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EBERHARD ZSCHIMMER
PHILOSOPHIE
DER TECHNIK
VOM SINN DER TECHNIK UNO
KRITIK DES UNSINNS UBER
DIE TECHNIK
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS
JENA 1914
T
14-
MEINER FRAU
852528
Von dcmsclbcn Vcrfasser erschicnen:
Eine Untersuchung iiber Raum, Zeit und Be«
griff e. 54 S. W. Engelmann, Leipzig 1906.
Die Glasindustrie in Jena, ein Werk von Schott
und Abbe. 160 S. mit Zeichnungen von Erich Kuithan.
E. Diederichs, Jena 1909.
Das Welterlebnis, nebst Anhang: Prolegomena
zur Panlogik. 322 S. Drei Teile. W. Engelmann, Leip=
zig 1909—1915.
Chemische Technologic des Glases. 556 S. Mit
173 Figuren im Text und auf 16 Tafeln. Als Manuskript
gedruckt fur das Jenaer Glaswerk bei 0. Spamer, Leip»
zig 1913-
VORWORT
A if den vorliegenden Blattern versuche ich einc Sinn«
deutung der bekannten Erscheinungen, die man ge-
wohnlich ohne viel Nachdenken mit einem Worte ,,die
Technik" nennt. Da ich selbst seit 14 Jahren in der Technik
ta'tig bin und in der Glasindustrie einiges Brauchbare fur
die Optik zustande gebracht, anderseits aber nie gelebt
habc, ohne zu philosophieren, so glaubte ich mich dazu
berechtigt, die viel zu vielen Biicher noch um dieses zu
vermehren.
Es gibt dicke Biicher und diinne Biicher. Den ersteren
fehien zumeist die den Stoff beherrschenden Ideen, da sic,
wie ein witziger Bibliotheksdirektor sagte, in der Regel von
,,geistlosen Walzern" verfaftt werden; die letzteren da=*
gegen bestehen meistens nur aus Ideen, ohne das notige
Beweismaterial. Aber ich lese diinne Biicher lieber als
dicke, und hiernach denke ich auch das mcinc einzu*
richten.
Sollte dieses Biichlein verfehlt sein, so diirfte es wenig»
stens fiir tiichtigere Verfasser den Zweck haben, man=
cherlei interessante Gedanken iiber die Technik zu same
meln, an deren Bekanntschaft ich mich oft belustigt
habe.
Meine Kritik bitte ich die Herren Denker, die ich zi-
tiere, nicht iibelzunehmen, sie braucht nicht richtig zu
sein; wer sich das einbildete, ware ja kein Kritiker. Ich
ermuntere dadurch, hoffe ich, manchen philosophischen
Geist, sich mit den zweifellos lohnenden Problemen ein=
gehender zu beschaftigen, als es mir moglich war.
Unter meinen Fachgenossen werden sich gewift viele
finden, denen das hier Vorgetragene stellenweise etwas
i Z » c h i m m c r , Philosophic der Technik 1
zu abstrakt*philosophisch, abcr sonst vollkommcn aus dem
Sinn gesprochen ist.
Die Literatur wollte ich moglichst vollstandig heran=
ziehen; trotzdem wird manchcs fehlen. Fur Mitteilungen
ware ich sehr dankbar.
Jenaer Glaswerk, im November 1913
EBERHARD ZSCHIMMER
WARNUNG
Astrakte Einsichten zu gewinnen oder gar im Gcdacht=
nis zu behalten, um sie zu allgemeinsten, fast ganzlich
von bestimmter Anschaulichkeit entkleideten Erkennt-
nissen zu verbindcn, 1st nicht jedcrmanns Sache.
Es gibt hervorragend schopferische Kopfe, die dies
ebensowenig lieben, wie ein Italiener den Aufenthalt in
Gronland oder ein Eskimo den in Indien. Auch unter
meinen Lesern befinden sich wahrscheinlich, trotz des —
wie ich glaube — geniigend abschreckenden Titels, noch
viele intuitive, anschaulich, tatig denkende Menschcn. Ich
warne sie, auch nur einen Biick in das folgende erste Ka»
pitel zu werfen; denn sie wiirden es auch beim besten Wil«
len abscheulich finden. Ich bitte sie, sofort mitten in der
Idee der Technik, etwa bei Zeppelin, auf Seite 29, an*
zufangen und ebenso das Schlufckapitel erst auf Seite 155
zu beginnen, wo wir uns iiber die amerikanische Industrie
und ihre Kulturbluten unterhalten werden.
Natiirlich wird sich nun erst recht dieser oder jener dar»
auf versteifen, das abstrakte Zeug klein kriegen zu wollen.
Fur solche Dickkopfe — die ja unter den intuitiven L eu«
ten am haufigsten sind — habe ich, um wenigstens die
schlimmsten Folgen (namlich das Nichtgelesenwerden der
spateren Hauptsache) abzuwenden, noch eine weitere
Warnungstafel an die Stellen gesetzt, wo es mir direkt ver-
hangnisvoll zu sein schien, das Anhoren der erkenntnis*
theoretischen Auseinandersetzungen zuzulassen.
Ich betone nochmals: Durch Mangel an Abstraktions=
fahigkeit oder an Interesse fur abstrakte Einsichten haben
sich selbst groBe Geister ausgezeichnet. Wir werden bei
unseren Untersuchungen iiber das Wesen der Technik
bald Gelegenheit haben, gewissen schopferischen Leistun*
gen des intuitiven Denkcns solchcn der reinen Logik ge=
geniiber den Vorrang einzuraumen. Ich bittc dcshalb, sich
einfach nicht urn die unverstandlichen, fiir die Philosopher!
bestimmten Stellen zu kiimmern und in Gottes Namen
weiterzulesen, bis es besser kommt; das ist mir lieber als
verdrieSliche Gesichter und schlafrige Augen.
Daft wir uns meistens mit recht konkreten und teilweise
sehr ernsten Dingen zu beschaftigen haben, brauche ich
wohl nicht noch zu beteuern. Auf diese mtissen sich meine
intuitiven Leser vertrosten lassen.
DIE PHILOSOPHISCHEN GRUND-
LAGEN
Es ist viel schwerer, einen alten Standpunkt zu ver*
lassen, als einen neuen zu finden. Einen Standpunkt
haben, heiftt ja nicht, heute so, morgen so in die Welt
blicken und wie ein unbeteiligter Zuschauer mehr oder
weniger erfreut sagen: ,,Ach so ist es?", sondern ein«
gelebt sein auf eine bestimmte Uber« und Unterordnung
der Gedanken, gewohnt sein an den bestimmten Blick«
punkt des Interesses, der alles sieht, was in seinen Kreis
fallt, das andere unbeachtet laftt, eingeschworen sein auf
gewisse Grundsatze, in die sich das ganze Denken kristalli>
siert zu haben scheint wie ein gefrorener Strom.
Das Schlimmstc ist, daft der Mensch seinen ersten
philosophischen Standpunkt — und an dem hangt jeder
wie an seiner alten Liebe — gar nicht selbst wahlt, son»
dern von aufien dazu bestimmt wird. Dies geschieht in
der Zeit, in der die Empfanglichkeit fur das Fremde und
Neue am groftten, die Begeisterung am starksten ist:
In der Jugend. Gymnasium oder Volksschule, Universi-
tat oder technische Hochschule, Gelehrtenhaus, Kiinst-
lerhaus oder Kaufmannshaus, Unternehmerfamilie oder
Arbeiterfamilie — wer wollte bestreiten, von welcher ge«
meinsamen, tiefen Bedeutung schon allein die Vcrschic=
denheit der Herkunft, der dufteren Bildungswege und
Spharen fur die einzelnen, wie auch immer individuell Ver«
schiedenen sind? — Freilich setzen Kraftnaturen, Genies
sich uberall durch. Aber wer bleibt von uns andern lange
genug jung, um fur einen neuen Standpunkt noch urn*
lernen zu konnen? —
Damit meine ich angedeutet zu haben, wie gering meine
Hoffnung ist, diejenigen zu iiberzeugen, die bcrcits cine
fcstc, von der meinen vicllcicht grundverschiedene Auf«
fassung dcr Welt und des Lebens mitbringen. Ich wende
mich, offen gesagt, an die jungen Kopfe und an jene alten,
die jugendfrisch geblieben sind: Auf der einen Seite an die
Ingenieure, die Techniker aller Art, zu denen auch ich ge*
hore — auf der anderen an die Drauftenstehenden, das
groSe gebildete Publikum, das die Technik gleichsam wie
am Tischlein-deck-dich vorgesetzt bekommt, als ware dies
so selbstverstandlich wie Mond- und Sonnenschein. Doch
denke ich hier im besonderen an die selbsttatigen Ver*
treter und Tra'ger der groften Kulturideale, der Kunst, der
Wissenschaft, der Humanitat; ich nenne sic kurz die Kul-
turbildner, um nicht zu sagen Kulturschopfer, zu denen
ich nur die Genies rechnen mochte.
Das ist mein Publikum. Wie die lustige Person im Faust
zum Dichter spricht: Greift nur hinein! so fordere auch
ich meine Leser im gleichen Sinne auf, aus dem vollen zu
schopfen, nur cinmal frisch zuzupacken, unbekummert um
die Standpunkte oder X-ismen der Philosophic — als ganz
gewohnliche normale Menschen zu sehen, was es denn
iiberhaupt gibt!
Jeder Mensch lebt bestandig in zwei Spharen, einer reellen
und einer ideellen Sphare. Das sind zunachst Worte. Was
ich damit meine, kann ich nicht besser als durch Beispiele
klar machen. Aber ich bitte mir die Bedingung aus: Ohne
Standpunkt! Es ist hier nur auf Schilderung abgesehen,
auf reine Beschreibung. Ich will noch keine Erkenntnis
oder Erkenntnistheorie entwickeln.
Angenommen, ich gehe heute nach dem Bahnhof —
jetzt eben bin ich unterwegs. Ich nehme einen Zettel aus
der Taschc und schreibe auf, daft ich mich jctzt cben in
der Bahnhofstrafte bcfinde. Das 1st die Feststellung von
ctwas Reellem. Mcin momentanes Sein in der Bahnhof*
strafte, mein Gehen nach dem Bahnhof, dieser Leib, dicsc
Handlung, dieses Wollen, das ist ebenso reel), wie die
reelle Strafte, der reelle Erdboden, die Hauser dort, das
Wagengerassel, der Benzingeruch, das Grunzen der Autos,
das Menschengewiihl, das Schubsen und Stolen. Kein
Zweifel, der Leser u-ird merken, was zur reellen Spharc
gehort.
Ich bitte jedoch, den Ausdruck ,,reeH" nicht zu ver-
wechseln mit ^real"1.
Ich gehe nun in ein Kinotheater. Jetzt eben, mitten drin
— ich bin ganz in die rasenden Vorgange vertieft — fa'llt
mir ein, den bewufjten Zcttel aus der Taschc zu ziehen und
dies zu notieren — namlich, daft soeben das reelle Dasein
in jener sonderbaren Rascrci, jener Traumvxirklichkeit be=
stcht, der ich zuschaue. Denn das sind ja alles nach un«
serer Definition zweifellos reelle Vorgange. Sie konnten
genau so sein, wenn ich aus dem Fenster auf die Strafte
sehe. Das Kinoerlebnis gehort ebenso zur reellen Spharc
wie vorhin das Straftenbild und mein Leib, mein Gehen
nach dem Bahnhof oder die Tra'nen, das Herzklopfen
und die angstverzerrten Gesichter der Zuschauer.
Ist das nun alles ubcrhaupt? Gibt es aufter dem Re*
ellen des Augenblicks nichts anderes? —
Fiir niedere Tiere wohl nicht. Die leben ganzlich reell.
1 Uber die Bcdcutung von ,,real" sche man R. Eisler, W5r«
terbuchderphilosophischcn Begriffe. 3. Aufl. Mittlcr u. Sohn,
Berlin 1910. — Aufterdem uber Realitat als Inhalt der objek=
tiven Zeit die vorzuglich klare Darstellung bei P. F. Linke,
Die phSnomenale Spharc und das reale Bcwufjtscin. Nie =
meyer, Halle 1912.
Sic frcsscn reell, sic begehren recll, ihre Furcht und
Wut, ihr Handeln, ihr ganzes Dascin gcht in dcr reellen
Sphare auf. Abcr Mcnschen, wohl auch hohcrc Ticre,
wie die Affen, findcn ganz gewift mehr Seicndes als das
Reelle in dcr Welt. Sic konstaticren direkt oder indirekt,
dag es auger dem alien noch ein zweites Reich, sagcn wir
kurz cine ideelle Sphare gibt.
Wicder ein Wort! ,,Das Ideelle". Was heigt das? — Ich
bitte den Leser gerade jetzt an keinen neuen ,,Standpunkt//
zu dcnken. Gerade jetzt kommt es darauf an, ganz naiv,
unbefangen zu bleiben. Es handelt sich einfach um die Auf*
weisung, um Demonstration von ctwas, das es gibt, noch gibt,
wenn wir das Reelle einmal vollstandig wegnehmcn. Unscrc
Beispiele helfen uns, dieses ideelle Etwas zu entdecken.
Sagen wir nicht, wir wollcn, wahrend wir jetzt wicder
in der Bahnhofstrage sind, ,,zum Bahnhof germ"? Damit
meinen wir doch ctwas, mit dicsem ,,Bahnhof" und
unserem ,,Gehen dahin". Dieses gemeinte Etwas nenne ich
nun ctwas Ideelles. Denn es ist — wenigstens fur Nicht=
wahnsinnigc — anders als dcr Erdboden, auf den ich jetzt
trete, anders als das Stragentreiben, der sinnlichc Vorgang
im Kino, anders als das Wirkliche, das Gesehene, das
Wahrgenommene, das Reelle. Es ist von verschiedener
Beschaffenhcit, nicht zu vcrwechseln mit dicsem Scienden,
und doch nicht ein Nichts. Es ist eben ideell vorhanden,
das Ideelle.
Die reelle Bahnhofstrage, wo ich jetzt ,,wirklich bin",
und der ideelle Bahnhof, wo ich nachher in Zukunft erst
,,sein wcrdc", beidcs ist also dem Dasein nach, wenn wir
achtgeben, so verschieden, wic ein jetzt wirklich anwesen*
der Mensch und ein jetzt abwcsender Mcnsch, von dem
ich nicht einmal weiS, ob cr nicht gar verwest ist.
8
Dcr ideelle Bahnhof, nach dem ich jetzt hin will, wcshalb
ich jetzt meine reellen Beine in Bewegung setze, weshalb
ich handele, wirklich will, tuc, diescr ideelle Bahnhof
konnte, ohne daB ich es weift, gar nicht mehr dasein, wenn
ich hinkame. Ich glaube ja, daB & dasein wird, sonst wiirde
ich nicht hingehen. Und ohne Zweifel ist dieser ,,geglaubte
Bahnhof" auch etwas, er ist eben ein ideelles Ding. —
Nehmen wir jetzt unseren Zettel, und versuchen wir auf-
zuschreiben, was es denn alles auBer dem reellen Jetzt gibt.
0, das wird eine endlose Arbeit! Meine Reiseerinne»
rungen, meine ganzen Lebenserinnerungen tauchen auf,
mein friihcres Wollen, Sehncn, Glauben. Wclten iiber
Wcltcn schachteln sich in der Zeit ineinander. Das Han»
deln der Menschen, die ganze Geschichte ga'hnt mich an.
Der Kosmos umfangt mich. In Ewigkeiten, in grenzenlose,
schwindelnde Tiefe blickt das geistige Auge. Die nahe,
reelle Erde wird zum Tropfen, zum Differential der Un«
endlichkeit des ideellen Raumes. Das Ideelle ist die Ewig-
keit und Unendlichkeit selbst in unendlicher Erfiillung
und Gestaltung. Und dieses alles ,,gibt es", muB ich kon=
statieren, ebenso wie es die reelle Strafie hier gibt, meinen
reellen Leib, mein reelles Handeln1.
Die ideelle Sphare, bemerke ich nun, bildet mit der re-
ellen Sphare eine einzige unaufzahlbare Totalitat des Sei»
enden iiberhaupt, ein Ineinandersein, ein Miteinandersein
des einen und des anderen, wie es jeder in jedembeliebigen
Momente so selbstverstandlich findet : AIs das voile Welt»
erlebnis, so daB man schon Fhilosoph sein muB, um sich
noch dariiber zu wundern.
1 Vgl. R. Eisler, wie Seitc 7 erwahnt. Ich bittc auch das Wort
,,ideell" nicht zu verwechscln mit dem ahnlich lautendcn
philosophischen Fachausdruck ,,ideal".
Wir wollen uns auch gar nicht dariibcr wundern. Wohl
abcr wollen wir, da wir noch keinen ,,Standpunkt" haben,
zur Sichcrheit dies schriftlich zu Protokoll geben, dag es
sich so verhalt: Daft es diese zwei Spharen gibt, worin
alles Seiende, was es iiberhaupt gibt, enthalten ist, daft
hieraus aller Sinn irgendwelcher Behauptungen iiber das
Sein das Material hernehmen mug, daft keiner von etwa
drittem Seienden reden kann, welches von dieser DoppeU
heit des Reellen und Ideellen ausgeschlossen ware und
dennoch ,,etwas" ware, d.h.dem WorteSein irgendwelchen
Sinn verleihen wiirde. Sagen wir also gegen alle Meta«
physik gewendet: Es gibt keine Hinterwelt aufier dieser Welt
der beiden Spharen, die jetzt jeder, wie ich annehme, kennt
und erfapt hat.
Das also ware das Material, mit dem wir es immer,
gleichviel ob wir Philosophen, Gelehrte, Kiinstler,
Techniker oder gewohnliche Menschen sind, zu tun haben.
Betrachten wir nun die Sache noch etwas genauer !
Was entdecken wir? ,,Es gibt" doch noch etwas, was
wir bis jetzt noch gar nicht erfagt haben. Dieses Neue
freilich ,,ist" nicht, es ist nichts, wenn Seiendes etwas
von dem oben aufgezahlten Material unserer ideellen und
reellen Sphare bedeutet, etwas, das so beschaffen ist wie
Anschauung oder Ton oder Gefiihl oder mein wirkliches
Wollen. Hierin liegt zunachst, gesetzt diese Behauptung
ware richtig, eine bemerkenswerte Sinnverschiedenheit
der beiden Formeln: ,,Es gibt etwas" und ,,es ist etwas".
,,Es gibt mehr als ist." — Was kann dieser paradoxe Satz
bedeuten? Wie kann es einen Sinn von Worten geben,
der noch mehr umfassen soil als, was ich meine, wenn ich
bereits sage: ,,Alles Seiende", ,,alles, was ist"? —
Ich nehmc es keincm mcincr Lcser ubel, wenn er hier
SchluB macht und zum nachsten Kapitel iibergeht. Ab-
solut notig zum Verstandnis dcs Spateren sind die cr«
kenntnistheoretischen Betrachtungcn, die jetzt kommen,
nicht, sie dienen nur zur wissenschaftlichen Begrundung
des Spateren, brauchen also von Nichtphilosophen nicht
angestellt zu werden.
Die denkenden Menschen haben sich lange Zeit ab=
gcmiiht, bis ihnen der zu erkennende Sachverhalt am
vollen Weltcrlebnis, welches sie friiher nur immer an=
schaulich, intuitiv betrachten wollten, klar wurde. Aber
es gibt in der Tat zweierlei:
1. ,,Seiendes", sei es nun sinnliches oder gefuhlsmafti-
gcs, sei es reelles oder ideelles Scicndcs, man nennt es das
Material oder die ,,Materie der Erkenntnis"; —
2. ,,Begrifle" dieses Seienden, die uns darin einleuch-
ten, die von dem seienden Material, wic man seit Lotze
wissenschaftlich sagt, ^gelten". Das ^Geltende" wird von
manchen Erkenntnistheoretikern wieder als die ,,Form
der Erkenntnis" bezeichnet im Gegensatze zur ,,Materic
der Erkenntnis".
Eisler1 definiert: ^Begriffe sind der Niederschlag von
Einsichten in das Konstante, Allgemeine, Charakteristische,
Typische einer Gruppe von Objekten, die Konzentrierung
und Fixierung des in einer Reihe von Urteilen Gedachten.
Sie enthalten das ^Wesen" einer Klasse von Objekten.
Dieses 7/Wesen" ist das, was dem Denkenden als logisch
wichtig, bedeutsam erscheint ..." — Machen wir uns dies
an einem Beispiel klar!
Hier liegen zwei Eier. Ihre Ahnlichkeit ist sprichwort-
1 R. Eisler, wie Seite 7 erwShnt.
11
lich, beide sind WeiSes in bestimmter Form. Aber es sind
doch zwci verschieden reellc Dinge, die hier liegen. Es ist
durchaus nicht einerlei, ob meine Hcnnc nur eins oder zwei
gelegt hat. Warum bezcichne ich denn nun nicht jcdcs Ei
mit einem anderen Namen? Warum brauche ich fur diesc
vcrschiedenen Objckte nur eincn gemeinsamen Ausdruck?
Offenbar deshalb, weil ich nicht dieses oder jenes konkrete
Ei meine, spndern : den Begriff der reellen und der samt=
lichen ideellen Eier, die vorgestellt werden mogen.
Oder betrachten wir den bunten Wechsel des Geschehens
in der Zeit. Weshalb geben wir so vielen Vorgangen, die
sich zu verschiedenen Zeiten abgespielt haben, denselben
Namen? Weshalb sprechen wir ganz einfach von ,,dem"
freien Fall der Korper oder von ,,der" Brechung des
Lichts? Offenbar deshalb, weil bei Gleichheit gewisser
Erscheinungen in der Zeit die Gleichheit anderer Er«
scheinungen in derselben Zeit bcstcht, weil das zeitliche
ebenso wie das raumliche Seiende Gemeinsamkeit, d. h.
partielle Gleichheit aufweist. Diese Gleichheit befiehlt uns
die Physik im Begriffe des Gesetzes zu denken, im Gesetz
des freien Falls wie im Gesetz der Lichtbrechung.
Die ganze exakte Naturlehre handelt von Gesetzen, d. h.
von Begriffen, die ihre Erfullung finden durch jene be»
stimmte Art des anschaulich Seienden, welches wir in der
Sinneswahrnehmung vorfinden und welches — worauf
Mach1 eindringlich hingewiesen hat — immer wieder aus
denselben Seinselementen, namlich denselben Farben,
Driicken, Warmen, Geschmacken, Geriichen, Tonen be*
steht, einerlei, ob die beobachteten Gesetzmaftigkeiten des
konkreten, daraus zusammengesetzten Geschehens das
1 E. Mach, Analyse der Empfindungen. 6. Aufl. G. Fischer,
Jena 1911.
12
letztcrc als einen ,,Lichtvorgang", einen ,,elektrischen"
Vorgang, einen ,,chemischen" Vorgang usw. charakte-
risieren. ,,Dit Elektrizitat" ist nichts Seiendes, sondern
eine Gesetzmafiigkeit, ein fur dasselbe Seiende geltendes
Begriffssystem, fiir welches auch zugleich noch andere
solcher Begriffssysteme, wie ,,die Gravitation" oder ,,die
chemische Aflinitat", ,,die Warme" usw. gelten. Auch die
in den Gesetzen vorkommenden GroBen sind Begriffe und
nicht etwas Seiendes. In den anschaulichen Vorgangen der
mechanischen oder elektrischen oder magnetischen Be*
wegung von Korpern gegeneinander ist etwas, was die
,,mechanische Masse", die ,,motorische Kraft", die ,,Elek»
trizitatsmenge", die ,,magnetische Kraft" usw. heifit, nicht
zu sehen, zu greifen, zu riechen; sondern es ist als bestimm*
ter Quantitatsbegrift darin oder davon denkend zu erfassen,
ebenso wie jeder rein mathematische Begriff.
Ich brauche wohl nicht hinzuzufiigen, daft jeder nature
wissenschaftliche GroBenbegriff wie jedes Naturgesetz
iiber die Beobachtung hinausgeht und deshalb ein Begriff
ist, der nur fiir die ideelle Anschauung gilt, die wir uns
selbst erst ersonnen haben1.
Wir sehen also — das glaube ich hiermit genugend klar
gemacht zu haben — es gibt auBer dem Seienden noch
etwas vollig anderes, etwas, das nicht ,,zur Ansicht", son«
dern ,,zur Einsicht" kommt: Eben jene vielfaltige Gemein-
samkeit des Seienden, die wir im Begrifle erfassen und die
als Begriff von dem Seienden gilt. Das war es, was den
Denkern von Plato bis auf Kant so viel Kopfzerbrechen
gemacht hatte2.
1 H. Poincart, Wissenschaft und Hypothesc, iibcrsctzt von F.
u. L. Lindemann. 2. Aufl. Teubncr, Leipzig 1906. 2 In sehr
klarer Weisc wird dies geschildcrt von E. Cassirer, Das Er-
13
Rr die meisten wissenschaftlich gebildeten Menschcn
nd das freilich heute selbstverstandliche FeststeU
lungcn — odcr sollten es wenigstens sein. Abcr wenn man
philosophiert, so muB man auf solche ,,Selbstverstandlich»
keiten" ganz besonders acht gcben. Denn man gera't sonst
Icicht, wic die Geschichtc dcr Philosophie beweist, in Wi*
defspriiche. Wir haben uns stets gegenwartig zu halten,
daft die Gemeinsamkeit, die wir im Begriffe erfassen, in
ihrem Verhaltnis zur bloften Anschauung oder Intuition
etwa vergleichbar ist der dritten Dimension, die zur
Flache hinzukommt, um das voile Ganze zu machen, das
man schlechthin den Raum nennt. So ist auch das, was
man schlechthin die Dinge, die Vorgange, die Personen,
die Handlungen nennt, ganz abgesehen davon, ob das Ma«
terial dieser Dinge usw. ideell oder reell ist, bereits ein
logisch untrennbares Ganzes von Anschauung und Begriff,
mit einem Worte ,,Erfahrung" (im Kan/ischen Sinne).
Jedes wirkliche Etwas befindet sich nicht nur anschaulich
eingestellt in die unendliche Spha're des Reellen und Ide-
ellen, sondern zugleich auch unterstdlt dem System der
Begriffe — ein Umstand, der dem intuitiv veranlagten
Menschen geradezu widerwartig ist.
System der Begriffe? Ein neuer Ausdruck wird hier aus
der Pistole geschossen! Was soil denn das heiften:
^System"? — Der Leser werde nicht ungeduldig; auch
moge jeder meine Warnung bedenken und den Rest dieser
Spitzfindigkeiten ubergehen, wenn er sich nicht dafiir
interessiert.
kcnntnisproblcm in der Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit. 2. Aufl. B. Cassirer, Berlin 1911. — Man sehe
auch H. Lotze, Logik. Philosophische Bibliothek, Bd. 141.
F. Meiner, Leipzig.
Es ist das letzte, was ich — noch immcr ohne ,,Stand«
punkt" — zcigcn mochte, bcvor ich mit der Darstellung
meiner Auffassung vom Sinn der Technik und mit dcr
Kritik des Unsinns iiber die Technik beginne. Wenn wir
noch klar sehen — und Denken erfordert Klarheit — was
ein „ System von Begriffen", ein ,,Begrundungszusammen«
hang von Begriffen" bcdcutet, die von dem Mannigfaltigen
der Anschauung gedacht werden sollen oder denen, wie
wir eben sagten, ein solches Anschauliches unterstehn soil :
Wenn uns dieses vollig klar ist, dann verstehen wir leicht,
womit sich die wissenschaftliche Philosophie der Gegen«
wart, im besonderen die kritische Philosophie, so schr
abmiiht, worauf es ankommt bei allem wissenschaftlich
ernst gemeinten Philosophieren iiberhaupt — ganz einerlei,
von welchem Standpunkte aus. Aber, wie gesagt, vielen
Leuten ist das vollig gleichgiiltig, und ich nehmc es ihnen
nichtubel.
GlUcklicherweise — manche sagen unglucklicherweise
— gibt es schon wohlbekannte, gut ausgebildete Be-
griffssysteme oder Begrundungszusammenhange, die uns
wShrend unserer Schulzeit als Vorbilder der Wissenschaft-
lichkeit einleuchten oder wenigstens einleuchten sollten,
z. B. die Geometric.
Wir wissen : jeder besondere raumliche Formbegriff, den
wir in der ideellen Sphare konstruieren, untersteht einem
allgemeineren Formbegriffe. Der Begriff des Dreiecks
untersteht dem des Vielecks, der Begriff des Kreises dem
des Kegelschnitts usw. Und auch jeder Begriff einer be-
sonderen Quantitatsbeziehung, jede Einsicht in einGroften*
verhaltnis an komplizierten geometrischen Konstruktions«
formen untersteht wenigen grundeinfachen geometrischen
15
Quantitatsbegriffen, die das in dem komplizicrten Form=
zusammenhang Einzusehcndc, z. B. die Gleichhcit, die
der Lehrsatz des Pythagoras ausspricht, wie man sagt,
,,begrunden".
Der mathematische Beweis zeigt, dafi hier dasselbe statt»
findet, wovon in den und den einfacheren Verbindungen
friiher bereits eingesehen worden ist, daft die und die
Quantitatsbeziehungen, wenn man jene zugibt, ebenso
wahr bestehen. Und so umfaftt schlieBlich die Wissenschaft
Geometrie das durch einfache und allgemeine Grundein=
sichten gestiitzte System samtlicher Form= und Quanti=
tatsbegriffe, die von der moglichen ideellen Gestaltenftille
des Raumes gedacht werden konnen. Ihre Lehrsatze und
Formeln bedeuten Begriffe und Begriffe von Begriffen.
Sic sind Befehle — fur manchen freilich schwer ausfiihr=
bare und verwtinschte Befehle — von der ideellen An=
schauung des mannigfach gestalteten Raums, ein ,,Sy=
stem", d. h. ein mit allgemeinen Grundbegriffen oder Axi=
omen im Begriindungszusammenhange stehendes Wissen
von besonderen Begriffen einzusehen.
Ahnlich macht es die Physik, die Chemie, die Biologic,
die exakte Naturwissenschaft iiberhaupt. Satze, wie die
beiden Hauptsatze der Energetik oder das Newtonsche
Gravitationsgesetz befehlen uns, vom anschaulichen ma=
teriellen Geschehen in Raum und Zeit Quantitatsbezieh=
ungen — sogenannte ,,Funktionsbegriffe" — zu fassen
und diesen alle beliebigen vorkommenden Falle unterge-
ordnet zu denken. Wenn dann ein Maschinenbauer, der
die Naturwissenschaft praktisch verwerten will, in einer
Patentschrift sagt: ,,Meine Maschine — er meint eine
ideelle, von ihm ausgedachte Maschine — geht", so be*
grundet er die von ihm erwartete Wirkung durch die be=
,6
kannten Naturgesctze und mathematischen Forms und
Quantitatsbeziehungen. Die ganzc Maschinenlchre, die
das Erfundcne und Erfindbarc iiberhaupt umfassen will,
strebt einem cinzigcn universellen Begriindungszusammen*
hange zu; ihrc zucrst von Reuleaux erfaftte Idee ist die
Idee des Systems alter denkbaren Maschinen: Die theore*
tische Kinematik. — Hierauf kommen wir spater ausfuhr*
lich zuriick. Ingenieure, die mir soweit gefolgt sind, werden
die Bedeutung dieser Auseinandersetzung erkennen.
Aber haben wir nicht schon wieder ein neues Wort
eingeschmuggelt — die Idee? Was heiftt denn das: Die
Idee? Sollte es etwa, wird der Leser denken, nun noch
hoher hinaufgehen als mit dem Begriffe iiber die An*
schauung?
Manche Philosophen meinen das allcrdings. Aber der
Leser beruhige sich — ich nicht. Wer einmal das Wesen
des Begreifens oder das Wesen des Begriffes, den es zu be*
greifen gilt, einsieht, wer einsieht, daft es Allgemeineres im
Allgemeinen, Einfacheres im weniger Einfachen, namlich
Begriffe von Begriffen gibt, wer das begreift, der hat das
Einsehen uberhaupt erfaftt. Es kann sich dann nur um
Unterscheidungen handeln, die nicht mehr das Wesen der
Sache beruhren, sondern lediglich ihre Besonderung aus«
driicken sollen. Und eine solche Besonderung will man in
der Tat mit dem Worte Idee bezeichnen.
Kant verstand darunter den Begriff in einer ideellen
Vollkommenheit und Unendlichkeit, die sich nirgends und
niemals in der Wirklichkeit realisiert findet. Er verstand
unter Idee einen allgemeinsten Begriff, welcher auf ideelle
Totalitat von besonderen, auf die Endlichkeit beschrankten
Begriffen geht.
Von solcher unendlicher oder ,,transzendentaler" (nicht
-- Zschimmer, Philo»ophit der Tcchnik !7
etwa ,,transzendenter" !) Art ist in dcr Tat dcr Leitbegriff
oder die Grundidee eincr jeden Wissenschaft, die sich
noch nicht am Ende ihres Zieles angelangt weift.
Eine jcde Wissenschaftsidec ist dcr idccll crfaBte er«
schopfende unendlichc Begriff alles dessen, was cs inner*
halb eines gewissen materialen Bereiches zu begrcifcn
gilt. Die Wissenschaftsidec ist nichts anderes, als was
Kant meinte, wenn er von dem ,,transzendentalen Grunde
zur Moglichkeit" der Wissenschaft-iiberhaupt sprach. So
steht die Idee der Physik als eines theoretischen Systems
am Anfang der unvollendeten aktuellen Physik, die Idee
des rationellen Maschinenbaues als eines theoretischen
Systems am Anfang des unvollendeten aktuellen Maschi=
nenbaus. Ohne die vorausschauende, das Resultat in seiner
Vollendung vorausdenkende Idee wurde keine Forschung,
wenigstens keine wissenschaftlich sinnvolle Forschung
moglich sein.
So geht, wenn man zusieht, der alles vereinigende Grund=
begriff von moglichen systematischen Begriffszusammen=
hangen — der Systembegriff — auseinander in die mannig*
faltigen Typen von besonderen Wissenschaftsideen. Aber,
fragen wir, hat es damit ein Ende fur das systematische
Begreifen des Seienden iiberhaupt? Ist in den exakten
Wissenschaften, wenn sic ihre Systeme entwickelt haben,
schon die vollstandige Entfaltung des Denkens unter der
Herrschaft von hochsten Ideen zu Ende gebracht? —
Es gibt allerdings Leute, die meinen, aufier Mathematik
und Naturwissenschaft ware nichts von Ideen bestimmt,
das wissenschaftlichen Sinn hatte. Alles andere existiert
fur sie nicht, oder sie meinen, es habe keinen Sinn, es
sei fur den Menschen uberflussig, sich damit zu beschaf*
tigen. So denken alle, die sich auf dem Standpunkt des
18
Naturalismus in seinen bekannten Spiclarten bcfindcn —
nicht wir.
Denn wir haben ja noch kcincn Standpunkt. \X;ir sind
noch naiv genug, alles mit offenen Augen zu schauen, was
es zu bcschauen gibt. Wir mochten alles begreifen, was es
an Erschaubarem zu bcgrcifcn gibt. Uns interessiert cben
wie die unbefangenen Kinder noch alles Grofte und
Schone in der Welt. Wir fiihlen unser Denken frei, noch
nicht eingespannt in den Schraubstock einer fertigen Welt-
anschauung eines X=ismus, und so fragen wir mit gren»
zenloser Neugier: Was gibt es denn iiberhaupt? — Also
auch : Welche mogliche ,,Ideenbezogenheit", auficr der
mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
weise, konnte es in dieser bunten Welt geben, von der wir
selbstein Stuck sind? —
Man bcsinne sich doch ! Gibt es wirklich nur Zahlcn,
geometrische Vorstellungen und Naturgebilde? Besteht das
All bloft aus mathematischen, mineralogischen und bio=
logischen Dingen, aus physikalischcn, chemischen, phy«
siologischen Prozessen? 1st das Ganze der Welt eine aba
laufende Maschincric, deren momentanen Zustand man
nur zu kennen brauchtc, um in alle Zukunft hinaus be*
rechnen zu konnen, wie spater alles sein wird?
Gibt es wirklich keinen anderen Gedanken, als diese
funktional-begrifflichen Gesetze, die wir von der Mathe=
mathik und Naturwissenschaft erlernen? Und sind wir die
verdammten Sklaven einer Schicksalsmacht, die mit uns
umgeht, wie die Natur mit den anorganischen Dingen,
die sie formen, verandern, vernichten und wieder auf*
bauen kann? —
Will man etwa behaupten, in dem Determinismus des
die Zukunft vorausberechnenden Laplaceschen Geistes
'9
sei dcr ganze Sinn der vollen Anschauung allcs Rcellen
und Ideellen der Welt erschopft? Glaubt man, daS auch
unser Handeln, alle Geschichte und das gesamte Kultur=
schaffen diesem Fatalismus der Formel ebenso ausgeliefert
sei, wie die toten, chemischen Stoffe, die toten Energien,
die toten Aggregatzustande, die Sternhaufen, die bidden,
teuflischen Bazillen?
Ich frage nochmals: Glaubt einer meiner Leser wahr=
haftig, daft alles Wissen in Mathematik und Naturwissen=
schaft aufgehen miisse? Jetzt heiftt es bekennen! Wir sind
endlich bei der Frage angelangt, die — uber den Standpunkt
entscheidet !
Niemand kann im Ernst bestreiten, daft er selbst, als le=
bendige, handelnde Personlichkeit, in ein freies Reich
von ideellen Moglichkeiten gesetzt ist. In dieser Freiheit
der ideellen Sphare liegt der wesentliche Gegensatz des
Menschen zum niederen Tier, fiir welches der Ausdruck
,,organische Maschine" sehr wohl passen mag. Wir konnen
uns zu unendlich verschiedenen Handlungen entschlieBen
— trotz der Naturgesetze. Sofern wir Menschen sind,
sind wir iiber der Determiniertheit des Geschehens er=
haben ; denn wir konnen es jetzt nach unserem Wunsch und
Plane lenken wie ein Wagenfiihrer seine Rosse (Plato).
Mogen also — was wir gewift glauben — die Naturgesetze
unverletzlich und ewig sein, das schadetder Freiheit nichts.
Der von ihnen funktional bestimmte Ablauf der materU
ellen Prozesse ist noch dieser hoheren Bestimmung durch
freie Lebewesen unterworfen, die aus ideeller Voraussicht
unendlicher Moglichkeiten, unendlicher Freiheitsgrade
handeln. Poincare1, der einer der scharfsinnigsten Ma=
1 H. Poincart, wie Scite 13 crwahnt.
20
thcmatikcr und Physiker und zugleich cin hervorragen=
der Naturphilosoph war, ncnnt den Detcrminismus sehr
trcffcnd einc rcinc Hypothese, in welcher nicht Erfah-
rungen, sondern nur Voraussetzungen zusammengefaftt
werden, und zwar diese:
,,Der Zustand des Universums ist clurch eine aufteror»
dentlich grofce Zahl n von Parametern bestimmt, welche
ich xj, x2 . . . xn nennen will. Sobald man in irgendeinem
Augcnblickc die Wcrte diescr n Parameter kennt, so kennt
man gleichzeitig ihre Ableitungen in bezug auf die Zcit,
und man kann folglich die Wcrte dieser selben Parameter
fur einen vorhergehenden oder kiinftigen Zeitpunkt be*
rechnen. Mit anderen Worten: Diese n Parameter ge«
niigen n Differentialgleichungen erster Ordnung." —
Aber viele Naturwissenschaftler sind leider zu denkfaul,
um sich die Grundlagen des ganzen Betriebes, in welchem
sic mitarbeiten, in kritischer Weise klar zu machen; sic
sind und bleiben Dogmatiker und Metaphysiker, ohne es
zu wissen !
Das System der Naturgesetze ist ein Isolationssystem,
d. h. ein funktionales Begriffssystem, welches zur volligen
Determiniertheit jener hoheren Mannigfaltigkeit der Dinge
und Vorgange des Lebens, der Geschichte, der Kultur
keineswegs ausreicht1. Es ist also grundfalsch, wenn Ost-
wald*, der sonst so geistvolle Chemiker, sagt: ,,Die Kul«
turerscheinungen sind mit anderen Worten nur ein ge=
wisses Gebiet der gesamten Naturerscheinungen, namlich
1 Die hier angedeuteten Gedanken habe ich ausgefiihrt in
meinem Buche: Das Welterleb nis, 3. Teil, Engelmann, Leip=
zig 1913. — Wir kommen spater nochmals darauf zuriick.
2 W. Ostwald, Die Philosophic der Werte. Kroner, Leipzig
1913. — Uber O/s ,,energetischen Imperativ" werden wir
uns noch unterhalten.
21
solcher, die beim Menschcn vorkommen", und damit die
gesamte Kultur zu verstehen glaubt.
Wie schon unter denselben Gesetzen cine unendlich ver»
schiedene anschauliche Erfiillung durch die Gegenstande
der Naturbeschreibung denkbar ist, wie es denkbar ist,
was schon Leibniz gezeigt hat, daft ein ganzlich anders
gestaltetes Planetensystem oder vollig andere Kombina-
tionen der Stoffe und Bewegungszustande in demselben
da sein konnten, ohne daft im mindesten die Gesetze ver»
letzt wiirden, so muft auch wenigstens gedacht werden
konnen, daft die anschaulichen Naturprozesse unter der
Naturgesetzlichkeit noch unendlich frei, d. h. von diesen
Gesetzen unbestimmt seien. Dies gilt es eben zu begreifen,
und das fa'llt den Naturwissenschaftlern so schwer! —
"Detrachten wir nun den Inhalt der Geschichte genauer,
J_Jso entdecken wir, daft darin keineswegs eine chaotische
Wildheit des Geschehens ohne jede innere Gemeinsamkeit
herrscht. Die Handlungen der Menschen und ihre hinter»
lassenen Werke erscheinen sehr wohl begreiflich durch ge»
wisse allgemeine Formen des Zusammenhangs und der
Gestaltung; sie erscheinen daher verstandlich und ver-
niinftig durch die Planmaftigkeit, die uns darin einleuchtet.
Das ,,Reich der Zwecke" setzt sich dem ,,Reiche der
Natur" also nicht entgegen als der Tummelplatz einer
sinnlosen Zufalligkeit in den historischen Erscheinungen,
soweit diese unter den Naturgesetzen noch Freiheitsgrade
haben. Sondern, wie die Natur durch Gesetze, so ist die
Geschichte durch Ideen zu verstehen. Allerdings haben
die historischen Tatsachen diese Verstandlichkeit nur fur
den, dem die Ideen einleuchten, wie ja auch die Natur
nur fur denjenigen ein systematischer Gesetzeszusammen»
22
hang 1st, welcher imstande ist, die Gesetzlichkeit einzu>
sehcn.
Nur mufi man sich htiten, wie Kant in dem Freiheits-
begriffe hoherer Art, namlich dcr unter Normcn stehenden
Freihcit, das Wesen der Freiheit iiberhaupt zu schen und
so nur wieder die Gesetzmaftigkeit, die Norm des Ge»
schehens ins Auge zu fassen. Denn damit verfliichtigt sich
das eigentlich wesentliche Moment des Freiseins ganz und
gar. Wenn daher manche Kantianer das Gesetz des sift-
lichen Handelns geradezu ,,die" Freiheit nennen, so ist
das ein offenbarer Widersinn, der nicht scharf genug be*
kampft werden kann, wie es auch neuerdings, freilich mit
stumpfen Waffen, Bergson1 getan hat.
Es klingt erhebend, wenn Kant- sagt: ,,Zwei Dinge er>
fiillen das Gemiit mit immer neuer und zunehmender Bc=
wunderung und Ehrfurcht je ofter und anhaltender sich
das Nachdenken damit beschaftigt: Der bestirnte Himmcl
iiber mir und das moralische Gesetz in mir."
Aber Kant war eben PreuBc. Gesetz, Pflicht war fur ihn
alles. Der Begriff der reinen Freiheit war ihm unertraglich,
ja er verachtete ihn. Daher seine Blindheit gegen das Wert*
vollste und Wahrste an der Freiheit, den Gegensatz zur
Determiniertheit, jene unbestimmte und iiberhaupt in
keiner \\ cisc bestimmbare herrliche, wunderbare Unbe»
schranktheit, die das Leben, in dem es wirklich lebt, in
seinem eigenen Bewufitsein geniefit.
Halten wir also fest: Die freien Subjekte konnen aus
Freiheit Ideen ergreifen und danach ihr Handeln be«
1 H. Bergson, Schopfcrischc Entwicklung. Dbersetzt von G.
Kantorowicz. Diederichs, Jena 1912. * /. Kant, Kritik der
praktischen Vcrnunft (1788). Ausgabe der Kgl. Preufj.
dcmie. G. Rcimer, Berlin 1908.
stimmen. Und das Reich der Zwecke, so fern es durch Ideen
verstandlich erscheint, das ist es, was wir im eigentlichen
Sinne die ,,Kultur" nennen. Ihren ,,Sinn" verstehen, heifit
nichts anderes, als den systematischen Zusammenhang ein-
sehen, in welchem alle besonderen Begrifte von Kulturobjek-
ten, seien es nun Handlungen oder Dinge, fur die denkende
Betrachtung stehen — sobald dieser die Grundideen des
ganzen Prozesses einmal einleuchten.
it cinzclncn Menschen sind unrcttbar der Vernich»
W tung verfallen. Angcsichts dieser bedauerlichen Tat*
sache muftte Uns unser zeitliches Tun und Dasein, meinc
ich, als recht zwecklos erscheinen, wenn es nicht noch ge=
schichtliche, iiber die Person hinausreichende, uberperson=
liche Zwecke gabe, die ihrerseits wiederum begriffen sind
in der zeitlosen Vollendung einer von keiner Erfahrung rea=
lisierten allgemeinen Idee, der sich der einzelne schaffende
Mensch unterwirft, ja aufopfert, um seinem kurzen Leben
einen hoheren Sinn zu verleihen, als bloB geboren zu wer=
den und spurlos von der Bildflache der Geschichte zu ver=
schwinden. Wir leben ewig, wenn wir in den gropen Ideen
der Menschheit leben. Denn wo sich auch im Kosmos Leben
wieder regt, wird es dieselben Ideen ergreifen, die tief im
Wesen des Lebens selbst wurzeln; es wird sie ebensooft
aus Freiheit zu den seinigen machen, als die Materie aus
Notwendigkeit denselben ewigen Gesetzen unterworfen
ist, wo immer Materie den Weltenraum erfiillen mag.
Ein Blick in die Geschichte beweist uns, daft es darin,
wie Hegel1 sagte, ,,vernunftig zugeht", mit derselben
1 G7W7~F. Hegel, Vc>rlesungen iiber die PhilosophiTdcTCle.
schichte. Herausgegcben von F. Brunstad. Reclam, Leipzig
1907.
Wahrscheinlichkeit, wie die cxperimentellc Erfahrung be=
weist, daft im materiellen Geschehen der Welt Natur=
gesetze gelten. ,,Die geschichtliche Welt", sagt Munch1,
,,,erfullt' die Ideen wie die sinnlich-anschauliche Welt die
Naturgesetze ,erfiillt'. Oder kurz: Wie die Natur die
Konkretion der Gesetze, ist die Geschichte die Konkretion
der Ideen." Nur hat man immer zu bedenken, daft die
Ideen das historische Geschehen nicht etwa wie Gesetze
funktional determinieren, sondern aus freier Selbstbestim-
mung von gewissen handelnden Subjekten realisiert werden.
