-  oder  Welten-Baume,  dessen  Aeste  (oder 
Wurzeln)  Innen-  und  Außenwelt  (oder  Ober-  und  Unterwelt) 
mit  einander  verbinden,  ist  Gemeingut  der  Völker.  Zu  ihr 
gehört  auch  der  Gott,  der  unter  diesem  Baume  zum  Vorscheine 
kommt,  ja  auch  nach  manchen  Mythen  schließlich  auf  ihm, 
sich  selber  zum  Opfer  (Odin,  Jesus),  aufgehängt  wird.  Auf 
das  Alphabet  gedeutet  haben  wir  den  ersten  Teil  dieses  My- 
thos in  Y  als  litera  pythagorica,  den  zweiten  in  T  als  signum 
Christi  vor  uns.  Denn  der  Mythos  behält  seine  systematische 
Konsequenz  auch  dann,  wenn  seine  Teile  ganz  unabhängig  von 
einander  auftreten.    Man   wird  also  den  Gedanken  der  Pytha- 

9)  Verl.  Diod.  V  64  und  Clem.  Alex.  115.  7.3  p.  60  Dind..  sowie 
Myth.  Bibl.  III  1  (Rätsel  aus  dem  hellenischen  Kulturkreise)  S.  82  u.  83. 

^°)  Den  Namen  des  Seth  (n^)  deutet  jüdische  Ueberlieferung  dahin, 
daß  sein  Träger  ü  und  n,  die  beiden  letzten  Buchstaben  des  Alphabetes, 
erfunden  und  hiervon  seinen  Namen  erhalten  habe. 


49*6  Wolfgang  Schultz, 

goraslegende  für  sehr  alt,  den  Namen  des  Pythagoras  in  ihr 
für  weit  jünger  zu  halten  haben.  Die  Weißpappel  deutet  ja 
auf  Herakles  selbst  hin,  dem  sie  heilig  war  (vgl.  Theoer.  II  21). 
Die  Umgestaltung  des  Herakles-Tages  zu  Pythagoras  konnte 
erst  auf  italischem  Boden  und  nur  zu  einer  Zeit  erfolgen,  da 
der  systematische  Zusammenhang  zwischen  dem  „Kleinen  unter 
dem  Lebensbaume"  und  dem  „Herakles  am  Scheidewege"  schon 
vergessen  war. 

V. 

Das  bivium,  mythisch  richtiger  trivium  (s.  o.  S.  492 
Anm.  7),  entspricht  seiner  Form  nach  dem  Y,  durch  des- 
sen Erfindung  Herakles  die  Buchstabenreihe  abgeschlossen 
hat.  Mit  der  Erfindung  dieses  Buchstabens  gelangt  er  zum 
biviiim.  Daraus  folgt,  daß  auch  die  voran  gehenden  Jahre 
seines  Lebens  den  voran  gehenden  Buchstaben  des  Alphabetes 
entsprechen  müssen.  In  der  Tat  ist  Herakles  am  Scheidewege 
als  Ephebe  gerade  zwanzig  Jahre  alt  und  Y  der  zwan- 
zigste Buchstabe  des  Alphabetes.  Also  bezieht  sich  nicht 
nur  die  Form  des  Buchstabens  auf  den  Scheideweg,  sondern 
auch  die  ihm  entsprechende  Zahl  auf  das  Alter  des  Gottes. 
Auch  pflegten  die  Pythagoreer,  ofl'enbar  im  Banne  dieser  mit  der 
Einrichtung  der  Ephebie  zusammen  gebrachten  Vorstellungen, 
die  Kindheit  bis  zum  zwanzigsten  Jahre  zu  rechnen  und 
dann  in  Abständen  von  je  weiteren  zwanzig  Jahren  noch 
drei  Lebensalter  (Jüngling  im  Sinne  von  röm.  juvenis,  Mann, 
Greis)  hinzu  zu  fügen,  so  daß  im  Ganzen  vier  Lebensalter  den 
vier  Jahreszeiten  ^^)  entsprachen  (Diog.  L.  VIII  1,  7  vgl.  W. 
H.  Röscher,  Tessarakontaden  etc.  S.  74  und  76). 

Die  Verbindung  zwischen  der  durch  Y  abgeschlossenen 
Alphabetreihe  mit  der  Lehre  von  der  litera  phüosopJäca  hat 
sich  noch  in  ganz  schlechten  Quellen  ziemlich  rein  und  gerade 
in  der  Form  erhalten,  welche  nach  dem  Gesagten  zu  erwarten 
ist.  Die  späte  und  klägliche  Kunst  der  övo[xaTO[iavTta, 
die  auf  einem,  nicht  eigentlich  isopsephischen  Systeme  der 
Buchstabenrechnung  beruht  (vgl.  Hipp.  ref.  IV  13  ff),  wird  in 
einem  „Briefe  des  Pythagoras  an  Telauges"   (Notices  et  extraits 

")  Hier  herscht  also  schon  die  4  vor.  Ursprünglich  rechnete  man 
nur  nach  3  Jahreszeiten. 


Herakles  am  Scheidewege.  497 

des  manuscrits  de  la  Bibl.  Nat.  XXXI/2,  p.  231  fif)  damit  be- 
gründet, daß  alle  Buchstaben  zu  den  drei  Linien  des  Y,  und 
also  zum  Leben,  dessen  Weg  diese  Form  habe,  in  Beziehung 
stünden.  Die  7  vocales,  8  mediae  und  9  mutae  sollen  dem 
ayaO-ö?  Sac[Jiü)V,  der  Tzccibbc,  -^lixia,  und  dem  xaxöi;  Sac[i(ov  ent- 
sprechen. So  trostlos  die  weitere  Durchführung  des  Gedankens 
anmutet:  er  selbst  ist,  wie  wir  sehen,  altpythagoreisch.  Die 
Gliederung  des  Alphabetes  in  cpwvT^evta,  [ieaot  (welche  als  „  Mitt- 
ler" dem  Logos  entsprechen,  vgl.  meine  Studien  zur  antiken 
Kultur  II  und  III,  Altjonische  Mystik,  325)  und  acpwva  (Plut.  Qu. 
conv.  IX  3,  1,  cf.  Piaton  Phileb.  18  A  fiF.)  ist  alt.  Demnach  zeigt 
sich  in  unserer  Stelle  nur  die  Umgestaltung  einer  Tradition,  die 
das  Y  noch  als  letzten  Buchstaben  des  Alphabetes  betrach- 
tete, in  eine  andere,  für  welche  das  Alphabet  schon  bis  ß 
reichte. 

VI. 
Ohne    der   Ueberprüfung    der   bisherigen    Ergebnisse    vor 
zu  greifen,  glaube  ich  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  nun- 
mehr in  folgenden  Sätzen  hervor  heben  zu  dürfen: 

1.  „Herakles  am  Scheidewege"  ist  in  seiner  uns  überkom- 
menen Form  bereits  eine  Alphabet-Allegorie,  weiche 
durch  Aufpropfung  von  Ueberlieferungen  über  die  Er- 
findung des  Alphabetes  auf  ältere  Mythenformen  ihren 
eigenthümlichen  Anstrich  erhielt. 

2.  Die  staatliche  Einrichtung  der  Ephebie  scheint  eine  den 
4  Jahreszeiten  entsprechende  Anordnung  von  4  Lebens- 
altern zu  je  20  Jahren  voraus  gesetzt  zu  haben  und 
wurde  alsdann  mit  der  zahlensymbolischen  Betrachtung 
der  Buchstabenreihe  zusammen  gebracht. 

3.  Die  Geschichte  der  lifera  pythagorica  vel  philosophica 
gewährt  Einblick  in  einen  bisher  dunkel  gebliebenen, 
tyrrhenisch  beeinflußten  Teil  der  Pythagoraslegende. 

4.  Der  in  den  Buchstaben  Y  hinein  gelegte,  aber  schon 
längst  dem  Mythos  geläufige  Zusammenhang  zwischen 
Lebensweg  und  Lebensbaum  ist  in  der  besonderen  Form, 
in  der  er  zwischen  den  Ueberlieferungen  von  der  litera 
pythagorica  und  denen,  in  welchen  die  Allegorie  des 
Prodikos  fußt,  vermittelt,  geeignet,  ein  neues  Glied  in 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  i.  32 


498  Wolfgang  Schultz, 

der  Kette  zu  bilden,  welche  die  italischen  Etrusker  und 
kleinasiatischen  Lyder  verbindet  ^^), 

Weitere  Untersuchungen  hätten  nun  fest  zu  stellen:  1.  den 
älteren,  noch  nicht  durch  symbolistische  und  allegorisierende 
Bestrebungen  umgestalteten  Mythos  von  „Herakles  am  Schei- 
dewege", 2.  die  Ursachen,  weshalb  Y,  obgleich  es  dem  Laut- 
werte und  auch  der  Form  des  y  (Vau)  der  semitischen  Alpha- 
bete entspricht,  hinter  n,  den  Schlußbuchstaben  der  Alphabet- 
reihe, gestellt  wurde.  —  Beide  Aufgaben  zu  erledigen,  würde 
den  hier  gesteckten  Rahmen  weit  überschreiten;  die  Lösung 
der  ersten  obliegt  der  vergleichenden  Mythenforschung,  die  der 
zweiten  müßte  einen  genauen  Einblick  in  den  Sinn  der  geord- 
neten Buchstabenreihe  und  in  die  Geschichte  der  Buchstaben- 
symbole voraus  setzen.  Nur  um  es  nicht  dem  schon  Darge- 
legten an  jedem  Hintergrunde  mangeln  zu  lassen,  will  ich  aber 
doch  wenigstens  Andeutungen  nach  beiden  Richtungen  hin 
versuchen. 

Das  Wesentliche  an  der  Erzählung  von  „Herakles  am 
Scheidewege ''  ist  die  Wahl,  aber  gewiss  nicht  der  Name  Herak- 
les, da  ja  Herakles  überhaupt  keine  einheitliche  Mythenfigur 
ist  (vgl.  z.  B.  Georg  Hüsing,  Die  iranische  Ueberlieferung  und 
das  arische  System  S.  153  f.).  Also  gehört  auch  Paris  hierher, 
der  zwischen  3  Göttinnen  zu  wählen  hat  und  ebenso  die  Schaar 
der  Erzählungen  vom  Schönheitswettstreite  (Hüsing  a.  a.  0. 
S.  212).  Der  Apfel,  den  Paris  der  Erwählten  zuwirft,  stammt 
doch  wohl  vom  Baume,  Im  weiteren  Sinne  sind  dann  über- 
haupt noch  die  „Trita "-Erzählungen  heran  zu  ziehen,  in  denen 
einer  der  3  (Schmiede)  Brüder  von  3  Jungfrauen  sich  eine  durch 
den  Raub  ihres  Gefieders  erwählt.  Neben  der  3-Brüderform 
kommt  aber  auch  in  den  Erzählungen  vom  Perseustypus  die 
2-Brüderform  vor.  Da  stoßen  die  beiden  Brüder  ihre  Messer 
in  einen  Baum  am  Scheidewege.  Eben  so  geläufig  ist  dem 
3-Brüdermärchen  der  Dreiweg,  wo  ein  Baum  steht,  oder  Weg- 
weiser (die  Aeste  des  Baumes?)  sind,  oder  eine  Inschrift    sich 


")  Vgl.  Carl  Thulin,  Die  Götter  des  Martianus  Capella,  Gießen  1906 
S.  3,  F.  Hommel,  Ein  neues  Bindeglied  zwischen  Etrurien  und  Klein- 
asien (Memnon  I  87  f.),  Derselbe.  Ein  zweites  neues  Bindeglied  etc. 
(ebenda  I  211  f.). 


Herakles  am  Scheidewege.  499 

befindet.  Zu  dem  Baume  an  dem  Dreiwege  gehören  aber  stets 
auch  drei  Göttinnen,  die  Nornen,  Parzen,  Hören  (vgl.  den 
Buchtitel  des  Prodikos !),  oder  welche  Namen  sie  sonst  in  dem 
jeweiligen  Mythensysteme  führen  mögen.  Hinweise  auf  diese 
Stoffe  gab  ich  schon  oben  Anm.  7.  Hier  hat  also  die  ver- 
gleichende Mythenforschung  einzusetzen. 

Den  Buchstaben  Y  in  dem  westseraitischen  Alphabete  leitet 
F.  Hommel  in  seinem  Grundrisse  der  Geogr.  u.  Gesch.  d.  alten 
Orients  (I.  v.  Müllers  Handbuch  d.  klass.  Altertwsch.  HI  1/1) 
S.  9y  f.  von  dem  Symbole  des  Zwillingdrachens  ab  und  ord- 
net ihm  das  Tierkreiszeichen  der  Zwillinge  zu.  In  solcher 
Bedeutung  steht  der  Buchstabe  in  der  ersten  Hälfte  der 
Reihe  und  ihm  entspricht  hellenisches  f  (Digamma).  Die 
Reihe  selbst  schließt  mit  n,  das  als  T  (Kreuz)  in  verwandtem 
Sinne  Signum  Christi  wie  Y  litera  pytliagorica  ist.  Nun  ist  es 
eine,  auch  sonst  zu  beobachtende  Erscheinung,  daß  Zeichen, 
welche  in  die  Alphabetreihe  erst  ganz  neu,  oder  in  veränder- 
ter Bedeutung  von  neuem,  Aufnahme  fanden,  stets  hinter  jenes 
Zeichen  der  schon  vorliegenden  Reihe  gestellt  wurden,  zu  dem 
sie  den  Alphabetredaktoren  der  betreffenden  Zeit  systemgerecht 
zu  gehören  schienen.  Mithin  wäre  zu  untersuchen,  wie  Y  zu 
einem,  dem  des  T  (als  Kreuzeszeichen)  verwandten  Sinne  kom- 
men konnte.  In  meinem  Aufsatze  „Das  Hakenkreuz  als  Grund- 
zeichen des  westsemitischen  Alphabetes"  im  Memnon  III  2  hoffe 
ich  nun  einige  Beziehungen  dargestellt  zu  haben,  welche  zur 
Beantwortung  der  hier  aufgeworfenen  Frage  verwertet  werden 
könnten.  Doch  muß  ich  mich,  da  verwickelte  Verhältnisse  zu 
Grunde  liegen,  wenigstens  für  diesmal,  mit  solch  allgemeinem 
Hinweise  begnügen. 

Zusammenhänge  und  Fragen  dieser  Art  führen  in  Wälder, 
Avelche  erst  zu  einem  sehr  geringen  Teile  urbar  gemacht  sind. 
Die  vorliegende  Untersuchung  hingegen  wollte  bloß  jenen 
Teil  dieses  Stoffes,  der  schon  symbolistisch  und  allegorisierend 
umgebildet  ist,  ins  Auge  fassen.  Auch  solche  Umbildungen 
und  Misbildungen  haben  ihr  kulturgeschichtliches  Interesse. 

Wien.  Wolfgang  Schultz, 


32  = 


XXII. 

Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi. 

Nach  den  ziemlich  eingehenden  Ausführungen  Joels^)  und 
der  noch  weit  gründlicheren  und  ergebnisreicheren  kritisch- 
exegetischen Studie  Töpfers^)  könnte  es  überflüssig  erscheinen, 
über  den  uns  von  dem  genialen  Spürsinn  und  sicheren  Sprach- 
gefühl eines  Friedrich  Blaß  bescherten  Anonymus  Jamblichi 
ein  Weiteres  zu  schreiben.  Wenn  freilich  Töpfers  Programm 
ohne  Kenntnis  von  Joels  Darlegungen  geschrieben  zu  sein  scheint 
und  die  neueste  Veröffentlichung  über  unsern  Autor  ^)  wieder 
auf  Töpfers  gediegene  Arbeit  nicht  den  geringsten  Bezug  nimmt, 
so  sollte  von  vornherein  auf  Dank  rechnen  können,  wer  sich 
zum  Ziele  setzt  die  ganze  einschlägige  Literatur  zu  berück- 
sichtigen. Zudem  gehen  in  einigen  wichtigen  Punkten  die 
Ansichten  noch  recht  weit  auseinander.  Zum  Belege  hiefür 
brauche  ich  nur  darauf  hinzuweisen,  daß  die  einen  in  einem 
Sophisten,  andere  in  einem  Kyniker  den  Verfasser  der  Bruch- 
stücke sehen.  Allerdings  will  ich  nicht  unterlassen,  schon  an 
dieser  Stelle  der  skeptischen  Ansicht  Ausdruck  zu  geben 
daß  eine  positive  Lösung  der  Verfasserfrage  ebensowenig  zu 
erwarten  sein  dürfte  wie  bei  der  pseudoxenophontischen  'Aö-rj- 
vatwv  TToXcTEia*).     Aber  eine  eingehende  Prüfung  aller  vorge- 


*)  Der  echte  und  der  Xenophontische  Sokrates,  Berlin  1901,  II 
S.  673  ff. 

-)  Die  sogenannten  Fragmente  des  Sophisten  Antiphon  bei  Jam- 
blichos,    Progr.  Aman  1902. 

^)  Stanislaus  Schneider  in  den  Wiener  Studien  26,  S.  14  ff.  Hier 
sei  bemerkt,  daß  mein  Aufsatz  bereits  im  Januar  1908  abgeschlossen 
wurde. 

*)  Dieselbe  Ansicht  spricht  Diels  im  II.  Bd.  seiner  Fragm.  der  Vor- 
sokr.  1907,  S.  629  Anm.  aus,  der  mir  erst  nach  Abschluß  meiner  Ab- 
handlung zugänglich  wurde. 


K.  Bitterauf,  Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.     501 

tragenen  Ansichten  läßt  sich  nicht  umgehen,  mag  sie  auch 
nur  zu  einem  negativen  Ergebnis  führen,  und  eine  solche 
Kritik  fördert  immerhin  mehr,  als  wenn  neuere  Vertreter  der 
Antiphonhypothese  den  Joeischen  Standpunkt  ganz  ignorieren. 
Bei  der  Verschiedenheit  der  hervorgetretenen  Ansichten  ebenso 
geboten  und  als  eine  der  notwendigen  Voraussetzungen  für 
die  Entscheidung  der  Verfasserfrage  noch  dringlicher  ist  eine 
Untersuchung  des  ethisch-politischen  Standpunktes  und  der 
Gesamtauffassung  des  Anonymus  sowie  eine  Darlegung  seines 
Verhältnisses  zu  andern  Schriftstellern  des  ausgehenden  fünften 
und  beginnenden  vierten  Jahrhunderts.  Oder  ist  es  nicht  ver- 
wunderlich, daß  ein  und  derselbe  Autor  diesem  als  Individua- 
list gilt,  jenem  aber  als  Vertreter  der  Interessen  der  Gemein- 
schaft erscheint  ?  ^). 

Versuchen  wir  uns  also  zunächst  über  den  politischen 
Standpunkt  des  Anonymus  Rechenschaft  zu  geben! 

Schon  im  zweiten  Fragment  p.  96i — 978  (Pistelli),  in 
dem  der  Verfasser  den  Gedanken  ausführt,  daß  nur  unaus- 
gesetzte Übung  von  Jugend  auf  einen  dauernden  Ruhm  verbürgt 
und  Neid  und  Mißgunst  ferne  hält,  wird  offenbar  eine  demo- 
kratische Gesellschaft  vorausgesetzt.  Deutlicher  noch  tritt 
die  persönliche  Anschauung  des  Anonymus  im  dritten  Bruch- 
stück p.  97i6 — 98i2  hervor.  Ein  wichtiges  Merkmal  des  Guten 
ist  sein  Nutzen.  Der  apiaxoq  ist  daher  6  kasigzoic,  wcpeXtjio? 
wv.  Ein  solcher  größter  „Wohltäter  der  Menschheit"  ist  nur, 
wer  Gesetze  und  Recht  verteidigt  (ec  loic,  '</ö[i.oi<;  xs  xac  xw 
Scxaccp  ETrixoupoirj).  Bei  diesen  Ausführungen  schwebt  dem 
Verfasser  doch  augenscheinlich  der  demokratische  Rechtsstaat, 
der  kräftigen  Individualitäten  den  weitesten  Spielraum  läßt, 
als  Normal  Verfassung  vor.  Aber  diese  Auffassung,  daß  die 
Förderung  des  Rechtes  und  das  Eintreten  für  die  Gesetze  die 
rechte  dpexYj  darstelle,  war  für  eine  vorgeschrittene  Richtung 
der  sogenannten  Sophistik  bereits  ein  überwundener  Standpunkt. 
Vermöge  einer  gründlichen  „Umwertung  der  Begriffe"  war 
für   sie  Wurzel   der   apexYj    die  uXeovs^ia   und   Ziel   xö  xpato? 


*)  Für  die  Anregung  zu  dieser  Studie  spreche  ich  auch  an  dieser 
Stelle  Herrn  Professor  Dr.  Karst  meinen  verbindlichsten  Dank  aus. 


502  Karl    Bitte  rauf, 

xb  inl  zfi  TiXeovs^t'a^),  Mit  diesen  Vertretern  des  Rechtes  des 
Stärkeren,  der  Machttheorie  oder  Herrenmoral,  die  den  Ge- 
horsam gegen  die  Gesetze  als  Feigheit  verlachten,  setzt  sich 
der  Anonymus  im  sechsten'')  Bruchstück  p,  IOO5 — lOle  aus- 
einander. Ein  staatliches  Zusammenleben  hat  nur  dann  Sinn, 
wenn  es  die  Segnungen  gesetzlicher  Ordnung  vermittelt ;  denn 
ein  Gemeinschaftsleben  in  gesetzlosem  Zustand  wäre  noch  un- 
erträglicher als  das  Sonderleben  in  der  Zeit  des  rohen  Urzu- 
stands. Die  ungesetzliche  Willkürherrschaft  eines  einzelnen 
Übermenschen  aber  hätte  nicht  einmal  Aussicht  auf  Erfolg: 
er  würde  schließlich  doch  von  den  „Allzuvielen"  und  ihrer 
„Sklavenmoral"  überwunden  und  beseitigt  werden.  —  Im  letzten 
und  größten  Bruchstück  p.  101  u — 104u,  das  sich  inhaltlich 
eng  an  das  vorhergehende  anschließt,  legt  der  Verfasser  aus- 
führlich die  Segnungen  der  suvojAia  und  weniger  eingehend 
die  schlimmen  Folgen  der  &yo\i.ia,  dar ;  nur  die  Bekämpfung 
der  Tyrannis,  der  schlimmsten  ßXaßyj  der  avo|ita,  führt  zu  einem 
längeren  Worterguß  des  Sophisten,  der  nicht  mehr  von  nüch- 
tern kühler  Berechnung,  sondern  von  verhaltener  Leidenschaft 
eingegeben  zu  sein  scheint.  Wer  sich  über  den  Ursprung  der 
Tyrannis  anders  zu  denken  erlaubt  als  er,  erhält  das  Epithe- 
ton eines  Toren.  Nur  in  der  dvojJiia  und  nXeovzE,ia  ist  der 
Ursprung  der  Tyrannis  zu  suchen.  Da  es  nämlich  für  die 
Menschen  unmöglich  ist  ohne  Gesetze  und  Recht  zu  leben,  so 
geht  der  Schutz  der  Gesetze  und  des  Rechtes  auf  einen  ein- 
zigen über,  £7i£iSav  aTiavxe?  eizl  xaxtav  xpaTicDvxat  oder  xoü 
v6[iOu  £^ü)ad'£VX05  xoü  xip  tcXtjS'SC  au[xcp£povxos.  Er  kann  sich 
nur  dadurch  zum  Herrscher  aufwerfen,  daß  er  die  geschwun- 
denen v6|jioi  und  StXT]  in  ihr  Recht  einsetzt^).  Daraus  ergibt 
sich  klar  der  unausgesprochene  Schluß,  daß  die  Erhaltung 
der  Herrschaft  der  vc[iot  und  der  Sixyj  der  Grundpfeiler  der 
Demokratie  ist.    Dementsprechend  bemerken  wir  nirgends  auch 


«)  Diels,  Fragm.  der  Vorsokr.  2.  Aufl.  1907  II  S.  632,  hat  die  be- 
zeichnende Stelle  p.  100  b— ePist.,  die  er  in  der  ersten  Auflage  mit  Un- 
recht übergangen  hatte,  jetzt  auch  in  den  Text  aufgenommen. 

')  =  fr.  E   bei  Blaß,  De  Antiphonte   sophista    auctore,   Kiel  1889. 

*)  Durch  diese  Feststellung  des  Zusammenhangs  glaube  ich  Töpfers 
Übersetzung  von  ixXeXo'.n&xa  xaO-iaxas  'bewirkt  er  ihr  Schwinden'  als 
unrichtig  dargetan  zu  haben. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  503 

nur   die   leiseste   prinzipielle   Opposition  ^egen  die  bestehende 
athenische  Demokratie ''). 

Gehen  wir  nun  daran,  die  ethischen  Wurzeln  dieser 
Gesinnung  bloßzulegen,  so  kann  die  rein  utilitarische 
Begründung  des  Sixatov  im  dritten  Bruchstück  p.  97i6 — 98i2, 
die  schon  aus  der  oben  citierten  Definition  des  oipioxoq,  hervor- 
geht, auf  griechischem  Boden  in  keiner  Weise  auffallen.  In 
naiver  Weise  tritt  der  Utilitarismus  zutage  bei  dem  Zugeständ- 
nis, daß  die  cptXocjJUXt'a  ganz  verzeihlich  wäre,  wenn  nicht  bei 
einer  Verlängerung  des  Lebens  mit  einem  y^/pas  xaxtov  öv  und 
dem  doch  unausbleiblichen  Tode  zu  rechnen  wäre  (p.  OQiglf.)- 
Schwieriger  scheint  die  Frage  zu  beantworten,  ob  der  Verfasser 
sich  von  den  Interessen  des  Individuums  oder  von  denen  der 
Allgemeinheit  leiten  läßt.  Nach  Gomperz^")  wird  in  unsern 
Bruchstücken  „  das  Individuum  ganz  in  den  Dienst  der  Gesamt- 
heit gestellt",  ja  er  scheut  nicht  zurück  vor  der  starken  Ver- 
allgemeinerung, die  Sophisten  hätten  unmöglich  antisoziale 
Lehren  verkünden,  eher  hypersoziale  Doktrinen  predigen  kön- 
nen. Ebenso  behauptet  sein  Schüler  Töpfer  ^^),  für  den  Ano- 
nymus bilde  die  Gesellschaft  den  Ausgangspunkt  der  Unter- 
suchung, er  habe  die  offenkundige  Absicht,  vom  Glück  und 
Gedeihen  des  Staates  auch  das  Glück  des  einzelnen  abhängig 
zu  machen  ^^).  Nehmen  wir  nun  den  griechischen  Text  zur 
Hand  um  zunächst  den  Eingang  der  verschiedenen  Abschnitte 


9)  Wenn  Schneider  a.  a.  0.  S.  24  von  einer  altdemokratischen  Rich- 
tung spricht,  die,  auf  Solon  und  Kleisthenes  zurückgehend,  in  dem  So- 
phisten Antiphon  (dieser  ist  auch  für  Schneider  der  Verfasser  unserer 
Bruchstücke),  Euripides  und  Herodot  ihren  Anwalt,  Dichter  und  Ge- 
schichtschreiber hatte,  so  gefällt  er  sich  in  einer  unbewiesenen,  unhi- 
storischen Konstruktion.  Nicht  minder  leere  Worte,  als  wenn  er  dem 
Anonj'mus  einen  'doktrinären  und  einseitigen  Demokratismus'  zuschreibt, 
sind  es,  wenn  Schneider  die  'quietistische  anpayiAoaüvr)'  des  Anonymus 
der  'geschäftigen  Tatlust  (!)  der  Athener'  eotgegensetzt.  Im  einzelnen 
kann  ich  auf  Schneiders  hier  und  an  andern  Stellen  hervortretende 
falsche  Auffassungen  nicht  eingehen. 

'«)  Griechische  Denker  I  S.  350. 

")  a.  a.  0.  S.  42  und  47. 

*^)  Wenn  Pöhlmann  (Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und 
Sozialismus  I  167*)  unseren  Anonymus  der  idealistischen  Suzialphilo- 
sophie  zuweist,  die  er  dem  extremen  Individualismus  gegenüberstellt, 
und  die  Bekämpfung  der  ,Pleonexie'  als  charakteristisch  für  diese 
Richtung  hervorhebt ,  habe  ich  auch  von  meinem  Standpunkt  keinen 
Einwand  zu  erheben. 


504  Karl    Bitterauf, 

auf  unsere  Frage  hin  anzusehen,  so  lesen  wir  p.  95i2ff. :  ws 
yap  aTiXw^  eiTrecv,   o  xc  av  xc?  S'ö-eX'ir]  e^epyaoaa^ac  so  xeXos  xö 

ßeXxtaxov, ex  xwvSe  o!6v  xe  stvat  xaxspyaaaa^ac.    96i  ff.: 

e^  ou  av  xt?  ßouXvjxat  56^av  Tiapa  xo:?  av-ö-pwTiot?  Xaßetv 
xac  xoioöToc,  cpatvea'B'ac  oco?  av  •^,  auxcxa  oti  vio^  xe  ap^aad-at 
xxX,  97 16 ff. :  oxav  xcg  öpex'ö-ecs  xcvos  xouxcov  xaxepyaaa|jievoi; 
e  X 113  aüxö  eic,  xeXo?,  .  .  .  xouiw  de,  dyaö-a  xat  vö(a,c|jia  xaxa- 
Xp•^a^^at  See.  98]7:  xac  {jiy]v  eyxpaxeaxaxöv  ye  Set  etvat  Tidvxa 
dvopa  §Lacpep6vxü)s  •  xoioüxoc,  b'  av  [xdXiaxa,  et  x  1 1;  ^^)  xwv  XP^- 
[jtdxwv  xpetaawv  et'r]  xxX.  98i8f. :  xat  Tiept  tptXotpu/Jag  oe  wSe 
dcv  xt$  Treta^etrj  xxX.  Wen  nicht  bereits  diese  in  der  Aus- 
drucksweise doch  recht  individualistische  Darstellung  über- 
zeugt, der  möge  mit  mir  die  Richtigkeit  der  Gomperz-Töpfer- 
schen  Auffassung  noch  am  Inhalte  prüfen.  Sind  wir  nicht  ge- 
nötigt deren  Auslegung  zuzustimmen,  wenn  wir  an  die  Forderung 
des  xolQ  vojxots  xe  xat  x(j)  Stxatcp  ETitxoupetv,  an  die  Gleichung  6 
dptaxos  =  6  TtXetaxotg  ü)cpeXt(xoc;,  an  die  breite  Darlegung  der  Seg- 
nungen der  euvo^ca  denken?  Ich  meine  freilich,  man  kann  eine 
Forderung  stellen,  die  den  Interessen  des  Staates  auf  das  beste 
dient,  und  kann  dabei  trotzdem  lediglich  vom  wohlverstandenen 
eigenen  Interesse  geleitet  sein.  Wenn  auch  gelegentlich  eine  Be- 
merkung fällt  wie  die  von  Recht  und  Gesetzen  als  „  einigendem 
Kitt '^)  der  Staaten  und  Menschen "  (xd;  xeTioXet?  xat  xobc,  dvö-pw- 
Tioug  auvotxtt^ov  xat  auvexov  p.  98io),  so  kann  uns  das  doch  nicht 
darüber  hinwegtäuschen,  daß  nicht  das  Wohl  des  Staates  den 
Ausgangspunkt  für  die  Ausführungen  des  Sophisten  bildet, 
sondern  das  Glück  des  Individuums.  Ich  verweise  zunächst 
auf  p.  97i6ff.,  besonders  9725 ff.  Der  Verfasser  ist  bei  seinem 
Hauptthema,  der  Betätigung  der  dpexYj  r]  aufiuaaa  angelangt. 
Nachdem  festgestellt  ist,  daß  jede  dpexi^  nur  zu  sittlich  und 
gesetzlich  einwandfreien  Zwecken  (et?  dya^d  xat  v6}At[jia)  ge- 
braucht werden  soll,  wird  das  Problem  aufgeworfen :  Wie 
kann  derjenige,  der  nach  der  Tüchtigkeit  im  weitesten  Um- 
fange strebt,  sich  in  Wort   oder  Tat  als  Tüchtigster  erweisen? 

*')  Diels  hat  das  überlieferte  xtg  auch  in  der  zweiten  Aufl.  nicht  in 
den  Text  aufgenommen,  sondern  schreibt  unter  Anlehnung  an  Kießlings 
Konjektur  ■(eItj),  sT  xig  nur  slri,  sl.     Vgl.  a.  a.  O.  II  631,  27. 

'*)_Hier  und  im  folgenden  mache  ich  gelegentlich  von  der  Töpfer- 
schen  Übersetzung  Gebrauch. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  505 

Die  Freigebigkeit  wird  als  ungeeignet  für  diesen  Zweck  be- 
zeichnet, weil  man  „notwendigerweise  seinen  Vorzug  wieder 
einbüßt  in  dem  Augenblick,  wo  man  die  Mittel  hiezu  erwirbt", 
und  weil  ferner  die  Mittel  immer  nur  allzu  früh  wieder  aus- 
gehen, nicht  zu  vergessen  die  Ssuiepa  xaxta,  daß  man  dabei 
selbst  aus  der  besitzenden  Klasse  in  die  besitzlose  gerät.  Ein 
Wohltäter  ohne  eigenen  Nachteil,  auv  dpex'^,  und  mit  uner- 
schöpflichem Quell  des  Reichtums  kann  man  nur  sein,  „wenn 
man  den  Gesetzen  und  dem  Recht  seinen  Arm  leiht".  Mit 
diesem  hier  deutlich  hervortretenden  individualistischen  ütili- 
tarismus  steht  die  Anschauung  des  Sophisten  von  der  Ent- 
stehung und  Aufgabe  des  Staates  p.  lOOgff.  im  Einklang.  Da 
das  xaö-'  sva  i^fjV  für  die  Menschen  unerträglich  war,  schlössen 
sie  sich  zusammen  und  schufen  sin  Gemeinschaftsleben  und 
für  dieses  eine  Kultur.  Der  Staat  ist  also  das  Mittel  zur  Be- 
friedigung der  individuellen  Lebenszwecke  wie  bei  Protagoras, 
Demokritosund  Antiphon^^).  Die  Voraussetzung  für  den  Be- 
stand dieses  Notproduktes,  das  der  Staat  darstellt,  ist  die  Herr- 
schaft von  Recht  und  Gesetz,  die,  wie  wir  oben  sahen,  das  Glück 
der  TiXelQZOi  verbürgen.  Von  der  Bedeutung  der  Mehrheit  ist 
auch  unser  Sophist  durchdrungen.  Wenn  nun  gegen  die  Masse 
der  einzelne  sich  nicht  auf  die  Dauer  behaupten  kann,  nicht 
einmal  einer,  der  axpwtog  xöv  XP^xa  ävoooq  xe  xac  ixTza%-y]<; 
xod  UTxepcpuY]!;  xoiX  aoajxavxivo^  x6  X£  aw(xa  xai  xy]V  4"^XV 
(p.  lOOigfiP.)  wäre,  so  gilt  es  eben  die  Einzelinteressen  mit 
denen  der  Mehrheit  in  Einklang  zu  bringen.  Nicht  schwer 
fällt  dies  bei  der  optimistischen  Auffassung  von  der  Gleichartig- 
keit der  Individuen  und  von  der  Harmonie  der  Individualin- 
teressen, die  offenbar  der  Anonymus  teilte.  Die  Interessen 
der  Mehrheit  müssen  also  für  den  einzelnen  bestimmend  sein, 
weil  er  dadurch  auch  seine  Interessen  am  besten  fördert.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  betrachtet  stellen  Recht  und  Gesetz 
nur  eine  Summierung  der  Einzelinteressen  dar  und  wollen 
nicht  etwa  besondere  Interessen  der  staatlichen  Gemeinschaft 
gegenüber  dem  Individuum  schützen.     Wenn   daher    der  Ver- 


*^)  Ich  werde  hierauf  später  in  anderem  Zusammenhange  noch  zu- 
rückkommen. Vgl.  Karst,  Geschichte  des  Hellenistischen  Zeitalters, 
Leipz.  1901,  I  S.  42  ff. 


506  Karl   Bitterauf, 

fasser  p.  101i2ff.  so  warm  für  die  euvojXLa  eintritt,  läßt  er  sich 
nur  scheinbar  von  der  Rücksicht  auf  das  Wohl  des  Staates 
und  der  Gesellschaft  leiten ^^).  In  der  Praxis  wirkt  diese  Lehre 
freilich  sozial ;  aber  in  der  Ableitung  und  Begründung  der 
Anschauung  des  Anonymus  haben  Gomperz  und  Töpfer  un- 
recht 1'). 

Wenn  ich  oben  sagte,  daß  sich  der  Verfasser  ohne  Vor- 
behalt auf  den  Boden  der  bestehenden  athenischen  Demokratie 
stelle,  so  muß  ich  hier  allerdings  kurz  darauf  hinweisen,  welche 
Kluft  diese  individualistische  Staatstheorie  von  der  noch  im 
Zeitalter  des  Perikles  herrschenden  Auffassung  der  athenischen 
Demokratie  trennt,  für  die  nur  das  Interesse  des  Ganzen  aus- 
schlaggebend war,  einer  Auffassung,  der  bekanntlich  Thuky- 
dides  ^^)  in  der  Leichenrede  des  Perikles  ein  literarisches  Denk- 
mal gesetzt  hat. 

Nachdem  wir  uns  über  die  leitenden  Gesichtspunkte  unserer 
Bruchstücke  Rechenschaft  gegeben  haben,  wollen  wir  im  fol- 
genden ihre  Beziehungen  zu  anderen  Werken 
und  Autoren  des  ausgehenden  fünften  und  beginnenden 
vierten  Jahrhunderts  prüfen,  wobei  auch  auf  die  Verfasser- 
frage Streiflichter  fallen  mögen  ^^). 

Am  wenigsten  Raum  beansprucht  die  Besprechung  des 
Verhältnisses  zu  dem  Rhetor  und  Sophisten  Gorgias.  Wäh- 
rend Blaß  Gorgias  als  Verfasser  gerade  deshalb  ausschließt, 
weil  die  „figurae  Gorgianae"  fast  ganz  fehlen,  betont  Joel 
stark  den  gorgianisch-rhetorischen    Charakter  unserer  Bruch- 


ig) Daß  dieses  letzte  Fragment  nur  'gleichsam  die  Nutzanwendung 
der  im  vorhergehenden  entwickelten  Lehren'  enthalte,  gibt  Töpfer  auf 
S.  25  selbst  zu. 

^')  Auch  Pöhlmann  könnte  ich  nicht  beistimmen,  wenn  er  die  auf 
die  ganze  Richtung  der  Sozialphilosophie  gemünzten  Sätze  wie  die  fol- 
genden auch  auf  den  Anonymus  angewendet  wissen  wollte:  a.  a.  0. 
S.  161  :  „Über  die  egoistischen  sollen  soziale  Beweggründe  die  Herr- 
schaft gewinnen,  vor  allem  die  sittliche  Hingabe  an  die  höchste  Ge- 
meinschaft, an  den  Staat".  S.  163:  „lieber  die  Ansprüche  des  Egois- 
mus der  Individuen  und  Klassen  erhebt  sich  die  Idee  des  Staates  als 
einer  Macht,  welche  ihre  eigenen  sittlich-vernünftigen  Zwecke  verfolgt, 
welche  als  die  der  Gesamtheit  aller  immanente  Einheit  die  Gerechtig- 
keit gegen  alle  zu  verwirklichen  hat". 

»8)  Besonders  in  H  40,  2. 

^*)  Erschöpfend  können  und  wollen  diese  Ausführungen  natürlich 
nicht  sein. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  507 

stücke  und  hebt  besonders  die  Vorliebe  für  Antithesen  hervor. 
Mag  aber  auch  der  Stil  gorgianische  Elemente  enthalten, 
der  Inhalt  zeigt  jedenfalls  gar  keine  Übereinstimmung  mit 
den  Fragmenten  des  Georgias  und  Sorof^")  bemerkt  mit  Recht, 
daß  schon  die  geringschätzige  Äußerung  über  die  Rhetorik 
p.  9626  ff.  ^^)  genüge,  um  die  Autorschaft  eines  Gorgias  un- 
möglich zu  machen.  In  welcher  Schrift  des  Gorgias  sollten 
denn  auch  diese  Fragmente  gestanden  haben? 

Deutlich  dagegen  sind  die  Berührungen  mit  Demokri- 
tos.  Bei  diesem  finden  wir  den  individualistischen  Utilitaris- 
mus  in  der  ganzen  Ethik  Avieder,  vergleiche  z.  B.  Fragm.  276  --), 
die  Mahnung  die  Individualinteressen  denen  der  Allgemeinheit 
zum  eigenen  Besten  unterzuordnen  in  Fr.  252^^)  und  248^*), 
das  Lob  der  6|Ji6voca  in  Fr.  250^^)  und  252  und  die  Torheit 
des  Verlangens  nach  langem  Leben  im  Fr.  201  ^^).  Werm 
Demokritos  im  Fr.  251-^)  für  die  Demokratie  eintritt,  so  steht 
dazu  Fr.  267  ^^)  (cpuaec  xö  ägyzv^  (y.v.r\iov  tö  xpeaaovi)  in  einem 
gewissen  Widerspruch.  Die  Anerkennung  des  Naturrechts 
des  Stärkeren  braucht  aber  Demokritos  nicht  zu  hindern  aus 
utilitarischen  Gründen  die  Vorzüge  der  Demokratie  hervorzu- 
heben. Denn  „wenn  niemand  den  anderen  schädigte,  würden 
die  Gesetze  nichts  dagegen  haben,  daß  jeder  nach  eigenem 
Belieben  lebte"  ^a). 

