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Full text of "Philosophie der Technik : vom Sinn der Technik und Kritik des Unsinns über die Technik"

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EBERHARD  ZSCHIMMER 

PHILOSOPHIE 
DER  TECHNIK 

VOM  SINN  DER  TECHNIK  UNO 

KRITIK  DES  UNSINNS  UBER 

DIE  TECHNIK 


VERLEGT  BEI  EUGEN  DIEDERICHS 
JENA  1914 


T 
14- 


MEINER  FRAU 


852528 


Von  dcmsclbcn  Vcrfasser  erschicnen: 

Eine   Untersuchung  iiber   Raum,   Zeit  und   Be« 

griff e.  54  S.  W.  Engelmann,  Leipzig  1906. 
Die  Glasindustrie  in  Jena,  ein  Werk  von  Schott 

und  Abbe.  160 S.  mit  Zeichnungen  von  Erich  Kuithan. 

E.  Diederichs,  Jena  1909. 
Das  Welterlebnis,  nebst  Anhang:  Prolegomena 

zur  Panlogik.  322  S.  Drei  Teile.  W.  Engelmann,  Leip= 

zig  1909—1915. 
Chemische  Technologic  des  Glases.    556  S.    Mit 

173  Figuren  im  Text  und  auf  16  Tafeln.  Als  Manuskript 

gedruckt  fur  das  Jenaer  Glaswerk  bei  0.  Spamer,  Leip» 

zig  1913- 


VORWORT 

A  if  den  vorliegenden  Blattern  versuche  ich  einc  Sinn« 
deutung  der  bekannten  Erscheinungen,  die  man  ge- 
wohnlich  ohne  viel  Nachdenken  mit  einem  Worte  ,,die 
Technik"  nennt.  Da  ich  selbst  seit  14  Jahren  in  der  Technik 
ta'tig  bin  und  in  der  Glasindustrie  einiges  Brauchbare  fur 
die  Optik  zustande  gebracht,  anderseits  aber  nie  gelebt 
habc,  ohne  zu  philosophieren,  so  glaubte  ich  mich  dazu 
berechtigt,  die  viel  zu  vielen  Biicher  noch  um  dieses  zu 
vermehren. 

Es  gibt  dicke  Biicher  und  diinne  Biicher.  Den  ersteren 
fehien  zumeist  die  den  Stoff  beherrschenden  Ideen,  da  sic, 
wie  ein  witziger  Bibliotheksdirektor  sagte,  in  der  Regel  von 
,,geistlosen  Walzern"  verfaftt  werden;  die  letzteren  da=* 
gegen  bestehen  meistens  nur  aus  Ideen,  ohne  das  notige 
Beweismaterial.  Aber  ich  lese  diinne  Biicher  lieber  als 
dicke,  und  hiernach  denke  ich  auch  das  mcinc  einzu* 
richten. 

Sollte  dieses  Biichlein  verfehlt  sein,  so  diirfte  es  wenig» 
stens  fiir  tiichtigere  Verfasser  den  Zweck  haben,  man= 
cherlei  interessante  Gedanken  iiber  die  Technik  zu  same 
meln,  an  deren  Bekanntschaft  ich  mich  oft  belustigt 
habe. 

Meine  Kritik  bitte  ich  die  Herren  Denker,  die  ich  zi- 
tiere,  nicht  iibelzunehmen,  sie  braucht  nicht  richtig  zu 
sein;  wer  sich  das  einbildete,  ware  ja  kein  Kritiker.  Ich 
ermuntere  dadurch,  hoffe  ich,  manchen  philosophischen 
Geist,  sich  mit  den  zweifellos  lohnenden  Problemen  ein= 
gehender  zu  beschaftigen,  als  es  mir  moglich  war. 

Unter  meinen  Fachgenossen  werden  sich  gewift  viele 
finden,  denen  das  hier  Vorgetragene  stellenweise  etwas 

i   Z  »  c  h  i  m  m  c  r ,  Philosophic  der  Technik  1 


zu  abstrakt*philosophisch,  abcr  sonst  vollkommcn  aus  dem 
Sinn  gesprochen  ist. 

Die  Literatur  wollte  ich  moglichst  vollstandig  heran= 
ziehen;  trotzdem  wird  manchcs  fehlen.  Fur  Mitteilungen 
ware  ich  sehr  dankbar. 

Jenaer  Glaswerk,  im  November  1913 
EBERHARD  ZSCHIMMER 


WARNUNG 

Astrakte  Einsichten  zu  gewinnen  oder  gar  im  Gcdacht= 
nis  zu  behalten,  um  sie  zu  allgemeinsten,  fast  ganzlich 
von  bestimmter  Anschaulichkeit  entkleideten  Erkennt- 
nissen  zu  verbindcn,  1st  nicht  jedcrmanns  Sache. 