Zu diesem Standpunkt und einer entsprechenden Le=
bensanschauung wird mir, hoffe ich, so viel Zustimmung
zuteil, als Menschen unter meinen Lesern sind, die es lieber
vorziehen wiirden, sogleich im Nirvana zu verschwinden,
als ein im Ganzen doch zweckloses und daher vollig uber=
fliissiges Dasein auf diesem, dem Untergange verfallenen
Planeten zu genieBcn, der einst den kalten Weltenraum
um das erloschcne Gestirn des Erdenlebens durchkreisen
wird.
1 F. Munch, Erlcbnis und Geltung. Reuther u. Reichard,
Berlin 1913. In diesem fur die Kulturlogik yrundlegenden
Werke entwickelt der Verfasser die philosophische Theorie,
als deren Anwendung meine weiteren Ausfiihrungen zu be=
trachten sind. Beziiglich der sonstigen Literatur iibcr den
,,kritischen Standpunkt" mochte ich ebenfalls auf M tinchs Buch
verweisen.
DIE IDEE DER TECHNIK
Man konnte nun fragen, ob dcnn solch ein weitgespann-
ter Ausblick in alle Falten dcs Wcltganzen notig sci,
umschliefilich — einePhilosophiederTechnikvorzutragen?
Darauf erwidere ich: Wer das schon im voraus weifr,
dcr ist kcin kritischer Denkcr. Wer schon im voraus weift,
daft die Naturwissenschaft geniigt — und viele Leute glau=
ben das — um alle Fragen zu beantworten, die sich in den
Erscheinungen des technischen Schaffens, wie im Verhalt*
nis der Technik zur Kultur und im ganzen Wesen dieser
merkwiirdigen Entwicklung des Reiches der Zwecke auf«
drangen, der ist ebenso beschrankt wie ein Schneider, weU
cher meinte, alles was es gibt, mit der Elle messen zu konnen .
Es scheint vielleichtf als ob die Technik weiter nichts als
ein menschentotendes Rechenexempel der exakten Natur«
forschung und der Nationalokonomie sei, weil es die tech=
nischen Produkte, die Maschinen, die Prozesse der che»
mischen Fabriken in gewisser Hinsicht sind. Diegrausame
Wahrheit, dag zurzeit unter der gegenwartigen von der
Technik iiberrumpelten Wirtschaftsform und Staatsord-
nung ein Massenmord an Personlichkeit in den Fabriken
vor sich geht, die teuflische Ironic, daft vom Menschen
geschaffene Maschinen zu iiberpersonlichen Machten und
Menschen zu ihren untergeordneten Sklaven werden, die
Folge der technischen Massenarbeit und ihrer notwendigen
Organisation, die Folge der rechnerischen Konsequenz der
Erfindungen scheint dies zu bestatigen. Es scheint, als ob
der Geist der Technik gerade hierin zutage tritt, hierin im
letzten Grunde begriffen werden konnte.
Aber was sollte man zu einem Rechenmeister sagen —
es gibt ja solche Rechenmeister unter den Naturforschern
26
— dcr die Schopfungen dcr schonen Ktinste deshalb,
wcil sie ouch Gegenstande der Physik und Chemie, Gegen-
stande der wirtschaftlichen Spekulation und Ausbeutung
sein konnen, hiermit in ihrem eigensten Wesen und das
heiftt philosophisch verstanden zu haben glaubte?
Auch wer gar nichts von Philosophic versteht, wird doch
so viel wissen, daft cine Sache philosophisch betrachten
heiSt : Sie nach alien Seiten hin, in jedem moglichen Bezuge
zur Totalitat des Seienden betrachten, und zwar aus all-
gemeinsten Gesichtspunkten und nicht bloft anschaulich,
in concreto, sondern — dies gerade ist die Hauptsache —
unter allgemeinsten Begriften. Eine Sache in ihrem lo»
gischen Wesen von Grund auf, in ihrer Idee begreifen,
heif)t aber erst, sie im hochsten, umfassendsten Sinne des
Wortes ,,verstehen".
ulturprodukte versteht man nie und nimmer als Natur-
JL xprodukte oder Warenwerte. Es geht dies ebensowenig
an, wie man Korper als Gegenstande der Flachengeometrie
oder Probleme der Infinitesimalrechnung als arithmetische
Aufgaben verstehen kann. Die Naturwissenschaft begreift
an den Werken der Kultur wie an den LebensauBerungen
iiberhaupt, was an ihnen Nairn ist, aber nicht, was Kultur
daran ist. Sie versteht — wie konnte es auch anders sein?
— was ihrer Forschungsidee, der Idee des gesetzlichen
Funktionalzusammenhanges der Erscheinungen in Raum
und Zeit, gema'ft ist, was dieser Idee in der reellen Spha're
Erfiillung gibt. Aber mehr versteht der Naturforscher
nicht — denn mehr ist fur ihn gar kein Gegenstand der
Untersuchung.
Man kann jedoch dasselbe konkrete Ding sehr wohl zum
Gegenstande anderer Untersuchungen machen. Man kann
27
es in andcrcr Hinsicht, unter andcrc Ideen gestellt, zu ver=
stchen suchen — nicht allein unter der Wisscnschaftsidec
des naturwisscnschaftlichen Determinismus. Und so wer=
den wir uns in der Tat zu den Erscheinungen der Technik
verhalten.
Wir werden die Technik betrachten als die organische
Teilerscheinung eines grofteren Phanomens, der Kultur=
entwicklung iiberhaupt. Wir werden sic zu verstehen su*
chen als den korperlichen Ausdruck, als die historische Er=
fullung einer Grundidee, die im System der Kulturideen
notwendig gefordert wird und die alien sichtbaren und
greifbaren Stoff des technischen Schaffens im Inneren be=
herrscht, wie verschieden auch die vorubergehenden Aufie=
rungen dieser Idee im Kampfe der Motive und Tendenzen
der handelnden Subjekte erscheinen mogen. Es gilt, die
tiberpersonliche, tiber die niedere Interessensphare der ver=
mittelnden Subjekte in die Geschichte iibergreifende ideelte
Gemeinsamkeit einzusehen, die das Handeln der Menschen
nicht etwa wie ein blindes Gesetz bestimmt; sondern die
in ihren Taten von ihnen frei ergriffen wird, um so, unter
mehr oder weniger verbramter Gestalt, in die historische
Wirklichkeit zu treten.
\ V T'ir suchen also in der Technik eine Idee. Oder um dies
W noch etwas verstandlicher zu sagen, wir fragen uns :
Was wollen wir denn eigentlich, wir Techniker? Welchen
letzten Sinn hat diese Welt von Stein und Eisen, dieses
Nervensystem von Schienen und Drahten, dieses ganze
Jagen und Treiben, das man friiher auf der Erde nicht
kannte? Wozu iiberschiitten wir die Menschen mit solcher
Dberfulle von Produkten aller Art, mit Nahnadeln und
Flugzeugen? Was wollen wir damit — im Grunde?
28
Wer jcmals die kindliche, ja ich sage die kindische Freude
erlebt hat, die einem Menschen, der sich etwas ausgedacht
hatte, fast den Atem raubt, wenn sein geistiges Ding, sein
ideelles Etwas aus der Sphare der bloften Hirngespinste
in die reelle Sphare der harten, festen, sinnlichen Korper
trat, wer den elementaren menschlichen GemCitsaffekt
beim ersten Anblick fremder Schopfungen mitempfindet,
wer das Urwunder der Verwirklichung eines Gedankens
sieht, dem wird es zur Gewifiheit, daft die Technik im
Grunde doch etwas anderes bedeutet, als die Losung jener
niichternen, platten Niitzlichkeitsfragen, die ja freilich ge«
lost werden miissen, aber niemals dem eigentlichen Pro«
blem, jener Geist und Gemiit aufwiihlenden Idee der
Schopfung von etwas Neuem, vergleichbar sind !
Wie durfte sich der Erfinder, der schopferische Tech*
niker mit einem Kunstler messen, wenn sein Wirklichkeits=
gestalten weiter nichts als die Losung cines Rechenexem=
pels ware, das anderen, begabteren Kopfen nur zu lang=
weilig und dumm erscheint, um darin einen Beruf zu fin=
den, oder selbst nur, um schabiges Geld damit zu vcr=
dienen? Wie konnte sich ein noch tief vom Gottes»Gnaden=
turn iiberzeugter Furst hinreiften lassen, den Grafen
Zeppelin fiir den groftten Deutschen des 20. Jahrhunderts
zu proklamieren, wenn nicht in der Technik etwas mensch=
lich Croftes, etwas Ideales, ein fundamental bedeutungs=
voiles Etwas steckte, das eine bis auf den Grund aller
Kultur hinabreichende Idee in der Geschichte verwirk=
licht?
Man vergegenwartige sich die Szene, als Zeppelin am
10. November 1908 in Donaueschingen zum ersten Male
vor dem Deutschen Kaiser in die Liifte stieg, und man be=
greift das Urteil Wilhelm II.:
29
,,Es dtirfte wohl nicht zuvicl gesagt sein, daB wir hcutc
einen der groftten Momente in der Entwicklung der mensch-
lichen Kultur crlcbt haben. Ich dankc Gott mit alien
Deutschen, daB «r unser Volk fiir wiirdig crachtctc, Sie
(Zeppelin) den unsern zu nennen!"1
Es geht!" — In diesem alle Zuschauer durchzitternden
Triumphruf des Erfinders spricht sich ein gleich tiefer
Ursprung aus Ideen aus wie in den Satzen: Es ist wahr,
es ist recht, es istschon. Zeppelin ist Techniker als Ideen*
mensch, ein Typus des geschichtlichen Menschen2, den das
auf der Naturwissenschaft fuBende Menschengeschlecht
zum ersten Male in einer an die Sagengestalten der An«
tike heranreichenden GroBc als Ideal vor sich sieht. Er
ist der Typus des Ingenieurs, der die mit der Gemeinheit
reiner Geldgier und kapitalistischer Plusmacherei scheinbar
logisch verknupfte Technik wie mit einem Schlage in das
Reich der Ideen erhebt, welche die Kultur konstituieren.
Welche Leistungen die Technik der Sinneswahrnehmung
bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts vollbracht hat,
schildert Wiener3 in einem hochst interessanten Vortrage
iiber die ,,Erweiterung unserer Sinne", woraus hier einige
Andeutungen folgen mogen :
Das raumliche Unterscheidungsvermogen des mit dem
Mikroskop bewaffneten Auges ist im 19. Jahrhundert
etwa 200 mal so groB geworden als das des unbewaffneten
Auges der alteren Menschen. Es la'Bt uns zwei Striche im
Abstand des siebenten Teiles eines tausendstel Millimeters
1 Ubereinstimmender Wortlaut der Frankfurter Zeitung und
des Berliner Tageblatts. — a Ober den ,,geschichtlichen Men«
schen" als Ideenmensch vergleiche man f. Munch, in der Seite
25 erwahnten Schrift. 3 O. Wiener, Die Erweiterung unserer
Sinne. J. A. Barth, Leipzig 1900.
jo
noch gctrennt wahrnehmen, wahrend das alte natiirliche
Augc bereits bei Vw Millimeter Abstand versagte. Diese
Erfolge werden aber bei Benutzung der ultravioletten
Strahlen und durch das moderne Zf//?sche ,,Ultramikros
skop" noch weit iibertroffen : Wir sehen Molekiile — der
Traum Demokrits hat sich erfiillt. Zeitdifferenzen unter-
scheiden gewohnliche Menschen bis auf den fiinften Teil
einer hundertstel Sekunde herunter — Feddersens rotie-
render Spiegel gestattet aber, noch den hundertsten Teil
von einer milliontel Sekunde sogar exakt zu messen.
Wir sehen in die Feme, wir horen in die Feme, wir spre-
chen bis in unerhorte Entfernungen ; Naturvorgange neh«
men wir wahr, die uns unsere mangelhaften Sinnesorgane
niemals verraten wiirden. Und wie haben diese schon die
frommen Seelen der Vergangenheit bewundert! Wie haben
sie ihrem vermeintlichen Schopfer dafiir gedankt! Sollte
nun die Geistesgemeinschaft der Techniker, in deren
Augen die Leistungen jenes allmachtigen Gottes kummer-
lich und stiimperhaft erscheinen, sollten diese menschlichen
Schdpfer nicht zehntausendmal hoher gepriesen werden?
Sollte nicht endlich cine eigene grofte Idee der Tcchnik als
ein Grundwert der Kultur erkannt werden?
Es gibt Technik in hoherem Sinne. Alle sehen es, alle
fiihlen es, alle sprechen es aus. — Doch was ist es? Wo
fassen wir die gemeinsame, alles hohere technische Schaffen,
alle Anerkennung durchdringende Grundidee, das eigent*
liche Wesen des Technischen, wie es sich endlich der
Gegenwart enthullt hat?
O, sagt der praktische Mann aus dem Westen : Das ist
sehr einfach — wir wollen alle Geld verdienen ! Jeder
Erfinder will reich werden, jeder Fabrikant will Geld ma=
chen; wodurch oder womit, das ist ihm ganz egal. Die
Tcchnik hat zur Tricbfeder ihrcr ungeheuren Entfaltung,
sie hat nichts anderes zum Ziele als die Gier nach Gold !
Sie macht ihre Produkte, weil sie gekauft werden, weil sie
Waren sind. Sie macht Geldwerte.
Wie geistvoll ist doch diese Philosophic des smarten
Amerikaners! Ebenso geistvoll als hie^e es: Soldaten
wollen Soldaten sein, — urn Geld zu verdienen; Maler
malen, um Geld zu machen; Komponisten komponieren,
um reich zu werden !
,,Wie alle Wege nach Rom fiihren, so fiihren alle 6kono=
mischen Wege auf Geld", sagt Simtnel1, ,,es ist mindestens
das immer gleiche Nebenprodukt aller noch so ungleichen
Produktionen. Das Geld hat die Eigentiimlichkeit, daft es
durch die Tiichtigkeit in der Behandlung anderer Dinge
erworben wird." Wenn nun also alles nur arbeitet und
schafft des Geldes wegen, dann muB es doch wohl seine
besonderen Grande haben, warum es der cine auf diese Weise,
der andere auf ganz andere Weise verdient! Oder nicht?
Das ist natiirlich Zufall, Veranlagung, Gliickssache, sagt
unser Gentleman. Die Idee bei der Sache ist das Reich=
werden. Merkt einer zum Beispiel, daft cr Talent zum Ma=
len hat, dann will er selbstverstandlich durch Malen reich
werden; sieht sich einer hoch geboren, nun dann ware er
dumm, nicht seine Geburtsvorrechte zu benutzen, um
reich zu werden. Die Geschichte des menschlichen Han=
delns hat allerdings eine Grundidee, das stimmt: Den
Reichtum, die Geldmacht! Das weifi jeder, und deshalb
strcbt jeder danach. Alles, was geschieht, istMittel zu die=
sem eigentlichsten aller Zwecke — Mittel zum Reichtum.
1 G. Simmel, Philosophic des Geldes. Dunckcr u. HumbTot,
Leipzig 1900.
32
Unser Idealist aus dcm Westen gibt uns wenigstens zu,
daft sich die Geschichte aus Ideen verstehen laftt. ja, er hat
sogar eine hochste Idee: Den Reichtum. Daft diese ,,Idee"
herrscht, leuchtet jedem Esel ein. Aber verstehen wir
damit, was die Techniker ,,eigentlich" , d. h. abgesehen
vom Geldverdienen, wollcn? Verstehen wir aus der Idee
des Reichtums etwa das innere Wcsen der technischen
Werke selbst, die so erstaunliche und wunderbare Um»
wandlung der Erde in eine neue Welt, den schopferischen
Prozeft, der hier vor sich geht? Nicht im mindesten!
,,Ich behaupte", sagt Rattienau1, ,,selbst vom Kaufmann,
daft noch niemals in der wirtschaftlichen Welt wahrhaft
Gro5es geleistet worden ist von eincm Menschen, dem
der personliche Erwerb wichtig oder die Hauptsache war.
Ein grower Geschaftsmann strebt nach Verwirklichung
seiner Gedankcn, nach Macht und Verantwortung. Und
hierin liegt ein Ideal, solange die Macht und Sicherheit
eines Landcs, das sich auf Kapitalismus stittzt, ein Ideal
genannt werden kann."
Doch horen wir noch zwei ganz exzentrisch urteilende
Philosophcn, die sich am Ende ihres Nachdenkens im we*
sentlichen der ehrlichen Auffassung unseres Gentleman
anschlieften !
,,Die Philosophic der Technik", sagen Hans jakob und
Star* ganz richtig, ,,mu6 von der Kulturgeschichte aus«
gehen . . . Ein ungeheuer weiter Horizont breitet sich vor
unserem Auge, das die technische Welt, die mechanisierte
Zeit erfassen will; urn zu sehen, was jenseits der Seh*
weite liegt, mussen wir uns uber die Technik erheben,
1 W. Rathenau, Zur Kritik der Zeit. S. Fischer, Berlin 1912.
1 E. Hansjakob und J. Stur, Osterr. Polytechnische 2eitschrift,
8,77(1911).
3 Z»chimm«r. Philo»ophie drt Technik 33
uns bcfrcien von ihrcr Atmosphere, damit wir erblicken,
was hinter den Grcnzen des iiblichcn Menschenblickes
und — Verstandnisses liegt."
Also blickcn wir jetzt dahintcr!
,,Wir dcduzieren ausSc/ze///ngsNaturphilosophie", fahren
die Verfasser dcr ,Metaphysik dcr Technik' fort (da sie
nMmlich iibcrzcugt sind, daB cs niemals eine Geistesstro-
mung gegeben habc, ,,die der Technik ahnlich niitzte wie
die Romantik.") — Und zu welchem Ergebnis gelangen
sie kraft ihrer romantischen Methode? — ,,Kein natur-
liches Moment, keine philosophische Erkenntnis, kein
ethischer Wille, nichtsMenschliches — nur die animalische
Lebensnotdurft der Millionen Arbeiter, der zwecklos ewige
Profitsinn der hundert Nehmer: Das ist die Metaphysik
der Technik/7
Wir k5nnen uns bei der Tiefsinnigkeit dieser ,,Meta-
physik" nicht lange aufhalten; ihr Unsinn ergibt sich aus
unserer Darstellung von selbst. Nur wollte ich nicht
versaumt haben, meine Leser beizeiten mit einer Gat«
tung kulturphilosophischer Denker bekannt zu machen,
deren ktihnen Produktionen wir noch fifters begegnen
werden.
1st denn das Problem nicht ganz einfach zu l5sen, wenn
wir vergleichenderweise die Kunst betrachten? Erkennen
wir doch hier — so scheint es in der Tat — deutlich genug,
was „ Technik" ist. Denn jeder Kunstler spricht ja von
seiner, von einer gewissen Technik. Man brauchte also
nur zu verallgemeinern, und man hatte die Idee der Tech«
nikalssolche? —
Ich glaube, es durfte wohl selbst dem unverstandigsten
Laien klar werden, daB ein Klavierspieler unter dem Worte
34
Tcchnik doch etwas ganz anderes versteht, als der Klavier-
bauer, der die technische Lcistung in den Funktionen cines
modernen Stein wayfliigels bewundert.
Der Klavierspieler denkt, wenn er von Technik spricht,
an die methodisch getibte Bewegung der Hande und Fin-
ger. Fiir ihn ist die Technik ganz allgemein die Methodik
des kiinstlerischen Schaffens, wie eines jeden vermittelst
vorhandener Werkzeuge auf ein vorgestelltes Ziel ge-
richteten Schaffens iiberhaupt.
Welch ein Unterschied! Und trotzdem will Bon1 den
Begriff der Technik des Ingenieurs in dem gleichcn Sinne
festlegen, wie es der Pianist tut: ,,Denn das ist ja eben die
Grundaufgabe", sagt er, ,,nicht bloft einer einzelnen tech-
nischen Disziplin, sondern der gesamten Technik tiber-
haupt, Mittcl aufzusuchen, wenn die Zwecke gegeben sind,
und somit wird die Frage: ,Was soil ich tun, um — ¥
die Grundform, auf welche sich alle die Einzelfragen, welche
die Technik zu beantworten hat, zuriickfiihren lessen."
„. . . Die Aufgabe, Mittel anzugeben, die einen ge«
gebenen Zwcck erfiillen, bleibt als das allgemeine Kenn-
zeichen der Technik bestehen, gleichgiiltig wie auch immer
der gegebene Zweck beschaffen sein moge. Die Erhaltung
und Wiederherstellung der Gesundheit, die Bestrafung
eines Verbrechers, die Aufbringung der Staatsausgaben,
die Erziehung der Kinder, die Stilisierung einer Rede, das
Spielen eines Musikinstrumentes, das Fiihren eines Be-
weises, der Verkauf von Waren, die Anfertigung von Be-
kleidungsgegenstanden — kurz cine jede Zwecktatigkeit
hat so gut ihre Technik, wie die Erzeugung von Kraft,
Licht, Warme, Elektrizitat usw."
1 F. Bon, Uber das Sollcn und das Gute. Engelmann, Leip-
zig 1898.
?• 35
Wenige Beispicle ausgenommcn, wiirdc der Ausdruck
,,Methodik" hier vicl richtiger sein. Jedenfalls verstehcn
wir Techniker unserseits noch etwas anderes untcr dem
Endziel unseres Schaffcns als die Losung der Frage : Was
soli ich tun, um das Klavierspiel zu erlernen? usw.
Schon fur den, der nur die Mittel aufsuchen soil, wenn die
Zwecke bereits gegeben sind, zerfallt dies sehr allgemeine
Thema in zwei recht verschiedene Aufgaben. Namlich
erstens: Zu dem bestimmten Ziele einen bisher unbe*
kannten Weg iiberhaupt zu entdecken, oder zweitens : Auf
bekannten Wegen in der zweckmaftigsten Weise an das Ziel
zu gelangen.
Wir unterscheiden also : Mittel iiberhaupt zu finden oder
nur die beste Methode fiir den Gebrauch der gegebenen
Mittel zu gegebenen Zwecken zu finden.
Das Ziel des Erfinders ist hiermit jedoch erst zur Ha'lfte
erschopft. Der Erfinder will nicht nur Mittel aufsuchen,
wenn die Zwecke gegeben sind, sondern (wie wir spater
ausftihrlich zu zeigen habcn) auch das Umgekehrte tun;
und wenn er ein bedeutender Erfinder ist, dann laftt er sich
iiberhaupt nichts ,,geben", aufter der Natur, und erfindet
in einem Akte neue Zwecke samt den Mitteln dazu —
namlich: Neue Mdglichkeiten, das Natur geschehen nach
unserem Belieben laufen zu lassen.
Teh fiihre nun cine Definition an, die das Wesen der Tech-
Inik im Grunde ebenso, wie ich zuletzt sagte, aber doch
noch nicht mit genugender Scharfe erfafct. ,,Man kann",
sagt Wendt1, ,,die Technik auch definieren als die Beta*
tigung des bewuftten Geistes zur Umgestaltung der Roh*
fl7. Wendt, Die Technik als Kulturmacht. G. Reimer, Berlin
1906.
36
stoffe fur die Zwecke der Kultur, oder kiirzer gesagt, als
die bewuftte Gestaltung der Matcric."
Im allgcmeinen ist das richtig. Abcr wtirden nicht auch
alle bildcnden Kiinste unter cincn solchcn Begriff der Tech*
nik fallen? Ist doch die Kunst geradezu eine typische Be=
tatigung des bewufiten Geistes zur Umgestaltung von Roh«=
stoffen fiir Zwecke der Kultur, bewufite Gestaltung der
Materie. Wir mochten doch eben erkennen, wenn wir nach
dem Wesen der Technik fragen, worauf es bei der bewufi*
ten Gestaltung der Materie im besonderen abgesehen ist,
welche eigene Grundidee der Ingenieur, der technische Er=
finder darin verwirklicht.
Auch in der folgenden Fassung ist Wendts Definition
daher noch zu weit: ,,Indcm die Technik als ein Denken
und Wissen die Arbeitskraft beseelt und lenkt, kann sie
allgemein aufgefaSt werden als der Geist der Arbeitskraft;
sie stellt sich praktisch dar als die geistige Leitung der
mechanischen Arbeitsvorgange im Leben der Mensch=
heit."
Denn unter die geistige Leitung mechanischer Arbeits*
vorgange gehort zwcifellos das kiinstlerische ebenso wie
das technische Schaffen. Es fragt sich, von welcher beson=
deren Art diese geistige Leitung sein muft, d. h. unter wel«
cher eigenen Idee das Denken und Wissen stehen mufti
wenn ein Techniker die Arbeitskraft beseelt und lenkt!
,,Beim Techniker", sagt Wendt, ,,sind die auftauchen*
den Gedanken bestandig in Wechselwirkung mit der Vor«
stellung des Zwecks, beim Kiinstler mit dem Gefiihl fiir das
Schone." Aber hat nicht auch der Kunstler sein Werk als
den vorgestellten Zweck vor Augen? Sind seine Gedanken
mit dieser Vorstellung nicht bestandig in Wechselwirkung?
Es fehlt uns also in Wendts Definition noch ein wesent=
37
lichcs logisches Moment zur spezifischen Bestimmung der
Technik im Gcgensatze zur Kunst.
Ahnlich wie Wcndt definiert auch Engelmeyer1 : ,,Tech-
nik 1st die Kunst, Naturerscheinungen planmafjig und
auf Grund der erkannten natiirlichen Wechselwirkung
der Dinge ins Leben zu rufen." Hiermit soil offenbar die
Tatigkeit des Technikers, also eigentlich das technische
Schaffen als solches charakterisiert werden. Dagegen ware
nichts einzuwenden. Denn auch das Wort Kunst wird ja
doppelsinnig gebraucht: Fur das kunstlerische Schaffen
ebenso wie fur das Kunsterlebnis, welches die geschaf-
fenen Werke vermitteln. Aber auch Engelmeyers Defini-
tion ist zu weit. Denn ,,planmafjig" geht jeder Kunstler
zu Werke, indem er Naturerscheinungen, z. B. Tone oder
Farbenwirkungen, ins Leben ruft, und zwar gleichfalls auf
Grund der ihm bekannten Wechselwirkungen der Instru*
mente und Materialien, die er bearbeitet. Es kommt uns
jedoch darauf an, was denn Bewufttes in dem Plane liegt,
wie gesagt : Welche spezifische Idee darin das Mafigebende
ist — was den technischen Erfinder wesentlich von dem
kiinstlerischen Erfinder unterscheidet.
Hier fallt uns nun ein weiser Mann der Wissenschaft
ins Wort. Die Idee der Technik, so werden wir von
ihm belehrt, ist die Idee der Sparsamkeit. Die Technik
folgt dem Prinzip der Okonomie, dem Prinzip des klein«
sten Kraftmages, des kiirzesten Weges und der kleinsten
Zeit — es gilt der ,,der energetische Imperativ" : ,,Vergeude
keine Energie, verwerte sic!" —
Hiermit ist sicherlich etwas ausgesagt, was uns an der
1 Zitiert nach M. Kraft, Das System der technischen Arbeit.
A. Felix, Leipzig 1902.
38
hcutigen Tcchnik auffallt: Ein an den mcisten Ingenieur-
wcrken modernen Stiles in die Augen springendes Merk»
mal liegt ohne Zweifel in ihrer ausgepragten okonomischen
Zweckmaftigkeit. Aber sollte das geniigen, den ganzen vor
uns ausgebreiteten schopferischen Prozefc, die wunderbare
Fiille der technischen Erscheinungen im Grunde vollig zu
begreifen? 1st die Technik wirklich schon allein aus dieser
Sparsamkeitsidee zu deduzieren? 1st der energetische Im-
perativ die gesuchte spezifische Idee, welche ihren Kultur-
wert und dessen Verhaltnis zu anderen Kulturwerten be«
stimmt und worin die Technik mithin philosophisch be«
griffen wiirde?
Nein. Der Begriff der Sparsamkeit ist zwar wichtig, aber
nicht ausreichend. Er reicht ebensowenig zum vollen Ver*
standnis der Technik aus, wie er zum Verstandnis der
Kunst oder der Naturwissenschaften geniigen wiirde.
Es handelt sich hier um den Unterschied zwischen tech*
nischen Leistungen ersten und zweiten Ranges, um zwei
Stufen des Gedankens, die nacheinander und meist von
verschiedenen Menschen zur Wirklichkeit gemacht wer=
den. ,,Die Ersten'', sagt Stern1, ,,sind diejenigen, die ...
einen neuen Wcg bis zum Ziele durchschritten, die ein
Neuland nicht nur zaghaft betreten und Zukunftshoff-
nungen dran gekniipft haben, sondern die daraus die
ersten neuen kostlichen Friichte ernteten. Daft auf diesem
Boden auch andere Friichte wachsen, daft sein Ertragnis
noch vermehrt werden kann, das zeigen die Zweiten. Die
Ersten ziehen aus ihm die neuen Friichte, die Zweiten
niitzen den Boden gewinnbringend aus! ... Die Ersten
gehen in ihrem Werk auf, treten hinter ihm zuriick, die
Zweiten wollen sich dadurch einen ,Namen machen'. Die
1 N. Stern, Frankfurter Zeitung vom 19. Mai 1910.
59
Ersten wollen etwas vollbringcn, die Zwciten ,es zu etwas
bringen'. Die Ersten sind opferwillig, die Zwciten wollen
etwas verdienen. Die Ersten bauen auf, die Zweiten bauen
aus. Die Ersten geben einem neuen Wollen eine neue Form,
die Zweiten dem Wollen der ersten eine andere Form".
Das Prinzip der Okonomie kommt erst in zweiter Linie !
Schopferische Arbeit kann nicht durch noch so intelligente
Ersparung, ,,sie muft iiberhaupt durch das bisher nie Da=
gewesene, Neue charakterisiert sein", bemerkt Kraft1 sehr
treffend gegen Wolf, der ebenfalls die Leistung des Er«
finders in der Arbeitsersparung suchte. ,,Wahrend in der
!• schopferischen Arbeit die Phantasie das treibende Fer=
ment bildet," sagt Kraft, ,,waltet in der ordnenden gei=
stigen Arbeit vorzugsweise die Logik, der Verstand. . ." —
Oder bringen wir dies auf eine kurze Formel: Intuition
und Logik, und — nur Logik ohne neue Intuition : Das ist
der wesentliche Unterschied zwischen den „ Ersten" und
den „ Zweiten".
Ostwald'2 geht sogar soweit, seinen energetischen Im=
perativ, oder wie er auch sagt, die Erzielung des besten
,,Guteverhaltnisses" in der Transformation der Rohener*
gien fur das Leitmotiv bei aller und jeder Gestaltung von
Kulturwerten zu halten. Das hochste Ziel der ,,Kultur"
besteht in dem Kopfe des beriihmten Naturforschers in
einer idealen okonomischen Organisation samtlicher Lebens=
aufterungen !
Daft sich Leute finden, die an dieses ,,Kulturprogramm"
glauben, ja einer fanatischen Begeisterung dafiir fahig sind,
ist leider Tatsache; aber ebenso gewift ist es, daft es auch
noch sehr viele andere Menschen gibt und geben wird, die
1 M. Kraft, Das System der technischen Arbeit. A. Felix,
Leipzig 1902. * W. Ostwald, wie Seite 22 erwahnt.
40
stark genug sind, urn das Lcben vor solcher Scheinkultur
zu sich selbst zuriickzuretten.
Kcin Mcnsch bewundert die vorziigliche Wirtschaft-
lichkeit, mit welchcr der kiihne Luftschiffer zum crsten
Male Sturm und Wolken trotzt; sein Schiff mag unform=
lich, mit unniitzem Oberfluft an Energie und Stoffcn aus»
gestattet scin: Er kann damit fiiegen, es geht — das 1st es,
was bewundert wird !
Ob es uberhaupt ,,geht", ob es dem Menschen iiber*
haupt moglich wird, die Liifte zu durchkreuzen wie Meer
und Lander: Darauf kommt es doch zu allererst an!
,,Das Ziel der Schiffsbaukunst", meinten Aristoteles1
und mit ihm die mcisten, die iiber die Technik nachdach=
ten, sei ,,das fertige Fahrzeug". Nein, das ist es nicht.
Das Ziel der Schiffbaukunst ist die Schiffahrt: Die Frei-
heit ant dem Wasser!
Und das hatnichts mit Okonomie zu tun. Ja, daselende
Prinzip der Okonomie wiirde alles technische Schaffen,
alien Wagemut, alles Schopferische der Technik vernich-
ten, wenn es an der Spitze stiinde, wenn es die Grundidee
ware, die hier zur Wirklichkeit wird.
e neue Freiheit ist es, die wir mit jeder Erfindung neu
begruften, die Freiheit, die die Menschen seit Jahr=
tausenden im Geiste schauen ! Die unendliche Moglichkeit,
der Natur in alien Wegen ihren Lauf zu gebieten und un*
sere Wahrnehmung bis iiber alle Grenzen auszudehnen,
diese Marchenidee aus den Kindertraumen der Mensch=
heit in zuverlassige Wahrheit, in Gewiftheit und reelle Tat
zu verwandeln : Das ist es, was die Technik im Grunde will.
1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, deutsch von A. Lasson.
Dicdcrichs, Jena 1909.
4»
Ihre Idee ist keine andere, als dieser alteste Zweck der Gc«
schichte : Die Idee der materiellen Freiheit!
Ich glaubc, daft Eyth1 , der ein Techniker und zugleich
der erste Philosoph der Technik war, das Richtige im
Sinne hatte, als er den deutschen Ingenieuren erklarte:
,,Technik ist alles, was dem menschlichen Wollen eine kor«
perliche Form gibt. Und da das menschliche Wollen mit
dem menschlichen Geist fast zusammenfallt und dieser
eine Unendlichkeit von Lebensaufierungen und Lebens-
moglichkeiten einschlieftt, so hat auch die Technik, trotz
ihres Gebundenseins an die stoffliche Welt, etwas von der
Grenzenlosigkeit des reinen Geisteslebens iiberkommen."
Wie lacherlich wirken dagegen die Sentenzen unserer
beiden Kulturmetaphysiker, Hansjakob und S/ur3, die
ich bereits zur Unterhaltung angefiihrt habe:
„ In keiner Sphare ist alles schon so dagewesen, wie in der
Technik; wahrhaft neu ist nur das, was ihr von auften zu«
stromt, sie selbst ist immer steril gewesen, und ihre origi*
nale Schopferkraft wird nie iiber die konstruktive Para*
phrase von Rcsultatcn der Physik und Mathematik hinaus*
gehen konnen . . . Die Technik hat aus sich selbst heraus
nicht nur keine Ideenbringer erstehen lassen, sie hat bis*
her auch nicht einmal einen einzigen grofien Stilisten her*
vorgebracht. Causeure, wie Eyth und andere mehr, kom«
men doch hier nicht in Betracht; ... die Technik als etwas
innerlich Unfertiges ist einer jeden organischen Asthetisie-
rung, auch einer poetischen Ausbildung aus ihrer Armut
heraus unfahig, weil die Impotenz eben unfruchtbar ist."
Das ist gewifi ein starkes Stuck, aber noch nicht das Voll*
endetste, was unsere beiden Metaphysiker in hochst stiU
1 M. Eyth, Lcbcndige Krafte. 2. Aufl. J. Springer, Berlin 1908.
8 E. Hansjakob und J. Stur, wie S. 33 erwahnt.
42
vollcr Rede fiber den Sinn der Technik entwickeln. Spater
mehr davon!
Horen wir endlich, was ein zeitgemafter Philosoph,
Ewald1, in bewundernswerter Klarheitder Erkenntnis einer
Materie zu sagen weift, die doch so unendlich weit abzu-
liegen scheint von den Spharen, in denen sich die Philo-
sophen sonst zu bewegen pflegen: ,,0hne Zweifel erfaftt
man die ticjcrc, wcsenhajte Bedeutung der Technik erst dann,
wenn man sich nicht in ihre Einzelheiten verliert, wenn man
sie vielmehr als ein ungcbrochencs, einheitliches Games be-
trachtet, das in sich cine prinzipielle Form dcs Lebens, cine
bestimmte Richtung und ein bestimmtcs Ziel zum vollendeten
Ausdruck bringen soil. Die Idee der Technik, das, was sie
im Zusammenhange aller anderen kulturellen Tendenzen
darstellt, ist nichts anderes als dies : Daft sie unseren Leib
zu riesigen Dimensionen vergrofiert, daft sie unseren Sinnen
iibermenschliche Fassungskraft verleiht ... Ihr Ideal,
dessen Erfiillung selbstverstandlich eine Unmoglichkeit
ist, ware die Uberwindung aller raumlichen und zeitlichen
Schranken durch eine Organisation, die das Kleinste und
Groftte, das Fernste und das Nachste mit gleicher In*
tensitat wahrnimmt," und — erganzen wir es noch — die
unserer Einwirkung auf die Materie eine grenzenlose Macht
und schrankenlose Fulle der Formen verleiht.
Ich behaupte : Es ist der eigene, weder von der Kunst noch
von irgendeiner anderen KulturbetatigungerstrebteSelbstzweck
der Technik: Den Gdtterzustand des Menschen, als das in
seiner unendlichen Vollkommenheit zur Idee erhobene End-
ziel der organischen Entwicklung, in der bewufiten Freiheit
des schdpferischen Gedankens zu vollenden.
i 0. Ewald, Lcbensfragcn. Hirzel, Leipzig 1910.
43
A her bleibt dies schone Bild nicht nur cin kindlicher
jL\.Traum? Wird unsere vcrmcinte „ Idee der materiellen
Freiheit", die Idee der gottlichen Macht des Menschen,
nicht stracks widerlegt, gleich einer Utopie, sobald sich der
Blick den nackten Tatsachen zuwendet, die sich — wie die
jedem bekannten konkreten Erscheinungen zu zeigen
scheinen — dem Kulturleben in himmelschreiender Dis=
sonanz entgegensetzen? —
Ich habe noch nichts bewiesen. Mir klingt die ironische
Bemerkung Eyths in den Ohren gegen jenen Professor,
der schon einmal cine Philosophic der Technik schrieb —
Eyth l meinte die Theorie der Organpro jektion von Kapp — :
,,Der gelehrte Herr hat einen Gcdanken, der in den nachst=
liegenden Fallen zuzutreffen scheint. Plugs ist er bereit,
eine ganze Welt von Erscheinungen auf demselben auf=
zubauen. Man sammelt das Passende und schiebt das
Nichtzutreffende sorgfaltig auf die Seite."
Allerdings — werden mir einige Leser zugeben — lassen
sich gewisse Erfindungen anfiihren, in denen sich so etwas
wie ,,materielle Freiheit" oder ,,Gotterhaftigkeit" des Men*
schen verkorpert findet. Aber das ist nicht die Technik ! Das
sind vereinzelte Schopfungen, Erscheinungen unter gliick*
lichen Umstanden, gleichsam Kunstwerke fiir sich, wie wir
sie im Luftschiff, im Auto, im Fernrohr bewundern. Was
die Technik eigentlich ist, das zeigt sich in ganz anderen als
in diesen harmlosen Gegenstanden kindlicher Bewunderung.
— Wir werden sogleich sehen, worin dieser ,,neue Geist",
der unserem Zeitalter den Charakter aufgepragt haben soil,
der es zum ,,technischen Zeitalter" gemacht hat, worin die*
ser Geist nach der Meinung gewisser Kulturkritiker besteht.
1 M. Eyth, wie S. 42 erwahnt. Auf die Theorie der Organ=
projektion kommen wir spater zuriick.
Und jetzt konnen wir uns gcfafit machcn, wir Technikcr :
Gott steh uns bei! Einc Flut von grimmigcn, stirnrun*
zelnden Protcstcn ergeht iiber uns, und zwar von seitcn
der bcstgesinnten Denker, gegen dieses verfluchte Werk
dcr Holle, das iiber die Menschheit gekommen ist, urn
sic in Grund und Boden zu verderben, sie geistig und
seelisch zu verarmen, sie zu entwiirdigen und zu ent«
nerven !
Wie ein einziges namenloses Ungluck, so nimmt
sich die verwirklichte, in die Breite und ErfiiU
lung gehende Entfaltung jener schonen Idee von der phy=
sischen Freiheit aus. Was Altertum und Mittelalter nicht
ahnen konnten: Wir Armsten miisscn es durchkosten.
Wir, die wir von der Wissenschaft, vom Baume der Er«
kenntnis gegessen haben, miissen die fiirchterlichen Fol«
gen, das grausige Schauspiel des Todes der Kulturmensch*
heit erleben, die unter dem Gifthauch der modernen In«
dustrie langsam, aber sicher an Leib und Seele zugrunde
geht! —
,,Die Technik, die urwesentlich personlich erlebter Urn*
gang mit der Natur war, schien dem Menschen alles zu
versprechen. — Sie hielt auch zunachst ein gut Teil, als
sie, von der unmittelbaren Lebenserhaltung abgesehen,
dem Menschen die Herrschaft iiber viele Naturdinge gab
und ihm die bose Furcht vor so und so vielen Damonen und
Gespenstern benahm. Er hatte sein Haupt immer hoher
erheben konnen und ha'tte an seinem eigenen gestaltenden
Wirken das Wesen der Gottlichkeit War und klarer er«
kennen konnen, — namlich in dem schopferisch — gestal*
tend — formengebenden Waltcn, das die Welt aus dem
Chaos zum Kosmos fiihren will."
45
Hcrr v. Mayer1, ciner jener protcsticrendcn Kulturphi-
losophen, gibt das zu. ,,Abcr, fahrt er schmerzlich fort,
statt dcssen kam cs anders. In dcr Kurzsichtigkeit des
Kampfes mit so vielcn Naturmachten maB er (dcr vom
Tcufel vcrfiihrte Mensch) die Gottlichkeit nur am eigenen
Wohl* oder MiBergehen, im blindcn Stolze seines Kon-
nens entgotterte er die klcine Welt, die ihm technisch un-
terlag. Um so damonischer wuchsen die Naturerscheinun-
gen, die ihm noch nicht untertan waren, empor. Weil irr*
tumlich und plump an der auBeren Machtwirkung ge«
mcssen, verbildete sich die Anschauung der Gottheiten.
Erstens begann der Mensch den seelennahrenden Aus»
tausch mit den Naturgebilden zu verlieren, zweitens be-
gann ein wucherischer Gottesdienst. Gerade mit den Fort*
schritten der Technik, mit dem bewuBten Erwachen des
organisatorischen Geistes glaubte der Mensch eine unum-
stoBliche Weltorganisation anerkennen zu miissen, eine
grundsatzliche Unterordnung unter unnahbare Ma'chte.
Und diesen wollte er durch Demut schmeicheln. Seine Er«
innerungen wiesen ihn dann auf die Scheinhandlungen des
Gottesdienstes hin, weil er nicht begriff, daB Frommigkeit
und Gottgefalligkeit einzig in personlich freudeschaffender
Tatigkeit bestehen. Damals, als der Urbund der Technik
und des Gottesdienstes in das selbstandig-nuchterne Ge«
vwerbe und den selbstandig-durren Gottesdienst zerfiel, cr-
hielt die Religion vom Geiste der Technik den ersten StoB
ins Herz — des Menschen . . "
Es verlohnt sich, den Gedankenwegen v. Mayers, die
nicht allein von ihm, sondern leider von vielen unserer
Zeitgenossen beschritten werden, im einzelnen zu folgen.
1 E. v. Mayer, Technik und Kultur. Hupeden und Merzyn,
Berlin 1906.
Wir werden uns iibcr seine sonderbaren Widerspruche
nicht wundern. Sie liegen in der Schwierigkeit der Ma-
terie selbst, die es zu verstehen gilt. Es ist gut, wenn sie
ausgesprochen werden.
,,Die Technik", sagt unser Autor, ,,ist so lange nicht ge-
wertet, als ihre menschlichen Quellen nicht begriffen sind:
Das Warum und Wozu, das Wann und Wie dieses mensch-
lichen Kampfcs mit der chaotischen Natur. Denn ein
Kampf is: sie."
Und nun wertet v. Mayer zunachst wie folgt: ,,Die
Technik, als Meisterung der Natur, ist in ihrem letzten
Grunde, in ihres Werdens Anfang nur die erste Verwirk-
lichung des tiefen Menschengewissens: Schopferkraft in-
mitten gestaltend-schopferischer Machte, Gott inmitten
von Gottern zu sein, uber alles hinweg aber der schonen
Lebensgestaltung dienen zu miissen . . ."
,,Was der Mensch erreicht hat in der GroBartigkeit der
Technik, die unser ganzes Dasein bestimmt, hat er nur
aus dem personlichen Selbstgefiihl errungen. Dieses aber
ist: DasMacht-Recht-Pflichtgeftihl, als kosmischer Mittel-
punkt zu wirken — verantwortlich nur den allerhochsten
Ideen . . ."
,,Zweifellos: Unser augeres Leben ist, was es ist, durch
die Technik geworden. Die Technik erlaubt dem einzel-
nen, in unabhangiger Bewegung sich ein Tatigkeitsfeld zu
suchen, und einem Volke, sich unbegrenzt zu vermehren,
weil sie unbegrenzte Lebensmoglichkeiten schuf . . . Sie,
die so ganz praktisches Alltagsleben, Niichternheit und
Ideenlosigkeit scheint, ist ein Weg zur dberwindung der
Alltags-Rohnatur; ... sie gab dem Kiinstler groftere Be-
wegungsfreiheit; ... in den Bauten, privaten wie offent-
lichen, die so tiberaus wichtig fur die Gestaltung des so-
47
zialen Lebens und Fiihlens sind, wird sic zu ciner bedeu«
tenden Mitbildncrin dcr Kultur."
Kein Zweifcl also, daB v. Mayer cine grofic Idee, eincn
hohcn Kulturwert in dcr Technik anerkennt. Ja, cr sieht
selbst ganz klar, daB cs die matericllc Frciheit ist, die der
Mensch in ihrcn Prozcsscn schafft: Die Gotterhaftigkeit
des Menschcngcschlechts.
Aber halt! Bald werden wir cines anderen belehrt. ,,Der
wesentliche Zug der Technik", erkcnnt v. Mayer bei ge«
nauerem Zusehen, ,,ist die steigcndc Organisation. Sic nun
dra'ngt notwcndig zum GroBgewerbe; denn nur dieses
niitzt jedcs Werkzeug, jedc Kraft, jeden Stoff fast rcstlos
aus, arbeitct dadurch am wohlfeilsten und fiihrt der natio-
nalen Wirtschaft die groBte Menge reiner Werte zu . . .
Moglichst sparsame und moglichst dichte Arbeit zur
Verringerung der Unkosten und Steigerung des Uber«
schusscs: Dieses Wcsen des GroBgewerbes war im Keime
der Technik enthalten. Und was das Wesen der Technik
ausmacht, die Organisation, das zeigt sich gerade heute
in den Fusionen, Syndikatcn, Trusts und TochtcrgeselU
schaften dcr modernen Industrie und des modernen Bank-
wesens . . ."