Nun  hat  nicht  bloß  Diels  bereits  in  der  ersten  Auflage 
kurz  bemerkt,  daß  unseren  Bruchstücken  dem  Inhalte  nach 
die  Abderiten  Protagoras  und  Demokrit  am  nächsten  stün- 
den^"), sondern  das  nämliche  ergibt  sich  auch  schon   aus  den 


^'')  Nomos  und  Physis    in    Xenophons  Anabasis,  Herrn.  34,   S.  582. 

21)  Der  Anonymus  spricht  von  einer  bloßen  Wortkunst  (tex'^v)  xaxä 
^öyous)  im  Unterschied  von  der  apsxrj  riiic,   iE,  sp^wv  tioXXöv  ouvioxaxat. 

22)  =  180  N.  =  Stob.  flor.  IV  76,  15  M.  Ich  citiere  immer  nach 
Diels  i.  Bd.  2.  Aufl.  1906. 

23)  =  134  N.  =  Stob.  IV  43,  43. 
2*)  =  139  N.  =  Stob.  IV  43,  33. 
26)  =  136  N.  =  Stob.  IV  43,  40. 
2«)  =  94  N.  =  Stob.  III  3,  75. 
2')  =  147  N.  =  Stob.  IV  43,  42. 

28)  =  142  N.  =  Stob.  IV  47,  19. 

29)  Fr.  245  D.  =  140  N.  =  Stob.  III  38,  53. 

30)  Aus  dieser  Bemerkung  las  Schneider  eine  'Hypothese  von  De- 
mokrits  Autorschaft'  heraus  und  hielt  es  für  notwendig  zur  Wider- 
legung dieser  Hypothese  auf  die  Verschiedenheit  in  der  Bewertung  der 


508  Karl    Bitterauf, 

Ausführungen  Kärsts^^).  Folgen  wir  also  der  hier  gefunde- 
nen zweiten  Spur  und  prüfen  das  Verhältnis  des  Anonymus 
zu  dem  älteren  Abderiten!  An  den  Prometheusmythos  im 
Platonischen  Dialoge  Protagoras  erinnert  auffallend  An. 
Jambl.  p.  100  9  ff.  d  yap  ecpuaav  xxX.  Ich  erblicke  in  dem 
berühmten  Mythos  nicht  eine  freie  Erfindung  Piatons,  nicht 
lediglich  eine  „verfeinerte  Art  der  Zerrbildnerei ",  die  „den 
nachgeahmten  Autor  in  seinen  Vorzügen  erreicht  und  über- 
bietet, während  sie  zugleich  dessen  Schwächen  stark  hervor- 
treten läßt  und  ohne  Zweifel  tibertreibt"  und  kann  der  An- 
sicht nicht  beipflichten,  daß  hier  „über  einen  Grundstock  un- 
klarer und  widerspruchsvoller  Gedanken  eine  durch  hohe 
oratorische  Vorzüge  und  durch  eine  Fülle  von  Geist  und 
Leben  ausgezeichnete  glänzende  Hülle  gebreitet"  werde,  wobei 
„jener  Grundstock  und  diese  Hülle  gleich  sehr  Piatons  eigenes 
Werk"  seien ^2).  Vielmehr  halte  ich  es  mit  denen,  die  den  Mythos 
für  eine  in  der  Hauptsache  authentische  Nachahmung  ansehen, 
da  sonst  der  Polemik  Piatons  das  notwendige  Substrat  und 
der  rechte  Sinn  fehlte  ■^^).  Die  , archaisierende"  Färbung  wie 
auch  die  mythologische  Einkleidung  muß  Protagoras  zweck- 
mäßig erschienen  sein  um  gemäßigte  politische  Anschauungen 
zu  verbreiten,  während  er  freilich  darauf  verzichtete  seine 
letzte  Überzeugung  deutlich  auszusprechen.  Ehe  ich  zu  einem 
Vergleich  der  Darstellung  des  Protagoreischen  Mythos  und 
des  Anonymus  übergehe,  möchte  ich  auf  ein  Analogon  zu  der 
Bezeichnung  des  Stocacov  als  eines  zdc,  xs.  toXecs  xac  zobg  dv- 
d-ptjiuouc,  ouvocxlJ^ov  xa:  auv£)(ov  hinweisen,  das  sich  in  dem 
Mythos  p.  322  c  findet,  wo  als  Folge  der  Verteilung  von  Stxrj 
und  (xiBtjjc,  die  Entstehung  von  TioXewv  x6a[xoi  xe  xai  Seafxoc, 
cpcXtae  auvaywyc/t  angeführt  wird.  Im  sechsten  Bruchstück 
des  Anonymus  nun  wie  in  dem  Protagoreischen  Mythos   wird 


Naturfähigkeiten   und  der  Dauer  der  Erziehung  bei  An.  Jambl.  p.  96, 
23  ff.  und  Dem.  Fr.  183   hinzuweisen,    eine   ganz  überflüssige   Polemik, 
auf  die    ich    nicht    einzugehen    brauche.     In    der   zweiten  Aufl.  II  629 
spricht  Diels  sich  ausführlicher  und  deutlicher  aus. 
3')  a.  a.  0.  I  S.  44  ff. 

32)  Gomperz  a.  a.  0.  II  S.  251  f. 

33)  Dümmler,  Akademika,  Gießen  1889,  S.  256,  Prolegomena  zu 
Piatons  Staat  und  der  Piaton.  und  Aristot.  Staatslehre,  Basel  1891, 
S.  37,  Karst  a.  a.  0.  I  S.  41,  Zeller  P  S.  1001  u.  a. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  5()9 

an  den  Anfang  der  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  ein 
gemeinschaftsloses  Dasein  gestellt:  Dem  xa^  eva  ^fjv  des 
Anonymus  entspricht  das  auopaorjv  otxetv  des  Protagoras. 
Während  aber  Protagoras  schon  in  dieser  Entwicklungsstufe  der 
Menschheit  infolge  des  durch  Prometheus  erhaltenen  Anteils 
am  göttlichen  Feuer  und  der  evce/voc;  oo'fia.  des  Hephaistos 
und  der  Athena  die  Entfaltung  materieller  und  geistiger  Kul- 
tur annimmt,  indem  er  die  Menschen  feste  Niederlassungen 
gründen,  Kleidung  erfinden,  Getreide  bauen  und  Religion  und 
Sprache  ausbilden  läßt^*),  dachte  sich  der  Anonymus  diese 
erste  Stufe  lediglich  als  tierisch  rohen  Urzustand  ^^).  Auch 
die  Menschen  des  Protagoras  jedoch  wurden  der  erlangten 
Kultur  noch  nicht  froh,  weil  sie  sich  der  wilden  Tiere  nicht 
erwehren  konnten:  Es  fehlte  ihnen  ja  die  von  Zeus  gehütete 
Staatskunst,  von  der  die  Kriegskunst  ein  Teil  ist.  Deshalb 
vereinigten  sie  sich  zur  Erhaltung  des  Lebens  gegen  die  ihnen 
an  Stärke  überlegenen  Tiere  und  gründeten  Städte.  Erreichte 
auch  diese  notgedrungene  Vereinigung,  die  ein  Nebeneinander- 
leben, noch  kein  Zusammenleben  bewirkte,  ihren  nächsten 
Zweck,  so  stellte  sich  doch  der  neue,  bedenklichere  Übelstand 
ein,  daß  jetzt  die  Menschen  selbst  feindlich  aneinander  ge- 
rieten ^^),  so  daß  ihnen  bald  in  erneuter  Zerstreuung  der  Un- 
tergang drohte.  Da  greift  Zeus  selbst  ein  und  ermöglicht 
durch  Verleihung  der  ocidüc,  und  Stxr],  die  Hermes  den  Men- 
schen bringt,  die  Gründung  des  Rechtsstaates^^).  Diese  Un- 
terscheidung eines  ersten,  mißlungenen  Vereinigungsversuches 
und  eines  zweiten,  dauerhaften  Zusammenschlusses  findet  sich 

^*)  Piaton  selbst  dagegen  setzt  diese  Kultur  nicht  vor  die  Ent- 
stehung des  Staates,  sondern  läßt  die  Staatsgründung  gerade  durch 
die  y^ptioi.  herbeiführen,  durch  die  Notwendigkeit  die  Bedürfnisse  der 
Nahrung,  Wohnung  und  Kleidung  zu  befriedigen;  cf.  Politeia  II  11, 
p.  369  b. 

^=)  Vergleiche  den  &y)pLtt)Syjs  ßiog  des  Kritias  Fr.  25  und  des  Eurip. 
Hiket.  V.  202. 

^®)  Es  galt  eben  damals  nur  das  Recht  des  Stärkeren.  Vgl.  auch 
Rehm,  Gesch.  der  Staatsrechtwissenschaft  1896  S.  15. 

'^)  Indem  der  Platonische  Protagoras  die  Verteilung  der  alSws  und 
SixYj  an  alle  Menschen  gleichmäßig  vornehmen  läßt,  macht  er  der  athe- 
nischen Demokratie  eine  höfliche  Verbeugung,  sieht  sich  aber  infolge 
dieser  auch  für  einen  oberflächlichen  Beobachter  der  Wirklichkeit  un- 
haltbaren Annahme  dann  zu  der  weiteren,  wenig  glücklichen  Erfindung 
genötigt,  daß  es  Menschen  gebe,  die  eines  Anteils  an  diesen  Gütern 
nicht  fähig  sind. 


510  Karl    Bitte  rauf, 

bei  dem  Anonymus  nicht ;  er  spricht  nur  von  einer  einmaligen 
Vereinigung  im  Drange  der  Not  und  weist  erst  diesem  Ent- 
wickelungsstadium  die  Ausbildung  einer  Zivilisation  zu.  Aber 
in  begrifflicher  Scheidung  scheint  bei  dem  Anonymus  noch 
die  Erinnerung  an  die  Entwickelungsstufen  des  Protagoras 
vorzuliegen:  Anon.  p.  113  ff.  auv  dXXrjXocg  ob  dvM  auxobc.  xac 
dvofjita  oiaix&od-cci  oi>x  olöv  xs  (^asc^w  ydp  auxolg  Ci^[icav  ouxw 
yiyvsaO-ac  Ixsivtjg  x^e  >taxa  eva  ScatxTj^)  entspricht  Prot.  p.  322  b: 
YjSc'xouv  dXXrjXou?  ....  waxe  TiaXtv  axeoavvufjLSVot  Scscp'ö-scpovxo. 
Die  Protagoreische  Verleihung  der  Biy.ri  und  atSw;  klingt  an 
bei  Anon.  p.  lOOisff. :  Sca  xauxa^  xocvuv  dvdyxa;  xov  xe  v6|j,ov 
otac  x6  Scxatov  sixßaacXeueiv  xot?  dvO-pwTiois  xac  oö5a(x|j  |Ji£xa- 
ax'^vac  dv  auxd. 

Ueber  den  Akt  der  Staatsgrtindung  selbst  spricht  sich  weder 
Protagoras  noch  der  Anonymus  näher  aus.  Denken  wir  uns  aber 
die  mythische  Einkleidung  weg,  da  ja  Protagoras  in  religiösen 
Dingen  ausgesprochenem  Agnostizismus  huldigte ^''^),  so  kann  es 
kaum  zweifelhaft  sein,  daß  sich  Protagoras  die  Entstehung 
des  Staates  ganz  so  wie  die  Vertreter  der  Vertragstheorie  dachte. 
Rehm  ^^)  bezeichnet  allerdings  die  Protagoreische  Auffassung 
lediglich  als  Vereinigungstheorie,  da  wir  keine  Anhaltspunkte 
dafür  hätten,  daß  Protagoras  auch  den  entstandenen  Staat 
als  Vertragsverhältnis  betrachtet  habe,  und  da  Aristoteles**') 
nicht  Protagoras,  sondern  Lykophron,  einen  Schüler  des  Gorgias, 
als  denjenigen  Sophisten  anführe,  welcher  das  Gesetz  als  einen 
„Bürgen  der  gegenseitigen  Rechte"*^),  somit  als  eine  Art 
Vertrag  bezeichnet  habe.  Ist  diesem  Einwand  auch  eine  ge- 
wisse Berechtigung  nicht  zu  versagen,  —  ein  zwingender  Be- 
weis gegen  die  Richtigkeit  meiner  Auffassung  ist  das  Schweigen 
des  Stagiriten  nicht  — ,  so  halte  ich  doch  an  meiner  Behaup- 
tung fest,  daß  die  Protagoreische  Anschauung  bereits  die  wesent- 
lichsten Elemente  der  Vertragstheorie  enthält.  Fanden  wir  doch 
im  Prometheusmythos  nicht  bloß  die  Annahme  eines  gemein- 
schaftslosen  Daseins,   sondern    zunächst   auch    eine  erste  Ver- 


^^)  Vgl.  Fr.  4  =  Diog.  Laert.  IX  51  :   uspl  p,£v   S-ecöv  oüx    sxw  oüd'' 
ü)g  slalv  01)9-'  6)c,  oüx  slalv  xxX. 
39)  a.  a.  0.  S.  15. 
^»)  Polit.  III  p.  1281  a. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymue  Jamblichi.  511 

einigung,  die  durch  vernünftige  Berechnung  des  Nutzens  der 
einzelnen  Individuen,  nämlich  des  Schutzes  gegen  die  wilden 
Tiere,  herbeigeführt  war,  also  eine  Vereinigung  durch  Satzung. 
Genau  nach  Analogie  dieses  ersten  Versuches  ist  die  zweite 
gelungene  Gründung  einer  staatlichen  Gemeinschaft  zu  denken. 
Nach  den  schlechten  Erfahrungen  in  der  Zeit  des  Faustrechtes 
schlössen  sich  wiederum  aus  freien  Stücken,  vielleicht  geleitet 
durch  kluge  Männer'*^),  die  einzelnen  zu  einer  neuen  Gemein- 
schaft zusammen,  diesmal  aber  unter  der  Voraussetzung,  daß 
einer  die  Rechte  des  andern  achte,  wiederum  eine  Vereinigung 
durch  Satzung,  durch  Vertrag.  Nur  so  können  wir  die  Lücke 
ausfüllen,  die  hier  in  dem  Mythos  zutage  tritt.  Denn  auch 
otxr]  und  aiSw;  wirken  mehr  negativ  als  positiv:  sie  schützen 
Person  und  Eigentum  der  Individuen  und  ermöglichen  so  ein 
friedliches  Nebeneinanderleben  ohne  doch  ein  wirkliches  Zu- 
sammenleben, eine  wirkliche  Lebensgemeinschaft  zu  bewirken. 
Vom  Standpunkt  des  individualistischen  Utilitarisraus  aus  ge- 
nügen auch  biv.ri  und  afSw?  nicht,  um  mit  Sicherheit  auf  die 
wünschenswerte  gegenseitige  Unterstützung,  auf  ein  Zusammen- 
arbeiten für  gemeinsame  Zwecke  ohne  deutliche  Erkenntnis 
der  Nützlichkeit  für  jeden  einzilnen  rechnen  zu  lassen.  Und 
doch  soll  im  Protagoreischen  Mjthos  ein  solches  Gemeinschafts- 
leben begründet  werden.  Ergänzen  wir  also  jene  Lücke  in 
dem  Mythos  aus  dem  Geist  I'rotagoreischer  Anschauung,  — 
so  können  wir  sie  nur  ausfüllen  durch  den  Gesellschaftsvertrag 
mit  der  vereinbarten  Leistung  auf  Gegenseitigkeit.  Daß  bei 
Protagoras  die  Ansätze  zur  Vertragstheorie  vorliegen,  darauf 
hat  schon  Karst ^^)  hingewiesen.  Sollte  jedoch  nicht  Protagoras 
selbst,  von  dem  wir  ja  leider  allzu  wenig  Verbürgtes  besitzen, 
der  Begründer  der  Vertragsthecrie  gewesen  sein,  wenn  sie  doch 
notwendig  auf  dem  Boden  deaokratischer  Anschauung  sowohl 
wie  eines  individualistischen  ITtilitarismus  erwuchs  **)  ?  Oder 
wäre    der   Gedanke   der  Vertragstheorie    eher  einem  kleineren 


*«)  Vgl.  Dümmler,  Proleg.  S.  28. 

")  Vgl.  a.  a.  O.  S.  42  f.  und  50. 

**)  Sophistischen  Ursprungs  ist  die  Vertragstheorie  auch  nach  Piaton 
Polit.  II358e.  Unklar  ist  mir,  varum  Kirchmann  Philos.  Bibl.  Bd.  80, 
S.  66  nur  des  Thrasymachos  Definition  des  Sixaiov  als  sophistisch  gel- 
ten läßt. 


512  Karl    Bitte  rauf, 

Geiste  als  Protagoras  zuzutrauen  ^^)  ?  Angenommen  aber, 
Protagoras  selbst  habe  das  Wort  Vertrag  noch  nicht  gebraucht; 
zugegeben,  er  habe,  was  auch  mir  wahrscheinlich  ist,  noch 
nicht  alle  Konsequenzen  der  Vertragstheorie  gezogen,  seine 
Auffassung  von  der  Entstehung  und  Aufgabe  des  Staates 
ist  es  sicherlich,  die  wir  bei  dem  Anonymus  wieder- 
finden. Das  zeigt  schon  der  Wortlaut  der  Stelle  p.  lOOgflF., 
von  der  wir  Bruchstücke  bereits  angeführt  haben :  d  yap 
scpuaav  [xsv  ol  av^pcoKOi  dSuvaxoc  xaO-'  eva  J^'^v,  auvfjXO-ov 
bk.  Tzpbc,  dXkrikoMC,  t^  dvayxyj  el'xovte?,  Tiötaoc  oe  yj  I^wy] 
auxot;  suprjxat  y.a.1  zcc  xeyyri\ii.ix~x  upbc,  auiYJv,  aüv  aXXriXoiq  te 
etvat  abxobc,  y.od  ävo\ilcc  oiotixäGd-oci  oöy^  olov  xe  {\idZ,iü 
yap  auxot?  ^rj[icav  ouxw  yiyvza^ixi  £xe''v7js  xyjs  xaxa  eva  ocacxYjs), 
oia,  xauxa^  xoc'vuv  xa?  dvayxag  xov  xs  vojjtov  xac  xö 
otxatov  e[xßaacX£U£tv  xotg  dvaJ-pwTio:?  xac  ouSa[x^  [Asxaax'^vac 
av  auxd.  cpoact  yap  la/upa  evSeSea-O-at  xaOxa.  Auch  Rehm  weist 
auf  das  nahe  Verhältnis  zwischen  dem  großen  und  kleinen 
Sophisten  hin,  indem  er  seiner  Auffassung  entsprechend  die 
nähere  Verwandtschaft  des  Ausdi'ucks  auvspxeaö-a:  auv  dXXyjXots 
mit  dem  Protagoreischen  ä^po'X,ead-M  gegenüber  dem  Platoni- 
schen auv^sa^ac  betont.  Andere  aber  haben  die  letzten  Worte 
p.  100 18 :  cpuaet  yäp  xxX.  zu  einem  seltsamen  Mißverständnis 
geführt.  Verleitet  dieser  Säte  Töpfer*^)  den  Staat  des 
Anonymus  mit  allzu  kühnem  Ausdruck  ein  Naturprodukt 
zu   heißen,    obwohl  er    selbst    bald    darauf'*'')    den    Sophisten 

einen     „so     eifrigen   Verfechte^   der    Satzung"    nennt *^),    so 

__ . I 

*^)  Nach  Dilthey,  Einleitung  in  die  Geisteswissenschaften,  Leipz. 
1883,  S.  278  war  Prot,  selbst  nicht  1er  Kopf  die  Konsequenzen  seines 
Relativismus  zu  entwickeln.  Die  Entstehung  der  Vertragstheorie  wird 
der  zweiten  Sophistengeneration  zugewiesen.  Kaum  mit  Recht;  denn 
hier  ist  die  Vertragstheorie  bereits  eine  Verbindung  mit  der  Macht- 
theorie eingegangen.  j 

*«)  a.  a.  0.  S.  18.  ")  a.  a.  0.  S.  20. 

**)  Auch  Töpfers  Uebersetzung  von  cpövai  mit  'von  Natur  aus  sein' 
kann  ich  nicht  billigen.  Da  er  Ävdyxyj  mit  Naturgesetz  wiedergibt, 
was  ich  freilich  ebensowenig  für  glücklich  halte,  scheint  er  Natur  im 
objektiven  Sinn  zu  verstehen;  und  doch  müßte  dann  gerade  xö  xa8-' 
£va  ^fjv  oder  rj  xaxä  Iva  Siat-ca  als  Naturzustand  bezeichnet  werden. 
Aber  auch  die  Beziehung  auf  die  menschliche  Natur  würde  mich  nicht 
befriedigen;  denn  nichts  deutet  darauf  hin,  daß  der  Anonymus  gleich 
Piaton  die  Entstehung  des  Staates  lediglich  mit  der  Natur  des  Men- 
schen begründen  und  etwa  den  von  Protagoras  in  den  Vordergrund 
gestellten    Schutz   gegen  die   wilden  Tiere   ausschließen  wollte.     Viel- 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  513 

erklärt  vollends  Blaß,  für  den  Anonymus  sei  der  sophi- 
stische Gregensatz  von  vö{xos  und  cpuac?  aufgehoben.  Sicher 
ist  die  Entgegenstellung  dieser  Begriffe  für  die  Hauptrichtung 
der  Sophistik  bezeichnend ;  daß  sie  jedoch  allgemein  so- 
phistisch ist,  müßte  immerhin  erst  bewiesen  werden.  Andrer- 
seits dürfte  freilich  auch  Dümmlers  Behauptung*^)  kaum 
stichhaltig  sein,  daß  Protagoras  jenen  Gegensatz  auf  ethisch- 
politische Probleme  noch  nicht  anwandte,  sondern  nur  erst  für 
die  Erkenntnistheorie  im  Sinne  von  objektiv  und  subjektiv 
gebrauchte  und  das  StxaLov  noch  als  cpuaec  ov  auffaßte  ^^). 
Eines  jedoch  ist  gewiß:  Sobald  Protagoras  und  der  Anonymus 
jene  Schlagworte  auf  den  Staat  anwandten,  mußten  sie  sich 
selbstverständlich  zur  Nomostheorie  bekennen  ^^).  Das  brauchte 
sie  aber  nicht  abzuhalten,  die  bestehenden  staatlichen  und 
rechtlichen  Verhältnisse  „in  weitem  Umfange  für  naturberech- 
tigt" anzusehen  und  gelten  zu  lassen;  anders  kann  ich  das 
cpuaec  ta)(upa  evSeSeaS-ac  xaöxa  des  Anonymus  nicht  verstehen. 
Im  übrigen  ist  es  ja  in  keiner  Weise  auffallend,  daß  der 
Anonymus  ebensowenig  wie  Protagoras  selbst  alle  Folgerungen 
der  Nomostheorie  zieht ;  er  denkt  hier  eben  gar  nicht  an  den 
Gegensatz  von  vojjlo?  und  gebraucht  daher  auch  cpuat?  nicht  in 
jenem  prägnanten  Sinn. 

Von  den  wenigen  sicheren  Fragmenten  des  Protagoras  er- 
innert das  den  Anecd.  Par.  nepl  'l7zno\idixo\i  I  171,  31  ^^)  ent- 
nommene dritte  Dielssche  mit  den  Worten  ,cpua£(i)(;  xaJ  aaxifj- 
a£(i)s  ocSaaxaXta  Belza.'.'  und  ,&Kb  veoxrjTO?  bk  <xp^cc\xivo\ic,  Sei 
(jtav^avetv'  auffallend  an  das  erste  Bruchstück  des  Anonymus 
p.  95  12  ff.  ^^),  wo  sich  der  Verfasser  als  Tugendlehrer  und  so- 
mit als  Sophisten  zu  erkennen    gibt,    indem  er  hier  Natur- 

mehr  hat  cpOvai  hier  wie  so  oft  den  Sinn  von  einfachem  Sein.  Vgl. 
auch  Rahm  a.  a.  0.  S.  15. 

")  Akad.  S.  254. 

=")  Dümmler  gibt  selbst  zu,  Protagoras  habe  wahrscheinlich  ein- 
gesehen, daß  die  Konvention  in  Sitte  und  Gesetz  eine  große  Rolle  spielt. 

5')  Klar  und  deutlich  bezeichnet  der  jüngere  Abderite  die  Ge- 
setze als  noiTi-ä;  vgl.  Diog.  L.  IX  45.  Die  Begriffe  Natur  und  Satzung 
stellte  aber  wahrscheinlich  zuerst  Hippias  von  Elis  einander  gegen- 
über, cf.  Plat.  Prot.  p.  .337  c  ff.     Vgl.  hierüber  Karst  a.  a.  0.  I  47. 

62)  ed.  Bohler,  Sophistae  Protrept.  fr.,  Lips.  1903,  p.  46,  5. 

53)  Herr  Prof.  Karst  hatte  die  Güte  mich  darauf  aufmerksam  zu 
machen,  daß  schon  ü.  von  Wilamowitz-Möllendorff  auf  diese  Über- 
einstimmung hinwies.     Vgl.  Arist.  und  Athen  I  174. 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  4.  33 


514  Karl    Bitterauf, 

anläge^  Streben  nach  dem  Schönen  und  Guten  und  flei- 
ßiges Lernen  von  frühester  Jugend  an  als 
Vorbedingungen  der  dpeti^  darlegt,  und  an  das  zweite  p.  96 1  ff., 
wo  die  Notwendigkeit  jener  dritten  Vorbedingung,  der  tpiXo- 
Tcovc'a,  ausführlich  begründet  wird,  indem  der  Verfasser,  zum 
Teil  mit  feiner  psychologischer  Beobachtung,  zeigt,  daß  nur 
unausgesetzte  Übung  von  Jugend  auf  (aOtcxa  Sei  veov  xe 
ap^oca^ai)  dauernden  Ruhm  verbürgt  und  Neid  und  Miß- 
gunst fern  hält  ^*). 

Ein  überraschender  Einwand  gegen  die  Identität  des  hi- 
storischen und  Platonischen  Protagoras,  die  wir  für  den  Mythos 
voraussetzten,  ist  von  Joel  erhoben  worden.  Nach  dessen 
Ansicht  bekämpft  Piaton  auch  im  Protagoras  im  wesent- 
lichen seinen  Gegner  Antisthenes.  Die  Möglichkeit 
dieser  Maske  an  sich  darf  man  nicht  leugnen ;  denn  Antisthe- 
nes war  Piaton  in  der  Tat  so  verhaßt,  daß  er  die  Sophisten- 
maske bei  seiner  Bekämpfung  nicht  missen  mochte,  wie 
Dümmler  an  einer  mir  nicht  mehr  erinnerlichen  Stelle  bemerkt. 
Ebenso  hat  Dümmler  bereits  darauf  hingewiesen,  daß  der 
Protagoras  des  gleichnamigen  Platonischen  Dialogs  einige  Züge 
von  Antisthenes  trage.  Es  heißt  aber  denn  doch  den  Zweck 
des  Platonischen  Dialogs  gänzlich  verkennen,  wenn  man  in 
Protagoras  lediglich  eine  Maske  für  Antisthenes  sieht.  Da 
die  Gründe,  die  Joel  für  seine  Hypothese  vorbringt,  wenig 
beweiskräftig  sind,  so  daß  sie  meines  Wissens  niemand  über- 
zeugt haben,  darf  ich  mir  wohl  eine  eingehende  Widerlegung 
sparen.  Wie  kann  man  überhaupt  „den  kunstreichen  Pro- 
pheten der  Volksmeinung"  ^^)  mit  dem  Verächter  der  demo- 
kratischen Anschauung  ^^)  identifizieren  wollen !  Die  Gleichung 
Protagoras  =  Antisthenes  ist  aber  deshalb  für  unsere  Unter- 
suchung wichtig,  weil  sie  von  Joel  benutzt  wurde  um  aus  ihr 
die  weitere  Gleichung  Anonymus  Jamblichi  =  Antisthenes  abzu- 


^*)  Mit  unzureichenden  Gründen  polemisiert  Schneider  gegen  Diels 
und  Wilamowitz.  Er  ist  auch  dei  jedenfalls  falschen  Meinung,  Diels 
stütze  seine  'Hypothese  der  Vei'fasserschaft  des  Protagoras'  (!)  lediglich 
auf  die  eben  besprochene  Übereinstimmung. 

^*)  Wiih.  Eckert,  Dialektischer  Scherz  in  den  früheren  Gesprächen 
Piatons,  Progr.  Schwabach  1907,  S.  99. 

5»)  Vgl.  Diog.  Laert.  VI  8. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  515 

leiten.  In  der  Tat  lassen  sich  aus  sicheren  Fragmenten  des 
Antisthenes  Stellen  beibringen,  die  an  Gedanken  unseres  Ano- 
nymus anklingen,  z.  B.  erinnert  die  Hochschätzung  der  cpüac^ 
und  cpiXoTiovta  des  Diogenes  in  Fr.  80  Mull.  ^'')  an  An.  p.  95  ic  ff., 
Fr.  58  ^^)  jrjv  8k  apexrjv  twv  epywv  ecvat  (xi^te  Xoywv  TiXetatwv 
Seofjievyjv'  an  An.  p.  96  26  ff.  Trotz  dieser  Anklänge  ist  jedoch 
jedem  Vorurteilslosen  von  vornherein  klar,  daß  ein  Kyniker 
der  Verfasser  unserer  Fragmente  gar  nicht  gewesen  sein  kann. 
Wer  wüßte  nicht,  daß  der  Kyniker  nach  dSo^ca  strebt,  den 
ßuhm  aber  als  ein  xaxov  ansieht  ^^),  denn  ihm  ist  ja  die  in- 
dividuelle Sittlichkeit  auiapxyj;  Tcpö^  £u§at(Jiovtav,  während  doch 
der  Anonymus  p.  96  i  ff.  die  Notwendigkeit  dauernden  Ruhmes 
begründet  und  eine  Anweisung  gibt,  wie  man  ihn  erlangt? 
Der  Kyniker  ist  Kosmopolit  und  will  von  Politik  wenig  wissen, 
wofür  z.  B.  die  hübsche  Anekdote  bei  Stob.  Floril.  45,  28  ^°) 
bezeichnend  ist,  —  der  Anonymus  schreibt  eine  Unterweisung 
zum  Erwerb  staatsbürgerlicher  Tüchtigkeit.  Soweit  aber  der 
Kyniker  an  politischen  Fragen  Anteil  nimmt,  huldigt  er  der 
monarchischen  Richtung  (Antisthenes  pries  bekanntlich  Hera- 
kles als  wahren  Monarchen),  —  der  Anonymus  hält  es  mit 
der  athenischen  Demokratie.  Der  Kyniker  erkennt  nur  das 
Sittengesetz,  nicht  ol  xecfAsvoc  v6\ioi  als  Richter  an  '^^),  der 
Anonymus  weiß  nichts  von  höherer  Sittlichkeit,  sondern  em- 
pfiehlt bloße  Legalität. 

Diese  Gegenüberstellung  dürfte  genügen  um  die  Unhalt- 
barkeit  der  Antistheneshypothese  darzutun. 

Unter  den  Anhängern  des  Sokrates  möchte  den 
Verfasser  auch  Sorof^-)  suchen,  der  unsere  Bruchstücke  als 
Vorlage  für  Thuk.  III  82—83,  Plat.  Gorg.  p.  482  c  und  Xe- 
noph.  Anab.  II  6,  16 — 29  betrachtet,  damit  aber  doch  wohl 
zuviel  behauptet  ^^).  Da  er  jedoch  jene  Vermutung  nur  bei- 
läufig   und    ohne    Beweis    vorbringt,    wäre   eine  ausdrückliche 

")  =  Dio  Chrys.  or.  VIII  p.  275  Reisk. 

58)  =  Diog.  L.  VI  11—12.  69)  Fj..  55  =  Diog.  L.  VI  11. 

^")  =  Fr.  89  M.:  'AvTio^EVTjg  spcDxvjO-sLg,  n&c,  dtv  uq  upoaeX9-oi  noXi- 
T£iq:,  eins'  xaö-dcusp  nupt,  1x751s  Xtav  ^YY^S»  i-'va  [i-^  '^o'^S)  V-"'}'^^  nöppco,  üva 
(iVj  piywarjz. 

«1)  Fr.  58  =  Diog,  L.  VI  11  und  Fr.  66  =  Arist.  Pol.  III  13  p.  1284  a. 

«'-)  a.  a.  0.  S.  581  ff. 

'=^)  Vgl.  auch  H.  Gomperz,  Archiv  für  Phiios.  IX  126. 

33* 


516  Karl    Bitterauf, 

Widerlegung  nicht  am  Platze.  Im  Grunde  wird  Sorof  nur 
das  alte,  von  Piaton  genährte  Vorurteil  geleitet  haben,  das 
der  Sophistik  lediglich  destruktive  Tendenzen  zuspricht.  In 
Wirklichkeit  gehörte  unser  Anonymus  eben  derjenigen  Rich- 
tung der  Sophistik  an,  welche  Piaton  auch  positiv  vorarbei- 
tete und  die  Staatslehre  ausbildete. 

Daß  der  Verfasser  ein  Sophist  war,  hat  schon  der 
glückliche  Entdecker  unserer  Bruchstücke  vermutet.  Weniger 
glücklich  jedoch  war  er  in  der  Namengebung.  Friedrich  Blaß 
stellte  bekanntlich  in  dem  Kieler  Festprogramm  vom  Jahre 
1889  die  Hypothese  auf,  daß  der  Sophist  Antiphon 
der  Autor  sei,  und  stützte  diese  Annahme  durch  sprachliche 
und  stilistische  Beobachtungen,  die  aber  wenig  beweiskräftig 
waren,  wie  schon  Joel  hervorhob  und  Töpfer  neuerdings  be- 
stätigte^*). Während  diese  Hypothese  bei  Gomperz^^)  An- 
klang fand  und  bei  Karst  ^^)  und  Pöhlmann  ^'^)  keinem  Wider- 
spruch begegnete,  ist  Töpfers  eindringender  Untersuchung  der 
Nachweis  vollkommen  gelungen,  daß  der  Anonymus  „in  sei- 
nen Darstellungsmitteln  geradezu  das  Widerspiel"  zu  Antiphon 
ist^^).  Übrigens  hätte  Töpfer  besser  getan  bei  der  Verglei- 
chung  des  sprachlichen  Materials  Blaß  darin  nicht  zu  folgen, 
daß  er  auch  aus  strittigen  Fragmenten  schöpfte.  Dann  hätte 
sich  ihm  zu  allem  andern  noch  die  Tatsache  ergeben,  daß  von  den 
drei  charakteristischen  Wörtern,  die  Blaß  als  beiden  Schrift- 
stellern gemeinsam  hervorhebt  (cpiXoypyjjjiaxelv,  £7:c9'U[ir][ja  und 
mit  zweifelhaftem  Rechte  ^^)  euyXwaaca),  kein  einziges  in  siche- 
ren Fragmenten  des  Sophisten  Antiphon  steht. 

Weniger  einverstanden  bin  ich  mit  Töpfers  inhaltlicher 
Untersuchung,  bei  der  tiefgehende  Widersprüche  und  Gegen- 
sätze zutage  gefördert  werden,  die  einer  unbefangenen  Prüfung 
nicht  standhalten.     Zuerst    legt   Töpfer    den    Finger  auf  den 


*■*)  Auch  Wilamowitz  widersprach  a.  a.  0.,  wenn  auch  aus  andern 
Gründen.  Daß  er  der  Antiphonhypothese  zugestimmt  habe ,  ist  ein 
Irrtum  Rehms  a.  a.  0.  S.  14. 

«5)  a.  a.  0.  I  350.  464.  ««)  a.  a.  0.  I  43  f. 

«')  a.  a.  0.  I  166'). 

«8)  Töpfer  a.  a.  0.  S.  37.  Seinem  Urteil  hat  sich  auch  Diels  II 
629  Anm.  angeschlossen. 

®®)  Ich  war  bereits  zu  einem  ähnlichen  Resultate  gelangt,  als  mir 
Töpfers  Programm  bekannt  wurde. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  517 

bei  Antiphon  in  Fr.  51  (=  132  B)  und  49  (Diels;  =  131  B) 
hervortretenden  Pessimismus;  für  den  Anonymus  sei  das  Leben 
nur  da  traurig,  wo  die  avo{ita  ihr  Szepter  schwinge  (p.  102  26  ff-)- 
Indessen  wird  hier  Ungleiches  verglichen.  Wo  die  antiken 
Schriftsteller  auf  Familienverhältnisse  zu  sprechen  kommen, 
sind  die  meisten  von  ihnen  Pessimisten,  auch  der  Anonymus 
würde  wohl  keine  Ausnahme  machen.  Andrerseits  steht  an 
jener  Stelle  des  Anon.  nichts,  was  der  Verfasser  der  '0[i6vota 
nicht  billigen  könnte.  —  Wenn  der  Anon.  p.  97  2?  von  der 
finanziellen  Unterstützung  des  Nächsten  gering  zu  denken 
scheint,  während  sie  Antiphon  im  Fr.  58  empfiehlt  (=  129  ß), 
so  erklärt  sich  diese  Verschiedenheit  aus  dem  Gesichtspunkt, 
unter  dem  der  Anon.  an  jener  Stelle  schreibt.  Er  will  die 
xaxc'ac  des  Reichtums  gegenüber  der  aujJLT^aaa  dpexY]  darlegen 
und  spricht  deshalb  von  der  bei  fortgesetzter  Freigebigkeit 
schließlich  unbedingt  eintretenden  Mittellosigkeit,  während  er 
p.  101 27  das  ETitxoupeta^at  ex  xwv  eöxuxouvxwv  als  selbstver- 
ständliche Folge  der  eijvo|Jica  hervorhebt.  Der  Verfasser  der 
'Ojxovoca  aber  hätte  kaum  etwas  einzuwenden  gehabt  gegen 
die  Anschauung  des  Anonymus,  daß  einer  der  beste  Wohl- 
täter ist,  „wenn  er  den  Gesetzen  und  dem  Rechte  seinen  Arm 
leiht".  Töpfer  sucht  durch  eine  Rekonstruktion  des  Gedanken- 
gangs der  'OfAovota  aus  den  erhaltenen  Fragmenten  zu  er- 
weisen, daß  dem  Verfasser  Antiphon  als  wahre  £u5at[A0Vca 
gilt  „uns  eins  zu  fühlen  mit  der  Gottheit,  mit  denen,  die  un- 
serm  Herzen  nahe  stehen  und  endlich  mit  uns  selbst",  daß 
Wilamowitz  mit  Unrecht  den  Altruismus  als  Grundidee  der 
'OfAOvoca  bezeichnet  und  daß  das  zwanzigste  Kapitel  des  Jam- 
blichos  unmöglich  aus  der  '0[ji6voca  geschöpft  sein  kann.  Er 
bemerkt  nämlich  gleich  Gomperz  mit  Recht  gegen  Blaß,  daß 
unsere  Fragmente  ein  und  derselben  Schrift  angehört  haben 
müssen  und  daß  Blaß  sie  richtiger  ganz  der  '0[JL6vota  als  der 
'AXrj{)-£ta  zugewiesen  hätte.  Was  nun  den  angeblichen  „prin- 
zipiellen Unterschied  des  Standpunktes"  betrifi't,  „von  dem 
aus  beide  der  Frage  der  euoaifAOVta  näher  zu  treten  suchen", 
indem  für  Antiphon  das  Individuum,  für  den  Anonymus  die 
Gesellschaft  „der  Ausgangspunkt  zur  Untersuchung  dieses 
Problems "  sein  soll,  so  glaube  ich  oben  gezeigt  zu  haben,  daß 


518  Karl   Bitterauf, 

statt  eines  prinzipiellen  Unterschiedes  vielmehr  prinzipielle 
Übereinstimmung  festzustellen  ist,  da  der  Anonymus  gleich 
Antiphon  auf  dem  Boden  des  individualistischen  Utilitarismus 
steht.  Gemeinsam  ist  beiden  auch  die  Grundanschauung,  daß 
die  eö5at[xovLa  des  einzelnen  nur  innerhalb  eines  geordneten 
Gemeinschaftslebens  erreicht  werden  kann,  dvap^ta^  S'  ouSsv 
Y-axio-i  dvd-pwTioi?  (Ant.  Fr.  61  =  135  B),  und  daß  der  Weg 
zu  diesem  Ziele  durch  die  TiatSeuats  gezeigt  werden  muß  (Ant. 
Fr.  60  =  134  B). 