Es  gibt  hervorragend  schopferische  Kopfe,  die  dies 
ebensowenig  lieben,  wie  ein  Italiener  den  Aufenthalt  in 
Gronland  oder  ein  Eskimo  den  in  Indien.  Auch  unter 
meinen  Lesern  befinden  sich  wahrscheinlich,  trotz  des  — 
wie  ich  glaube  —  geniigend  abschreckenden  Titels,  noch 
viele  intuitive,  anschaulich,  tatig  denkende  Menschcn.  Ich 
warne  sie,  auch  nur  einen  Biick  in  das  folgende  erste  Ka» 
pitel  zu  werfen;  denn  sie  wiirden  es  auch  beim  besten  Wil« 
len  abscheulich  finden.  Ich  bitte  sie,  sofort  mitten  in  der 
Idee  der  Technik,  etwa  bei  Zeppelin,  auf  Seite  29,  an* 
zufangen  und  ebenso  das  Schlufckapitel  erst  auf  Seite  155 
zu  beginnen,  wo  wir  uns  iiber  die  amerikanische  Industrie 
und  ihre  Kulturbluten  unterhalten  werden. 

Natiirlich  wird  sich  nun  erst  recht  dieser  oder  jener  dar» 
auf  versteifen,  das  abstrakte  Zeug  klein  kriegen  zu  wollen. 
Fur  solche  Dickkopfe  —  die  ja  unter  den  intuitiven  L  eu« 
ten  am  haufigsten  sind  —  habe  ich,  um  wenigstens  die 
schlimmsten  Folgen  (namlich  das  Nichtgelesenwerden  der 
spateren  Hauptsache)  abzuwenden,  noch  eine  weitere 
Warnungstafel  an  die  Stellen  gesetzt,  wo  es  mir  direkt  ver- 
hangnisvoll  zu  sein  schien,  das  Anhoren  der  erkenntnis* 
theoretischen  Auseinandersetzungen  zuzulassen. 

Ich  betone  nochmals:  Durch  Mangel  an  Abstraktions= 
fahigkeit  oder  an  Interesse  fur  abstrakte  Einsichten  haben 
sich  selbst  groBe  Geister  ausgezeichnet.  Wir  werden  bei 
unseren  Untersuchungen  iiber  das  Wesen  der  Technik 


bald  Gelegenheit  haben,  gewissen  schopferischen  Leistun* 
gen  des  intuitiven  Denkcns  solchcn  der  reinen  Logik  ge= 
geniiber  den  Vorrang  einzuraumen.  Ich  bittc  dcshalb,  sich 
einfach  nicht  urn  die  unverstandlichen,  fiir  die  Philosopher! 
bestimmten  Stellen  zu  kiimmern  und  in  Gottes  Namen 
weiterzulesen,  bis  es  besser  kommt;  das  ist  mir  lieber  als 
verdrieSliche  Gesichter  und  schlafrige  Augen. 

Daft  wir  uns  meistens  mit  recht  konkreten  und  teilweise 
sehr  ernsten  Dingen  zu  beschaftigen  haben,  brauche  ich 
wohl  nicht  noch  zu  beteuern.  Auf  diese  mtissen  sich  meine 
intuitiven  Leser  vertrosten  lassen. 


DIE  PHILOSOPHISCHEN  GRUND- 
LAGEN 

Es  ist  viel  schwerer,  einen  alten  Standpunkt  zu  ver* 
lassen,  als  einen  neuen  zu  finden.  Einen  Standpunkt 
haben,  heiftt  ja  nicht,  heute  so,  morgen  so  in  die  Welt 
blicken  und  wie  ein  unbeteiligter  Zuschauer  mehr  oder 
weniger  erfreut  sagen:  ,,Ach  so  ist  es?",  sondern  ein« 
gelebt  sein  auf  eine  bestimmte  Uber«  und  Unterordnung 
der  Gedanken,  gewohnt  sein  an  den  bestimmten  Blick« 
punkt  des  Interesses,  der  alles  sieht,  was  in  seinen  Kreis 
fallt,  das  andere  unbeachtet  laftt,  eingeschworen  sein  auf 
gewisse  Grundsatze,  in  die  sich  das  ganze  Denken  kristalli> 
siert  zu  haben  scheint  wie  ein  gefrorener  Strom. 

Das  Schlimmstc  ist,  daft  der  Mensch  seinen  ersten 
philosophischen  Standpunkt  —  und  an  dem  hangt  jeder 
wie  an  seiner  alten  Liebe  —  gar  nicht  selbst  wahlt,  son» 
dern  von  aufien  dazu  bestimmt  wird.  Dies  geschieht  in 
der  Zeit,  in  der  die  Empfanglichkeit  fur  das  Fremde  und 
Neue  am  groftten,  die  Begeisterung  am  starksten  ist: 
In  der  Jugend.  Gymnasium  oder  Volksschule,  Universi- 
tat  oder  technische  Hochschule,  Gelehrtenhaus,  Kiinst- 
lerhaus  oder  Kaufmannshaus,  Unternehmerfamilie  oder 
Arbeiterfamilie  —  wer  wollte  bestreiten,  von  welcher  ge« 
meinsamen,  tiefen  Bedeutung  schon  allein  die  Vcrschic= 
denheit  der  Herkunft,  der  dufteren  Bildungswege  und 
Spharen  fur  die  einzelnen,  wie  auch  immer  individuell  Ver« 
schiedenen  sind?  —  Freilich  setzen  Kraftnaturen,  Genies 
sich  uberall  durch.  Aber  wer  bleibt  von  uns  andern  lange 
genug  jung,  um  fur  einen  neuen  Standpunkt  noch  urn* 
lernen  zu  konnen?  — 