,,Der Geist der Technik, das Wesen der Technik als
selbstandigc Macht bctrachtet", entpuppt sich jetzt dahin :
,,Mittelst der Arbeitsteilung den Menschen zu zerstiik-
keln";
,,durch die Arbeitseinheit ihn zu entpersonlichen" ;
,,durch die Arbeitsgemeinschaft ihn zur Masse zu ma«
chen" ;
,,durch die technische Unterordnung ihn innerlich und
auBerlich zu entgeistigen."
So wird der Mensch ^entwiirdigt zum willenlosen Ge»
machte der monotheistischen Idee zu Handen ihrer poli»
tisch-sozialen Verkorperung, der militarisch=bureaukrati=
schen Staatsgewalt . . . Dcr Geist dcr Tcchnik hat durch
die cntpersonlichtc Arbeitstatigkeit unmittclbar, mittels
bar durch die Staatserziehung und die monotheistische An=
schauung den Menschen seiner kosmischen Aufgabe ent*
fremdet. Er hat aber auch das tagliche Leben zerriittet und
verkehrt . . . Der Prunkpalast der modernen freiheitlicha
technischen Zivilisation ist in Wahrheit ein ungeheures
Gefangnis, in dcm ein jeder lebenslangliche Zwangsarbeit
zu verrichten hat, aber auch einer leidlichen Ernahrung
gewift ist. Wohin doch der Hungerteufcl den Menschen ge«
brachthat!"
Beflugelt von der gottlichen Idee des begonnenen Werkes,
endet also der vom Teufel verblendete Mensch — im
Ruin seiner Kultur. Die verdammte Technik ist daran
schuld, in ihrer ungltickseligen Idee liegt die grausame
Konsequenz, die ihren eigenen Schopfer, den hoherstreben-
den Menschen, zum Sklaven erniedrigt.
Wie reimt sich das Letzte mit dem Ersten zusammen?
Hat sich etwa die Idee mit sich selbst entzwcit? Ist
^freiheitliche technische Zivilisation" gleichbedeutend mit
menschlicher Unfreiheit, mit der volligen Versklavung
des aus den Fesseln der Natur entsprungenen und den
Fesseln der Zivilisation, der Technik, ausgelieferten ewigen
Toren, des Menschen? Erzeugt die geschichtliche Ver«
wirklichung jener kostlichen Idee, in deren Dienste sich
die Erfinder seit grauer Vorzeit abgemuht haben, in Wahr*
heit ihr grelles Gegenteil : Die lebenslangliche Zwangs=
arbeit, die materielle Gefangenschaft? Und ist nun diese
vielmehr die von der fortschreitenden Geschichte endlich
ans Licht gebrachte wahre Idee der Technik gewesen, der
4 Zichlmmer, Philo»ophic dcr Ttchnik 49
wahre Jakob, den wirzu unsercm Schrecken sich mchr und
mehr zur idealen Vollkommcnheit verwirklichen sehen,
cin wahrhaft kulturfeindlichcr, kulturvernichtender, well
die Menschhcit entmenschcnder Gedankc, zu dessen be=
wuBtem Trager sich nur cin Mcphistophelcs cigncn kann,
der Gott des Zynismus selbst? Sind wir Tcchniker also
seine Helfershelfer, die teuflischen Kulturmorder?
Es lohnt sich doch wohl, die Argumente nachzuprtifen,
auf denen diese schauerliche Logik einer ganzen Gruppe
von Kulturphilosophen beruht.
Organisation heifit das Wort, das in den Schliissen
. Mayers und seiner Gesinnungsgenossen alles Bose
in sich birgt. Sahen wir im ersten Rausche der Begeisterung
in der Technik die Verkorperung der Idee der Gotterhaftig*
keit, so war diese Ansicht zwar nicht eben sinnlos, aber sie
war einseitig. Noch hatten wir vergessen, die Kehrseite
der Medaille ins Auge zu fasscn, und diese heiSt: Organi-
sation, Organisation der gesamten Menschheit zum groften
Arbeiterheer, im Dienste der groften Idee auf der Vorder-
seite.
Und darin, glaubt nun v. Mayer, liegt der ungeheure
Selbstbetrug der gesamten Menschheit: Sie meint nach
Freiheit zu streben, wahrend sie sich selbst ein neues Reich
der Unfreiheit errichtet. An Stelle der natiirlichen Unfrei*
heit des rohen Urmenschen erringt der zivilisierte Mensch
am Ende seines Schaffens die kun\tliche Unfreiheit der
technischen Verstaatlichung; die Mittel, die er wollen
muB, um jenen hohen Zweck, die materielle Freiheit iiber
die Natur, zu erringen, sind zugleich die Mittel, welche mit
todlicher Notwendigkeit bewirken, daft er zum Knechte
der von ihm selbst geschaffenen iiberpersonlichen Macht
50
der Organisation werden muB — ein bedauernswcrtcr
Sklave, dcr sich freivx/illig an einen ncucn Hcrren vcrkauft
hat.
1st das wahr? — Hierin stcckt cin Problem, ohne Zwei*
fel ein wissenschaftliches Problem. Es lautet in trockene
Form gepreBt:
1. Bewegt sich die Menschheit — von einzelnen Aus«
nahmemenschen kann nicht die Rede sein — indem sic,
was jetzt ganz offensichtlich ist, die Technik immer weiter,
ja rcstlos auszubilden strcbt, indem sie die Zahl der ma«
teriellen Freiheitsgrade nach alien Richtungen hin durch
Erfindung und Entdeckung zu vergrofiern trachtet, be«
wegt sie sich mit diesem Schopfungsprozesse einer tech-
nisctien Welt, als der Wohnstatte der kunftigen Kultur,
zugleich notwendig in der Richtung auf eine immerfort
wachsende und schlieBlich vollendete Organisierung der
gesamten menschlichen Tdtigkeit? —
2. Ist es eine gcschichtliche Notwendigkeit, daB jener
erste, schopferische, aufbauende ProzeB einer Befreiung
grofien Stiles, indem er diesen zweiten TeilungsprozeB,
beruhend auf der immanenten Logik der Sachen, gleich«
sam in historischer Korrelation mit sich bringt, jene ver-
nichtenden Folgen fur das ganze Kultur leben der Menschheit
haben wird, welche die Anhanger der Personlichkeitskultur
kommen sehen?
Ich will den Kulturphilosophen, die so schlieBen wie
v. Mayer, ihre Pramissen zugeben, indem ich die erste
Frage mit Ja beantworte: Immer mehr materielle Freiheit
wird geschaffen durch die Technik und zugleich, ja not=
wendigerweise, eine immer mehr fortschreitende Organi-
sation dieser Freiheit und der menschlichen Tatigkeit, durch
wclche sic verwirklicht wird. Abcr bei den Konsequenzen
streike ich ganz entschieden !
Wie kommt Herr v. Mayer zu dem Schlussc, der die
zweite Frage beantworten soil : Der Geist der Technik ent=
fremde den Menschen seiner kosmischen Aufgabe, er zer«
riitte und verkehre das tagliche Leben, indem er seine
Arbeitstatigkeit entpersSnlicht ?
Besteht denn das ganze Leben in technischer Arbeits-
tatigkeit, unterworfen dem Prinzip der Organisation? 1st
die fur uns alle — da wir nicht im Schlaraffenlande ge«
boren sind — zur Erhaltung unseres Lebens notwen-
dige Arbeitstatigkeit (die ja freilich in diesem Sinne eine
Zwangsarbeit ist), ist die Form dieser einen von Natur
unumganglichen und daher fur alle Menschen zu for-
dernden Lebensaufterung der alleinige Mafistab fur die Per-
sonlichkeit?
Muft die Personlichkeit des Menschen iiberhaupt stehen
und fallen mit der Personlichkeit seiner Mitarbeit an der
materiellen Grundlegung des menschlichen Kulturlebens?
Schandet iiberhaupt organisierte Berufsarbeit, Beamten-
arbeit, Staatsdienst den Menschen in seiner vollen Le-
benswirklichkeit, weil sie ihn als Diener der Gemeinschaft
teilweise und notwendigerweise zum Teil entpersonlicht?
I Was heiftt denn eigentlich „ Personlichkeit"? Etwa sich
auswachsender Egoismus, sich auslebende Eigenorgani»
sation des Individuums, „ Innenarchitektur der Seele"?
Sehr schon! Herrlich, wein Gott inmitten von Gottern
sein, iiber alles hinweg aber der schonen Lebensgestaltung
zu dienen !" — Das aber meint ja v. Mayer gar nicht. Er
spricht selbst von einem ,,Macht — Recht — Pflichtgeftihl,
als kosmischer Mittelpunkt zu wirken, verantwortlich nur
den allerhochsten Ideen". Ja, dies definiert er geradezu als
52
das ,,personliche Selbstgefiihl". Und das solltc ruiniert,
dem Mcnschen geraubt werden, nur well cr zu scincm
Teilc in Gemeinschaft mit den andcren und allcrdings
untcr gewissem Verzicht auf Eigenheit mitarbeitcn muft?
Kein verniinftiger Mensch wird diesen Schluft zugeben.
Doch wir haben unsercm Pcssimisten die Pramissen zu«
gegeben. Es ist Tatsache : An die Seite der materiellen
Freiheit, die wir als Idee der Technik entdeckt zu haben
glaubten, drangt sich allerdings (vielleicht immer vor»
dringlicher) mit zunehmender Entwicklung der Dingeeine
zweite, auch uns einleuchtende Gemeinsamkeit im histo-
rischen Geschehen, ein zweiter allgemeiner Begriff der
konkreten Erscheinungen, die man ,,die Technik" nennt.
Nennen wir diese Gemeinsamkeit der Dinge vorlaufig den
Begriff der Organisation".
In diesem sicht, dies gilt es nun zu bcachten, V. Mayer
gerade das Wesentlichste, den wGeist", die eigentliche
Idee der Technik selbst. Er versteht, wie wir gehort haben,
unter diesem Geist als selbstandiger Macht, als herr-
schendes Prinzip : Die Arbeitsteilung, die Arbeitseinheit, die
Arbeitsgemeinschaft und die technische Unterordnung. Hier-
durch soil der Mensch vollstandig ,,zerstuckelt, entper»
sonlicht, zur Masse gemacht und innerlich wie aufterlich
entgeistigt werden". Diese Leistung danken wir also der
Technik. Verstehen wir recht:
Die Form der Tatigkeit, wodurch die von uns erkannte
Idee der Technik historisch ins Werk gesetzt werden
muB, entwerte diese Idee so sehr, meint v. Mayer.
Herrlich ist zwar, wie unser Philosoph zugibt, die Ent*
faltung der ,,materiellen Freiheit" in den Werken der Tech-
nik selbst, so herrlich wie die Entfaltung der Idee der kiinst*
55
lerischen Schonheit in den Statucn und Bildern. Aber
scheuSlich 1st die Art, wie der Prozeft dieser Entfaltung
der Freiheit durch die handelnden Subjekte zur greif=
baren Wirklichkeit wird, ebenso scheufclich wie in den
Augen der Moralisten die Art des kiinstlerischen Schaffens
durch die stark sinnliche Erotik, durch das buhlerische
Leben der Kiinstler, oder wie nach unseren Begriffen die
Art der Erschaffung der Pharaonenkultur durch das grau«
same Elend der armen Fellachin. — Was haben wir darauf
zu erwidern?
Wo sich grofte Ideen, iiberpersonliche Werte in der Ge»
schichte verwirklichen, da gilt es eben zwei Dinge wohl zu
unterscheiden : Die Realisierung der im historischen Leben
sich entfaltenden Idee als sotche und die vermittelnde Tatig-
keit der Menschen, die ihre begrenzte Lebenszeit in den
Dienst der Idee stellen, in unserem Falle die Arbeitstatig*
keit der Erfinder, der Unternehmer, der Beamten, der
Arbeiter in der Industrie.
Nun gilt es zu erkennen, daft die Idee der Technik sich
realisiert und entfaltet in der von der ganzen Menschheit
praktisch erlebten und genossenen materiellen Freiheit, die
wir Techniker ihr schenken. Im Gebrauch und Genusse dieser
Freiheit besteht die ,,Wirklichkeit der Technik", gleich«
wie die ,,wirkliche Kunst" in Erlebnis und GenuB der
Werke der Kiinstler: Sic ist die Wahrheit und Wirklich.
keit der Gotterhaftigkeit des materiellen Lebens selbst,
vermittelt durch die physische Erweiterung der Wahrneh*
mungs- und Machtinstrumente, an deren Herstellung die
Techniker arbeiten, wie die Kiinstler an der Herstellung
der sichtbaren und greifbaren physischen Kunstwerke, die
ja ebenfalls nur erst die Mittel sind zum inneren Leben der
Kunst!
54
Zuerst mufc jenen Kulturhistorikern, die das Wcsen der
Technik in der Entpersonlichung dcr tcchnischen Arbeiter=
schaft im weitestcn Sinne zu erfassen mcincn, der Star ge=
stochen werden. Sie miissen erst einmal erkennen, daft die
Technik ihre Idee weder erfiillt findet in dem Frondienst
der Fellachin, in der modernen Sklavenarbeit der Fabriken,
noch auch anderseits in den toten Maschinen, Instrument
ten und Gegenstanden aller Art, die hier produziert wer-
den mogen. Nein! Die Idee der Technik erfullt sich erst in
dem frohen, freien Leben, das vermittelst der vorausge»
gangenen Arbeit an der toten Materie zur siegreichen
Wirklichkeit wird. Sie erfullt sich nicht im Luftschiff, son»
dern in der freien Luftschiffahrt, nicht in der Maschine,
sondern in der befreienden, freiheitgewahrenden Leistung
der Maschine, und sie erfullt sich nicht durch den Tech*
niker, sofern er auf die Mittel bedacht ist, sondern durch
den Techniker, der, in der Idee stehend, diese Mittel
im Geiste vorausschauend, bereits gebraucht, sofern cr
im Gedanken der materiellen Freiheit lebt , fur die er
der Menschheit durch seine Arbeit die Mittel schafft!
,,Wenn ich die schonste Maschine dastehen habe," sagt
Staudinger1 sehr richtig, ,,das ist keine Technik; erst
dann, wenn ich sie in Betrieb setze, ist es etwas Tech=
nisches, und ebenso, wenn ich sie herstelle. . . . Lebcn-
diges Wirken im Zusammenhang mil dem Werkzeug nenne
ich Technik."
Erst wenn jener Star der Ideenblindheit gegeniiber den
technischen Erscheinungen gestochen ist, kann das bessere
Verstandnis derselben kommen und hiermit auch das Ver=
standnis fiir die freilich in untrennbarer Verkniipfung mit
1 Staudinger, Verhandl. des i. deutschen Soziologentages,
S. 86. Mohr, Tiibingcn 1911.
55
dem technischen Arbeitsprozeft befindlichcn Eigentiim*
lichkeiten, die dieser mit sich bringt.
A>er wie steht es denn um die Idee der Tcchnik, wenn wir
diesen Grundbegriff mit der notigen logischen Scharfe
zu bestimmen suchen?Sie mag uns wohl anschaulich, in-
tuitiv als etwas unmittelbar Verstandliches, ja Allermensch*
lichstes erscheinen. Allein darauf kann sich cine wissen-
schajtlich begrundende Philosophic nicht verlassen. Ihre Be*
griffe miissen kritisch und logisch scharf getrennt von
anderen erfaftt werden, und es muft der Nachweis er*
bracht werden, daft sie durch die historische, wissenschaft*
lich bestatigte Wirklichkeit erfiillbar sind (Munch).
Qberlegen wir, der einleitenden Betrachtungen uns er*
innernd, nochmals, wie Freiheit moglich sein kann, trotz*
dem die Natur streng gesetzmaftig ist!
Dies wird, wie friiher schon gezeigt wurde, verstandlich,
sobald man einmal den fundamentalen Unterschied von
Anschauung und Begriff erkennt. Die anschaulich gegebene
Natur — das natiirliche Seiende, die Materie — konnte
von ganzlich verschiedener Beschaffenheit sein, wahrend
von ihr doch dieselben Gesetze, iiberhaupt dieselben Be-
griffe gelten. Also unendlich viele anschauliche Welten
sind moglich unter den Naturgesetzen (Leibniz).
Freilich ist nur eine dieser Welten wirklich, d. h. fur die
Wahrnehmung vorhanden, als ,,ein realisierter Fall". Die
Naturgesetze aber — dies eben ist die wichtige Grund*
erkenntnis, die wir gewonnen hatten — sagen uns iiber die
Anschauungen, in denen sie einleuchten, ,,fiir die sie geU
ten", ebensowenig, wie die menschlichen Rechtsgesetze
iiber die Eigenart der konkreten Sachen oder der han=
delnden Personen, die in den Gerichtssalen auftreten.
Das 1st es ja, was die rein formalen, intellektuellen Men-
schen, die sich nur fur abstrakte Einsichten interessieren,
so halbseitig macht: Sic suchen Begriffe, Begriffe und
wiederum Begriffe. Das, was den Begriffen aber Leben und
Erfiillung gibt, die konkrete, unerschopfliche Anschauung,
das betrachten sie als das ,,blo6 Gcgebene", was sie nur
wenig oder gar nichts angeht. Kiinstler dagegen und in«
tuitive Menschen iiberhaupt sehen gerade hierin das allein
Wichtige, sie hassen die Begriffe. — Es ist klar, daft es
noch einen dritten Stand gibt, der beides liebt und nach
beiden Richtungen hin Entfaltung sucht, nach Lebensfiille
und Begriff: Geister wie Lionardo und Goethe gehoren
ihm an.
Nun ist es gemaft der Idee der Naturwissenschaft — die
Gesetzeserkenntnis sein will — ein notwendiger Gedanke :
Wenn das anschauliche Sein zu irgendeiner Zeit in be=
stimmter Form der Verbindung und Verteilung gegeben
ist, dann ist es in alien kiinftigen Zeitmomenten seiner
Form nach determiniert, als Funktion jenes bestimmten
Zustandes des friiheren Zeitmomcntcs. Und diese einmal
gegebene konkrete Natur, in die wir hineingeboren sind,
konnen wir weder aus der Welt schaffen, noch konnen
wir etwas absolut Neues in diese Welt, die so ist, wie
figura zeigt, hineinbringen. Wohl aber konnen wir sie —
und zwar in concrete, realiter — umschaflen. Hierin liegt
der springende Punkt.
Es ist richtig : Die sich selbst iiberlassene reine Natur,
ohne das Leben, welches in der freien Sphare der ideellen
Anschauung, in der Sphare des Bewufttseins steht, kann
nichts umschaflen, sie kann nur vollenden, was begonnen
ist, zum Ablauf bringen, was in alle Ewigkeit hinaus
bereits determiniertes Resultat ist.
57
Doch das 1st eine thcoretische Abstraktion. Die ,,reine
Natur", ohne das Leben, das ,,absolut gesetzliche Funk=
tionssystem" 1st nichts anderes, als cin begriffliches Isola-
tionssystem, es gilt, wie wir gezeigt habcn, partiell, nicht
total. Aus ihm folgt also nicht das hohere Integral iibcr
das Ganze: Natur plus Leben.
Das Ganze, der Kosmos, hat, logisch betrachtet, zwei
Seiten zugleich : Determiniertheit und Indeterminiertheit,
Schicksal und Freiheit in seinen raumlichen wie zeitlichen
Erscheinungen, die im bestandigen Wandel begriffen sind.
Seine Geschichte lauft zum Teil in ewiger Bestimmtheit
ab ; aber sic ist auch zum Teil ein unberechenbarer Schop«
fungsprozeft des freien Lebens. Und darauf kommt es
uns an.
Wie Bergson1 richtig gesehen hat, befindet sich das
Ganze der Welt, mil Einschlup des bewupten Lebens, im
Zustande ^schopferischer Entwicklung", wenn die Welt=
anschauung eines absoluten abstraktionslosen Intuitionis=
mus auch immer die erstaunliche Selbsttauschung eines
originalen Denkers bleiben wird.
Die Lebenswelt, in die wir eingegliedert sind als tatige
Subjekte, diese besondere Form des Geschehens, welche
allein den Namen Leben verdient, hat unendliche Frei=
heitsgrade in der ideellen Voraussicht der moglichen Ein*
wirkung unseres Leibes auf die Materie. Die Naturgesetze
bleiben unverletzt; aber sic gelten total nur, sofern das aus
Freiheit der ideellen Voraussicht handelnde, d. h. das be=
wuBte Leben nicht eingreift, sofern kein Subjekt da ist,
welches der blinden Ordnung der Dinge seine eigene
1 H. Bergson, wie Seitc 23 erwahnt. Zur Begrundung meiner
Darstellung vcrweise ich nochmals auf mcin Scite 21 angc=
fiihrtes Buch ,/Wcltcrlebnis".
58
hohere Ordnung aufzwingt, im hochsten Sinne cine Ord*
nung gema'6 den Idcen, die es ergreift.
Es handelt sich also nicht um Widerspruch, sondern um
das Verhaltnis von Ordnung und Qberordnung, wo Natur
und Leben, Schicksal und Freiheit die Materie zu gleicher
Zeit gestalten — ein Verhaltnis von derselben Art, wie es
zwei Wellenbewegungen haben, die denselben Korper in
jenen komplizierten Schwingungszustand versetzen, aus
welchem die abstrahierende Analyse die beiden einzelnen
Schwingungsgesetze als partielle Bestimmungen heraus*
erkennt, womit das anschauliche Ganze — der schwin-
gende Korper — in seinem Verhalten verstandlich wird.
Kulturberuhtauf Freiheit. Ja, ich sage, das Leben iiber«
haupt beruht in der Freiheit. Mag es sich nun zu eigner
Gesetzlichkeit, zur selbstbestimmten Form,d.h.zur Ideen-
bezogenheit entschlieSen oder nicht ; seine Freiheit hat es in
der Unendlichkeit der ideellen Spha're, in der Phantasie, die
sich auf den reellen Zeitinhalt projiziert und diesem eine
Zukunft vorauszeichnet, von welcher unter Umstanden —
und das freilich ist merkwiirdig und hochst wunderbar —
die Realisierung durch die physischen Machte vermittels
der Einwirkung des Organismus auf die Materie gelingt.
A ber der lebendige Organismus besitzt diese Moglichkeit
x~Vkeineswegs schon im Momente seiner entwicklungs*
geschichtlichen Geburt zum bewuftten Lebewesen. Mit
dem Erwachen des freien Geistes muft er zugleich die
physischen Schranken fiihlen, in die ihn der blinde Zufall
eingeschlossen hat, gleich einem Gefangenen, der durch
das Gittcr in die freie Spha're einer Phantasiewirklichkeit
blickt, von der ihn ein unerbittliches Schicksal getrennt
hat.
59
,,Der Mensch ist frei, und war' er in Kettcn geborcn."
Nicht doch, sagt Dietzgen1, ,,in Kctten ist der Mensch
geboren, und die Freiheit muft er erkampfen." Er strebt
nach ihr — er erstrebt die Realisierung ihrer Idee, so*
lange er lebt.
Ideen sind keine metaphysischen Potenzen, keine dunk*
len Machte, die als Fatum die Menschen zwingen und
bestimmen, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Ideen
setzen sich nicht von selbst in die ,Welt. Sie beruhen in
der Erkenntnis, in der Einsicht, die sich der in der Frei-
heit der ideellen Sphare stehende Mensch aneignet, indem
er zum iiberpersonlich interessierten Menschen wird, die
er aber auch ohne diese Erhohung seines Schaffens im
harten Kampfe seines Willens mit der widerstrebenden
Natur zur geschichtlichen Wirklichkeit macht, ohne zu
wissen, was er im Grunde tut. Weifi er es einmal, dann er*
kennt er zugleich in der Idee seines Tuns auch sein hoheres
geschichtliches Wesen als Bildner der Kultur. Und solch
ein wissender Mensch ist der ideale Erfinder, der seines
Zieles bewuftte Entdecker und Erschaffer der materiellen
Freiheit, von dem Eythz so schon gesagt hat: ,,Er wird in
diesem irdischen Dasein nie zur Ruhe kommen, solange
der Mensch bleibt, was er ist: Ein Ebenbild des Schopfers,
ein Wesen, in das Gott einen Funken seiner eigenen schaf*
fenden Kraft gelegt hat/'
1 J. Dietzgen, Samtliche Schriften 1869 bis 78. Vcrlag der
Dietzgenschen Philosophic, Wiesbaden und Miinchen. " M.
Eyth, wie Seite 42 erwahnt.
TECHNISCHES SCHAFFEN
Wir wenden uns jetzt der Kchrseitc der Mcdaillc zu,
wohl wissend, daft die Technik wie jede Kultur=»
idee einer realen Vermittlung durch Berufsmenschen be=
darf, genau wie die Kunst.
Wir betrachten also die technische Arbeit oder den tatigen
Prozeft zur Erschaffung aller jener Werke, deren Gebrauch
das Leben der Idee erst ermoglicht und so der Technik
selbst zur Wirklichkeit verhilft.
Diesem Teile unserer Betrachtung wiirde etwa dasjenige
Kapitel der Kunstphilosophie entsprechen, welches die
Schaffung der sichtbaren Kunstwerke, d. h. die Tatigkeit
der Kunstler betrifft, oder derjenige Teil der Rechtsphilo-
sophie, der die Hilfsmittel zur Realisierung des gelebten
Rechts untersucht. — Es handelt sich hier wie dort um
eine von dem wirklichen Leben der Idee unabtrennbare
konkrete Sphare von Erscheinungen, um jene Art von
menschlicher Berufstatigkeit, iiber die besonders jetzt so
unendlich viele Nasen und vornehme Naschen geriimpft
werden, und die doch ebenso innerlich mit dem, was wir
die Kultur nennen, verknupft ist, wie die Riickseite eines
Talers mit seiner Vorderseite.
Wie jedes Stiick der gesamten Kultur, so fallt auch
dieses grau in grau gemalte, von vielen blindlings
zur Unkultur, zur blofien Zivilisation geworfene korperlich-
geistige Schaffen der Techniker in das menschliche Sub-
jekt, von dessen Willen es bewuBt realisiert wird. Es fallt
in das Reich der Zwecke.
|^Der unmittelbare Zweck der technischen Arbeit sind
zweifellos nur Mittel, vom Menschen erfundene Mittel,
61
die materialisiert werden sollen, um dem vollcn Lebcn im
hoheren Sinne, d. h. der Kultur als Einheitszusammen=
hang, als Verfassung, die notwendige Freiheit iiber die Na»
tur in jeder moglichen Hinsicht zu gewahrleisten, mit
deren Gewinn das Leben ja erst in den Stand gesetzt wird,
auch die iibrigen Ideen der Schonheit, der Wahrheit, des
Rechts usw. zur Entfaltung und Verwirklichungzu bringen.
Wie das Verhaltnis dieser Ideen zueinander und zum
Ganzen der gelebten Kultur, als eines konkreten Wert«
systems, sich richtig bestimmt, betrachten wir erst im letz-
ten Kapitel. Nur das bitte ich schon jetzt fur alles folgende
doch recht fest zu halten : Die technische Arbeit als solche,
die Tatigkeit der Techniker, ist nicht die Technik, ist nicht
das Kulturphanomen, dessen Sinn wir in letzter Hinsicht
zu verstehen suchen. Sie will es vielmehr erst ermoglichen,
wie die Kunstlerarbeit ihrerseits das gelebte Kulturpha-
nomen Kunst nur erst ermoglicht, aber keineswegs schon
selbst ist — ja nicht einmal sein kann, bevor nicht die
Kritik der Geschichte Recht gesprochen hat, ob Kunst
uberhaupt oder Unkunst vorliegt.
Das technische Schaffen, dessen Wesen wir jetzt erken-
nen wollen, darf, wie nun klar ist, nicht betrachtet werden,
um daraus den Geist oder das Wesen der Technik abzu«
leiten, wie es unsere kulturblinden Kritiker heute noch
ebenso wie zu Aristoteles' Zeiten versuchen. Wer nur die
technische Arbeit und die Einrichtungen der Fabriken be-
trachtet oder gar die wirtschaftlichen Unternehmungen,
in deren Dienst sie stehen, um kulturhistorisch zu werten,
der wertet also niemals die lebendige Erscheinung der
„ Technik", auf die es uns allein ankommt.
Ebenso verkehrt ware es, das Wesen der gelebten Tech-
nik, d. h. der in alien Moglichkeiten realisierten Gotter-
62
haftigkeit des Menschen, glcichzusetzen dcm Wesen des
ebensowohl auf der Natur wie auf der Vcrfassung des
aktuellen Subjekts beruhenden Prozesses, vor desscn FoU
gen so mancher schonen Seele aus der biederen Zeit un«
serer UrgroBvater himmelangst wird.
Wir modernen Techniker fiihlen indessen bei unserer
ruBigen Arbeit die Kraft nicht minder als den groBen
Geist der Kulturgeschichte im Busen. Hiittenrauch und
Hammerklang, chemische Geriiche und Radergebraus sind
fiir uns Lieblingsdiifte und anheimelnde Klange. Wir
wollen ganze Kerle sein in dieser das mannliche Gc=
schlecht nicht mehr zu Schaferspiel und Weiberromantik,
sondern im Spiel mit Dampf und Feuer zu Kampf und
Sieg einladenden Welt, von der Karl Weiser in den ,,Hun-
derthandigen" singt:
,,Wir schmieden,
Wir schmicden
Die Riistung der Zeit,
Die uns einst befreit!"
Fur uns ist die fruher so viel bewunderte Natur nur
gleichsam cine verzauberte bessere Wirklichkeit. Gar man-
cher Erfinder wunschte sich wohl, daB cr hexen konnte,
daB der bloBe Gedanke oder die Grundidee der Freiheit
genugte, um in dieses sinnlose Chaos technische Vernunft
zu bringen. Aber was ha'tten wir dann auf der Welt zu
schaffen? Ware uns eine solche bereits technifizierte Natur
nicht scheuBlich langweilig?
Die schwere Arbeit der Industrie ist somit, wie Hoff-
mann1 sagt, ,,nicht ein Fluch des Schopfers aller Dinge,
sondern das gottlichste Geschenk, das er den Menschen
geben konnte, die er dadurch nach seinem Ebenbilde schuf,
1 W. Hoffmann, Strafiburger Btirycrzeitung Nr. 161, 1915.
63
daS er ihnen die Gabe mitteilte, arbeiten, schopfen, aus
sich selbst heraus Werte erzeugen zu konnen. Dieses Ge»
schenk ist sein Eigentum, bleibt es so lange, wie er von ihm
Gebrauch macht, und dieses Geschenk und damit auch das
Menschentum wiirde er verlieren, sobald er sich dessen
im allgemeinen entaufterte."
Die Prinzipien unseres Schaffens scheinen ganz etwas
anderes zu bedeuten, als im Wesen der kiinstlerischen
Arbeit liegt, und doch hat beides im Grunde denselben
Sinn : Einen im Geiste erlebten freien Zweck zur Wirklich-
keit zu machen kraft korperlicher Arbeit, gelenkt durch
Gefiihl, Verstand und Vernunft.
Kiinstlerarbeit? Dieses stumpfsinnige, auf ode Niitzlich-
keit gerichtete Fabrikhandwerk der Industrie sollte in
seinem Wesen dem schopferischen Prozeft des gottlichen
Bildners, dieser hochsten Stufe menschlicher Tatigkeit,
auch nur entfernt verwandt sein? — Ich wage das aller-
dings zu behaupten und werde es sogar beweisen. —
Ich verstehe unter technischem Schaffen den gesam-
ten konkreten, reellen wie ideellen Prozefi, durch dessen
Vermittlung im Laufe der Menschheitsgeschichte die uns
zugangliche Naturwirklichkeit schlechthin umgestaltet
wird zu einer zweckbestimmten Naturwirklichkeit, und
zwar zweckbestimmt im letzten Grunde durch die Idee
der materiellen Freiheit.
Nicht um die technische Arbeit hoher zu bewerten, son-
dern um sie klarer zu erkennen, verglich ich sie mit der
kunstlerischen Arbeit. Denn auch diese beruht, wie nie=
mand bestreiten kann, in einer Umgestaltung der vorge*
fundenen Naturwirklichkeit zu zweckbestimmter Natur-
wirklichkeit, namlich zum Kunstwerk.
Natiirlich 1st hier die Idee eine ganz andere. Das vom
Kiinstler geschaffene zweckbestimmte Naturwirkliche —
z. B. der Marmorblock, den er zur Statue formte — unter=
steht einem wesentlich anderen Grundzweck als das Werk
des Ingenieurs. Die Idee des Kiinstlers heiBt Schonheit.
Es bleibt der Kunstphilosophie uberlassen, die wahre Be=
deutung dieses allzu gelaufigen Wortes im Sinne der ge=
schichtlich gewordenen Kunst zu bestimmen1.
Ein anderes Vergleichsobjekt bietet sich uns im freien
Spiel. Auch die lieblichen Spiele der Kinder sind oftUm*
gestaltungen vorhandener Naturwirklichkeit. Das Kind
gestaltet den Sand um. Doch es spielt mit der formlosen
Masse nur in planloser Freiheit. Es zerreiftt Papier, schlagt
seiner Puppe den Kopf ab — aus blinder Freude am Um=
gestalten. Hier wird frei umgestaltet, aber wie gesagt : Ohne
sinnvollen, d. h. von einer Idee bestimmten Zweck. Aufier
dem bloften Andersgestalten, aufjer dem Gefallen an der
reinen Variation der Form durch eigene Tatigkeit kennt das
Kind kaum Zwecke im Spiel, dbrigens machen es moderne
Kunstrichtungen ahnlich : Variatio delectat.
Definieren wir also das technische Schaffen als: Zweck=
voiles Umgestalten der Naturwirklichkeit, charakterisiert
durch den Grundgedanken der von der Technik erstrebten
materiellen Freiheit des menschlichen Lebens.
Der Techniker erarbeitet hiermit der Menschheit das
Wichtigste, Wesentlichste, dessen sic durchaus und alle
Zeit neu bedarf, solange die Kultur bestehen und fort=
entwickelt werden soil. Denn die Kultur schlieftt in sich
die Moglichkeit und Wirklichkeit unendlicher Freiheits-
grade der Betatigung des Subjekts an der Materie als not=
1 Vgl. B. Christiansen, Philosophic der Kunst. B. Behr, Berlin-
Steglitz 1912; tin tief durchdachtes Buch von der Kunst.
f Z • c h i rr, m c r . Philo.ophie dtr Technik &">
wendige Forderung ein. Und nur durch diesen Grund=
zwcck ist daher auch die technische Arbeit als Teil der
,,kulturellen Arbeit" uberhaupt spezifisch bestimmt. Zu ihr
gehoren deshalb logisch alle Momcntc, die eingeschlossen
sind in dem gesamten einheitlichen Vorgang, der zwischen
der lebendigen Technik einerseits und der toten Natur auf
der anderen Seite konkret vermittelt. Wir haben diesen Pro=
zeB in seine Faktoren zu zerlegen.
Oowenig die praktische Arbeit des Bildhauers von der
Ogeistigen Arbeit der kiinstlerischen Erfindung trennbar
ist, ebensowenig ware eine Trennung der beiden wesent*
lichen Faktoren der technischen Arbeit moglich, die wir
auch als ,,reelles und ideelles Schaffen" bezeichnen konnen.
dberhaupt ist es notig einzusehen, wenn man die Dinge
philosophise!) betrachten will, daft die ideelle Sphare in
der Totalitat des Weltcrlebnisscs, in das wir als handelnde
Wesen gesetzt sind, die groftere, ja die bei weitem um=
fassendere ist, wahrend die reelle Sphare nur den eng bc=
grenzten sinnlich, wirklich und aktuell gewordenen Teil
jener von uns friiher bezeichneten ideellen Weltspha're
darstellt.
Denn es gibt nur einen Raum, denselben Raum fur das
greifbar Wirkliche wie fiir die wildesten Phantasiegeburten.
Der Baumeister, der vor dem freien Felde steht, sieht be=
reits das geistige, ideelle Haus emporwachsen auf dem rc=
ellen Boden. Es ist in demselben Raume ideell vorhanden,
der auch diesen hochst reellen Erdboden, den er mit
seinem Fuft betritt, zum Inhalte hat.
Und es gibt nur eine Zeit, dieselbe Zeit fur dichterische
wie fiir wirkliche Ereignisse. — Ebenso ist es auch dieselbe
Skala der Elementarqualitaten, der einfachen Farben, Tone
66
usw., aus deren Mischung alle vorstellbaren Niiancen der
Eigenschaften von Raumteilen oder Zcitspannen hervor-
gehcn : Eine und diesclbe Palette fur die sinnliche Anschau=
ung des Auges, der Hand, des Leibes wie fur die geistige
Anschauung, d. h. die reine Vorstellung, die ideelle Sphare
der Dichter und Erfinder.
Sehr richtig sagt der Gerbermeister Dietzgen1: ,,Also auch
die Dinge besitzen Geist. Der Geist ist dinglich, und die
Dinge sind geistig . . . Was die Wahrheit verbirgt, ist die
Gewohnheit, Sinnliches und Geistiges als heterogene, ab-
solut verschiedene Dinge zu betrachten."
Also merken wir uns: Die ideell mogliche, unendliche
Gestaltungsmannigfaltigkeit und Mannigfaltigkeit der
Qualitatsbestimmung ist das Umfassendere, das Allge=
mcinc, wovon die reelle Wirklichkeit nur den besonderen
Fall darstellt. Die Natur ist in diesem Sinne nichts anderes
als der beschrankte Geist!
Fur Kiinstler und Erfinder sind das selbstverstandliche
Feststellungen; denn sic leben ja meistens nur in der ide»
ellen Sphare. Ebenso sehen es die bedeutenden, d. h. die
wahrhaft produktiven Naturforscher ein. Es gibt fur sie
keinen absoluten Gegensatz des Reellen und Ideellen —
das Verhaltnis dieser beiden Weltteile ist das vom Stuck
zum Ganzen, einerlei auf welche genauere Formel die lo=
gische Bestimmung desselben gebracht werden moge.
Es ist jedoch merkwiirdig, wie schwer diese Einsicht an*
deren, sonst ganz gescheiten Leuten fallt. Sie meinen, die
Welt verfluchtige sich ganz und gar, wenn das Reelle in ge»
wisser Hinsicht ,,nur" dasselbe ware wie das Ideelle, der
blaue Dunst der Phantasie. Und doch leben sie bestandig
in diesem blauen Dunst, ohne darauf zu achten. Es geht
1 J. Dietzgen, wie Seite 60 erwahnt.
67
ihncn wie Meyrinks TauscndfuB, dessen tausend Fiifte die
komplizicrtc Fortbewegung des Tierchens mit brillantcr
Prazision bcsorgten — solange cs nicht daran dachte1.
Sagcn wir also : Alle reetle technischc Arbeit 1st stets Teil
von einem umfassenderen, zeitlichen Erlebnis — Teil
der ideellen Arbeit, sofern namlich von menschlicher Tatig*
keit in der Industrie zu reden ist. Ein Arbeiter, der ledig=
lich Pferdearbeit, ja noch weniger, nur reine, von jeglicher
Geistestatigkeit entbloftte ,,Bararbeit" leistete, ist ein ab=
straktes Unding. Wenn seine Arbeit auch noch so geistes*
arm ist, sie beruht doch stets auf der Verwirklichung, auf
der Intensivierung eines zuerst rein Ideellen, Zukunftigen :
seiner Absicht.
Absicht und Tat sind die untrennbaren Momente einer
lebendigen Einheit: der menschlichen Arbeit. Deshalb de»
finierte auch Marx2 bereits ganz richtig: ,,Unter Arbeits-
kraft oder Arbeitsvermogen verstehen wir den Inbegriff der
physischen und geistigen Fahigkeiten, die in der Leiblich-
keit, der lebendigen Personlichkeit eines Menschen existie»
ren und die er in Bewegung setzt, so oft er Gebrauchswerte
irgendeiner Art produziert. . . . Am Ende des Arbeitspro-
zesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn des«
selben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon
ideell vorhanden war/'
An anderer Stelle schwebt Marx allerdings wieder der Be*
griff der reinen, geistlosen ,,Bararbeit" vor, wo er meint, in
der Industrie vollende sich der ScheidungsprozeBr welcher
die ,,geistigen Potenzen des Produktionsprozesses" der bloften
nArbeit" gegeniiber stellt. Die Industrie, meint er, trenne
1 G. Meyrink, Der hei&e Soldat. A. Langcn, Miiiichcn. «/0 Marx.,
Das Kapital, i. Band. O. Meifiner, Hamburg 1867.
68
die ,,Wlssenschaft als selbstfindige Produktionspotenz" von
dcr ,,Arbeit" und presse sic in den Dienst des Kapitals.
Dagegen heifit es wieder ganz klar: ,,Die einfachen Mo=
mente des Arbeitsprozesses" sind ,,die zweckmaftige Tatig=
keit oder die Arbeit selbst", ihr Gegenstand und ihr Mittel.
Zweckma'Sige Tatigkeit kann die hier definierte Arbeit
des Fabrikarbeiters nur sein, wenn sie mit dem ideellen
Bcstandteil, mit der bestandigen Vorstellung des Zwcckcs
verkniipft ist.
Naturlich besteht, wie Simmel1 sagt, in dem ,,Anteil des
Geistes an dem Arbeitsprodukt" ein wesentlicher Unter*
schied. Macht der Tischler nach einem langst bekann=
ten Modell einen Stuhl, ,,so geht das freilich nicht ohne
einen Aufwand psychischer Tatigkeit ab, die Hand muft
vom Bewufitsein geleitet wcrdcn . . . Allein dies ist keines*
wegs die ganze in dem Stuhle investierte Geistigkeit. Er
ware auch nicht herstellbar ohne die geistige Tatigkeit des=
jenigen, der, vieileicht vor Generationen, das Modell dazu
ersonnen hat; auch die hiermit verbrauchte psychische
Kraft bildet eine praktische Bedingung dieses Stuhles."
Der Inhalt dieses zweiten geistigen Prozesses cxisticrt
jetzt fort ,,in einer Form, in der er keinen psychischen
Kraftaufwand mehr involviert: Als Tradition, objektiv
gewordener Gedanke, den jeder aufnehmen und nach =
denken kann."
Zweifellos der Wirklichkeit widersprechend ist es, wenn
dagegen unser Autor v. Mayer* ganzallgemeinbehauptet:
,,Der Arbeiter als tatiger Mensch sieht nie das nutzbrin=
gende Ende seiner Arbeit, er hat nicht ein Ziel vor Augen,
das ihm von Zeit zu Zeit eine Freudenpause brachte; son»
1 G. Simmel, wie Scite 33 erwahnt. * E. v. Mayer, wie Seite 46
erwihnt.
69
dern er kennt nur die mcchanischc Einteilung der Arbeits-
stundcn und Zahltagc."
In ausfiihrlicher Weisc bchandclt Kraft1 das technische
Schaffen in seincm umfangrcichen Werke ,,System dcr
technischcn Arbeit". ,,Wir sehen," sagt er am Anfang, ,,daft
cs wohl rein geistige (wenigstens in ihrer Wirkung nach
auften), aber keine rein physische Arbeit gibt, daft die letzs
tere stets, selbst in ihren einfachsten Erscheinungen, cine
aus geistiger und physischer Tatigkeit kombinierte Arbeit
ist, indem die erstere der letzteren vorangeht und sie bis
zum Schlusse begleitet."
Wahrend Kraft hierin mit uns ubereinstimmt, weicht
er spater von dieser Auffassung wesentlich ab, indem er
von der Funktion der Maschine erklart, daft auch diese
eine vom Menschen gewollte, zum Zwecke der Neuge=
staltung, Umwandlung) Neuordnung oder Raumverande»
rung irgendeiner Substanz geleistete ,,Arbeit" darstelle.
,,Der einzige, im ganzen unwesentliche Unterschied", heiftt
es nun, ,,zwischen der unmittelbaren, menschlichen Ar-
beit und der mittelbaren, durch Motoren, besteht darin, daB
der eine Faktor der Arbeit, der Kraftfaktor, verschiedenen
Energiespeichern entnommen wird, und da die Aufspei-
cherung der Energie in diesen Behaltern doch schlieSlich
nur auf natiirlichem Wege, auf Grund unwandelbarer Na=
turgesetze erfolgt, so reduziert sich der Unterschied zwi»
schen der sogenannten Handarbeit und der sogenannten
mechanischen Arbeit der Maschine auf eine raumliche
Trennung der geistigen von der physischen, korperlichen
Arbeit, indem sich der Mensch die geistige Leitung der
Arbeit samt einer unbedeutenden physischen Arbeit vor»
beha'lt, die dem gewollten Zweck entsprechende quanti=
1 M. Kraft, wic Seite 40 erwahnt.
70
tativc Arbeit aber durch den Motor leisten laftt. — Die
grofte Ahnlichkeit zwischen dem menschlichen und be»
stimmten anderen Motoren . . . erhoht sich durch den Um»
stand, daft der monoton arbeitende Mensch einen zwanga
losen Ubergang zur Maschine bildet."
Ich halte aber entschieden die erste Definition Krafts fiir
die dem arbeitenden Menschen urspriingliche und richtige.
Der ,,Arbeitsbegriff"bedeutetfiir die Industrie wenigstens
cine doppelsinnige Abstraktion, fiir dessen physikalischen
Sinn man in Zukunft besser nur den hierfiir gepragten spe=
ziellen Ausdruck ,,Energie" gebrauchen sollte.
Die moderne ,,technische Arbeit des Menschen" unter-
scheidet sich auch auf ihrer niedersten Stufe eben darin
wesentlich von der Maschinenarbeit als reiner ,,mecha-
nischer Energie" , daft nirgendwo in der Industrie die
Menschen als die willenlosen, geistig unbeteiligten Werk«
zeuge eines Treibers wirken, dem sie etwa gehorchten wie
der Kolben dem Dampfdruck.
So etwas gibt es heute nur noch in dem rhetorischen
Arsenal gewisser Sozialpolitiker und Kulturphilosophcn,
denen die gegenwartige Wirklichkeit des Fabriklebens
frcmd geblieben ist. Selbst die Nachkommen der grausa=
men englischen Unternehmer aus der Zeit des industriellen
Kindermordes1 miissen, so unbequem es fiir sie auch ist,
den Arbeitsbegriff heute spezifisch menschlich verstehen.
Und anders meint es auch niemand im Ernst. Gerade
in dem beriichtigten Taylor-System2, nach welchem die
1 Vgl. Marx, wie Seite 68 erwShnt. * Von dem Ingcnieur F.
W. Taylor crfunden. Beschreibung mit Illustrationen von K.
Willmann in Nr. 35 der Berliner Illustrierten Zeitung (1913).
Ferner F. W. Taylor, Die Betriebsleitung, insbesondere der
Werkstatten. dbersetzt von A. Wallichs. 2. Aufl. Springer,
Berlin 1912.
71
Amerikaner die Arbeitsleistung und Entlohnung des In«
dividuums wissenschaftlich exakt feststellen, kommt dies
deutlich zum Ausdruck. Hicr handelt es sich urn physischc
und intcllcktucllc Befahigung zugleich. Die Geschicklich*
kcit in der Zeitausntitzung, die Zweckmafcigkeit der Ta*»
tigkeit, die Feinheit der Aufmerksamkeit spielen die
Hauptrolle.