Bereits  ein  Jahr  vor  Töpfer  hatte  Joel  die  weit  über  das 
Ziel  hinausschießende  Behauptung  aufgestellt,  die  Geistesrich- 
tung, die  aus  den  Bruchstücken  des  Anonymus  spreche,  sei 
der  Antiphons  möglichst  unähnlich  und  beider  Gedanken  ließen 
jede  Berührung  vermissen.  Wenn  z.  B.  der  Anonymus  p.  103  21 
die  dvofjica  bekämpft,  aus  der  die  fluchwürdige  Tyrannis  er- 
stehe, so  ist  das,  meint  Joel,  noch  nicht  dasselbe,  ja  vielleicht 
das  Umgekehrte,  als  wenn  Antiphon  in  Fr.  61  (=  135  B)  Ge- 
horsam fordert  um  vor  allem  die  dvap/^ca  zu  vermeiden.  In- 
dessen sollte  miin  einen  Gegensatz  zwischen  dem  Verfasser 
der  'Ojxovoca  und  dem  Lobredner  der  euvofica  weniger  vorschnell 
konstruieren;  denn  abgesehen  davon,  daß  die  Tyrannis  nur 
eine  der  schlimmen  Folgen  der  dvo{i(a  ist,  von  denen  der 
Anonymus  spricht,  sind  die  geschilderten  Zustände,  welche 
die  Tyrannis  verursachen,  nichts  anderes  als  Anarchie.  Und 
diese  wollen  doch  beide  verhüten;  auch  der  Anonymus  be- 
kämpft sie  nicht  lediglich  als  Nährboden  der  Tyrannis,  son- 
dern äußert  schon  p.  100 13  deutlich  genug  seine  Meinung 
dahin :  auv  aXX-f\koic,  5e  e!vat  aOtoüs  xod  dvo|i,fa  Stattäa^at  oOx 
olö^  TE.  Künstlich  hineingetragen  wird  von  Joel  auch  ein 
Widerspruch  zwischen  Anon.  p.  101 19,  wo  dieser  betont,  daß 
infolge  der  durch  die  tootis  bewirkten  Geldzirkulation  auch 
wenig  Geld  ausreiche,  und  Antiphon  (Fr.  54  =  128  B),  wo 
die  Ausleihung  des  Geldes  auf  Zins  empfohlen  wird.  Wenn 
auch  der  Gedankenzusammenhang  ganz  verschieden  ist,  so 
teilen  doch  beide  Autoren  die  Ansicht,  daß  es  nutzlos  sei  tote 
Kapitalien  anzuhäufen.  Die  unnütze  Thesaurierung  und  die 
Unterbindung  der  Geldzirkulation  wird  als  schädliche  Folge 
der  dvofxta  hervorgehoben  bei  Anon.  p.  103  a. 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  519 

Deutlicher  ist  die  Verschiedenheit  der  Äußerungen  über 
die  Dauer  des  Lebens.  Im  Fr.  20  (=  133  B)  spricht  Anti- 
phon von  dem  Leben  als  „einer  kurz  bemessenen  Spanne  Zeit, 
wohin  der  Mensch  vom  Schicksal  als  Posten  gestellt  ist,  um 
nach  Ablauf  einer  verschwindenden  Frist  seinen  Platz  der 
Ablösung  zu  räumen"^").  Man  muß  daher  dieses  „Eintags- 
fliegendasein" (Fr.  50  und  49)  möglichst  ausnützen,  lehrt  uns 
Fr.  53  a  (=  127  B) ;  denn  „es  ist  unmöglich  das  Leben  wieder 
aufzustellen  wie  ein  Brettspiel"  (Fr.  52  =  106  B).  Der  Ano- 
nymus aber  bezeichnet  p.  99  23  eine  Verlängerung  des  Lebens 
mit  Rücksicht  auf  die  Beschwerden  des  Alters  und  den  doch 
unvermeidlichen  Tod  als  nicht  wünschenswert.  —  Ebenso  ist 
Töpfer  zuzugeben,  daß  die  Empfehlung  der  Ehelosigkeit  in 
Antiphons  Fr.  49  nicht  gut  zu  den  von  dem  Anonymus  vor- 
getragenen Lehren  paßt.  Bemerkenswert  ist  es  jedenfalls, 
daß  von  Familie  und  Ehe  bei  dem  Anonymus  mit  keinem 
Worte  die  Rede  ist,  —  doch  auch  ein  Zeichen  seines  Indivi- 
dualismus !  —  Als  Argument  gegen  Antiphons  Verfasserschaft 
ließe  sich  auch  die  Verurteilung  der  7T;Xeov£^ca  durch  den 
Anonymus  p.  101 5  verwerten,  da  diese  ein  schwacher  Punkt 
in  Antiphons  eigenem  Leben  war^^).  —  Auf  der  anderen  Seite 
haben  Anklänge  wie  die  von  Blaß  hervorgehobene,  aber  doch 
nur  oberflächliche  Übereinstimmung  zwischen  Antiphons  Er- 
örterung über  die  awcppoauvyj  im  Fr.  58  und  der  Mahnung 
zur  lyotpaista  bei  Anon.  p.  98  17'^^)  oder  die  Bemerkungen  über 
den  Wert  der  Zeit  bei  Antiphon  Fr.  77  (=  137  B)  und  Anon. 
p.  95  21  kein  Gewicht  ^^).  Sicher  ist  auch  die  von  Schneider 
betonte  Schätzung  des  Schlafes  bei  Anon.  p.  102  8  für  Anti- 
phons Verfasserschaft  nicht  beweiskräftig,  wenngleich  dieser 
nepl  xpcasw;  övetpwv  schrieb,  ein  damals  kaum  ganz  seltenes 
Thema  '^) ;  noch  weniger  der  von  Blaß  durch  gewaltsame  Kon- 
jektur von  £1  Tou?  v6[ious  xe  <([jL£YaXou;  ayot)  xxa.  fürEÜtocg 
v6|xots  x£  xac  xm  Scxac'tp  eutxoupot'iri  geschaffene  Anklang  von 
Anon.  p.  989  und  Antiphon  Fr.  44"). 

■">)  Töpfer  a.  a.  0.  S.  42. 

")  Vgl.  Joel  a.  a.  0.  S.  677.  ")  jogi  ebenda. 

'3)  Töpfer  erklärt  diese  Anklänge  aus  dem  zeitlichen  Nebeneinan- 
der der  Verfasser.    Vgl.  a.  a.  0.  S.  43. 

'*)  Vgl.  Töpfer  ebenda.  '*)  =  Fr.  99  B. 


520  Karl    Bitterauf, 

Wir  können  also  das  Ergebnis  der  letzten  Untersuchung 
kurz  dahin  zusammenfassen,  daß  die  inhaltlichen  Berührungen 
zwischen  beiden  Autoren  nicht  so  schlagend  sind  um  mit  Not- 
wendigkeit auf  denselben  Verfasser  hinzuweisen,  obwohl  ich 
eine  prinzipielle  Verschiedenheit  des  Standpunktes  auch  nicht 
zugebe,  daß  aber  die  formellen  Unterschiede  allein  schon  ge- 
nügen um  Antiphons  Verfasserschaft  sehr  unwahrscheinlich, 
wenn  nicht  unmöglich  zu  machen. 

Von  den  andern  Anhängern  der  Antiphonhypothese  hat 
nur  Schneider  neue  Gründe  ins  Feld  geführt.  Er  hat  gleich 
Töpfer  die  stilistische  Verschiedenheit  von  uspl  6\iovoi(xc,  und 
den  Bruchstücken  bei  Jamblichos  bemerkt.  Um  nun  diese 
Bruchstücke  trotzdem  dem  Sophisten  Antiphon  zuschreiben  zu 
können,  den  er  seltsamerweise  gar  mit  dem  gleichnamigen 
Tragiker  identifiziert,  spricht  er  ihm  kurzerhand  die  Schrift 
Tcspc  öjxovotas  ab  und  weist  sie  dem  Redner  Antiphon  zu,  ein 
verzweifeltes  Mittel,  über  dessen  Berechtigung  ich  nicht  zu 
diskutieren  brauche.  Zur  Charakteristik  der  verwegenen  Schlüsse 
Schneiders  erwähne  ich  beiläufig  noch,  daß  nach  seiner  Ver- 
mutung der  Anonymus,  der  meines  Erachtens  doch  wohl  nicht 
zufällig  die  Götter  so  ganz  aus  dem  Spiele  läßt,  der  dionysischen 
Religion  nicht  abhold  war;  denn  seine  £uvo[ita  und  St'xyj  seien 
nur  „  blasse  Abschwächungen  der  bakchischen  Personifikationen 
und  des  chthonischen  Geschwisterpaares  Eunomia  und  Dike". 
Für  so  fromm  hätte  ich  in  der  Tat  den  Sophisten  nicht  ge- 
halten. 

Ist  demnach  das  negative  Fazit  der  vorausgehenden  Unter- 
suchungen, wie  nicht  anders  zu  erwarten  war,  ein  Ignoramus 
in  der  Verfasserfrage,  so  waren  sie,  wie  ich  hoffe,  doch  nicht 
ganz  ohne  positiven  Gewinn.  Dahin  rechne  ich  den  Nachweis 
einer  ziemlich  weitgehenden  Übereinstimmung  zwischen  dem 
Anonymus  und  dem  Protagoreischen  Prometheusmythos.  Soviel 
dürfte  sich  aus  meiner  Darlegung  doch  für  jeden  Unbefange- 
nen ergeben  haben,  daß  es  sich  in  dem  Mythos,  mag  er  mehr 
oder  weniger  authentisch  sein,  nicht  einfach  um  einen 
„Grundstock  unklarer  und  widerspruchsvoller  Gedanken"  han- 
delt, über  die  Piaton  eine  durch  Form  und  Inhalt  gleich  aus- 
gezeichnete   glänzende    Hülle    gebreitet    hat,    und    daß    jener 


Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi.  521 

Grundstock  und  diese  Hülle  nicht  gleich  sehr  Piatons  eige- 
nes Werk  sind.  Die  grundlegenden  Gedanken  des  Mythos 
sind  durchaus  nicht  so  unklar  und  widerspruchsvoll,  daß  man 
in  ihnen  eine  wenn  auch  verfeinerte  „Zerrbildnerei"  Piatons 
zu  sehen  braucht,  sondern  sie  sind  jedenfalls  eines  Protagoras 
nicht  unwürdig  ^'*).  Eine  freie  Schöpfung  Piatons  aber  erblicke 
ich  in  ihnen  nicht  bloß  deshalb  nicht,  weil  Piatons  karikierende 
Kunst  viel  treffender  und  wirksamer  in  der  Verwertung 
des  Mythos  sich  zeigt,  wenn  dieser  nicht  von  ihm  erfunden 
ist,  sondern  auch,  weil  sie  der  Anschauung  des  Anonymus 
näher  stehen  als  Piatons  eigener. 

Ein  Analogon  zu  d  em  Prometheu  smythos  bietet 
die  radikale  „Umwertung  aller  Werte"  in  Piatons  Gorgias  p. 
482  c —  486  d,  besonders  in  484  a,  dann  in  p.  488  f  und  492  c,  wo 
Kallikles  das  Recht  des  Stärkeren  verficht,  in  der  Politeia  II 
p.  359a,  wo  Thrasymachos  der  Vertreter  der  „Raubtiermoral" 
ist,  und  in  den  Nomoi  X  p.  890  a,  wo  das  ocxacoxaxov  ganz 
im  Sinne  der  Machttheorie  als  ö  xi  xic,  dv  vcxa  ßcal^6[X£vos 
und  der  xata  cpuacv  öpd-bc,  ßto?  als  xpatoüvia  t^-^v  xwv  äXX(jiV 
y.al  \iri  SouXsuovxa  exipoiai  xaxa  vofxov  erläutert  wird.  Daß 
Piaton  auch  hier  nicht  frei  erfand,  sondern  sich  auf  Theorien 
bezog,  die  in  der  Literatur  hervorgetreten  waren  ^^),  zeigen 
nicht  allein  Stellen  wie  Eurip.  Hik.  v.  509  f.  und  v.  524  f., 
wo  Eteokles  die  individualistische  Herrenmoral  zum  Ausdruck 
bringt  oder  Thuk.  V  85  ff.,  wo  die  athenischen  Gesandten 
den  Meliern  gegenüber  das  brutale  Recht  des  Stärkeren 
geltend  machen'^),  sondern  auch  Anon.  Jambl.  p.  lOOef:    xö 

■'*)  Steinhart  a.  a.  0.  bezeichnet  den  Mythus  sogar  als  Piatons  ganz 
würdig  und  hält  ihn  deshalb  für  zu  gut  für  Protagoras.  Nach  Zeller 
I*  100 1. 

'')  Diese  Ansicht  fand  ich  nachträglich  auch  schon  bei  Pöhlmann 
a.  a.  O.  I  151')  ausgesprochen,  der  auch  auf  Eurip.  Jon  v.  621  ff.  ver- 
weist. 

'*)  Dümmler  (Proleg.  S.  161—172)  hat  wahrscheinlich  gemacht,  daß 
Euripides  in  den  Hiketiden,  wohl  auch  in  den  Phoinissen  und  im  Ore- 
stes V.  917  ff.  von  einem  sozialpolitischen  Traktat  angeregt  wurde,  der 
den  Rechtsstaat  feierte  und  den  politischen  Standpunkt  durch  das  Vor- 
bild der  Weltordnung  motivierte.  Bauer  (Forschungen  zur  Griech. 
Gesch.  S.  242)  mißverstand  ihn  dahin,  daß  er  diese  Prosavorlage  mit 
dem  Anonymus  Jamblichi  identifiziere. 

Euripides  spricht  auch  in  den  Troad.  v.  1169  von  einer  iaö^eog 
xupavvig. 


522     K.  Bitterauf,  Die  Bruchstücke  des  Anonymus  Jamblichi. 

xpaxo?  ib  ini  x'q  uXeove^ia  -^'(ä.ad'a.i  apetrjv  ecvat,  xö  de  töv 
v6{i(i)v  uTiaxouetv  SetXcav,  sowie  seine  Ausführungen  über  den 
Übermenschen  p.  lOOisff.  und  1046  ff.  Die  Art  übrigens, 
wie  der  Anonymus  auf  die  Machttheorie  zu  sprechen  kommt, 
verrät  klar  genug,  daß  er  nicht  der  erste  ist,  der  sie  in  der 
Literatur  zu  Wort  kommen  läßt,  wenn  auch  nur  um  sie  zu 
bekämpfen'^).  Unsere  Bruchstücke  stehen  eben  am  Ende 
einer  regen  politischen  Debatte,  die  in  zahlreichen  Flugschriften 
geführt  worden  sein  mag®").  Trotz  des  Schiffbruches  nun, 
den  die  Lehre  vom  Recht  des  Stärkeren  im  praktischen  Leben 
erlitten  hatte,  behauptete  sie  offenbar  dank  der  avSps^  aocpot, 
ibidixal  T£  xac  uot7jTac,  die  sie  vertraten,  als  Theorie  soviel 
Gewicht,  daß  kleine  und  große  Geister  sich  ein  halbes  Jahr- 
hundert lang  oder  'länger  ihre  Bekämpfung  angelegen  sein 
ließen. 

Würzburg.  Karl  Bitterauf. 


'^)  Auch  Dümmler  äußert  in  den  Proleg.  S.  19  Anm.  1,  jene  Pro- 
savorlage müsse  bereits  auf  speziellere  Untersuchungen  eingegangen 
sein  und  der  Anonymus  archaisiere,  indem  er  die  Resultate  eingehender 
Erörterungen  im  Offenbarungsstil  der  Physiologen  vorbringe. 

*")  Vgl.  auch  Dümmler  Proleg.  S.  26. 


XXIII. 

Ueber  zwei  Horazsteilen. 

1.  c.  II  7. 

Tecum  Philippos  et  celerem  fugam 

Sensi  relicta  non  hene  parmula. 
Seit  Lessings  Rettungen  des  Horaz  ist  unter  den  Aus- 
legern die  Ansicht  weit  verbreitet,  daß  die  Worte  'relicta  non 
bene  parmula'  nur  eine  Redewendung  seien,  die  der  Dichter 
„nach  berühmten  Mustern"  gebraucht  habe.  So  sagt  Kieß- 
ling  zu  der  Stelle:  „relicta  non  bene  parmula  meint  nicht 
einen  Vorgang  der  Wirklichkeit  —  führten  denn  die  Tribunen 
einen  Schild?  —  sondern  malt  die  Flucht  des  Poeten  mit 
einem  symbolischen  Zug  aus  ;  denn  nach  dem  Vorgange  seiner 
drei  großen  lyrischen  Vorbilder,  des  Archilochos,  Alkaios  und 
Anakreon  muß  auch  der  Poet  Horaz  seinen  Schild  verloren 
haben."  Aehnlich  äußert  sich  Aly  (Horaz,  sein  Leben  und 
seine  Werke  S,  5):  „Die  Tribunen  trugen  ebensowenig  einen 
Schild  wie  heute  die  Offiziere  ein  Gewehr. "  Auch  Menge  (die 
Oden  und  Epoden  des  Horaz)  bezweifelt,  daß  die  Militärtri- 
bunen einen  Schild  führten,  und  Schütz  in  seinem  Kommentar 
zu  Horaz  nimmt  wenigstens  die  Möglichkeit  einer  „plastischen 
Darstellung"  der  Flucht  des  Dichters  in  diesen  Worten  an. 

Im  entgegengesetzten  Sinne  äußert  sich,  soviel  ich  sehe, 
von  den  neueren  Erklärern  nur  Lucian  Müller  z.  d.  St.:  „Ich 
kenne  das  Dienstreglement  des  römisches  Heeres  jener  Zeit 
nicht,  halte  es  aber  für  undenkbar,  daß  die  tribuni  militum, 
auch  wo  sie  sich,  wie  oft  genug  der  Fall  war,  mitten  im 
Kampfgewühl  befanden,  niemals  einen  Schild,  das  einfachste 
Mittel   der  Verteidigung,    benutzt   haben  sollten."     Als  Beleg 


524  Albert    Ruppersberg, 

führt  L.  Müller  eine  Stelle  aus  Ennius  (ann.  450)  an,  welche 
lautet : 

Undique  conveniunt  velut  imber  tela  tribuno, 
Configunt  parniam,  tinnit  hastilibus  umbo. 
Diese  Stelle  würde  entscheidend  sein,  wenn  sie  nicht  eben 
auch  eine  Dichterstelle  wäre  und  wenn  nicht  Macrobius  (sat. 
VI,  3,  3)  erwähnte,  daß  Ennius  hier  den  Bericht  des  Homer 
von  der  Bedrängnis  des  Aias  (IL  XVI  102  if.)  nachgeahmt  habe. 
Indes  sind  die  Verse  des  Eunius,  wie  L.  Müller  mit  Recht  be- 
merkt, von  einer  genauen  Uebertragung  weit  entfernt,  und 
der  Dichter  konnte  unmöglich  dem  Tribunen  Caelius  einen 
Schild  leihen,  wenn  ein  solcher  für  tribuni  unerhört  und  schimpf- 
lich gewesen  wäre.  Aber  die  Stelle  ist  doch  vielleicht  für 
manche  nicht  überzeugend  genug,  und  ich  halte  es  deshalb 
der  Mühe  wert,  einige  weitere  Zeugnisse  für  den  Schild  der 
römischen  Offiziere  vorzulegen. 

1.  Liv.  XXV  16,  15  ff, :  'Gracchus  (proconsul)  cum  licto- 
ribus  ac  turma  equitum  e  castris  profectus  duce  hospite  in 
insidias  praecipitatur'.  —  §  18:  'paludamento  circa  laevum 
bracchium  intorto  —  nam  ne  scuta  quidem  secum  extulerant 
—  in  hostis  impetum  fecit'.  Danach  war  die  Bewehrung  der 
Offiziere  mit  einem  Schild,,  wenn  es  zum  Kampfe  ging,  die 
Regel;  denn  es  wird  hier  als  etwas  Außergewöhnliches  hervor- 
gehoben, daß  die  Umgebung  des  Feldherrn  und  dieser  selbst 
keinen  Schild  trug. 

2.  Caes.  B.  G.  II  25,  2 :  (Caesar)  'scuto  ab  novissimis  uni 
militi  detracto,  quod  ipse  eo  sine  scuto  venerat,  in  primam 
aciem  processit'.  Der  Zusatz  'quod — venerat'  wäre  unnötig, 
wenn   die   römischen    Offiziere   keinen  Schild  getragen  hätten. 

3.  Cicero  ad  fam.  X  30 ;  'Interim  video  me  esse  inter  An- 
tonianos  Antoniumque  post  me  esse  aliquanto,  repente  equum 
immisi  ad  eam  legionem  tironum,  quae  veniebat  ex  castris, 
scuto  reiecto\  Hier  führt  der  Legat  Galba  einen  Schild,  den 
er  bei  der  Flucht  auf  den  Rücken  schiebt. 

4.  Daß  die  römischen  Offiziere  sich  auch  im  Frieden  in 
der  Handhabung  des  Schildes  übten,  entnehmen  wir  aus  Am- 
mianus  Marcellinus  XXI  2  :  'Cum  apud  Parisios  adhuc  Caesar 
Julianus  quatiens  scutum  variis  motibus  exerceretur  in  campo, 


üeber  zwei  Horazstellen.  525 

axiculis,    qnibns    erat   compaginatus,    in   vanum   excussis  ansa 
remanserat  sola'. 

Diese  schriftlichen  Zeugnisse  lassen  sich  durch  bildliche 
noch  verstärken.  Auf  der  Scheide  des  sogenannten  Schwertes 
des  Tiberius  erscheint  der  thronende  Imperator  auf  einen  Schild 
gestützt  mit  der  Aufschrift  'Felicitas  Tiberi',  und  auf  der 
Gemma  Augustea  ruhen  die  Füße  des  Kaisers  auf  einem  Schild. 
Sollte  man  in  diesen  Darstellungen  dem  Schilde  nur  eine  de- 
korative Bedeutung  beimessen,  so  verweise  ich  auf  die  bekannte 
Münze  des  Augustus  (Cohen  Nr.  42),  wo  die  beiden  Enkel  des 
Kaisers  als  principes  iuventutis  mit  Schild  und  Speer  darge- 
stellt sind.  Das  wertvollste  Zeugnis  aber  ist  der  berühmte 
Pariser  Cameo,  welcher  die  Verherrlichung  des  Julisch-Clau- 
dischen  Hauses  zum  Gegenstand  hat.  Vor  dem  thronenden 
Tiberius  steht  der  jugendliche  Germanicus  in  kriegerischer 
Rüstung,  am  linken  Arme  den  Schild  tragend,  und  sogar  dem 
hinter  ihm  stehenden  kleinen  Gaius  Caligula,  der  ebenfalls 
gerüstet  ist,  fehlt  diese  Schutzwaffe  nicht.  Auch  die  in  dem 
oberen  Teile  des  Bildes,  der  Apotheose  des  Augustus,  nach 
oben  schwebende  Kriegergestalt,  die  man  als  Drusus  zu  be- 
zeichnen pflegt,  ist  mit  einem  Schilde  ausgestattet.  Auf  den 
Münzbildern  der  Kaiser  ist  nur  selten  ein  Schild  sichtbar,  wie 
es  bei  den  Brustbildern  natürlich  ist.  In  der  ersten,  über- 
wiegend friedlichen  Periode  der  Kaiserzeit  kam  übrigens  der 
oberste  Kriegsherr  nur  selten  in  die  Lage,  sich  mit  Schild 
und  Schwert  rüsten  zu  müssen,  und  die  Münztypen  spiegeln 
ja  die  Zeitgeschichte  wieder.  Als  aber  seit  der  Wende  des 
dritten  Jahrhunderts  der  Schutz  der  Reichsgrenzen  eine  Haupt- 
aufgabe der  Caesaren  wurde,  ließen  sich  diese  auch  auf  Münzen 
mit  dem  Schilde  darstellen.  Den  Anfang  machte,  soviel  ich 
sehe,  der  kriegerische  Septimius  Severus  (Coh.  312);  ihm 
folgte  sein  gleichgearteter  Sohn  Antoninus  Caracalla  (Coh.  410). 
Von  den  späteren  Kaisern  nenne  ich  besonders  den  streitbaren 
Probus  (Coh.  464, 668, 669, 730, 797)  und  Diocletians  Mitregenten 
Maximianus  (Coh.  405).  Das  Elfeubeindiptychon  von  Aosta 
(Hertzberg,  Gesch.  d.  röm.  Kaiserreichs  S.  851)  zeigt  den  Kaiser 
Honorius   mit   dem   Schilde,   und    „den  letzten  Römer"  Aetius 


526  Albert   Rui^persberg, 

sehen   wir    auf  dem  berühmten  Diptychon  der  Galla  Placidia 
auf  seinen  Schild  gestützt. 

Daraus  geht  hervor,  daß  der  Schild  zu  der  Feldausrüstung 
der  römischen  Offiziere  gehörte  und  somit  auch  der  Tribun 
Q.  Horatius  Flaccus  bei  Philippi  einen  Schild  führte.  Es  liegt 
also  kein  Grund  vor,  daran  zu  zweifeln,  daß  Horaz  seinen 
Schild  bei  Philippi  wirklich  verloren  hat,  und  er  mochte  sich 
bei  dem  Gedanken  au  diesen  Verlust  mit  seinen  berühmten 
Vorbildern  trösten.  Für  die  Würdigung  des  Horaz  ist  dieser 
Zug  nicht  gerade  von  Bedeutung,  da  die  Tatsache  seiner  Flucht 
trotz  Lessings  Rettung  unbestritten  bleibt  und  wohl  nur  wenige 
es  dem  23  jährigen  Jüngling  verdenken  werden,  daß  er  unter 
dem  Drucke  eines  übermächtigen  Verhängnisses  den  Mut  ver- 
lor. Aber  man  wird  hoffentlich  nun  aufhören,  den  Worten  des 
Dichters  einen  erkünstelten  Sinn  unterzuschieben. 

2.  c.  II  18,  38  ff. 

'Hie  levare  functum 
pauperem  laboribus 

vocatus  atque  non  vocatus  audit.' 
Dies  ist  eine  verzT;\^eifelte  Stelle,  an  der  alle  Interpreta- 
tionskunst bisher  gescheitert  ist.  Die  Schwierigkeit  beruht 
einmal  in  dem  Infinitiv  levare,  der  von  vocatus  abhängen  soll 
(:=:  ut  levet),  anderseits  in  dem  non  vocatus  vor  audit.  Gibt 
man  sich  auch  mit  diesem  freien  Gebrauch  des  Infinitivs,  der 
nicht  ohne  Beispiel  ist,  zufrieden,  so  bleibt  der  letztere  An- 
stoß doch  unbeseitigt  und  unerträglich.  Wie  kann  Orcus 
oder  der  Tod  den  Armen  hören,  wenn  er  nicht  gerufen  ist? 
Das  ist  ein  Widersinn  und  nicht,  wie  Kießling  meint,  ein 
pikanter  Gegensatz.  Die  Stelle  aus  Thukydides  (I  118),  welche 
in  den  Kommentaren  als  Analogon  angeführt  zu  werden  pflegt, 
paßt  nicht.  Denn  wenn  es  dort  heißt:  Auxbc,  ('AtcöAXwv)  scpy] 
^uXX^ti^eaO-at  xac  7iapaxaXo6|JievOi;  xa:  iJxXrjxo;,  so  fehlt  eben 
das,  was  bei  Horaz  anstößig  ist,  die  Zusammenstellung  'non 
vocatus  audit'.  Jedes  Erhören  setzt  ein  Rufen  voraus,  wenn 
dies  auch  nur  im  Herzen  geschieht.  Auch  die  Bemerkungen 
von  Wilamowitz  zu  Eurip.  Her.  1106,  auf  die  Herr  Prof.  Dr. 
Brinkmann   in   Bonn    mich   aufmerksam   zu   machen   die  Güte 


Ueber  zwei  Horazstellen.  527 

hatte,  können  hier  nicht  helfen.  Lucian  Müller  hilft  sich  mit  der 
Annahme  eines  Oxymoron  und  führt  carm.  III  7,  21  an:  'nam 
scopulis  surdior  Icari  voces  audit  adhuc  integer'.  Nun,  hier 
liegt  ein  wirkliches  Oxymoron  vor,  aber  die  Stelle  ist  mit  der 
unserigen  nicht  zu  vergleichen.  Man  kann  wohl  taub  sein 
oder  sich  taub  stellen,  wenn  man  gerufen  wird,  aber  mau  kann 
nicht  hören,  wenn  man  nicht  gerufen  wird. 

Oskar  Jäger  bespricht  in  seiner  Schrift  „Homer  und 
Horaz  im  Gymnasialunterricht"  (S.  167)  auch  unsere  Stelle 
und  glaubt  mit  einer  Interpunktion  hinter  levare  helfen  zu 
können,  das  er  als  infinitivus  historicus  faßt.  Dadurch  wird 
aber  nichts  gebessert:  bei  levare  vermissen  wir  dann  das  Ob- 
jekt; der  infinitivus  historicus  steht  ganz  auffallend  zwischen 
den  Praesentia  'coercet'  und  'audit',  und  das  Hauptärgernis 
'non  vocatus  audit'  bleibt  bestehen. 

Von  dieser  Erklärung  zeigt  sich  denn  auch  P.  Cauer  in 
seiner  Besprechung  des  Jäger'schen  Buches  (Monatsschrift  für 
höhere  Schulen  1905,  8.  Heft  S.  418)  nicht  befriedigt.  Nach 
Cauers  Ansicht  verschwindet  der  Anstoß  wirklich,  sobald  man 
'atque  non  vocatus'  in  Parenthese  setzt,  d.  h.  als  einen  Zusatz 
versteht,  der  erst  im  Augenblicke  des  Sprechens  sich  einstellt: 
„Er  hält  den  stolzen  Tantalus  und  sein  Geschlecht  gefesselt, 
er  gibt,  zur  Erleichterung  nach  überstandenen  Mühen,  dem 
Armen,  der  ihn  ruft  —  und  wer  ihn  nicht  ruft  —  Gehör". 
Auch  mit  dieser  Annahme  ist  meiner  Ansicht  nach  nichts  ge- 
holfen. Man  tut  dem  Dichter,  der  die  Forderung  'nonum 
prematur  in  annum'  aufgestellt  hat,  keinen  Gefallen,  wenn 
man  annimmt,  er  habe  in  einem  seiner  Gedichte  im  letzten 
Augenblick  etwas  Unlogisches  gesagt  und  dieses  übereilte 
Elaborat  schleunigst  auf  den  Markt  geworfen. 

Da  der  Stelle  mit  inneren  Mitteln  nicht  beizukommen  ist, 
so  halte  ich  eine  kleine  Operation  für  notwendig.  Lesen  wir 
statt  'audit'  mit  leichter  Aenderung  'audet',  so  ist  alle  Schwierig- 
keit gehoben :  levare  wird  Objekt  zu  audet,  und  non  vocatus 
fügt  sich  nun  aufs  beste  ein.  Ich  fasse  audet  in  der  oft  vor- 
kommenden Bedeutung:  „er  gewinnt  es  über  sich,  es  beliebt 
ihm,  er  hat  Lust",  und  berufe  mich  dafür  auf  den  Thesaurus 
linguae  latinae,  wo  s.  v.  audeo  bemerkt  ist:  'verbi  vis  primi- 


528       Albert   Ruppersberg,    Ueber  zwei  Horazstellen. 

tiva  (seil,  avendi)  hie  illic  pellueere  videtur,  ubi  magis  ad 
voluntatem  et  animum  quam  ad  periculum  et  fortitudinem 
refertur'  (=  cupere,  velle,  dignari).  Diese  Bedeutung  tritt  be- 
sonders in  der  Wendung  si  audes  oder  sodes,  aber  aueh  an 
manchen  anderen  Stellen  hervor,  z.  B.  luven.  VII  206:  nil 
praeter  gelidas  ausae  conferre  cicutas.  Ovid.  metam.  II  718 
nee  longius  audet  abire  spemque  suam  motis  avidus  circum- 
volat  alis,  er  mag  sieh  nieht  weiter  entfernen,  sondern  um- 
kreist gierig  seine  erhoffte  Beute  mit  bewegten  Schwingen, 
vgl.  Trueul.  425:  Non  audes  aliquid  mihi  dare  munusculi? 
Pseud.  1322:  non  audes,  quaeso,  aliquam  partem  mihi  gra- 
tiam  facere  de  argento  ?  —  Mit  dieser  Aenderung  erhält  die 
Stelle  einen  guten  Sinn:  „Der  Tod  ist  den  Reichen  und 
Mächtigen  gegenüber  unerbittlich,  aber  dem  Armen  naht  er 
gern  als  Erlöser  von  seinen  Mühen,  mag  er  gerufen  werden 
oder  nieht.  Das  'audet'  gewinnt  seine  rechte  Bedeutung  gegen- 
über der  ünzugänglichkeit  des  Charon  bei  dem  Bestechungs- 
versuch des  Prometheus  und  ähnliehen  Künsten  des  Tantalus 
und  der  Tantaliden.  Die  leichte  Aenderung  von  audit  zu  audet 
wird  annehmbar  erscheinen,  wenn  man  sieht,  daß  in  V.  36 
desselben  Gedichtes  ein  Teil  der  Handschriften  statt  'revexit' 
die  Lesart  'revixit'  bietet.  Die  immerhin  seltenere  Bedeutung, 
in  welcher  der  Dichter  hier  das  Wort  andere  braucht,  und 
das  vorhergehende  vocatus  mag  die  Aenderung  des  ursprüng- 
lichen 'audet'  in  'audit'  herbeigeführt  haben.  Wenn  W.  S. 
Teuffei  sagt,  die  Konjekturalkritik  bei  Horaz  sei  nur  da  be- 
rechtigt, wo  die  Handschriften  Unmögliches  bieten,  so  behaupte 
ich,  daß  hier  ein  solcher  Fall  vorliegt. 

Saarbrücken.  Albert  Ruppersberg. 


XXIV. 

Das  Verhältnis  des  Lucretius  Carus  zur  Musik. 

In  der  dreizeiligen  Hieronymosnotiz  i),  der  einzigen,  dazu 
unverbindlichen  Nachricht  über  Lukrez'  Leben,  wird  niemand 
Aufschlüsse  über  die  musikalische  Begabung  des  Lukretius 
suchen.  Dann  greift  man  ^Yohl  nach  bedeutsamen  Urteilen 
über  sein  künstlerisches  Können,  in  dem  mancher  die  musi- 
kalische Empfindung  eng  eingeschlossen  sucht:  Urteile  der 
Zeitgenossen  und  der  Gelehrten.  Das  älteste:  Ciceros  oft  zitiertes 
Wort  über  Lukrez  '''),  ist  in  seiner  textlichen  Unsicherheit  ein 
perfider  Proteus:  je  nach  der  Lesart  absprechend  oder  aner- 
kennend ;  in  ersterem  Sinne  aufgefaßt  hat  es  neben  Qnintili- 
ans  recht  vorsichtig  gehaltener  Aeußerung  wohl  auch  manches 
spätere  Urteil  mitbestimmt,  von  denen  nur  Th.  Bergks  'in- 
genio  maximus,  arte  rudis^  Hervorhebung  verdient.  In  schar- 
fem Gegensatz  betonte  Lachmann  die  Formkunst  des  Dichters, 
bekannter  wurde  und  wirkte  Th.  Mommsens  ^)  Wort  von  dem 
zähflüssigen  Gold  in  den  Versen  des  Lukrez,  und  wessen  Blick 
gern  über  den  engeren  Hing  philologischer  Wertung  hinausgeht, 
der  findet  unter  den  Bewunderern  des  Lukrez  einen  Moliere  und 
Goethe.     Das  bei  ihm  dargestellte  Naturwissen  konnte  in  der 


1)  Hieronymus  z.  J.  94:  2,  133  Seh. 

2)  Vgl.  M.  Schanz,  Geschichte  d.  röm.  Litt.  I,  13G  Anm.  Th.  Bergk 
(opusc.  1,  428)  wollte  an  der  Stelle  des  Cicerobriefes  (ad  Quint.  fr.  2,  9,  3) 
statt  der  gebräuchl.  Lesart  non  multis  ingenii  luminibus,  multae  tarnen 
artis  vielmehr  mult.  ing.  1.,  71071  multae  artis  lesen.  Nach  Schanz  a.  a.  0. 
hätte  Lachmann  diese  Konjektur  gebilligt;  im  Kommentar  (S.  18  und 
auch  S.  62)  weist  aber  Lachmann  Bergks  Lesart  wie  auch  dessen  Urteil 
über  die  Kunst  des  Lukrez  zurück  und  rechtfertigt  (S.  62)  das  7wn 
multis  luminibus  ing.  mit  der  Vermutung,  Cicero  habe  das  moralische 
Element  bei  Lukrez  vermißt. 

^)  Schon  in  der  ersten  Ausgabe  der  Römisch.  Geschichte.  1856. 
1,  505. 

Philologus  LXVIII  (X.  F.  XXII)  4.  34 


530  Karl  H  a  r  t  m  a  n  n  , 

Gassendizeit  eines  Moliere,  schärfer  noch  in  der  Humboldära 
Goethes  mir  als  unbefriedigendes  Stückwerk  gelten:  es  war 
also  der  Mann,  seine  Sprache,  seine  Kunst,  die  solche  Geister 
zu  ihm  zog.  Aber  es  gilt  hier  nicht  in  die  Poetik  des  Lukrez 
einzudringen,  Vorzüge  und  Schwächen  abzuwägen;  der  Phy- 
siologe und  Musikfreund  Th.  Billroth  hat  uns  gelehrt,  unter 
den  musikalischen  Leuten  verschiedene  Arten  zu  unterscheiden. 
Mancher  hat  für  die  strengere  Theorie  der  Tonkunst  wenig 
Sinn,  vielleicht  gar  keine  Kunde  von  ihr,  ersetzt  aber  diesen 
Mangel  durch  starke  musikalische  Empfindung,  Zu  diesen 
Leuten  etwa  möchten  wir  Lukrez  gezählt  sehen.  Ueber  die 
schwierige  Frage,  was  ein  TibuU  oder  Lukrez  von  der  Musik 
eigentlich  verstanden  haben,  können  wir  Aufschlüsse  ja  nicht 
mehr  erhoffen,  aber  eine  Beobachtung  machen  wir  bei  Lukrez : 
es  tritt  eine  bedeutsame  Reihe  von  Stellen  hervor,  in  denen 
des  Dichters  Gedanken,  bisweilen  vom  Stoff  geführt,  öfters 
von  unbewußtem  Zug  geleitet,  sich  mit  der  vielgestuften  Ton- 
welt auffallend  ernstlich  beschäftigen,  vom  Vogelpfiff  bis  zur 
vox  humana,  von  der  Pauke  bis  zur  Orgel:  alle  möglichen 
Skalen  und  Probleme  führt  ihn  seine  Phantasie. 

Solche  Töne  wird  man  vielleicht  schon  im  Proömium 
suchen.  Die  einst  der  Renaissance  so  teure  Hymne  des  Ein- 
gangs feiert  Frau  Venus',  der  Lenzgöttin,  Einzug  auf  der  tau- 
enden Flur.  Dann  pulst  ihr  Hauch,  noch  ehe  er  die  andere 
belebte  Schöpfung  trifft,  vor  allem  in  der  kleinen  Brust  des 
Vogels   „und   er  singt  ein  süßes   Hoffen". 

aeriae  primum  volucres  te,  diva  tuumque 
significant  initum,  perculsae  corda  tua  vi.  (I,  12.) 
Und  nun  schwirren  die  kleinen  und  großen  gefiederten  Sänger 
durch  alle  Gesänge,  zu  Beobachtung  und  Gleichnis  vielen 
Stoff  bietend.  Der  Vogel ^  als  erster  Lehrer  *)  des  musik be- 
dürftigen Urmenschen,  der  von  ihm  die  Kunst  des  Pfeifens 
lernt,  perlender  Vogellaut  beim  Sonnenaufgang^),  Vogellieder 
im  sonnendurchleuchteten  Hain  und  an  der  Quelle*^):  und 
wenn  es  sich  um  Beispiele  für  die  Modulation  (auch  für  Lu- 
krez ein  sympathischer  Punkt)  handelt,  dann  rückt  der  Vogel 


*)  V,  1377  (Bernays.).  ')  II,  144.  «)  II,  145/46. 


Das  Verhältnis  des  Lucretius  Carus  zur  Musik.  531 

an  die  bedeutsam  gewählte  letzte  Stelle  '^) ;  der  Hund  hat 
etwa  ein  halbdutzend  verschiedener  Situationstöne,  auch  das 
Pferd  verrät  mehrere,  am  auffallendsten  aber  spricht  sich  dies 
in  der  Vogelwelt  aus.  Diesmal  benützt  er  das  Raubzeug, 
Rabe,  Tauchervogel  und  Habicht  um  selbst  an  diesen  nicht 
sehr  stimmbegabten  Vögeln  die  große  Verschiedenheit  in  den 
Tönen,  je  nachdem  sie  sich  um  Beute  zanken,  dem  Opfer 
nachjagen  oder  den  Wetterpropheten  spielen,  klarzumachen 
(longe  alias  alio  iaciunt  in  tempore  voces.)  Dann  hören  wir 
öfters  des  Kranichs^)  gellen  Schrei  zu  abfälligem  Vergleich 
neben  die  melodischen  Töne  des  Schwans  gehalten.  Der  ty- 
pische Kranichruf  tönt  freilich  schon  im  hesiodischen  Bauern- 
kalender: bedeutet  der  Schwanenruf  auch  nur  eine  Entlehnung 
aus  der  bekannten  alten  Sage  vom  singenden  Vogel  des 
Apollo?  Müllenhof ")  wies  in  seinem  1.  Kapitel  der  Deutschen 
Altertumskunde  auf  den  auch  in  der  antiken  Litteratur  eine 
Rolle  spielenden  Unterschied  zwischen  dem  meist  stumm  sich 
präsentierenden  Teichschwan  und  den  eigentümlich  melodischen, 
Griechen  und  Römern  aus  der  Naturbeobachtung  vertrauten 
Fagottönen  des  Singschwans  hin:  als  Beispiel  für  gute  Klang- 
nachmalung  findet  sich  bei  ihm  unter  andern  der  Lukrezvers: 
oris  ex  Heliconis  cum  liquidum  tollunt  lugubri  voce  c[uerellam  ^°). 
Vielleicht  aber  findet  sich  beides:  Einfluß  der  Sage  und  eigne 
Beobachtung  hier  bei  Lukrez  zusammen:  den  Eindruck  der 
Anlehnung  hat  man  bei  mehreren  Stellen  ^^)  und  es  übt  ja 
die  Schwanensage  auf  einen  musikalischen  Dichter  Reiz  genug 
ans :  wüßten  wir  Sicheres  über  ein  Verweilen  des  Lukrez  auf 
griechischem  Boden,  so  müßte  uns  die  Stelle  aus  manchem 
Grund  wertvoll  erscheinen,  so  aber  läßt  sich  zur  Zeit  die 
Frage,  wie  weit  Anlehnung,  wie  weit  Beobachtung  die  Feder 
geführt  hat,  nicht  entscheidend  lösen.  An  den  starken  natür- 
lichen Schwanenton  denkt  man  am  liebsten  an  jener  Stelle  ^^^^ 
an  welcher  Lukrez  vergleichend  daneben  das  harmlose  Zwit- 
schern der  Schwalbe  rückt:   Epikur  ist  der  Schwan,  er  selbst 


^)  V,  1060—85.  «)  IV,  179  u.  907/8.  «)  D.  Alt.  I,  7. 