Was ins Auge gefafit wird, ist vielmehr das veranderliche
Verhaltnis der beiden notwendigen Bestandteile der reellen
und ideelen Tatigkeit des einzelnen Subjekts. Dieses Vcr=
haltnis ist in der Tat von Mann zu Mann ein sehr ver=
schiedenes. Es stehen sich in der Industrie gegeniiber:
Schaffende Menschen, von denen die einen ein Maximum
an recller Produktion zu leisten haben, wahrend die an«
deren fast ausschlieftlich geistig, d. h. in der ideellen
Sphare schaffen. — Und zwar geht nun dieser Gegensatz
des Verhaltnisses der beiden Komponenten in dem Mafic
auseinander, als die Arbeitsteilung fortschreitet.
t teilt die Gebiete der technischen Arbeit ein in
die Erzeugung materieller Produkte einerseits und die
Erzeugung von Energie anderseits. Beides ist die Indu-
strie. Und bierzu rechnet er mit Recht als drittes Gebiet,
wie er sagt, die technische Arbeit zur Herstellung ,,gei-
stiger Energie und Arbeit", d. h. das technische Schaffen
im Versuchs*, Unterrichts- und staatlichen Uberwachungs*
wesen. Auch diese Tatigkeiten gehoren organisch mit der
Technik zusammen; denn sic dienen zur Verwirklichung
ihres Grundzweckes, der materiellen Freiheit, ebenso, wie
die notwendige industrielle Produktion der Mittel.
Dieser ganze riesige ProzeB entfaltet sich nun praktisch
in der systemeinheitlichen Tatigkeit vieler an einem Ob*
72
jektc: Zum organisierten Schaffen. Doch niemals wird die
Arbeitsteilung, wie sehr sie auch fortschreitet, zur konkreten
Trennung der rein ideellen von der rein rcellen Subjekt«
tatigkeit. Es vertcilt sich vielmchr die gesamte ideelle Tatig*
keit einerseits auf verschiedene, ra'umlich wie zeitlich ge*
trennt lebende Subjekte, und ebenso verteilt sich auch die
gesamte korperliche, reelle Arbeit anderseits auf dieselben
Subjekte, wodurch diesen in dem grofien Schauspiel des
technischen Produktionsprozesses nur verschiedene Rollen
zufallen, als deren Haupttypen wir mehroder wenigerrein
hervortreten sehen: den Erfinder, den Unternehmer, den
Arbeitsleiter, den Rechner, den Zeichner, den Maschinen=
arbeiter und den Handarbeiter.
Alle, vom reinen Erfinder bis zum reinen Handarbeiter,
produzieren geistig; die ideelle Spha're ist ihr gemein*
sames Lebenselement, worin sie ihr gemeinschaftliches
Werk auf die eine letzte Idee der Technik, die materielle
Freiheit des Menschengeschlechts, gerichtet wissen.
Vom Zeichner abwarts beginnt allerdings die zunehmende
physische Produktion, das Schaffen in der reellen Sphare.
Wir konnen es ansehen als die Intensivierung des Ideellen,
die dbersetzung des blo5 Vorgestellten, rein Gcistigen, in
Wirkliches, Reelles.
Es herrscht folglich, wie sehr auch der aufiere Schein des
Fabriklebens dagegen sprechen mag, eine ideelle Kontinuitat
in diesem Schauspiel. Der technische Schopfungsprozeft
bietet auch dem letzten Mann der groBen Arbeiterarmee
die Moglichkeit und Freiheit, im Ganzen zu leben. Der
Entwicklung dieses einheitlichen Bewufttseins sind in der
Sache selbst jedenfalls keine Schranken gesetzt. Behauptet
doch Rathenau1, und er nicht allein, schon vom heutigen
1 W. Rathenau, Zur Kritik der Zeit. S. Fischer, Berlin 1912.
75
Zustand: ,,Die Arbeit . . . wird mehr und mchr ver«
geistigt. Kaum daft sich die Hand bewegt, eine Zahlen=
reihe zu schreiben, eine Schraube zu verstellen; je apa»
thischer die Gliedmaften ruhen, desto erregter arbeitet
das Gehirn."
Wie der Darsteller der kleinsten Rolle auf der Buhne, so
kann der einfachste Fabrikarbeiter, gesunden Verstand
und guten Willen vorausgesetzt, den Sinn und Wert des
Ganzen erfassen und in sich wissen, wahrend er hier und
jetzt zu seinem Teile daran schafft. Er sieht das Ganze
werden, er sieht wie das Dberraumliche, Dberzeitliche,
Qberpersonliche durch seine bescheidene Mitwirkung hin=
durchgehen muft, um in die Wirklichkeit einzutreten.
Und so am Ganzen schaffend, spielen wir, wie Eucken1
sagt, ,,nicht mehr bloft eine uns zugewiesene Rolle; son=
dern so wird das Leben uns in vollcm Sinne zu eigen, so
kommen wir in ein aktives Verhaltnis zur Wirklichkeit . . .
Uberall kommen wir darauf, daft unserem Leben ein Ge*
halt und Wert nicht von drauften her zufallt und gar nicht
zufallen kann, daft wir ihn aber von uns aus ihm zu geben
vermogen, sofern eine geistige Welt in uns wirkt und zu
unserem eigenen Wesen wird . . . Auftere Geringfugigkeit
kann mit innerer Grofte zusammengehen, und es darf nie«
mand von seiner Lebensaufgabe niedrig denken. Wir alle
sind koniglichen Gebliits; aber wir sind es nur als Burger
der Geisteswelt, als Trager urspriinglichen Lebens."
[ ^raeen wir uns nun : Woher kommt denn eigentlich die
JL Arbeitsteilung? — so lautet die Antwort hochst ein=
fach : Aus der Natur der Sache.
1 R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens. 3. Aufl. Qucllc &
Meyer, Leipzig 1915.
74
Die Teilung dcr technischen Arbeit ergibt sich mit
logischer Notwendigkeit, sobald der auf den Endzweck
— die Idee der Technik — gerichtete Gesamtwille die
Mittel dazu an der Materie realisieren will. Denn er findet
alsdann neue Moglichkeiten, die unendlich (iber denen
stehen, fiber die der handwerkende Techniker, der noch
alles in einer Person ist, verftigt. Die Geschichte zeigt uns
den Fortschritt in der Entfaltung einer immer grofceren
Reichweite des einen Grundgedankens: Freiheiten zu ent»
decken, die die Natur dem Menschengeschlecht bei seiner
Geburt nicht als Patengeschenk verliehen hat, sondern die
wir Techniker ihr abtrotzen miissen, kraft der Oberlegen*
heit der schopferischen Intuition und der Logik uber die
blinden Tatsachen.
Indem der Gedanke schon immer voraussieht, was mog«
lich sein konnte, und weil der Wille der Verwirklichung
des Idealzustandes da ist, folgt das Wie von selbst. So
kommt auch die Arbeitsteilung als allgemcinc Form des
technischen Schaffens nicht von auften, nicht durch fremde
Motive in die Sache hinein, sondern aus ihr heraus.
Und zwar ist es nun ebenso gewift, daft es keine kiinst=
liche und voriibergehende Erscheinung bedeutet, wenn
sich die Organisation der Arbeit zugleich in Form der
gleichartigen, den einzelnen Teil tausendfach multiplizie=
renden Fabrikarbeit vollzieht. Die fiir diese so typische
Wiederholung derselben Werkteile, welche vom Teilarbei*
ter, sei es nun mittels Handen, Werkzeugen oder Ma=
schinen, geliefert werden, wird zur Selbstverstandlichkeit,
sobald die Vervielfaltigung eines zu schaffenden Gesamt=
werkes, das von der Organisation der Arbeiter hervor=
gebracht wird, ein allgemein menschlicher Wunsch gewor=
den ist.
75
Denn habe ich tausendmal die Verbindung V aus den
Teilen ABC herzustellen, so ergibt sich, wenn ich statt
1000 Ganze (A + B -f C) in meiner Fabrik 1000 A -f
1000 B + 1000 C als Teile fertigen und diese tausend=
mal verbinden lasse, nicht allein die hochste wirtschafttiche
Leistungsfahigkeit, die den Kapitalisten interessiert, son-
dern auch die groSte technische Vollkommenheit und cine
Steigerung der Moglichkeiten, also wiederum ein Fort*
schritt auf dem Wege zum Endziel hin. Der wirtschaft=
liche Nebengedanke der vorteilhafteren Fabrikation dient
zugleich dem Grundgedanken der Technik, neue Moglich*
keiten von sachlicher Bedeutung zu erobern.
Die Organisation der Gesamtarbeit durch Arbeitsteilung
unter einem gemeinsamen, leitenden Zwecke und die
Gleichformigkeit der fabrikmaftig wiederholten Teilarbeit :
Diese beiden Momente verbinden sich, wie wir also be*
haupten diirfen, mit innerer Notwendigkeit, sobald sich
das Endziel der Technik zum gemeinsamen Ziele der gan=
zen Kulturmenschheit verallgemeinert.
Es ware daher ein ebenso kiimmerliches, wie kulturwi=
driges, ja ein faules und recht erbarmliches Menschentum,
wollte man vor der Unerbittlichkeit dieser geschichtlichen
Entwicklung der Dinge nur heulen und den Kopf in den
Sand stecken, anstatt freudigen Mutes das Neue als ein
Lebensneues, als ein zukunftsreiches, im Grunde doch dem
Drange nach unbegrenzter Erhohung der Menschheit ent*
sprungenes Kulturwerk zu begriifien !
Wie erfrischend klingen fur uns Techniker dagegen die
Worte, die der Lebensphilosoph Eucken1 unserer Zeit zu«
ruft: ,,Nicht minder aber, wie dem Sinken der Jugendkraft,
1 R. Eucken, wie Scite 74 erwShnt.
laftt sich auch der Mechanisierung der Arbeit und dem
Verfallen in gcistlose Routine widerstehen. Wir unter*
liegen hier nicht sowohl den Auftendingen, als unserer
eignen Schwache und Leere, unserem Unvermogen, der
Arbeit gegeniiber ein Werk des ganzen Menschen zu wah=
ren und von ihm aus die Arbeit zu beseelen."
Doch gerade fur den geistigen Arbeiter der Technik soil
die Teilung die schlimmsten Folgen haben, so schlimm,
daft die Spezialisten, wie Kraft1 sich ausdriickt, ,,zum Be*
standteil einer ruhig arbeitenden Maschine geworden zu sein
scheinen. Es sind Menschen/' sagt er, ,,die, wie in cinern
Brunnen sitzend, das ihncn sichtbare Himmelstiickchen
fiir das ganze Firmament halten, denen sich die Wichtig«
keit ihrer speziellen Beschaftigung so ins Mafilose dehnt,
daft sie die Notwendigkeit anderer Beschaftigung kaum zu
begreifen vermogen."
Leider ist es noch so. Aber an wem liegt das? An den
Menschen selbst und ihrer bewundernswerten Erziehung!
Die mcisten durch das Gymnasium und Polytechnikum
oder die Universitat hindurchgetriebenen Jiinglinge taugen
von Hause aus nicht viel. Dafiir sorgt schon der Staat
durch die weise Auswahl der Schiller nach dem Geldsack
der lieben Eltern. Die Kraftnaturen, die frischen, lebens*
starken, empfanglichen Geister werden im Verhaltnis, so
scheint es, immer seltener. Man findet ihrer aber noch
viele Tausende unter den kleinen Handwerkern und Fabrik=
arbeitern, denen der Zugang zu den hoheren Bildungsan=
stalten verschlossen ist, nicht durch die hohere Begabung,
sondern durch das Geld der anderen.
Am Menschen liegt es, wenn er durch die Arbeitsteilung
zum Fachkretin wird, nicht an der Technik. Das Clbel
1 M. Kraft, wie Seitc 40 erwShnt.
77
kommt von der geistigcn Schlapphcit und Interesselosig=
keit, wofiir auch unsere ruckstandige Schulbildung nicht
zum geringsten Tcilc verantwortlich gemacht werden muf).
Wenn das Dogma von der entpersonlichenden und cnt=
gcistigenden Wirkung der technischen Arbeitsteilung rich=
tig ware, so muftte man freilich an der Zukunft der Mensch*
heit verzweifeln; aber es ist nichts als eine Verlegenheits*
floskel, wie so viele Formcln, die sich philosophierende
Schlachtenbummler zurecht machen, die vom Tuten und
Blasen in der Wirklichkcit keine Ahnung haben.
Jeder Mensch sollte etwas Ordentliches leisten, — das kann
er nur, wenn er sich auf ein Gebiet spezialisiert. Jeder
Mensch sollte aber auch etwas Aufierordentliches leisten,
— dazu hat er neben seinem Berufe Zeit und Gelegenheit
in Hiille und Fiille. —
Ich kenne Leute im besten Alter, die nur deshalb alters*
schwach geworden sind, weil sie jahrelang keine wissen=
schaftliche Abhandlung, kein schones Buch, keinen Vor»
trag, nur ihre Zeitungsfeuilletons aufgenommen haben.
Es mu5 einer ja geistesschwach werden, wenn er in seiner
freien Zeit nur i6t, trinkt und Skat spielt, wie die Phi=
lister. — Aber ich kenne auch andere Leute, die Tech-
niker, Beamtc, Offiziere sind und doch mit wahrer Leiden*
schaft an dem Kulturleben, an der Wissenschaft, an Kunst
und Literatur teilnehmen und deshalb, trotz ihres Alters,
so jung sind wie die Cotter.
Nervositat kommt meistens nur von Unzufriedenheit,
vom Pessimismus und von der unaufhorlichen Norgelei
und Kritisiererei. Man gehe still und ruhig an seine Arbeit
und freue sich dann um so mehr seines Lebens !
Und schenkt uns nicht die Technik alle Mittel dazu?
Es gibt Tausende von billigen Buchern, Zeitschriften, No=
78
ten und Reproduktioncn. An Ausstellungen, Konzertcn,
Theatervorstellungen und wissenschaftlichen Vortragen
fehlt es nicht. Von alien Seiten sind wir umgcben von cincr
hcrrlich aufbliihcnden Baukunst, von den prachtigen Ein»
richtungen und Mitteln, die jedem zur Verfiigung stehen.
Damit sollte sich nicht leben lassen? Damit sollte der gei-
stige Stumpfsinn als Folge der Arbeitsteilung nicht zu be=
kampfen sein? Es miiBte doch mit dem Teufel zugehen ! —
Wenn dagegen der Kulturpessimist v. Mayer1 den Schluft
zieht: ,,Da die Arbeit doch nun einmal den Tag und das
Leben der grofiten Mehrheit ausfiillt, ist die sichere Zu»
kunft unserer technischen Zivilisation die absolute Lcbens=
einformigkeit und Unpersonlichkeit — die Mcchanisie=
rung und Desorganisierung des Lebens . . . Der Geist der
Technik arbeitet an scincm eigenen Ruin — vielleicht,
sicher aber an dem des Menschenlebens" — so konnen
uns solche Prophezeiungen nur anmuten wie Stimmen
aus den Grabern der Toten. Ein Gliick, daft viele von
diesen uns nichts mehr schaden konnen, daft sic ordcnt=
lich tot sind !
Die technische Arbeit wird einformige Teilarbeit fur
Millionen. Wer wollte das angesichts der Tatsachen
noch leugnen? Aber ist es nicht auch eben diese Arbeits=
form, die uns endlich befahigen wird, das Riesenwerk in
kiirzester Zeit und auf kiirzestem Wege, auf die denkbar
leichteste Weise zu schaffen?
Und arbeiten nicht schlieftlich alle fur einen, wie einer
fiir alle? ,,Die Rucklaufigkeit der Dienste," bemerkt Sim-
mel* sehr hubsch, /7in der die niederen Klassen die Arbeit
1 E. v. Mayer, wie Seite 46 erwahnt. 8 G. Simmel, wie Seite 32
crwahnt.
79
dcr hoheren fiir sich kaufcn, liegt jetzt schon in unzahU
baren, unser ganzes Kulturleben bestimmendcn Bcispielcn
vor . . . Der grofte Chemiker, dcr in seinem Laboratorium
iibcr Darstcllung der Tccrfarbcn sinnt, arbeitct fiir die
Bauerin, die bcim Kramer sich das bunteste Halstuch aus=
sucht; wenn der Groftkaufmann in weltumspannenden
Spekulationen amerikanisches Getreide in Deutschland
importiert, so ist er der Diener des armsten Proletariers;...
moglich aber ist die Erscheinung nur durch die Objekti-
vierung, die die Produktion sowohl dem produzierenden,
wie dem konsumierenden Subjekt gegeniiber ergriffen hat
und durch die sie jenseits der sozialen oder sonstigen Un*
terschiede dieser beiden steht."
,,Es ist die Grundtatsache der Arbeitsteilung/' sagt Sim-
mel, ,,die schlieglich bewirkt, daft ein Teil der Arbeit an
den niedrigsten Bediirfnisartikeln von den hochststehenden
Individuen geleistet wird", wie auch umgekehrt ,,die rohe*
sten Hande an den raffiniertesten Produkten der hochsten
Kultur mitarbeiten". «*|
Ober die Arbeit uberhaupt zetern, hiefte et\was Unab=
wendliches beklagen, es hieBe beklagen, dafi wir nicht im
Paradies, sondern auf der Erde wohncn. ,,Ein Mensch,"
sagt Hoffmann1, wder in cine Dberfiille der zur Befriedi»
gung seiner naturlichen Bediirfnisse notwendigen Mittel
gesetzt ware und keinerlei Moglichkeit hatte, aus dem pa»
radiesischen Gefangnis herauszukommen, wiirde bald auf=»
horen, Mensch zu sein, denn seine Vernunft miiBte ver«
kiimmern. Ein Paradies ware fiir ihn cine Holle." H
Mogen wir nun die technische Arbeit wiinschen oder
nicht, jedenfalls ist sie, wie Marx* gesagt hat, ,,die von
1 W. Hoffmann, wie Seitc 32 erwShnt. * K. Marx, wie Seite 68
erw8hnt.
80
alien Gesellschaftsformen unabhangige Existenzbedingung
des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoff=
wechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschlichc
Lcbcn zu vermitteln."
Da wir Menschen sind, so miissen wir arbeiten. Kein
Gott hilft uns iiber diese unsere Bestimmung hinweg.
Sagt doch selbst Herr v. Mayer1 in wahrer Erkenntnis:
,,Tatigkeit 1st dem Menschen ganz natiirlich, ja 1st gerade*
zu die Verwirklichung seiner Personlichkeit, die dadurch
gestaltend in die Welt greift; in einer Ta'tigkeit, die ihm
entspricht, findet er den groftten Teil des Clucks."
Aber es gibt freilich Leute, die davon ganz und gar nicht
iiberzeugt sind. Nach ihrer Theorie bedeutet Arbeit ur»
spriinglich weiter nichts als Not, Miihsal, Plage. MiiBig»
gang ist nach ihrer Meinung das hochste Gliick der Natur»
volker und die angeerbte Neigung des Menschen. Nur der
harte Zwang, sagen sie, bringe den Menschen zum Ar»
beiten.
Wenn das der Fall ware, fragt Biicher2, ein Gelehrter,
der viel und griindlich iiber das Wesen der Arbeit nach-
gedacht hat, ,,wenn untiberwindliche Faulheit der Men=
schen altestes Erbteil ware, wie konnten sie dann iiber=
haupt sich iiber die Existenz des friichtesammelnden und
wurzelgrabenden Tieres emporheben"? Der Naturmensch
arbeitet, sagt Biicher, zeitweise sehr intensiv, er scheut nur
die Regelmapigkeit der Arbeit. Und solche Menschen fin=
det man doch gerade auch unter denen, die heute die
hochsten Werte fur die Kultur schaffen. Sie hassen zwar
die strenge Zeitordnung, sie wollen schlafen und aufstehen,
1 E. v. Mayer, wie Scitc 46 erwahnt. 2 K. Biicher, Arbeit und
Rhythmus. Abhandl. d. K. Sachs. Gesellsch. d. Wissen*
schaftcn. 39, philosoph. Klassc 17, Nr. 5 (1897)-
6 Zschimmer, Philosophic der Tcchnik ° *
arbcitcn und cssen, wie es ihncn pafit, wie cs ihre Schaf-
fenskraft mit sich bringt; aber sie gcbcn sich an ihr Wcrk
oft mit hundcrtfacher Lust und Energie bin, vcrglichcn
mit dem tiichtigsten ,,Zeitarbeiter", dem tiichtigsten Be=
amten, der wahrend seiner Dienstzeit keine Minute zu
wenig im Bureau saft.
Noch allzusebr sebnen sicb mancbe Pbilologenseelen in
ihren Schlafrocken nach der Wirtscbaftsordnung der Antike
zurtick. Ware es doch nur so geblieben, seufzen sie im
stillen, daft zwei Gattungen von Menschen gleichsam wie
zwei Tierspezies nach dem Willen der gottlichen Vorsehung
existierten, deren eine das unvermeidliche Arbeiten be»
sorgte, wahrend die anderc, edlere (dazu rechnen sie
natiirlich sich selbst) dadurch die Mufte gcwonnc, nur
die hoheren Kulturleistungen zu vollbringcn und so ein
recht beschauliches, gottgefalliges Leben zu fiihren!
Das Ideal des Aristoteles1 schwebt diesen schonen Seelen
vor, der einst seinen herrlichen Landsleuten gelehrt hatte:
,,Die Wirksamkeit Gottes, die an Seligkeit alles tibcr-
trifft, wird also in der reinen Betrachtung bestehen und
von den menschlichen Wirksamkeiten diejenige mit der
groStcn Glttckseligkeit verbunden sein, die jener am nach*
sten verwandt ist."
Wunderbar! 7/Wie stellst du dir das Jenseits vor?"
wurde ein alter Schiffer gefragt. ,,Immer duhn und
smoken!" sagte er2. Jawohl: Immer im Schlafrock auf
dem gebliimten Sofa sitzen und ^chauen", sagen unsere
Faulpelze, von den hoheren Bildungsstufen herabblickend
auf die ,,Banausen", die ihnen das elektrische Licht dazu
machen.
1 Aristoteles, wie Scitc 41 crwfihnt. * Zu dcutsch: Immer an«
get run ken sein und rauchen.
82
Doch da war ein gewisser Fichte1, der cndlich einmal
diese versimpclten dcutschen Buchidealisten aus dem
Schlafe weckte:
,,Nicht zum mtiSigen Beschauen und Betrachten deiner
selbst oder zum Briiten iiber andachtige Empfindungen, —
nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein
Handelnbestimmt deinen Wert." Und das ist unser Philosoph.
Nun abcr gibt es noch cine andcrc Art von Industrie-
feinden. Es sind die agrarisch-konservativ gerichteten
,,Personlichkeitsphilosophen". Ihr Ideal ist der Bauern-
stand, fur den die verfluchte Industrie, ihrer Meinung
nach, den sicheren Ruin bedeutet. Sie wiinschen sich im
Grunde fur Europa das Leben der Wilden zurtick — natiir-
lich mochten sie die Hauptlinge sein.
Diesen Herrenmenschen und adeligen Kulturrettern
kann ich nur mit Glien2 entgegenhalten: ,,Einem Volke,
das all seine Krafte braucht, um sich in muhseliger Plage
mit der Hand den knappen Lebensunterhalt zu erkampfen,
bleibt keine Zeit zur Entfaltung geistigen Lebens."
Und hat nicht auch unsere Arbeit jenen hohen ethischen
Wert, der den Herren vom Lande als Ideal vorschwebt,
einen Wert fur die Persdnlichkeit des Menschen? Entschie-
den liegt doch ein gut Teil sittlicher Kraft, wie Simmel3
hervorhebt, in der fortwahrenden Uberwindung der Im-
pulse zu Tragheit, Genuft, Erleichterung des Lebens —
wobei es irrelevant ist, daB diese Impulse, wenn man sich
ihnen wirklich ununterbrochen hingabe, das Leben gleich-
1 J. G. Fichte, Die Bcstimmung des Menschen. Berlin (1800)
Neu herausgegeben von F* Medicus. F. Meiner, Leipzig.
8 H. Glien, Industrie-Warte, Zeitschrift f. Industrie u. GroB-
gewerbe, 19, 253 (1913). * G. Simmel, wie Seite 32 erwahnt.
falls zu einer Last machen wiirden; denn die Last der
Nichtarbeit wird nur in den seltcnsten Ausnahmefallen
empfunden, die der Arbeit aber nur in ebensolchen nicht
empfunden . . ." Ja, was an der Arbeit eigentlich zu ver-
gelten ist, sagt Simmel, ,,der Rechtstitel, auf den hin man
eine Vergeltung fur sie fordert, ist der psychische Kraft-
aufwand, dessen es zum Aufsichnehmen und Qberwin*
den der inneren Hemmungs- und Unlustgefiihle bedarf...
Wenn der Mensch seine Arbeit leistetc, wie die Blume
ihr Bliihen oder der Vogel sein Singen, so wiirde sich kein
entgeltbarer Wert mit ihr verkniipfen. Dieser liegt also
nicht in ihrer aufieren Erscheinung, in dem sichtbaren Tun
und Erfolg, sondern auch bei der Muskelarbeit in dem
Willensaufwand, den Gefiihlsreflexen, kurz in den seeli*
schen Bedingungen."
,,Aber es ware freilich ein TrugschluB," fiihrt Simmel
weiter aus, ,,wenn das ethisch vielleicht begrundbare Po«
stulat: Aller Wert ist Arbeit" in den Satz umgekehrt
wurde: ,,Alle Arbeit ist Wert, d. h. gleicher Wert/' Denn
in der Bewertung liegt noch mehr. Dieses Mehr bestimmt
sich objektiv durch die ,,Ntitzlichkeit der Dinge als ihren
Wertungsgrund, im Verhaltnis zur Arbeit, als ihrem Wert=
tra'ger", und diese Begriindung des objektiven Wertes er=
gibt sich aus der Geschichte.
,,Wir wissen sehr wohl," sagt Simmel, ,,da(3 unzahlige
Arbeiten in den ,hoheren Berufen' an das Subjekt keinerlei
hohere Anspriiche stellen, als solche in den ,niederen';
dag die Arbeiter in Bergwerken und Fabriken oft eine
Umsicht, Entsagungsfahigkeit, Todesverachtung besitzen
miissen, die den subjektiven Wert ihrer Leistung weit tiber
den vieler Beamten- oder Gelehrtenberufe erhebt ...";
aber wbei vollem BewuBtsein der gleichen oder hoheren
84
subjektiven Arbeit, die das cine Produkt erfordert, wird
man dem anderen dennoch einen hoheren Rang und Wert
zusprechen." Diejenigen Leistungen sind die hoheren,
,,die in dem Aufbau der Kultur die relativ abschlieftenden
sind, am meisten von langer Hand vorbereiteten sind, die
ein Maximum von Arbeit Vor- und Mitlebender als ihre
technische Bedingung in sich aufnehmen, — so ungerecht
es auch sei, aus diesem durch ganz iiberpersonliche Ur«
sachen entstandenen Wert der objektiven Arbeitsleistung fur
den zufalligen Trager derselben eine besonders hohe Ent»
lohnung oder Schatzung herzuleiten."
00 steht Ansicht gegen Ansicht der Gelehrten: Die In-
\^/dustrie schafft weiter. Ihre Schlote dampfen, ihre Ra'der
drehen sich, sie schreitet unentwegt dem Ziele entgegen,
das Dietzgen1 so schon und wahr erfaftt: ,,Die Befreiung
vom Joche sklavischer Arbeit, die Befreiung von Not,
Elend und Sorge, von Hunger, Kummer und Unwissen=
heit, die Befreiung von der Plage, Lasttier der ,hoheren
Gesellschaft' zu sein, diese Freiheit, und zwar fiir die
Masse, fiir das Volk, das ist der heilige Zweck, den zu er=
fiillen die so unendlich reichgewordene menschliche Ar»
beitskraft den Beruf hat."
Um aber alle frei zu werden, frei zum hochsten Kultur«
leben, miissen wir alle arbeiten. Und ebenso ist klar, daft
die groftere Ha'lfte der Menschheit im besonderen die
technische Arbeit fordern muB und daft diese schliefi=
lich Teilarbeit, und zwar meist eine gleichma'Bige, ein=
formige Fabrikteilarbeit sein wird. — Industriearbeit wird
einst Dienst fur die Menschheit sein, den zu leisten in Zu=
kunft allerdings erste Biirgerpflicht ist!
1 J. Dietzgen, wie Seitc 60 erwahnt.
8?
Da cs abcr gewift nicht den cigentlichcn, hochsten Zweck
dcr Menschheitbedeutct, diese Pflichtzu erfiillcn, sondcrn,
da ihr Zweck ebcnsowohl im Erleben und Genusse dcr
durch die tcchnischc Arbeit geschaffenen gottlichen FreU
heit und aller Kulturmoglichkeiten der so befreiten Lebens-
gemeinde unter den tibrigen groften Ideen ist, die fiir uns
notwendige und ewige Werte sind, so liegt in dem Willen
zum technischen Schaffen zugleich der natiirliche Wille
zur auftersten Beschrankung desselben : Aus dem Prinzip,
die groBtmogliche Freiheit gewinnen zu wollen, folgt not*
wendig das andere Prinzip, die geringstnotige Arbeit dazu
aufzuwenden, d. h. die Freiheit auf dem kiirzesten Wege
und mit dem geringsten Verbrauch an Zeit und Energie
kraft taglicher Arbeit zu gewinnen und zu erhalten.
Der Druck der Arbeiter auf den Willen der Unternehmer
um Lohn und Freiheit ist nichts anderes, als die durch-
brechende Kraft des BewuBtseins von der Idee der Tech*
nik, die sich, einmal von der Masse der Menschheit er*
faBt, mit der Unwiderstehlichkeit des Meeres gegen den
Damm einer verzweifelt widerstrebenden Minderheit be=
weg. Es gilt nicht mehr nur die Befreiung der einen, der
auserwahlten Edelmenschen durch die Arbeit der andern,
die zur Unfreiheit durch den Zufall der Geburt verdammt
sind ; sondern nun gilt es die Befreiung aller von der Arbeit
zur Befreiung aller! — Und um dies Geheimnis zu losen,
wendet sich der erfinderische Geist jetzt von den Mitteln
des Zwecks — zu den Mitteln der Mittel selbst.
Zweck der Technik ist die Freiheit, z. B. die Freiheit
fiber die Luft, die Freiheit fiber den Raum, das Fliegen.
Das Mittel dazu ist das, was die Freiheit gewahrt, das
Flugzeug. Mittel des Mittels ist das technische Schaffen,
86
der industrielle Arbeitsprozeft, der das Flugzeug hcrstellt
durch Umgestaltung dcr vorgefundencn Wirklichkeit, kraft
gcistiger und physischer Lcistungcn dcr in ihm tatigen
Subjektc. Auf diescn Prozeg richtet sich jetzt, gedrangt
von dcr Logik dcr Tatsachen, das Umgcstaltcn.
Hiermit wird also das technische Schaffen als solches
unter die Idee dcr Technik gebracht. Es werden die in ihm
vcrborgencn neucn Frcihcitsgradc solchen Schaffens ge»
sucht, gefunden, crfundcn.
Zunachst ist das Schaffen an die enge Machtsphare des
von dcr Natur selbst ausgerusteten Organismus gebunden.
Er hat zunachst nicht mchr Freiheitsgrade, als in seiner
natiirlichcn, ihm gleichsam vorgeschriebenen, beschrank*
ten Werktatigkeit einbegriffen sind. Ihm fchlt noch jene
uncndliche Moglichkeit dcr Aktion eincs lebenden Wescns
auf die materielle Welt, die denkbar, d. h. idecll ausfiihr*
bar ist.
Der marchenhafte Gedanke steigt auf, daft es mdglich
scin musse, durch cine fast miihelosc Organtatigkeit, so
muhelos wic ein Befchl oder ein Federstrich, die mensch-
liche Absicht auf den Naturlauf zu iibertragcn. Und siehc
da — das Gcheimnis dcr Gchcimnisse erschlieftt sich, cs
wird entdcckt, daft, was anfangs dcr Mensch durch seinen
Korper leisten muftte, auch ebcnso gut, ja besser, von der
Natur selbst bcsorgt werden kann, das Gcheimnis, daft
Natur durch Natur zu bczwingcn ist.
Der Mensch trachtet von nun ab nicht allein, wic Joel1
schr hiibsch sagt, ,,da6 cr die Erscheinungcn fangt, son-
dcrn auch, daft sic sich untcreinander fangen, weil er dann
durch die eincn die andercn fangen kann, sei es praktisch
fur seinen Dienst, sci es theorctisch fur seine Lebensrech=
1 K. Joel, Der freie Willc. Bruckmann, Miinchen 1908.
87
nung". — ,,Die Vernunft", sagte Hegel1 schon, ,,ist ebcnso
listig als machtig. Die List besteht iiberhaupt in dcr vcr-
mittclndcn Tatigkeit, welche, indem sic die Objektc ihrcr
cigcnen Natur gemaft aufeinandcr einwirken und sich an»
einander abarbeiten laftt, ohne sich unmittclbar in diesen
ProzeB einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur
Ausftihrung bringt."
Es kommt darauf an, um mit Marx2 zu sprechcn, die
,,Emanzipation von der organischen Schranke" ebensowohl
fiir den arbeitenden Menschen zu vollziehen, wic sie bis
clahin, durch desscn Arbeit, nur allein fiir diejenigen volU
zogen wurde, welche die kostlichen Friichte, d. h. die
materielle Freiheit, davon genieften durften. Und zwar han=
delt es sich nicht allein um die Menschenarbeit, sondern,
wie Sombart3 allgemein erkennt, um die Emanzipation der
Technik von der Bedingtheit des organischen Lebens iiber=
haupt.
Die auf ihre natiirlich gegebene Leistungsfahigkeit be=
schrankte organische Welt schafft trage und umstandlich.
In ihr erreicht die blinde Natur allerdings gewisse Moglich=
keiten der Technik, weshalb ja Kant* die Kausalitat der
Organismenwelt bereits als ,,technica intentionalis" be=
zeichnete. — Aber wie! in welcher Zeit! und mit wel*
chem Raume! erreicht sie das. ,,Der Tragbalken oder der
Schiffsmast aus Eisen oder Stahl", sagt Sombart, ,,werden
in wenigen Wochen hergestellt, wahrend der Holzstamm
Jahrzehnte gebraucht hatte, um die erforderliche Dicke zu
1 G. W. F. Hegel, Enzyklopadie der philosoph. Wissenschaf*
ten im Grundrisse. Band 33 der philosoph. Bibliothck. F. Meis
ner, Leipzig. 2 K. Marx, wie Seite 68 erwahnt. 3 W. Sombart,
Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 3. Aufl.
Bondi, Berlin 1913. * /. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790).
Ausgabe der K. Preufi. Akademie. G. Reimer, Berlin 1908.
88
erreichen. Die Pferde, die zur Bespannung der Straften*
bahnwagcn Verwendung finden sollen, bediirfen minde=
stens drei- bis vierjahriger Pflege, wahrend der elektrische
Motorwagen in ebensoviel Monaten fertiggestellt wird."
Und welches ist nun das wichtigste Ziel der grofien
Emanzipation? — Es ist der Arbeitsprozeft selbst.
Nur allzurecht hat Pilenko l noch mit seiner ergreifen*
den Schilderung aus der russischen Industrie: ,,Schreck»
lich ist es, dabeizustehen und in einer modernen Druk=
kerei so einem bleichen Jungen zuzusehen, wie er hurtig
die Blatter auf die unruhige Walze der Druckmaschine
legt; schrecklich, dabeizustehen und zu wissen, daft dieser
bleiche Junge Tag fur Tag und so ganze Jahre lang nur
Bogen fur Bogen ergreift und sie auf die unaufhorlich sich
drehende Welle legt ; — daft er auflegen wird bis zu dem Zeit«
punkt, wo man an seinen Platz einen noch genaueren und
ihn ersetzenden mechanischen ,Aufleger' stellen wird"...
Und Bticher2, wenn er sagt: „ Darin liegt das Aufreibende
der Fabrikarbeit und das Niederdruckende : Der Mensch
ist ein Knecht des nie rastenden, nie ermiidenden Arbeits=
mittels geworden, fast ein Teil des Mechanismus, den er
an irgendeiner Stelle zu erganzen hat."
Und hundert andere, die dieselbe Anklage gegen die
Arbeit der Industrie erheben, sie haben in dem Sinne voll*
kommen recht: Von dieser Beschaftigung der Menschen
werden und miissen die Menschen befreit werden —
durch die Technik. Und die Technik ist schon auf dem
besten Wege.
Aus seinen sorgfaltig angestellten statistischen Erhe=»
1 A. Pilenko, Das Rccht des Erfinders. dbersetzt von M. Au-
gustin, durchgcschen von F. Siebenbiirgen. C. Heymann, Berlin
1907. a K. Biicher, wie Seite 81 erwahnt.
89
bungen fiber die Arbeitsweise in den Fabriken zieht v.
Oechelhaeuser1 bereits 1 906 den Schlufi : ,,Die Vervollkomm=
nung der Maschinen nimmt also dem Arbeiter immermehr
alle korperlich schwere, mechanische und sich in geistes^
totender Weise wiederholende Arbeit ab, hebt in vielen
neuen Arbeitskategorien sein geistiges Niveau und fordert
sein Wohlbehagen in der Werkstatt und seine Genuft-
fahigkeit aufterhalb derselben. — Wir glauben deshalb Grand
genug zu haben, energisch Protest gegen die allgemeine und
oft wiederkehrende Behauptung einzulegen, dap die moderne
Technik den Menschen zum Sklaven der Maschine mache,
oder, wie es neuerdings auch heipt: eine ,Entgeistigung' der
menschlichen Arbeit herbeifuhret"
Egeht auch ohne Organismenarbeit! Reichte nur erst
as technische Wissen so weit, daft alle Moglichkeiten,
die uns die Naturgesetze zur Umformung der Materie noch
frei lassen, schon durchschaut waren ! Doch wir diirfen es
glauben : Die Materie formt sich einst selbst um, sobald der
ntechnischeGeist" erkannt hat, welche Verfassung ihr zu geben
ist, damit sie es tut.
Die automatische Produktion der Mittel zur materiellen
Freiheit ist moglich, und sie wird kommen in dem Momente,
wo die notwendigen Formen der Anordnung der Materie
und Energien gefunden sind. Erst in dieser vom Organischen
so gut wie vollkommen emanzipierten Gestalt erreicht der
technische ArbeitsprozeS seinen hochsten Grad der FreU
heit, erreicht er seine hochste Vollendung, Leistung und
Geschwindigkeit. Und Menschenarbeit in der Industrie
vermindertsich dann auf das naturnotwendigeMindestmaB-
1 W. v. Oechelhaeuser, Technische Arbeit cinst und jctzt.
J. Springer, Berlin 1906.
90
Wer aber bahnt den Weg zur vernunftgemafjen Freiheit
des Menschengeschlechts? Wir sind es, die Technikcr,
die die Wahrheit zur Wirklichkeit machen werden, die
schon Fichte1 prophezeit hat:
,,Es soil allmahlich keines groBeren Aufwandes an me-
chanischer Arbeit bediirfen, als ihrer der menschliche
Korper bedarf zu seiner Entwicklung, Ausbildung und
Gesundheit, und diese Arbeit soil aufhoren, Last zu sein;
— denn das verniinftige Wesen ist nicht zum Lasttrdger be-
st immt."
J. G. Fichte, wic Scite 83 erwahnt.
91
TECHNISCHES WISSEN
Wiirdc heute ein Mensch geborcn, mitten hinein in
unsere vom Geiste der Technik durchtrankte Welt,
und diesem Groftstadtkinde wiirde von niemandcm ver-
ratcn, wohcr all die schonen Dinge kommen, vx/ic Mauser,
Wasserleitung, Straftenbahn, elektrisches Licht und Fern-
sprecher — welchen Begriff bekame wohl dieses harmlose
Menschenkind von unserer kiinstlichen Welt? —
Zum Philosophen ohne Kenntnis der Entstehungsbe-
dingungen geworden, hatte es wahrscheinlich ahnliche Ge»
danken iiber die technische Welt, wie sie Kant1 vor mehr
als hundert Jahren iiber die Organismenwelt entwickelte.
Um diese natiirlichen Maschinen und Maschinchen nach
einer neuen gesetzlichen Ordnung zu betrachten, meinte
Kant, und /;die Naturkunde nach cincm anderen Prinzip,
namlich dem der Endursachen, doch unbeschadet dem
des Mechanismus ihrer Kausalitat zu erweitern", konnten
wir versuchen, ihre Erscheinung nach der Maxime zu ver-
stehen: ,,Alles in der Welt ist irgendwozu gut; nichts ist
in ihrumsonst." — Unser Philosoph ohne Wissen wiirde
wahrscheinlich dieselbe Freude haben an der famosen
Zweckdienlichkeit und mehr oder minder gottlichen
Zweckma'Sigkeit der von ihm entdeckten technischen
Dinge. Aber er konnte sie auch anders betrachten !
Wenn er namlich ein moderner kritischer Denker ist,
so wird er seine Nachforschung keineswegs notwendig in
Verbindung bringen mit der Annahme eines zwecktatigen
Schopfers. Er wird sich zunachst ohne diese Vorstellung
an die wahrnehmbaren Tatsachen halten, obwohl dieselben
eine Beziehung von physischen Dingen zu anderen physi-
1 /. Kant, wie Seitc 88 erwahnt.
92
schcn Dingen und vorzugsweise zu seinem Korper zeigcn,
die ihm ebenso merkwiirdig und ratselhaft crscheincn mufc,
wie das Verhaltnis dcr Organc untcrcinander und zum Or»
ganismus, so merkwtirdig, wie das Vcrhaltnis dcr Pflanzcn
zu den Insekten, odcr wic Mimikri, Metamorphose, Sym»
biosc und anderc hochst wunderbarc Erscheinungcn dcr
organischen Welt, dercn verbluffcndc Kausalitat Kant
schon damals als ,,technica intentionalis" bczeichnct hattc
und verstehen zu sollcn glaubte als eine Welt, in der allcs
,,irgendwozu gut" ist.
Wir sind heute nuchterner, ,,phiinomenologischer" ge»
worden. Sclbst gcgeniiber den Produktcn der menschlichen
technica intentionalis bringen wir cs fertig — obglcich wir
auf das bestimmtcste wissen, wie sic entstanden sind —
einen, sagcn wir ,,kalt-physikalischen" Gesichtspunkt der
Betrachtung festzuhalten. Wir konnen uns darauf beschran-
ken, an Maschinen, Verkehrseinrichtungcn, an chemisch-
technischcn Prozessen usw. allein die wahrnehmbaren Zu*
sammenhange zwischen den matcriellen Objekten als solche
zu verstehen, indent wir die spczifische Form ins Augc
fasscn, durch die sie sich als ,,technische Objekte" charak=
terisicren.
Der Willensakt des tatigen Subjekts, welches diese Ob=
jekte erschafft, bleibt hierbei vollstandig aus dem Spiele.
Es vcrschwinden bei dieser Auffassung der Dinge, um mit
Simmel1 zu sprcchen, ^alle Gefiihlsbetonungen und wer*
den durch die eine objcktive Intelligenz ersetzt. . . . Indem
die Gegenstande und Vcrkniipfungen unserer praktischen
Welt mehr und mehr zusammenhangcnde Reihen bilden,
scheiden die Einmischungen dcs Gefiihls aus, die sich nur
an teleologischen Endpunkten einstellen", und sind sie
1 0. Simmel, wie Seitc 32 crwShnt.
93
,,nur noch Objekte der Intelligenz, die wir an der Hand
diescr benutzen, wie wir die Ursachlichkeiten der mate-
riellen Natur benutzen."
Es handelt sich jetzt lediglich um die sichtbare Struktur,
um die mathematischen und physikalisch-chemischen Zu»
sammenhange. Solche Zusammenhange konnen sich be-
reits in der Natur und sogar schon in der anorganischen
Natur gebildet finden ; denn sie sind ja nichts anderes, als
spezielle Moglichkeiten in derselben, Mdglichkeiten der
Anschauung, von welchen die Naturgesetze selbst noch
nichts aussagen.
Teh wiederhole : Wenn uns alle Gesetze bis ins einzelste be-
JLkannt waren, so konnten wir noch nicht das Geringste
erschlieften iiber die anschauliche Beschaffenheit gerade
dieser einen konkreten Welt, dieses Planetensystems, dieser
Erde, dieser Arten der Mineralien, Pflanzen und Tiere, die
wir erschauen. Unendlich viele anders beschaffene Welten
waren unter denselben Gesetzen moglich. Die Freiheit
des vorstellbaren Zusammenhangs der konkreten Elemente
nach Form und Qualitat, sowie nach Raum und Zeit, hat
unendliche Grade.
Das wird sofort klar, wenn man bedenkt, da5 die Gesetze
der Physik Gleichungen zwischen den Naturgroften sind.
Die NaturgroBen sind aber ihrem Wesen nach nichts an»
deres als Raum- und Zeitgrofjen und deren analytische
Funktionen, also mathematische Begrifle — allerdings von
einer bestimmten, nur durch Beobachtung zu entdecken-
den Art der Erfullung durch anschauliches, konkretes Sein.
Eben dieses Anschauliche aber la§t sich aus seiner mathe-
matischen Form nicht erkennen, es ist dieser gleichsam
transzendent.
94
Man bctrachte nur cine Kafersammlung — ein Stuck
technica intcntionalis! Kcnnten wir die Gesetze dcr Bio«
logic — ich zweifle nicht, daft sic entdeckt werden — be*
sa'Ben wir sic schwarz auf weiB, so wtiftten wir noch nichts
iiber das konkrete Dasein dieser kurioscn Inscktenformen
auszusagen, welches jcncn Gesetzen Erfiillung gibt. Es ent»
faltct sich vor unsercn Augen einc Bilderreihe voller Merk-
wtirdigkeit, deren Entstehung und weitere Veranderung
im Wegc dcr Entwicklung zwar strengstcns den Natur-
gesetzcn unterworfen ist, sich also gcnerell erklaren laftt
wie das Spiel dcr Bewegungen am Himmel, deren an-
schauliches Sosein abcr dem besten Gcsetzeskenner noch
ebenso unbekannt bleibt, wie die mogliche Eigenart der
in Rechtshandel eintretcnden Personen und Sachen dem
Kenner der juristischen Gesetze oder die Ziige eines
menschlichen Gesichts dem Kenner aller Gesetze, nach
denen die mimischen Veranderungen der menschlichen
Physiognomic vor sich gehn.
Dennoch gibt es Typen, Charakterc und Gattungen in
der anschaulich organischen Welt. Die Eigenart ist nicht
einzig, nicht allcin in einein Individuum vorhanden, son*
dern in unzahlbar vielcn. Gewisse Ziige sind Millioncn von
Organismen gemeinsam. Daher lassen sich die Individuen
unter spezielle Formbegriffe bringen und diesc wieder
unter allgemeine und allgemeinste Begriffe, z. B. die Ka'fer
unter die Insekten, diese unter die Tiere, diese unter die
Organismen.