»0)  IV,  545.  ")  II,  505,  III.  6. 

")  in,  6  u.  7  vgl.  Heinze,  T.  Lucr.  Car.  lib.  III.    Com.  S.  49.    Dazu 
0.  Keller,  Tiere  des  klass.  Alt.  308  u.  315. 

34* 


532  Karl  Hartmann, 

das  Schwälbchen.  Die  bescheidene  Einschätzung  des  Schwal- 
bengezwitschers  entspricht  uuserm  Gefühl  und  scheidet  sich 
von  der  bekannten  Ueberschätzung,  die  der  Schwalbenlaut  da- 
mals und  mehr  noch  später,  auch  in  der  antiken  Poesie  erfuhr. 
Wie  wohl  in  der  Sage  Prokne  mit  Philomela  flattert,  so  stellte 
man  sie  im  Gesang  gelegentlich  einander  gleich:  sein  gesundes 
Tongefühl  bewahrt  vielleicht  Lukrez  vor  solcher  Irrung. 

Auch    der    Wind    als    Tonerreger    wirkt   stark    auf    seine 
Phantasie.    Sein  stilles,   klagendes  Säuseln  im  Schilfrohr  mag 
den  Urmenschen,  wie  Lukrez  ^^)  aus  eigner  Meinung  oder  einen 
ihm  sympathischen  Gedanken  entlehnend,  ausführt,  zum  Rohr 
geleitet    und    ihn    veranlaßt    haben,    die    erste    Rohrflöte    zu 
schnitzen.     Aber  sein  starkes  Wehen  steigert  sich  an  anderm 
Ort^*)  zum  tosenden  Orkan:    lautes  Rezitieren   läßt  sofort  die 
starke    Tonmalerei    erkennen,    eine    elementar    sich  steigernde 
Schallwelle,  die  nach  dem  perfurit  acri  cum  fremitu  als  höch- 
ster  Spannung   in   das  Nachfühlen    des    schon    verbrausenden, 
nur  aus  der  Ferne  noch  grollenden  Orkans  hinüberführt, 
Principio  venti  vis  verberat  incita  pontum 
ingentisque  ruit  navis  et  nubila  difl'ert 
interdum  rapido  percurrens  turbine  campos 
arboribus  magnis  sternit  montisque  supreraos 
silvifragis  vexat  flabris :  ita  perfurit  acri 
cum  fremitu  saevitque  minaci  murmure  ventus. 
Neben  solch  gewaltigen  Tonwellen  bleibt   auch    der  neckische 
Laut,    den   der   Wind   hervorruft,    wenn    er    Wäsche    am    Seil 
(suspensam  vestem)    peitscht   oder    gar    sich    fängt  im  großen 
Zelttuch,    das    über   dem    Theater    ausgespannt   liegt,    da   und 
dort  Lappen    reißt  und    die    komischsten  Pfeif-    und  Heultöne 
hervorruft  ^^),  nicht  unbeobachtet. 

Interessanter  muß  aber  der  Luftstrom  erscheinen,  wenn 
er  von  der  Menschenstimme  zu  aller  möglichen  Tonschattie- 
rung und  verstärkt  noch  in  den  Instrumenten  zu  fesselnder 
Wirkung  benutzt  wird.  „Die  Stimme  ist  ein  Körper  i**)",  be- 
lehrt uns  der  antike  Helmholtz,  und  wie  uns  dieser  die  Vokale 
messen  gelehrt  hat,  so  wirbelt  sie  Lukrez  in  virtuosem  Wech- 

")  V,  1380  flF.  ")  I,  271. 

»5)  VI,  109-114.  1«)  IV,  524  ff. 


Das  Verhältnis  des  Lucretius  Carus  zur  Musik.  533 

seltaiiz  seines  Yerses  an  uns  vorüber:  mobilis  articulat  ver- 
borum  daedala  lingua^").  Ihn  fesselt  auch  die  schöne  Stentor- 
stiiuuje  des  Herolds,  dessen  Kuf  ein  ganzes  versammeltes  Volk 
zum  Schweigen  bringt.  An  anderer  Stelle  ^^),  die  sich  hier  am 
besten  einfügt,  führt  er  uns  zu  den  Urvölkern,  wie  sie  sich 
die  Nachtwache  mit  Liedern  kürzen,  zum  Wechselgesang  den 
ersten  Grund  legen. 

Die  einzelne  Menschenstimme  bleibt  bestimmte  Monotonie: 
wie  reizvoll  aber,  wenn  sie  vielfach  an  Felswänden  sich  bricht. 
Statt  trockner  Vorführung :  „  Was  versteht  die  Naturforschung 
unter  einem  Echo?"  bekommen  wir  ein  hübsches  Bildchen 
aus  Lukrez'  Leben  ^'J).  In  den  Bergen,  es  wird  ja  wohl  drüben 
am  Nemisee  sein,  zieht  der  Dichter  mit  den  Freunden:  man 
verläuft  sich,  sucht  einander,  ärgert  und  freut  sich  über  das 
neckende  sechs-  und  siebenfache  Echo  an  den  felsigen  Wän- 
den. Und  da  gleitet  der  Gedanke  hinüber  zum  Mythos  des 
Volks,  das  vom  „panischen"  Schrecken  nicht  lassen  will,  das 
Nymphen  und  Satyrn  „Echo"  spielen  und  von  melodischen 
Geisterklängen  die  Bergflur  erschallen  läßt:  Ideo  iactant  mira- 
cula !  Eine  bewegliche  Klage,  aber  seltsam  —  avo  es  sich 
um  kurze  Abfertigung  des  Köhlerglaubens  handeln  sollte,  ent- 
wickelt sich  ein  zehnzeiliges  klang-  und  farbenfrohes  Bild: 
Saitenspiel  und  süße  Weisen ,  wie  sie  nur  der  Flöte  eigen : 
tibia  quas  fundit  digitis  pulsata  canentum.  Und  waren  es 
vorher  Satyrn-  und  Frauenstimmen,  so  tönt  jetzt  über  alles 
heraus  des  Pan  göttliches  Syrinxsolo.  Seine  beweglichen  Lip- 
pen gleiten  so  flink  über  die  Pfeifenenden  und  mit  dem 
guten  Recht  des  Flötisten  schüttelt  er  beim  forciert  raschen 
Atemholen  seine  Locken  und  die  kokett  darin  drapierten  Zir- 
belnüsse. —  Einfacher  spielt  sich  das  bei  den  Urmenschen-") 
ab:  auf  dem  Anger,  am  liebsten  nach  tüchtiger  Mahlzeit,  blies 
der  Bursch  die  Flöte:  die  anderen  legten  sich  vergnügt  ins 
Gras,  lauschten  und  schauten  träumend  in  die  Baumwipfel 
und  den  blauen  Himmel  hinein. 

Ein  psychologisch  ähnlicher  Gang,  Avie  beim  ,Faunenorch- 

ester'  fesselt  uns  bei  seinem  Hinweis  auf  den  Kybelekult-^).  Sein 

>')  IV,  549,  dann  561.  '«)  V,  1403  u.  4. 

19)  IV,  568-593,  besond.  573—78. 

i«»)  V,  13fc2  flP.  ^')  II,  600  S.  besd.  618—20. 


534  Karl  Hartmann, 

orgiastisch  wüstes  Treiben  verdient  im  Sinne  bewußter  Auf- 
klärung entschiedene  Abwehr :  longe  sunt  tarnen  a  vera  ratione 
repulsa;  aber  wenn  sie  nun  im  religiösen  Heerlager  ihr  Or- 
chester stimmen,  dann  formt  sich  wiederum  ein  feines  Bild.  Wie 
trefflich  ist  in  den  drei  Worten  tympana  tenta  tonänt  der 
Paukenton  und  ßythmus  gemalt!  In  den  dumpfen  Klang  der 
Handpauken,  den  gellen  Cymbalton  mischt  sich  der  nerven- 
erregende süße  Ton  der  Flöte  und  dröhnender  Hörnerklang. 
Welcher  Abstand  zwischen  dieser  dämonischen  Tonmischung 
und  dem  einfachen  und  doch  so  starken,  markigen  Klang  der 
Hirten tuba^^),  deren  Schall  sich  am  Felsen  stärkt  und  bricht: 
depresso  graviter  sub  murmure  mugit 
Et  reboat  raucum  regio  cita  barbara  bombum. 
Auch  vom  Saitenspiel  weiß  Lukrez  gern  zu  berichten.  Auf  den 
bösen  Unterschied  zwischen  den  qualvollen  Quitsch tönen  einer 
arbeitenden  Säge^^)  und  den  flüssigen  Melodien,  wie  sie  kundige 
Finger  dem  Saiteninstrument  entlocken,  macht  er  humoristisch 
aufmerksam;  die  Saiten,  die  er  hier  die  „sprechenden"  nennt, 
rühmt  er  anderswo^*)  als  „künstevolle"  (daedalacarmina  chor- 
dis).  Wie  mußten  ihn  erst  künstlerische  größere  Darbie- 
tungen fesseln,  ob  sie  auf  der  rauschenden  Bühne  oder  von 
den  symphoniaci  eines  vornehmen  Hauses  geboten  wurden. 
So  ist  es  gewiß  ein  Stück  Selbstbeobachtung,  wenn  er  als 
Beispiel  für  Traumvorstellung  und  Halbschlummer  -^)  uns  aus- 
malt, wie  der  Hörer,  der  prächtige  Bühnenbilder  (scenai  varios 
decores)  in  sich  aufnahm,  der  die  flüssigen  Melodien  der  Sai- 
teninstrumente in  sich  aufsog,  das  deutlich  noch  vor  seinen 
Sinnen  zu  haben  wähnt.  Griff  Lukrez  vielleicht  auch  in  die 
Rüstkammer  von  Harmonielehre  und  Kontrapunkt,  wie  Goethe 
in  jenem  heute  totgehetzten  Wort  von  der  Weltgeschichte  als 
einer  „Fuge,  in  der  die  Stimmen  der  Völker  nach  einander 
einsetzen?"  Auf  diesem  Boden  hatte  die  hellenische  Philo- 
sophie schon  vorgearbeitet:  das  Wörtchen  „Harmonie"  stellt 
sich  ja  sogar  zur  rechten  Zeit  ein,  wenn  über  die  Seele  ein 
Wort  zu  sasen  ist.  Auch  Lukrez  braucht  das  Wort  harmonia 


22)  IV,  54B.  23)  n,  410.  24)  n,  505. 

25)  IV,  959  ff.  besd.  975—980. 


Das  Verhältnis  des  Lucretius  Cavus  zur  Musik.  535 

in  den  vierzig  Versen^*')  seiner  Seelen definition  melirnials; 
sobald  er  dann  nach  Plus  und  Minus  die  Seele  genügend  fixiert 
zu  haben  vermeint,  macht  er  kein  Hehl  daraus,  daß  ihm,  ge- 
rade ihm  als  denkenden  Musikfreund,  die  Unverbindlichkeit 
dieses  übertragenen  BegriflFs  „Harmonie"  nicht  entgeht.  „Stellen 
wir  jetzt  den  Harmoniebegriff  den  Musikern,  die  ihn  wohl 
einst  vom  hohen  Helikon  beschert  bekamen,  mit  Dank  zurück. " 
Und  nun  verrät  er,  daß  ihm  auch  die  Wortgeschichte  des 
technischen  Musikausdruckes  ,harmonia'  beschäftigt  hat;  als 
Dichter  sprach  er  eben  vom  Helikon,  er  fügt  aber  bei,  daß 
der  Begriff  doch  wohl  aus  anderen  Gebieten  (dem  „Fügen" 
und  „Fugen"  des  Handwerks)  entlehnt  und  von  praktischen 
Musikern  in  ihre  Theorie  aufgenommen  sein  wird. 

In  der  Einleitung  sprachen  wir  auch  von  der  Orgel,  die 
zu  Lukrez  reichen  Orchester  gehöre:  die  Stelle  verdient,  selbst 
wenn  diese  Anschauung  zu  berichtigen  bleibt,  schon  wegen 
der  engen  Zugehörigkeit  zu  dem  gestellten  Thema,  besondere 
Beachtung.  Bei  der  Ausführung  der  These:  das  Menschenge- 
schlecht ists  nichts  Ewiges,  hat  vielmehr  historische  Anfänge, 
benützt  Lukrez  als  merkwürdigen  Beleg  den  Gedanken,  es 
könnten  sonst  doch  nicht  immer  wieder  neue  Erfindungen  ge- 
macht werden-^). 

qua  re  etiam  quaedam  nunc  artes  expoliuntur 
nunc  etiam  augescunt:  nunc  addita  navigiis  sunt 
multa,  modo  or(iy.nici  mclicos  peperere  sonores. 
Als  Beispiel  für   das   expoliri  ist  wohl  die    anschließende  Er- 
wähnung   einer    Verbesserung    in    der    Schiffsbautechnik    zu 
deuten,  als  Beispiel  für  eine  neue,  merkwürdige  Bereiche- 
rung   (augescunt  artes)  soll  das:    modo    organici  melicos  pe- 
perere sonores  gelten.     Ohne   künstlich   nunc   und    modo   auf 
Lukrez  engere  Zeit  zu  deuten    (ist    doch  tatsächlich  die  Orgel 
eine  weit  ältere  Erfindung),  erwartet  man  an  dieser  Stelle  ge- 
wiß  eine   bedeutsame,    Aufsehen    erregende    Erfindung,    denkt 
am  liebsten  an  ein  modisches  Instrument,  das  als  Beispiel  für 
Menschenwitz    und    Kunst    gelten    durfte.     Pauke    und    Hörn 
z.  B.   sind   ja   höchst    einfache  Dinge,    schon   im   uralten  Ky- 

2»)  III,  94—135  dazu  Heinze  a.  a.  0.  62  u.  66/67. 
")  V,  332. 


536     ^-  H  art mann,  Das  Verhältnis  Lucretius  Carus  zur  Musik, 

belekulfc  benützt,  die  Erfindung  der  tibia  geht  nach  Liikrez 
selbst  auf  die  ürvölker  zurück,  die  Pboebea  carmina  des  Sai- 
tenspiels sind  so  viel  älter  als  Homer :  mit  diesen  und  anderen 
Instrumenten  konnte  er  weder  seine  These  stützen,  noch  das 
augescunt  artes  illustrieren.  Gerade  für  das  Rom  des  Lukrez 
aber  war  die  Einbürgerung  der  Orgel  ein  Aufsehen  erregen- 
des Ereignis  -^),  ihre  komplizierte  Mechanik  ein  Triumph  der 
Technik  verbundener  Künste:  da  war  Hebel  und  Zug,  für  die 
Lukrez  auch  sonst  Sinn  verrät  (IV,  900 — 904)  sie  durfte  wohl 
als  Bereicherung  der  Künste  bezeichnet  werden.  Ist  or- 
ganicus  an  dieser  Stelle  der  Orgelbauer,  dann  ist  diese  und 
nicht  die  bekannte  Cicerostelle  ^^)  das  erste  Zeugnis  für  die 
Orgel  in  der  römischen  Litteratur. 

Ob  nun  hier  die  Orgel  oder  ein  anderes  Instrument  ge- 
meint ist:  Lukrez  hat  sich  in  seinem  Liede  als  musikalisch 
empfindenden  Menschen  für  jeden,  der  Sinn  für  Klangmalung 
und  Verständnis  für  die  magische  Anziehung,  die  die  Tonwelt 
auf  solcherlei  Künstler  ausübt,  bekannt  und  bei  dem  gänz- 
lichen Mangel  an  sicheren  Einzelzügen,  aus  denen  das  Leben 
dieses  merkwürdigen  Mannes  für  uns  Inhalt  gewinnen  könnte, 
muß  uns  willkommen  sein,  was  nur  ein  wenig  den  Schleier 
lüftet.  Das  romantische  Herz,  das  so  oft  aus  den  Versen 
spricht,  scheint  im  Widerstreit  mit  dem  lehrhaft  aufklärenden 
Zug  zu  liegen :  es  wurzeln  doch  beide  im  gleichen  Grund,  in 
seinem  starken  Naturgefühl.  Lukrez  reiht  sich  auch  nach 
dieser  Seite  gut  zu  mancher  Gestalt  der  französischen  Auf- 
klärung,  neben  einen  Saint-Pierre,  und  den,  der  größer  ist, 
als  beide,  neben  J.  J.  Rousseau.  Auch  den  starken  Zug  zur 
Tonwelt  teilt  Lukrez  mit  ihm. 

Bayreuth.  Karl  Hartmann. 


*8)  Zur  Geschichte  der  Or^el  außer  H.  Degering,  Die  Orgel :  Mün- 
ster: Coppenrath  jetzt  auch  R.  Hildebrand:  Rhet.  Hydraulik:  Phil. 
LXV,  H.  3.    S.  426  ff. 

29)  Tuscul.  in,  18,  43. 


XXV. 

Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite. 

In  Apuleius'  Metamorphosen  1,  VIII  c.  1  — 14  findet  sich 
folgende  Erzählunsf : 

Tlirasyllus,  ein  reicher  aber  lasterhafter  Jüngling  (c.  1), 
verliebt  sich  in  ein  schönes  Mädchen  aus  der  Nachbarstadt, 
namens  Charite.  Wie  er  nun  den  jungen  Tlepolemus  sich 
vorgezogen  sieht,  beginnt  er  auf  Rache  zu  sinnen.  Charite 
wird  am  Tage  ihrer  Hochzeit  von  Räubern  entführt;  Thrasyllus 
benutzt  die  Gelegenheit  ihrer  Befreiung  durch  Tlepolemus, 
um  sich  ihr  und  ihrer  Familie  zu  nähern  (2).  Seine  Leiden- 
schaft wächst  (3).  Während  er  eines  Tages  zusammen  mit 
dem  jungen  Ehemanne  an  einer  Rehjagd  teilnimmt,  stoßen  sie 
unversehens  auf  einen  mächtigen  Eber  (4) ;  der  heimtückische 
Thrasyllus  veranlaßt  seinen  Gefährten,  das  erschrockene  Jagd- 
gefolge zu  verlassen  und  in  Gemeinschaft  mit  ihm  das  fliehende 
Tier  zu  Pferde  anzugreifen.  Tlepolemus  wirft  seinen  Spieß 
zuerst  und  verwundet  den  Eber  am  Rücken,  doch  Thrasyllus 
bringt  durch  einen  Lanzenstich  sein  Pferd  zu  Falle,  worauf 
der  zu  Boden  geschleuderte  Mann  vom  Eber  zerfleischt  und 
von  seinem  Nebenbuhler,  den  er  vergebens  um  Hilfe  anfleht, 
durch  einen  zweiten  Lanzenstoß  vollends  getötet  wird.  Nach- 
dem er  nun  auch  den  Eber  mit  leichter  Mühe  unschädlich 
gemacht  hat  (5),  wirft  sich  Thrasyllus  über  den  toten  Tlepo- 
lemus und  spielt  vor  dem  herankommenden  Gefolge  den  ver- 
zweifelten Freund.  Charite,  auf  das  Gerücht  vom  Tode  ihres 
Gatten  durch  einen  Eber  herbeigeeilt,  verliert  an  seiner  Leiche 
die  Besinnung  und  gibt  beinahe  ihren  Geist  auf.  Nach  dem 
Begräbnis  (6)  sucht  Thrasyllus  die  verzweifelte  Witwe  zu 
trösten   und    redet   ihr    ihre  Selbstmordgedanken  aus  (sie  will 


538  Walter    Anderson, 

sicli  zu  Tode  hungern).  Sie  bringt  nun  ihre  Zeit  mit  der 
Verehrung  der  Bilder  ihres  Mannes  zu,  die  ihn  als  Liber  dar- 
stellen (7);  dennoch  wagt  es  Thrasyllus,  endlich  einen  Heirats- 
antrag an  sie  zu  richten,  welcher  aber  bei  ihr  nur  eine  neue 
Ohnmacht  zur  Folge  hat.  Obgleich  den  wahren  Sachverhalt 
ahnend,  bittet  sie  den  Thrasyllus  um  Bedenkzeit.  Unterdessen 
erscheint  ihr  Tlepolemus  im  Traum  ^)  und  warnt  sie  vor  seinem 
Mörder,  indem  er  ihr  alle  Umstände  seines  Todes  erzählt ;  jede 
andere  Heirat  stellt  er  ihr  frei  (8).  Erwacht,  beschließt 
Charite  ihn  zu  rächen.  Sie  erklärt  dem  Thrasyllus,  nach  Ab- 
lauf des  Trauerjahres  sei  sie  bereit  sein  Weib  zu  werden  (9). 
Auf  weitere  Bitten  willigt  sie  unterdessen  in  eine  geheime 
Verbindung  mit  ihm  (10).  Nachts  wird  er  von  ihrer  treuen 
Amme  -)  in  ihr  Schlafgemach  eingeführt.  Charite  selbst  hält 
sich  noch  verborgen,  und  auf  ihr  Geheiß  betäubt  die  Amme 
ihn  mit  einem  Schlaftrunk.  Hierauf  kommt  Charite  hervor 
und  sticht  dem  Mörder  ihres  Gemahls  (11)  nach  einer  langen 
Deklamation  (12)  mit  einer  Haarnadel  beide  Augen  aus.  Dann 
ergreift  sie  Tlepolemus'  Schwert,  eilt  zu  seinem  Grabmal  (13) 
und  tötet  sich  vor  dem  zusammengeströmten  Volk,  nachdem 
sie  alles  der  Reihe  nach  erzählt  hat.  Thrasyllus,  von  Reue 
und  Verzweiflung  geplagt,  schließt  sich  im  gemeinsamen  Grab- 
mal der  Liebenden  ein  und  hungert  sich  hier  zu  Tode  (14). 
Die  oben  wiedergegebene  Erzählung  stellt  ein  in  sich  ab- 
geschlossenes Ganzes  dar  und  hängt  mit  dem  übrigen  Roman, 
insonderheit  auch  mit  der  Geschichte  von  dem  Raube  und  der 
Befreiung  der  Charite  (Met.  IV  23—27.  VI  25— VII 14),  nur 
sehr  lose  zusammen;  während  letztere  sich,  wennschon  in  kür- 
zerer Gestalt  und  ohne  die  Namen  der  Helden,  im  Aouxco^  iq 
"Ovo;  wiederfindet  (c.  22 — 27),  ist  erstere  darin  durch  die 
kurze  Notiz  vertreten,  die  Neuvermählten  wären  bei  einem 
Spaziergange  am  Meeresufer  von  der  hereinbrechenden  Flut 
überrascht    worden   und    darin  ertrunken  (c.  34).     Demgemäß 


*)  Dieses  Motiv  kommt  noch  in  einer  anderen  Novelle  des  Apuleius 
vor:  Metam.  IX  31 ;  Metam.  II  29  gibt  ein  von  den  Toten  Auferweckter 
seinen  Mörder  an. 

^)  Ueber  diese  Amme  und  ihr  Verhältnis  zu  den  Typen  der  antiken 
Komödie  (und  Tragödie)  s.  B.  W.  W  a  r  n  e  c  k  e ,  Nabljudenija  nad  drevne- 
rimakoj  komedijej:  k  istorii  tipov,  Kasan  1905  (russisch),  p.  148  sq. 


Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Cliarite.  539 

wird  die  Erzählung  vom  Tode  der  Charite  allgemein  für  einen 
von  Apuleius  zu  seiner  Vorlage  (ob  dies  nun  die  Metamorphosen 
des  Lukios  von  Patrai  waren,  oder  der  pseudolukianische  Onos) 
gemachten  Zusatz  gehalten  :  so  von  Kohde,  Goldbacher,  Bür- 
ger^). Letzterer  polemisiert  insbesondere  gegen  die  von  Maaß*) 
verfochtene  Annahme  eines  engen  Zusammenhanges  zwischen 
1.  IV23— 26.  VIII— 12  und  Villi— 14,  was  nach  dessen  Mei- 
nung alles  von  Apuleius  erfunden  (doch  vgl.  unten)  und  seinem 
Vorbilde  eingefügt,  hierauf  aber  von  „Lukian"  verstümmelt 
sein  soll. 

Was  nun  den  Charakter  unserer  Erzählung  anbetrifft,  so 
vyird  sie  von  Rohde  in  seinem  bekannten  Aufsatz'*)  für  eines 
der  eklatantesten  Beispiele  der  antiken  pathetisch-tragischen 
Liebesnovelle  erklärt;  gleich  dem  gesamten  Erzählungsstoff 
des  Apuleius  glaubt  er  sie  „unbedenklich  aus  griechischer 
Quelle  herleiten  zu  dürfen".  Er  fährt  fort:  „Dieser  im  Cha- 
rakter und  Ton  vielfach  an  düstere  italienische  Rachenovellen 
erinnernden  Erzählung  darf  man  ein  nicht  ganz  unbeträcht- 
liches Alter  darum  zutrauen,  weil  eine  sehr  ähnliche  Geschichte 
von  einer  Gallierin  Kamma,  bei  Plutarch  zweimal  erzählt,  auf 
ein  gemeinsames  älteres  Vorbild  zurückschließen  läßt." 

Der  Inhalt  der  p  1  u  t  a  r  c  h  i  s  c  h  e  n  Erzählung,  wie  wir 
sie  übereinstimmend  in  Mulier.  virtut.  s.  Ka|ji[xa  und  Amator.  22^) 
vorfinden,  ist  folgender.  Der  galatische  Tetrarch  Sinorix  ver- 
liebt sich  in  die  schöne  und  tugendhafte  Frau  seines  Ver- 
wandten Sinatos,  eines  anderen  Tetrarchen;  diese  Frau  ist 
Friesterin  der  Artemis  und  trägt  den  Namen  Kamma.  Sinorix 
ermordet  durch  List  (SoXw)  seinen  Nebenbuhler  und  beginnt 
nach  einiger  Zeit  um  dessen  W^itwe  zu  freien.  Seinen  Bitten 
und  den  Vorstellungen  ihrer  Verwandten  nachgebend,  willigt 
Kamma  endlich  in  die  Heirat,  indem  sie  scheinbar  dem  Mör- 
der ihres  Gatten  die  Tat  vergibt,  die  er  ja  doch  nur  aus  Liebe 
zu  ihr  begangen  habe.     Sie    bestellt    ihn    in    den  Tempel   der 


3)  Cf.  C.  Bürger,  De  Lucio  Patrensi  (diss.),  Berol.  1887.  p.  44-49. 
*)  Im  index   schol.  Gryphiswald.  1886/87  p.  XIV  Anm.  2. 

5)  E.  Rohde,  Ueber  griechische  Novellendichtung  und  ihren  Zu- 
sammenhang mit  dem  Orient,  Verhandl.  der  30.  Philologenvers.  (1875) 
p.  68  =  Der  griech.  Rom.^  p.  590. 

6)  ed.  ßernardakis  II  p.  234—236.     IV  p.  452  sq. 


540  Walter    Anderson, 

Artemis,  wo  sie  der  Göttin  einen  vergifteten  Trank  opfert: 
sie  selbst  trinkt  die  Hälfte  desselben  aus  und  gibt  die  andere 
dem  ahnungslosen  Sinorix  zu  trinken  ;  hierauf  verkündet  sie 
ihm  den  Sachverhalt  und  erklärt,  nur  um  der  Rache  willen 
habe  sie  ihren  Gatten  bisher  überlebt.  Sie  stirbt  frohen  Muts, 
nachdem  Sinorix  ihr  im  Tode  vorausgegangen  ist. 

Der  Charakter  dieser  Erzählung  ist  nicht  ganz  leicht  zu 
bestimmen :  Rohde  hält  sie  scheinbar  für  eine  mit  fremdlän- 
dischen Namen  aufgeputzte  Novelle  griechischen  Ursprungs: 
es  könnte  ja  aber  auch  eine  echte  galatische  Sage  sein.  Was 
ihr  Verhältnis  zu  der  apuleianischen  Novelle  betrifft,  so  ist 
die  Aebnlichkeit  schlagend  und  der  ganze  Unterschied  liegt, 
abgesehen  von  den  mangelnden  Details  und  der  historischen 
Färbung  im  eigentümlichen  Gifttrank motiv  und  in  dem  Um- 
stände,  daß  der  Witwe  die  Tat  des  Mörders  offenbar  von 
Anfang  an  bekannt  ist.  Doch  ist  die  Aebnlichkeit,  wie  wir 
sehen  werden,  noch  nicht  zwingend  genug,  um  auf  jeden  Fall 
einen  genetischen  Zusammenhang  annehmen  zu  müssen;  ist 
aber  ein  solcher  vorhanden,  so  haben  wir  die  Wahl  zwischen 
der  Rohdeschen  Hypothese  einer  verlorenen  gemeinsamen  Quelle 
und  der  Annahme  einer  umarbeitenden  Entlehnung  der  plu- 
tarchischen  Erzählung  durch  Apuleius:  letztere  wird  ihm  gleich 
den  übrigen  Schriften  Plutarchs  sicher  bekannt  gewesen  sein. 

Rohde  bemerkt  ferner'):  „Diese  Plutarchische  Erzählung 
ist  übrigens  offenbar  das  Vorbild  für  Ariostos  Bericht  von 
Tanacro,  Olindro  und  Drusilla  :  Orlando  f  u  r  i  o  s  o  c. 
XXXVn  st.  51—75."  In  der  Tat  genügt  schon  ein  flüch- 
tiger Vergleich,  um  die  Entlehnung  festzustellen;  insbesondere 
das  charakteristische  Giftmotiv  wirkt  entscheidend  (die  Stelle 
des  Opfertranks  vertritt  bei  Ariost  geweihter  Wein).  Doch  ist 
hervorzuheben,  daß  der  Mord  des  Olindro  da  Lungavilla  (Sinatos) 
hier  zugleich  mit  dem  Raube  seiner  Gattin  durch  Tanacro- 
Sinorix  vor  sich  geht,  daß  diese  sich  dem  Letzteren  durch  den 
Sprung  in  einen  Abgrund  zu  entziehen  sucht,  und  daß  sich 
die  Vergiftungsszene  am  Grabmal  des  Ermordeten  abspielt^). 


')  1.  1.  Anm.  1. 

*)  Die  beiden  letzteren  Züge  (welche  bei  Plutarch  fehlen)  könnten 
vielleicht  aus  Apul.  Met.  VIII  7.  13  entlehnt  sein.    Diese  Annahme  wird 


Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite.  541 

—  Ein  interessantes  Zeugnis  für  die  Aehnlichkeit  der  pliitar- 
chischen  Erzählung  mit  der  apuleianischen  haben  wir  in  der 
Aeußerung  eines  französischen  Uebersetzers  des  Ariost,  M.  A. 
Mazuy,  welcher,  mit  der  ersteren  unbekannt,  die  Geschichte 
der  Drusilla  aus  letzterer  herleitet,  dabei  freilich  seinem  Dichter 
große  Selbständigkeit  zugestehend:  „la  presque  totalite  des 
details  lui  appartiennent:  le  fond  du  recit  est  seul  imite  de 
l'Ane-d'Or«»). 

Das  Charite-Ivamma-Thema  kehrt  aber,  wenn  auch  mit 
ein  paar  weiteren  Abweichungen,  so  doch  noch  sehr  deutlich 
erkennbar,  noch  in  anderen  Erzählungen  wieder:  so  besonders 
im  kaukasisch-tatarischen  Märchen  „ Die  un- 
treue Gattin  und  die  treue  Braut"  ^°).  Durch  den  Verrat  eines 
Weibes  an  ihrem  Gemahl^ ^)  empört,  befahl  einst  Schah  Abbasl. 
seinem  Großkhan  (d.  i.  Großvezier),  alle  Weiber  in  seinem 
Lande  auszurotten^-);  auf  den  Rat  seines  hundertjährigen 
Vaters  ließ  dieser  den  Befehl  unausgeführt.  Um  den  erzürnten 
Schah  zu  besänftigen,  erzählt  ihm  der  Greis  folgenden  Vor- 
fall aus  seinem  eigenen  Leben.  Vor  vielen  Jahren  diente  er 
dem  Vater  des  Schahs  als  Anführer  von  neununddreißig  an- 
deren Helden.  Nun  begab  es  sich,  daß  eines  Morgens  einer 
derselben  auf  unerklärliche  Weise  ermordet  gefunden  wurde; 
dies  wiederholte  sich  nun  jeden  Tag,  und  schließlich  war  nur 

dadurch  ermöglicht,  daß,  wie  schon  Mazuy  (s.  u.)  nachgewiesen  hat, 
die  zweite  Hälfte  der  Geschichte  der  Gabrina  in  canto  XXI  13  —  66 
wirklich  aus  Met.  X  25 — 28  stammt;  dagegen  ist  Mazuya  Herleitung 
der  ersten  Hälfte  desselben  Berichts  aus  Met.  X  2 — 5  ungenügend  be- 
gründet (Rol.  Für.  II  p.  183— 18.S). 

^)  Roland  Furieux,  nouvelle  traduction  (Paris  1889),  t.  III  p.  216  sq. 

*")  Sbornik  materialov  dlja  opisanija  mestnostej  i  plemen  Kavkaza 
XXI,  2,  p.  12 — 17  (aus  der  Stadt  Kazach  im  Gouv.  Jeliaavetpol). 

")  Der  Ehemann  hatte  sich  trotz  Todesdi'ohungen  geweigert  seine 
Gattin  zu  verlassen;  letztere  ließ  sich  durch  die  Aussicht  Frau  des 
Schahs  zu  werden  verleiten,  ihren  Mann  zu  ermorden.  Das  Thema 
kommt  auch  z.  B.  in  den  slavischen  Salomonslegenden  vor:  s.  Ale- 
xand.  Veselovskij,  Slavjanskija  skazanija  o  Solomone  i  Kitovrase 
i  zapadnyja  legendy  o  Morolfe  i  Merline,  St.  Pet.  1872,  p.  86sq.;  vgl. 
Iv.  Franko,  Apokrify   i  legendy  I  (LemlDerg  1896).  p.  285  sq.  288,  etc. 

—  Ein  Motiv  des  kaukasischen  Märchens  (die  Vervielfältigung  des  vom 
Schah  an  der  Haustür  gemachten  blutigen  Handabdrucks)  erinnert  an 
Ali  Baba. 

'^)  Wie  sonst  in  Märchen  der  Befehl  (oder  die  Sitte)  alle  Greise 
auszurotten  vorkommt:  vgl.  Reinh.  Köhler,  Kl.  Sehr.  II  p.  324 — 327, 
und  G.  PoHvka,  Zs.  d.  Vereins  f.  Volksk.  8,25—29.  19,456. 


542  Walter    Anderson, 

der  Anführer  selbst  —  er  hieß  Samed  —  übrig.  In  der  vier- 
zigsten Nacht  hört  er  an  der  Hanstür  seinen  Namen  rufen ; 
er  geht  hinaus,  legt  aber  zuvor  auf  Rat  seiner  Frau  seine 
Rüstung  an  und  besteigt  sein  Pferd.  Draußen  befiehlt  ihm 
ein  unbekannter  Reiter  zu  folgen;  Samed  tut  dies,  versucht 
aber  aus  Furcht  für  sein  Leben  dreimal  den  Unbekannten  zu 
töten,  bis  letzterer  ihn  vom  Sattel  reißt  und  ihn  am  Boden 
zu  zerschmettern  droht.  Sie  kommen  in  einen  finsteren  Wald; 
in  der  Ferne  schimmert  ein  Licht.  Der  Fremdling  steigt  vom 
Pferde  und  geht  allein  in  dieser  Richtung  fort,  um,  wie  er 
sagt,  mit  seinem  Feinde  und  dessen  Heer  zu  kämpfen.  Nach 
einiger  Zeit  kommt  er  wieder  mit  einem  riesigen  Menschen- 
haupt in  den  Händen.  Er  reitet  nun  mit  Samed  zu  einem 
einsamen  Grabe;  hier  zerschmettert  er  jenes  Haupt  am 
hölzernen  Grabdenkmal  und  spricht,  zum  Grabe  gewandt : 
„Lieber  Bräutigam !  Dies  ist  das  Haupt  des  Bösewichts, 
der  dich  verräterisch  umgebracht  hat".  Hier- 
auf stürzt  er  —  oder  sie  —  sich  in  ihren 
Dolch  und  sagt  zu  Samed:  „Ich  bin  die  Braut 
des  Helden,  der  in  diesem  feuchten  Grabe 
ruht.  Der  Mann,  dessen  Schädel  ich  zerschlagen  habe,  ist 
sein  Mörder.  Er  wollte  mich  heiraten,  aber 
ich  bin  meinem  ersten  Bräutigam  nicht  un- 
treu geworden;  um  seinetwillen  habe  ich 
seinen  Feind  getötet  und  sterbe  jetzt  selber." 
Dann  bittet  sie  Samed,  er  solle  sie  beerdigen;  seine  Kame- 
raden habe  sie  nur  getötet,  weil  sie  ihr  ohne  Rüstung  ent- 
gegengekommen seien  (dadurch  haben  sie  die  Vorschriften 
des  Rittertums  verletzt).  Hierauf  stirbt  sie.  —  Als  Schah 
Abbas  sich  nun  überzeugt  hatte,  daß  es  auch  tugendhafte 
Weiber  auf  Erden  gibt,  zog  er  seinen  Befehl  zurück. 

Die  Uebereinstimmung  des  Märchens  mit  den  beiden  an- 
tiken Erzählungen  geht  aus  den  oben  gesperrt  gedruckten 
Stellen  hervor  ;  es  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  daß  die 
Rahmengeschichte  ihm  denselben  Charakter  verleiht,  welchen 
die  Erzählung  von  der  Kamma  bei  Plutarch  hat;  es  ist  ein 
Beispiel  der  yuvacxwv  apexai.  —  Leider  ist  der  für  uns  wich- 
tigste   Teil    des    Märchens    sehr    kurz   erzählt   und  ganz  von 


Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Cbavite.  543 

fremden  Elementen  überwuchert:  der  Rahmenerzählunf?,  der 
Geschichte  der  untreuen  Gattin  und  dem  Abenteuer  des  Saraed 
(letzteres  dient  nur  dazu,  um  den  mannweiblichen  Charakter 
der  Heldin  hervorzustreichen)  ^•^).  —  Die  Abweichung  von 
Plutarch  (und  Apuleius)  liegt  hauptsächlich  darin,  daß  die 
Heldin  hier  nicht  die  Frau,  sondern  die  Braut  des  Toten  ist 
und  daß  sie  zur  Gewalt  statt  zur  List  greift. 

Sehr  stark  unterscheidet  sich  dagegen  von  beiden  klassi- 
schen Erzählungen  die  tschetschenische  Version  des- 
selben kaukasischen  Märchens,  „Ljal-Sulta"  ^*).  Der  Titelheld 
schlägt  die  Hand  einer  verliebten  Prinzessin  aus,  die  um  seinet- 
willen durch  ihren  erzürnten  Vater  beinahe  das  Leben  verloren 
hat'^).  Ljal-Sulta  ist  nämlich  durch  die  Untreue  seiner  ersten 
Gattin")  zum  Weiberfeinde  gemacht  worden;  doch  gelingt  es 
dem  Nagaierfürsten  Batercha  ihn  durch  Erzählung  eines  seiner 
Erlebnisse  umzustimmen.  Bei  einem  Zusammentreffen  mit 
einem  Riesen  hatte  Batercha  alle  seine  fünf  Brüder  verloren  ^') 
und  nun  den  Schwur  getan,  alle  ihm  begegnenden  Menschen 
zu  morden,  um  dadurch  gewissermaßen  seine  Brüder  zu  rächen. 
Doch  schon  den  ersten,  einen  schönen  Jüngling,  verschonte 
er  aus  Mitleid  und  schloß  mit  ihm  sogar  einen  Freundschafts- 
bund. Hierauf  ritten  sie  zu  einem  Turme,  wo  der  Unbekannte 
ohne  Baterchas  Hilfe  vierzig  Helden  niedermetzelte:  es  waren 
dies  die  Mörder  seines  Bruders.  Dann  ritten  beide  zusammen 
nach  dem  Hause  des  Unbekannten;  letzterer  ging  hinein  und 
ließ  seinen  Gefährten  lanse  vergebens    draußen    warten.     Als 


*')  Es  verdient  bemerkt  iu  werden,  daß  dieses  Märchen  gleich  sehr 
vielen  anderen  kaukasischen  starke  Anklänge  an  das  Heldenepos  auf- 
weist. 