In die Sprache dcr Technik iibersetzt, hei§t das: Die
Natur stcllt alles, was sic hcrvorbringt, wie Schopenhauer
bereits gesagt hat, als Fabrikware her, sic produziert
Massenformen. Ihrc Erfindungen gleichen also nicht, wie
der fromme Mensch des Mittelalters dachte, den Kunst*
95
wcrken eines Mcistcrs. Trotz der Frciheit licgt Gleichheit,
Gemeinsamkeit in der organischcn Gestaltenwelt. Unter
glcichcn Bedingungen schen wir sich Glciches bilden —
Gleiches aus Glcichem. Millioncn von gleichcn Charak-
teren B entstehen unter gleichen Bedingungen aus MiU
lionen von gleichen Charakteren A, und zwar gesetzma'Big,
diirfen wir annehmen. Der Charakter A variiert in den
Charakter B ebenso, wie sich etwa gleichgeformte und un»
ter gleichen Bedingungen stehende Planetensysteme aus
einer gegebenen Form A nach den Naturgesetzen in cine
spatere Form B verwandeln wiirden.
Nehmen wir an, daft urspriinglich nur eine Art, eine
Grundform — der Urorganismus A — existiert hat, so
werden sich, nach einer bekannten Theorie, innerhalb der
Entwicklungsgeschichte ebensoviel neue Formen BCD...
gebildet haben, als neue, eigenartige, konkrete Bedingun»
gen, namlich physikalisch-chemische Umstande, auftraten,
unter welche die Arten A B . . . usw. gebracht wurden.
Hiermit verschwindet das Ratsel der anschaulichen Form»
mannigfaltigkeit — scheinbar; denn es versteckt sich nun
hinter die gegebenen, in dieser Welt nun einmal vorhan=
denen, konkreten Bedingungen : die Verteilung der che*
mischen Stoffe, der Temperaturen, der Bewegungen usw.
Was also leistet diese Erklarung? — An Stelle der ratsel=
haften Physiognomic der Organismenwelt tritt die aus den
Gesetzen der Variation auf keine Weise erschlieSbare
Anschauung jener unendlich moglich physikalisch-chemi=
schen Bedingungen. Wir tauschen eine unerklarbare Man*
nigfaltigkeit der Anschauung gegen die andere aus, ein
Ratsel gegen das andere. Die Frage: Warum sind die
Kafer so gestaltet, wie ich sie in dieser Sammlung be=
wundere, verschiebt sich auf die neue Frage: Warum
96
waren dcnn die aufieren Bedingungen, untcr wclche ihre
Vorfahren der Reihc nach gcbracht wurden, so gcstaltct,
dafi die Naturgesetze aus den Vorfahren A die Kafer B,
aus B die Kafer C usf. machen konnten? —
Was wir also aufgeben und gewinnen bei dieser Erkla=
rung der organischen Formgestaltung der anschaulichen
Materie, verhalt sich wie das Positiv zum Negativ einer
Gipsfigur. Wurden wir jemandem das Positiv der Figur
beschreiben, so konnte er daraus ermitteln, wie das Ne»
gativ beschaffen sein muf) und umgekehrt. Verzichten wir
auf die Schilderung der Kafer- Positive, so mtissen wir uns
bequemen, ihre Negative, d. h. die konkreten Bedingungen,
zu schildern, welche sie bedingten. Anders lafit sich die
vorgefundene Entfaltung der anschaulichen Natur in den
Buchern der Wissenschaft nicht aufzeichnen.
Wir mtiftten also, wenn wir das letztere Verfahren be*
vorzugen, die Geschichte der Verteilung aller Substanzen
und Energievorrate beschreiben, wodurch die organischen
Formen kraft der biologischen ^Gesetze bedingt sind.
Welcher unnotige Umweg ware das! Und welche Ver«
schleierung des Sachverhaltes lage in solcher Erklarung
jener ratselhaften Phanomene, die sich fein sauberlich un*
ter Glas und Rah men aufgespieSt finden !
Es bleibt dabei, wie man es auch dreht und wendet, daB
der konkreten Materie und den konkreten materiellen
Prozessen sowohl von der Natur selbst, als auch durch
das technische Schaffen des Menschen cine unendliche
Mannigfaltigkeit von Formen gegeben werden kann, die
niemand aus den Naturgesetzen erschlieBen, sondern allein
in der vorgefundenen, sich fort und fort entwickelnden
Sphare der Anschauung selbst entdecken und im Hinblick
7 Z i c h i m m c r , PhiJo»ophie der Technik 97
auf ihrc Gcmeinsamkeit und Besonderheit begrifflich er«
fasscn kann. Versuchen wir zunachst, wieweit wir mit dcm
Begrcifcn der tcchnischen Erscheinungen vom rein physi=
kalischen Standpunkte aus, ohne teleologische Begriffe
kommen! —
Dcr Gegenstand unsercr Bctrachtung, das tcchnische Ob»
jckt, erhalt seincn vollen Sinn erst in der Zeit. Das ist klar,
denn es vermittelt einen Prozefi. Daft dieser ProzeB ein
durch das Objekt im Raume erstrebter Zweck ist, soil aber
jetzt aufter acht bleiben. ,,Vermitteln" bedeutet fur uns,
viel wortlicher nur, das zeitliche Inmittensein des Objekts
bei einem physikalischen oder chemischen Vorgange, des»
sen Verlauf in seiner Art und Weise von ihm geregelt wird,
und zwar durch seine Form. Definieren wir also: Das tech-
nische Objekt ist tin Regulator fur physikalische und che-
mische Prozesse.
Der regulierte oder der technische Prozeft stellt seiner-
seits einen moglichen Fall des konkreten Naturgeschehens
iiberhaupt dar, der ebensowohl durch unendlich viele an=
dersartige Falle ersetzt werden konnte, ohne daft die Na«
turgesetze etwas dagegen hatten. Denn die Tslaturgesetze
lehren uns ja noch nichts iiber die Verteilung wirklich vor=
handener Materien und Energien im Raume ; sie lassen viele
mehr eine beliebige Variation der Massenverteilung und
Energieverteilung zu, woraus wir in unbeschrankter Frei=
heit sowohl technische Objekte wie technische Prozesse
herstellen konnen. Gerade well nun die Prozesse noch un-
endlich frei sind, so konnen wir sie einer willkur lichen, im
Gesetzbuch der Natur nicht enthaltenen Regel unterwerfen,
fur deren Einhaltung ein geeigneter, in den Naturlauf einge-
schalteter Regulator sorgt.
Denken wir uns zunachst einen vollkommen automa-
98
tischen ProzeB, d. h. einen ProzeB, der ohne jegliches Zu-
tun eines zwecktatigen Subjekts lauft. Partiell lafit sich als»
dann auch bei jcdem von einem Lebewesen in Gang ge=
brachten, absichtlichcn Vorgange solch cin automatisch
verlaufendcr, durch die Form des benutzten Regulators
eindeutig bestimmter Anteil des Vorgangs erkennen. Und
auf diese Bestimmung oder Regelung kommt es uns an.
Ich sage daher : Der wesentliche Charakter eines technischen
Objekts besteht darin, da@ das Objekt geeignet ist, einem durch
dasselbe vermittelten materiellen Prozesse eine unter den Ge-
setzen der Natur noch freigelassene Regel des Verlaufs zu be-
stimmen. Oder kurz : Durch technische Objekte lassen sich
Naturprozesse frei regeln.
,,Die kosmische Freiheit der Naturerscheinung ist", wie
Reuleaux1 ubereinstimmend hiermit sagt, ,,in der Ma=
schine in Ordnung und Gesetz tibergefuhrt, welche auftere
Gewalten gewohnlicher Art nicht zu erschiittern ver«
mogen . . . Wie uns der Dichter die mildgesitteten und
darum uns so liebenswerten Odysseischen Irrfahrer gegen»
uberstellt der ziigeJlosen Naturkraft des Zyklopen, des ,ge»
setzlos denkenden Scheusals', so steht fur uns das unge*
bandigte Walten der Naturkrafte, welche in schranken-
loser Freiheit aufeinanderprallen, um im Kampf aller gegen
alle das unbekannte Erzeugnis der Notwendigkeit hervor-
zubringen, gegenuber der durch Beschrankung auf ein ein«
ziges und beabsichtigtes Ziel gelenkten Kraftewirkung in
der Maschine . . ."
In ihrer Eigenschaft, die konkrete Naturwirklichkeit zu
regeln, unterscheiden sich, wie gesagt, die technischen
Objekte des Menschen prinzipiell gar nicht von solchen,
1 F. Reuleaux, ThcorctischcKinematik,Grundzugc eincr Theo«
rie des Maschinenwesens. Vieweg, Braunschweig 1875.
,• 99
die wir in den Organismen und dercn Zusammenwirken,
ja manchmal schon in der anorganischen Natur vor uns
haben. Zwischen dcm Planetensystem und einem Uhrwerk
bcstcht insofcrn vollige Gleichartigkeit, als beidc cin kom=
pliziertes mcchanisches Objckt darstellen, dessen wesent=
lichen Charakter die Regelung eines Naturprozesses durch
Form und Zusammenhang der Teile jenes Objekts aus=
macht. Als die Physiker Friedrich und Knipping nach
einem Vorschlag von Laue1 Kristallplatten als optische
Gitter benutzten, um hierdurch, was durch kiinstliche Gits
ter nicht gelingen wollte, Rontgenstrahlen zur Interferenz
zu bringen, lieferte ihnen die Natur aus ihrer Werkstatte
fast unmittelbar das optische Instrument. Eine Kristall=
platte, die sich zufallig, etwa durch Spaltung, so bilden
wiirde, daft sie fiir den Interferenzversuch gebraucht wer=
den konnte, ware in der Tat ein von der anorganischen Na»
tur hervorgebrachtes technisches Objekt; denn sie gestattet
uns ja, Naturerscheinungen nach Belieben in einem ge*
wissen Sinne zu regeln.
Die Natur ist ein wissenschaftlicher oder technischer Ge«
genstand, je nachdem, welche Formen und Zusammen=
ha'nge ins Auge gefaftt werden, und ob sie abstrakt oder
konkret betrachtet wird. Zum Beispiel hat es fiir den
rein physikalisch forschenden Mechaniker kein Interesse,
welche Planeten und Monde wirklich vorhanden sind, er
sucht Gesetze. Diese wiederum interessieren den erfinde*
rischen Mechaniker kaum. Er, als Techniker, sucht die
von den Gesetzen freigelassenen Moglichkeiten einer in=
dividuell geregelten Bewegungsform durch die geschickte
Anordnung der Materie zu erkennen. Ihn interessieren
1 Laue, Friedrich und Knipping, Ber. d. Miinchner Akademie
S. 303 u. 363, 1912.
die Planetcn und Monde selbst und die prazise, zwangs*
laufige Bewegung der groften Weltuhr, deren konkrete
Bestandteile sie sind.
In ebenso verschiedener Hinsicht lassen sich auch die
Organismen betrachten, wie ich nicht welter auszufiihren
brauche. — Qbrigens ist die verbreitete Ansicht, dafi der
lebendige Korper eine Maschine sei, die sich selbst auf=
zieht, wogegen die iibrigen Maschinen der Zufuhr der
Energie bediirfen, nicht korrekt. ,,Auch in dem Umlauf
eines Planeten", sagt Lotze1, ,,sehen wir ein Beispiel eines
sich selbst aufziehenden Mechanismus: Die Bewegung
selbst bedingt es, dafi der Planet an demselben Orte 0 stets
dieselbe Richtung und Geschwindigkeit wiedererlangt, die
er an demselben Orte fruher hatte. . . . Der lebendige Kor»
per dagegen ist nur die Halfte eines zusammengehorigen
Systems. Die andere Halfte liegt aufier ihm, freilich gestalt*
los: In all den umgebenden Elementen und Bewegungen,
die ihm als ,Lebensreize' unentbehrlich sind, in der Luft,
der Feuchtigkeit, der Wa'rme, dem Licht und den assimi*
lierbaren Nahrstoffen."
Dafi es in der Natur regelrechte Maschinen gibt, daftir
erwahnt auch Reuleaux2 Beispiele: Die Wippsteine und
die Geiser. Diese merkwurdigen Objekte der Geologie sind
zugleich technische Objekte wie die Balkenwage und der
Dampfmotor. Ein Handwerker konnte sie durch absicht*
liche Umgestaltung der vorhandenen Wirklichkeit genau
so hergestellt haben, und ebenso wiirde auch ein entspre*
chender Weltriese imstande gewesen sein, jene Balle um
die Sonne herum zu gruppieren, auf deren einem wir das
Vergniigen haben, unsere jahrliche Raumreise zu machen.
1 H. Lotze, Grundziige der Naturphilosophie, 2. Aufl., Hirzel,
Leipzig 1889. a F. Reuleaux, wie Seite 99 erwahnt.
101
An der Eigenttimlichkeit der tcchnischen Objekte andert
sich also nichts, ob sie durch blinden Zufall, gleichsam
durch cndloscs Ausprobicren von der Natur sclbst her-
vorgebracht sind, odcr ob sie das Genie eines Erfinders
geschaffen hat. ,,Existiert der Korper", sagt Du Bois-
Reymond1, ,,nicht in der Schopfung, so kann auch das
groftte Erfindergenie ihn nicht herbeischaffen. 1st er aber
vorhanden, so bedarf es des Geistes iiberhaupt nicht. Man
braucht nur alle Korper in cine Reihe zu ordnen und syste-
matisch durchzuprobieren, so muft er sich finden." —
(Dies Verfahren freilich konnte langer dauern als das
menschliche Leben auf der Erde iiberhaupt, und daher ist
fur uns die blitzesschnelle Geistesarbeit der Erfinder im-
merhin von einigem Werte!)
Wir kommen auf ganz andere Perspektiven, wenn wir die
technischen Dinge nicht allein vom menschlichen Stands
punkte aus betrachten. Jedes Menschending ist zugleich
ein Weltding. Wahrend wir unser liebes Ich im Schaffen
desselben erlebcn, erlebt sich in diesem Etwas die ganze
Welt. Und dieser ist es einerlei, was dabei uns angeht. —
Auf diese Weise sieht man oft mehr und kommt auf frucht*
bare Gedanken.
Wohin die gegenteilige Ansicht, die beschrankt
menschliche, organische Betrachtungswei^ fiihrt,
zeigen uns zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der
Technik. ,,Gewisse Miihlen," ftihrt Reuleaux2 an, ,,in weU
chen man durch Nachahmung der Tatigkeit der mensch*
lichen Za'hne die alten Steinmiihlen iiberfliigeln zu konnen
meinte, sind vollig miBlungen. — Diese alteste Auffassung
1 A. Du Bois-Reymond, Erfindung und Erfinder. J. Springer,
Berlin 1906. 2 F. Reuleaux, wie Seite 99 erwShnt.
bcruhte auf eincm naturphilosophischen Hintergedanken,
dcm telcologischen odcr Naturzweckmdpigkeitsdogma. Seit
man dieses im Maschinenwesen ganzlich iiber Bord ge=
worfen, ist die Entwicklung in ihre jetzige Schnelligkeit
eingetreten."
Sobald wir den Begriff fassen, daft ein Teil der Natur,
sei es durch Zufall, durch das organische Leben oder durch
die Oberlegung eines Erfinders, in den geeigneten Zustand
gebracht werden kann, einen anderen Zustand aus sich
selbst gesetzmaftig entstehen zu lassen, sobald uns einmal
einleuchtet, daft Maschinen, Organismen und Planeten-
systeme hinsichtlich dieser Eigentiimlichkeit ganz clas=
selbe sind, namlich Regulatoren fiir besonders geartete
Prozesse, alsdann erweitert sich das Reich der Technik
ganz ungeheuer.
Die staunenerregende Entwicklung der Maschinenbau=
kunst begann, wie Reuleaux sagt, erst mit jener ,,eigen»
tttmlichen und richtigen Wendung in der Auffassung des
Maschinenerfinders, welche darin besteht, daft nicht mehr
die Maschine die Handarbeit oder gar die Natur nachzu-
ahmen sucht, sondern bestrebt ist, die Aufgabe mit ihren
eigenen, von den natiirlichen oft vollig verschiedenen Mit»
teln zu losen." Mit der Nahmaschine wurde zugleich cine
neue Nahweise, mit dem Walzwerk eine neue Schmiede*
weise erfunden. Anfangs ahmte man, wie Bticher1 gleichs
falls bemerkt, die menschliche Bewegung und damit ihren
rhythmischen Hin- und Her- oder Auf- und Niedergang
nach ; die Hobelmaschine, das Sagewerk, die Schnellpresse
usw. hatten daher einen unniitzen Ruckgang, der erst
d u rch die einsinnig fortschreitende Rotationsbewegung be«
seitigt wurde.
1 /<• Biicher, wie Seitc 81 erwShnt.
103
Im Rotdlionsmechanibinus licgt dcr prinzipielle Fort=
schritt, womit die Technik den ersten groften Sprung aus
den Grenzen der organischen Beschranktheit heraus ge=
wagt hat; denn bei keinem Lebewesen findet sich, wie
Reuleaux bemerkt, die Rotation um eine Achse als kon=
tinuierliche Bewegungsform eines Organs.
Die Flugschraube ist ein weiteres sehr hiibsches Beispiel
hierzu. Ihre Fltigel ahmen keineswegs, wie manche glau=
ben, die rhythmische Bewegung der Fittiche des Vogels
nach. Auch die bekannte Flaschenblasmaschine von
Owens vermeidet die Nachahmung der menschlichen Ar=
beitsweise des Glasblasers, und erst dadurch ist sic zu ihrer
erstaunlichen Leistungsfahigkeit gebracht worden. — So
lieSen sich die Beispiele aus der Maschinentechnik ins Un*
begrenzte vermehren ; es handelt sich eben um ein ganz all=
gemeines Prinzip: Los vom Organismus!
Tbrigens ist der Begriff der Maschine in der modernen
VxA Technologic nochnichteindeutigfestgelegt.tffuteflux1
definierte gegeniiber seinen Vorgangern: ,,Eine Maschine
ist eine Verbindung widerstandsfahiger Korper, welche so
eingerichtet ist, da5 mittels ihrer mechanische Naturkrafte
genotigt werden konnen, unter bestimmten Bewegungen
zu wirken.y/ Dagegen findet es Hartig* zweckma'Biger, zu=
nachst einen allgemeineren technologischen Begriff zu
pra'gen : Den Begriff Mechanismus.
Ein Mechanismus, definiert Hartig, ist ,,ein kiinstliches
korperliches Gebilde, welches innere Bewegungen zula'ftt,
1 F. Rtuleaux, wie Scite 99 erwahnt. Man findet in dem angc=
fiihrtcn Wcrkc zahlreiche Sltcrc Dcfinitionen der Maschine.
2 E. Hartig, Studien in der Praxis des Kaiserlichen Patents
amtcs. A. Felix, Leipzig 1890.
104
die vermoge dcr Gcstalt und Widerstandsfahigkeit sich bc»
riihrcnder, ihm selbst ausschliefilich angehorender Ober«
flachen eindeutig beschrankt sind." Vcrmittcls dieses all=
gemeinen Begriffes lassen sich auf bequeme Weise zu gleU
cher Zeit zwei wichtige Hauptbegriffe der Maschinen*
theorie formulieren.
Unterscheidet man namlich den Leerlauf, d. h. den«
jenigen Tatigkeitszustand eines Mechanismus, bei wel*
chem die eingefiihrte mechanische Arbeit durch die in-
neren Bewegungswiderstande aufgezehrt wird, und den
Arbeitsgang, d. h. den Tatigkeitszustand des Mechanis*
mus, bei welchem von der eingeleiteten mechanischen Ar»
beit ein dberschuB zu weiterer Verwendung nach aufien
abgegeben wird, so erha'lt man die beiden Begriffe Getriebe
und Maschine.
Das Getriebe ist ein Mechanismus im Leerlaufe, und die
Maschine ist ein solcher im Arbeitsgange.
Hiermit, meint Hartig, wiirden ^alle die qualvollen lo=
gischen Bedenken gehoben, welche Reuleaux zu dem FehU
schlusse veranlafiten, die aus der tatsachlichen Entwick=
lung der Maschine naturgema'B hervorgehenden techno*
logischen Begriffe, Werkzeug und Rezeptor (Triebzeug),
als fur das Verstandnis der Maschine und fur die Kon*
struktion des logischen Begriffes derselben ganzlich un-
brauchbar zu verwerfen".
Wie man sieht, ist in Hartigs Begriff der Maschine ihr
aktives Verhalten, ihre Funktion eingeschlossen, wogegen
Reuleaux entschieden betonte: ,,Die Maschine bleibt, was
sic ist, auch wenn sic still steht, jahrelang nicht arbeitet,
nie gearbeitet, nie gedient hat."
Nach der Definition von Hartig sind die Wippsteine und
die islandischen Springquellen ebenso wie die Balken=
105
wage und die Taschenuhr, welche Reuleaux zu den Ma«
schinen zahlte, keine ,,Maschinen", sondern vorerst blofte
,,Mechanismen", die auch im Zustande der Aktivitat nur
erst zu ,,Getrieben" werden, bis man sie zur Arbeits-
leistung benutzen wiirde, womit sie dann in den Rang einer
,,Maschine" kamen. Dasselbe korperliche Gebilde andert
also nach dieser Auffassungsweise seinen technologischen
Begriff, je nachdem wie es tatsachlich gebraucht wird. Ich
meine, man sollte seinen Begriff doch lieber darnach be«
stimmen, wozu es seiner Konstruktion nach unter den
weitgehendsten Anspruchen gebraucht werden kann. Daher,
scheint mir, hat Reuleaux ganz recht : Die Maschine bleibt,
was sie ist, auch wenn sie still steht.
* jf u welcher Gedankenverwirrung die beschrankte An«
/ vg;/»k+ <jcr technischen Objekte unter dem Gesichts=
winkel des Organischen gefiihrt hat, dafiir bleibt die ,,Philo»
sophie der Technik" von Kapp1 ein warnendes Denkmal.
Ich mochte nicht daran voriibergehen ; denn kein Gedanke
ist so falsch, daft in ihm nicht ein richtiger Kern steckte,
und jeden Irrtum sollte man als den Wegweiser zu einer
neuen Wahrheit betrachten.
Kapp lieB sich von dem Vergleich zwischen rnensch-
lichen Erfindungen und organischen Naturprodukten zu
einem metaphysischen, hinterweltlichen Prinzip verfiihren.
Er nennt es : Das Prinzip der Organprojektion.
Hier, kann man sagen, haben Schopenhauer und v. Hart-
mann Boses gezeugt, indem sie, wie alle ihre Zeitge=
nossen, auch einen Techniker mit jener Metaphysik des
groften UnbewuBten, des ,,Dinges an sich", das nach in=»
1 E. Kapp, Grundlinicn cincr Philosophic der Technik.
G. Westermann, Braunschweig 1877.
106
discher Denkart den unerf ahrbarcn Weltgrund bilden soil,
formlich hypnotisicrten. Bis in die Naturwisscnschaft der
Gegenwart hinein spukt dieses Gespenst der Willens-
philosophie.
,,Das UnbewuBte", denkt Kapp — nein, sagt Kapp, denn
denken kann man so etwas ja gar nicht, weil es weder in
der reellen noch in der ideellen Sphare, aus welcher alles
zu begreifende Seiende stammt, vorkommen soil — das
UnbewuBte produziert den Organismus. Der Organismus
— namlich der menschliche, bewufite Organismus — soil
aber seinerseits das technische Objekt produzieren.
Betrachten wir nun den letzteren ProzeB bei Lichte, so
zerfallt er in zwei Teile: Die bewufite, logisch verknup*
fende, aufgeklarte Konstruktion des Erfinders und das un»
bewuBte, instinktma'Bige, im unmittelbaren Griff zum Aus»
druck kommende Schaffen. — Sehr schon, dies haben auch
wir oben schon bemerkt. Doch betrachten wir das letztere,
das ,,intuitive" Erfinden, jetzt fur sich, so erkennen wir,
meint Kapp, darin nichtsanderes, alsein Produkt derselben
Art, wie es das grofie, dunkle Unbewufite, der Weltgrund
bereits im Organismus produziert : Eine Organprojektion.
Die Natur schafft ein Auge — der Mensch erfindet einen
photographischen Apparat: Was geht hier vor? — Das Un«
bewuftte projiziert zweimal dasselbe optische System !
Oder ein anderer Fall : Die Natur produziert das Geriist
der Wande im Schenkelknochen — der Ingenieur erfindet
den Kran : Eine und dieselbe Projektion eines und desselben
Instruments!
In beiden Fallen, wie in alien Erfindungen iiberhaupt,
erkennt Kapp mit metaphysischem Blicke ,,die Macht des
UnbewuBten als charakteristische Eigenschaft der Organ=
projektion". In der weiteren Vervollkommnung des voll*
107
standig unbewuBt einem organischen Vorbild nachgebiU
detcn Mechanismus, meint cr allerdings, greife das Be*
wufttsein mehr und mehr iiber und crscheine, wcnn ein»
mal ein gcwisscr Punkt dcr Vollkommenheit errcicht sci,
von da an bcinahe als alleiniger Faktor. — ,,Und doch !
Sollte nicht auch hinter solchen mit klarer Absicht zu=
standegebrachten Erfindungcn der Physik und Physiologic
ein Metaphysikalisches und Mctaphysiologisches — kurz
Mctaphysik dcs Unbevx/uBtcn wirksam sein?"
Daft der Hammer den Arm mit geballter Faust, der
Bohrer den gesteiften Zeigefinger mit seiner Nagelscharfe,
Zange und Schraubstock das Gebift nicht allein bewuftt
nachahmcn, sondern daft diese natiirlichen Organe und
kiinstlichen Werkzeuge vielmehr dicsclbcn, aus dem un«
bewuftten Weltgrunde entspringenden Manifestationen
eines dunkeln Dranges darstellen, ist fur Kapp iiber
jeden Zweifel erhaben. Behauptet er doch einfach und ge=
radezu: ,,Da5 die organische Projektion dem Werkzeug
als solchem die Form verleiht, darf als erwiesen angesehen
werden ..."
Welcher Art von Beweisen sich unser Philosoph zuweilen
bedicnt, davon nur eine Probe. Er bemerkt, daft Telegra=
phenkabel und Nerven, wie man leicht sieht, dieselbe
Struktur besitzen. ,,Hatten etwa die Manner," denkt er bei
diesem Anblick, ,,denen es vor anderen gelang, mittels des
elektrischen Stromes Nachrichten in die Feme zu senden,
vor dem ersten Versuche den bewuftten Vorsatz gehabt und
ausgefiihrt, einen Nerv zu zergliedern, plastisch genau
nachzukonstruieren, und eine ihrem leiblichen Nerven=
system gleiche Verzweigung von elektrischem Gestrange
iiber den Erdboden zu legen?" — Nein, so kindisch, das zu
glauben, ist gewift niemand !
108
Es mag cin tiefes Ratsel sein, wie es moglich ist, daft Na=
tur und Mcnsch dicselben technischen Objekte und sogar,
wie cs scheint, fiir dieselben Zwecke herstcllen. Aber was
haben wir davon, wenn uns Kapp mit der Formcl dcs Un=
bewuftten und der Projektion seines uns ganzlich unbe=
kannten Weltwesens begliickt? Wir sind ebenso klug wie
zuvor, nur — urn eine leere Formel reicher.
Schon Eyth hatte herbe Kritik an ,,dem Herrn Profes*
sor" getibt, dem er einmal ins Stammbuch schrieb: ,,Dafi
die wichtigsten Erfindungen der Urzeit: das Weben, Pfeil
und Bogen, namentlich auch das Feueranzunden, sich
schlechterdings nicht in diese Theorie einfiigen lassen, liegt
ebensosehr auf der Hand, als daft der Urmensch, sowenig
als das Kind von hcute, einen Stock mit dem Bewufttsein in
die Hand nimmt, damit eine Verlangerung seines Armes
erfunden, oder, wie unser Philosoph sich ausdriickt, die
Wirkung des Armes in die Auftenwelt projiziert zu haben.
Aber ein Gelehrter dieses Schlages ist imstande, zu be*
weisen, daft die Erfindung des Feueranzundens aus dem
Streben hervorging, den VerbrennungsprozeB in den
menschlichen Lungen in die Auftenwelt zu projizieren."
Ahnliche Gedanken, wie sic in Kapps Kopfe zum ver»
derblichen Irrtum wurden, finden sich ubrigens auch bei
anderen, biologisch gerichteten Schriftstellern. Joel1 z. B.
fiihrt aus: ,,Jeder Organismus ist zugleich ein Organise-
tionstrieb, ein Systembildner, hat die Tendenz, seine Um*
gebung sich anzugliedern, eine Sphare zu bilden, ihm Ent=
sprechendes anzuziehen, Unpassendes abzustoften ..."
7/Der Organismus ist in Wahrheit ein Organisationspro*
zeft, der darum uber das organische Wesen selbst hinaus=
schreitet." . . . Er ist 7/ein Wesen, das seine Werkzeuge in
1 K. Jrtl, wie Scitc 87 erwShnt.
109
sich tragt, das aber als werkzeugbildende Kraft die Ten-
denz hat, auch seine Umgebung sich zu assimilieren. Der
Organismus verlangert, erweitert seine Organe durch or«
ganische Werkzeuge. . . . Die Instrumente, die Maschinen
sind nur die aufiere Fortsetzung des Mechanismus, den
der Organismus in sich trdgt, die Erweiterung seiner
Mittel, seiner Zwischenursachen, seiner gebundenen
Kausalitat." . . .
,,Auch die Naturerscheinungen, die wir praktisch nicht
beherrschen, werden doch praktisch fur uns, wenn wir uns
auf sie eingestellt haben, indem sic feste Faktoren in tin-
serer Rechnung werden, indem sie uns regelmaftig wie am
Schniirchen kommen und das Erwartete bringen, indem
sie gleichma'ftige Funktionen fur uns erfullen, wie unsere
Organe und Maschinen — verlaftliche Diener, wenn auch
nur in unserer Rechnung und Auffassung."
Auch das Unbewuftte spukt weiter. So schreibt Braun1
noch 1912: ,,Als den schopferischen Urgrund alles Existie-
renden haben wir das metaphysische Wesen als unbewufttes
jenseitiges Sein anzusehen. Wir finden diesen unvorstelU
baren Urtrieb, den Schopenhauer, Hartmann und H. v.
Stein als ,Wille' oder Drang bezeichneten, konkret wirk-
sam als die fuhrende Kraft in der Entwicklung vom An«
organischen iiber den Kristall zum Organischen und von
da ttber Pflanze und Tier zum Menschen." — Schopen-
hauer wiirde tief geruhrt sein, wenn ihm in Nirwana er»
zahlt wiirde, daft seine Gedankenlosigkeiten noch heute
Schule machen. Denn denken kann man sich dabei wahr«
haftig nichts !
Ich will die Zahl der Beweise nicht vermehren. Es gab,
1 0. Braun, Grundrift ciner Philosophic des Schaffens. Go-
schen, Leipzig 1912.
wie Icicht zu zeigcn ware, in der deutschen Litcratur cine
Periode der biologischen Hypnose, wo alles auf den Satz
hinaus kam: Leben ist Trumpf — namlich Leben bio*
logisch, naturalistisch, deterministisch verstanden.
Auch wir sagen freilich : Leben ist Trumpf. Aber damit
meinen wir etwas ganz anderes! Wir meinen nicht das
dumpfe Dosen des Unbewuftten, dieses holzernen Eisens
der Philosophic, sondern die schopferische, unter bewupten
Ideen stehende Freiheit dcs Kulturlcbens, nicht jenen die
Tierreihe fortsetzenden, unbewuftten Produktionsprozefi,
der aus blindcm Drangc hervorbringt, was dann im Kampfe
urns Dasein iibrig blcibt.
Doch cinen Satz mochte ich noch anfiihren, worin sich
unsere Auffassung aus dcm biologischen Nebel herauslost.
,,Der Mensch und seine Personlichkeit", sagt v. Mayer1,
,,organisieren die streitenden und mufiigen Krafte der Um-
welt, verbinden sie technisch zu ihrem und der Welt Nutzen."
Hier findcn wir bereits den vom subjektiven Vcrhaltnis zum
Willen losgclosten Begriff der Organisiertheit als den Be=
griff der ,,technischen Verbindung" der mtifjigen Krafte der
Umwelt. Und hicrmit wird der allgemeine Begriff des Re=
gulators gefaftt, der, einerlei auf welche Weise entstanden,
das gegebene wilde Naturgcschehen vermoge seiner Struk*
tur zum geregelten Prozcssc macht, oder, wie v. Mayer sagt,
es ,,organisiert".
Anorganische Natur, Organismenwelt und die geistig
vorausschauenden Menschen besorgen nun unent=
wegt die Organisierung, d. h. die Umgcstaltung der regeU
losen Massens und Energievertcilung, die Umformung des
chaotischcn Zustandes der Matcrie in die technische Form.
1 E. v. Mayer, wic Seitc 46 erwahnt.
ill
Wie Fichte1 so schon gesagt hat, muft die Natur im Vcr=
laufe dicscr Entwicklung ,,allmahlich in die Lage eintreten,
daft sich auf ihren gleichmaftigen Schritt sicher rechnen
und za'hlen lasse, und daft ihre Kraft unverriickt ein be=
stimmtes Verhaltnis mit der Macht halte, die bestimmt
ist, sic zu beherrschen, — mit der menschlichen. In«
wiefern dieses Verhaltnis schon ist und die zweckmaftige
Ausbildung der Natur schon festen Fuft gewonnen hat,
soil das Menschenwerk selbst, durch sein bloftes Dasein
und durch seine von der Absicht seines Werkmeisters un*
abhangigen Wirkungen, wiederum in die Natur eingreifen
und ein neues belebendes Prinzip in ihr darstellen . . . Und
die Sonne soil ihre belebendsten Strahlen in diejenige
Atmosphare ausstromen, in welcher ein gesundes, arbeit*
sames und kunstreiches Volk atmet."
Dieses belebende Prinzip der Welt sind aber die Erfinder.
Ihre Geistesarbeit ist es, die wir eine so erstaunende Wir=
kung hervorbringen sehen; ihr Werk ist die mit Riesen=
schritten zur Vollendung strebende technische Gestaltung
der Welt.
Der Begriff der Erfindung ha'ngt nun mit unserem Thema
so eng zusammen, ja er deckt sich im Wesen, wie ich nach=
her zeigen werde, mit dem Begriffe der technischen Wahr=
heit oder des technischen Wissens, daft ich hier darauf
eingehen muB- Nimmt doch auch ein grofter Teil der Dis=
kussion Ciber die Technologic als Wissenschaft erst durch
diesen Begriff hindurch Beziehung auf seinen Gegen=
stand.
Fragen wir also : Worin besteht das Wesen einer Erfin*
dung? Und: Worin besteht ihr objektiver Wert? —
Dieses vielumstrittene Problem versuchte zuerst Du Bois-
1 J. G. Fichte, wie Seite 83 erwahnt.
Reymond1 mit Hinsicht auf das Patcntrccht in moglichst
erschopfender Wcise zu behandcln. Die Frage, was eine
Erfindung sei, sagt, Du Bois, ,,la'6t zwei Auslegungen zu.
Sic ist einmal gleichbcdcutcnd mit der Frage: Was vcrstcht
der Sprachgebrauch unter dem Wortc Erfindung? — Und
zweitcns mit der Frage: Was sind die gemeinsamen und
kennzeichnenden Eigenschaften aller derjenigen objcktiven
Dinge, die mit dem Worte Erfindung bezeichnet wer«
den? . . . Die eine verweist auf eine philologische, die
andere auf eine technologische Untersuchung."
Du Bois will von den realen Erfindungen, die uns auf
alien Seiten umgcben, also von der Welt der technischen
Objekte ausgehen, um daraus den Begriff der Erfindung
abzuleiten. Diese Methode setzt offenbar voraus, daft aus
dem grofteren Kreis aller realen Erscheinungen iiberhaupt
der mit dem Worte „ Erfindung" gemeinte engere Kreis
der ,,technischen Objekte" schon deutlich abgegrenzt sei.
— Das mag wohl der Fall sein; indessen fragt sich nun,
ob dieses im Sprachgebrauche nach konkreter Anschauung
abgegrenzte Sammelsurium von Dingen auch logisch und
das heiSt durch einen exakt definierten Begrifl abgegrenzt
werden kann.
Das letztere wiirde bei der bekannten unlogischen Be*
schaffenheit der Menschen und deren Sprache der groftte
Zufall sein und gilt hier sicher nicht. Deshalb bleibt, wie
Du Bois sagt, nichts anderes iibrig, als den konkreten Roh*
stoff zwischen zwei Grenzbegrifte einzuschliefien, namlich
einen, der fur den gewohnlichen Sprachgebrauch zu eng
ist, und einen, der dafttr zu weit ist. Der Theoretiker wie
der Gesetzgeber mag sich dann diese beiden, je durch einen
neuen Fachausdruck festgelegten wissenschaftlichen Grenz-
1 A. Du Bois-Reymond, wie Scitc 102 erwShnt.
8 Zschim me r, Philosophic der Tcchnik 11?
begriffe dcr ,,Erfindung im cngercn und weiteren Sinne"
zu eigenmachen, um iiber das praktischc Rccht auf gei=
stiges Eigcntum zu urteilen.
Die erste Fragc ist also: Was lehrt dcnn die alltag*
liche Erfahrung, und zu welchen Grcnzbegriffcn des
Sprachgebrauchs fiihrt sic uns? —
DaS das Wort Erfindung etwas fur die tcchnische Wis«
scnschaft objektiv Neues bcdeutcn soil, ist ganz klar. Abcr
damit ist der Charaktcr dcr Erfindung noch kcineswegs
spczifisch bestimmt. Denn jede wissenschaftliche Ent*
dcckung wie auch jede originellc kunstlerische Schopfung
wiirde dasselbe bedcutcn. Es fragt sich dahcr, was dcnn
das besondere Neuc ist, welches dcr Erfindcr zu dem Be=
stande der Kultur, odcr sagen wir lieber gleich, zu dem
bestehcnden Wisscn von tcchnischen Moglichkeiten hinzu»
bringt, indem er etwas //erfindet" oder — was objektiv das=
selbe ist — etwas entdeckt.
Eyth1 hatte bercits vier Klasscn von Erfindungen unter-
schiedcn :
1 . Erfindungen, die neue Mittel zu neuen Zweckcn dar-
stellen. Z. B. die Montgolfiere, die Dampfmaschine, das
Spektroskop, der Wattsche Regulator.
2. Erfindungen, welchc cin ncues Ziel durch bekanntc
Mittel erreichen. Z. B. das Untcrseeboot, das lenkbare
Luftschiff und viclc chemische Erfindungen.
3. Erfindungen, die darauf ausgehcn, bekanntc Ergeb=
nissc mit neucn Mittcln zu gcwinnen. Z. B. neuc Vcrfahren
des Buchdrucks, neue Wasserrader, neuc Gerbverfahren.
4. Erfindungen, welchc ein bekanntcs Mittel odcr Wcrk=
zeug zu eincm bekanntcn Zweck zum erstcn Male anwen*
1 M. Eyth, Wie Scite 42 crwahnt.
114
den. — ,,Hier nahern wir uns", sagt Eyth, ,,dem gefahr-
lichen Gebiet, auf dem cine gewisse Verwirrung der Be=
griffe fast unvermeidlich 1st, und wo die Grenze zwischen
wirklichem Erfinden und bloftem Konstruieren und Kom-
binieren fortwahrend hin- und hergeschoben wird." Dahin
gehort das gesamte Eisenbahnwesen, ja auch die Loko*
motive Stephensons. Denn sowohl die Schiene als auch
die Dampfmaschine waren bekannt; aber beides zu kom«
binieren war trotzdem die folgenreichste Erfindung des
19. Jahrhunderts.
Hingegen erhalten wir nun von Du Bois-Reymond eine
andere Antwort. Es bestehen, sagt er, auf der einen Seite,
namlich in der Natur, gewisse ,,technische Moglichkeiten"
— wir nannten sic oben materielle Freiheitsgrade — ;
anderseits haben die menschlichen Subjekte gewisse Be-
durfnisse, diese Freiheitsgrade zu benutzen, d. h. es gibt
mogliche Wiinsche — ,,menschliche Postulate".
Unterscheidet man noch das Erfundene oder das ,,/n-
ventat" als solches von dem Erfindungsakte oder der
„ Invention", so ergibtsich, wie Du Bois ausfuhrt, folgende
Sachlage: ,,Diejenigen Kombinationen von Eigenschaften
der Materie, welche technische Moglichkeiten konstitu*
ieren, gehen neben denjenigen Kombinationen von Eigen*
schaften der Menschen, welche deren Bedurfnisse konsti»
tuieren, vollig unabhangig einher, und jedes Inventat ist
eine rein zufallige Koinzidenz einer technischen Moglich=
keit mit einem menschlichen Postulat." — Die Entdeckung
eines solchen Inventates ist die Erfindung.
Doch so ware, sagt Du Bois, unser Begriff zu weit gefaSt.
Denn eine Koinzidenz dieser Art ware z. B. auch der See*
weg nach Ostindien, und das entspricht nicht dem Sprach»
gebrauch. Dieser gibt der Entdeckung einer konstanten
Naturmdglichkeit cntschiedcn den Vorzug, ,,Erfindung"
zu sein, vor alien denjenigen Entdeckungen, die nur einc
ortlich oder zeitlich beschrankte gunstige Gelegenheit zeigen.
Und das mit Recht. Denn Konstruktionen, die auf einem
konstanten Inventat aufgebaut sind, sind beliebig wieder-
holbar, ,,ein ewiges Gut der Menschheit und daher hoher
zu bewerten, als die blofce Erkundung jener gunstigen Ge-
legenheiten".
Andererseits wird nun hinsichtlich des Bedurfnisses, wie
Du Bois meint, die ,,Konstanz der menschlichen Postulate"
nicht verlangt. Damit Erfindung vorhanden sei, sagt er,
ist es nur notig, daft irgend ein menschliches Bediirfnis
durch cine natiirliche Moglichkeit befriedigt werde. Es
braucht weder ein Bediirfnis zu sein, das von alien Men-
schen empfunden wird, noch ein Bediirfnis, das eine Ian-
gere Lebensdauer besitzt.
Hier aber erhebt sich das Problem des ,,objektiven Wertes".
Es gilt jetzt, zwei logisch verschiedene Wertbegriffe zu
trennen : i . Den Wert in der subjektiven Bedeutung jenes
,,menschlichen Postulats" und 2. Wert im objektiven
Sinne1. Unter letzterem ist zu verstehen, wie wir friiher
gezeigt haben, eine das Faktum Kultur spezifisch charak-
terisierende Idee.
Das Besondere der gegebenen Anschauung der Ge«
schichte wird ,,objektiv wertvoll", wenn es eine solche
naher zu bestimmende Ideenbezogenheit besitzt, wodurch
es eben die Kultur mitkonstituiert. Und dieser objektive
Wert ist es, der auch in dem praktischen Urteil iiber Erfin-
dung oder Nichterfindung, wenngleich dunkel, zum Be=
wufttsein kommt; es ist der Wert, den die Idee der Technik
1 Diesen Gcgcnsatz hat zum crstcn Male klar hcrausgearbeitet :
F. Munch, wie Seite 25 erwShnt.
116
allgemein begrelft. Er ist es, der den wahren Sinn der Erfin*
dung auf rein objektive Weise begriindet, namlich dadurch,
daft von dem Erfinder eine neue Moglichkeit aufgezeigt
wird, urn das wilde, chaotisch verlaufende Naturgeschehen
in einer bcstimmtcn, und zwar nach Belieben bestimmbarcn
Form so zu regeln.
Ich definiere also : Die Erfindung ist tin fur das objek-
live technische Wissen neuer Gedanke, durch welchen erkannt
wird, wie durch einert vom Menschen herstdlbaren Regulator
eine in der Natur nicht von selbst vor sich gehende, willkur-
lich zu bewirkende Regelung von Natur prozessen in bestimm-
ter Form vorzunehmen set.
Ware der Gedanke des Erfinders zwar fur diesen sub-
jektivt aber nicht objektiv, d. h. fur die bestehende techno-
logische Wissenschaft neu, so ware dieser Gedanke ganz
einfach eine bekannte technische WahrheitI aber keine Er-
findung. Ebenso wird ja auch jede naturwissenschaftliche
Entdeckung nur insofern als eine ,,Entdeckung" bezeich-
net, als ihr wesentlicher gedanklicher Gehalt fur die der-
zeitige Naturwissenschaft etwas Neues ist. Objektive Neu-
heit ist in beiden Fallen das gemeinsame Merkmal zum
Unterschiede von der gewufiten Wahrheit schlechthin.
Man sieht, daft hierin Eyths Definitipnen der vier Klas-
sen von Erfindungen allgemein einbegriffen sind. Das
,,Mittel" bei Eyth ist bei mir'der „ Regulator "; der
,,Zweck" ist die ,,Regelung". Neu sein kann i. beides,
2. nur die Regelung, 3. nur der Regulator, 4. keines von
beiden, wohl aber das Sicheignen eines bekannten Rcgula=
tors zu einer bekannten Form der Regelung der Natur=
prozesse.
Setzt man bei Du Bois-Reymond statt 7/menschliches Po»
stulat" den objektiven Begriff der,, Regelung von bestimmter
117
Form", so befindet sich auch dessen Definition, insofern
sic von der subjektivcn Einkleidung bcfreit wird, wie mir
scheint, in Obereinstimmung mit meiner durch die Idee
der Technik begriindeten Formulierung des Begriffs der
Erfindung.
Tm Patentgesetz des Deutschen Reiches1 vom 7. April 1891
Istcht nun : ,,Patente werden erteilt fiir neue Erfindungen,
welche eine gewerbliche Verwertung gestatten . . . Eine
Erfindung gilt nicht als neu, wenn sie zur Zeit der auf
Grund dieses Gesetzes erfolgten Anmeldung in 6ffent=
lichen Druckschriften aus den letzten hundert Jahren be»
reits derart beschrieben oder im Inlande bereits so offen*
kundig benutzt ist, daft danach die Benutzung durch andere
Sachverstandige moglich erscheint."
Der Gesetzgeber schlieftt hier merkwiirdigerweise das
Moment der objektiven Neuheit des Gedankens in den
Begriff der Erfindung nicht mit ein. Und doch ist —
wenigstens von der Seite des schaffenden Technikers aus
betrachtet — die Neuheit gerade ein wesentliches Moment.
Kein Techniker wiirde einen vorgelegten Gedanken, d. h.
eine technische Wahrheit, als eine Erfindung bezeichnen,
wenn der betreffende Gedanke zur Zeit seines Bekannt=
werdens fiir das objektive Wissen, d. h. fiir die Techno*
logie, nicht neu ware und also nicht eine Errungenschaft
bedeutete, deren Verdienst sich eben derjenige Mensch zu*
schreiben darf, der ihn zuerst findet.
Selbstverstandlich gilt dasselbe auch fur jede rein theo»
retische, d. h. gewerblich nichts einbringende Erkennfc*
nis oder Beobachtung, die man seinerzeit, als sie fiir die
1 Vgl. Taschenbuch des gewcrblichen Rechtsschutzes. C. Hey«
mann, Berlin 1912.
118
Wisscnschaft cinmal ncu war, eine ,,Entdeckung" nannte,
und deren Verdicnst wiederum bcstimmten Menschen zu=
geschriebcn wurdc — freilich mit dem Unterschied, daft
diesc anstatt des Geldes nur die Ehre davontrugen. Aller=
dings kniipft sich auch an wissenschaftliche Ehrcn haufig
eine entsprechende Besoldung, worin ebenfalls die Rechts=
idee zur Geltung und zum Problem werden kann. Damit
habe ich mich aber nicht auseinanderzusetzen ; denn dieses
Problem gehort in die Philosophic des Rechts.
Ob der Erfinder das Gliick hattc, seine Erfindung ganz
miihelos unter dem Walten eines giinstigen Zufalls zu fin*
den, oder ob es ihn jahrelanger geistiger Anstrengung ge=
kostet hat, den Gedanken zu fassen, und ob er die Absicht
hatte, jene so wertvolle Regelung des Naturgeschehens vor=
zunehmen, die ihm gewinnbringend schien, oder ob ihm
das Resultat, ohne daft er danach gesucht hatte, in den
Schoft fiel, kommt bei der objektiven Bewertung des Fak=
turns gar nicht in Betracht. Subjektiv bleibt es natiir=
lich ein Riesenunterschied, ,,wie" die Erfindung ,,gemacht
wurde". — Logisch gleichgultig fur den Begriff der Er=
findung ist auch das Moment des rechtlichen Anspruchs
ihres Erfinders als des geistigen Eigentumers derselben.
Wohl aber ha'ngt die Patentfdhigkeit nicht allein ab von
der Entscheidung der quaestio facti, ob in dem objektiv
definierten Sinne eine Erfindung vorliegt; sondern sie ist
vielmehr eine quaestio juris. Das quid juris der Patents
erteilung bestimmt sich nach den Gesichtspunkten einer
spezifischen Bewertung von ganz anderer Art, einer Wer=
tung, bei der die Rechtsidee und nicht die Idee der Tech=
nik das Letztbegriindende ist1.
1 Man vergleiche hicrzu F. Miinchs Kritik zu E. Jung, Das
Problem des naturlichcn Rechts. Zcitschr. f. Rechtsphilo*
119
Man denkc nun nicht, dafi die Welt etwa auf die um=
walzenden Originalgedanken der Erfinder wartete,
um sie koniglich zu belohnen. Im Gegenteil! ,,Wenn ihre
Gedankenblitze", sagt Eyth1, ,,nicht imstande sind, zu
einem korperlichen Dasein zu gelangen, so sind sie ein
wertloses Nichts, verganglicher als die Blaschen in einem
Glase Sekt. Bis hierher war es der Genufj ; nun erst beginnt
die eigentliche Arbeit des Erfinders : Die Ausfiihrung, die
Materialisierung des Gedankens, derzweite Aktdessen, was
ebensooft eine erschutternde Tragodie wie ein glanzen*
des, weltbewegendes Schauspiel geworden ist. ..."
,,Die Erfindungen haben die groftte Not, den Widerstand
zu iiberwinden, mit dem ihnen eine wohlgeordnete, im
groften und ganzen selbstzufriedene Welt von alien Seiten
entgegentritt/' Auch ist nicht das Bedurfnis, wie oft ange*
nommen wird, die Mutter der groften Erfindungen. ,,Wir
konnen uns heute", wie Eyth sagt, ,,ein Dasein ohne Eisen«
bahn kaum mehr vorstellen. Und doch fiihlte kein Mensch
dieses Bedurfnis, weder als Stephenson seine erste Loko*
motive bei Darlington versuchte, noch als in Deutschland
im Jahre 1835 die erste kleine Bahn von Fiirth nach Niirn»
berg eroffnet wurde und der geniale Friedrich List im
Kampfe fiir Ideen zugrunde ging, ohne die wir heute nicht
mehr leben konnten. . . ."
Und horen wir noch ein merkwiirdiges Schicksal, wie es
Eyth so witzig schildert: ,,Es war ein jahrhundertlanges
Wandern des urspriinglichen Gedankens von einem Land,
von einem Weltteil zum andern, bis Fulton, ein Maler von
Beruf, sein erstes erfolgreiches Dampfschiff, ausgestattet mit
sophie 1, in (1913). Ferner: E. Hartig, wie Seite 104 era
wahnt, und A. Pilenko, wie Seite 89 erwahnt. l M. Eyth, wie
Seite 42 erwahnt.
eincr englischen Maschinc von Watt, auf dem amcrikani»
schen Hudson in Bewegung setzte. Hierbci war zweifellos
das lebhafte Gefiihl des Bediirfnisses dcr kommenden Zcit
die treibcnde Kraft, mehr als dcr freudigc Gedankenblitz
eincs Papin, der zu all dem den Anstoft gegcben hatte."
Mit dem Versuch, das erdachte ideelle Objekt nur erst
in die Wirklichkeit umzusetzen und dadurch zu beweisen,
daft es in Wahrheit cine ,,Erfindung" ist, beginnt in der
Tat haufig die eigentliche, bewundernswerte Leistung.
Und auch diese kann iibertroffen werden von den An*
strengungen, die gemacht werden miissen, um ein gluck»
lich realisiertes Objekt ,,industriell lebensfahig" zu ma*
chen. ,,Das Leben eines Inventats", sagtDuBois1, ,,istvon
drei Dingen abhangig: i. Von dem Fortbestand des zu»
gehorigen Bedurfnisses, z. von der Moglichkeit der Be*
schaffung der materiellen Herstellungsbedingungen, wie
des Herstellungsmaterials, der Herstellungswerkzeuge und
dgl., und 3. von dem Fortbestand der Fahigkeit der Zunft,
unter Benutzung dieser Hilfsmittel das Inventat zu repro»
duzieren." — 7/Solange alle Gefahren der bosen Welt durch
liebevolle Ha'nde von der Erfindung ferngehalten werden,
kann sie wohl ,gehen'. Haufig genug ist es schon ihr Tod,
daS sie zu friih in die Ha'nde eines fremden Pflegers ge«
geben wird, dem die Elternliebe abgeht. ... Ist aber diese
Kindheitsperiode iiberwunden, so beginnt erst eigentlich
der dritte Akt des Erfindens, die selbstandige Entwicklung
des neuen Weltbiirgers.//
Auf die erste Frage des Technikers : Geht es iiberhaupt?
folgt fur ihn mit der Frage, wie es geht, eine neue sachtiche
Sorge. Ist einmal erwiesen, daft ein Objekt als Regulator
von Naturprozessen einem Zwecke iiberhaupt dienlich ist,
1 A. Du Bois-Reymond, wie Seitc 102 erwShnt.
121
so fragt sich nun naher, ob die entdeckte Form dcs Dingcs
auch schon die zweckmapige ist. Denn Zwzckdienlichkeit
und Zweckma/0/gfo/f ist keineswegs dasselbe. Diese bei*
den Begriffe diirfen ebensowenig verwechselt werden wie
etwa Zweckdienlichkeit und Sparsamkeit oder Zweck=
dienlichkeit und Schonheit desselben konkreten Gegen*
standes.
DaB wir heute die Zweckmaftigkeit mit der Zweckdien-
lichkeit gleichsam unter einem kategorischen Impera=
tiv in Verbindung bringen, ist eines der charakteristischsten
Merkmale unserer Denkweise. Es ist der moderne Ratio=
nalismus, wovon das Mittelalter kaum cine Ahnung hatte.
Friiheren Zeiten gait es als eine selbstverstandliche For=
derung fiir den Erfinder, daft mit der Zweckdienlichkeit
seines Werkes die Schonheit zu verbinden sei. Selbst wer
sterben oder einen anderen umbringen wollte, suchte dem
Werkzeug dazu, dem Dolch, dem Schwert, ein schone Form
zu geben.
Ja, in der Urzeit sollte alles, was der Mensch mit tech*
nischen Mitteln tat, sogar ein Gottesdienst sein. ,,Das Feuer",
behauptet Geiger1 , ,,ist eine religiose Entdeckung; es ist
aus der Gotterverehrung entsprungen in Zeiten, wo die
Menschen ein praktisches Bediirfnis zu seiner Gewinnung
noch gar nicht empfanden und andererseits des Nachden=
kens iiber eine technische Erfindung, wie die des Reib=
feuerzeugs, noch gar nicht fa'hig waren. . . . Wenn die wei=
sen Manner der indischen Vorzeit beim Grauen des Mor=
gens, die Blicke erwartungsvoll nach Osten gerichtet, wo
der leuchtende Gott ihnen erscheinen sollte, den Wirbel
1 L. Geiger, Zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit.
2. Aufl. Cotta, Stuttgart 1878.
122
der Himmelsbewegung, dcr die heilvolle Erschcinung des
neuen Tages emporzufiihren sich anschickte, mit der Dre=
hung der beiden Holzstucke ... vorbildeten; wenn sie
durch dieses unverbriichlich wiederholte heilige Werk in
ihrcm naiven Glauben die Umwalzung des Himmels zu
unterstiitzen, zu befordern meinten, und wenn dann im
Mittelpunkte des kleinen Weltbildes, das sie in ihren Han=
den bewegten, plotzlich der Funke aufleuchtete, wie dort
oben in der groften Himmelswelt die wundervolle majesta=
tische Flamme der Morgensonne: Welch ein Schauer der
Freude und Ehrfurcht muftte alsdann die Herzen ergrei«
fen, da der groSe Gott des Himmels, Agni, selbst in ihr
Heiligtum herabgestiegen war, bei ihrem Opfer zu Gaste
saB, es als Priester selbst im Rauche zum Himmel empor*
trug !"
Und spa'ter bleibt der Gebrauch technischer Objekte noch
lange Zeit ein Akt in Schonheit, wie ja auch wir im 20. Jahr-
hundert noch gern in schonen Hausern mit schonen Mo*
beln und Geraten leben.
Erst mit dem Geiste der Wissenschaft erwacht der Sinn
und die Freude an der Zweckmaftigkeit. Das moderne tech»
nische Objekt ist nichts anderes als konkrete Naturwissen=
schaft. Wie Munck1 ¥Bft <kn Kuiulwtfkan sagt, ,,jedes
einzelne ist eine konkrete Idee, ein konkretes asthetisches
Sinngefiige, eine kunstlerisch geltende Sinninhaltlichkeit'',
so wird das Werk des Ingenieurs im 19. Jahrhundert zur
Materialisierung wissenschaftlicher Einsichten und er«
scheint daher geradezu als stoffgewordene Logik.
Trotzdem verwechseln noch heute viele den technischen
Zweckma'Sigkeitscharakter eines Dinges mit seiner Schon*
heit. Offenbar setzt man die gemeinsame Freude, die glei=
1 F. MUnch, wie Seitc 25 erwShnt.
125
chcn Lustgeftihle des Beschaucrs, die dieser bci eincm
zweckmaftigen wohl cbcnso wie bci einem schonen Gegen=
stande cmpfindet, an Stclle der ganz verschiedencn ob-
jektiven Strukturen.
So behauptet z. B. unscr vcrehrtcr Dichtcr Eyth1: wEs
gibt schone und haftliche Lokomotiven." Das mag scin.
Abcr dann fa'hrt er nicht ganz richtig fort: ,,Die schonste
Maschine, genau wie die schonste Rennstute, ist stets die,
bei der die auftere Form in moglichst einfacher Weise und
mit moglichstem Hcrvortreten der physikalischen und me*
chanischen Gesetze dem Zweck entspricht, dem Pferd oder
Maschinc dienen sollcn. Um das herauszuftihlen, dazu ge=
hort allerdings die erforderliche Kenntnis oder vielmehr
das aus der Kenntnis erwachsene, unbewuftte Empfinden,
das, wo es sich um langst bekannte Dinge handelt, ange=
boren sein kann, das aber bei Dingen unseres modernen
Lebens erlernt, gebildet werden muft."
Eyth erinnert an die Schonheit der griechischen Pokale,
iiberhaupt der griechischen Cerate. ,,Es ist widersinnig,"
sagt er, ,,anzunehmen, daft ein Gerat die Moglichkeit des
Schonseins in hoherem Grade besitzen sollte als eine Ma-
schine, die ein Gerat zweiter, hoherer Ordnung ist, das Be=
wegung und ein, ich mochte sagen, in sich selbst abge=
schlossenes Leben hat. ... Die Schonheit muft aus der
Sache selbst herauswachsen."
Nein, das muft sic nicht! Aus einer technischen Sache
wachst von selbst nicht Schonheit heraus. Sie muft, bei
aller technischen Vollkommenheit, zugleich ergriffen wer=
den von der schopferischen Hand eines Kunstlers. Nur
dieser kann das ^weckma'ftige" Produkt der Technik noch
in ein 7,sch6nes" umschaffen. — Moglich aber ist das, weil
1 M. Eyth, wie Scite 42 erwShnt.
124
jedes konkrete Ding nicht allein unter dcm Naturgesetz,
sondern auch noch unter dem Gesetz dcr technischen ratio
unendlichc Freiheitsgrade in seiner anschaulichen Gestal=
tung offen la'St.
Einen Gegenstand, der aus technischen Griinden so sein
mufite wie er ist, gibt es nicht. Zu welchem Zwecke er
auch dienen moge, in seiner Form bleibt stets ein freier
Spielraum von gleich gut dienlichen Varianten bestehen,
unter denen nun, nach anderen Prinzipien, enger ge-
wahlt werden kann. Und eines dieser anderen Prinzipien
ist eben die Schonheit seiner Gestalt. Ein Meister kann
herzutreten, der aus dieser Freiheit innerhalb der Gren«
zen der Natur und Technik noch Schonheit, d. h. jene
kunstlerische Ideenbestimmtheit macht, die sich als ein selbst*
standiger, mit anderen unvergleichbarer Wert in allem
findet, was echte Kunst darstellt — natiirlich nur fur den,
der imstande ist, es zu sehen.
Der heutige Techniker, der zugleich Naturforscher ge«
worden ist, kann gar nicht mehr anders, als das kon-
krete Geschopf seines Geistes, sobald es einmal das Licht
der Welt erblickt hat, kritisch zu prufen.
Was in dunklem Drange des ersten Schaffens entstand,
geht ihm jetzt gewissermaBen personlich nichts mehr an.
Er betrachtet die neuentdeckte Tatsache wie jedes fremde
Ding der Natur; er durchdenkt sic mit mathematischer
Kiihle — ganz im Gegensatz zum Kiinstler. Denn sie ist
ihm von jetzt ab ein reelles Naturobjekt, das alle Gesetz-
maftigkeit der iibrigen Naturobjekte in sich hat und inso«
fern ein theoretisches, streng wissenschajtliches Problem: Das
Problem der Zweckmafiigkeit.
Aber was hciBt nun, das Objekt soil einem Zwecke nicht
125
allein dienlichf sondern auch moglichst vollkommen gemafi
sein? —
,,Der Zwcck 1st das Maft des Zweckmaftigen", sagt
Dietzgen1 ganz richtig. ,,Nur auf Grund eines gegebenen
Zweckes laftt sich das Zweckma'Sige bestimmen." Und im
Sinnc der ^Maftigkcit" steckt offenbar das MaS, das
Messen.
Wo abcr gemcsscn wird, ist Mathematik und cxaktes
Wisscn am Platze. Das Objekt wird in quantitative Form
gcbracht und damit von Konstruktion und Bercchnung,
kurzum von Thcoric erfaSt. Und dasselbe gilt vom Zwecke,
nach welchem das Objekt ,,sich richtet", an dem es seine
theoretische „ Richtigkeit" zu bewahren hat.
Der Zweck ist die materielle Freiheit, die das Objekt
dem Leben gibt: Das Fahren, das Fliegen, das Fern*
sprechen usw. Er ist der Akt, fiir welchen der Regulator
des Naturgeschehens von dem Erfinder geschaffen wurde.
Ohne die exakte Theorie dieses Naturprozesses mit dem
Objekt in der Mitte ist keine theoretische Richtigkeit und
also auch keine Zweckma'Sigkeit des letzteren im strengen
Sinne denkbar. Die Frage lautet also genauer: Was be-
deutet die theoretische Richtigkeit vom Menschen erfundener
Regulatoren zur Regelung theoretisch bestimmter Naturpro-
zesse?
Jeder exakt bestimmte ideelle Regulator ergibt, sobald er
eingeschaltet ist, einen auf Grund der Naturgesetze exakt
bestimmten ideellen Verlauf des Geschehens, das er regeln
soil, oder, physikalisch ausgedruckt, einen bestimmten Ver-
lauf der Energieumwandlungen, der Energietransforma-
tionen von bestimmten Formen und Resultaten. Ist ein sol-
cher Regulator reell vorhanden, wie z. B. eine wirkliche
1 J. Dietzgen, wie Scitc 60 erwShnt.
126
Dampfmaschine, so la'fit sich seine Wirkung rein wissen=
schaftlich berechnen.
Wiirde nun das Problem des Erfinders dahin gestellt ge»
wesen sein, die reelle Wirkung eben dieser reellen Maschine
zu erreichen, so wiirde man seinen Regulator zweifel*
los den ,,theoretisch richtigen" nennen. Denn er realisierte
ja auf das vollkommenste die beabsichtigte Regelung des
Naturgeschehens. Er ware alsodann ,,absolut zweckmapig" ,
weil seine reelle Wirkung, wie man auch haufig sagt,
,,ideal" sein wiirde. Wie hieraus erhellt, bedeutet volU
kommene Zweckmaftigkeit nichts anderes als theoretische
Richtigkeit oder Idealitat eines technischen Objekts. Das
meint auch wohl Du Bois-Reymond1 , wenn er ,,die VolU
kommenheit der technischen Losung" als die ,,Vollkom«
menheit der Deckung zwischen der gefundenen techni«
schen Moglichkeit und dem Postulat, das sie befriedigen
sollte", bezeichnet.
In Wirklichkeit gibt es keine absolute Zweckma'Bigkeit.
Es gibt nur Z weckdienlichkeit, welche einen mehr oder min=
der hohen Grad von Zweckmafiigkeit besitzt. Ein unend*
liches und allerdings wesentliches Ziel alles technischen
Schaffens ist daher zweifellos die immer hohere Steigerung
der bereits vorhandenen Zweckmafiigkeit in der technis
schen Welt oder mehr noch : Die Erfindung immer neuer
technischer Objekte, welche die ideell bestimmten Zwecke
schon von Haus aus in zweckma'Sigerer Form erreichen,
als es die vorhandenen tun.
Eine wichtige Kategorie dieser ideell bestimmten Zwecke
la'Bt sich erkennen in dem Prinzip der Kiirze, in seinen
drei Hauptformen, die wir etwa bezeichnen konnen als
1 A. Du Bois-Reymond, wie Scite 102 erwahnt.
127
das Prinzip des klcinstcn Raums, das Prinzip dcr kleinsten
Zeit und das Prinzip dcr kleinsten Energie.
Hat man im erstrebten Zwecke diese Bestimmtheit — die
Bestimmtheit der ,,Kiirze" — im Auge, dann nattirlich wird
die moglichste Zweckmaftigkeit des Objekts in derjenigen
Struktur desselben bestehen, welche cine moglichste Ver»
kiirzung von raumlichen, zeitlichen oder energetischen
Groften bedingt. Verkehrt aber ware es, daraus einen all-
gemeinen Imperativ fur die Technik abzuleiten. Ein tech«
nisches Objekt kann sehr wohl zweckmaftiger sein als ein
anderes und doch verschwenderischer in bezug auf den
Raum, die Zeit oder die Energie.
Von Ostwald1 wurde behauptet, ,,da6 tatsachlich jede
einzelne Form unserer systematischen Kulturentwicklung
ihre Berechtigung und auch ihre Wertstufe durch das Maft
erhalt, in welchem ihr die Losung der Aufgabe gelungen
ist, eine moglichst gro5e Leistung mit einem moglichst ge*
ringen Energieaufwand zu bewerkstelligen." Er verlangt
die unbedingte, kategorische Geltung des ^energetischen
Imperativs" : ,,Vergeude keine Energie, verwerte sie!"
als oberstes Prinzip der Technik.
Auch Ostwald ist einer von denen, die, wie so viele
seiner Zeitgenossen, vom Biologismus hypnotisiert worden
sind. Er beurteilt die Technik noch im Rahmen jener orga-
nischen Beschranktheit, die wir bereits als verderblich
kennen gelernt haben. ,,Die niedersten Organismen",
sagt er, ,,sind im allgemeinen die schlimmsten Energiever*
geuder, weil sie durch ihren Korper, der als Universalapparat
dienen mu§, nur in sehr unvollkommener Weise die ihnen
zu Gebote stehende Energie verwerten konnen. Jedes neue
Organ, das sich fur den bestimmten Zweck besonders ent*
1 W. Ostwald, wie Scitc 22 crwShnt.
128
wickelt, bedcutet eine Verbesserung des Gtiteverhaltnisses
eben der Energicart, fiir deren Perzeption oder Betatigung
es ausgebildet worden 1st."
,,Ein wohl entwickelter Muskel, dcr sich in seinen opti=
malen Funktionsverhaltnissen befindet, vermag etwa
40 Prozcnt dcr vcrbrauchtcn chcmischcn Encrgie in me=
chanische Arbeit umzusctzen. . . . Es gehort eine sehr be*
trachtliche Lichtstarke dazu, um bei einem Lebewesen,
dessen primitive Augen aus einem Pigmentflecken be*
stehen, die entsprechende Reaktion auszulosen, wahrend
das Auge eines entwickelten Wirbeltieres mit erstaunlich
geringen Energiemengen vorlieb nimmt und doch eine sehr
ausreichende Perzeption der AuBenwelt darauf zu griinden
vermag." Schon. Aber der Schlufi ist falsch:
,,Also die game. Organisation in Funktionsteilung und
Funktionsverbindung hat wetter keinen Zweck, als das energe-
tische Guteverhaltnis zu verbessern . . . Wir werden ganz all-
gemein aussprechen konnen, dap die Steigerung der primi-
tiven Lebewesen durch die ganze ungeheure Mannigfaltigkeit
der verschiedenen Formen hinauf bis zum hochstentwickelten
Menschen auf nichts anderem beruht als auf der Existenz
und Wirksamkeit der Energiedissipation" (Energiezerstreu=
ung). wNur um innerhalb des Rahmens der Mannigfaltig=
keiten, \welche dieses Gesetz gewahrt, die giinstigsten Be«
dingungen herzustellen, ist diese ganze verwickelte Orga=
nisation der hoheren Lebewesen eingetreten. Der ganze
Apparat von Sinnesfunktionen zur Erlangung der Nah»
rungsmittel, von Verdauungsfunktionen zu ihrer Assimi*
lation und schlieSlich von Muskeln und Drusen zur Be«
tatigung der aufgesammelten Energien nach auBen hat gar
keinen anderen Zweck, als die moglichste Steigerung der
Quantitat der freien Energie, welche zu einer gegebenen
9 Zschimmer, PhiJoiophie der Technik 129
Zeit erworben und dem Korper fur weitere Umwandlun*
gen zugcfiihrt werden kann, und die moglichste Verlang=
samung der Dissipation dieser aufgenommenen frcicn
Energie."
Hattcn wir Techniker nichts anderes zu sehcn als dicsc
gema'B dem energetischen Imperativ beschrankte Freiheit,
wo waren wir mit unserer Kunst geblieben !
Nicht einmal dort, wo wirklich nur die Aufgabe der wirt=
schaftlichen Ertraglichkeit zu losen ist, konnen wir dieses
Prinzip bedingungslos gelten lassen ; ja es hat schon ge*
schadet, wie Bon1 richtig bemerkt, wenn er sagt: ,,Bisher
ist ... die Aufmerksamkeit der Industriellen zu ausschlieB=
lich in Anspruch genommen worden von dem eigentlichen
Endzweck und dem Bcstrcbcn, gerade diesen auf die dko=
nomischste Weise zu erreichen. Es beginnt aber allmahlich
die Erkenntnis aufzudammern, daft man unter Umstanden
vorteilhafter fahrt, wenn man in bezug auf den Endzweck
weniger okonomisch zu Werke geht." Z. B. wiirde ein che=
misches Verfahren, welches fiir den Endzweck nur 70%
Nutzeffekt, hingegen etwa 20% fiir einen anderen Zweck
erga'be, demjenigen vorzuziehen sein, welches zwar 80%
fur den Endzweck, aber infolge der hierzu notwendigen
Anordnung nichts mehr fiir andere Zwecke iibrig liefie. —
Hochste Energieersparnis gema'B dem energetischen Im«
perativ ist eben nur in beschranktem Sinne gleichbedeu*
tend mit hochster ZweckmaBigkeit.
Und vergessen wir doch nicht: ZweckmaBigkeit tech-
nischer Objekte zu erstreben, ist nur in beschranktem Sinne
das Ziel des technischen Schaffens; es ist, wie Stern*
sagte, das Ziel der ^Zweiten". Neue Moglichkeiten der an-
1 F. Bon, wie Scite 35 erwahnt. * N. Stern, wie Seite 39 er.
wfihnt.
150
schaulichen Naturgcstaltung, neue Wege durch die Wirk=
lichkeit, Plane zur Errcichung ganz andercr Artcn von Frei=
heitsgraden zu entdecken, als wir sic mit unserer SchuU
weisheit uns traumen lasscn, das 1st doch die hochste und
fur die Kultur der Menschheit die entschieden wertvollere
Aufgabe : Das Ziel der ,,Ersten"t
Und hiermit steht nun auch fur die technischen Wissen-
schaften, denen die Aufgabe zufallt, die technischen Wahr-
heiten der Erfinder in systematischen Zusammenhang zu
bringen, die Kardinalfrage an der Spitze: Welche Arten
und Formen der Rfgelung von Naturprozessen, also auch
welche Arten und Formen von Regulatoren derselben sind
mSglich?
kann niemand im voraus wissen ! — Wer das konnte,
r Beneidenswerte ware im Besitze aller Wahrheiten,
die die Technik erst am Ende der Geschichte ans Licht ge*
bracht haben wird; er gliche in der Tat dem Laplaceschen
Geist, der die Formeln aller Weltgeheimnisse weift.
Denn unsere Kardinalfrage ist eine unendliche Aufgabe
des Menschengeschlechts. Wir Erdbewohner erblicken die
Zukunft — wie klug wir uns auch immer diinken mogen —
bestandig in cincm dichten Ncbcl, aus dem sich nach und
nach bald bckanntc, bald zu erratende, bald vollig neue,
(iberraschende Dinge herausheben. Die Geschichte be=
weist es nur zu gut, daft wir Menschen oft in der allcralU
taglichsten Wirklichkeit den grofien Wald vor Baumen
nicht sehen. Denn sonst konnte es nicht vorkommen, daft
technische Erfindungen, die uns heute so selbstverstand»
lich scheinen, wie das Eisenbahnfahren, einstmals nicht
nur nicht gesehen, sondern sogar fur wissenschaftlich er«
wiesenen Unsinn gehalten wurden. — Sobald die Frage
auftaucht, zu wissen, was geht, lacht jedcs Jahrhundert
immer wicder iiber die Beschranktheit des vorhergegan=
genen. Wir wissen cben nichts!
Diesc bcidcn Wortchen ,,es geht'' schlieSen eigentlich
die ganze, der Menschheit noch bevorstehende Zukunft
ein. Denn die Regelung des Naturgeschehens ist ja nichts
anderes als eine bestimmte Form des Energieaustausches,
welche wir nach Belieben befehlen konnen durch die Ein»
schaltung eines bestimmt geformten technischen Objekts
in den Lauf der Naturprozesse. Um also zu wissen, was
alles geht, muftten wir wissen, welche anschauliche Un=
endlichkeit aller moglichen konkreten Formen von tech-
nischen Objekten es gibt. Und das eben ist eine ewige Auf»
gabe : Eine ewige Quelle immer neuer Oberraschungen.
Ein ganz anderes Problem der Nachforschung wird hier
auf das Tapet gebracht als dasjenige, wofur sich der Ge-
setzesforscher vom reinsten Wasser interessiert. Wenn
dieser erkennt, welche allgemeineren und besonderen Gc=
setze alle moglichen Arten des Energieaustausches beherr*
schen, wenn er also die Besonderung der Gesetzesidee in der
natiirlichen Wirklichkeit entdeckt, so ist ihm, wie wir be*
reits gezeigt haben, die unter den Gesetzen noch unendlich
beliebige Anschauung der Natur einerlei. Diese ist ihm
ebenso gleichgultig wie dem modernen biologischen Ge-
setzesforscher die in der Natur vorkommenden Kaferbilder,
an denen der Sammler dieser merkwiirdigen Insekten, wie
die ganze altere Naturforschung, doch gerade das aller-
groBte, ja ausschlieftliche Interesse hat.
Fiir den Technologen fa'ngt also im Gegenteil dort, wo
die ganze Naturforschung am Ende ist, das Interessante der
Sache erst an. Er will, nachdem er einmal weift, was in der
Natur geschehen kann — auch wenn er die ganze Naturs
Wissenschaft fcrtig besa'Se — noch dariiber hinaus wissen,
was denn in derselben Natur technisch moglich ist. Die
Technologic, so konnen wir dies auch ausdriicken, erkennt
Kategorien in der materiellen Welt, die der Naturforscher
gar nicht beachtet. Und diese ,,technischen Kategorien" kon=
stituieren eben das System einer ungeheuren Wissenschaft,
die grofttenteils noch in den ersten Anfangen steckt: Die
,,Tcchnologie" .
Bereits in dem Entwurf einer allgemeinen Technologic
von Beckmann (1806) gliedcrt sich diesc Wissenschaft
nach Karmarsch1 wie folgt:
1 . Diespezielle Technologic. — Dercn Disziplinen machen
sich zur Aufgabe, ,,den Gang des Vcrfahrens zu beschrei=
ben, welcher befolgt wird, um ein bestimmtes Rohmaterial
in cin bestimmtes Fabrikat zu verwandeln; sic muf) also
die Mittel, Werkzeugc und Maschinen hierzu in ihrer
Aufeinanderfolge angcbcn und erklaren, die verschiedes
nen Zustande, welche der Urstoff bis zur ganzlichen Vers
arbeitung durchlauft, der Reihe nach betrachten und ge«
wahrt somit ein lebendiges Bild von dem Entstehen des
Fabrikats".
2. Die allgemeine Technologic. — Diese generelle Wissen*
schaft ,,ordnet die Gesamtheit der in den verschiedensten
Gewerben vorkommenden einzelnen Verfahrungsarten nach
der Gleichheit oder Ahnlichkeit ihres Zweckes in Rubriken,
deren jede eine Gruppe verwandter Bearbeitungsmittel dar=
bietet, wobei die Art der Materialien, auf NX/elche die Be=
arbeitung angewendet wird, nur eine Nebenriicksicht be=
griindet".
1 K. Karmarsch, Geschichte der Technologic seit der Mitte des
18. Jahrhunderts. R. Oldenbourg, Miinchcn 1872.
133
Abcr zur Wissenschaft im hoheren Sinne wird die
Technologic erst, wie Karmarsch sagt, ,,scitdem man nicht
mchr bloft die bei technischcr Verarbcitung irgcndcines
Rohstoffes und Herstcllung gewisser Kunsterzeugnisse
aus denselben vorfallcnden Arbeiten nebst den dazu dicn-
lichen Apparaten, Werkzeugen und Maschinen in chrono-
logischer Aufeinanderfolge beschreibt, sondern deren
Zweck und Erfolg genau feststellt, sie auf die bestim*
menden Lehren der Mathematik, Mechanik, Physik, Che»
mie zuruckftihrt, ihre Beschaffenheit und den Zeitpunkt
ihres Eintritts aus der Natur der vorliegenden Aufgabe
rechtfertigt, das als hergebracht Bestehende in den Arbeits*
mitteln der Kritik unterzieht und auf mogliche Verbesse*
rungen hindeutet, das auf verschiedenen Gebieten ver»
streut vorkommende Ahnliche oder Verwandte zusammen«
stcllt, vergleicht und die gemeinsamen Grundsatze nach=
weist — iiberhaupt das in den technischen Prozessen durch
den Scharfsinn unzdhliger Generationen niedergelegte geistige
Kapital aus seinen empirischen Verhullungen herauswickelt
und sowohl zur Anschauung als zur moralischen Geltung
bringt", und es — wie ich hinzufugen mochte — streng
,,theoretisch begriindet", d. h. in seinen speziellsten Erkennt-
nissen mil letzten, allgemeinsten Grundeinsichten in systema-
tischen Zusammenhang bringt.
wDenn der Sinn aller Wissenschaft ist das Begriinden",
sagt kurz und treffend Munch1, em moderner Erkenntnis-
theoretiker. Und hiermit ist in der Tat der eigentliche und
einzige Probierstein gegeben, der iiber die Wissenschaft*
lichkeit der Technologic entscheiden kann und der uns zu»
gleich dient, das unkritische Geschwatzzu widerlegen, das
wir nur zu oft von seiten ,,reiner" Wissenschaftler zu horen
1 F. Munch, wie Seite 25 erwahnt.
134
bekommcn, die selbst nicht einmal wissen, mit welchem
Rcchte dcnn ihre eigene Wissenschaft sich diescn Namen
im letztcn Grunde verdicnt.
Daft die Tatsachen in dem Wissensvorrat des Ingenieurs
und des technischen Chemikers nicht wie Kraut und
Riiben durcheinanderwirbeln, mogen die meisten kultu=
rell gebildeten Leute sich wohl denken. Aber daft dieses
Kapital an geistigem Eigentum der Menschheit ein ,,rich»
tiges" Wissenschaftsgebaude werden sollte, daft Techno-
logic um ihrer selbst willen von Staats wegen betrieben und,
auf eigenen Prinzipien ruhend, in den gleichen systemati*
schen Begriindungszusamnnenhang der Forschung gebracht
werden mufi, in den die exakte Naturwissenschaft bereits
seit dem Mittelalter eingetreten ist, das mochten viele
Universitatsakademiker auch heute noch nasertimpfend
verneinen.
Die barocke Auffassung v. Mayers1: wDer Wissens*
drang ist nur die feinste Form des Hungers", haben
manche Gelehrte, zwar nicht von ihrer harmlosen und
reinen, wohl aber von den technischen Wissenschaften.
Sic empfinden es daher auch eines Professors der Univer*
sitat unwiirdig, an die technische Hochschuje tiberzugehen,
und Wilhelm II. hat ,,seinen Professoren'' gewig keine
Freude bereitet, als er einen neuen Gelehrtenstand mit dem
,,Dr.-Ing." anerkannte. Man hore nur, wie wiitend unsere
beiden Kulturmetaphysiker Hans Jakob* und Star dariiber
werden konnen :
,,Da5 die technischen Hochschulen nunmehr auch das
Doktorat verleihen, ist aus der Empfindung des Sekunda*
1 E. v. Mayer, wie Seite 46 c. wahnt. * E. Hansjakob und J. Star,
wie Seite 53 erwahnt.
wertes ihrer Akademiestellung hcrvorgegangen, die nach
Schmuck und Wiirde nach auSenhin verlangtc, well die
Qberzeugung des inneren Gleichgewichtes fehlte. Die
Oberflachlichkeit unscrer Zeit liefr aus dem Doktorat einen
Titelgrad werden, wahrend das Wesen der Auszcichnung
ticfcr liegt; es soil — leider allzu oft ist cs eben nur sittliche
Fordcrung — ein innerer Charaktcrgrad, die Befahigung
zur geistigen Selbstandigkeit, ausgedriickt werden. Die
technischcn Hochschulcn konnten erst dann den Doktor=
grad verleihen, als sein Ansehen so tief gesunken war, daft
es sich mehr oder weniger um eine Visitenkartenaufschrift
handelte."
Herr Dr. Hansjakob und Herr Dr. Stur sollten, meine ich,
wenigstens konsequent sein und bei Veroffentlichungen
in technischen (!) Zeitschriften ihre ,,Visitenkartenauf=
schrift" ablegen. Denn sowirkt, wassiesagen, doch hochst
komisch. Aber deshalb habe ich die beiden Denker ja ge=
rade so gern — meine Schilderung der merkwiirdigen An=
sichten der Herren Akademiker wiirde ohne triftige Beweise
nicht halb so belustigend sein.
Wie recht hatte doch Eyth1: ,,In unseren Tagen, in
denen die einfachen Aufgaben gelost sind, die einen Ar-
chimedes beriihmt gemacht habcn, in denen bei den wun*
derbar komplizierten Erzeugnissen der Gegenwart alle
Krafte der Natur zusammenwirken miissen, um das ge=
wollte Ziel zu erreichen — denken wir nur daran, was alles
dazu gehort, ein Gliihlampchen leuchten zu machen — ist
diese Geistesarbeit von einer Grofte und Feinheit, die von
keiner anderen Form geistigen Schaffens iibertroffen wird.
Aber das alles nehmen die Herren des blofcen Wissens hin,
als ob es sich von selbst verstiinde."
1 Af. Eyth, wie Seite 42 erwahnt.
Noch spiegclt sich das altc Zerrbild, das der echte Uni=
versitatsakademiker vom technischcn Wissen im Kopfe
tragt, in den angstlich, etwas schulmeisterlich klingenden
Worten wieder, die Volkmann1 seinerzeit indirckt an das
allzu technisch angchauchte preuBische Kultusministerium
richtete: ,,Die alte Auffassung, welche die Universitaten in
ihrem deutschen Idealismus groB gemacht hat: die Wissen-
schaft um ihrer selbst willen, unbekiimmert urn jede Nutz=
anwendung zu pflegen, muB im Vordergrunde des akadcmi=
schen Lebens bestehen bleiben ; das rein wissenschaftliche
Element darf nicht in den Hintergrund gedrangt werden."
Ja sogar noch anno 1911 wagen es unsere beiden Hcift=
sporne Dr. Hansjakob und Dr. Star, folgendes Manifest
gegen die AnmaBungen der heranwachsenden Technologic
loszulassen :
,,Es gibt keine Technik als geschlossene Wissenssphare;
sie ist naturwissenschaftliches Banausentum, das sich als
Elendsmultiplikator der Dbervolkerung degradiert hat
mehr noch als durch die hohle Selbstandigkeit ..."
,,Alles, was technisch als Beifiigung hat, besitzt den iiblen
Geschmackseinschlag oberflachlicher Zweckbestimmung,
seichter Enzyklopadie, die niemals in die Tiefe der Erschei*
nungen dringt. Die wissenschaftliche Maske muB der
Technik endlich abgenommen werden. . . . Das echte aka*
demische Wissen kann niemals in Herdenwirtschaft aus=
arten. Was an technischen Hochschulen als Wissenschaft
serviert wird, ist ein diinner AufguB der Resultate aus
naturwissenschaftlichen und mathematischen Universita'ts*
forschungen, vermengt mit gelehrt ausstaffierter Gewerbe=
lehre, ,Technologie'."
1 P. Volkmann, Erkenntnistheoretischc Grundzuge der Natur*
wissenschaften. 2. Aufl., Tcubner, Leipzig 1910.
137
Die Herren, die den guten, alten ,,deutschen Idealismus"
gepachtet zu haben mcincn — cs sind ja gliicklicherweise
meistens nur die alten Herren — haben eben noch keine
Ahnung, wohin die geistige Arbeit der Technik inzwischcn
gewachsen ist. Fast scheint es, als fiirchteten sie die heran=
nahende Umwertung der Werte, die der talentvolle Gerber=
meister Dietzgen1 InHegelscher Denkartprophezeit: ^Alles
Ringen und Kampfen der Weltgeschichte, alles Sinnen und
Trachten der Wissenschaft findet seine Spitze, seinen ge*
meinsamen Zweck in der Freiheit des Menschen, in der
Unterwerfung der Natur unter die Botmaftigkeit seines
Geistes."
Nach dem Bekenntnis des Physikprofessors Wiener2
sehen wir iiberall dort aufterordentliche Leistungen
entstehen, wo sich wissenschaftliche Einsicht mit tech*
nischer Kunst verbindet. — Man merkteben : Die modernen
Leute reden aus einer anderen Tonart !
Wiener erinnerte seine Zuhorer, um nur zwei Beispiele
anzufiihren, an ,,die gemeinschaftliche Arbeit des Phy«
sikcrs Werner Siemens mit dem Feinmechaniker Johann
Halske auf elektrischem Gebiete, auf optischem Gebiete an
diejenige des Physikers Ernst Abbe mit dem Optiker und
Feinmechaniker Carl Zeip". — Was aber ist das Ergebnis
solcher Vereinigung iiberhaupt, sagen wir kurz : Der prak*
tischen Industrie mit der Naturwissenschaft? —
Jeder verstandige Beurteiler mu5 aus der Literatur er»
kennen konnen, wie die Technologie nach und nach zu
einer Wissenschaft wurde, die sich nicht auf Handwerker*
erfahrungen und deren subjektive Meinungen verla'ftt, son=
1 J. Dietzgen, wie Scite 60 erwShnt. a 0. Wiener, wic Seite 30
erwShnt.
138
dcrn zu cincr auf wissenschaftlicher Erfahrung beruhcn*
den, thcoretisch bcgriindeten Wissenschaft, die so machtig
und bedeutungsvoll zu werden beginnt, daft es dem ,,reinen
Naturwissenschaftler" immer schwerer fallen mug, an der
idealen Gewissensreinheit des obenerwahnten Herrn Pro*
fessors festzuhalten.
,,Gut ist es," sagt Wendt1, ,,wenn auch die Manner der
Wissenschaft bestandig an die Praxis denken." Und erfreu-
licherweise kann man schon heute deutlich wahrnehmen,
wie stark die technische Gedankenrichtung ideenbestimmend
wirkt, und zwar nicht allein auf die experimentelle For-
schung, sondern sogar auf die reinste aller theoretischen
Wissenschaften, die Mathematik. Universitatsprofessoren,
welche Nernstlampen, Doppelfeldstecher und chemische
Verfahren erfinden, die ganze Industriezweige ins Leben
rufen, haben eben, trotz ihrer hohen wissenschaftlichen
Fahigkeiten, wesentlich andere Ansichten von den Zielen
der Physik und Chemic als jcne harmlosen Idealisten, in
denen friiher das Ausland den typischen deutschen SchuU
meister bclacheltc!
Die Naturwissenschaft forscht langst nicht mehr drauf
los, blog um immer wiedcr zu entdecken, dag die
Natur in alien Stucken gesetzmaftig ist, oder hier und da
cine genaue Kenntnis ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit
zu gewinnen, einerlei in welcher Hinsicht; sondern sic geht
— wie es der moderne Kulturstaat in der Unterstutzung
seiner Institute fur die Wissenschaft auch unzweideutig
zum Ausdruck bringt — auf Erkenntnis in Hinsicht der
lebendigen Zwecke der Gesamtkultur.
Es dauert nicht mehr allzulange Zeit, und die reine Na»
1 U. Wendt, wie Seitc ?6 erwahnt.
139
turwissenschaft altcn Stils wird mit der Technik zur un«
trennbaren Einheit ciner Gesamtwissenschaft mit groBeren
Aufgaben vcrschmelzcn — cin Verhaltnis, in welchem sich
schon hcute, geheim gehalten durch wirtschaftliche Inter=
essen der Untcrnehmer und Nationen, die reine Forschung
und die Technik hinter Fabrikmauern die Ha'nde driicken.
Denn auch die riickstandigsten Fabrikleute haben langst
erkannt, was unser vortrefflicher Lohgerber Dietzgen*
sagte: ,,Um die Dinge ganz zu nehmen, miissen wir sie
praktisch und theoretisch, mit Sinn und Kopf, mit Leib
und Geist ergreifen . . . Die Praxis gibt uns die ErscheU
nung — die Theorie das Wesen der Dinge. Praxis ist die
Voraussetzung der Theorie, Erscheinung Voraussetzung
des Wesens oder der Wahrheit. Dieselbe Wahrheit er«
scheint in der Praxis neben- und nacheinander und ist theo=
retisch als kompakter Begriff." — Der schlichte Mann
hatte seine Gerberei eben gleichgut verstanden wie die
Hegelsche Philosophic — wieder ein Beweis, daB die tech=
nische Arbeit den Menschen nicht geistig stumpf zu ma=
chen braucht. —
WtiBten die Herren der reinen Gelehrsamkeit nur zu er=
raten, was das Bergwerk der Industrie an unsichtbaren
wissenschaftlichen Schatzen birgt, wie neidisch wiirden sie
nach den Themen unendlicher Doktorarbeiten blicken, die
wir Techniker doch nur deshalb (und freilich leider viel zu
wenig) erforschen, weil auch wir die Wahrheit nicht er=
dichten, sondern weil wir mit Hilfe exakter Beobachtungs=
methoden erkennen miissen, was ewige Wahrheit, reines
Wissen ist, um unser Ziel zu erreichen.
Man muB allerdings den Begriff der ,,technischen Wahr-
heit" erst erfaBt haben, den die so paradox klingende und
1 J. Dietzgen, wie Scitc 60 erwahnt.
140
doch trefflichc Behauptung einschlieSt, welche Du Bois-
Reymond1 iiber die Erfindungen gemacht hat: ,,AlIe Erfin=
dungen, dcren Wirkungen wir heutc genieSen, haben zu
alien Zeiten bestanden, . . . alle Erfindungen, die unsere
Nachkommen machen werden, bestehen schon heute . . .
Die Kenntnis (der Gravitation), die wir iiberliefern, ist . . .
nicht die Gravitation selber, und die Kenntnis der Dynamo=
maschine, die unsere Techniker besitzen, ist ebensowenig
die Dynamomaschine selber. Was sic konstituiert, ist dem=
nach das (nach dem Untergang aller Menschen) einzig
Ubrigbleibende, die natiirlichen Eigenschaften der Ma=»
terie, welche ihre Herstellung ermoglichen." Insoweit
,,unterscheidet die Erfindung sich uberhaupt nicht von
einer beliebigen naturwissenschaftlichen Entdeckung".
In dem Augenblicke, wo wir — sei es experimentell oder
theoretisch — rein sachlich erforschen wollen, welche For=
men materieller Systeme moglich sind, deren Einschal*
tung in den Naturprozeft das Geschehen in bestimmter
Weise regelt, treiben wir Technologic als reine Wissen=
schaft.
jede Moglichkeit, gegebene Vorgange durch einen maa
teriellen Regulator zum vorausbestimmten Ablauf zu brin=
gen, gehort zu ihrem Gegenstand ; ihr Endziel, ihre Wissen*
schaftsidee ist: Die Gesamtheit solcher Moglichkeiten in
ein auf allgemeinen Prinzipien gegriindetes System zu brin=
gen, also dasselbe, was die Geometric ihrerseits mit der Ge=
samtheit der moglichen Raum= und Zeitgestaltung ver»
sucht.
Gelingt dies aber, dann sind, wie wir schon gcsagt haben,
die Kritcrien voll und ganz gegeben, welche jenes von den
Akademikern bisher nur von der Seite betrachtete Aggre*
1 A. Du Bois-Reymond, wie Seite 102 erwahnt.
141
gat von Vorstcllungen und Begriffcn im Sinnc der mo«
dernen Wissenschaftstheorie (Munch) zu dem Anspruch
befahigen, als cine strengc, allgemeingiiltige Wissenschaft
zu gelten.
Dieselbe Stellung, die scit Uberwindung dcr mittelalter*
lichen Weltanschauung der einst so verachteten, banau=
sischcn Naturwissenschaft zugesprochen worden ist, muft
der moderne Erkenntnistheoretiker und Kulturlogiker
nun auch jener machtvoll aufbltihenden Geistesarbeit ein-
raumen, auf welcher doch das Erste und Allerwichtigste
beruht, was zur Entfaltung der Kultur vonndten ist : Ma-
terielle Freiheit.