'*)  Sbornik  svedenij  o  kavkazskich  gorcach  IV,  2,  p.  8  —  15.  (Auf- 
geschrieben im  Aul  Fortaut.) 

*°)  Der  Vater  ließ  sie  in  ein  Faß  stecken  und  in  den  Fluß  werfen.  — 
Genaue  Parallelen  zur  Rahmengeschichte  sind  mir  nicht  bekannt. 

•«)  Die  Erzählung  davon  steht  in  nahen  Beziehungen  zur  Geschichte 
des  jungen  Königs  der  schwarzen  Inseln  aus  1001  Nacht  (bei  Galland 
Ausg.  Paris  1774  I  p.  125—137);  sie  ist  auch  sonst  noch  im  Kaukasus 
bekannt:  vgl.  Sbornik  materialov  u.  s.  w.  XXXV,  2,  p.   112 — 130. 

*')  Was  Batercha  darüber  erzählt,  ist  eine  Variante  des  Poly- 
phemmärchens,  welch  letzteres  im  Kaukasus  sehr  verbreitet  ist:  0. 
H  a  c  k  m  a  n ,  Die  Polyphemsage  in  der  Volksüberlieferung,  Helsingf. 
1904,  p.  94—99  Nr.  110  —  117  (p.  98  sq.  Nr.  116  ist  unser  Märchen),  vgl. 
noch  Sbornik  materialov  XXII,  3,  13—16.  XXXII,  2,  16-26  u.  s.w. 


544  Walter   Anderson, 

dieser  endlich  ins  Haus  trat,  fand  er  ihn  mit  einem  Dolche 
erstochen  neben  einem  verwesenden  Leichnam  (nämlich  dem 
seines  Bruders).  Batercha  nahm  dem  Unbekannten  die  Mütze 
vom  Kopf,  und  Haarflechten  wurden  darunter  sichtbar.  „Es 
gibt  böse  Weiber,  es  gibt  aber  auch  gute'-,  schließt  er  seine 
Erzählung. 

Das  Kammathema  ist  in  diesem  Märchen  kaum  noch  zu 
erkennen.  Die  Rahmengeschichte  weist  nicht  denselben  In- 
halt, wohl  aber  dieselbe  Tendenz  auf,  wie  diejenige  des  tata- 
rischen Märchens.  —  Die  Uebereinstimmung  des  letzteren  mit 
den  antiken  Erzählungen  könnte  leicht  zur  Annahme  einer 
genetischen  Verwandtschaft  verlocken,  doch  wird  sich  diese 
nur  dann  irgend  wahrscheinlich  machen  lassen,  wenn  man 
beweist,  daß  die  tatarische  Version  der  Urform  des  Märchens 
näher  steht,  als  die  tschetschenische.  Zwei  Versionen  genügen 
aber  nicht,  um  diese  Urform  rekonstruieren  zu  können,  und 
weitere  Varianten  sind  mir  weder  aus  dem  Kaukasus  noch 
sonstwoher  bekannt  ^^).  Danach  bleibt  (des  Gedankens  kann 
ich  mich  nicht  erwehren)  wenigstens  die  Möglichkeit  offen, 
daß  auch  die  Uebereinstimmung  zwischen  Apuleius  und  Plu- 
tarch  einen  ebenso  zufälligen  Charakter  trägt ^''),  wie  dies 
hinsichtlich  des  tatarischen  Märchens  wahrscheinlich  ist. 

* 
Fassen  wir  nun  den  Inhalt  der  Charitenovelle  folgender- 
maßen zusammen  :  Ein  junger  Ehemann  wird  von  einem  ver- 
räterischen Freunde  auf  der  Jagd  vom  Gefolge  fortgelockt  und 
hinterrücks  durch  einen  Lanzenstoß  ermordet.  Der  Mörder 
verheimlicht  seine  Tat  und  spielt  vor  der  Gattin  des  Toten, 
welche  bei  der  Schreckensnachricht  in  Ohnmacht  gefallen  ist, 
den  teilnehmenden  Freund.  Die  verzweifelte  Frau  wünscht 
sich  den  Tod:  sie  durchschaut  aber  den  Täter,  wird  in  ihrem 
Verdacht  durch  ein  Wunder  bestärkt  und  beschließt  nun  zu 
leben,  um  sich  an  dem  Mörder  zu  rächen.  Um  ihr  Ziel  zu 
erreichen,  willigt  sie  sogar  in  eine  neue  Heirat  und  läßt  ihren 

*^)  Auch    der  bekannte    slaviscbe   Märchenforscher   J.  P  o  1  i  v  k  a , 

der  im  Närodopisny  Sbornik  Ceskoslov.  II  p.  105  Nr.  3  den  Inhalt  des 
tatarischen  Märchens  kurz  wiedergibt,  führt  keine  Parallelen  dazu  an. 
—    Doch    Vf?].    unseren    Nachtrag. 

")  Freilich  neige  auch  ich  mich  eher  der  gegenteiligen  Annahme  zu. 


Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite.  545 

Haß  niemand  merken ;  durch  List  bringt  sie  ihren  Feind  end- 
lich in  ihre  Gewalt  und  rächt  sich  eigenhändig  blutig  an  ihm. 
Hierauf  erleidet  sie  selbst  den  Tod. 

Was  wir  jetzt  vor  uns  haben,  ist  in  großen  Zügen  der 
Inhalt  der  zweiten  Hälfte  des  Nibelungenliedes.  Bei 
genauerem  Zusehen  lassen  sich  auch  noch  andere  Ueberein- 
stimmungen,  freilich  aber  noch  mehr  Unterschiede  feststellen. 
Einiges  davon  sei  hier  aufgeführt. 

Charite  bangt  um  Tlepolemus'  Leben,  nee  enmi  Charite 
maritiim  simm  qicaerere  patiehatur  bcstias  armatas  deute  vel 
cornu  (c.  4);  vgl.  damit  den  Abschied  Siegfrieds  von  Kriem- 
hild  im  Nibelungenl.  86  1  —  868  (Lachm.):  freilich  ist  Kriera- 
hild  von  bösen  Träumen  geängstigt  worden.  —  Die  beabsich- 
tigte Rehjagd  verwandelt  sich  in  eine  Saujagd  (c,  4).  Nach 
Nib.  v.  854,  2  ist  die  Jagd  der  Helden  gegen  Bären  und 
Schweine,  nach  v.  859,  3.4  gegen  Schweine,  Bären  und 
Wisende  gerichtet;  sivei  wildiu  stvhi  spielen  in  Kriemhilds 
Traum  eine  Rolle  (v.  864,  2).  Siegfried  tötet  unter  anderem 
einen  großen  Eber  (881.  882),  wie  Tlepolemus  einen  solchen 
verwundet  (c.  5).  —  Stark  abweichend  ist  die  Schilderung, 
wie  Hagen  Siegfried  entwaffnet  und  von  seinem  Gefolge  ent- 
fernt (913 — 921,  vgl.  c.  5).  —  Statt  des  einen  Speerwurfs 
in  den  Nibelungen  haben  wir  bei  Apuleius  zwei  Lanzenstiche 
(c.  5,  s.  die  Inhaltsübersicht) ;  gegenüber  c.  5  per  femiis  dex- 
ierum  dimisit  lanceam  vgl.  den  Todesstoß  v.  922,  2  er  schoz 
in  durch  das  criuze  und  v.  923, 1  den  gvr  im  gen  dem  herzen 
stehen  er  dö  lie.  —  Zu  dem  dolor  simulatus  des  Thrasyllus 
(c.  6.  7)  vgl.  die  Klagen  Günthers  um  Siegfried  (v.  933,  1. 
982,  3).  —  C.  6  manus  suae  cidpam  hestiae  dahat :  so  schreiben 
Siegfrieds  Mörder  seinen  Tod  Räubern  zu  v.  941,  3.  4.  986,  4. 
—  Die  Ohnmacht  der  Charite  (c  6):  vgl.  die  zweimalige  Ohn- 
macht Kriemhilds  950.  1010.  —  Wie  Tlepolemus'  Begräbnis 
toto  feralem  ponipam  prosequente  popido  stattfindet  (c.  6),  wird 
auch  Siegfried  mit  großer  Pracht  beerdigt  (989 — 1011,  vgl. 
bes.  995).  —  Die  Trostlosigkeit  der  Heldin  (c.  6—9):  Nibel. 
T.  990,  4.  1668.  —  Ein  Selbstmordversuch,  wie  Ap.  Met. 
VIII  7,  fehlt  in  den  Nibelungen;  doch  bringt  Kriemhild  an 
Siegfrieds  Leiche  drei  Tage  und  drei  Nächte  an  ezzen  und  an 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  i.  '65 


546  Walter    Anderson, 

irivJceJi  wachend  zn  (v.  997, 1.  999,  1,  vgl.  c.  7  inedia  misera) ;  sie 
selbst  sagt  darüber :  tva^  oh  got  gehiidet  daz  mich  ouch  nimet 
der  tot?  so  wcere  tvol  verendet  mm  armer  Kriemhilde  not  (v. 
997,  3.  4).  —  Mit  der  wunderbaren  Erscheinung  des  Tlepole- 
mus  c.  8  könnte  man  die  Bahrrechtszene  984—986  vergleichen; 
in  beiden  Fällen  ahnt  die  Witwe  schon  früher,  wer  der  wahre 
Mörder  ist  (VIII  8,  cf.  v.  951,  4).  —  Der  Racheentschluß  (c.  9): 
Nibel.  1195  sqq.  1331  sqq.  — •  Der  scheinbaren  Versöhnung 
mit  dem  Feinde  in  der  Kammasage  entspricht  in  den  Nibe- 
lungen (außer  v.  1334,2.  3  u.  a.)  bes.  v.  1442,3:  Hagnen  hin 
ich  wccge.  —  Die  an  den  Mörder  gerichtete  verräterische  Ein- 
ladung (c.  10) :  Nib.  1355  sqq.  —  Kriemhild  tötet  Hagen  mit 
dem  Schwerte  ihres  Gatten  (Nib.  2309.  2310),  wie  Charite  sich 
mit  demselben  das  Leben  nimmt  (c.  13.  14).  —  Die  Freude 
über  die  gelungene  Rache  (c.  13) :  v.  2291,  3.  —  Der  Selbst- 
mord fehlt. 

Als  wir  oben  den  Inhalt  der  apuleianischen  Novelle  kurz 
zusammenfaßten,  ließen  wir  absichtlich  ein  sehr  wichtiges 
Motiv  weg,  weil  es  eben  in  den  Nibelungen  fehlt :  die  Liebe 
des  Mörders  zur  Gattin  seines  Opfers,  und  damit  die  Veran- 
lassung zum  Morde.  Dafür  finden  wir  hier  zwei  andere  Mo- 
tive wieder,  die  wir  in  der  sonst  genau  übereinstimmenden 
tatarischen  Erzählung  vermißt  haben :  die  Heldin  ist  Gattin 
(nicht  Braut  oder  Schwester)  des  Ermordeten,  und  ihre  Rache 
vollbringt  sie  nicht  mit  Gewalt,  sondern  mit  List  (nur  ist 
letztere  natürlich  nicht  die  gleiche,  wie  bei  Apuleius  oder 
Plutarch).  —  Es  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  daß  die 
Kriemhildsage  als  Ganzes  den  beiden  antiken  Erzählungen 
zwar  ferner  steht,  als  die  tatarische  Variante  des  kaukasischen 
Märchens ,  aber  beträchtlich  näher,  als  dessen 
tschetschenische  Variante. 

Nichts  liegt  mir  ferner,  als  einen  genetischen  Zusammen- 
hang der  Nibelungensage  mit  der  Charitenovelle  (sei  es  nun 
Urverwandtschaft,  oder  gar  Entlehnung)  behaupten  zu  wollen. 
Ich  beabsichtigte  nur  ein  Beispiel  dafür  zu  geben,  wie  ähn- 
lich —  selbst  in  Einzelheiten  —  die  Erzeugnisse  sein  können, 
welche  die  menschliche  Phantasie  zu  verschiedenen  Zeiten  und 
an  verschiedenen  Orten  hervorbringt.    Solche  zufällige  Ueber- 


Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite.  547 

einstiirimungen  können  aber  leicht  zur  unbegründeten  Annahme 
von  Sagenverwandtschaften  verführen ;  hat  doch  auf  diese 
Weise  ein  namhafter  pohlischer  Philologe  unlängst  nicht 
nur  den  Partonopeus  de  Blois,  sondern  auch  den  Schwanen- 
ritter  und  selbst  den  Huon  de  Bordeaux  für  direkte  Entleh- 
nungen aus  Apuleius'  Amor  und  Psyche  erklärt.  — 

Es  bleibt  uns  jetzt  noch  die  von  Maaß  aufgestellte  und 
von  Bürger  adoptierte  Hypothese  zu  erwähnen  übrig,  die  No- 
velle des  Apuleius  sei  eine  Kontamination  der  euripideischen 
Fassung  der  Protesilaossage  mit  der  von  Herodot 
I  34 — 45  erzählten  Atyslegende^").  Die  üebereinstim- 
mungen  mit  letzterer  sind  ziemlich  oberflächlich :  sie  beschränken 
sich  darauf,  daß  auf  einer  Eberjagd  ein  junger  Ehemann 
durch  den  Speerwurf  eines  Jagdgefährten  umkommt  (und  zwar 
bei  Herodot  aus  Zufall),  und  daß  der  reuige  Mörder  sich  am 
Grabe  des  Toten  das  Leben  nimmt.  Mit  mehr  Recht  betont  Maaß 
die  Aehnlichkeit  mit  der  Protesilaossage :  „  utramque  enim  Laoda- 
miam  et  Chariten  novam  nuptam  interempto  marito  mortui 
imagine  delectari,  utrique  coniugis  umbram  apparere,  ut  nova 
matrimonia  impediret,  utramque  fidem  servaturam  mortem  sibi 
consciscere"^^).  Insbesondere  die  imagines  defundi,  quas  ad 
Jiabitum  dei  Liberi  formaverat  (Ap.  Met,  VHI  7)  sind  hier 
charakteristisch -2).  Die  Entlehnung  einzelner  Motive  aus- 
Euripides  ist  für  unsere  Erzählung  nicht  unwahrscheinlich,, 
aber  eine  eigentliche  Kontamination  beider  erwähnten  Sagen 
und  ihre  Ergänzung  durch  den  Kontaminator  sind  wir,  im 
Hinblick  auf  die  Erzählung  Plutarchs,  nicht  gezwungen  an- 
zunehmen. 


20)  Maaß  p.  IX— XV;  Bürger  p.  47sq.  —  Die  Hypothese  stützt 
sich  besonders  auf  Ap.  Met.  IV  26  sie  ad  instar  Atyis  yel  Protesilai 
dispestae  dinturbataeque  nuptiae.  Doch  ist  Atyis  nur  Kiesslingsche  Kon- 
jektur für  das  handschriftliche  attidis;  Beroaldus  las  Äthracidis,  wie 
er  auch  für  Protesilai  Pirithoi  einsetzte.  Die  Deutung  wird  dadurch 
erschwert,  daß  die  betr.  Stelle  sich  auf  die  Entführung  der  Charite 
durch  Räuber  bezieht.  Vgl.  Bürger  p.  48  ^  und  Hildebrands 
Ausg.  ad  loc.  —  Auch  W.  Kling  er,  SkazoCnyje  motivy  v  istorii 
Herodota,  Kiew  1903,  p.  195  sq.  leitet  die  Charitenovelle  (wie  es  scheint, 
von  Maaß  unabhängig)  aus  der  Atyslegende  ab. 

21)  Bürger   p.  47  (nach  Maaß  p.  XI  sq.). 

22)  Ueber  den  bakchischen  Charakter  des  Kults,  den  Laodameia 
mit  dem  Bilde  des  Protesilaos  treibt,  vgl.  M.  Mayer,  Hermes  20  (1885), 
p.  114.  123  sqq.,  und  Maaß  p.  X  sq.  —  S.  auch  Türks  Artikel  ,  Pro- 
tesilaos" in  Roschers  Lexikon. 

35* 


548  Walter    Anderson, 

Nachtrag. 

Seitdem  ich  den  vorliegenden  Aufsatz  abgeschlossen  habe,  sind  mir 
noch  zwei  weitere  Fassungen  des  oben  besprochenen  kaukasischen 
Märchens  zugänglich  geworden,  welche  beide  von  armenischen  Er- 
zählern stammen: 

a.  F.  Macler,  Revue  des  tradit.  popul.  18  (1903),  p.  506—516 
Nr.  1  „Histoire  des  trois  femmes"  (der  armen.  Urtext  ist  von  Arsene 
in  der  Pariser  Zeitschrift  Anahit,  Mai  1902,  p.  107  —  112  veröftentlicht 
worden).  —  Die  Rahmengeschichte  (Befehl  des  Königs  von  Ax-menien 
alle  Weiber  in  seinem  Lande  auszurotten)  stimmt  aufs  genaueste  zur 
tatarischen  Variante;  nicht  ganz  so  gut  die  Erzählung  von  der  untreuen 
Gattin  (letztere  tötet  hier  auf  Verlangen  ihres  Liebhabers  ihren  Gemahl 
und  ihren  fünfzehnjährigen  Sohn,  so  daß  es  dem  Liebhaber  selbst 
schließlich  vor  ihrer  Verworfenheit  graut).  Auch  die  Geschichte,  welche 
der  Vater  des  Ministers  dem  König  erzählt,  stimmt  mit  der  tatarischen 
Variante  überein  :  Einst  diente  er  dem  Vater  des  Königs  als  Anführer 
von  39  anderen  Athleten;  in  37  aufeinanderfolgenden  Nächten  ver- 
schwanden fast  alle  seine  Kameraden  auf  eine  unerklärliche  Weise.  In 
der  nächsten  Nacht  hört  der  Anführer  jemand  an  seine  Tür  pochen; 
er  geht  hinaus,  nachdem  er  zuvor  auf  den  Rat  seiner  Frau  seine  voll- 
ständige Rüstung  angelegt  hat.  Ein  junger  schöner  Reiter  befiehlt 
ihm  zu  folgen;  unterwegs  drückt  der  Athlet  auf  den  Unbekannten  zwei 
Pfeile  ab,  doch  scheint  dieser  seinen  Angriff  kaum  zu  beachten.  Nach 
mehreren  Wochen  kommen  sie  zu  einer  einsamen  Kapelle,  wo  der  Un- 
bekannte absteigt  und  betet.  Sie  reiten  weiter;  es  vergehen  noch 
einige  Wochen,  und  endlich  erreichen  sie  nachts  eine  in  den  Bergen 
gelegene  Höhle.  Der  Unbekannte  begibt  sich  allein  dorthin,  der  Ath- 
let hört  WafFengeräusch  aus  der  Höhle  schallen,  und  nach  mehreren 
Stunden  kommt  der  Unbekannte  leichtverwundet  wieder  hervor,  Sie 
reiten  zur  Kapelle  zurück  und  treten  beide  hinein;  der  Athlet  erblickt 
vor  sich  einen  Sarg  mit  dem  einbalsamierten  Leichnam  eines  Jünglings. 
Der  Unbekannte  entledigt  sich  aller  seiner  Kleider,  und  es  erweist  sich, 
daß  er  in  Wirklichkeit  ein  junges  Mädchen  ist.  Das  Mädchen  ver- 
langt vom  Athleten,  er  solle  es  enthaupten  und  in  dem  Sarge  des 
jungen  Mannes  bestatten;  hierauf  erzählt  sie  ihm  ihre  Geschichte. 
„Le  cadavre  etait  celui  d'un  jeune  prince,  fils  d'un  roi,  qui  avait  ete 
fiance  ä  la  jeune  fiUe,  sept  ans  auparavant.  La  jeune  hero'ine  etait  aussi 
la  fille  d'un  roi  eloigne,  et  les  habitants  de  la  caverne  etaient  les  sept 
fils  d'un  autre  roi  avec  leurs  serviteurs.  II  y  avait  sept  ans  que  la 
jeune  princesse  etait  fiancee,  lorsque  l'aine  des  sept  freres  voulut  l'e- 
pouser.  De  lä  une  guerre  eclata  entre  les  trois  royaumes  ....  Enfin 
les  deux  rois  allies  finissent  par  rester  victorieux;  mais  le  fiance  de  la 
jeune  fille  meurt.  Celle-ci,  veuve  avant  d'avoir  ete  epouse,  jure  de  ne 
pas  se  marier.  Le  roi,  pere  des  sept  fils,  est  chasse  de  son  tröne,  et 
les  sept  freres  s'en  vont  avec  leurs  serviteurs  dans  un  pays  eloigne. 
C'etait  cette  caverne  qui  leiir  servait  de  residence,  et  ils  vivaient  de 
brigandage.  Apres  avoir  jure  de  ne  pas  se  marier  . .  .  la  jeune  princesse  se 
jura  aussi  ä  elle-meme  de  venger  son  fiance.  Elle  s'habilla  en  homme  .  .  . 
et  se  mit  ä  courir  le  monde  ä  la  recherche  des  sept  freres."  Die 
Prinzessin  wird  vom  Athleten  getötet  und  bestattet.  —  Der  König  von 
Armenien  zieht  seinen    barbarischen  Befehl  gegen  die  Weiber  zurück. 

b.  F.  Mac  1er,  Contes  armeniens,  Paris  1905,  p.  114—119  Nr.  15 
„Le  bijoutier  et  sa  femme"  (armen.  Urtext  bei  Karekin  Servants- 
tiants,  Hamov  Hodov,  Konstantinop.  1884,  p.  213).  —  Die  Rahmen- 
erzählung und  die  Geschichte  der  untreuen  Gattin  stimmen  vollständig 


Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite.  549 

mit  der  tatarischen  Fassun»  überein.  Etwas  abweichend  ist  der  Ein- 
gang der  Geschichte,  welche  vom  Vater  des  Veziers  erzählt  wird:  Einst 
verirrte  er  sich  auf  einer  Jagd  und  begegnete  dabei  einem  unbekann- 
ten Reiter,  welchen  er  angritf,  doch  ohne  Erfolg :  der  Reiter  zog  ihn 
auf  sein  Pferd  hinüber  und  band  ihn  vorn  an  seinem  eigenen  Sattel 
fest.  Darauf  reitet  er  mit  ihm  auf  einen  Friedhof,  wo  sich  zwei  offene 
Gräber  befinden.  In  der  Nähe  des  Friedhofs  befindet  sich  ein  Palast; 
der  Unbekannte  ersteigt  dessen  Mauer  und  wirft  nach  einiger  Zeit  von 
oben  einen  enthaupteten  Leichnam  herab,  welchen  er  hierauf  zum  Friedhof 
schleift  und  hier  mit  Hilfe  seines  Gefangenen  in  dem  einen  der  beiden 
Gräber  verscharrt.  Dann  erzählt  er  dem  Vater  des  Veziers  seine  eigene 
Geschichte:  „Je  suis  une  femme.  J'aimais  beaucoup  mon  mari.  Mais 
ce  mauvais  prince  m'avait  remarquee:  il  tua  mon  mari,  espe'rant  que 
je  l'epouserais.  J'ai  jure  sur  l'amour  de  mon  mari  de  me  venger  en 
tuant  se  miserable  et  en  ensevelissant  sa  tete  sous  les  pieds  de  mon 
mari,  puis  de  me  tuer  moi-meme  pour  etre  enterree  aupres  de  mon 
epoux.  Pour  l'amour  de  Dieu,  enterre-moi  ici  et  raconte  k  tout  le 
monde  ce  que  tu  viens  d'entendre".     Hierauf  tötet  sie  sich  seibat.  — 

Der  Herausgeber  des  ersten  armenischen  Märchens,  Arsene  (Pseu- 
donym?), erklärt  in  einer  besonderen  Anmerkung  (R.  d.tr.  pop.  18,  p.  516): 
,Ce  conte  se  retrouve  dans  la  litterature  turque.  On  l'a  assimile  a  un 
evenement  qui  s'est  passe  du  temps  du  sultan  Mahmoud  II.  Mais  il 
est  facile  de  voir  qu'il  n'est  pas  de  date  aussi  recente  et  qu'il  ne  porte 
nullement  le  cachet  musulman  .  .  .  Comme  j'ai  entendu  conter  litte- 
ralement  par  des  paysans  armeniens  l'^histoire  des  trois  femmes"  dans 
la  plaine  de  Tsiraph  etc.  (es  werden  verschiedene  Orte  Armeniens  auf- 
gezählt) .  .  .  je  n'ai  aucun  doute  sur  l'origine  armenienne  de  ce  conte". 
Durch  den  Inhalt  dieser  Anmerkung  angeregt,  wandte  ich  mich  erst 
an  Herrn  Prof.  F.  Macler,  dann  an  die  bekannten  Folkloristen  Herrn 
Emm.  Cosquin  und  Herrn  Prof.  V.  Chauvin,  doch  erinnerte  sich  keiner 
von  ihnen  Aveder  einer  türkischen,  noch  einer  weiteren  kaukasischen 
Variante  des  betreiFenden  Märchens  begegnet  zu  sein. 

Für  eine  wirkliche  Rekonstruktion  der  Urform  unseres  Märchens 
genügen  zwar  die  uns  jetzt  bekannten  vier  Varianten  (tat.  tschetsch. 
arm.  a.  b.)  fast  ebenso  wenig  wie  die  zwei  schon  früher  behandelten, 
doch  lassen  sich  einige  Vermutungen  über  diese  Urform  schon  jetzt  aufstel- 
len. So  gehörte  zu  derselben  offenbar  die  Rahmenerzählung  (tat.  arm.  a  b.), 
sowie  wahrscheinlicherweise  auch  die  Geschichte  der  untreuen  Gattin 
(tat.  arm.  b.,  vgl.  auch  a.)  und  die  Erzählung  vom  Abenteuer  des 
Vaters  des  Veziers  und  von  seinen  ermordeten  Kameraden  (vgl.  bes. 
tat.  arm.  a.).  Die  Rächerin  des  Toten  war  in  der  Urform  wohl  nicht 
seine  Schwester  (tschetsch.),  sondern  seine  Braut  (tat.  arm.  a.)  oder 
Gattin  (arm.  b..  vgl.  Apul.  Plut.  Nibel.) ;  das  Motiv  des  Mordes  wird 
ursprünglich  die  Liebe  des  Mörders  zur  Erwählten  seines  Opfers  ge- 
wesen sein  (tat.  arm.  a.  b.,  vgl.  Apul.  Plut.). 

Oben  haben  wir  bemerkt,  daß  eine  genetische  Verwandtschaft  des 
kaukasischen  Märchens  mit  den  beiden  antiken  Erzählungen  sich  nur 
dann  irgend  wahrscheinlich  machen  ließe,  wenn  man  beweisen  könnte, 
daß  die  tatarische  Variante  die  Urform  desselben  besser  wiedergebe, 
als  die  tschetschenische.  DieseBedingung  scheint  sich  nun 
in  der  Tat  erfüllen  zu  wollen,  denn  die  beiden  neuen  arme- 
nischen Varianten  schließen  sich  durchaus  an  die  tatarische  an,  und 
wenn  wir  den  Worten  des  Herrn  Arsene  Glauben  schenken  wollen, 
so  können  wir  dasselbe  auch  von  den  übrigen  Varianten  annehmen, 
welche  er  an  den  verschiedenen  von  ihm  aufgezählten  Orten  Armeniens 
gehört  hat. 

Kasan.  Walter  Anderson. 


XXVI. 

Glossen  aus  Cassius  Felix. 

In  seinem  Werke  „der  Vokalisraus  des  Vulgärlateins" 
(Leipzig  1866 ff.)  sagt  Scliuchardt  in  der  Einleitung  S.  4:  „die 
Benützung  der  alten  Glossarien  ist  äußerst  erschwert,  indem 
mittelalterliche  und  neuere  Konjekturenschmiede  die  Dunkel- 
heit altertümlicher,  gemeiner  und  barbarischer  Wörter,  welche 
die  alten  Glossatoren  zu  lichten  suchten,  oft  bis  zur  ündurch- 
dringlichkeit  verdichtet  haben".  Wer  sich  je  einmal  ein- 
gehender mit  Glossen  beschäftigte,  wird  auch  heute  noch  trotz 
der  glänzenden  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete^),  wie  sie  beson- 
ders G.  Götz  lieferte,  dieser  Ansicht  beipflichten  müssen.  Die 
Behauptung  ist  nicht  zu  gewagt,  daß  unter  den  gegebenen 
Verhältnissen  Glossenkritik,  das  Wort  im  weitesten  Sinne 
genommen,  mit  zu  den  schwierigsten  Problemen  der  Philologie 
gehört.  Gerade  aber  dieser  Umstand  verleiht  den  Unter- 
suchungen auf  diesem  weiten,  fast  alle  philologischen  Diszi- 
plinen umfassenden  Felde  einen  gewissen  Reiz  und  sichert 
eine  —  wohlwollende  Beurteilung. 

Wollen  wir  Ordnung  in  den  „Wust  der  Glossen"  bringen, 
so  ist  der  erste  und  beste  Weg  hiezu,  die  Quellen  der  Glossa- 
rien aufzusuchen  und  ihnen  nachzuspüren.  Vielfach  ist  dies 
geschehen,  noch  lange  aber  nicht  hinreichend,  besonders  noch 
nicht  bei  denjenigen  antiken  Autoren,  deren  Studium  immer  noch 
auf  einen  kleinen  Kreis  beschränkt  ist:  bei  den  medizinischen 


1)  Vgl.  u.  a.  P.  Weßner,  Bericht  über  die  Erscheinunoren  auf 
dem  Gebiete  der  lat.  Grammatiker  mit  Einschluß  der  Scholienliteratur 
und  Glossographie  für  1901 — 1907  in  Bursian's  Jahresber.  über  die  Fort- 
achritte d.  kl.  Altertumswiss.  Jahrg.  36  Bd.  139  (1908)  S.  195—206. 
Persönlich  fühle  ich  mich  für  manchen  wertvollen  Rat  Hr.  Dr.  W. 
B  a  n  n  i  e  r  ,  Mitarbeiter  am  Thes.  ling.  Lat.,   zum  Danke   verpflichtet. 


Otto    Probst,    Glossen  aus  Cassius  Felix.  55 1 

und  naturwissenschaftlichen.  Sehr  erschwert  allerdings  wird 
die  Arbeit,  weil  wir  zu  einer  ganzen  IJeihe  dieser  Fachschrift- 
steller keine  genügenden  Ausgaben  haben.  Für  Cassius 
Felix,  dessen  Fortleben  in  den  Glossen  im  nachstehenden 
gezeigt  wird,  trifft  dieser  Vorwurf  nicht  zu.  Daß  die  Schrift 
dieses  afrikanischen  Arztes  mit  ihren  zahlreichen  Erklärungen 
griechischer  Bezeichnungen  für  die  Glossatoren  eine  reiche 
Fundgrube  abgab,  war  wohl  von  vornherein  anzunehmen;  doch 
konnte  V.  Rose,  der  Herausgeber  der  „medicina"  des  C.  F., 
hiefür  keine  Belege  erbringen,  weil  die  Sammlung  der  Glossen 
erst  viele  Jahre  nach  Erscheinen  der  Rose'schen  Ausgabe  (1879) 
bequem  zugänglich  gemacht  wurde. 

Ganz  besonders  auffällig  ist  das  Abhängigkeitsverhältnis 
eines  Teiles  der  Hermenenmata  cod.  Vatic.  1260  saec.  X  (im 
Corp.  Gloss.  ed.  Götz  vol.  IlT  p.  549  sqq.)  von  dem  Werkchen 
des  C.  F.  Diese  vatikanische  Handschrift  enthält  unter  an- 
derem (vgl,  Götz  1.  c.  p.  XXXV)  eine  Reihe  von  medizinisch- 
botanischen Glossen  und  in  einem  Abschnitte  (bei  Götz  1.  c. 
pars  IV  p.  596  sqq.)  eine  ganze  Anzahl  von  Interpretamenten 
zu  medizinischen  Termini,  Krankheitsnamen  u.  ä.,  die  wegen 
ihrer  manchmal  geradezu  verblüffenden  Aehnlichkeit  mit  dem 
Texte  des  C.  F.  nur  aus  diesem  stammen  können.  Zwei  aus- 
führlicher behandelte  Beispiele  mögen  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme  erhärten! 

Bei  C.  F.  liest  man  cap.  14  p.  21,6:  labia  hiantia  sive 
crispata  chile  caterrogota  (caterrogata  codd.)  vocant  und  in 
dem  angeführten  Glossar  (Gloss.  Hl)  p,  602,35  laviancia'ter 
rogiata;  hiezu  p.  599,  12  cilica  terrogi.  Es  folgt  dann  cata 
elenfanciosus  ohne  Erklärung.  Natürlich  gehört  cata  noch  zu 
terrogi [c]ata.  Ohne  weiteres  ist  klar,  daß  die  eigentlich  zu- 
sammengehörigen Glossen  von  einem  gedankenlosen  Glossator 
getrennt  wurden  und  so  die  reinste  Proteusgestalt  annahmen. 
„Falsches  Trennen  und  Zusammenschreiben  der  Wörter  ist 
ein  charakteristisches  Merkmal  der  Glossen. "  Aufgelöst  lauten 
sie  einfach:  „labia  hiantia  •  <(ca)terrogota  (sc.  chile)"  und  „chile. 
caterrogota"  (=  X^-^^  xaTeppw^ota). 

Oder  wenn  Gloss.  III  p.  603,  36  lautet :  „officidata  aqua 
cum  naturali  colore",   so  ist  an  diesem  Rätselwort  „officidata* 


552  Otto   Probst, 

jede  Silbe  ein  Rätsel.  Diese  Glosse  gehört  eben  zu  jenen 
vielen,  deren  „genauen  Wortlaut  wir  nur  dann  feststellen  kön- 
nen, wenn  wir  ihre  Quellen  kennen".  Mit  Konjekturen  und 
Emendationen  läßt  sich  so  einem  Worte  nicht  beikommen. 
Der  größten  einer  unter  den  Philologen,  Buecheler,  machte 
den  Vorschlag  „oxidiata"  zu  schreiben  —  gewiß  eine  beach- 
tenswerte Verbesserung,  aber  durch  die  Konstatierung  der 
Quelle,  aus  der  die  Glosse  stammt,  hinfällig.  Aphäresen, 
VerSchreibungen,  Vokaländerungen  ^)  u.  dergl.  verleihen  eben 
dem  bekanntesten  Worte  recht  häufig  eine  kaum  wieder  er- 
kennbare Gestalt  und  Form.  Wer  glaubte,  daß  „officidata" 
nichts  anderes  ist  als  <(aut)>ofye  idata  (==  adtocpuf]  vdxxa)? 
Beleg  C.  F.  cap.  46  p.  120,11:  utendum  etiam  aquis  calidis 
naturali  calore  plantatis,  nam  Graeci  autofye  idata  (ä  offies 
data  cod.  p)  vocant.  Ist  aber  die  Quelle  entdeckt,  so  korri- 
gieren sich  gewisse  Mängel  in  der  üeberlieferung  der  Glossen 
von  selbst.  So  wird  auch  bei  dem  gewählten  Beispiele  das  an 
sich  unverfängliche  Interpretament  „cum  naturali  colore"  rich- 
tiggestellt durch  den  bei  C.  F.  gesicherten  Text,  der  zutref- 
fender „calore"  wiedergibt. 

Im  folgenden  werden  die  einzelnen  Parallelstellen  angegeben  ohne 
weitere  Erklärungen;  wo  eine  Erläuterung  unumgänglich  schien,  ist  sie 
auf  das  Notwendigste  beschränkt.  Ausdrücklich  betont  sei ,  daß  es 
nicht  in  der  Absicht  dieser  Arbeit  liegen  kann,  das  Handschriftenver- 
hältnis zwischen  CF  und  den  einschlägigen  Glossen  darzutun.  Dazu 
müßten  vor  allem  die  Beziehunj^ren  der  CF-Codices  unter  sich  —  Rose 
kannte  nur  drei,  über  den  vierten,  einen  cod.  Vatic,  berichtet  kurz 
Köhler  in  „Handschriften  röm.  Mediziner"  (Hermes  18  S.  392  ff.)  — 
gründlich  untersucht  werden.  In  vereinzelten  Fällen  jedoch  läßt  sich 
eine  Berücksichtigung  der  handschriftlichen  Varianten  nicht  umgehen, 
weil  es  des  öfteren  nicht  unwahrscheinlich  scheint,  daß  der  Glossator 
und  die  eine  oder  andere  der  CF-handschriften'),  besonders  der  S.  Gal- 
lenercodex {g;  saec.  XI)  den  gleichen  Archetypus  zur  Vorlage  hatten. 
Ob  diese  Annahme  zu  einem  beweiskräftigen  Resultate  führt,  wird  eine 
spätere  Untersuchung  zeigen. 


^)  Vertauschungen  und  Verwechslungen  von  c  und  t,  u  und  b,  i 
und  e  etc.  sind  bekanntlich  in  allen,  besonders  aber  in  Glossenhand- 
schriften so  häufig,  daß  eine  regelmäßige  Schreibung  zu  den  Ausnahmen 
gehört.  Für  sprachliche  Schlüsse  ist  daher  größte  Vorsicht  bei  Ausbeu- 
tung der  Glossen  nötig;  denn  „das  Lautliche  derjenigen  Glossen,  welche 
lat.  Wörter  in  die  fremde  Sprache  oder  umgekehrt  übersetzen,  ist  nur 
zufälliger  Nebenumstand "  (Schuchardt  a.  a.  0.). 

^)  Zur  Abkürzung  der  codd.  siehe  Roses  Ausgabe  p.  VIII. 


Glossen  aus  Cassius  Felix. 


553 


Gloss.  III 
p.   596,  10  a]  rania:    ersipela 
minor  milio  sinülis  in  ciite.  cf.  p. 
600,23  erpinas:  aranea*). 


p.  596,  11  abile  (habile  Götz): 
pletoricum  cf.  p.  604,  24  pletorum  : 
corpus  suci  planus  (!) 


p.  597,  6  acoras :  icar  ^)  (Ixwp 
Götz)  cf.  p.  598,  35  <  a)  coras :  ti- 
neas  capitis. 

p.  597,  10  aqua  timentis:  ydro- 
pici. 

p.  597,13  attonia^):  debilitas 
visicae,  quae  urinam  continere  non 
potest. 

p.  597,  15  alfus  melenis:  ma- 
culae  nigrae. 

p.  597,  18  aederion  (cxSöpiov? 
Götz;  atherion  =  atheroma  Bue- 
eheler)  -.  caracteras  cf.  p.  598,  28 
caracteras.  macularum  in  vultu 
mulierum  ostensum  et  cf.  p.  605,  29 
Stigmata:  aederion. 

p.  597,  19  apostema:  collectio 
vel  vulneratio  ex  malis  humoribus. 

p.  597,  20  <(di)aquilon  fasci- 
mentum. 

p.  597,  22  agrocordanas :  ver- 
rucas. 


Cass.  Fei. 

cap.  25  p.  42,  5  sqq.  araneas 
Graeci  a  serpenrlo  qnod  herpin  (her- 
penas  g)  dicunt  herpetas  dicunt 
....  est  et  aliud  genus  herpetis 
(herpentis  gp)  .  .  .  si  quidem  in 
superficie  cutis  pustulas  minutas  mi- 
lio siiniles  ostendit,  quam  Latini 
araneam  verrinam  (ranea  vermia 
c)  vocant.  in  curationibus  autera 
similiter  ut  erysipelata  superius  cu- 
rabis. 

cap.  88  p.  84,  16  et  plethoricum 
corpus  habuerint  aegrotantes,  quod 
nos  latino  sermone  abundahüe  (ha- 
bile gp)  dicimus  sive  multitudine 
suci  plenum. 

cap.  2  p.  10,  6  tineas  capitis 
Graeci  achoras  vocaverunt.  emer- 
gunt  frequenter  in  corio  capitis  eqs. 

cap.  57  p.  166,  9  bydrofobici 
.  .  .  i.  e.  aquam  timentes. 

cap.  46  p.  117, 1  si  vero  atonia 
fuerit  vesicae  i.  e.  debilitas,  subito 
urinae  egerendae  delectationem  pa- 
tiuntur. 

cap.  9  p.  16,  7  maculas  nigras 
Graeci  alpbus  melaenas  vocant. 

cap.  13  p.  20,  15  Stigmata  di- 
cuntur  characteres  nominati,  quos 
militantium  manus  vel  feminarum'') 
Maurarum  vultiis  ostendit.  tollun- 
tur  vero  periculose  medicamento 
discoriatorio  quod  Graeci  ecdorion 
(sie  g)  vopant. 

cap.  18  p.  25,  20  collectiones 
Graeci  apostemata  vocant. 

cf.  cap.  38  p.  85, 11  cerotarium 
ex  diaquilon  (sie  g)  confectum. 

cap.  12  p.  19,  17  secundum 
Graecos  tres  differentias  habere 
Verrucae  ostenduntur,  nam  dicun- 
tur  acrochordones  (acrocordanas 
9)--  ■ 


*)  Ueber  das  wiederholte  Vorkommen  ein  und  derselben  Glosse,  oft 
in  verschiedener  Schreibung,  in  ein  und  demselben  Glossar,  vgl.  P  r  o  - 
kowskij.  Zum  Thes  gloss.  emend.  von  G.  Götz  im  Archiv  f.  lat. 
Lexicogr.  15  (1908)  S.  125. 

^)  icar  ist  natürlich  hier  nichts  anderes  als  i(n)  cor(io);  dagegen 
bleibt  p.  601,  38  icar:  tibel  {cf.  p.  606,  3-2)  nach  wie  vor  rätselhaft. 
Oder  sollte  etwa  „in  corio  tubercula"  zu  lesen  sein? 

*)  cf.  Carl  Theander,  AA  glossarum  commentarioli  (üpsaliae 
1907)  p    31  und  CF.  cap.  42  p.  102,  21. 

')  Vgl.  hiezu  Tertull.  de  cult.  fem.  6. 


554 


Otto    Probst, 


p.  597,  25  asmaticus:  calor 
pectoris  vel  suspiriosus  cf.  p.  605, 26 
suspiriosi  qui  cum  labore  alenant 
(=  anhelant ;  hanelant  a). 

p.  597,  26  agresian.  i.  tempe- 
rantia  temporis. 


p.  597,29  antracas:  carbuneu- 
lus. 

p.  597,  30  alfus  leucus  :  macu- 
las  albas. 

p.  597,  33  anadrom :  matricia 
ascensio. 


p.  597,  34  acinestafile:  garga- 
rion  cf.  p.  600,  26  epiclosis :  uva 
et  p.  601,  32  gargarion:  epiclosis  *). 


p.  597,  36  apoferasis  (apofere- 
sis  a ;  ditocpöpyjatg  Götz) :  secundatio 
(z=  secunda  detractrio   sanguinis). 

p.  597,  38  anhelitum  :  qui  de 
aliena  laborant.  cf.  p.  603,  29  or- 
totnpnia:  anhelitum. 

p.  597,  45  alumen  lipari :  alu- 


cap.  41  p.  93,  20  asmatici  di- 
cuntur  latino  sermone  anhelosi  vel 
suspiriosi. 

cap.  6  p.  13, 12  cantabries  emer- 
git  frequenter  ex  .  .  .  intemperan- 
tia  corporis  quam  Graeci  acrasian 
vocant. 

cap.  22  p.  37,  15  carbunculi 
quos  Graeci  anthraces  vocant. 

cap.  8  p.  15,  4  maculas  albas 
Graeci  alphus  leucas  vocaverunt. 

cap.  77  p.  188,  18  ad  matricis 
adscensum  (adscensü  c)  .  .  .  quem 
Graeci  anadromen  (anadroiii  p)  di- 
cunt. 

cap.  35  p.  75,  9  si  ttva  fuerit 
rotunda  in  similitudinem  acinae, 
stafyle  (stafile  gp)  a  Graecis  apel- 
latur,  quam  nos  uvam  dicimus  .... 
identidem  si  grossa  vel  vastior  fu- 
cerit  .  .  .  gargareon  appellatur. 

cap.  36  p.  79,  7  ut  secundam 
detractionem  facias,  quam  epafe- 
resin  (sie  g,  apoforasim  c,  epafa- 
rasin  p)  vocant.  cf.  cap.  24  p.  40, 15. 

cap.  43  p.  106,  5  spleneticis  et 
orthopnoicis  i.  e.  is  (his  p)  qui  ab 
splene  anhelitum  patiuntur. 

cap.  48  p.  125,  14  aluminis  li- 


8)  Vgl.  0.  Probst,  'Eu'.yXcüoais  in  Glotta  2  (1909)  S.  112.  Auf 
Niedermanns  in  der  gleichen  Zeitschrift  S.  169  erschienene  Ab- 
lehnung meines  Vorschlages  in  der  Glosse  GGL  III  597,2  anaprosis  .i. 
tortionis  vel  rugitus  inter  cutem  et  ipiclo  letzteres  Wort  als  kni.- 
YXü)<^aai3a)>  zu  lesen,  habe'ich  kurz  folgendes  zu  erwidern:  das  im  gleichen 
Glossar  öfter  mit  uva  interpretierte  epiclo  gab  und  giebt  mir  das  Recht 
meinen  Vorschlag  aufrecht  zu  erhalten.  Daran  ändert  auch  nichts, 
daß  Niedermann  der  Ansicht  ist,  tortionis  „Krämpfe"  werde  speziell 
vom  Grimmen  gesagt  und  rugitus  bedeute  „Knurren,  Kollern  im  Leibe". 
Ich  habe  ja  diese  Bedeutung  nie  bestritten.  Aber  daß  Mediziner  diese 
Wörter  auch  anders  gebrauchten,  dafür  zwei  Belege:  Oribas.  syn.  5,  15 
(ed.  Bussemaker-Daremberg  tom.  VI  p.  54)  de  fragoso  rugitum  faucium 
eqs.  und  Hippocr.  progn.  11  (ed.  Kühlewein,  Hermes  25)  qui  ex  prae- 
cordiis  sunt  dohres  et  tortiones  oris?  Wenn  Niedermann  ferner  meint, 
ich  hätte  die  Glosse  GGL  III  600,  38  epido:  inter  ventrem  et  umbilicum 
übersehen,  so  trifft  das  nicht  zu.  Denn  ich  habe  für  dieses  epido  eine 
Erklärung  schon  längst  gefunden,  nämlich  epido  ^  et  peritonaeon. 
Als  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Auflösung  führe  ich  die  Leseart 
des  cod.  c  zu  CF  cap  51  p.  131,7  an,  woselbst  et  pitonea  überliefert 
ist.  Und  hätte  mich  die  Erwägung,  daß  ipiclo  besser  mit  epiclo  als 
mit  epido  —  paläographisch  ist  natürlich  beides  möglich  —  in  Zusam- 
menhang zu  bringen  ist,  nicht  zu  meinem  Vorschlage  gebracht,  so 
hätte  ich  den  schönsten  Beleg  für  die  Verbindung  inter  cutem  et  epido 
gefunden  gehabt.  Was  Niedermann  sonst  noch  anführt,  ist  zu  proble- 
matisch   als   daß    darauf  hier  näher  eingegangen  werden  könnte. 


Glossen  aus  Cassius  Felix. 


men  liquidns  cf.  p.  602,  43  lipari : 
alumen  liquidus. 

p.  598,  23  colfus»):  sinus  cf. 
p.  605,  25  sinus :  ulcus  [et  p,  6U6,  47 
ulcus :  petigines  altitudines  pesti- 
feras]. 


p.  598,  28  ciradas:  glandiolae 
quae  circa  collum  et  in  inguinibus 
nasci  solent. 

p.  598, 29  cacoetis :  parotidas  *") 
aliae  curabiles. 


p.  598, 32  cacoquemia:  fialtis") 
[cf.  p.  601,  8  fialtis,  quae  in  cibo 
vexantur  pro  indigestione  vel  cru- 
datione  ciborum.  i.  incortione]. 

p.  598,  42  colicus :  dolor  inte- 
stini  maioris. 

p.  599,  5  croniotis :  morbus  re- 
gius  sine  febre  cf.  p  601,  35")  et 
p.  603,6  inorbo  regium:  ictericum 
et  p.  603,  35  oxitis :  ictoricus  cum 
febre. 


p.  599,  35  diabitis  :  acceptum 
potum  qui  atatim  per  urinam  reiec- 
tant. 

p.  599,  37  devilitatio :  capillo- 
rum  defluxio  vel  aliis  membris. 

p.  599,43  diatoncilidanon:  me- 
dicamen  ex  hirundinibus  factum. 


pari  i.  e.  liquidi  -^  singulas  et  se- 
mis. 

cap.  19  p.  28,9  pendigines  sive 
sinus  üraeci  colpus  (colfus  g,  col- 
foajj)  vocaverunt.  contingunt  fre- 
quenter  quotiens  uleera  vel  aposte- 
mata  .  .  .  mala  positione  sanata 
(fuerint). 

cf.  cap.  26  p.  43,  6. 


cap.  17  p,  24,  6  parotides  .  .  . 
eveniunt  frequenter  in  aegritudini- 
bus  malignis  quas  Graeci  cacoe- 
thes  appellant. 

cf.  cap.  42  p.  100,  8  cacoqui- 
miam  (g). 


cap.  51  p.  130,  19  est  autem 
colica  passio  tumor  cum  ingenti 
dolore  totius  ipaius  intestini. 

cap.  49  p.  128,  14  icterici  di- 
cuntur  morbo  regio  laborantes  .  .  . 
et  sunt  ictericorum  distantiae  duae, 
una  cum  febricula  et  appellatur  a 
Graecis  oxites  {sie  c)  i.  e.  acuta, 
altera  sine  febre  diuturna,  quae 
appellatur  cbronites  (croniotes  p). 

cap.  46  p.  116,  10  diabetes,  si- 
quidem  mox  potione  accepta  per 
urinales  vias  .  .  .  descendat.  (reiec- 
tatio  ist  häufig  bei  CF.) 

cap.  4  p.  11,21  defluxio  capil- 
lorum  contingit  ex  debilitate  (de- 
bilitatione  c)  corporis. 

cap.  37  p.  82,  20  inlinimentum, 
quod  appellant  dia  ton  chelidonon 
i.  e.  ex  hirundinibus. 


®)  Vgl.  zur  Schreibung  „colfus"  Gröber,  Archiv  f.  lat.  Lexicogr. 
7  (1902)  S.  522. 

1»)  Vgl.  C.  Theander  a.  a.  0.  S.  55. 

")  Wo  mag  diese  Stelle  wohl  her  sein?  Vergleicht  man  Oribas. 
syn.  2  (ed.  Bussemaker-Daremberg  tom.  VI  p.  205)  oder  Cael.  Aur. 
chron.  1,  3,  54,  so  ist  nirgends  die  Aehnlichkeit  so  groß,  daß  die  Glosse 
aus  den  genannten  Autoren  sein  könnte  oder  müßte.  Ob  CF  nicht 
auch  ein  Kapitel  über  den  „IcfiäXxTjs"  (Alpdrücken)  geschrieben  hatte? 
An  etlichen  Stellen  macht  es  den  Eindruck,  als  ob  vom  Texte  des  afri- 
kanischen Arztes  manches  verloren  ging.  Einen  strikten  Beweis  für 
diese  Vermutung  kann  ich  allerdings  vorerst  noch  nicht  erbringen ;  aber 
vielleicht  gelingt  es  mir  doch  noch.  Man  vergl.  nur  cap.  3  p  11, 
cap.  69  und  70  p.  168,  die  im  Verhältnis  zu  den  übrigen  durchaus  den 
Verdacht  der  ünvollständigkeit  rechtfertigen. 

*^)  Wegen  der  in  dieser  Glosse  vorkommenden  Schreibung  erugino- 
sus  =  auruginosus  vgl.  Niedermann,  Contributions  a  la  critique 
et  ä  l'explication  des  gloses  latines  (Neuchätel  1905)  p.  25. 


556 


Otto    Probst, 


p.  599,  46    dipsnia   ortopniae 
{siehe  oben  untei-  anhelitum). 

p.  599, 48  deseruntas :  linuntas. 


p.  599,53  diacrisma:  illinimen- 
tum, 

p.  600,  2  deacarto  medicam. 

p.  600,  6    edropicus:    inflatus 
edropicorum  cauaae  sunt  III  eqs. 
p.  600,11  edram:  podicem. 


p.  600,12  evisnomem:  prori- 
ginem. 

p.  600,  13  elmingus:  lumbricus 
longus  in  homine. 

p.  600,  18  emotoicus:  qui  san- 
guinem  reici[un]t. 

p.  600,  19  enema  .i.  eiectio. 

p.  600,  22  epelemsia:  subita 
insensatio  et  cadens  cum  spuma- 
tione  et  rapto  membrorum. 

p.  600,  27  enprostotonus :  men- 
tum  qui  pectus  habet  infixum. 

p.  600,28  eotropas:  ragadas. 


p.  600,  31  empiema  encatalem- 


p.  600,  33  ersipela:  ignisacer 
[cf.  p.  601,43  ignis  acer:  epulatio'^) 
pustularuni  circa  cutem]. 

p.  600,  49  egilopas :  fistola  se- 
cus  oculun  nata  cf.  p.  606,  23 
(lis)tolas  .i.  aegilopas  ei  p.  598,  21 
cademopie:  fistula  et  p.  605,  5  si- 
ringias:  cademopia. 

p.  601, 15  fitiriasis:  cantabriem. 


cap.  41  p.  94,  1  dypsnia  a  Grae- 
cis  dicitur  i.  e.  difficultas  respira- 
tionis  et  orthopnia  aliter  dicitur. 

cap.  45  p.  113,  11  calculosi  quos 
lithiontas  vocant  et  minctus  diffi- 
cultate  laborantibus,  quos  dysurun- 
tas  vocant. 

cap.  35  p.  76,  21  diachrisma 
.  .  .  i.  e.  inlinimentum.  cap.  37 
p.  82.  20. 

cap.  22  p.  38,  14  dia  cbartu 
(diacartu  g)  medicamentura. 

cf.  cap.  76. 

cap.  74  p.  178. 5  in  sessu,  quem 
Graeci  edran  (edram  p)  vocant, 
diversa  podicis  vitia  efficinntur. 

cap.  16  p.  23,  2  pruriginem 
omnem  Graeci  cnesmonen  vocant. 

cap.  72  p.  172,  17  lumbrici 
quos  Graeci  elminthas  dicunt. 

cap.  39  p.  85,  17  emoptyicos 
(emotoicos  p)  Latini  sanguinem 
spuentes  appellant  cf.  ib.  p.  86,  2. 

cap.  51  p.  132,  25  enema  i.  e. 
iniectio. 

cap.  71  p.  168,  16  est  autem 
epilepsia  (epilensia  cp)  subitus  cor- 
poris casus  cum  spumatione  et 
raptu  membrorum  efFectus. 

cap.  28  p.  84,  2  emprosthoto- 
no8  .  .  .  ut  etiam  mentum  fixum 
pectori  videatur. 

cap  74  p.  179,  1  ad  condylo- 
mata  et  ragadas  ,  ,  .,  quas  Graeci 

ectropas  (hec  tropas  c,  ecpas  p)  vo- 
cant. 

cap.  21  p.  32,  20  empyemata 
dicuntur  collectiones  sive  aposte- 
mata  occulta  atque  visu  carentia 
vel  absconsa  .  .  . :  nam  Graeci  en 
catacalypsi  (en  catalypsin  gp)  vo- 
cant. 

cap.  24  p  40,  6  ignis  sacer 
(acer  g)  .  .  .  a.  Graecis  erysipelas 
(erisipilas  codd.)  appellatiir. 

cap.  20  p.  32,  11  ad  universas 
fistulas  vel  ante  oculum  aegilopas 
(egilopas  cp).  cap.  20  p.  30,6  fistu- 
las Graeci  syringas  appellant. 

cap.  6  p.  13,  10  cantabriem 
Graeci  pityriasin  vocant. 

*^)  Vgl.  hiezu  Einar  Löfstedt,    Kritische  Miszellen  in  Eranos  7 
p.  10. 


Glossen  aus  Cassius  Felix. 


557 


p.  601,  21  fitisis  :  ulceratio  pul- 
monum vel  toracis  cf.  p.  H06,  27 
tisica  passio :  vulneratio  pulmonis 
cum  defluxione  corporis. 

p.  601,36  ichinieda:  pernionis 
cf.  p.  604,  7  pernionis:  aiticulo- 
rum  dolor  vel  digitorum. 

p.  602,  14  idima:  iniiatio  in 
facie  aquosa. 


p.  602,  15  ilius:  tumor  vel  im- 
plicatio  sentinarum. 


p.  e02,  16  idrolio:  aqua  cum 
oleo  c/.  p.  602,  21  idrolion:  vinum 
cum  oleo  mixtum. 

p.  602,  31  lienteria  eqs. ;  cf.  p. 
600,  8  elienteria  etc. 

p.  602,  o3  lipidasmin  squamo- 
sa  (=  lipidas:  (scab)iem  squamo- 
8a(m))cf.  p.  605,  34  squamosa  Sca- 
bies: — 

p.  602,  36  liptusmia:  lassitudo. 


p.   602,  38    licinas :    zernas ") 
cf.  p.  607,  6  zernas :  derbitas. 

p.  603,  1  melancolicus  :    inun- 
datio  ni&dinum  fellis. 


p.  603, 11  massuminon:  masti- 
gaturium. 

p.  603,38  ozenas:  mala  habi- 
tudo  in  naribus;  cf.  p.  601,  24  fe- 
tor:  pessimus  odor  et  p.  604,  22 
polipum  ozenas. 

p.  603,  44  oxalmen :  acetum  et 
sal  mixtum. 

p.  604,  3  poliesmus:  pluriraum 
et  habundanter  fluor  sanguinis  cum 
largo  cursu. 


p.  604,4  pissada  .i.  sciada. 


cap.  40  p.  90,  8  est  autem 
pthisica  passio  ulceratio  pulmonis 
et  thoracis  cum  defluxione  corporis. 

cap.  10  p.  18,  3  Latini  pernio- 
nes  .  .  .  Graeci  vero  chimetla  di- 
cunt  eqs. 

cap.  75  p.  179,  11  antiqui  seu 
veteres  medici  dicunt  esse  ideraa, 
quod  nos  aquosam  inflationem  di- 
cimus. 

cap.  51  p.  131,  15  ileos  .  .  . 
molesta  cum  .  .  .  omnium  intesti- 
norum  tumore  distentio  cum  tor- 
tione. 

cap.  54  p.  140,  15  ex  ydrelaeo 
(idroleo  c)  calido  i.  e.  ex  aqua  ca- 
lida  et  oleo  admixto  modico  sale 
cf.  cap.  65  p.  158,  25. 

cap.  48  p.  124,  19. 

cap.  15  p.  21,  17  scabiem 
squamosam  dicimus,  siquidem  cor- 
ticosas  squamulas  in  cute  osten- 
dunt,  quas  Graeci  lepidas  vocant. 

cf.  cap.  21  p.  33,  14  cum  in- 
genti  animi  defectu  quem  lipothy- 
miam  vocant. 

cap.  11  p.  19,  2  impetigines, 
quas  Graeci  lichenas  vocant,  La- 
tini vulgo  zernas  appellant. 

cap.  9  p.  16,  11  ex  melancho- 
lico  (1.  13  melancolicum^j)  humore 
efficiuntur  i.  e.  ex  nigri  fellis  red- 
undantia. 

cap.  32  p.  64,  5  apoflegmatis- 
mum  raasticatoriuni  .  .  .  adhibere, 
quem  Graeci  masomenon  vocant. 

cap.  31  p.  62,  15  polypum  et 
ozenas ,  quas  nos  fetores  narium 
dicimus. 

cap.  20  p.  30,  22  in  aceto  salso 
.  .  .  quod  Graeci  oxalmen  vocant. 

cap.  6  p.  14,  1  si  aetate  iave- 
nes  fuerint  patientes  et  secundum 
naturara  plurimo  sanguine  abunda- 
verint,  quos  Graeci  polyemos  (po- 
lieöis  c)  vocant. 

cap.  53  p.  137,  13  ad  ischiadi- 
cam  et  psiadicam  (ad  aciaticam  et 
psiaticam  c ;  ad  sciada  et  paiada 
index  p). 


1*)  Vgl.  W.  Heraeus,  Archiv  14  (1906)  S.  119. 


558 


Otto    Probst, 


p.    604,  45    ragadas:     diversa 
vitia  ani  maxime  in  sanguinis  flu- 


p.  605.  6  stranguiria  quae  par- 
vas  cum  dolore  per  urinam  guttas 
emittunt. 


p.  605,  13  scotomatice  graece 
girus  dicitur  .  i .  vertigines  nigras 
patiuntur  et  cadunt '"). 

p.  605,  16  sclero  duria(=  scle- 
ro(sin):  duri(ti)ain)  cf.  p.  605,  27 
scirosis:  duritia  sine  dolore. 

p.  605,  18  siadica  eqs. 

p.  605,  22  scerobeta :  tussis  sic- 


p.  605,  40  scuria:  per  quam  in 
totum  denegatur  urina. 

p.  606,  8  scruas:  unde  glando- 
lae  nascLintur. 

p.  606,  16  structio  litargicus. 


p.  606, 17  sincopen:  cardiacus. 


p.  606,  28   terarizos:    dentium 
dolor. 


p.  606,  29  trasin :  peduculuB. 


p.  606,  31  trociscus:  rotulus. 

p.  606,  38  tonotica  (!  sc.  epi- 
thima):  confortatoria  [vel  sitim  tol- 
len dam]. 

p.  606,  41  tarmicum :  sternu- 
tatio  naris. 


cap.  74  p.  178,  6  diversa  po- 
dicis  vitia  .  .  .  ut  sunt  ragades. 
( Wegen  des  Ausdruckes  in  sangui- 
nis fluxum  vgl.  2.  B.  cap.  82  p. 
193,  8). 

cap.  46  p.  115,  15  stranguiria 
i.  e.  urinae  paulatim  per  guttas 
exchisio  (vgl.  cap.  48  p.  122,  12 
rasuras  cum  gutta  sanguinis  emit- 
tunt). 

cap.  71  p.  171,  14  trociscus 
<conveniens^  scotomaticis  i.  e.  qui 
subito  ante  oculos  tenebras  pati- 
untur et  spiritu  inflatis  epilepticis. 

cap.  43  p.  108,  13  ad  duritiam 
splenis  vel  saxietatem,  quamGraeci 
scirrosin  (sclirosin  j))  dicunt. 

cf.  cap.  52  et  53. 

cap.  34  p.  72,  4  tussis  arida 
{sie  c,  sicca  p)  a  Graecis  xerobeches 
appellatur. 

cap.  46  p.  115, 13  ischuria  (scu- 
ria cp)  i.  e.  ex  toto  urinae  absti- 
nentia. 

cap.  26  p.  42,  2. 

cap.  63  p.  156,  12  sternutatio 
spissa  ex  euforbio  vel  struthio  .  ,  . 
excitat  lethargicos. 

cap.  64  p.  157,  3  aliquanti  .  .  . 
hanc  passionem  {sc.  cardiacam)  sjn- 
copen  appellaverunt. 

cap.  32  p.  63,  18  efficiuntur 
dentium  dolores  .  .  .,  ut  etiam  ipsi 
dentes  cavernentur,  maxime  ille 
maiores  vel  molares,  qui  quattuor 
radicibus  fixi  esse  noscuntur,  quos 
Graeci  tetrarizus  {sie  c,  tetrarizos 
p)  vocant. 

cap.  3  p.  11, 14  pediculosa  (pe- 
duculosa  g)  passio  .  .  .  quam  Graeci 

ptbiriasin  (pyasin  g;  ptiriasin  p) 
vocant. 

cap.  32  p.  64,  8  rotulas  finge», 
quas  Graeci  trociscos  vocant. 

cf.  cap.  42  p.  97,  6  epithima 
tonoticon  ...  i.  e.  confortatorium. 

cap.  71  p.  171,6  ptarmico  me- 
dicamento  i.  e.  sternutatorio  nares 
.  .  .  apoflegmatizabis. 

'")  Diese  Glosse  zeigt  deutlich  die  Arbeitsweise  der  Glossatoren; 
denn  das  Interpretament  graece  giriis  dicitur  bezieht  sich  auf  trociscus 
(vgl.  p.  601,30  girus:  circulus  und  den  Beleg  aus  CF  zu  p.  606,  31) 
und  hat  mit  der  Krankheitserklärung  selbst  nichts  zu  tun. 


Glossen  aus  Cassius  Felix.  559 

p.   606,  43    topicis:    localibus  cap.  31  p.  63,8  topicis  medi- 

propriis.  camentis    i.    e.    localibus     proprie 

ipsis  in  locis  uteris. 

p.  607,3  vitriola:  dragantus.  cap.  11    p,  19,10  trociscus  li- 

chenicos  . .  .  i-ecipit  .  . .  chalcanthi, 
lepidos  aeraminis  etc.  {supra  verba 
leg.  'Aev-p"  scripsit  i.  vitriolum!)  '*). 

Mehr  als  ein  weitschweifiger  Kommentar  sprechen  die  in 
Parallele  gesetzten  Beispiele  für  das  Abhängigkeitsverhältnis 
des  behandelten  Glossarteiles  vom  Texte  des  C.  F,  Mit  dieser 
Konstatierung  ist  der  Zweck  der  vorliegenden  Arbeit  erreicht. 
Zum  Schlüsse  sei  nur  noch  bemerkt,  daß  absichtlich 
alle  Stellen  unberücksichtigt  blieben,  für  die  Belege  aus  an- 
deren Medizinern  und  besonders  aus  Isidor  leicht  zu  erbringen 
sind  ^'^).  Z.  B.  ist  die  Quelle  der  Glosse  „chronia  (p.  598,37): 
veteris  causa<(e) "  ein  Excerpt  aus  dem  in  den  Glossen  oft  ver- 
wendeten Cael.  Aur.  (ed.  Daremberg  in  Janus  2  p.  479) :  veteres 
vero  causae,  quae  cronia  graece  dicuntur.  Selbstverständlich 
bleibt  noch  eine  ganze  Reihe  von  Wörtern  bis  auf  weiteres, 
wenn  nicht  für  immer,  unerklärt.  Das  ist  eben  das  Mißliche 
bei  Quellenuntersuchungen  zu  den  Glossen,  daß  der  Suchende 
so  äußerst  selten  zu  einem  vollauf  befriedigenden,  endgültig 
abschließenden  Resultate  kommt  —  at  voluisse  sat  est, 

Bamberg.  Otto  Frohst. 


^*)  Diese  im  Text  sich  findende  Interlinearglosse  ist  für  das  Verhältnis, 
in  dem  die  CF.  und  Glossenhandschriften  stehen,  von  besonderer  Wich- 
tigkeit. 

'')  Zu  den  ganz  wenigen  Stellen,  die  möglicherweise  nicht  aus 
Medizinern  stammen,  möchte  ich  rechnen  p.  604,  14  pranton :  virga 
viralis  (c/".  p.  606,  51  veretrum:  pranton).  „Pranton"  scheint  doch  nichts 
anderes  zu  sein  als  TxapO-evia  oder  Tiap&dvtov :  veretrum,  virgiualia  (was 
der  Abschreiber  virga  viralis  auflöste). 


XXVII. 

Noch  einmal  de  Divinatione. 

Daß  Cicero's  Hauptquellen  in  den  zwei  Büchern  de  divi- 
natione Posidonius,  Clitomachus  und  Pauaetius  gewesen  sind, 
wird  heute  nicht  mehr  in  Zweifel  gezogen. 

Freilich  ist  eine  ganz  andere  Ansicht  von  Hoyer  geäußert 
worden  im  Rh.  Mus.  LIII  pag.  54  ff.  (anno  1896)  doch  werden 
seine  Willkürlichkeiten  kaum  haltbar  erscheinen  nach  meiner 
Widerlegung.  (Qtiaestiones  ad  Ciceronis  de  divinatione  libros 
diios  pertinentes.   S.  29  und  38  anno  1906). 

Es  sind  aber  keineswegs  alle  darüber  einig,  welche  Par- 
tieen  im  ersten  Buche  Cicero  dem  Posidonius  verdankt.  So 
behauptet  Schiebe  {de  fontibus  librorum  Ciceronis  qui  sunt 
de  divinatione  Q.nno  \^lh)^  es  seien  neben  Posidonius  im  ersten 
Buche  auch  Clitomachus,  Cratippus  und  Panaetius  von  Cicero 
benutzt  worden,  während  Hartfelder  die  Ansicht  geltend 
macht  (die  Quellen  von  Cicero's  zwei  Büchern  de 
divinatione  anno  1875)  daß  neben  Posidonius  nur  Cratippus 
im  Hb.  I  Quelle  war  —  abgesehen  natürlich  von  römischen 
Schriftstellern. 

Nun  möchte  es  allerdings  nicht  angebracht  erscheinen 
mich  abermals  über  diesem  Punkte  zu  verbreiten,  da  ich 
schoninmeiner  obengenannten  Dissertation  nachgewiesen  habe, 
oder  wenigstens  nachzuweisen  erstrebt  habe,  daß  Clitomachus  und 
Panaetius  nur  im  zweiten  Buche  benutzt,  die  Cratippeischen 
Lehrsätze  aber  (I  70  und  71)  von  Cieero  ebenso  dem  Posido- 
nius entnommen  sind,  obgleich  M.  Pohlenz  dieses  verneint 
(Berl.  Phil.  Wochenschr.  18.  Jan.  1908).  Es  scheint  mir  aber 
erstens  eine  Tatsache  bisher  außer  Acht  gelassen  zu  sein, 
welche   eine   weitere  Stütze    für  meine  Hypothese  bildet.     So- 


D.  Heeringa,    Noch  einmal  de  Divinatione.  561 

dann  ist  von  Sander  (Quaestiones  de  Ciceronis  lihris  quos 
scripsit  de  Divinatione  1908)  eine  teilweise  neue  Ansicht  auf- 
gestellt worden,  ohne  die  Arbeiten  von  Hoyer  und  mir  zu 
berücksichtigen.  Er  schließt  sich  in  vielen  Punkten  an 
Schiebe  an. 

Die  Tatsache,  welche  bisher  außer  Acht  gelassen  war,  ist 
folgende. 

Bekanntlich  wird  die  bei  Cicero  de  div.  I  81  an  Aristo- 
teles geübte  Kritik  von  allen  Untersuchern  dem  Posidonius 
zugesprochen.  Man  stellt  sich  also  die  Sache  so  vor,  daß  Po- 
sidonius den  Aristoteles  selbst  nachgeschlagen  habe  und  seine 
(Pos.)  Meinung  über  Aristoteles  sei  von  Cic.  ohne  weiteres 
ins  Lateinische  übersetzt:  ego  aidem  haud  scio  an  nee  cardi- 
acis  tribuendnm  hoe  sit  nee  phreneticis ;  animi  enim  integri 
non  vitiosi  est  corporis  divinatio.  Daß  dies  von  Posidonius 
herrührt,  ist  gewiß  (vgl.  I  60  ff.).  Allein  Aristoteles  selbst  war 
nicht  seine  Vorlage  als  er  dies  schrieb.  Man  lese  nur  Aristo- 
teles problem.  Sect.  XXX  1  :  oöev  S^ßuXXai  xac  BaxcSe^  xac  ol 
ev8-£oo  ycvovxac  Tiavxe;  öxav  [xt]  voayjixaxc  yevwvxat,  aXXd 
«puacx^  xpaaet.  Die  Einwendung  non  vitiosi  est  corporis  divi- 
natio 181  hat  also  keinen  Sinn.  Wir  müssen  demnach  schließen, 
daß  Posidonius  einen  Peripatetiker  benutzte,  der  Aristoteles 
als  Quelle  hatte.  Man  könnte  nun  freilich  sagen,  es  sei  dieser 
Peripatetiker  eben  Dicaearchus  gewesen  (vgl.  I  5),  Cratippus 
aber  sei  170,  71  ohne  Zweifel  benutzt,  da  Cicero  selbst  dessen 
Worte  anführe  ratio  est  qua  Cratippus  noster  uti  solet  und 
diese  Ansicht  erscheint  auch  beim  ersten  Anblick  richtig. 
Doch  möchte  ich  zwei  Einwendungen  machen. 

Erstens,  was  hätte  Cicero  veranlaßt,  diese  Cratippeische 
ratio  anzuwenden,  statt  den  Posidonius  wie  sonst  zu  excerpieren. 

Zweitens  ist  es  unmöglich,  daß  Cratippus  (oder  auch 
Dicaearchus)  dies  so  gesagt  hat,  wie  Cic.  I  70,  71  behauptet. 
Es  wird  ja  die  ganze  Divination  verteidigt,  während  Dicae- 
archus und  Cratippus  nur  die  soninia  und  furor  verteidigt 
haben  (I  5).  Wenn  wir  aber  annehmen,  daß  Cratippus  von 
Posidonius  und  dieser  von  Cicero  benutzt  ist,  so  stimmt 
alles.  Dies  aber  ist  an  sich  schon  wahrscheinlich,  weil  Dicae- 
archus   und  Cratippus  I   5    erwähnt   werden   und   wir   keinen 

Philologus  LXVIII  (N.  F.  XXII),  4.  36 


562  ^-  Heei-inga, 

Grund  haben  zu  vermuten,  daß  der  Name  des  Cratippus  von 
Cicero  eingefügt  worden  sei.  Die  praefatio  von  Buch  I  rührt 
ohne  Zweifel  von  Posid.  her. 

Wir  können  in  dieser  Weise  auch  erklären,  warum  die 
divinatio  artificiosa  I  70,  71  nicht  bestritten  wird,  wenngleich 
Cratippus  angeführt  ist.  Hatte  doch  Posidonius  allen  Grund, 
diesen  negativen  Teil  der  Cratippeischen  ratio  zu  beseitigen. 
Ich  glaube  also  noch,  daß  in  lib.  I  die  Peripatetica  samt 
und  sonders  dem  Posidonius  zu  verdanken  sind  (vgl.  auch 
meine  Diss.  p,  13).  Schiebe  und  Hartfelder  meinten  die  fünf 
Bücher  des  Posidonius  usp:  jxavTcxyis  seien  Cicero's  Haupt- 
quelle im  ersten  Buche  de  div.  Ja,  Schiebe  wies  sogar  die 
Reste  einer  fünfteiligen  Disposition  nach,  wie  ich  glaubte 
mit  Unrecht.  In  dieser  Hinsicht  (daß  nämlich  von  Spuren 
einer  fünfteiligen  Disposition  nicht  die  Rede  sein  kann)  hat 
M.  Poblenz  a.  a.  0.  mir  beigestimmt,  daß  aber  die  fünf  Bü- 
cher TTspc  [Jiavxcx'^i;  (Schiebe,  Hartfelder)  oder  vielmehr  Posi- 
donius' Werk  TTspl  ■ö-söv  (Heeringa)  Cicero's  Hauptquelle  ge- 
wesen sind,  sei  ohne  weiteren  Daten  nicht  zu  ermitteln. 

Bisher  waren  alle  üntersucher  darüber  indessen  einig 
(soviel  ich  weiß),  daß  die  Unordnung  im  ersten  Buche  der 
großen  Eile  des  Cicero  zuzuschreiben  sei.  Für  diese  Unord- 
nung aber  führt  Sander  in  seiner  Dissertation  einen  ganz 
andern  Grund  an.  Seines  Erachtens  verhält  sich  die  Sache 
folgendermaßen : 

Cicero  starb  ohne  de  divinatione  herausgegeben  zu  haben. 
Ein  Anonymus  fand  das  Werkchen  in  Cicero's  schriftlichem 
Nachlaß,  mit  vielen  Randbemerkungen  versehen.  Der  Anony- 
mus gab  es  heraus,  indem  er  viele  Randbemerkungen  an  irri- 
ger Stelle  einfügte.  Daher  rubren  die  vielen  Ungleichheiten. 
Mit  dieser  Hypothese  vei'knüpft  Sander  eine  andre.  Cicero 
habe  ursprünglich  beabsichtigt,  ein  Buch  de  divinatione  zu 
schreiben.  Dies  ist  aber  unbedingt  zurückzuweisen,  da  Cicero 
de  fato  1  angibt,  warum  er  eben  zwei  Bücher  de  divi- 
natione verfaßte.  —  Diese  letzte  Hypothese  spielt  nun  zwar 
in  Sanders  Doktorarbeit  keine  überwiegende  Rolle,  der  Ano- 
nymus aber  und  die  annotationes  in  margine  wollen  ihm  nicht 
aus  dem  Sinn. 


Noch  einmal  de  Divinatione.  553 

Schauen  wir  nun  mal  diese  Hypothese  an  und  fragen  wir, 
was  sie  leistet. 

Wenn  Cicero  starb,  ohne  de  divinatione  herauszugeben, 
aber  ein  Anonymus  dasselbe  tat,  ohne  Sachkenntnis  und  Sorg- 
falt, so  mülaten  wir  viele  Ungleichheiten  im  Werke  erwarten. 
Wir  finden  auch  welche.  Allein  daß  deren  so  viele  sind  als 
S.  zu  finden  meint,  möchte  ich  bestreiten.  Es  folgt  aus  seiner 
Hypothese  auch  nur  im  Allgemeinen,  dai  wir  Ungleichheiten 
finden  werden.  Daß  wir  aber  eben  diese  und  keine  andere 
Verstöße  gegen  die  Form  sehen,  erklärt  sie  durchaus  nicht. 
Somit  erscheint  sie  ungenügend,  den  vorliegenden  Tatbestand 
zu  erhellen.  Nun  nimmt  S.  folgerichtig  an,  quoque  (I  124) 
sei  nicht  coniecturä  zu  verbessern,  sondern  rühre  von  Cicero 
her;  der  Zusammenhang  stimme  aber  nicht  wegen  der  Re- 
zension des  Anonymus  und  weil  Cicero  es  noch  nicht  vollendet 
hatte.  (Sand.  p.  20  deinde  usque  cett.)  Auch  will  ich  gern 
eingestehen,  daß  die  Argumentation  p.  32  {deinde  maiori 
usw.)  seiner  Annahme  Vorschub  leistet.  Aber  viele  vermeint- 
liche Ungleichheiten  scheinen  mir  nur  in  der  Phantasie  des 
Urhebers  dieser  Hypothese  zu  bestehen. 

So  behauptet  Sander  p.  6,  daß  die  Worte  discedo  parum- 
per  a  sonmiis  ad  qiiae  mox  revertar  an  irriger  Stelle  stehen, 
weil  das  zunächst  Vorhergehende  keinen  Traum  enthält  und 
wegen  der  folgenden  Worte  haec  de  Indis  et  Magis.  redea- 
mus  ad  somnia.  Das  zunächst  Vorhergehende  enthält  zwar 
keinen  Traum  aber  divinatio  appropinquante  morte,  die  nach 
Posidonius  dem  Traume  eng  verwandt  war  (I  63).  Die  Wahr- 
sagung nach  Alexanders  Geburt  gehört  aber  zur  divinatio 
artificiosa,  daher  stehen  die  Worte  discedo  parumper  usw. 
am  Platze.  Mit  Unrecht  will  Sander  mit  Frenzel  haec  de  In- 
dis et  Magis  nach  dem  Anfang  des  §  47  versetzen,  denn  auch 
in  §  46  ist  von  Magi  die  Rede. 

Des  weiteren  behauptet  Sander  mit  Unrecht,  daß  Cic.  die 
Beispiele  aus  dem  alltäglichen  Leben  vergessen  habe  (p.  8  und 
9).  Wir  lesen  ja  Träume  von  Feldherren  39—51,  Philosophen 
52 — 53,  Dichtern  54  und  56,  da  offenbar  §  55  eine  Einlage 
aus  Caelius'  Epitome  von  Brutus  ist.  Das  Beispiel  der  Arca- 
des  familiäres  ist  der  vita  communis  entlehnt. 

36* 


564  •^-  H  e  e  r  i  n  g  a , 

Auch  mag  es  kein  Wunder  nehmen,  daß  55  dasExcerpt 
aus  Caelius  ein  wenig  fremd  scheint ;  sagt  doch  Cic.  minore 
labore  fiunt  d.  h.  seine  philosophische  Werke  (ad  Att.  12.  52.  3). 
Welche  Schwierigkeit  der  Vers  II  12  bietet  (Sanderp.  10), 
leuchtet  mir  nicht  ein.  Nachdem  Carneades  logisch  ausein- 
andergesetzt hat,  wie  jede  Wissenschaft  ein  Gebiet  haben 
muß,  einen  locus  ac  materia,  womit  sie  sich  beschäftigt,  wird 
nachgewiesen,  daß  die  Divination  ein  solches  nicht  zeigen 
kann.  Diese  beiden  Hälften  der  Beweisführung  werden  von  dem 
griechischen  Verse  und  der  beliebten  Trias  guhernator,  medi- 
cus,  Imperator  (vgl.  de  div  I  24.  112  II  12.  16.  123  de  nat. 
deor.  II  12  III  15  de  off.  I  60)  aneinander  gefügt,  zwar  mehr 
rhetorisch  als  logisch.  Aber  Cic.  sagt  ja  de  off.  13,  daß  Be- 
redsamkeit und  Philosophie  zwei  verschiedene  Stilgattungen 
seien  und  er  nennt  die  Philosophie  ein  quietum  disputandi 
genus.  Wo  wir  also  nur  ein  logisches  Band  vermissen,  haben 
wir  noch  nicht  das  Recht,  an  einer  Stelle  Anstoß  zu  nehmen. 
Sanders  Worte  neque  enim  düucide  Cicero  loquüur  (p.  11) 
kann  ich  daher  nicht  unterschreiben. 

Außerdem  hat  5t  e»im  nichts  Anstößliches,  wie  Sander 
meint  (p.  11  in  fine  et  q.  s.)  Man  lese  den  Text  laut  und 
man  wird  finden,  daß  iaceat  necesse  est  omnis  eorum  sollertia 
ohne  Schwierigkeit  vom  Hörer  aus  dem  Vorhergehenden  im 
Gedanken  eingefügt  wird. 

Ich  sehe  auch  nicht  ein,  warum  totum  omnino  — 

iocandi  locus  aus  dem  Texte  gestrichen  werden  soll.  Denn 
etiam  esse  inrisum  ist  deutlich  genug.  Cicero  macht  sich 
zwar  lustig  über  das  fatum,  während  er  die  Divination  hätte 
verspotten  sollen,  gesetzt,  die  Stoische  Lehre  vom  fatum  wäre 
richtig.  Aber  ist  es  nicht  begreiflich,  da  Cicero  (19)  sagt 
anile  fati  nomen  ipsum?  Wenn  er  nun  auch  (22)  über  das 
Nutzlose  der  Divination  spricht,  in  24  sagt  er  doch  voltis... 
omnia  fato  und  am  Ende  des  §  24  deutet  er  wieder  an,  daß 
die  Divination  und  das  Fatum  schwerlich  zu  reimen  seien. 
Daß  Cic.  hier  eine  Randbemerkung  geschrieben  hat,  vom 
Anonymus  im  Texte  aufgenommen,  kann  ich  Herrn  Sander 
daher  nicht  beipflichten  (Sand.  p.  13  init.  ^). 