Die Technologic sollte nicht versaumen, auch die Ge-
schichte der Technik als ihren notwendigen For-
schungsgegenstand zu betrachten. Ich denke hier nicht
an jene geisttotende Aufreihung der Tatsachen auf den
monotonen Faden der Zeit, fur die sich manche Gelehrten
in der Regel durch poetische Schlusse bei ihren Zuhorern
entschuldigen, wie z. B. unser hochverdienter Technologe
Karmarsch1, der am Ende einer allein fur die Maschinen
und Methoden der Spinn* und Webeindustrie 47 Druck-
seiten beanspruchenden Aufzahlung begeistert ausruft:
,,Mogen unsere Leser hier einen Augenblick stillstehen
und das im bisherigen Vorgetragene mit einem einzigen
Blicke umfassen ! Der Eindruck, den die Leistungen des
Menschengeistes in dem kurzen Zeitraume von 120 Jahren
erwecken, ist ein uberwaltigender, etwa wie der ihn emp»
fande, welcher, auf einer Hohe stehend, erst nach einer Seite
hin ein odes, unbebautes Land geschaut, und nun, rasch
sich umwendend, die weite Fla'che griinend, bltihend, mit
1 K. Karmarsch, wie Seitc 135 crwihnt.
142
freundlichen Hausern, strahlenden Palasten und einer
tatigen Menschenmenge besetzt erblickt" — wie es fast
Goethe schon im Faust so herrlich geschildert hat!
Was uns ein Blick in die Gcschichtc aber lehren kann,
wenn wir dicsc neue Welt betrachten, mit der uns die
Technik umgeben hat, ist dieses: Wir sehen hier eine all*
mahliche Veranderung, Differenzierung und Anpassung,
einen regelrechten Kampf der Erfindungen um das Dasein
in der Industrie, der gleich heftig wie der Kampf der Or«
ganismen um das Dasein in der Natur vor sich geht. Und
es gibt formliche Stammbaume des technischen Gedan*
kens, gemeinsame Wurzeln der Erfindungen, eine geistige
Urzeugung und Entwicklung, iiber die man sich von Staats
wegen die grundlichste Klarheit verschaffen sollte. Denn
dieser Prozeft enthiillt uns nicht blofi ein interessantes Bild
jener schopferischen Tatigkeit, von welcher das Heil der
Menschheit in Zukunft abhangen wird; sondern es mug
auch die tiefere Einsicht in den hierin waltenden ideellen
Zusammenhang von grogtem Werte sein, sowohl fiir die
schaffenden Techniker und Unternehmer selbst, als fur
die leitenden Staatsmanner, denen mehr und mehr die Auf»
gabe zufallt, in den wilden Anarchismus der manchester-
lichen Produktion zum Wohle der Gesamtkultur einzu-
greifen — die Rolle des Gartners zu spielen, der die natur»
liche Zuchtwahl mit Vernunft und weiser Voraussicht ab«
kurzt und sinnvoll lenkt.
So ist nun die Technologic, vom hochsten Gesichtspunkte
aus betrachtet, nichts anderes, als das mit geschicht«
licher Notwendigkeit fortschreitende Wissen von der An«
naherung an die in der Idee der Technik ergriffene gotter»
hafte Freiheit des menschlichen Lebens. So viel neue For-
H?
men, das Naturgeschehen zu regeln, die Technologic kennt,
um so viel neue Freiheitsgrade sind wir, wenigstens ideell,
bereichert. Die Totalitat aller noch im Unbekannten schlum=
mernden Freiheitsgrade zum objektiven und allgemein be=
griindeten Bewufttsein zu bringen, ist der alleinige Sinn
aller beobachtenden, begreifenden und schopferischen Ar»
beit, deren Gesamtresultat die Technologic in ihren ver*
schiedenen Disziplincn zur systematischen wie zur histo*
rischen Darstellung zu bringen hat.
Und diese Wissenschaft ist es, welche derNaturforschung,
wie vicle ihrcr modernen Vcrtreter schon klar genug be*
kannt haben, erst ihre weitere und hohere Aufgabe in
dem Gesamtsystem der Kulturwerte bestimmt. Weil Tech=
nologie und reine Naturforschung eben praktisch untrenn=
bar sind, so sind sie in der Tat auch niemals in der KuU
turgeschichte als etwas absolut Besondcres, fur sich Be=
stehendes aufgetreten. Nur eine voriibergehende Storung
der urspriinglichcn Harmonic, die wir bei den klassischen
Erfindern und Forschern in so vollendeter Weise verwirk=
licht finden, konnte in unseren Tagen des Spezialistentums
den Anschein erwecken, als ob es sich hierbei um eine
innere Wesensverschiedenheit, um kulturclle Rangunter=
schiede handelte.
Aber die Gcgenwart begrcift bereits den Irrtum, und
sie sieht den Irrweg, welchcn die Naturwissenschaft be=
schreiten wiirde, wollte sie etwa, dem Aristotelischen Ideal
gema*5, angesichts der Natur nur schaucn und denken
schlechthin, ohne sich um die hoheren Ziele zu ktimmern,
die ihr doch die lebendige Kultur in dem Grundproblem
der Technik gesetzt hat. — Der Staat jedenfalls hat ganz
recht, wenn er sein Steuergeld fiir diejenigen Zweige der
Naturforschung am reichlichsten flieSen la'St, die etwas
an dcr Natur erforschen, woraus sich Lebenswerte schaffen
lassen.
Bci cinigcr Bcsinnung muB und wird es auch jcdem
reinen Naturwissenschaftler klar werden, daB es uns doch
wirklich vollig eincrlci sein kann, ob nun diesc odcr andcre
Naturgesctze gclten, ob cs 50 oder 100 chemischc Elcmcnte
gibt, 1700 odcr 24 ooo Inscktcngattungcn. Hingegcn habcn
wir, je alter die Menschheit wird, ein immcr groBeres
Interesse an der Kardinalfrage, welche technischen Moglich-
keiten in unserem Verhaltnis zur Natur noch versteckt sind.
1st die Raumschiffahrt moglich? Konncn Encrgien auf
bishcrig vollig unbekanntc Arten umgewandelt werden?
Sind Elemente aus andercn und aus Urelementen erzeug-
bar? Lassen sich kunstliche Nahrungsmittel, kiinstliche
Korperteile, kunstliche Zcllen herstellen? Kann man in die
Vergangenheit blicken? Und das groBte Ratsel: Konnen
Gedankcn unmittelbar auf Materie (Gehirne) wirken? —
Das sind einige von den hochsten Problemcn, um die sich
die Naturwissenschaft im Bunde mit dcr Technik in Zu=
kunft abzumuhen haben wird !
Gott sei Dank verliert die akademische Jugend allmah*
lich den Geschmack an den pessimistischen, monchischen,
lebensmiiden Ideen der alten Zeit. Unsere Brut von 1900,
diese braungebrannten Bengels mit blitzenden Augen und
hochgereckten Ha'lsen scheinen das richtige Gefuhl fiir die
Wahrheit des Lebens, den Instinkt fur die Zukunft zu
haben.
Der wissenschaftliche Forscher, dcr ein wirklicher Kultur-
bildner sein will, muB sein Werk und Strcben, bci allcr
Griindlichkeit dcr speziellen Arbeit, in sinnvollen Zu»
sammcnhang zu bringen suchcn mit dcm groBcn Ganzen,
das sich im Strome der menschlichen Geschichte entfaltet,
to Ztchimrocr, Philo.ophic dcr Technik
145
nach incinandergreifcnden und sich organisch aufeinander
beziehenden Idecn, gleichsam wie die Wurzeln, Blatter und
Bliiten des Baumes, dessen ganzes Wcsen und Sinn in deren
Vcreinigung zum harmonischen Ausdruck kommt.
Anstatt des vergeblichen Wahnes so vieler Naturforscher,
aus ihrer lediglich das natiirliche Sein betreffenden Wissen*
schaft heraus alle Weltratsel losen zu konnen, indem sic
sich auf die rein beschauliche Betrachtung der Welt, wie
sie in natura 1st, beschranken, sollten sie endlich die Wahr=
heit erkennen lernen, die der grofte Freiheitskampfer
Fichte1 von der Bestimmung des Menschen gelehrt hat:
,,Auf mein Tun muB all mein Denken sich beziehen, muB
sich als, wenn auch entferntes Mittel fiir diesen Zweck be=
trachten lassen ; auBerdem ist es ein leeres zwcckloscs Spiel,
ist es Kraft und Zeitverschwendung und Verbildung eines
edlen Vermogens, das mir zu einer ganz anderen Arbeit
gegeben ist."
1 J. G. Fichte, wie Seite 83 crwahnt.
146
DAS KULTURBILD DER ZUKUNFT
Jede Zeit hat ihrc Ideale, sagt ein bekanntcr Satz. Aber
wie viele verstehen ihn? Wie vielc plappern nicht das
schone Wort Ideal nach, ohne sich etwas Klarcs dabci zu
dcnkcn? Wie viele reden nicht von der Notwendigkeit des
Idealismus und haben doch selbst keine Ahnung, was
Idealismus ist?
I Versuchen wir den Inhalt des Satzes scharfer zu erfassen !
Hierzu bitte ich um etwas Geduld. Es wird sich bald
zeigen, wie sich die Dinge hart im Raume stoften, wenn
der Geist fehlt, der Vernunft in ihre Entwicklung bringt.
Und dann werden wir an den Tatsachen begreifen, was
es mit den Idealen auf sich hat. — Aber zuerst gilt es
hier, deutliche und prazise Begriffe zu gewinnen; unmog*
lich sonst, inmitten der Widerspriiche, die man an alien
Ecken und Enden iiber die Technik hort, auf festem
Boden zu stehen.
Tdeale als Bilder der Zukunft setzen Ideen voraus. Ideen
Isind, wie wir gesehen haben (S. 17), letztgultige Grund«
begriffe: Allgemeinste, selbstandige Leitgedanken, unter
denen die historische Wirklichkeit als sinnvolles Ge*
schehen — d. h. eben als Kulturgeschichte im Gegensatze
zu chaotischer Wildheit der psychophysischen Tatsachen
— begreiflich erscheint.
Die Idee der Naturwissenschaft, zeigt Munch1, hat in den
Augen der Kulturlogik nichts voraus vor anderen Ideen.
Die Naturwissenschaft will Erkenntnis aus Gesetzen schaf=
fen. Sie will die funktionale Systematik des materiellen
Geschehens in Raum und Zeit in seiner Besonderung
1 F. Munch, wie Seitc 25 erwahnt.
'47
entdecken und darstellcn. ,,Gegenstandlichkeit" oder wis«
senschaftlichc ,,TatsachIichkeit" besitzt fiir sie allcs, was
mit der sinnlichcn Anschauung in einem einzigcn Deters
minationszusammenhange, d. h. unter gemeinsamen Ge*
setzen begreiflich ist. — Wissenschaft iiberhaupt als Ideal
zu wollen, heiftt also diese Erkenntnisidee ergreifen, um sie
an den entdeckten Anschauungen zu realisieren.
Dasselbe gilt von der Kunst. Auch ihre Idee — die Ge*
staltung um der Schonheit willen — hat kulturlogisch kein
Vorrecht vor den anderen zu beanspruchen. Vom Stand=
punkt der objektiven Geschichtslogik ist Kunst die Ver=
wirklichung eines unter moglichen Grundgedanken, die
von schaffenden Menschen ergriffen und in ihren Werken
in konkrete Form gekleidet werden.
Und ebenso steht es mit der Ethik. Kein Ethiker vermag
das Vorrecht zu beweisen, wonach seine Idee — das Leben
nach sittlichen Prinzipien zu gestalten — die wertvollste,
die hochste sei, oder die gar, wie fanatische Sittlichkeits-
apostel glauben, ohne alle anderen Ideen genugen miiftte.
Auch die Idee der Ethik gehort zu den logisch gleichberech-
tigten Grundgedanken des Lebens, die von aktuellen Sub=
jekten frei zu den ihrigen, d. h. zu Prinzipien ihrer Hand=
lungen gemacht werden konnen, ohne jedoch, insofern sie
Ideen sincl, objektiv mehr zu bedeuten als alle anderen.
Die objektive Wertkritik des menschlichen Schaffens hat eben
nichts mit subjektiver Bewertung zu tun. Ideen leuchten uns
ein im historischen Prozesse. Sie sind fiir den Kulturlogiker
in demselben Sinne ,,Werte", wie fiir den Naturforscher die
Naturkonstanten Werte sind, mit denen er bei der Theorie
des Naturgeschehens zu rechnen hat (Munch).
Die abstrakten Grundwerte, auf welche die wkritische
Geschichtsphilosophie" ihre Tatsachlichkeiten bezieht,
148
wcrden allcrdings von den in dcr Geschichte tatigen Sub=
jckten anfangs so wenig gewufct, wic die Steinc um das
Fallgesctz wissen. Obwohl die Menschen oft durch Jahr=
tausende hindurch einer Idee gedient hatten, war ihnen
noch nicht klar geworden, was sie im Grunde tun. Aber der
Geschichtsphilosoph sieht das, er ist dazu da.
Die Geschichte, in ihrer Vollendung gedacht, ist somit,
wie Munch1 sagt, ,,das System der zeitlosen Grundwerte,
gebrochen im Prisma ihrer zeitlichen Entwicklung im und
durch das Wertbewufitsein endlicher und diskursiv organi=
sierter (sinnlich-geistiger) Subjekte." Der Geschichtsphilo=
soph sieht den objektiven Sinn der Kultur, das System der
Ideen, als jene vielstrahligen Grundgemeinsamkeiten, die das
Schaffen der Generationen ahnlich begreiflich machen wie
die Arten das organische Leben, welches in seiner natiir=
lichen konkreten Formenfiille deren Grundgedanken im
Verlaufe der Entwicklungsgeschichte immer wiederzu wol=
len scheint, was — nur freilich ohne Absicht — so geschieht,
als wa'ren die Tiere und Pflanzen ihre eigenen Schopfer2.
Dagegen treten nun in der Subjektbezogenheit der Ideen
neue Momente hervor, die auch der objektiven Ge=
schichsbetrachtung keineswegs gleichgilltig sein konnen.
Denn die Geschichte geschieht nicht, wenn sie nicht ge=
macht wird.
In den Aufjerungen der handelnden Subjekte manifestie=
ren sich die Ideen gleichsam gema'S einer Resultierenden
aus den im Kampf der Motive entwickelten Kraften. Jedes
Subjekt will, was es will, dunkel Oder klar gewufiten Ideen zu-
1 F. Munch, wie Scitc 25 erwahnt. * Dieses Bild hat H. Bergson
in rcizvollcr Weisc ausgcfiihrt. Vgl. scin Scite 23 crwahntes
Hauptwcrk.
149
Hebe tun — es hat bestimmte Ideate. Und hicrmit crgibt sich
dcr gcnaue Sinn des Satzcs, daft jedc Zeit ihrc Ideale habe.
Er bedeutet, ausfiihrlichcr gesagt: Wir erkcnncn in jcdcr
Zeitcpoche cine als Resultat der subjektiven Wertordnung
hcrvorgchende Bevorzugung und Rangordnung der Ideen
in dem Bewufttsein gewisser Volker, Klassen oder einzeU
ner Fiihrer und Helden der Geschichte. Konstruieren sich
diese hiernach ihr Kulturbild der Zukunft, so entstehn die
herrschenden „ Ideale".
,,Jedes Zeitalter hat", wie Ewald1 sagt, ,,seine spezifische
Aufgabe, deren restlose Erftillung ihm ebenso zur hochsten
Notwendigkeit erwachst wie dem einzelnen Menschen die
vollendete Gestaltung seiner Personlichkeit." — Jede Zeit
bringt, wie der einzelne Mensch, gewisse Ideen in ihrem
Leben zur Herrschaft; ihr Schaffen und Ziel konzentriert
sich auf die Verwirklichung dieser erwahlten Leitsterne,
ohne daft die anderen ihr darum vollig verborgen blieben.
Nur finden sie zurzeit kein starkes aktuelles Interesse; sie
treten fur die handelnden Subjekte vor jenen bevorzugten
Zeitideen im Range zuriick. Denn, wie Schopenhauer2 sagt:
,,Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern
was sie fur uns, in unserer Auffassung sind, macht uns
glucklich oder ungliicklich."
Es scheint fast eine historische Regel zu sein: Wenn
aktuelle Ideen eine Zeit lang die anderen in den Schat=
ten stellen, so gewinnen die letzteren eine neue, gleichsam
latente Spannkraft, und iiber kurz oder lang schlagt der
Gang der Dinge um. Das Kulturleben pulsiert. Ja, die Ge=
schichte bringt oft ruckweise eine neue Idee zur Aktualitat,
1 0. Ewald, wie Scitc 43 crwahnt. • A. Schopenhauer, Apho-
rismen zur Lebensweisheit. Inselverlag, Leipzig.
150
wahrend die alten, zur Vcrwunderung und zum Arger der
herrschenden Idealistcn, well altersschwach, am Ein=
schlummcrn, wcnn auch nicht geradc am Sterbcn sind.
Denn sterben konnen Ideen niemals, sie sind zeitlos — wcnn
auch ihr Bewufttsein im Volkc oft bloft dammcrt odcr
schlaft. Dies alles hat Hegel1 groftartig ausgefiihrt.
Es scheint ferner, als ob die Pulsschlage des Kulturlebens
mit fortschreitender Reife der Menschheit immer kiirzer
und dadurch fur die Zeitgenossen immer fiihlbarer wiirden.
So kommt es noch dahin, daft die rhythmische Bewegung
der idealen Interessen formlich vibriert und der einzelne
Mensch wahrend seines Lebens nicht nur einige, sondern
alle Ideale zu Zeitidealen werden sieht, ja daft alle zu seiner
Zeit gleichzeitig um das Dasein kampfen.
Und so sollte es im Interesse der Kultur iiberhaupt sein !
Wir alle leben mehr oder weniger klar in der Grundidee,
daft das menschliche Leben in seiner Gesamtheit cine voll=
kommen entwickelte Form seiner Freiheit haben sollte und
daft jeder Mensch in dem harmonischen Bewufctsein des
dynamischen Gleichgewichts alter gegenstrebigen Krdfte der
Kultur am vollkommensten lebte.
Schon Heraklit2 hatte das deutliche Bewufttsein von die=
ser ,,ldee der Ideen", wenn er die ,,Harmonie" im Kampfe
der Gegensatze fiir das hochste hielt. Aus ihr entwickelte
das Griechentum, soweit es ihm moglich war, seine Bliite=
zeit. — Und unsere Zeit sollte dafiir zu kiimmerlich sein?
* G. F. W. Hegel, wic Seitc 25. - Da Hegel der Vater der
modcrncn Sozialdcmokratie 1st, so sollte man dieses, sein ein»
flufireichstes Wcrk lescn. Wo sich Hegels Darstellung meta=
physisch verfinstert hat, geniigt oft cine geringe Korrektur,
um sie auch fiir den kritischen Antimetaphysiker geniefibar
zu machen. a Heraklits Fragmente, in den ,,Vorsokratikern".
E. Diederichs, Jena.
Die Kulturpessimisten behaupten cs freilich : Wir gchcn
an der Technik zugrunde, meinen sic; die Technik ruiniert
die Kultur. — Horen wir uns die Klagelieder dieser Wie=
dergeborenen Schopenhauers an, und priifen wir ihre Kri*
tik der Technik auf sachliche Richtigkeit!
Die Technik, behauptet Lenz1 wie viele andere, ,,ver«
mag nicht aus eigener Kraft das Reich des Idealen zu
gestalten. Ihre Kunst bewahrt sich, um die Masscn zu bc=
zwingcn, die Ideen zu verbreiten, Starke in alien Spharen
des Daseins zu erzeugen; aber dem Reiche der Ideen gcgcn=
iibcr ist sie an sich neutral. UnermeBlich in ihrer Bedeu=
tung als Hilfskraft, ist sie an sich selbst ohnmachtig, sobald
es gilt, den Tiefen des Lebens nachzugehen. Sie kann schaf=
fen, hemmen und zerstoren, den Geistern des Fortschritts
dienen und denen der Verneinung . . ."
Was hat man denn, fragt dagegen Wendt1, im Sinne
dieses Kulturkritikers unter dem „ Reich des Idealen" zu
verstehen? ,,Ist es die Philosophic im Hegel schen Sinne,
welche der Verfasser verstanden wissen will, wenn er
von der Aufgabe spricht, ,das Reich des Idealen' zu
gestalten? Beschrankt die Leistung seiner Muse sich auf
das nachtragliche Erkennen, so kann die Technik in
bedingter Weisc einverstanden scin; denn wahrend sie
selbst das Leben baut, sucht die Geschichte nur zu regi=
striercn."
Das letztere ist zwar nicht ganz zutreffcnd ; denn es gibt
bekanntlich auch cine Geschichtswissenschaft, die zu ver-
stehen sucht, analog der erklarenden im Gegensatz zur rein
beschreibenden, registrierenden Naturwissenschaft. Wohl
aber sagt Wendt mit Recht, es schcinc doch, als wenn die
1 Lenz, Zitat von Wendt, wie Seite 36 erwahnt.
15*
Technik cbcnfalls ,,ein Vermogen besitze, ,das Reich dcs
Idealen zu gestalten', und obendrein im Zusammenhang
mit dem realen Leben und nicht nur im Erkennen wie die
Philosophic und die Geschichte."
Hier finden auch wir, mit Wendt iibereinstimmend, den
Punkt, an welchem die Kritik an den Kritikern der Tech=
nik, im besonderen die Kritik des Unsinns iiber die Tech=
nik einzusetzen hat.
Die meisten Kulturphilosophen, die sich iiber die Techs
nik gea'ufiert haben, sind in bezug auf diese ideenblind.
Mit Blinden kann man nicht iiber die Gesichtswelt reden.
Aber der Erzfehler steckt (auch bei manchen Nichtblinden) in
der Verwechslung ihrer subjektiven personlichen Wertung und
Rangstufung der Ideen mit objektiver, kulturlogischer Erkennt-
nis, d. h. in dem Mangel an Einsicht auf Grund allgemeiner,
im Prozesse der ganzen Kulturentwicklung einleuchtender,
logischer Beziehungen innerhalb der an sich sinnlosen An-
schaulichkeit der registrierten Tatsachen.
Die ,,objektive Wertung" mufi selbstverstandlich auch den
Fehler vermeiden, deshalb Rangstufen unter den Ideen
einfiihren zu wollen, weil ctwa die eine, z. B. die Idee der
materiellen Freiheit — historisch betrachtet, biologisch be-
trachtet, soziologisch betrachtet — vor den andern, z. B.
den Ideen der Kunst, der Wissenschaft, der Ethik usw.,
rangiert.
Ich glaube ja auch mit Wendt1: ,,Wenn heute ein Gott
herniederstiege und die Menschheit fragte, ob sic lieber
die Handworker missen wollc oder die Gelehrten, sie wiirdc
mit lautem einstimmigen Geschrei die Gelehrten aus dem
Tempel des Staates jagen !" — Aber das darf uns Tech=
niker nicht dazu verleiten, die schopferische Arbeit der nur
1 U. Wendt, wie Seitc 36 erwahnt.
crkcnnenden Wisscnschaft geringer zu bewerten als unscr
fiir die Kultur natiirlich am ersten notwcndiges Schaffen.
Rein logisch genommen ist cine Rangabstufung der Ideen
sinnlos. Entweder ein allgemeiner Begriff als Ziel mensch=
licher Tatigkeit ist eine Idee, d. h. er ist ein aus anderen
nicht ableitbarer, im Zwecke gewollter Grundgedanke,
oder er ist es nicht. ,,Rdnge" gibt es im Reiche der Ideen
nicht I
Nun zeigt sich in der neueren Zeit allerdings eine Era
scheinung auf dem Felde der technischen Arbeit, an
der auch der Techniker verniinftigerweise den argsten An*
stoft nehmen muf). Ich meine jene gewissenlose, natur*
und menschenunwiirdige Ausnutzung erfinderischer Ge=
danken im Dienste eines kulturblinden Wirtschaftsbetriebes,
der lediglich das Prinzip ungehinderter Erzeugung ,,wirt-
schaftlicher Werte" gelten laftt, unbekiimmert um die
Wahrung oder Forderung der anderen Kulturwerte. Aber
ich frage: 7s/ dieser anarchistische, ideenlose Wirtschafts-
betrieb die notwendige Konsequenz der Technik? — Nein!
Es ist die ruckstandige, faule Staatsleitung, die hier an*
zuklagen ist.
Freilich ware es feige und scheinheilig von uns Tech*
nikern, wollten wir diese bedauerliche Begleiterscheinung
der Industrie ganzlich von uns abschiitteln. Energisch ver-
wahren miissen wir uns nur gegen kritiklose Werturteile
gewisser Kulturphilosophen, die von einer unverniinftigen
Wirtschaftsform auf den Kulturwert der schopferischen
Technik an sich schliefien und die also das Ideal, das
der Techniker im Dienste der Menschheit zu realisieren
sucht, verwechseln mit den egoistischen Zielen kultur*
feindlicher Spekulanten. Selbst der schimpflichste
154
brauch der von uns crstrcbten materiellen Frcihcit wiirde
noch nicht das Geringste gegen den Kulturwert dcr Tcchnik
an sich besagen !
1( Jipbrauch der Technik frcilich sehcn wir noch, wo»
2 YA hin wir hcute in dcr Industrie blicken. Solange eben
die Verfugung iiber die von den Erfindern errungenen
Mittel in den Ha'nden uneingeschrankter, in ihren gei=
stigen und moralischen Qualitaten unbesehener Geldbe*
sitzer licgt, konnen sich die Dinge schwerlich anders ent=
wickeln. Amerika zeigt uns, wohin es auch bei uns einst
kommen wiirde — wenn es so weiterginge. Aber das Ge»
wissen eines kulturell so hochstehenden, innerlich befreiten
und so selbstbewuftten Volkes, wie des deutschen, erhebt
den energischsten Protest dagegen. Und so werden, wenigs
stens in absehbarer Zeit, der Staat, in erster Linie aber
die Gemeinden, Schritt vor Schritt auf die vernunftgemafie
Disposition des Wirtschaftsbetriebes einzuwirken haben.
Horen wir nur, was Wells1, ein begeisterter Freund der
Amerikaner, iiber die Industrie in Chicago und Umgegend
berichtet, und wir haben ein Bild des Manchestertums,
wie es im Buche steht:
,,Chicago//, sagt Wells, /;ist die vollendetste Darstellung
des individualistischen Industriewesens des neunzehnten
Jahrhunderts, die mir je in all ihrer ungeheuren, groft3
ziigigen Unschonheit begegnet ist . . . Es ist die grobe, aus
wildestem Wettbewerb hervorgegangene, wiirdelose, un=
intelligente Entfaltung materiellen Reichtums . . . Alles,
was in Amerika, in Lancashire, im siidlichen und west*
lichen London, am Pas de Calais, im westlichen PreuSen
1 H. G. Wells, Die Zukunft in Amerika. tlbersetzt von P. Fohr.
E. Diederichs, Jena 1911.
ha'BHch ist, gehort hierher, kommt auf Rcchnung des
Drangens und Stoftens, des unintelligentcn Gebarens un»
gebildeter, moralisch abgcstumpfter Menschen."
Und die nahere Beschreibung dazu: ^Chicago brennt
bituminose Kohle, und der Dunst ist dort noch arger als
in London; zu beiden Seiten der Bahn erheben sich un=
geheure Fabrikschlote, grofte rauchgeschwarzte Getreide=
elevatoren, flammengekronte Schmelzofen und ungestalte,
haftliche, schmutzige Fabrikgebaude; uberall unformige
Haufen von Abfallen, verwahrloste, leere Grundstiicke,
auf denen rostige Blechbiichsen, altes Eisen und unbe=
schreiblicher Kehricht umherliegen; dazwischen Gruppen
schmutziger, verdachtiger und krankheitsgefahrlich aus=
sehender Holzhauser ..."
Ich frage aber nochmals : Ist dieser Schauplatz blindester
Geldgier etwa die Manifestation der Technik? Der Tech=>
nik, in der wir Idealisten — welche grimmige Ironic! —
die materielle Freiheit des Menschengeschlechts verwirk=
licht sehen mochten? — Es ist ihr grafilichster wirtschaft=
licher Miftbrauch, derselbe MiBbrauch, der die Kirchen
und Kunsttempel zu Folterkammern und Geschaftshau=
sern machte. Wir sehen hier nur, wie die Amerikaner ihr
Gotzenbild, den Mammon, mit Hilfe der Technik verehren.
,,Der Morgen aber kommt" — ruft Wells trotz seiner
Schilderung am Ende aus — ; ,,auch mitten im dustern,
schmutzigen Chicago gewahrt das Auge des Hoffnungsfreu*
digen das Licht einer neuen Zeit; es sieht neue Anschauun=
gen, groBere Umsicht, auf das Grofie und Ganze gerichtete
Entwurfe und die zu ihrer Verwirklichung gehorende Diszi=
plinierung kommen; es sieht aus all dem faulenden Diinger
der Gegenwart das frische, grune Laub der Riesengewachse
einer geordneteren und schoneren Zeit aufsprossen."
156
Wells ist ein Mann der Zukunft. Er hat den Mut zu
sehen, daft die technische Entwicklung nicht mit Notwens
digkeit diese Scheufilichkeiten hervorgebracht hat, daft im
Gegenteil die Technik die einzige Macht sein wird, um sie
aus dem Wege zu ra'umen.
,,Nicht unser Fehler ist es", sagte schonEy//!1, ,,da& die
Fortschritte des technischen Schaffens hundertfach mi§»
braucht wurden, auch nicht, daft ihre Folgen mit den Ge=
wohnheiten eines scheidenden Geschlechts nicht immer
und nicht sofort harmonisieren. — Wo solche Dissonan=
zen voriibergehend auftreten, sind wir nicht mit alien ver*
ftigbaren Mitteln sofort an der Arbeit, eine neue Harmonic
herzustellen ? Und ist dies gelungen, ist dann nicht jedesmal
die Menschheit um einen Schritt vorwarts gekommen?"
Aber die Kulturpessimisten geraten bei den Dissonanzen
eines entarteten Wirtschaftslebens mit der Natur und KuU
tur schier in Verzweiflung — wie alle Pessimisten bei
jedem Fehler, den die Welt zeigt, sogleich am ganzen Da*
sein verzweifeln.
Du Bois-Reymond2 trostet uns noch hoffnungsvoll iiber
die Zukunft der Industrialisierung: ,,Die Menschheit kann
von Glilck sagen, meint er, daft das Klima und die Boden=
beschaffenheit eines groften Teiles der Erdoberlache dies
sem unaufhaltsamen Wachstum erfolgreich widersteht.
Sonst wurden unsere Nachkommen statt der Baume nur
noch Schlote und Telegraphenstangen kennen, statt der
Fliisse nur noch Frachtkanale und statt der Berge nur noch
die Halden der Hiittenabfalle."
Dagegen gera't Auburtin3 ganz aus dem Hauschen:
1 M. Eyth, wie Seitc 42 crwahnt. * A. Du Bois-Reymond, wie
Scite 102 erwahnt. s V. Auburtin, Die Kunststirbt. A. Langen,
Miinchcn 1911.
,,Gebirge wurden aufgerissen, Provinzen bedeckten sich
mit Rufi und mit cklen, graucn Hauserreihen, in denen eine
elende Arbciterschaft wie Ameisenvolker lebt ..."
,,Der Rheinstrom wurde der Nutzlichkeit gcopfcrt, Rom
wurde dem ,technischen Fortschritt' gcopfcrt . . . Eine
Welt ohnc Rhcin, cine Welt ohne Rom, dcnke dies durch,
Frcund Leser, und du ftihlst, wie es Nacht wird. Die grofte
cine Nacht, dcr wir alle entgegengehen. — "
Schlimm, sehr schlimm! Aber man rede doch nicht von
Opfern, die hier dcm ntechnischen Fortschritt" gebracht
wurden! — ,,Ein greulicher Fehler," sagt Sombar^s^r
richtig, ,,der heutzutage immer wieder begangen wird, ist,
daft man den technischen Einfluft (auf die Kulturentwick=
lung) von anderen Einfliissen nicht sondert, z. B. von dem
Einflug der Wirtschaft." Die treibcnden Machtc des Wirt=
schaftslebens bringcn unleugbar allzuoft Zustande hervor,
die gewift als hochst bedauerlich zu bezeichnen sind. Abcr
das hat mit dem Wesen der Technik ebensowcnig zu tun
wie mit dem Wesen der Kunst oder des Rechtcs, welches
hier oft in brutaler Weise verlctzt wird.
Es rnufi freilich schon gewescn scin, klagt auch Wells2,
wcnn man nach einsamer Tagereise mit cinem Male un«
versehens vor dem Niagara stand! ,,Die Indianer sollen
ihm gottlichc Verehrung erwiesen haben. Das Wunderbarc
verliert sich indessen einigermaSen, wenn man mit der
elektrischcn Bahn dorthin fa'hrt auf ciner Strafie, die von
Droschkcn wimmelt, und wo beutelustige Restaurants,
Verkaufsbuden fur ,Andenken' und zudringliche Fiihrer
einander den Platz streitig machen ... Als Naturschau*
1 W. Sombart, Verhandlungen des erstcn dcutschcn Sozio*
logentagcs, Seite 63. Mohr, Tubingen 191 1 . 2 H. G. Wells, wie
Seite 155 erwahnt.
158
spiel, als Wasserfall zeichnct sich der Niagara hcute nur
mchr durch seine Wassermenge aus. Der Eindruck fiirs
Auge, der Blick auf seine erstaunliche, zur Andacht stim=
mende Grofie und Kraft ist la'ngst unwiederbringlich zer=
stort worden durch die ringsumher entstandenen Hotels,
Fabriken, Kraftstationen, Brucken, Trambahnen und Re=
klametafeln."
Wie anders hatte dies alles aber werden konnen, wenn
hier Technik mil Vernunft zur Herrschaft gekommen ware,
wenn hier cine hohere Initiative aus Kulturinteressen und
nicht der nichtswiirdige Eigennutz von wer weift wie be=
schaffenen Individuen ,,wirtschaftliche Werte" geschaffen
hatte!1
A llerdings fordert das technische Zeitalter vom Men=
./~\schen nachgerade auch einiges Interesse und Ver-
stdndnis fiir die Werke der Technik und ihren tieferen
Sinn. Jedenfalls braucht der Kulturmensch der Zukunft
diese Bildung ebenso notig, wie man von uns Verstandnis
fiir die Kunst und andere Werte verlangt. Die grellen Dis*
sonanzen, die schrillcn Pfeifentone in der Seele des Wan=
derers, der durch Industriegebiete pilgert, werden sich
dann von selbst auf jenes geringste Maft beschranken, das
allein bedingt ist durch die Notwendigkeit des Mitein«
anderbestehens und der Verwirklichung mehrerer Kultur=
ideen zu gleicher Zeit, unter denen die Wildheit der natiir=
lichen Materie vom Menschen umgestaltet wird.
,,Ich bin des Glaubens," sagt Wells, Wda6 alle Natur*
1 Dber die Beriicksichtigung der kiinstlerischen Anforderuns
gen bei ,,Nutzbauten" vgl. den vortrefflichen Aufsatz von
W. Franz, ,,Ingenieurarchitekturen", mit 23 Abbildungen.
Technik u. Wirtschaft, Monatsschrift d. Ver. d. Ingenieure.
3, 321 (1910).
schonheiten dcr ganzcn Welt lediglich als Stoff fur EinbiU
dungskraft und Gcist zu diencn bcstimmt ist, Andcutung
und Anweisung zu liefcrn hat fur Kunst und menschliches
Schaffcn . . . Der Mensch lebt um dcr schopferischen
Tatigkeit willcn, und cr mufc doch wohl schlieftlich als
Schopfer handcln, es bliebe ihm ja sonst nichts zu tun
iibrig . . . Ich fur mcinen Teil kann den Verlust all des zu=
falligen, zwecklosen Schonen ohnc Groll mit ansehen, das
fur die Schonheit kiinftiger hoher Ordnung, edlen Strebens
dahingeht . . . Die Dynamos und Stollen der ,Niagara=
Wasserkraftgesellschaft' haben mir . . . einen viel tieferen
Eindruck gemacht als die Grotte der Winde; sic sind, so
will mir scheinen, grofcer und schoner als dieser Luft*
wirbel, die Begleiterscheinungen sttirzender Gewasser.
Sie sind sichtbar gewordener Wille, Gedanken, die man in
frei arbeitende und kraftgebietende Dinge iibersetzt hat.
Sie sind sauber, gerauschlos und das Urbild der Kraft.
Das Gerassel und der Tumult aus der Kindheit des Ma=
schinenwesens ist hierendgiiltigabgetan; hier gibt es weder
Rauch, noch Kohlenstaub, noch irgendwelchen Schmutz.
1m Turbinenschacht, in den man hinabsteigt, herrscht eine
fast klosterliche Stille um die leise summenden Turbinen.
Diese sind wirklich herrliche Maschinenmassen, riesige,
schwarze, schlummernde Ungeheuer, grofie, schlafende
Kreisel, die traumend unwiderstehliche Krafte erzeugen."
Und dann frage man sich doch : Wiirde denn ein mafi=
loses, planloses Sichdurchsetzen der gottlichen Idee der
Kunst nicht genau dieselben Dissonanzen hervorrufen
wie die Idee der Technik, wo sie in wilder, ziigelloser Form
im Dienste des Wirtschaftslebens verwirklicht wird?
Man stelle sich nur einmal vor, wenn es keinen Ort auf
der griinen Erde mehr gabe, kein Platzchen in der stillen
160
Natur, wo nicht in hochst kiinstlerischer Weise musiziert
oder Theater gespielt wurde, wenn jeder Pels, jeder Baum=
stamm von abgestrichenen Olfarben der Landschaftsmaler
erglanzte, wenn alle uns sichtbaren Mitteilungen in kunst*
voll gesetzte Reime gebracht wiirden ! Die Naturvernich=
tung unc die Verfolgung durch die wildgewordenen
Kiinstler wiirde uns ebenso verhaftt sein, wie der unsin=
nige Amerikanismus der Technik — das Werk jener ver»
abscheuungswurdigen Spekulanten, die im Begriffe sind,
ein herrliches Land zu verwiisten !
Aaer es gibt noch etwas viel, viel Schlimmeres ! Und
das, meinen unsere Pessimisten, habe nun die Tech*
nik wirklich selbst auf dem Gewissen : Erstens den starken
Anreiz zu unpersonlicher technischer Arbeit und zweitens
die Verfiihrung zu einem rein materialistischen Lebens=
genusse, als dessen notwendige Folge sic die vollige see=
lische Verodung des Kulturmenschen der Zukunft zu
erblicken glauben.
,,Die Zukunft", sagt Auburtin1 kurz, ,,wird keine Person*
lichkeiten dulden und ertragen", wie ahnlich v. Mayer2
an vielen Stellen seines Werkes, zu denen wir diese noch
fiigen : ,,Entpersdnlichung, das ist der letzte Geist der Tech-
nik, besonders deutlich in der gewerblichen GroBtechnik,
aber nicht minder deutlich im offentlichen Leben, das von
der Technik Gnaden, in der Technik Diensten ist."
Jedoch die weiteren Schliisse Auburtins iibertreffen noch
die starksten v. AJayfr'schen Sa'tze an grotesker Drastik.
Sie sind kostbar: ,,Es wird gearbeitet, damit gefressen
werden kann, und es wird gefressen, damit gearbeitet
1 V. Auburtin, wie Seite 157 erwahnt. a E. v. Mayer, wie Seite
46 erwahnt.
n Ztchimmcr, Philoiophie der Tcchnik 1°1
werden kann. Und cs wird mit grofiter Sorgfalt die Brut
gcpflcgt, damit die nachste Generation nicht etwa aus der
Art schlage, sondern es ersprieftlich genau so treibe, wie
die gegenwartige. — So werden wir, so sind wir schon.
Unsere Spezies geht einer Verameisung entgegen. Wie
bei den Ameisen und Bienen der Staat alles, die Personlich«
keit nichts ist, wie bei ihnen die Frefts und Greiforgane
auf Kosten des verkiimmernden Gehirnes sich entwickel*
ten, so wird es auch bei uns geschehen, die wir unser Heil
auf das Diimmste und Gemeinste gcstcllt haben, auf die
Arbeit. — All das Feine und Leise, das der Mufte und dem
Eigensinn des Individuums entbliihte, das wird verkiim=
mert; schon in der Schule den Rotznasen die Niitzlichkeit
als das Hochste gepriesen; das ganze Leben darauf eingc=
richtet, ja keine Minute zu vertraumen, ja die Zeit fleifiig
zu verhammern und zu verpochen, ja immer mitten im
wimmelnden Haufen zu bleiben." Das ist gewiS starker
Tobak!
Doch gehen wir nun zum andern — zur ,,Verodung
der Seele".
Herr Auburtin iibertrifft in seinen Urteilen stets alles
bisher Dagewesene. Das Herrlichste, was Menschen je
verehrt haben, werden wir ja alle zugeben, ist die Kunst.
Weil aber das verdammte Ideal der technischen Kultur
immer weitere Kreise zieht, weil unleugbar immer mehr
Technik in die Welt kommt und von den Menschen mit
wahrer Lust genossen wird, so — stirbt die Kunst.
Die Kunst stirbt! Dabei sagt Chamberlain1 ,,Von uns
Germanen soil noch viel Kunst geschaffen werden, und
1 H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts.
10. Aufl. Volksausgabe. Bruckmann, Miinchen 1912.
162
was geschaffen wird, diirfcn wir nicht an dem Maftstab
cincs fremden Friihcrcn messen, sondcrn wir miissen es
vermittcls eincr umfassendcn Kenntnis unserer Eigenart
beurteilen."
Sind dcnn Rodin, Klinger und Hodler, Hauptmann, die
nordischen Dichter, Richard Straufi und Reger nicht unsere
Zeitgenossen, die Gcnossen dcs technischen Zcitalters, die
auch so etwas wie Kunst hcrvorgebracht habcn?
Wieviel richtiger ist doch hicrgegen — ich mcine gegen
den absoluten Pessimismus eines Auburtin — das Urteil
des Metaphysikers Braun1 , dem man gewift nicht viel
Liebe zur Technik zutrauen sollte: ,,Die anfangs als kunst»
feindlich erkannte Technik hat sich ... als kunstfordernd
erwiesen — und der kunstlerische Genufc findet heute
tausendfache Anregung an dem Lichterspiel der GroB-
stadt, der Bahnhofe oder an dem eleganten Schwung der
eisernen Briicken." Und Weber2 meint sogar: ,,Es ist gar
nicht moglich, . . . daft gewisse formale Werte der mo=
dernen Malerei ohne den noch nie in aller Geschichte
menschlichen Augen dargebotenen Eindruck, denjenigen
eigentiimlichen Eindruck, den die moderne Groftstadt
schon am Tag, aber vollends in iiberwaltigender Weise bei
Nacht macht, hatten errungen werden konnen. Und da das
Sichtbare . . . bei jeder modernen Groftstadt bis ins letzte
hinein seine spezifische Eigenart prima'r . . . von der mo*
dernen Technik empfangt, so ist hier allerdings ein Punkt,
an dem die Technik rein als solche sehr weittragend fur die
kunstlerische Kultur Bedeutung hat."
Doch horen wir, was unser Pessimist Auburtin unter
1O. Braun, wie Seitc no erwShnt. « Af. Weber, Verhand-
lungcn des ersten dcutschen Soziologcntages, S. 99. Mohr,
TObingcn 1911.
,,der Kunst" versteht. Die Kunst, die wir die freie nennen,
braucht seiner Ansicht nach ,,den Mutterboden einer
Naivitat, eines Wahnes, einer Erregung, sei diese Erregung
auch noch so verriickt, wie sic will". Das klingt wie ein Be=
kenntnis aus den Kaffeehausern der GroBstadt.
,,Kunst", sagt er, ,,wird von MiiBiggangern gemacht,
handelt von Miifiiggangern und kann nur von Tagedieben
verstanden werden, die auf der Bank im Schatten des
Kastanienbaumes lungern. . . . Die wahre Poesie flieht die
Helligkeit und baut im Dammer des Aberglaubens ihre
korallenen Nester. Sie wispert um die verlorenen Kronen
kranker Kaiser, um tote Steinbischofe im Dom, um das
Greuelblutopfer im Walde, um den ermordeten Konig, der
nachtlich bleich umgeht und die Wache schreckt."
Ich sage nicht, daft das, was Auburtin hier so wunder=
voll zu treffen weiB/ nicht Kunst sei. Aber ,,die Kunst" ist
mir doch viel zu groB, um nicht noch andere Leistungen
zu vollbringen und mit anderen MaBstaben gemessen zu
werden! — Wahnsinnsausbriiche, lyrische Poesie, Mar=
chendichtung und Romankunst, das alles kann etwas Herr=
liches und Unvergleichliches sein — sollte aber alles an=
dere davor in den Staub sinken, nichts sein? — Herr
Auburtin glaubt es selbst nicht! Und er glaubt auch nicht,
daB das der Kunst bevorsteht, was er, verargert durch die
Erscheinungen des Wirtschaftslebens, prophezeien zu miis=
sen fur notig halt:
,,Die Kunst stirbt, weil sic ihre Vorwurfe und ihre stillen
Zuhorer zu verlieren im Begriffe ist. Weil die Quellen, aus
denen sie gespeist wurde, verschuttet werden : die Leiden=
schaft, die Stille der gutgestimmten Stunde, das Flimmern
der ostlichen Marchen, die konigliche Gebarde des Er*
oberers und der Segen eines verlogenen Pfaffen im ver*
.64
dammernden Hciligtum. Weil das alles cincr modernen
Niitzlichkeit geopfert wurdc. Weil die Welt hygienisch mil
Olfarbe angestrichen wurde von einem Ende zum anderen.
Weil der Waldbach, an dem die Najade traumte, nun unge=
mein praktisch dazu verwendet wird, die Abwasser der
chcmikalischen Fabrik von Hannemann & Co. zu Tale zu
fiihren. Deshalb stirbt die Kunst."
Das Wichtigste, was Auburtin als Argument in seine
Sache zu stellen hat, ist dieses, ,,daft die Leidenschaft
stirbt, und daft deshalb auch die Kunst sterben muft, die
eine Sache der Leidenschaft ist ... Weder ein Shakespeare,
noch eine Sappho waren heute noch moglich . . . Shake-
speare konnte wirklich hineinfassen ins voile Menschen=
leben. Wir aber, wo wir's packen, da fassen wir eine alte
Konservenbiichse." — Ich denkc, c'as geniigt!
Nachdem sich meine Leser vom Lachen iiber diese
wirklich ganz entzuckende Prognose eines leiden*
schaftlichen Feindes der Technik erholt haben, wollen wir
weitergehen mit der Ruhe und Gelassenheit von Leuten,
die wissen, daft sie etwas geschafft haben — mogen andere
sich zurzeit in unserer Welt noch zu krank ftihlen, um mit
Vernunft darin zu leben, oder zu schwach, um ihr eigenes
Werk mit derselben Kraft dagegen zu stellen, wie wir
das tun.