'yirrtümlich  ist  bei  Sander  S.  13  Reg.  19  v.  0.  abgedruckt  auspi- 
dum  est;  es  soll  heißen  aus'piciuvi  Jiabemus. 


Noch  einmal  de  Divinatione.  565 

Sodann  kann  ich  keine  ineptia  (Sand.  p.  14  R.  16  v.  o.) 
sehen  in  II  43.  Cic  nennt  das  fidmen  das  optmnuni  auspi- 
dum  der  Römer.  Der  Leser  konnte  unschwer  auf  den  Ge- 
danken geraten,  daß  Cicero  die  Auspicien  im  allgemeinen  zu 
besprechen  anfing.  Daher  sagt  er  ausdrücklich,  daß  er  nur 
über  fulmina  handle.  —  Warum  S.  (p.  15)  Anstoß  nimmt  an 
igitur  (II  43)  und  was  er  anstatt  erwartet,  begreife  ich  nicht. 

Auch  II  49 — 52  (Sand.  p.  15)  müssen  wir  Spuren  von 
Randbemerkungen  sehen.  Das  alberne  Märchen  des  Tages  ist 
ja  so  ungeschickt  eingeschaltet  und  53  (in  fine)  lesen  wir 
mmc  ad  ostenta  vcniamus,  während  doch  Cicero  schon  49 
über  die  ostenta  gehandelt  hat  und  cap.  23  (in  §  50)  mit 
den  Worten  sed  quid  plura  andeutet,  er  habe  die  ostenta  end- 
gültig besprochen.  —  Man  soll  aber  Ciceros  Worte  nicht  allzu 
sehr  pressen !  Sed  quid  plura  ist  nur  eine  rhetorische  Phrase. 
Verla  tantum  afero  quihus  ahundo  sagt  Cicero  im  ange- 
führten Briefe  an  Atticus.  Des  Aveiteren  scheinen  mir  50 — 54 
genügend  die  ostenta  zu  unterbrechen,  so  daß  er  sagen  kann 
nunc  ad  ostenta  veniamus.  Allerdings,  etwas  hatte  Cic.  schon 
über  ostenta  gesagt,  aber  sehr  wenig.  Nur  der  partus  tnidae 
war  erwähnt.  Dann  fällt  es  ihm  ein,  daß  die  inventio  fehle 
(vgl.  meine  Diss.  S.  37).  Darauf  fügt  Cic.  römische  Beispiele 
ein,  wie  er  es  beliebt.  Endlich  ad  ostenta  veniamus.  Zwei 
Rezensionen  kann  ich  hier  nicht  sehen  (Sand.  p.  16  R.  15  v.  u.). 
—  Die  Stelle  II  55  scheint  S.  nicht  sorgfältig  gelesen  zu 
haben  (p.  17).  Sonst  hätte  er  quas  auteni  res  ganz  in  der 
Ordnung  gefunden. 

Nicht  glücklich  scheint  mir  ferner  seine  Annahme,  daß 
II  120,  121  die  3  Sätze,  welche  mit  quodsi  anfangen,  drei 
Entwürfe  seien,  aus  denen  Cic.  später  einen  gewählt  haben 
würde.  Denn  was  soll  die  aliena  sententia  dazwischen?  — 
Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  S.  (p.  21)  die  Definition,  welche 
Chrysippus  von  der  Divination  gab,  falsch  verstanden  hat. 
Denn  S.  behauptet,  daß  in  dieser  Definition  omnia  fortuito 
fieri  conceditur  (p.  22).  Ohne  weiteres  leuchtet  schon  ein,  daß 
jeder,  der  über  res  fortuitae  spricht,  wahrscheinlich  auch  res 
non  fortuitae  annehmen  wird.  Ueberdies  sagt  Cic.  defato  39  und 
41,  daß  Chrysippus  mehrere  genera  causarum  unterschied. 


566  D-  Heeringa, 

Dies  sind  indessen  nur  einzelne  Behauptungen,  welche  ich 
bestreite.  Wichtiger  aber  scheint  es  mir,  einen  Fehler  gegen 
die  Methode  aufzudecken,  welcher,  wenn  ich  nicht  irre,  von 
S.   begangen  ist. 

Sander  meint  nämlich,  daß  eine  Partie  im  ersten  Buche 
nicht  von  Posidonius  herrühren  kann,  wenn,  was  darin  gesagt 
wird,  schon  von  Clitomachus  (d.  h.  Cic.  de  div.  lib.  II)  wider- 
legt war  (p,  42  sive  verum  est  quod  Schichius  contendit  sive 
falsum^  ratiocinationem  1 71  e  Posidonio  non  esse  eo  prohatur, 
quod  accuratissime  ab  adversariis  divinationis  refutata  est). 
—  Zweitens  behauptet  er,  daß,  wo  Ungleichheiten  vorkommen 
diese  entweder  absichtlich  von  Cicero  verursacht  sind,  damit  die 
2  Bücher  an  einander  anschließen  konnten,  oder  aber,  es  gab 
keine  Absicht  von  selten  des  Cicero  und  er  war  nur  zu  früh  ge- 
storben, um  die  letzte  Hand  anzulegen.  Zwar  finden  wir 
dieses  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen,  aber  er  wendet  nun 
dieses,  dann  jenes  Prinzip  zur  Erklärung  an. 

Man  betrachte  nnn  die  Tatsachen.  Cic.  de  div.  II  117 
widerlegt  Clitomachus  einen  Satz  des  Chrysippus  evanuisse  .  . . 
vetustate  vim  loci  eins,  unde  anlielitus  ille  terrae  fieret^  quo 
Fythia  meiite  incitata  oracla  ederet.  Hat  etwa  Posidonius  nach 
Clitomachus'  Auseinandersetzung  diesen  Satz  aufgegeben? 
Mit  nichten.  Wir  lesen  138:  potest  vis  illa  terrae  quae  men- 
tem  Pt/thiae  divino  adflatu  concitahat  evanuisse  vetustate,  ut 
quosdam  evanuisse  et  exaruisse  amnes  aut  in  aliuni  cursum 
contortos  et  deflexos  videmus.  Sed,  id  vis,  acciderit,  magna; 
enim  quaestio  est.  Und  Clit.  hatte  die  Albernheit  des  Glaubens 
doch  so  deutlich  dargetan!  Das  gleiche  Verhältnis,  wie  wir 
zwischen  138  und  II 117  festgestellt  haben,  besteht  zwischen 
I  9  und  II  13.  Es  war  Posidonius  eben  gleichgiltig,  wie  man 
sich  die  Sache  zurechtlegen  wollte,  wenn  man  nur  glaubte 
(vgl.  meine  Diss.  p.  39  ff.).  Er  nahm  es  mit  der  Logik  nicht 
so  genau  und  fand  die  Aenderungen,  welche  er  wegen  der 
Akademiker  im  stoischen  System  angebracht  hatte,  geringfügig: 
cum  antiquissimam  sententiam  tum  omnium  populorum  et  gen- 
tium covsensti  comprohatam  sequor  (I  1 1).  Also  wenn  Clito- 
machus dem  Chrysippus  oder  Antipater  ^)  zufügte :  muta  defi- 

2)  Vgl.  Hartfelder  p.  19,  20. 


Noch  einmal  de  Divinatione.  567 

nitionrm  (II  19)  und  wenn  wir  sehen,  daß  die  Definition, 
welche  Cicero  1 9  aus  Posidonius  schöpft,  anders  ist  als  die 
ältere  stoische  Definition,  so  ist  diese  Aenderung  absichtlich 
von  Posidonius  angebracht  und  zwar  wegen  des  Vorwurfes  des 
Akademikers  Clitoraachus.  Auch  ist  es  wohl  erlaubt  zu 
schließen,  daß  Posidonius  diese  Aenderung  im  ganzen  konse- 
quent durchgeführt  hat  und  er  in  diesem  Falle  nichts  schrei- 
ben konnte,  was  seiner  eigenen  Meinung  zuwieder  lief,  daß 
er  also  nicht  auch  die  ältere  Definition  irgendwo  gegeben  hat. 
Im  ganzen  konsequent,  sagte  ich,  denn  wie  es  sich  mit  der 
Konsequenz  verhält,  sehen  wir  aus  I  79  {dii)  qui  qiiidcm  ipsi 
se  nohis  non  offeriint  und  64  qnod  ipsi  di  cum  dormientihus 
conloquantur.  Posidonius  glaubte  an  die  Wahrheit  der  Religion 
und  Divination  und  man  soll  sich  immer  vergegenwärtigen 
jenes  no)i  quaero  cur,  quouiam  quid  eveniat  intellego  1 15,  wenn 
man  seine  Gedanken  rekonstruieren  will.  Man  vergleiche  die 
seltsamen  Argumente  1 118  und  seinen  Unwillen  über  das  urguere 
des  Carneades  (1 12).  Wenn  Sander  meint,  daß  Posidonius  nur 
oder  auch  in  erster  Linie  von  logischen  Gründen  geleitet 
wurde,  so  ist  er  offenbar  im  Unrecht.  Posidonius  war  vor  allem 
gläubiger  Stoiker. 

Und  so  hoch  er  den  Chrysippus  schätzte,  so  hat  er  auch 
ohne  Zweifel  Beispiele  aus  ihm  entlehnt.  Sander  behauptet, 
daß  Posidonius  dies  nicht  getan  haben  kann,  weil  Clitomachus 
es  gerügt  hatte.  Aber  Cicero  sagt  de  off.  1 159  ea  Posidonius 
collegit  permidta  (d.  h.  exempla  foeda  communitatis),  vgl. 
Sander  p.  36  sqq. 

Außerdem  ist  schon  bemerkt  worden  (Hartfelder),  daß 
Cic  selbst  II 35  aussagt,  daß  Posidonius  den  Chrysippus  und 
Antipater  kopiert  hat.  Wenn  Sander  mit  Schiebe  behaupten 
will,  daß  dieser  Name  von  Cic.  eingefügt  ist,  so  hat  er  damit 
Recht;  Posidonius  hat  1118  auch  potest  dux  esse  vis  quae- 
dam  sentiens.  Ist  das  aber,  was  man  nach  Sander  erwarten 
muß? 

Was  nun  den  andern  Punkt  anbelangt,  so  hat  Sander, 
weil  er  sich  an  Schiebe  anschloß,  angenommen,  daß  Cic.  ab- 
sichtlich Buch  I  nach  Buch  II  zurecht  machte  und  hierauf 
auch  ziemlich  viel  Mühe  verwendet  hat.  (vgl.  das  Beispiel  der 


568  D.  Heeringa,  Noch  einmal  de  Divinatione. 

Arcades,  das  aus  Clitom.  stammen  soll.)  Es  befremdet  sehr, 
daß  er  (p.  42  R,  9.  v.  u.)  sagt:  Miror  tarnen  Ciceronem  Pa- 
naetium  hoc  loco  aon  nomware  (II  100 — 109)  quem  appella- 
verit  II  88  et  97  ubi  de  astrologia  disptttat,  quam  disputatio- 
nem  e  Fanaetio  sumptam  esse  constat.  Sed  sive  verum  est 
quod  Schichius  contendit  sive  falsum  cett.  Es  mutet  eigen- 
tümlich an,  daß  Sander  sich  keine  eigene  Meinung  erlaubt 
über  die  Frage,  ob  Panaetius  II  100 — 109  Quelle  des  Cicero 
war,  doch  läßt  sich  dagegen  nicht  viel  sagen. 

Da  S.  aber  aus  eigenen  Studien  zur  Annahme  geführt 
war,  daß  Cicero  gestorben  sei  ohne  selbst  de  div.  herauszu- 
geben, geriet  er  in  ein  verhängnisvolles  Dilemma.  Eine 
Stelle  ist  z.  B.  unvollendet  hinterlassen,  weil  Cic.  zu  früh 
starb.  Eine  andere  ist  absichtlich  von  Cicero  geändert,  wie 
das  Beispiel  der  Arcades  nach  S.  eingeschaltet  ist.  Warum 
aber  im  anderen  Fall  nicht  auch  Absicht  von  Cicero  im  Spiel 
ist,  ist  nicht  klar. 

Fragen  wir  nun,  was  S.  zur  Anonymus-Hypothese  ge- 
bracht hat.  Dies  lesen  wir  p.  1 — 6.  S.  weist  nach,  daß  die 
Worte  nunc  quoniam  de  re  pidjlica  consuli  coepti  sunius 
(II  1)  hinzielen  auf  Berichte  aus  Rom  nach  Caesars  Tod.  Aber 
wenn  er  dann  behauptet,  daß  ein  Bericht  der  Rheginer  ge- 
kommen sei,  eben  in  dem  Augenblicke,  als  Cic.  im  Begriff  war, 
den  letzten  Satz  des  ersten  Buches  zu  vollenden,  so  daß  dieser 
Satz  unvollendet  blieb  —  da  wird  dem  Zufall  wohl  zu  viel 
zugemutet.  Daß  Cicero's  politische  Gedanken  für  de  divina- 
tione nicht  günstig  waren,  mag  richtig  sein. 

S.  sieht,  daß  I  132  und  II  8  einander  ähnlich  sind.  Er 
macht  ferner  darauf  aufmerksam,  daß  dem  zweiten  Buche  eine 
Vorrede  angefügt  ist,  während  in  diesem  zweiten  Buche  das 
Gespräch  fortgesetzt  wird,  welches  im  ersten  angefangen  war. 
Dies  sei  aber  nirgends  sonst  der  Fall  in  den  philosophischen 
Werken  des  Cicero. 

Wie  dies  noch  eine  Stütze  für  seine  Hypothese  sein  kann, 
sehe  ich  nicht.  Vielleicht  soll  damit  auch  viehnehr  jene  andere 
Annahme  begründet  werden,  daß  Cic.  ursprünglich  ein  Buch 
zu  schreiben  beabsichtigte,  was  aber  wegen  de  fato  1  nicht 
anzunehmen  ist. 

Die  Anonymus-Hypothese  aber  ist  überflüssig,  sie  bietet 
wenig  zur  Erklärung  der  gegebenen  Ungleichheiten.  Diese 
sind  auch  aus  der  Eile  des  Cicero  erklärlich.  Daß  aber  Cic. 
eilig  schrieb,  steht  fest,  und  diese  Tatsache  hat  als  Erklä- 
rungsprinzip den  Vorrang  vor  einer  Annahme  die  nichts  mehr 
erklärt.  Eben  darum  finde  ich  Sanders  Hypothese  überflüssig. 

Utrecht.  D.  Heeringa. 


Miscellen. 


9.  Zwei  attische  Dekrete. 


Die  zwei  attischen  Dekrete,  die  hier  vorgelegt  werden, 
habe  ich  im  Frühling  1909  im  Epigraphischen  Museum  zu 
Athen  abgeschrieben.  Die  Veröffentlichung  hat  mir  der  Ephoros 
des  Museums,  Dr.  B.  Leonardos  gütigst  gestattet. 

I. 

Stück  einer  Stele  aus  blau-grauem  Marmor,  oben  und 
rechts  Rand  erhalten,  übrigens  gebrochen;  0,32h;  0,18b; 
0,09  d;  B-H  0,007;  Z-A  0,007.  Der  Stein  ist  nach  dem  Mu- 
seumsinventar (N.  375)  bei  den  Ausgrabungen  des  deutschen 
Instituts  (wohl  am  Westabhange  der  Akropolis)  gefunden.  Die 
Schrift,  die  stoichedon  angeordnet  ist,  weist  auf  die  erste  Hälfte 
des  3.  Jahrb.  hin. 

'Eixc  Het^iS'iQiJiou  äpypv]-coc,  ZKi  T[f]?] 
'Avxtyovcoo??  evaxrjg  7i]puxav£(a[c], 

fjC ]ou  2]ouvc£[ij-] 

c,  £ypa[A[jiax£U£v  'EXacpJr^ßoAcwvo^  x- 
£xpaoL  {Ji£x'  £txaSa;,  £]xx£i  xac  eiv.- 
ooxBi  xfj?  7ipuxav£ia[?  •  ixxXrja^a  x- 
upt'a-  xü)v  Trpoeopwv  £7i]£'|rj'^tt^£v  Ka- 

'ETtc]ywr^[cpJiaiog  xa- 

l  au|Jt7rpc£opot'  eSo^sJv  x£i  pouXtl 
10  [xac  xü):  Sr^fitof  Mvrja:£]pyo;  Mvrja([o-] 

"U  'A'O-JXOVcÜ;    £t7l£V  •     £7l]£C&Y]    Ol    doXUV- 

6[jioo  Ol  zkI  I[s.l^'lbr^\l]zl>  ap^ovxo; 
£7i£[i£XYj^rjaav  xf^;  Ti:o]|jiTifjS  v.al  zr];, 
%'uoiac,  xGii  AaxXr]7iL(I)]o  xac  xfji;  xoa- 
[jifja£ü)S  X7]S  xpa:;£^r;]^  xac  x'^;  Tiavv- 
uycoo;  xaXw;  xal  cpt]Xo[x](|jiwc,  ÄyaiS-- 
£c  vjy^ti,  dedö'/ß'ai  xe]i  p[o]uÄ[£:],  xo[ij-] 
'c,  TipodSpou;,  Ol  av  Xa/Jwo[i]v  [Trp]o£§p- 
£U£cv  £v  xGii  ori\).vöi,  di]  x[rj]v  npwxrjv 
20  [ixxXr^a'av  xp7j(j.axc]7a:  7r£p[:  xoux- 

ü)v,  Yvcü[j,yjv  0£  ^u{jißaX]X£a^at  [x'^g  ßo]- 
uXt]?  X.  X.  X. 


570  Miscellen. 

Unsere  Inschrift  ist  ein  Ehrendekret  für  die  Astynomen, 
die  sich  um  eine  Pompe  verdient  gemacht  hatten.  Nach  dem 
Datum  zu  urteilen,  hatte  diese  in  der  ersten  Hälfte  des  Ela- 
phebolion  stattgefunden.  Es  läge  am  nächsten  an  die  Großen 
Dionysien  zu  denken,  aber  xwt  Aiovjaw]:  füllt  die  Lücke  nicht 
aus.  Da  wir  nun  wissen,  daß  am  8.  El,  auch  dem  Asklepios 
eine  Pompe  veranstaltet  wurde  (vgl.  Pfuhl,  De  Ath.  ponipis 
S.  73)  und  Xü)L  ^AoxXrjTciwJc  genau  paßt,  halte  ich  diese  Er- 
gänzung für  sicher.  Wenn  es  außerdem  der  Fürsorge  der 
Astynomen  um  die  Großen  Dionysien  hier  gedacht  gewesen 
wäre,  wäre  ja  auch  eine  Erwähnung  der  Agone  zu  erwarten. 
Ueber  die  Form  der  lenzlichen  Asklepieen,  von  der  man  früher 
nichts  wußte,  haben  wir  jetzt  bestimmtere  Angaben  aus  un- 
serem Dekret,  und  es  bestätigt  sich,  was  schon  Pfuhl  (a.  0.) 
bemerkt  hatte,  daß  diese  Feier  nicht  mit  den  Dionysien  zu- 
sammenhing, sondern  als  ein  für  sich  abgeschlossenes  Fest 
betrachtet  wurde.  Worin  die  polizeiliche  Fürsorge  für  die 
Pompen  bestand,  sehen  wir  aus  anderen  Inschriften  wie  II  ^' 
192c  und  IP  314  c.  Den  Namen  des  Antragstellers  unseres 
Dekrets  (Z.  10—11)  habe  ich  nach  P.  A.  10  272  ergänzt,  der 
somit  ein  Vorfahren  wäre. 

Wegen  der  Datierung  der  Inschrift  noch  einige  Worte. 
Gegen  eine  Verlegung  der  Inschrift  in  die  Jahre  vor  307/6 
spricht  sowohl  der  Schriftcharakter  wie  auch  der  Umstand, 
daß  keiner  von  den  Archonten  zwischen  318/7 — 307/6,  für 
welche  wir  den  Schreiber  nicht  kennen,  sich  in  die  Lücke 
hinein  ergänzen  läßt  (vgl.  die  Zusammenstellung  in  meinen 
De  institut.  ath.  post  Äristot.  aet.  com.  S.  11  f.).  Die  In- 
schrift ist  also,  wie  auch  der  Schriftcharakter  bezeugt,  ins 
3.  Jahrh.  zu  verweisen,  und  zwar  kommen  nur  die  Jahre, 
in  welchen  die  Leontis  den  Schreiber  besetzte,  in  Betracht. 
Nun  könnte  das  Dekret  sowohl  in  die  Zeit  der  12  wie  in 
die  der  13  Phylen  gehören,  denn  Z.  5  könnte  man  sowohl 
T[£Tpa5i  |jiet'  eixaoa?]  wie  T[£xdpie'.  bxa^svou]  ergänzen. 
Da  aber  die  Schrift  besser  auf  ein  früheres  Datum  paßt  und 
außerdem  kein  Archou  der  Jahre  225 — 200,  die  für  Leontis 
in  Anspruch  genommen  sind,  auf  unser  Dekret  paßt  (vgl. 
Z.  1  u.  12),  möchte  ich  es  für  gesichert  erachten,  daß  die 
Inschrift  vor  der  Errichtung  der  Ptolemais  zu  setzen  ist,  was 
auch  am  besten  mit  der  Schrift  übereinstimmt.  Nach  der 
Archontenordnung,  die  Ferguson  [The  Priests  of  Asklepios) 
und  Kirchner  (vgl.  Berliner  Philoloq.  Wochenschrift  1906, 
981)  aufgestellt  haben,  läßt  sich  zwar  keiner  von  den  Archonten 
der  Jahre  der  Leontis  in  unseres  Dekret  hineinpassen.  Da- 
gegen stimmt  Kolbes  {I)ie  attischen  Archonten  S.  39)  Zuwei- 
sung der  Leontis  dem  Jahre  des  Peithidemos  (266/5)  aufs  beste 


Miscellen.  571 

mit  unserem  Dekret  zusammen.  Wir  haben  dann  T[erpao'. 
[ist'  eixaoac]  zu  ergänzen.  Es  ergibt  sich  also,  daü  das  Jahr 
ein  Gemeinjahr  war,  wie  wir  es  auch  vom  Jahre  des  Peithi- 
demos  wissen  (II  332).  Nicht  immer  stimmt  nämlich  zur 
Zeit  der  12  Stämme  in  Gemeinjahren  das  Monatsdatum  mit 
dem  Prytanietage  genau  überein.  Ad.  Schmidt  {Gr.  Chron. 
S.  583)  hat  nachgewiesen,  daß  zunächst  jeder  Prytanie  29 
Tage  zufielen  und  die  6  Ueberschuütage  so  verteilt  wurden, 
dai3  sie  den  graden  oder  ungraden  Prytanien  zukamen  oder 
den  6  ersten  oder  6  letzten  oder  den  3  ersten  und  3  letzten. 
Nach  demselben  Gelehrten  wurde  der  Schalttag  der  355tägi- 
gen  Jahre  den  anderen  angeschlossen  oder  extra  unter  den 
Prytanien  verloost.  Wenn  wir  das  Jahr  des  Peithidemos  aus 
II  332  und  dieser  Inschrift  nun  prüfen,  so  geht  es  hervor, 
daß  das  Jahr  355tägig  war,  daß  der  Schalttag  einem  von 
den  Monaten  vor  Elaphebolion  zugeteilt  war  und  daß  die  3 
ersten  Prytanien  30  Tage  hatten,  die  5  folgenden  29.  Dann 
haben  die  4  letzten  30  Tage  gehabt. 

IL 

Stele  von  pentelischem  Marmor  mit  Bekrönung,  rechts 
und  unten  Bruch:  0,40h;  0.22b;  0,118d;  B—H  0,007 ;  Z— A 
0,004  (Inv.-Num.  387).  Die  Schrift  II  487  ganz  ähnlich 
("/2  1.  Jahrh.).  Da  die  Buchstaben  nicht  stoichedon  ange- 
ordnet sind,  ist  die  Zahl  der  Buchstaben  in  dem  erhaltenen 
Teile  verschieden  in  verschiedenen  Zeilen. 

'ErcetOT]  oi  7iputave:c  zfiz  O[ov£cooc  ol  knl  AtoxXeou;  ap/ov-J 
xoq,  dTiocpacvouatv  xfji  [3ouX[':^l  töv  xafxiav,  6v  sIaovxo  e^  £au-] 
Twv  Necxavopa  'Apx£[iü)v[os  OuXaatov  xa?  -ö-uaia?  xeöuxsva: 

xa;  £7rc-] 
ßaXXouaai;  xolq  7rpuTav[£aiv  bnep  X£  x"^?  ßouXf];  otac  xoO  Sifj[iou 

xac] 
eirt|JLS(irjXTja9-ac  xaXü)[;  xac  cpcXoxt'ixw;  xwv  dXXwv,  wv  xa^'f)- 

xov  ^v,] 
xac  ocd  xaOxa  7iapa[xaXoöac  xyjv  ßouXrjV  eTzr/iüpfioM  lauxocs 

noiii^ocad-xi  au-] 
Toö  ypaTiT^?  eix6v[o5  dvaS-eacv  ev  oirXwc  £7it/puawc  £v] 
xö)t  ßouX£uxy]ptü)[c  •  dyaO-yjc  '^'^"/Ji'-i  5z56yß-ci:  xy;c  ßouXfjc] 
e7iacv£aac  xöv  xa(i:[av,  8v  sl'Xovxo  £^  iauxwv  N£cxd-] 
10  vopa  'Apx£^ü)vo;  Ou[Xdacov  xac  axEcpavwaat  auxöv  5^aXXou] 
ax£'^dvü)C,  WC  udxpcöv  £[axcv  ax£cpavö)aac  xo'j?  dyadouc  xwv  dv-} 
Spwv,  £ucx£7(ji)p7ia8[ac  Se  xac  zolc,  T^puxdvEacv  tiocy)-] 
aaa9-ac  auxoO  rrjv  x[7jc  ecxdvo;  dvd9'£a:v,  £v  wc  acxoövxac  x67t:ü)c,] 
e/ouaav  xrjv  £7i:'.Y[pa'-P>lv  xyjv5£  •  oc  TipuxdvEcs  XTj;  OcvecSo;  xac] 
ol  decacxoc  ol  ekI  Aco[xX£Ou;  äpyovxoq,  Nscxdvo-] 
pa  'Apx£jAü)vo$  ^u[Xdacov  cpcXoxc[xias  evexa  zi]q  et-} 


572  Miscellen. 

q   eauToui;    dv£9"/3x[av  •    dvaypatjjat    Se  xoSe  xö  t}^rjcpca{ia  löv 

Ypafxiia.] 
xea  TÖv  xaxa  7xpu[xav£cav  st?  oxyjXtjv  XL-S-t'vrjv    xat  ax-^oat  ev] 
Xü)i  ßouX£uxrjp:[o)i,  Iva  xouxwv  auvx£Xou|Ji£vcov  cpaivrjxat] 
20  [t}  ßouJAy]  xt[iw[aa*  xxX. 

Diese  Inschrift  gehört  zu  den  Beschlüssen  zur  Ehre  der 
Prytanen  und  deren  Beamten,  von  welchen  eine  ganze  Anzahl 
schon  bekannt  ist.  Eine  Zusammenstellung  dieser  Dekrete 
gibt  Wilhelm,  Äth.  Mitt.  21,  435  und  Urli.  dram.  Auff. 
S.  211  f.  Hinzugekommen  sind  die  von  Kirchner,  Klio  VIII, 
487,  und  die  von  mir,  Äth.  Mitt.  1909,  62,  mitgeteilte 
Inschrift.  Sowohl  nach  der  Schrift  wie  nach  der  Abfas- 
sung zu  urteilen  (vgl.  Francotte,  Leg.  ath.  sur  les  dist. 
hon.  S.  28)  gehört  die  obige  Inschrift  eng  mit  II  487  zu- 
sammen und  läßt  sich  auch  mit  deren  Hilfe  ergänzen.  Umge- 
kehrt zeigt  unsere  Inschrift,  daß  in  II  487  Z.  13  ev  xw  ßou- 
XeuxTjptü)  zu  ergänzen  ist.  Die  Datierung  läßt  sich  nur  ungefähr 
ermitteln,  da  der  Archon  nicht  sicher  ist.  Ich  habe  Aio[xX£Ous] 
ergänzt  und  halte  es  für  wahrscheinlich,  daß  das  Dekret  in 
das  Jahr  des  AcoxX-^?  MeXtxsu?  gehört  (40/39;  vgl.  Kolbe, 
Ätt.  Ärch.  S.  141),  weil  II  487  gerade  in  dieselbe  Zeit  zu 
verlegen  ist  (vgl.  Kolbe  a.  0.  S.   148). 

Helsingfors.  J.  Sundwall. 


10.  Astrologisches  in  der  griechisch-orthodoxen 

Liturgie  ? 

In  einem  prächtigen  Aufsätze^)  hat  Fr.  Boll  jüngst  auch 
einen  im  Catal.  cod.  Graec.  astrol.  IV,  S.  99  von  Cumout  heraus- 
gegebenen merkwürdigen  Text  behandelt^),  in  welchem  die 
Wochentage  den  sieben  Planeten  abgesprochen  und  Christus  und 
Angehörigen  der  christlichen  Kirche  geweiht  werden,  üeber 
die  Zeit,  welcher  diese  Ausführungen  angehören,  scheint  nichts 
bekannt  zu  sein.  Höchst  auffällig  aber  sind  die  noch  nicht 
erkannten  nahen  Berührungen  dieses  astrologischen  Textes 
mit  der  Parakletike,  dem  heute  noch  in  der  orthodoxen 
Kirche  gebräuchlichsten  Litnrgiebuche,  das  die  an  den  einzel- 
nen Wochentagen  zu  singenden  Lieder,  nach  den  acht  Kirchen- 
tönen geordnet,  enthält^).  In  der  folgenden  Gegenüberstellung 
finden   sich    hinter    unseren  Namen    der    Wochentage    in    der 


*)  Die  Erforschung  der  antiken  Astrologie :  Neue  Jahrb.  f.  d.  klass. 
Altertum  21  (08)   103—26. 
•')  1.  c.  p.  109. 
^)  Vgl.  meine  Ausführungen:  Byz.  Zeitschr.  17  (07)  2. 


Miscellen. 


573 


Sonntag : 

Montag : 
Dienstag: 


Planeten • 
Helioa 

Selene 
Ares 


Mittwoch :       Hermes 
Donnerstag:    Zeus 
Freitag : 


Samstag: 


2xaup6g 

'AuöoToXoi 
Aphrodite  ösotoxoc    öSupopievr]    8iä 

xoü  uEoü  aiaopcoaiv 
Kronos 


ersten  Reihe  die  Namen  der  Planeten,  in  der  zwei- 
ten die  christlichen  Entsprechungen  nach  dem 
astrologischen  Texte,  in  der  dritten  die  in  der  Parakletike 
verzeichneten  Kanones  (acht-  bezw.  neunteilige  Hymnen). 

Catal.  cod.  Graec.  astr.  t,      i  i  j.i 

IV    QU'  X  araKietiiKe : 

.  .  Sixaioaüvr)  Xpiaxoü  xoö  xavdveg  ävaox(xai|xoi  (auf 

^eofll  Christus). 

oi  (XYyeXoi  xavdveg  xföv  dcaw|iäxü)v. 

npdöpo|j.og  xav&vs5    elg  xöv  npööpo- 

|10V. 

xavdvcg  oxaupci)ai|iot. 
xavöve;  xwv  dTCoaxöXcov. 
xavdvsg  axaupwotpLOt  u. 
xavdveg  zriz  Oeoxöxou. 
.  .  xöv  üaxepa  "Jjfiwv  xal  xavovsg  elg  (Jtdpxopas  xal 
0-eöv  £x£xsi')0|iev  UTisp  xot|iYj9-£vxa?  u.  xavö- 
xwv  TipoaTCsXO-dvTWv  na.-  veg  v£xp(üoi|j[,oi  (elg  xot- 
xeptüv  xaL  dSsXcpöv  (lYjO-evxaj). 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage:  Ist  der  Aufbau  der  Para- 
kletike von  solchen  astrologischen  Voraussetzungen  bedingt, 
wie  sie  uns  in  dem  bei  dieser  Annahme  zeitlich  vor  der  Ent- 
stehung der  Parakletike  anzusetzenden  astrologischen  Text 
entgegentreten;  leben  also  Reste  der  heidnischen  Astrologie 
in  christlichem  Gewände  heute  noch  in  der  orthodoxen  Kirche 
fort?  Oder  ist  die  Parakletike  die  Quelle  der  Ausführungen 
unseres  astrologischen  Textes,  dessen  Entstehung  dann 
frühestens  in  das  S.Jahrhundert  zu  setzen  wäre?  Nun  scheint 
mir  sicher  zu  sein,  daß  die  letztere  Frage  zu  bejahen  ist, 
der  astrologische  Text  als  Vorlage  für  die  Parakletike  also 
nicht  in  Betracht  kommt.  Für  die  Untersuchung  der  religions- 
geschichtlich interessanten  Zusammenhänge  zwischen  heid- 
nischer und  christlicher  Benennung  der  Wochentage  (z.  B. 
Aphrodite  —  Theotokos)  kommt  also  unser  Text  wohl  nicht 
in  Betracht. 

W. 


Schweinfurt . 


Weyh. 


11.  Zu  Demokritos  xspi  £50-t)jj.t7j(;. 

In  der  gelehrten  und  scharfsinnigen  Abhandlung  über 
Plutarchs  Schrift  ntpi  eud-oiiiac,  (Beilage  zum  Jahresbericht  der 
Landesschule  Pforta,  1908,  Progr.  Nr.  320)  lenkt  G.  Siefert 
die  Aufmerksamkeit  vor  allem  auf  das  Demokritfragment : 
Töv  euö-uixslaö-a:  [xsXXovta  XP^  M  ^"^XXoc  Tipyjaaetv  p-r^xe  fScrj 
pYjxe  ^uv^  M-V^i  '^'^^'  ^^  Tipaaarj,  UTilp  ie  ouvapcv  (xtpeio^oci  trjv 
ewuToü  xac  cpuatv  (Frg.  3  Diels,  163  Natorp).  Treffend  be- 
zeichnet er  dieses  Fragment  als  den  landläufigsten  aller  de- 
mokritischen  Aussprüche,  als  die  Quintessenz  aller  Lebensregeln 


574  Miscellen. 

des  großen  Abderiten.  Verbindet  man  damit  die  Worte  xa 
o'  eXXecTiovxa  xocl  bmppälXovxa,  cpcXei  [leyaXa;  xcvYjatag  epiTioietv 
x^j  <\)^yri  (Frg.  191  Diels,  52  Natorp),  die  offenbar  die  weitere 
Ausführung  des  ersten  Satzes  sind,  so  erhält  man,  wie  Siefert 
zeigt,  ein  Ganzes,  die  Ankündigung  der  Lehre  von  der  [Ji£xp:6xrj? 
und  au[jifi£xp{r],  die  Grundlage  der  Ethik  des  Aristoteles.  Die 
beiden  Sätze  bildeten  allem  Anschein  nach  den  Anfang  der 
Schrift  Ttspc  suÖ'Uijlivj;.  Das  erste  moralphilosophische  Prosa- 
buch der  Griechen  war  auch  in  glänzender,  poetisch  schwung- 
voller Sprache  verfaßt.  Es  ist,  wie  Siefert  sagt,  das  älteste 
Denkmal  der  Ae^t?  dpo\ieviq  und  xax£axpa[x[ji£vyj. 

Zu  der  gerechten  Würdigung  dieser  Vorzüge  will  es  nur 
nicht  recht  stimmen,  wenn  man  in  den  Eingangsworten  derechten 
Schrift  Ti£p:  £uO-u[xcr;;  auf  die  unglückliche  Wendung  stößt: 
xöv  £ud'U[jL£oa9'ac  [jiEXXovxa  /pYj  |xy)  tioXXoc  7iprjaa£iv  (jnfjX£  loi'Q  [xyjxe 
^uv^  {JtYjX£,  aaa'  av  Tipaaay],  bnip  x£  Suvajjtov  atpElaö-ac  xyjv 
ewuxoö  xa:  cpuoLV.  Um  wohlgemut  zu  leben,  soll  man  nicht 
vielgeschäftig  sein  und  nicht  über  seine  eigene  Kraft  und 
Natur  hinausgehen.  Der  Sinn  des  Satzes  ist  klar.  Aber  daß 
dieses  Hinausgehen  über  die  eigene  Kraft  mit  aipEiod-ai  wieder- 
gegeben sein  soll,  ist  doch  sehr  sonderbar.  Die  mediale  Be- 
deutung des  Wortes  ist:  annehmen,  wählen,  vorziehen,  sich 
erlauben,  sich  entschließen,  auch  wagen,  unternehmen.  Be- 
kannt sind  Verbindungen  wie  'AX£^avSpoi)  a£^X£U£LV  iXo\iiyo\), 
yajXEtv  ziq  £Xc[ji£V05,  xaXAOip'.a  Seltivelv  £Xg[X£vou;  av£u  tiovou 
usw.  Da  ist  atp£ca^at  das  lateinische  animum  inducere  (vgl. 
Stein  zu  Herod.  5,  22).  Diels  übersetzt  acp£laOao  mit  'streben'. 
Aber  dieses  acp£ta^ac,  das  hier  völlig  absolut  zwischen  uTr£p 
S6va[xcv  und  xtjV  äwuxoü  für  sich  allein  steht,  ist  zu  matt,  zu 
abstrakt,  zu  gezwungen,  als  daß  es  den  Gedanken  der  Ueber- 
hebung  zum  Ausdruck  bringen  könnte.  Alpeiob-ai  UTi£p  56va[xiv 
XYjv  Eauxoö  ist  gestammeltes  Griechisch.  Was  Demokrit  sagen 
wollte,  ersieht  man  aus  dem  kräftigen,  konkreten  Ausdruck 
in  dem  zweiten  Satze :  xa  o'  elXeinovxa,  xat  öuspßaXXovxa 
^iltl  |ji£yaXa;  y.ivrjaias  e[m:o'.elv  xr;  ^^u/jj.  In  einer  epikureischen 
Nachahmung  der  beiden  demokritischen  Sätze  heißt  es  sogar: 
ouO£V  oüiwg  £U^U[Jifa5  tioitjxlxgv,  (1)5  x6  [ay]  tzoXXoc  updaasiv  |xr]0£ 
SuaxöXoc?  £Tir/£tp£tv  urfik  uapa  Suvafxiv  xc  ^  iäZ,e  a  %-  ai  xyjv 
eauxoö.  Travxa  yap  xaüxa  xapa/a^  ivKoiel  xfj  cp6a£t  (Siefert  S.  8). 
Demnach  dürfte  das  unglückliche  atp£ia\)aL  auf  einem  Ver- 
sehen beruhen,  und  der  ursprüngliche  Wortlaut  des  ersten 
Satzes  der  Schrift  Ticpc  Eu^O-uficY]?  der  sein :  xov  £U\)-u[A£iaifaL 
jjieXXovxa  ypri  [jiy]  uoXXa  7rpYjaa£cv  (jltqxe  ibiiQ  [xt^xe  ^uv^  l^-^'^s, 
aaa'  äv  upaaay;,  uiiip  x£  o6va(xtv  oclpead'oci  xyjV  iwuxoO  v.od 
cpuacv. 

Es  verhält   sich   mit   dieser  Stelle  ähnlich,   wie  mit  den 


Miscellen.  575 

Anfangsworten  der  Schrift  des  Protagoras  Tiep:  ^ewv,  wo  man 
auch  gewohnt  ist,  IJept  [lev  ^eöv  oux  eyw  stSevat  (st.  eiiiEiv) 
008'  (ü;  eiatv  oud-'  oic,  oux  etoov  zitiert  zu  lesen,  obgleich  Cicero 
übersetzt:  nihil  habeo  dicere,  und  Zeller:  Von  den  Göttern 
habe  (vermag)  ich  nichts  zu  sagen,  weder  dati  sie  sind, 
noch  daih  sie  nicht  sind  (Grundrii.?  S.  83). 

Jena.  K.  LincJce. 


12.   Zum  Pariser  Zauberpapyrus 
der  bibl.  nat.  suppl.  gr.  574. 

Wesselys  Ausgabe  des  sog.  Pariser  Zauberbuches  ^) 
gibt  über  Herkunft  und  Gestalt  des  Papyrus  nur  kurz  Auf- 
schluß: er  wird  beschrieben  als  ein  „Codex,  der  27,3  cm  hoch, 
14,8  cm  breit  war.  Gegenwärtig  sind  die  Blätter  einzeln  ge- 
heftet". Die  ganz  ungenaue  Größenangabe  hat  W.  selbst  in 
seineu  Nachträgen'-)  berichtigt.  Nach  dem  „Catalogue  d'nne 
collection  d'antiquites  egyptiennes  par  M.  Fran^ois  Lenor- 
mant",  einem  reichhaltigen  Auktionskatalog  ^)  der  collection 
d' Anastasi  ist  der  Papyrus  in  Theben  gefunden  worden: 
»M.  Anastasi,  dans  ses  fouilles  ä  Thebes  avait  decouvert  la 
hibliotheqtie  (Tun  gnosüque  egyptien  du  second  siede".  Ein 
anderer  Teil  dieser  Bibliothek  —  die  Pariser  collection  ent- 
hielt gegen  sechzig  Papyri !  —  war  mit  der  ersten  Anastasi- 
Sammlung  nach  Leiden  gekommen,  darunter  „le  fameux 
texte  magique  en  ecriture  demotique  et  deux  petits  papyrus 
grecs  plies  en  forme  de  livres":  zu  diesen  gehört  pap.  mus. 
Lugd.  Bat.  J.  395  (Leemans  W,  vgl.  Dieterich  Abraxas 
S.  168  ff),  ein  Buch  von  7  Doppelblättern,  das  zwei  Schnüre 
oben  und  unten  geschlossen  haben.  Auch  unser  Pap.  wird 
unter  Nr.  1073'*)  beschrieben  als  „  manuscrit  sur  feuilles  de 
papyrus  pliees  en  livres,  formant  33  feuillets  ecrits  de  deux 
cötes".  Tatsächlich  faßt  das  Buch  aber  36  „feuillets";  da  2 
Blätter,  16  recto,  verso  und  36  r,  v  gar  nicht  und  1  nur  we- 
nig beschrieben  ist  (auf  dem  verso),  so  rechnete  Leu ormant 
diese  Blätter  offenbar  nicht  zum  Papyrus.  Aus  dem  ganzen 
Passus  geht  ferner  hervor,  daß  man  schon  damals  den  Papy- 
rus als  eine  Schicht  von  33  (bzw.  36)  E  i  n  z  e  1  b  1  ä  1 1  e  r  n  kannte. 

')  Denkschriften  der  k  .  Akad.  d.  Wiss.  XXXVI  (Wien  1888)  S.  28  ff. 

*)  Zu  den  griechischen  Papyri  des  Louvre  und  der  Bibliotheque 
nationale,   Jahresber.  Hernais  1888/89  S.   18  f. 

3)  Paris,  Maulde  et  Renou  18-57  (invent.  de  la  bibl.  nat.  V  44,  695). 
Sein  ebenso  interessantes  Gegenstück  ist  der  „Catalogue  de  la  collec- 
tion egyptienne  de  M  i  m  a  u  t  1837  par  Dubois". 

*)  Die  Identität  beweist  schon  rein  äußerlich  die  Nummer  1073  des 
Katalogs .  die  noch  heute  auf  toi.  I  recto  des  Pap.  aufgeklebt  ist.  Als 
Anastasi  Nr.  1073  ist  er  auch  in  der   Bibl.  nat.  katalogisiert. 


576  Miscellea. 

Das  war  natürlich  die  ursprüngliche  Form  des  Buches  nicht; 
denn  von  „Büchern",  die  aus  übereinandergelegten,  unzusam- 
menhängenden Blättern  bestanden,  wissen  wir  nichts.  Papy- 
rusbücher in  Codex  form  dagegen  kennen  wir.  Anregend  und 
scharfsinnig  hat  über  einzelne  gehandelt  G.  A.  Gerbard  in 
Deißmanns  Septuagintapapyri  S.  3  ff.  Er  beschreibt  hier 
einen  Heidelberger  Papyruscodex,  der  sich  aus  4  Faszikeln, 
„Lagen",  zusammensetzt;  das  erhaltene  Doppelblatt  einer 
Quiniomitte  konnte  ihm  einen  sicheren  Anhaltspunkt  geben. 
Naturgemäß  bestehen  umfangreiche  Bücher  häufig  aus  mehreren 
Lagen,  docb  gibt  es  „eine  nicht  ganz  unbeträchtliche  Minder- 
zahl alter  Codices,  die  nur  eine  einzige  Lage  darstellen.  Ge- 
rade Papyruscodices  sind  so  hergestellt  worden,  obwohl  doch 
der  Papyrus  weniger  widerstandsfähig  ist  als  das  Pergament. 
Sie  gehören  dem  vierten  Jahrhundert  an,  also  einer  verhält- 
nismäßig frühen  Zeit"  ^).  Da  der  Papyrus  der  bibl.  nat.  in 
einzelne  Blätter  zerlegt  ist,  die  jetzt  —  unbequem  genug  — 
in  ein  Buch  eingeklebt  sind,  läßt  sich  auf  diese  Weise  nicht 
ermitteln,  welchem  Codextypus  er  angehört.  Ein  günstiger 
Zufall  hilft  hier  auf  die  richtige  Spur.  Als  ich  im  Oktober 
1908  den  Papyrus  für  eine  Neuausgabe  kollationierte  —  was 
mir  durch  Omonts  Güte  ermöglicht  wurde:  der  Papyrus  ge- 
hört zu  den  reserves  der  bibl.  nat.  — ,  bemerkte  ich,  daß 
auf  Blatt  6  verso,  das  eines  langen  Zauberschemas  wegen, 
abweichend  vom  sonstigen  Gebrauche  des  Schreibers,  der 
Längsseite  nach  beschrieben  ist,  der  Buchstabenreihe  der  ersten 
Zeile  (vgl.  pap.  Lond.  46,  338  f.,  121,  594,  pap.  Mim.  60) 
ia£wßacpp£V£[J.ouvo^iXapLxpccpta£u  ihr  zugehöriges  anagramma- 
tisches Stück  fehlt.  Es  schien,  als  habe  der  Schreiber 
das  Blatt  von  der  Rectoseite  aus  beschnitten,  ohne  zu  bemer- 
ken, daß  er  von  der  Versoseite  eine  halbe  Zeile  wegnahm. 
Ursprünglich  hatte  ich  das  Fehlen  der  Halbzeile  einem  Fehler  der 
photographischen  Aufnahme,  die  A.  Dieterich  hatte  fertigen 
lassen,  zugeschrieben,  da  es  Wessely  völlig  übergeht  und  die 
Zeile  stillschweigend  aus  den  folgenden  gleichen  Zeilen 
—  denen  jeweils  der  erste  und  letzte  Buchstabe  wegge- 
nommen werden  soll!  —  ergänzt.  Doch  entdeckte  ich  beim 
Weiterkollationieren  auf  Blatt  31  r,  das  inhaltlich  mit  Blatt 
6  gar  nichts  zu  tun  hat,  hart  am  Innenrande,  unten,  eine 
Buchstabenreihe,  die  sich  bei  scharfem  Zusehen  als  das  ana- 
grammatische Bild  jeuer  Halbzeile  auf  fol.  6v  ergab.  Zu- 
nächst war  mir  unklar,  wie  es  auf  ein  so  entlegenes  Blatt  geraten 
könne.  Auch  Omont  und  A.  Holder,  denen  ich  die  Beobachtung 
mitteilte,  wußten  keine  Erklärung.    Da  machte  mich  G.  A.  Ger- 

^)  Schubart,    das  Buch   bei  den  Griechen  und  Römern  (Reimer 
1907)  S.  117. 


Miscellen.  577 

har  d  iu  Heidelberg  auf  die  Septuagintapapyri  und  andere  Papy- 
ruscodices aufmerksam:  wie  diese,  bestand  der  Papyrus  aus  Dop- 
pelblätteru,  die  aufeinandergelegt,  in  der  Mitte  gebrochen 
und  dann  fortlaufend  auf  beiden  Seiten  beschrieben  wurden: 
das  Bild  unserer  gewöhnlichen  Schreibhefte,  nur  daß  hier  die 
Zahl  der  Blätter  geringer,  dort  bis  zu  18  Doppelblättern,  72 
Seiten,  angewachsen  ist.  Folio  6  v  und  31  r  bildeten  demnach 
die  obere  Fläche  eines  Doppelblattes,  6  r  und  31  v  die  untere 
des  gleichen.  Ueber  und  unter  diesem  Blatte  lagen  die  übrigen 
Doppelblätter  in  einer  Lage,  so  daß  je  ein  lolium  bildeten 
7—30  (=7  r  :  30  v— 7  v  :  30  r),  8—29,  9—28  u.  s.  w.  Alle 
diese  Halbblätter  links  und  rechts  der  Buchmitte  haben  in- 
haltlich miteinander  nichts  zu  tun,  da  ja  erst  sämtliche  Seiten 
der  linken  Buchhälfte  beschrieben  werden.  Nur  das  zu  oberst 
liegende  Blatt,  die  Mitte  des  ganzen  Buches,  hängt  auch  in- 
haltlich, nicht  nur  stofflich  in  sich  zusammen:  hier  fol.  18 v 
bis  19  r,  denn  von  18  v  ging  der  Schreiber  sofort  zu  19  r  über, 
um  von  nun  an  die  rechte  Hälfte  des  Buches  zu  beschreiben. 
Unterhalb  von  fol.  6  und  31,  des  sechsten  Doppelblattes,  ge- 
hören zusammen  fol.  5 — 32,  4 — 33  u.  s.  w.  bis  1 — 36.  Folio 
1  r,  also  das  oben  aufliegende  Blatt  des  geschlossenen  Buches, 
ist  nicht  beschrieben,  1  v,  die  Innenseite,  nur  mit  wenigen 
koptischen  Zeilen,  die  ich  fast  als  Schreibübung  oder  miß- 
lungenen Versuch  auffassen  möchte,  das  zugehörige  Blatt  26  r 
und  V  ist  ebenfalls  unbeschrieben.  Aber  mit  Blatt  35  v  en- 
digt der  Text  nicht,  der  Schluß  fehlt  offenbar.  Wo  blieb  er 
und  warum  findet  er  sich  nicht  auf  dem  folgenden  Blatt  36r? 
Erinnert  man  sich,  daß  der  Leidener  Papyrus  W  als  „Ein- 
band" primitiver  Art  einfach  ein  unbeschriebenes  derbes  Doppel- 
blatt hat,  so  wird  man  das  auch  hier  anwenden  dürfen  ^) :  dieses 
erste  und  letzte  Blatt  des  Par.  Pap.  ist  tatsächlich  grobfaserig 
und  stark  genug,  um  als  Einband  gedient  zu  haben.  Die 
Fortsetzung  aber  von  fol.  35  v,  also  etwa  35*rv  war  wohl  ein 
Einzelblatt,  das  eingeklebt  oder  auch  nur  eingelegt  wurde 
und  so  verloren  ging,  schon  bevor  die  Mitte  des  Papja-us 
brach  und  ihn  in  die  36  Einzelblätter  trennte,  in  denen  er 
uns  jetzt  vorliegt. 

Heidelberg.  K.  Preisendans. 


®)  Nachträglich  erfuhr  ich  aus  den  Akten  des  Rijke  Museum  van 
Oudheden  zu  Leiden,  daß  die  drei  erwähnten  Papyri  von  Anastasy  als 
Gratifikation  für  den  Käufer  seiner  Sammlung  ausgesetzt  waren 
(lettre  de  Mr.  Jean  d'Anastasy  ä  Mess.  Tosizza,  le  18  mars  1828); 
darüber  ausführlicher  in  meiner  Ausgabe. 


Phüologua  LXVIII  (N.  F.  XXII),  4.  37 


578  Miscellen. 

13.  Zu  Lykophrons  Nachleben. 

In  Wilhelm  von  Christs  Handbuch  der  griechischen  Litte- 
raturgeschichte  findet  sich  am  Schlüsse  des  Abschnitts  über 
Lykophrons  Alexandra  folgender  Satz,  der  seinen  Platz  durch 
alle  Auflagen  bis  zur  neuesten  (S.  561)  behauptet  hat:  „In 
neuerer  Zeit  hat  ihm  (näml.  dem  Gedicht)  Jos.  Scaliger  die  Ehre 
einer  Uebersetzung  erwiesen  (1584)  und  hat  es  Reinhard  in 
der  Prophezeihung  vom  Untergang  Magdeburgs  nachgeahmt". 

Ohne  Zweifel  ist  hier  die  'Nachahmung  von  Lykophrons 
Cassandra'  gemeint,  die  'zu  mehrerer  Empfehlung  des  griechi- 
schen Originals'  der  damalige  collega  tertius  und  spätere  Con- 
rector  der  sächsischen  Fürsten-  und  Landesschule  zu  Grimma, 
der  Magister  Heinrich  Gottfried  Reichard  ^),  seiner  Ausgabe 
des  Lykophrontextes  vom  Jahre  1788  zufügte,  und  von  der 
der  Verleger  nach  einer  Mitteilung  in  der  'Vorerinnerung' 
eine  Anzahl  Exemplare  besonders  abdrucken  ließ.  Mir  liegt 
sowohl  die  Ausgabe  Reichards,  als  auch  ein  Separatabzug  der 
'Nachahmung'  vor,  der  bis  auf  die  Verlegernotiz  auf  dem 
Vorsatzblatt  und  eine  unbedeutende  Differenz  in  der  Seiten- 
zähluiig  genau  mit  dem  Druck  in  der  Ausgabe  übereinstimmt. 
Hier,  wie  dort  geht  dem  Gedicht,  welches  die  Vision  'der 
magdeburgischen  Jungfrau'  kurz  vor  der  Eroberung  der  Stadt 
im  Jahre  1631  enthält,  die  schon  erwähnte  'Vorerinnerung' 
voraus,  die  unterzeichnet  ist: 

'G**,  den  1.  Jan.   1788.  |^^    jj    q    j^, 

Diese  Buchstaben  können  nur  den  Editor  Mag.  Heinrich 
Gottfr.  Reichard  bezeichnen,  welcher  zugleich  der  Dichter  der 
Prophezeihung  sein  wird,  die  auf  Grund  ihres  Inhaltes  nach 
1779  entstanden  sein  muß.  So  sind  auch  die  Buchstaben 
ganz  richtig  in  Schweigers  Handbuch  der  classischen  Biblio- 
graphie I  S.  200  b  aufgelöst,  während  ich  in  der  letzten  Auf- 
lage von  Engelmanns  Bibliotheca  scriptorum  classicorum  I 
S.  497/8  nicht  nur  diesen  Sonderabzug  nicht  aufgeführt  finde, 
sondern  auch  noch  Potters  zweite  Ausgabe  Lykophrons  von  1702 
und  Leopold  Sebastianis  römischen  Druck  von   1803  vermisse. 

Ein  weiterer  Irrtum  Christs  in  dem  oben  ausgeschriebe- 
nen Satze  sei  noch  rasch  berichtigt:  Joseph  Scaligers  Ueber- 
setzung erscheint  nicht  erst  1584,  sondern  schon  in  dem 
Lykophrontext,  der  1566  in  Basel  bei  Oporinus  und  Perna 
erschienen  ist,  neben  der  Uebersetzung  von  Guilelmus  Canterus. 

Hamburg.  JB.  A.  Müller. 

')  Vgl.  über  ihn  den  Artikel  von  R.  Hoche  in  der  AUg.  Deutschen 
Biographie  XXVII  (1888)  624/5. 


Miscelleii.  579 


14.    Vetulam  facere  und  die  dies  vetulae. 

Albert  Müller  zitiert  oben  (S.  483)  aus  Du  Gange  die  Wen- 
dung vetulam  facere  und  bezieht  sie  auf  den  Neujahrsbrauch, 
in  der  Vermummung  eines  alten  Weibes  umherzuziehen.  Dieser 
Brauch  würde  wohl  an  die  Vorstellung  des  Altjahres  als  altes 
Weib  anknüpfen,  für  die  H.  Usener  in  dem  bekannten  Aufsatz 
über  italische  Mythen  (Rhein.  Mus.  XXX  194  ff.)  ein  reiches 
Material  zusammengestellt  hat.  Leider  sind  die  von  Du  Gange 
zitierten  Stellen  nicht  ganz  eindeutig,  und  die  Ansicht  älterer 
Gelehrten,  daß  hier  vetula  für  vitula  eingetreten  sei,  wird  auch 
von  den  neusten  Herausgebern  des  Lexikons  empfohlen;  be- 
deutsam ist  vor  allem  die  von  ihnen  (VIII,  498  H.-F.)  beige- 
brachte Stelle  aus  Theodor.  Hb.  poenit.  ed.  Thorp.  27,  19:  'Si 
quis  in  Kai.  lan.  in  cervulo  aut  vetula  vadit,  id  est  in  ferarum 
habitu  se  communicant  et  vestiuntur  pellibuspecudum  et  assumunt 
capita  bestiarum:  qui  vero  taliter  in  ferinas  species  se  transfor- 
mant,  tres  annos  poeniteant'.  Hier  ist  in  der  Erklärung,  die  das 
vetulam  facere  mit  umfaßt,  nur  von  Tiermasken  die  Rede.  Cer- 
vuluni  oder  cervulani  facere  ward  bei  Du  Gange  in  einem  be- 
sondern Artikel  behandelt  und  aus  spätlateinischen  Quellen  be- 
legt. Altgriechischer  Brauch  gibt  dafür  Analogien;  so  hören  wir 
von  den  Bukoliasten,  deren  Gratulationslied  erhalten  ist,  daß 
sie^  als  Komasten  der  Artemis,  Hirschhörner  auf  dem  Kopf 
trugen  (xepaxa  sXacptov  Tcpox£ia9a:,  Theoer.  ed.  Ahrens  vol.  II 
p.  5).  Von  hieraus  wird  man  weiter  kommen  können.  Sicher 
scheint  jene  Deutung  von  vcttdam  facere  demnach  nicht.  Wenn 
aber  aus  Abulfeda  p.  102  ed.  lo.  Graev,  eine  Notiz  zitiert  wird, 
nach  der  der  26.  Februar  principiim  äierum  vetulae  est, 
eosque  esse  Septem,  so  ist  vetula  in  diesem  Zusammenhang 
kaum  mißzuverstehen  —  möge  man  nur  bessere  und  ältere 
Belege  bringen.  Hier  würden  wir  auf  den  März  als  Jahres- 
anfang kommen  und  dürften  in  der  vetula  die  Genossin  des 
Mamnrius  Veturins  vermuten,  die  alte  Änfia  Ferenna,  die 
H.  Usener  uns  als  Jahresgöttin  verstehn  gelehrt  hat. 

Vielleicht  geben  die  obigen  Zeilen  einem  Kenner  des 
Spät-  und  Mittellatein  die  Anregung,  diese  Fragen  im  neuen 
Jahr  {fausta  laetaque  ominamur)  einmal  wirklich  zu  unter- 
suchen. 

München.  0.  Crusius. 


September  —  Dezember  1909. 


Register. 
I.  StelleiiTerzeiclmis. 


Alciphr.  Ep.  II  35,  3 
Apul.  Met.  8  c.  1—14 
Aristoph.  Nub.  1363 

—  Pax  150;  180 

188 

190;  195;  206 

211 

362;  867 

376 

405;  406;  414 

429 

447 

457;  496 

522;  548;  603 

—  Plut.  1098 

1118;  1122 

1123;  1127;  1129 

1131;  1132 

1134;  1137 

1140 

1147 

1153 

Athenaeus  450  e 
Cass.  Fei.  14  (p.  21,  6) 

46  (p.  120,  11) 

CatuU.  84 

Cic.  Divin.  1,  70;  71 

1,81 

1,  124 

2,  117 

2,  118 

—  Epist.  ad  Quint.  fratr. 

Democrit.    uepl    £u9-up.CYjs 
Diels  (163  Natorp) 


453 

Democrit.  fr.  191  Diels  (52  Nat. 

)574 

537  ff. 

Diod.  23,  3 

415 

452 

Eurip.  Bacch.  882 

453 

353 

—  Hei.  1232 

453 

358;  354 

—  Troad.  1381 

453 

354 

Gloss.  III  p.  599,  12 

551 

355 

—  III  p.  602,  35 

551 

356 

—  III  p.  603,  36 

551 

857 

Horat.  Carm.  2,  7,  9—10 

523 

359 

2,  18,  38  ff. 

526 

361 

Mart.  Spect.  21 

88 

862 

—  Epigr.   1,  67 

91 

363 

3,  58,  12 

319 

364 

4,  25,  5 

95 

344 

4,  58 

96 

345 

5,  24,  11 

97 

346 

5,  38 

98 

347 

5,  78 

100 

848 

6,  14 

101 

349 

6,  58,  1 ;  2 

102 

350 

7,  73 

106 

351 

8,  51 

107 

450 

9,  61,  5 

111 

551 

12,  21 

112 

552 

12,  32 

116 

459 

13,  65 

117 

562 

Pion.  vita  Polycarp.  c.  30 

453 

561 

Plat.  Rep.  10,  607  A 

453 

563 

Plut.  Mulier.  virtute  22 

539 

566 

Soph.  Antij?.  1105 

452 

567 

-  Oed.  Col.  1132 

451 

2,9,3 

—  Philoct.  329 

452 

529  Anm. 

Thucyd.  1,  24,  3 

446 

fr.    3 

Verg.  Eclog.  1,  59;  60 

447 

573 

Xenoph.  Memor.  2,  1,  21—34 

488 

Register. 


581 


II.  Sachliches. 


Aberglaube  am  Neujahrstage  p. 
475. 

Accius  bei  Prise,  p.  17;  23;  26. 

Acta  Imperatorum  Romanorum  p. 
271  ti'.;  Ueberlieferung  p.  274; 
Hauptgattungen  p.  278 ;  Ver- 
öffentlichung und  Sammlungen 
p.  283 ;  Merkmale  p.  285 ;  Chro- 
nologische Tabellen  p.  310. 

Aegatische  Inseln,  Schlacht  p.  426. 

Aelius  bei  Prise,  p.  27. 

Aemilius  vgl.  Asper. 

Afranius  bei  Prise,  p.  18. 

Agrippa,  Weltkarte  p.  318. 

Aiax,  Name  der  Priesterkönige  v. 
Olba  in  Kilikien  p.  168  Anm. 

Albinus  bei  Prise,  p.  9;  25. 

Alfius  Avitus  bei  Prise,  p.  8  ff. 

Allegorie  des  Prodikos  p.  488  ff. 

Alphabet-AUi^govie  p.  497. 

Amtsantritt  der  Konsuln  am  1.  Ja- 
nuar p.  464. 

Andronicus  vgl.  Livius. 

Anonymus  ad  Herennium  bei  Prise. 
p.  24;  27. 

—  lamblichi  p.  500  ff. 
Antias  vgl.  Valerius. 
Antipater,  Cael.  bei  Prise,  p.  19. 
Antiphon  der  Anonymus  lamblichi 

p.  516. 

Aphthonius  p.  11. 

Appius  Claudius  p.   1;  16. 

Apuleiiis  bei  Prise,  p.  2;  17;  No- 
velle vom  Tode  der  Charite  p. 
537  ff. ;  Charitenovelle  eine  Kon- 
tamination der  Protesilaossage 
des  Euripides  mit  der  Atysle- 
gende  des  Herodot  p.  547. 

AristopJianes,  der  von  ihm  geschil- 
derte Merkur  p.  344  ff. 

Aristoteles  und  die  Vorsokratiker 
p.  368  ff. 

Arruntius  Celsus  bei  Prise,  p.  5  ff. 

—  Claudius  p.  7. 
Asellio  vgl.  Sempronius. 
Asinius    PoUio    bei    Prise,    p.    19; 

22;  27. 

Asnionius  p.  13. 

Aem.  Asper  bei  Prise,  p,  2;  3. 

Astrologisches  in  der  griechisch- 
orthodoxen Liturgie  p.  572. 

Astynomen,    Ehrendekrete    p.  570. 

Atacinus  vgl.  Varro. 


Ateius  bei  Prise,  p.  27. 

Atta  bei  Prise,  p.  18. 

Attische  Dekrete  p.  569. 

Atyslegende  des  Herodot  p.  547. 

Aufidius  Chius  bei  Prise,  p.  28. 

Aiifustius  bei  t'risc.  p.  27. 

Aureliiis  bei  Prise,  p.  22. 

Ausonius  p.  11 ;   12. 

Auspicianische  Strophe  p.  157. 

Avienus  p.  11  ;  12. 

Avitus  vgl.  Alfius. 

Bassins  vgl.  Caesius. 

Berufsstände  mit  ihren  Pflichten 
und  Rechten  im  Idealstaate  Pia- 
tos p.  236. 

Berytius  vgl.  Probus. 

Besitzlosigkeit  der  zwei  ersten  Klas- 
sen im  Idealstaate  Piatos  p.  236. 

Bobiensia,  Beiträge  zu  Ciceroscho- 
lien  p.  71  ff. 

Briefe,  Erlasse  der  Kaiser  p.  281 ; 
288. 

Caecilius  bei  Prise,  p.   18. 

Caelius  vgl.  Antipa,ter. 

lul.  Caesar  bei  Prise,  j).  19;  26; 
27. 

lul.  Caesar  Strabo  bei  Prise,  p.  17  ; 
21. 

Luc.  Caesar  bei  Prise,  p.  27. 

Caesius  Bassus  bei  Prise,  p.  26. 

Calpurnius  Piso  bei    Prise,    p.  19. 

Lic.  Calvus  bei  Prise,  p.  26. 

Cannutius  bei  Prise,  p.  22. 

Caper  bei  Prise,  p.  28  ff. 

Cassinis  Hemina  bei  Prise,  p.  19 ; 
23. 

Cassius  Severus  bei  Prise,  p.  23. 

Cato  bei  Prise,  p.  18;  21. 

Catull    bei  Prise,  p.  26. 

Celsus  vgl.  Arruntius. 

Censorinus  bei  Prise,  p.   14ff. ;  27. 

Charitenovelle  p.  537  ff. ;  eine  Kon- 
tamination der  Protesilaossage 
des  Euripides  und  der  Atysle- 
gende des  Herodot  p.  547. 

Chius  vgl.  Aufidius. 

Chronologische  Tabellen  der  Acta 
Imperatorum  Romanorum  id.  310. 

C7m6a-Chumba  p.  172. 

Cicero  bei  Prise,  p.  20 ;  24 ;  26 ; 
27  ;  Quellen  der  Divinatio  p.  560; 
Divinatio  von  einem  Anonymus 
herausgegeben    p.   562;    Wider- 


582 


Register. 


legung  p.  563  if. ;  Bobiensia,  Bei- 
träge zu  Ciceroscholien  p.  71  ff. 
Cinna  bei  Prise,  p.  25. 
Claudius   vgl.   Appius;    Arruntius; 

Quadrigarius. 
Clitomachus,  Quelle  zu  Ciceros  Di- 

vinatio  p.  560. 
Cornelncs  vgl.  Nepos;  Severus. 
Cornificius  bei  Prise,  p.  27. 
L.  Crassus  bei  Prise,  p.  21. 
Cratippus,  Quelle  zu  Ciceros  Divi- 

natio  p.  560. 
Cuba  p.  173. 
Curio  bei  Prise,  p.  22. 
Decreta  p.  282;    Datierung    eines 

Dekrets  p.  304. 
Demokritos,  Berührungen  mit  dem 

Anonymus  lamblichi  p.  307. 
Dicaearchus,  Quelle  zu  Cieeros  Di- 

vinatio  p.  561  ff. 
Donatianus  bei  Prise,  p.  22. 
JDonatus  bei  Prise,    p.  27 ;   Donat- 

kommentar   von    Erchanbert  v. 

Freisingen  p.  396  fi'. 
Edikt  p.  286. 
Ehrendekret  für  die  Astynomen  p. 

570;    für  die  Prytanen  u.  deren 

Beamten  p.  572. 
Eigentümlichkeiten  des  platonischen 

Ötaatsentwurfs  p.  235. 
Ennius  bei  Prise,  p.  16;  25;  26. 
Kphehe  p.  488. 

Epistida,  Erlaß  der  Kaiser  p.  281. 
Epitheta  des  Merkur  p.  367. 
Erchanbert  v.  Freisingen  p.396ff. ; 

Quellen  p.  400  ff. 
Eros,   Bedeutung     und     Gebrauch 

p.  52  ff. 
Erziehung    im    Idealstaate    Piatos 

p.  230. 
Etruskische  Spiegel   mit    der  Dar- 
stellung des  Herkules  am Scheide- 

■wege  p.  4U0. 
Euripides,  Protesilaossage    p.  547. 
Fahius  Maximus  bei  Prise,    p.  19. 
Familienlosigkeit  im  Idealstaate  Pia- 

p.  236. 
C.  Fannius  bei  Prise,  p.  19;  22. 
Feier  am  2.  Januar  p.  484. 
Fenestella  bei  Prise,  p.  21. 
Flaccus  vgl.  Verrius. 
Formeln  in  den  Edikten  u.  Briefen 

der  Kaiser  Augustus  bis  Hadrian 

p.  271  ff. 
Frau  Hütt-Sage  p.  170. 
Gaius  bei  Prise,  p.  3. 
Gallienus  p.  11. 


Gannius  bei  Prise,  p.  17. 

Gargilius  Martialis  p.  11. 

Gebete  am  1.  und  3.  Januar  p.471. 

Gebräuche  am  Neu  jahrstage  p.474ff'. 

Gellius  bei  Prise,  p.  1  ;  2;  19. 

Gleichstellung  von  Mann  u.  Weib 
in  Rechten  und  Pflichten  im 
Idealstaat  p.  236. 

Glossen  aus  Cassius  Felix  p.  550 ff. 

Glückwünsche  am  Neujahrstage  ]3. 
475. 

Gordianus  I  und  II  p.  11. 

Gottesdienst  am   1.  Januar   p.  471. 

Gracchus  bei  Prise,  p.   17;  21. 

Häuserschmuck  am  Neujahrstage 
p.  481. 

Häuslicher  Gottesdienst  am  Neu- 
jahrstage p.  471. 

iZe/?cMesc7i-orientalischer  Einfluß  in 
Rom  p.  272. 

Hemina  vgl.  Cassius. 

Herkules  am  Scheideweg  p.  488  ff. 

Herodot,  Atyslegende  p.  547. 

Horatius  bei  Prise,  p.  26. 

Hortensius  bei  Prise,  p.  25. 

Hosiius  bei  Prise,  p.  25. 

Hütt-Sage  p.  170. 

i  und  j  in  der  latein.  Orthographie 
p.  462  Anm. 

Jahresivechsel  p.  472. 

lamblichi  Anonymus  p.  500  ff. ;  Be- 
rührungen mit  Demokritos  p.  507. 

1.  Januar  Neujahrstag  p.  464; 
Amtsantritt  der  Konsuln  p.  464; 
Feier  am  2.  Januar  p.  484. 

Idealstaat  Piatos  p.  229  ff. 

Intitulatio,  .'Adresse  u.  Gruß  p.  290. 

Johannesfeier  p.  474. 

luba  bei  Prise,  p.  13. 

Julius  vgl.  Cäsar ;  Romanus ;  Va- 
lerius. 

luvenal  bei  Prise,  p.  26. 

Kadmos,  der  Koer  p.  321. 

Kammanovelle  p.  539. 

Karer  und  Leleger  p.  428  ff. 

ÄflHfcast'scÄ-tatarisehes  Märchen, 
Uebei-einstimmung  mit  der  Cha- 
rite-Kammanovelle  p.  541;    548. 

Kleidung  am  Neujahrstage  p.  481. 

Konsuln,  Amtsantritt  am  1.  Ja- 
nuar p.  464. 

K%iha-Kybele  p.  118  ff.;  161  ff. ;  174. 

Laberius  bei  Prise,  p.  18. 

Labys,  Eunuch,  Erfinder  des  yvwöi 
asaoxdv  p.  215. 

Laevius  bei  Prise,  p.  26. 

Lato,  Lutona  p.  183  Anm. 


Register 


588 


Lehenshaum   p.  492  Anm. ;   493  ff. 

LeJeger  und  Karer  p.  428  ff. 

Licinius  vgl.  Calvus ;  Macer. 

litera  philosophica  p.  494  ff. 

Livius  Andronicus  bei  Prise,  p.  1  ; 
16;  25. 

Livius  bei  Prise,  p.  19  ff. 

Logos  der  Diotima  in  Piatos  Gast- 
mahl p.  52  tt\ 

Longanos,  Schlacht  p.  44  f. 

Lucanus  bei  Prise,  p.  25 ;  26. 

Lucilius  bei  Prise,  p.  26. 

Lucius  vgl.  Cäsar, 

Lucretius  bei  Prise,  p.  26;  Lucre- 
tius  Verhältnis  zur  Musik  p.  529  ff. 

Ljal-SuUa  p.  543. 

Li/kophron,  zu  dessen  Nachleben 
p.  578. 

L.  3Iacer  bei  Prise,  p.  19;  27. 

mandata  principis  p.  282. 

Marius  Maximus,  Quelle  der  scrip. 
bist.  Aug.  p.  10. 

Marsns  bei  Prise,  p.  26. 

Blaiiial  bei  Prise,  p.  26. 

1.  Mars  als  Neujahrstag  p.  464. 

Maximinus  iunior  p.  11. 

Maximus  vgl.  Fabius;  Valerius. 

G.  Memmius  bei  Prise,  p.  22. 

Merkur,  von  Aristophanes  geschil- 
dert p.  344  ff.;  367;  Epitheta 
p.  367. 

Metellus  Numidicus  bei  Prise,  p.  21. 

Mummius  bei  Prise,  p.  18. 

MythograpJiiscIies  p.  152  ff. 

Naevius  bei  Prise,  p.  16;  25. 

Namatianus  vgl.  Rutilius. 

Cornelius  Nepos  bei  Prise,    p.  19. 

NeujaJirsfeier  im  röm.  Reiche  p. 
464  ff. ;  von  Arbeit  frei  p.  474  ; 
Geschenke  p.  475  ff. 

Nibelungenlied,  Vergleich  mit  der 
Charitenovelle  p.  545. 

Nigidius  Figulus  bei  Prise,  p.  26. 

Nisus  bei  Prise,  p.  27. 

Novius  bei  Prise,  p.  18. 

Numerianus  p,  11. 

Olympius  Nemesianus  p.  12. 
Orbilius  bei  Prise,  p.  27. 
Orgel  in  der  röm.  Literatur  p.  535  ff. 
Ovid  bei  Prise,  p.  26. 

Pacuvius  bei  Prise,  p.  12. 

Palaemon  vgl.  Remmius. 
Panaetius,  Quelle    zu    Ciceros  Di- 

vinatio  p.  560  ff. 
Panormus,  Schlacht  p.  419. 
Parakletike  p.  573. 
Pariser  Zauberpapyrus  p.  575. 


Paterculus  vgl.  Velleius. 

Paidus,  Jurist  p.  11. 

Peleus,  Hochzeit  p.  125. 

Persius  bei  Prise,  p.  26. 

Pessinunt  p.  125. 

Petronius  bei  Prise,  p.  3;  26. 

Philosophen,  Herrschaft  derselben 
im  Idealstaat  Piatos  p.  235. 

Piso  vgl.  Calpurnius. 

Plato,  Logos  der  Diotima  in  Piatos 
Gastmalil  p.  52ff. ;  politische 
(irundanschauungen  p.  229  ff. ; 
Eigentümlichkeiten  des  plato- 
nischen Staatsentwurfs  p.  235; 
Protagoras,  Berührungen  mit 
dem  Anonymus  lamblichi  p. 
508  ff.;  Platonica  p.  332;  Piatos 
Mienen  p.  334  ff. ;  Porträtbüste 
p.  336  ff. ;  Epist.  XIH  unecht 
p.  332;  Tod  p.  333. 

Plautus  bei  Prise,  p.  17;  18. 

Plinius  bei    Prise,    p.  27  u.  Anm. 

Plutardis  Erzählung  von  Kammas 
Tode  Vorbild  für  Ariosts  Be- 
richt von  Tanacro,  Oiindro  und 
Drusilla  p.  540  ff. 

Politischer  Standpunkt  des  Ano- 
nymus lamblichi  p.  501  ff. 

Pollio  vgl.  Asinius. 

A.  Pornpeius  bei  Prise,  p.  22. 

Pompeius  vgl.  Trogus. 

Pomponius  Secundus  bei  Prise,  p. 
17;   18. 

Posidonius,  Quelle  zu  Ciceros  Di- 
vinatio  p.  560  ff. 

Priscianus,  Beiträge  zur  Ueberlie- 
ferungsgeschichte  der  röm.  Lite- 
ratur p.   1. 

Probus  Berytius  bei  Prise,  p.  27. 

Propertius  bei  Prise,  p.  26. 

Protagoras,  Berührungen  mit  dem 
Anonymus  lamblichi  p.  508  ff. 

Protesilaossage  bei  Euripides  p.  547. 

Puhlilius  bei  Prise,  p.  18. 

Punischer  Krieg,  erster  p.  410  ff. 

P^/^/ifl^^oraslegende  p.  493  ff. 

Claud.  Quadrigarius  bei  Prise,  p. 
11;  19. 

Quincunx  im  röm.  Heere  p.  200  ff. 

Quintilian  bei  Prise,  p.  27. 

Bemmius  Palaemon  bei  Prise,  p.  27. 

Eemus  p.  154. 

Reskript,  Briefform  p.  281. 

lul.  Romanus  p.  11. 

Twp.o;  u.  Remus  p.  154. 

Rutilius  Namatianus  p.  11. 

Sacerdos  p.  11. 


584 


Register. 


Scaurus  vgl.  Terentius. 
Schifferlied  aus  Oxyrhynchos  p.  445. 
Schild,   Feldausrüstung    des    röm. 

Offiziers  p.  523  ff. 
SchlussprotokoU  p.  304. 
Sejnprunius  Asellio  bei  Prise,  p.  19. 
Seneca  bei  Prise,  p.  17. 
Corn.  Severus  bei  Prise,  p.  25. 
Severus  vgl.  Cassius. 
Sienna  bei  Prise,  p.  19. 
Sklaverei    im    Idealstaate    Piatos 

p.  238. 
Spiritus    asper    und    lenis    in    der 

Umschreibung  hebräischer  Wör- 
ter p.  456  ff. 
Sprachgebrauch  in  den  Briefen  der 

Kaiser  p.  308. 
Staberius  bei  Prise,  p.  27. 
Statins  bei  Prise,  p.  25;  26. 
Strassenunfug  am  Neujahrstage  p. 

482. 
Suhscriptiones  p.  282. 
Sueton  bei  Prise,  p.  9 ;  27. 
Sulla  bei  Prise,  p.  19. 
Tacitus,  Kaiser  p.  11. 
Tafelfreuden    am    Neujahrstage  p. 

481  ff. 
Taube,    Symbol     der     semitischen 

Muttergöttin  p.  183. 
Teukros,  Name  der  Priesterkönige 

von  Olba  in  Kiiikien  p.  108  Anm. 
Terentianus  bei  Prise,  p.  3. 
Terentius  bei  Prise,  p.  17;  18. 


dvansLpia 

(xväTieipog  statt  &vä7i:Yjpog 

'Ao-cäp-cY] 

AaiivajjLevöüg 

AsXcpixä  fpd\i.\ia.iix       210 

AwiaäxYjp 

s!JL7r£t.pog  für  siinr^pog 

Iv  STcicfavsa-cäxcp 

'Ecpsaia  yP<^1J'!J''*'^oc 

Zi^i|i(|i)rjv73 

"Hßyj 

Ka|jiäpa 

Kc|lßY) 

KüßeXov 
XeönY] 

jieyapov 


Terentius  Scaurus  bei  Prise,    p.  8. 

Ticidas  bei  Prise,  p.  26. 

Titinius  bei  Prise,  p.  18. 

Traianus,  Kaiser,  bei  Prise,  p.  21. 

Trogus  Pompeius  bei  Prise,  p.  21. 

Trophon,  Fragm.  p.  453. 

Turpilius  bei  Prise,  p.  18.  » 

u  und  v  in  der  latein.  Orthogra- 
phie p.  462  Anm. 

Ulpian  bei  Prise,  p.  3  ff. 

Umzüge  in  Verkleidungen  am  Neu- 
jahrstage p.  4J53. 

Unsterblichkeit  p.  56  ff. 

Valerius  Antias  bei  Prise,  p.  19. 

Valerius  Maximus  bei  Prise,  p.  18  ; 
21. 

lul.   Valerius  p.  12;  14. 

Varro  bei  Prise,  p.  25 ;  26 ;  28. 

Varro  vgl.  Visellius. 

Velleius  Paterculus  bei  Prise,  p.  21. 

Vergilius  bei  Prise,  p.  25  ff. 

Verkleidungen  am  Neujahrstage 
p.  483. 

Verrius  Flaccus  bei   Prise,    p.   27. 

Marius   Victorinus  p.  11. 

C.    Visellius  Varro  bei  Prise,  p.  22. 

Vorsokratiker  p.  368  ff. 

Weisspappel  p.  493. 

Weltbaum  p.  492  Anm. ;  493  ft'. 

Wochentage  mit  den  betreffenden 
Planeten  p.  573. 

Zauherpapyrus  p.  575. 

Zeus  Kariös  p.  480. 


194  Anm. 
450 
194 
185 
187 
489  ff. 
444 
186 
185 
199 
461;  462 
496 
185 

3  579 
579 
302 
117 
496 
483 ;  579 


[.  Wörter 

verzeichuis. 

461 

('O)pela 

170 

TToXXöv  mit  Komparativ 

452 

Tsia 

452 

SsXf^vrj 

161 

Tiaiiou 

220 

r 

ff.;  224  ff-. 

uSäTV] 

169  ff. 

Xaaßoö 

451;  452 

Xaiiäp 

449 

Xaußäp 

210  ff. 

(baiävva 

190 

bivium 

172 

Camera 

185 

cervulum  (.  .  lam)  facer 

170 

dies  vetulae 

165  ff. 

narratio 

493 

rarus 

169  ff. 

trivium 

189 

vetulam  facere 

452;  453 

PA  Philologus 

3 

P5 

Bd.  63 


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