Ich frage: Bringt die Technik die bosen Menschen her=
vor? Will man verlangen, daft sie auBcr ihren groften
Schopfungen auch noch diejenigen Exemplare der Spezies
homo sapiens verbessern soil, die nicht imstande sind, sich
menschenwiirdig zu gebarden? —
Es ist wohl selbstverstandlich, daft hierum die tiichtigen
Vertreter anderer Kulturideen bemuht werden muftten,
165
nicht die Ingenicurc odcr Chemiker. An jencn liegt cs doch
allein, wenn ihrc gcistige Energic zurzeit noch zu klein ist,
um crfolgrcich mitzubauen an cincr ncucn Kultur, die
ihren Untergrund mit eiserner Notwendigkeit in der
schnellsten Fortentwicklung der Technik finden muf).
Gegen die Folgen des technischen Fortschritts aber,
sagen unsere Feinde, ist kein Kraut gewachsen. Der mo*
derne Mensch leidet unheilbar an der Krankheit seiner Ar»
beit und seiner Umgebung, und daran wird er seelisch
zugrunde gehen.
Allerdings, das wird zugegeben, die Menschen werden
durch die Technik intellektueller, geistiger, objektiver. Aber
,,Geist und Seele", sagt Schultze1, ,,sind nicht gleich*
bedeutend. Es gibt manche aufierordentlich kluge Men»
schen, denen doch wichtige seelische Eigenschaften fehlen.
Und aller geistige Fortschritt wird die Menschheit un«
befriedigt lasscn, wenn er nicht in enger Verbindung mit
den wichtigsten Grundelementen unseres Seelen= und
Gemiitslebens steht." Und dieses eben sind wir auf dem
besten Wege durch die Technik zu verlieren. lfEine der
bedeutendsten Erscheinungen der Gegenwart", konstatiert
Schultze kurz und trocken, ,,ist die Entseelung unseres Lebens."
Auch Simmel2 meint: In der Gegenwart, ,,in der das
Vorwiegen der Technik ersichtlich ein Uberwiegen des
klaren, intelligenten Bewufttseins — als Ursache, wie als
Folge — bedeutet", wird alle ,,Geistigkeit und Sammlung
der Seele von der lauten Pracht des naturwissenschaftlich=
technischen Zeitalters tibertaubt und racht sich als ein
dumpfes Gefiihl von Spannung und unorientierter Sehn=
sucht; als ein Gefiihl, als la'ge der ganze Sinn unserer Exi»
1 E. Schultze, Kulturfragen der Gegenwart. W. Kohlhammer,
Berlin 1913. a G. Simmel, wi . Seite 32 erwahnt.
166
stcnz in ciner so weiten Feme, daft wir ihn gar nicht be*
stimmt lokalisieren konnen, und so immer in Gefahr sind,
uns von ihm fort, statt auf ihn hin zu bewegen — und dann
wieder, als la'ge er vor unseren Augen, mit einem Aus=
strecken der Hand wtirden wir ihn greifen, wenn nicht im*
mer gerade ein Minimum von Mut, von Kraft oder von
innerer Sicherheit uns fehlte."
Die Technik macht zuviel Spektakel. ,,Im Hagel der
Tatsachen", sagt Rathenau1, ,,erstirbt die Verwunderung,
der Respekt vor dem Ereignis, die Empfanglichkeit, und
gleichzeitig erhoht sich die Begierde nach neuen Tat-
sachen, nach Steigerungen. Wird die Begierde nicht ge=
sattigt, so tritt cine verzweifelte Erschopfung ein, die dem
Menschen seine eigne Lebenszeit hassenswert erscheinen
laftt und daher Langeweile genannt wird." — Als wenn
Schopenhauer doch recht gehabt hatte! Wir werden so»
gleich horen, was daraus folgen soil.
Ich sagte, jede Zeit habe ihre Ideale. Es konnte auch an=
ders hciftcn: Jede Zeit hat ihren Charakter. Rathenau
sieht den Charakter unserer Zeit vor allem durch zwei
verderbliche Momente bedingt: Durch den Ehrgeiz der
Arbeit und durch den Warenhunger — zwei Motive, die
ihm kausal verkniipft erscheinen mit der Technik, sei es
nun mit der Erschaffung der technischen Mittel oder mit
dem GenuB der Erfolge, bzw. deren bloBem Anblick, der
die Menschen verfiihrt.
,,Ehrgeiz und Warenhunger arbeiten sich in die Hande.
Der cine zwingt den Menschen, sich immer fester in das
Joch der Mechanisierung einzupressen; er steigert seine
Erfindungskraft, seinen produktiven Willen. Der andere
1 W. Rathenau, wic Seite 73 erwahnt.
167
crhoht sein Konsumbcdiirfnis und la'Bt ihn doch gleich=
zeitig empfinden, daft nur ein cmsig schaffcndes Organ die
Lust dcs Kaufcns daucrnd genieften darf. — Die Summc
der beiden Haupttriebkrafte abcr steigert sich zu einem Ge=
samtwillen, der entschiedener als irgendeine andere Er*
scheinung die Seele unserer Epoche kennzeichnet, indem
er ihr den Stempel des nach auften gerichteten Strebens
aufpragt."
Diese ,,Suprematie des substantiellen Willens iiber die
Seelenkrafte", dieses ,,Zweckmenschentum" charakteri=
siert die Psyche des westlichen Europa. In ihm glaubt
Rathenau die Charaktereigenschaften jener ,,furchtsamen
Stamme" wiederzuerkennen, die einst in grauer Vorzeit
als die minderwertige, unterjochte Unterschicht von einer
herrschenden Oberschicht aus edlerem Blute abhangig
war. Und diese Zweckmenschen — man braucht nicht
auszusprechen, was zwischen den Zeilen zu lesen ist —
sind natiirlich wir, die Techniker.
Sehen wir wirklich so aus? Ich da'chte, von den ganz
furchtsamen Stammen ka'men wir doch wohl nicht her.
Aber interessant ist dieser Schluft eines Kulturphilosophen,
der freilich von sich sagt, daft ihm zweierlei fehle: ,,Die
Ausfuhrlichkeit, die der Leser von Betrachtungen verlangt,
und die Uberredungskunst des dialektischen Beweises, die
er nicht respektiere", weil er glaubt, ,,daft jeder klare Ge=
danke den Stempel der Wahrheit oder des Irrtums auf der
Stirn tra'gt." Ich glaube das nicht ; — Gedanken kdnnen klar
und doch beidessein : Wahr oder falsch. Doch kehren wir
nach dieser kleinen rassenpsychologischen Dberraschung
zum eigentlichen Thema zuriick — zum ,,Warenhunger//.
,,Fast mochte man meinen," sagt Rathenau, ,,die Mensch=
heit sei von einer Manic des Warenbesitzes, von einer
168
Geratetollheit befallen . . . Mit dem Lacheln, das uns
entlockt wird, wenn wir von der Freudc ostafrikanischer
Negcr an preuftischen Husarenjacken horen, werden unserc
Nachkommen vernehmen, von welchem Warenhunger wir
bcscsscn waren. Ein Drittel, viclleicht die Halfte der Welt*
arbeit geht auf, um der Menschheit Reizungs= und Be*
taubungsmittel, Schmuck, Spiel, Tand, Waffen, Vergnii=
gungen und Zerstreuung zu verschaffen, deren sie zur Era
haltung des leiblichen, zur Begliickung des seelischen Le=
bens nicht bedarf, die vielmehr dazu dicnen, den Menschen
dem Menschen und der Natur zu entfremden. . . . Die Zeit
steht vor der Tiir, die in diesem Narrenkram das materielle
Weltverbrechenerblicken und mitverstandnislosem Grauen
die Spielzeuge des 20. Jahrhunderts betrachten wird."
Den Warenhunger und die Geratetollheit zugegeben,
frage ich nur: 1st denn die Technik fiir die Lebensan=
schauung des amerikanischen oder europaischen Gelds
pobels verantwortlich? Ich dachte, das hatte vielmehr an=
dere Grunde! Man braucht sich iiber die Erscheinungen
einer solch groben Unkultur nicht zu wundern, wenn un=
geheure Geldsummen und damit ein ungeheures Ver=
fiigungsrecht iiber die gottliche Freiheit, die wir Techniker
schaffen, in den schamlosen, glatten Fausten ehemaliger
Stiefelputzer und Laufburschen konzentriert werden.
Was ist, ist. Aber verantwortlich hierfiir muB die man=
gelnde Vernunft der Staatsleitung gemacht werden, nicht
die Technik!
Es gibt indessen auch andere Ansichten der Sache, die
ich dem Leser nicht vorenthalten mochte. Kraft1 sagt
in nuchterner Erwagung der Dinge, es lieSe sich ,,den Pessi=
1 Af. Kraft, wic Seitc 40 erwahnt.
mistcn der Jetztzeit, die in dcr hcutigcn Gesellschaft den
Ausbund der Geftthlsroheit schen, durch Vorfiihrung ciner
Zahl gcschichtlich beglaubigtcr Tatsachen beweisen, daft
ihre Meinung auf einer ungehcurcn, durch die Entfernung
herbeigefuhrten Tauschung bcruht, und daft wir aus dcr
Verglcichung dcs hcutigcn Kulturzustandes mit den ver»
gangcncn Kulturstufen auf cine cntschicdcnc absolute Ver=
edclung des Piihlens schlicBcn konnen. Dieselbe ist aber
nur absolut eine bcdcutcndc; sic sollte jedoch relativ eine
solche sein, und zwar im Verhaltnis zum hcutigcn Wisscn."
Die Schwache unseres heutigen Kulturzustandes, meint
Kraft, liege ,,darin, daft mit den ungeheuren Fortschritten
im Wissen und Handeln die Ausbildung und Vcrcdlung
des Fiihlens nicht Schritt gchalten habe."
Sehr richtig! Und wer ist dafur vcrantwortlich? Jcnc
Herren, die tiber die Technik am meisten fluchen, jene un=
fahigen, unschopferischen Hiiter der Seelenbildung an den
humanistischen Anstalten, in denen noch immcr tausend
und abertauscnd frische Mcnschcnkinder mit dem elendcn
Dogmenkram einer Iceren Papageienwisscnschaft gefiittcrt
werden, bestehend aus Symbolen, die wir nicht mehr ver*
stchen, bei denen wir nichts mehr fiihlen konnen, was
innere Wirklichkeit hatte. — Ertont nicht jcdes Jahr ein
einziger Jubclschrei dicscr Armstcn, die endlich die Schu=
len vcrlassen diirfen, um den verhaftten Krempel eines
trocknen, verschlafenen Biicheridealismus an die Wand zu
wcrfen?
Wolltcn unserc Humanistcn doch endlich einmal lehren,
nicht was die griechischen und lateinischen, sondern die
moderncn Denker erkenncn. Sagt doch Ewald1 , einer von
vielcn : ,,Es kommt nicht darauf an, im Sinnc der mittcU
1 O. Ewald, wic Seitc 43 erwahnt.
170
alterlichcn Weltanschauung sich vor der Inhaltsfiille un«
screr Zeit zu verschlieften, sondern es gilt den heroischen
Versuch, das moderne Dasein in seiner ganzen Vieldeutig-
keit und Fragwiirdigkeit hinzunehmen und ihm aus Eige«
nem eine Form zu schenken, die zugleich cine Form der
Erlosung und Befreiung reprasentiert . . . Der Weg nach
oten fuhrt mitten durch das sinntiche Leben, nicht an ihm
vorbei."
Wie grundfalsch die Theorie von der fortschreitenden
Entseelung des Kulturlebens durch die zunehmende Ent*
faltung der Technik ist, hat aber Wendt1 aus der Ge»
schichte bewiesen. Er spricht sein Resultat in folgenden
Sa'tzcn aus:
1 . Durch die Technik wird die menschliche Arbeitskraft
fortschreitend vergeistigt.
2. Der steigende Geist erkampft sich im Staate die per=
sonliche und politische Freiheit.
3. Der befreite Mensch vertieft das seelische Leben und
veredelt die Kultur.
Ja, Ewald behauptet geradezu, daft ,,die Entdeckung der
Seele das grofte Vermachtnis des 19. Jahrhunderts" sei,
— und dieses war das Maschinenjahrhundert! — Horen
wir nun, was Wendt auf Grund einer ausfiihrlichen Be=
weisfiihrung aus der Geschichte folgert, einer Begriindung,
die unsere Gegner bis jetzt wohl kaum fur notig gehalten
haben.
Der Grieche, sagt Wendt, dieses hohere, abgottisch ver»
ehrte Abbild unserer Humanisten, war das Kind seiner
Technik wie jedes andere Volk auch. ,,Eine Zeit, die auf
einer Technik reiner Handfertigkeit und der ersten cheml-
schen Anfangsgrunde eine rege Industrie aufbaut und einen
1 U. Wendt, wie Seitc 36 erwahnt.
171
lebhaften Handelsverkehr, verfallt notwendig der Skla»
verei. Der Grieche hat aus diesen Elementen heraus eine
Kulturentwicklung geschaffen, so hoch und glanzend, wic
sie moglich war. Die freie Bevolkerung fiihrte cin relativ
gliickliches Leben, sie brauchte keine fremden Sprachen
zu lernen, sie kannte keinen Schnaps, keine Juristen und
keine Priester. Durch die Sklaverei wird aber das Gefuhls=
leben beeintrachtigt; eine solche Zeit mag kunstlerisch gar
vieles haben und auch im kalten Denken viel geben, doch
la'Bt sich nicht an ihrem Busen ruhn."
,,Da(> wir noch immer verpflichtet werden," sagt Cham-
berlain1, ,,kostbare Zeit auf die Erlernung aller EinzeU
heiten der erbarmlichen Geschichte der Griechen zu ver=
wenden . . . und uns womoglich fiir die politischen Schick=
sale dieser grausamen, kurzsichtigen, von Selbstliebe ge=
blendeten, auf Sklavenwirtschaft und Miiftiggangerei be=
ruhenden Demokratien zu begeistern — das ist ein hartes
Schicksal, an dem jedoch wohl uberlegt nicht die Griechen
die Schuld tragen, sondern unsere eigne Borniertheit." —
Auch Goethe'2 meinte ja schon: ,,Die griechische Ge=
schichte bietet wenig Erfreuliches . . ; zudem ist die un=
serer eignen Tage3 durchaus groB und bedeutend."
Und dann kamen die so viel verherrlichten Romer! Wie
weit brachte es dieses Vierklassenvolk, das in Altbiirger,
Neubiirger, Freigelassene und Sklaven zerfiel? — ,,Mord,
Raub und Brand war^n im Kriege allgemeine Sitte; im
Recht gait die Folter, in der Religion gab es menschliche
Cotter, in der bewuftten Sittlichkeit Ciberwog die Klugheit,
und selbst die kliigsten Manner hatten den Dummstolz
1 H. S. Chamberlain, wie Seitc 162 crwahnt. a Goethe, Gc^
sprach mit Eckermann am 24. Novbr. 1824. 3 Hatte Goethe
auch heute noch behauptct!
cincr vornehmen Gcburt und die Verachtung dcr mecha=
nischcn Arbeit", sagt Wendt. ,,Die Sklaverei wirkte hem=
mend ein auf die Verfeinerung des Seelenlebens. Man hatte
nur Interesse fiir die HuBere Welt, ins Innere drang der
Geist nicht ein/'
Endlich — im finsteren Mittelalter — regte sich die
Technik und damit Kultur in hdherem, edlerem Sinne.
Wir stehen, nach Wendt, im Jahre 1 500 an der Vorstufe
des geistigen Erwachens. Es ist derselbe Moment, in
welchem zugleich der Kapitalismus ,,eine solche Hohe
erreichte, daft ein Teil der Zinsen fur die geistige Tatig«
keit tibrig blieb." Und mit den Riesenfortschritten dieser
von der kapitalistischen Wirtschaft getragenen Technik er*
reicht Europa am Schlusse des 19. Jahrhunderts einen so
hohen materiellen Wohlstand und einen so hohen Grad
von Gesundheit und leiblichem Behagen, daB endlich auch
die allgemeine Bildung und Vertiefung des Seelenlebens
im ganzen Volke in die Erscheinung tritt. Es wachst die
Eigenart und mit ihr die seelische Selbstandigkeit — :
Das ist das Fazit eines gewissenhaften Kulturhistorikers
iiber den EinfluB der Technik auf das menschliche Leben.
Alen Pessimisten zum Trotz behaupte ich nun : Unser
technisches Zeitalter wird in einer genialen Periode
gipfeln, herrlicher und grofizugiger, kuhner und tiefgrundiger,
als jemals eine auf der Erde dagewesen ist!
Die Technik schafft, das gilt es vorerst zu sehen, eine un*
geheuer breite Basis des Kulturlebens, einen Mafistab der
Verhaltnisse, der sich ahnlich abhebt von allem bisher Da=
gewesenen, wie die Ereignisse in der grofien Welt von den
Vorgangen in den kleinen Stadten und ihren engen
Ga'Bchen.
Denn wir stehcn vor den goldencn Torcn eincs Riesen-
baucs, an den Stufen einer neuen Kultur, die so riesenhaft
1st, daft nur wenige imstande sind, von hier aus das kiinf=
tige Dasein dieses Lebens sich im Geiste zu vergegenwar«
tigen ; weift man doch am Fufteeines Bergriesen niemals, wen
man eigentlich vor sich hat. — Und die Techniker sind es,
die das Fundament dieses Bauwerks erschaffen, von deren
Arbeit wir doch nur erst die schiichternen Anfange sehen.
,,Stammt die Menschheit vom Gorilla ab," sagt Saltus1,
,,dann werden aus Menschen Cotter werden . . . Die Ge»
schichte vom Olymp ist nur cine Erzahlung von dem, was
hatte kommen konnen. Was damals hatte kommen konnen,
das kann noch kommen." Und Wells1 bringt von Amerika
denselben Glauben in das mude Europa mit: ,,Noch nie
hat es ein Zeitalter gegeben, das auf geistigem Gebiet so
fruchtbar gewesen ware wie unseres. Zwar haben wir ge-
genwartig Schreibenden und Denkenden und Forschenden
nichts, was sich mit den groftartigen Ruhmestiteln und
hochst individualisierten Leistungen der groftcn Person-
lichkeiten der Vergangenheit auf eine Linie stellen konnte.
Und doch ist es wahr, daft wir, alles in allem genommen,
unendlich viel mehr bedeuten."
Auch unser alter Dietzgen* sieht schon die grofte kuU
turelle Befreiung durch die Technik vor Augen : ,,Was das
Volk berechtigt, an die Erlosung von tausendjahriger Qual
nicht nur zu glauben, sondern sie zu sehen, sie tatkraftig
zu erstreben, das ist die feenhaft produktive Kraft, die
wunderbare Ergiebigkeit seiner Arbeit. In den Geheim*
nissen, welche wir der Natur abgelauscht, in den entdeck*
ten Zauberformeln, mittels der wir sie zwingen, unseren
1 E. Saltus, bci Wells zitiert, wie Seite 15? erwihnt. • J. Dietz-
gen, wie Seite 60 erwahnt.
Wunschen zu willfahren, ihre Spenden nunmehr fast ohne
Miihe und Arbeit herzugeben, in der potenzierten Ver*
besserung der Methoden und Instrumente der Arbeit, dar-
in besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was
bisher kein Erloser vermocht hat ... Die Menschheit, die
sich lebend untereinander und mit den toten Dingen dieser
Welt zu erganzen versteht, sic ist es, welche das hochste
Wesen gottlicher Vollkommenheit leibhaftig darstellt."
Das ist der grofie, starke Lebensglaube eines wahrhaft be*
geisterten Technikers, der echte, tatenfrohe Idealismus,
auf den sich alle Kultur als auf ihren Grundpfeiler stiitzen
muB. — Aber wer kennt ihn nicht, den stumpfen Blick aus
den entgeistigten Augen ideenloser Tatsachenesel, wenn
sie ctwas von Philosophic und Idealismus der Technik
horen? Ihr dumm-ironisches Lacheln hat ihnen schon
allzuviele Torheitsfaltchen um die Mundwinkel gezeich*
net, als daft es lohnte, mit solchen Leuten uber grofie Dinge
zu reden. Die Geschichte hat sie nie gefragt, wann es gait,
eine neue Zukunft zu schaffcn.
Und jene anderen, jene erklarten Feinde der Technik,
unsere Kulturpessimisten? — O, die horen wir mit der
grofjtcn Gelassenheit an. Ist es doch gerade das Unbegreif*
liche, was sie so schreckt — uns zur grofiten Genugtuung.
Die armen Liebhaber der Vergangenheit und der gealterten
Musen, sie tun uns leid. Doch mehr als Mitleid konnen wir
ihnen nicht gewahren; mogen sie unseren Bau verachten
soviel sie wollen, nur storen lassen wir uns nicht !
os Gespenst der Gleichheit ist es, was auf diese schonen
len in dem Riesengange der eben erst begon*
nenen technischen Kultur einen so schreckhaften Eindruck
macht.
X
Wo friiher kostbare Kleinigkeiten, engbegrenzte, fur
nahc Winkel bcrechncte Kulturwcrkc geschaffen wurden,
in deren handwcrklich-intime Form der Gcist cincs EinzeU
nen gebannt erschien, da treten jetzt M assen auf, geformt
und in Bewegung gcsctzt nach einem das Dcnken von
Tausendcn in sich schlieBenden Plan.
Wir sind tiber Nacht dazu berufcn worden, ein Titanen-
geschlecht zu werden. Uns reizt cs jetzt, mit Gottern
Handel zu haben, uns am GroBten, am Gewaltigsten zu
versuchen, wir schrecken vor nichts mehr zuriick. Denn
wir fiihlen eine Macht in uns wachsen, die Macht einer
uberpersonlichen, fast unausdenkbaren Intelligenz, die
sich ihrer selbst in unseren Gedanken bewuBt wird als der
von der Beschranktheit des individualistischen, intuitiven
Erlebnismenschen der fruheren Perioden cmanzipierte ob-
jektiveSinn einer neuen Kultur, in den vcir uns jetzt stellen.
Der Geist der Technik bereitet sich vor zur Eroberung
der Welt, zur Schopfung einer neuen Zeit, die alle bis*
herigen Begriffe ubersteigt.
Eine ungeheure Resonanz im ganzen Menschenge=
schlechte, eine alles ergreifende Gemeinschaft, Vertausend*
fachung des Inhaltlichen, der Kulturmaterie pragt dieser fur
uns noch namenlosen Umgestaltung der Wirklichkeit ihren
Stil auf. Um in dieser unuberwaltigenden Grofizugigkeit
des Lebens personlich zu wirken, werden machtige Schop=
fer, vielleicht in den tiefsten Schichten des Volkes geboren,
die den objektiven Geist gleichwie ihren eigenen nattir*
lichen Besitz mit ubermenschlich scheinender Energie aus=
strahlen: Die Genies der Zukunft, die berufen sind, dies
kummerlicheZwergengeschlechtderTraditionzuentsetzen.
Und diese werden die Furcht vor dem Gespenst der
Gleichheit zu bannen wissen. Sic werden es dienstbar
176
machcn ihrer grandioscn, die Wucht cincr Vertausend*
faltigung vertragenden Schopfung neucr individueller, aber
ricsenh after, monumentaler For men der Kultur. —
Sehen wir den Kulturpessimismus unserer Zeit bei Lichte
an, so 1st er in letzter Hinsicht weiter nichts als das Be=
kenntnis der gra'Slichsten Angst vor den Wirkungen des
Quantitdtsfaktors des modernen, auf Hervorbringung des
unendlichmal Gleichen, des Massenhaften gerichteten tech*
nischen Schaffens. Wie gesagt: Die Furcht vor dem Ge=
spenst der Gleichheit. — Horen wir endlich noch einige
Melodien aus dem ,,Chor der Furchtsamen", die auf die*
sen Ton gestimmt sind!
* / unachst hat Rathenau1 — wie ich vorausschicken
^^mochte — aus der tatsachlich fortschreitenden Tech*
nifizierung des Kulturlebens ein rein sachliches Fazit zu
ziehen versucht.
,,Mechanisierung," sagt er, ,,erblicken wir, wohin wir uber
die Provinzen menschlichen Handelns das Auge schweifen
lassen ; . . . dem yvirtschaftlich Betrachtenden erscheint sie
als Massenerzeugung und Guterausgleich; dem gewerb*
lich Betrachtenden als Arbeitsteilung, Arbeitshaufung und
Fabrikation; dem geographisch Betrachtenden als Trans=
port= und Verkehrsentwicklung und Kolonisation; dem
technisch Betrachtenden als Bewaltigung der Naturkrafte;
dem wissenschaftlich Betrachtenden als Anwendung der
Forschungsergebnisse; demsozial Betrachtenden alsOrga»
nisationder Arbeitskrafte; dem geschaftlich Betrachtenden
als Unternehmertum und Kapitalismus; dem politisch Be*
trachtenden als reale und wirtschaftspolitische Staatspraxis/'
,,Gemeinsam ist aber alien diesen Erscheinungsformen
1 W. Rathenau, wie Seite 73 erwahnt.
ta Zschlmmtr. Philosophic der Tcchnik f77
cin Geist, der sie seltsam und entschieden von den Lcbens=
formen friihercr Jahrhunderte unterschcidet: Ein Zug von
Spezialisierung und Abstraktion, von gewollter Zwangs=
laufigkeit, von zweckhaftem, rezeptma'Bigem Denken, ohnc
Qberraschung und ohne Humor, von komplizierter Glcicli=
formigkeit: Ein Geist, der die Wahl des Namens Mechani=
sierung auch im Sinne des Gefuhlsmaf)igen zu rechtfer*
tigen scheint."
Rathenau ist selbst ein Mann der Technik, der mit recht
klaren Augen zu sehen vermag. Er sucht kaltbliitig die
Formen zu erkennen, die die gesamte Kulturentwicklung
notwendig annehmen wird, weil sie das unendlichmal
Gleiche hervorbringt. Denn dieses Prinzip entspringt un=
leugbar dem Geiste der Objektivitat, der das ganze tech=
nische Schaffen von seiner Grundidee aus leitet, und den
es zu realisieren gilt durch cine machtvolle Entwicklung des
gesamten zum Bewufttsein der Kultur erwachten Men=
schengeschlechts.
Daft die Ursache der Mechanisierung und somit der neu=
zeitlichen Lebensauffassung nicht die Technik oder der
Verkehr sein konnte, sondern daft vielmehr die Volksver-
dichtung zur Mechanisierung drangte, weil sie neue Hilfs=
mittel verlangte und schuf, will Rathenau besonders betont
wissen. ,,Diesen Zusammenhang verkennen, hieBe nichts
anderes als etwa behaupten: Die Eisenbahn habe den
Groftverkehr, oder das Ziindnadelgewehr habe den Massen=
krieg geschaffen. In Wirklichkeit schafft der Wille zum Ver»
kehr sich seinen Weg, der Wille zum Massenkrieg sich sein
Geschutz; das Werkzeug ermoglicht das Werk, doch bleibt
es selbst ein Geschopf des auf das Werk gerichteten Willens."
Indessen beginnt bei dem kuhl abwagenden Kritiker
Rathenau schon leise der Pessimismus anzuklingen, wo
178
es sich um die Konsequenzcn der Multiplikation des Mas=
senbetriebes, dcs Quantitdtsfaktors fur das Kulturlcben
handelt.
,,In taglichem und nachtlichem Spiel werfen die Stadte
der Welt einander ihre Ba'lle zu : Ihre Launen, Moden,
Leidenschaften, Lieblinge, ihre Vergniigungen, Leiden
und Kiinste; ihre Wissenschaften und Werke tauschen sie
aus und finden am Wechsel Gefallen."
Das ist schon gesagt, soil aber schlimme Folgen haben.
Denn ,,das gleiche Theaterstiick wird in Berlin und Paris
gespielt, die gleiche Ladenauslage prangt in London und
New=York, das gleiche wissenschaftliche Problem halt sie
in Atem, der gleiche Skandal macht sie lachen, die gleiche
Kiiche ernahrt sie, der gleiche Komfort umgibt sie, ... in
ihrer Struktur und Mechanik sind alle grofteren Stadte der
weiften Welt identisch."
Noch ein Schritt, und wir blicken durch v. Mayers1
schwarze Brille: ,,Der Geist der Masse und der Geist der
Technik sind einander verwandt; sie verstarken einander
und stellen eigentlich nur zwei Seiten desselben Wesens dar ."
Technik dient zur Abhilfe der Massennot. ,,Das ist ebenso
wunderbar", sagt v. Mayer ,,als daft die Blumen im Sommer
bliihen und Schnee im Winter fallt. Einfachste Naturfolge.
Der einzelne Mensch hat nichts dadurch gewonnen."
Und dann enden wir, weiter steigend, bei jener grellen
Beleuchtung der technischen Kultur, in der uns Aubur-
tiir dasGespenst der Gleichheit erscheinen la'Bt. Er sah
einmal eine Villenkolonie im Siiden der groBbritannischen
Inseln. Er sah sie von einer Anhohe aus, und sie erschien
ihm ,,wie ein grdplicher Ausblick in die Zukunft; denn
1 E. v. Mayer, wic Seite 46 erwahnt. 2 V. Auburtin, wic Scitc
157 crwahnt.
diesc Wohnstatte der Menschen sah genau so aus wie die
Wabcn eines Bicnenstaates. Uber die Ebene und uber die
Hugel hinweg zog sich cine Schicht Zellen, cine Zelle ge=»
nau so gebaut wie die andere. In jeder Zelle saft ein Eng»
lander, und jeder war mit demselben Kammgarn begleitet
wie der andere. Jeder afi zur selben Zeit denselben Ham-
melbraten. Jeder hatte dieselben Cerate um sich wie der
andere; jeder las dieselbe Sportzeitung und dachte zur sel*
ben Zeit genau dasselbe wie der nachste Englander ..."
,,Hast du schon einmal in einer englischen illustrierten
Zeitschrift die Gruppenbilder von FuBballmannschaften
gesehen? Sie a'hneln sich wie die Hosenknopfe. Und diesen
Hosenknopfseelen gehort die Zukunft."
Da haben wir nun das Furchtbare! ,,Nicht die Volkers
wanderung und nicht das Kataklysma der alten Welt hatte
die Rasse so bis in ihre Wurzeln erschiittert wie die Zeit
der grofjen technischen Erfindungen" im Anfang und in
der Mitte der vorigen Jahrhunderts. ,,Es ist so, daft man
die ganze Zeit vor 1850 gemeinsam als cine alte Zeit zu=
sammenfassen kann. Wieland hatte nicht viel anders ge=
lebt als Horaz. Er hat ebenso gewohnt, hat fast dieselben
Cerate des taglichen Lebens um sich gehabt, ist ebenso ge=
reist und gefahren und hat nicht viel anders gedacht als die
gebildeten Manner der augusteischen Periode. Erst um
1850 kommt der tiefe, einkerbende Schnitt und Knick."
TV llerdings : Der bunten Einmaligkeit des absoluten In=
2. Vdividualismus des Menschentums setzt sich mit einer
ungeheuren Macht, von der sich unsere Groftva'ter nichts
traumen lieBcn, ein KoefHzient entgegen, der sie mit einer
grauenerregenden Zahl multipliziert und ihr damitden Reiz
des Alleinseins, vor allem aberdes Alleinbesitzes, des Eigen»
180
turns raubt, das ein andcrcr wcder hat noch haben darf, in*
dem jcner Faktor den friiheren Zustand so radikal verandert,
daft es fiir jene ,,Edelmenschen" nun keinen Zweck mchr zu
haben scheint, iiberhaupt da zu sein — womit ihnen das
Leben zum Ekel wird. Bereits Schopenhauer hatte jadiesen
groBen Ekel an ,,der Fabrikware der Natur" empfunden.
Doch es hilft nichts : Die gute alte Zeit hat ausgeschlagen.
Das schone, unverdiente Vorrecht der Einzigen, der Ede=
linge, stirbt mit dem Erwachen des Freiheitsgeistes, der
das gemeine Recht fur alle fordert. Und das bringt —
kein Mensch kann es mehr verhindern — die Entfaltung
der Technik notwendigerweise mit sich.
Die Technik demokratisiert uns zum groftten Schrecken
einer beschrankten Eitelkeit, die jetzt ihre Mittelchen ver=
loren gehen sieht, einige wenige Menschen, die in der
Wahl ihrer Eltern vorsichtig genug waren, als etwas ganz
Besonderes und Bewundernswertes erscheinen zu lassen.
Diese probaten Mittelchen sind : Gute Erbschaft und Stan*
desprivilegien bei im iibrigen nur ma'Biger Intelligenz, um
sie schlau und sinnig zu benutzen. Gar schrecklich ist es
nun, daB die herannahende Zeit das Verdienst, hohe Eltern
zu haben, nicht mehr anerkennen will, daB sie jenen ver=
dienten Edelmenschen nicht mehr gestatten will, auf
Kosten der Hunderttausende, die zur Gleichwertigkeit ver=
dammt sind, ein individuelles Eigenleben zu fiihren.
Es droht also jetzt die Bankerotterklarung eines Rechts=
systems, in dem nicht mehr das Blut, sondern der In=
tellekt, die Leistungsfahigkeit, das Verdienst um die
menschliche Gesamtheit als Recht begriindende Momente
gelten — es marschiert die Demokratie. Und kein Zweifel
— Freund und Feind erkennen es mit gleicher Scharfe — :
Das wird das Werk der Technik!
181
Denn wir meincn, wie Dietzgen1 gesagt hat: ,,Dic Men=
schenkinder haben von Natur allc das glciche Verlangen,
ihr Leben zu verbringen in tatiger Lust, ohnc Elend
und Knechtschaft. Die Glcichheit des Vcrlangcns a'ndert
die Verschiedenheit nicht, welche jeden von uns mit Kraf=
ten und Tilenten eigner Art ausgerustet hat — so soil
auch das soziale Leben der Zukunft die Menschen gleich
machen an gesellschaftlichem Rang und Wert, ihnen den
gleichen Anspruch geben auf Genuft des individuellen
Lebens, ohne deshalb die Verschiedenheit aufzuheben,
welche jedem seine besondere Aufgabe zuteilt, jedem ge=
stattet, nach seiner eigenen Fasson selig zu werden."
Man sollte erst einmal die Wahrheit erkennen, die
Simmel2 in abstrakter Form vor das Problem der
Gleichheit in der modernen ,,technischen Kultur" gesetzt
hat: ,,Wo die Gleichheit die formalen Fundamente der
Beziehungen zwischen Menschen ergreift, wird sie zum
Mittel, ihre individuellen Ungleichheiten zum scharfsten
und folgenreichsten Ausdruck zu bringen, der Egoismus
hat sich, indem er die Schranken der formalen Gleich=
heit einhalt, mit inneren und aufteren Hemmungen ab=
gefunden und besitzt nun gerade in der Allgemeingiiltig=
keit jener Bestimmungen cine Waffe, die, weil sie jedem
dient, auch gegen jeden dient."
Kann nicht jeder berufene Schopfer von neuen, indivi*
duellen Formen gerade die ungeheure Resonanz der Ver-
tausendfdltigung benutzen, um mit einer Macht zu wirken,
die noch ganz unbeschreiblich ist? Kann er mit dieser
,,jedem dienenden Waffe" der Gleichheit nicht ebenso
1 J. Dietzgen, wie Seitc 60 erwahnt. * G. Simmel, wie~Seite 32
erwahnt.
182
stark das ihm Widcrstrcbende in der Kulturentwicklung
aus dem Fclde schlagcn?
Die kiinftigcn groften Geister werden so schaffen und
kampfen. Sic werden den Schwung von Millionen in ihren
Arm legen und mit Kraftstreichen einhauen, wenn sie etwas
zu sagen haben. Ihre Wirkung wird ein Spiel mit Massen
sein, und eine Sprache werden sie fuhren, ein Strich wird
ihnen eigen sein, der in der Kraft der Wiederholung erst
seine voile Sta'rke gegen die Sta'rke des andern im Kampf=
spiel der Titanen zeigt. Ihre Siege werden durch Millionen
beben : Die Gleichheit wird ihre Wucht verkorpern! —
Der Individualismus stirbt an der Technik? Nein, er
riistet sich zur starksten Form seines Ausbruchs. Er be=
schrankt sich von neuem auf ein kleines Geschlecht, klein
an Zahl, weil von tibermenschlicher Kraft: Das kommende
Geschlecht der machtigen, aus der Masse des Volkes aus=
gewahlten Geister.
Die Technik bereitet ihnen den Boden. Sie reicht ihnen
das gewaltige Werkzeug ihres Schaffens: Das Werkzeug
der Weltbezwingung. Aber sie fordert eben auch wirkliche,
geborene Weltbezwinger — Weltbezwinger ,,von Gottes*
gnaden".
Auburtinhat ganz recht: ,,Es 1st mit dem neunzehnten
Jahrhundert etwas durchaus Neues in die Welt gekommen,
und keinerlei geschichtliche Erfahrung sagt uns irgend
etwas." — Es wird daher auch etwas unerhort Neues von
dieser Welt verlangt; nicht, daS es sogleich Genies regnen
miiSte, aber ein neuer Menschenschlag muB sich bilden.
Und gerade jetzt, unter dem Gewinsel jammernder Pessi=
misten, scheint er mir bereits seine jungen Glieder zu recken.
Wir Techniker erwarten eine Generation, die sich der gropen
Schopfung wiirdig zeigt!
185
INHALT
Vorwort i
Warnung 3
Die philosophischen Grundlagcn 5
Die Idee der Technik ?diU<«&ai.!to*pt'tip6
Technisches Schaffen 61
Technisches Wissen ; . * . .><.iv» touft
Das Kulturbild der Zukunft .... .... -j . . 147
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
184
BUGBN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
KLASSIKER DER NATUR-
WISSENSCHAFTuTECHNIK
Die Geschichte einer Wissenschaft ist
ihr GedSchtnis. Ihr Ami ist: durdi Er-
voeiterung hell zu machen, den Forscher
aus seinem augenbliddidi beschrankten
Zustand herauszufiihren and ihm die
Reiche des Geistes and seiner Herrlidi-
keiten zu weisen. (Friedr. Gundelfinger.)
Als erster Band erschien:
Lamarck, Die Lehre vom Leben. Seine Personlidhkeit
und das Wesentlidie aus seinen Schriften kritisdi dar*
gestellt von G. F. Ktihner. Brosdiiert M 4.50, in Lein*
wand gebunden M 6.—
Lamarck (1744—1829) ist der Uberwinder der Linneschen
Systcmatik, der Begriinder kausalen biologischen Denkens,
der grofie Verktinder ewigen organischen Werdens, Forts
schreitens und Vergehens. Das Buch ist das erste deutsche
Werk iiber Lamarck, der erste Uberblick iiber seine Werke,
die allcin eine Bibliothek bildcn, und zugleich der erste bio=>
graphische Versuch. ___^
Anlageplan der I. Serie (Anderungen vorbehalten)
1. Primitive u. exot. Tedinik. 7. Mittelalterl. Technikcr.
2. Antike Physiker. 8. Galilei.
3. Antike Tediniker. 9. Kepler.
4. Vitruv. 10. Newton.
5. Plinius. 11. Goethe.
6. Roger Bacon. 12. Lamarck.
Die Bahnbrecher der Naturforschung kommen in diesen Ban*
den durch eine Auswahl aus ihren Werken zu Worte, die durch
Einfiihrungen oder Anmerkungen erganzt wird. Bald wird,
wie bei Kepler, ein einzelnes Hauptwerk in den Mittelpunkt
gestellt; bald aus der Fiille zerstreuter Arbeiten das Haupt=
sachlichste zusammengefaBt (so bei Goethe) ; bald auch durch
ein historisches und systematisches Referat ein Uberblick iiber
sonst ganz uniibersehbare Stoffmassen ermoglicht (so bei La«
marck). Die Klassiker sind von ersten Fachgelehrten bears
beitet, wenden sich aber, im Gegensatz zu andern nature
wissenschaftlichen Quellensammlungen, an alle Gebildeten.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
Franz Strunz, Die Vergangenheit der Natur-
forsdhung. Ein Beitrag zur Geschidite des mensdilichen
Geistes. Mit 12 Tafeln. br. M4.~, geb. M 5.50
Inhalt: Die Vergangenheit der Naturforschung / Naturgefiihl
und Naturerkenntnis / Die Anfange der Alchemic / Eine
Naturforscherin des Mittelalters / Die Chemie der Araber /
Biochemische Theorien bei Johann Amos Comenius / Johann
Baptist van Helmont als Chemiker und Naturphilosoph/Die Er*
findung des europa'ischcn Porzcllans / Rousseau und die Natur.
Emile Boutroux, Uber den BegrifF des Natur-
gesetzes in derWissensdiaft und in der Philosophic
der Gegenwart. Vorlesungen. br. M4.— , Lwd. geb.
M5.50
Emile Boutroux, Die Kontingenz der Naturge-
setze. br. M 4.-, Lwd. geb. M 5.50
Boutroux ist neben Bergson der Vertreter der franzosischen
neuidealistischen Bcwegung. Seine Auffassung der Natur=
gesetze als der ktinstlichen und festen Abbilder eines wescnt=
lich lebendigen und beweglichen Modclls gibt ihm das Recht,
einen Zusammenhang zwischen dem Leben des Geistes und
dcm, was das Leben der Materie ausmacht, zu behaupten.
Durch den so gewonnenen Freiheitsbegriff uberwindet er jeden
Determinismus. Seine Natur gesetze sind keine Notwendig=
keit, denn in und aufter uns ist fortwahrende Schopfung, d. h.
Leben und Freiheit. Aber sic gestatten uns, iiber die Kon=
temptation, zu welchcr die Alten gezwungen warcn, hinaus«
zugehen zu einer Wisscnschaft der Tat.
Henri Bergson, Schopferisdie Entwicklung. 3. Taus.
br. M 6.-, geb. M 7.50
Das Hauptwerk des beriihmten curopaischen Denkers, der
der Intuition zu ihrem Recht verhilft, der die instinktiv
schaffende Personlichkeit mit dem strengen Empirismus vers
verbindet. Der Mut zur Metaphysik ist das Auszeichnende
an Bergsons Philosophie, und darin besteht ihr Hauptwert,
ihre Zukunftskraft, dafi sic die Metaphysik heraushebt aus
dem Kerker des Rationalismus und Intellektualismus und
sie grundet auf Biologie und Psychologic, daft Naturlcben
und geistigsseelisches Leben des Menschen zu einer grofien
Einheit hier zusammengeschaffen werden.
EUGEN DIEDERICHS VERL AG IN JENA
SCHRIFTEN ZUR SOZIOLOGIE
DER KULTUR
Herausgeg. von Prof. ALFRED WEBER-Heidelberg
\Vir haben eine glanzende theoretische Soziologie, auch eine
wachsende Literatur iibcr die Massenerscheinungen und all*
gemeinen Gesetzmafiigkeiten des sozialen Lebens; auf der
anderen Seitc ausgedehnte literarischc Mittel fiir das Hinab=
steigen in uns selbst, die Verticfungcn unscrcr geistigen An=
schauungen und Interessen. Wir haben aber bisher keine
Moglichkeit, diese geistigenStromungen mit den realenLcbcns=
vorgangen, die sie mit bedingen, zu verbinden, sie in die kon=
kreten Erscheinungen hineinzustellen, aus denen sie heraus=
wachsen und auf die sie weiter formend und gestaltend wirken
sollcn. Wie ha n gen soziale Formen und Kultur, DaseinsgestaU
tung und Kulturgestaltung, vitaler Inhalt und Kulturtendenz
zusammen? Wie bauen sich auf den Lebensformen die Gehause
und Medien auf, in denen sich das Geistige auswirkt? Welche
Schichten tragen die verschiedenen geistigen Tendenzen, und
mit welchem Lebenseingestelltsein hangen diese dann zu=
sammen? Was ist die Kulturbedeutung dieser oder jener Lo=
sung, Bindung, inneren oder aufteren Gestaltung der grofien
lebentragenden Kra'fte? Es soil versucht werden, zu diesen
Fragen, zu den Problemen der Soziologie der Kultur also, in
Monographien, die diese oder jene sichtbare und fafibare Seite
derangedeuteten Zusammenhange herausgreifen, Stellungzu
nehmen.
Bd.I: Hans Staudinger, Individuum und Gemein*
sdiaft in der Kulturorganisation des Vereins. br.
M 3.50, geb. M 4.70
Bd. II : P. A. Clasen, Der Salutismus. Eine sozial-
wissensdiaftlidie Monographic uber General Booth und
seine Heilsarmee. br. M 4.50, geb. M 5.70
Bd. Ill: Emilie Altenloh, Zur Soziologie der Kinos.
Es stehen Arbeiten in Aussicht u. a. uber: Die
Soziologie der Kunst / Die moderne Theater*
krise / Die bildende Kunst in einer modernen In*
dustriestadt / Die Arbeiterinteressen einer deut*
schen Industriestadt / Die soziale Herkunft der
geistigenFiihrer/DasStreikrechtderBeamtenusw.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
Eberhard Zsdiimmer, Die Glasindustrie in Jena.
Mit Zeidinungen von Erich Kuithan. br. M 6.~, Kalb-
leder geb. M 12.-
Unterrichtsbiatter fur Mathematik und Naturwissenschaften:
Spannend und anschaulich schildert uns Zschimmcr — der
nicht nur in weiteren Kreisen durch seine erfolgreiche Mit*
arbeit auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Glastcchnik,
sondern auch durch manche naturphilosophische Veroffent-
lichung bekannt ist — zunachst in groften Ziigen die Ge»
schichte der Glasschmelzerei. Sodann werden uns die Er=
folge der Jcnacr Schott und Abbe (Objektiv ohne sekun»
dares Spektrum, Thermometerglas ohne thermische Nach*
wirkung, ultraviolett durchlassige Gla'scr) eingehend geschil*
dert, die wissenschaftlichen Wege, auf denen sie erreicht
wurden, iiberraschend einfach und klar dargestellt, die Be»
deutung fiir den Fortschritt der Technik und Wissenschaft
durchsichtig auseinandergesetzt. Dabei unterstiitzen diezahl*
reichen Abbildungen unsere Anschauung aufs beste. In alle
Einzelheiten der Glasschmelzerei werden wir an ihrer Hand
anschaulich eingefuhrt.
ARBEITERBIOGRAPHIEN
Herausgegeben von PAUL GOHRE
William Bromme, Lebensgesdiichte eines modernen
Fabrikarbeiters. br. M 4.50, Lwd. geb. M 5.50
Carl Fischer, Denkwiirdigkeiten und Erinnerungen
eines Arbeiters. 2 Bde. 5. Tausend. br. a M 4.50,
Lwd. geb. a M 5.50
Carl Fischer, Aus einem Arbeiterleben. Skizzen.
br. M 1.80, Lwd. geb. M 2.50
W. Holek, Lebensgang eines deutsch^tscriechischen
Handarbeiters. br. M 4.50, Lwd. geb. M 5.50
Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters.
br. M 3.50, geb. M 4.80
UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY
Los Angeles
This book is DUE on the last date stamped below.
SEP 1
Form L9-50m-7,'54(5990)444
1 B LfBR
TT OF CALIPOE1«»
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ll; Philosophie der
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