Damit  meine  ich  angedeutet  zu  haben,  wie  gering  meine 


Hoffnung  ist,  diejenigen  zu  iiberzeugen,  die  bcrcits  cine 
fcstc,  von  der  meinen  vicllcicht  grundverschiedene  Auf« 
fassung  dcr  Welt  und  des  Lebens  mitbringen.  Ich  wende 
mich,  offen  gesagt,  an  die  jungen  Kopfe  und  an  jene  alten, 
die  jugendfrisch  geblieben  sind:  Auf  der  einen  Seite  an  die 
Ingenieure,  die  Techniker  aller  Art,  zu  denen  auch  ich  ge* 
hore  —  auf  der  anderen  an  die  Drauftenstehenden,  das 
groSe  gebildete  Publikum,  das  die  Technik  gleichsam  wie 
am  Tischlein-deck-dich  vorgesetzt  bekommt,  als  ware  dies 
so  selbstverstandlich  wie  Mond-  und  Sonnenschein.  Doch 
denke  ich  hier  im  besonderen  an  die  selbsttatigen  Ver* 
treter  und  Tra'ger  der  groften  Kulturideale,  der  Kunst,  der 
Wissenschaft,  der  Humanitat;  ich  nenne  sic  kurz  die  Kul- 
turbildner,  um  nicht  zu  sagen  Kulturschopfer,  zu  denen 
ich  nur  die  Genies  rechnen  mochte. 

Das  ist  mein  Publikum.  Wie  die  lustige  Person  im  Faust 
zum  Dichter  spricht:  Greift  nur  hinein!  so  fordere  auch 
ich  meine  Leser  im  gleichen  Sinne  auf,  aus  dem  vollen  zu 
schopfen,  nur  cinmal  frisch  zuzupacken,  unbekummert  um 
die  Standpunkte  oder  X-ismen  der  Philosophic  —  als  ganz 
gewohnliche  normale  Menschen  zu  sehen,  was  es  denn 
iiberhaupt  gibt! 

Jeder  Mensch  lebt  bestandig  in  zwei  Spharen,  einer  reellen 
und  einer  ideellen  Sphare.  Das  sind  zunachst  Worte.  Was 
ich  damit  meine,  kann  ich  nicht  besser  als  durch  Beispiele 
klar  machen.  Aber  ich  bitte  mir  die  Bedingung  aus:  Ohne 
Standpunkt!  Es  ist  hier  nur  auf  Schilderung  abgesehen, 
auf  reine  Beschreibung.  Ich  will  noch  keine  Erkenntnis 
oder  Erkenntnistheorie  entwickeln. 

Angenommen,  ich  gehe  heute  nach  dem  Bahnhof  — 
jetzt  eben  bin  ich  unterwegs.  Ich  nehme  einen  Zettel  aus 


der  Taschc  und  schreibe  auf,  daft  ich  mich  jctzt  cben  in 
der  Bahnhofstrafte  bcfinde.  Das  1st  die  Feststellung  von 
ctwas  Reellem.  Mcin  momentanes  Sein  in  der  Bahnhof* 
strafte,  mein  Gehen  nach  dem  Bahnhof,  dieser  Leib,  dicsc 
Handlung,  dieses  Wollen,  das  ist  ebenso  reel),  wie  die 
reelle  Strafte,  der  reelle  Erdboden,  die  Hauser  dort,  das 
Wagengerassel,  der  Benzingeruch,  das  Grunzen  der  Autos, 
das  Menschengewiihl,  das  Schubsen  und  Stolen.  Kein 
Zweifel,  der  Leser  u-ird  merken,  was  zur  reellen  Spharc 
gehort. 

Ich  bitte  jedoch,  den  Ausdruck  ,,reeH"  nicht  zu  ver- 
wechseln  mit  ^real"1. 

Ich  gehe  nun  in  ein  Kinotheater.  Jetzt  eben,  mitten  drin 
—  ich  bin  ganz  in  die  rasenden  Vorgange  vertieft  —  fa'llt 
mir  ein,  den  bewufjten  Zcttel  aus  der  Taschc  zu  ziehen  und 
dies  zu  notieren  —  namlich,  daft  soeben  das  reelle  Dasein 
in  jener  sonderbaren  Rascrci,  jener  Traumvxirklichkeit  be= 
stcht,  der  ich  zuschaue.  Denn  das  sind  ja  alles  nach  un« 
serer  Definition  zweifellos  reelle  Vorgange.  Sie  konnten 
genau  so  sein,  wenn  ich  aus  dem  Fenster  auf  die  Strafte 
sehe.  Das  Kinoerlebnis  gehort  ebenso  zur  reellen  Spharc 
wie  vorhin  das  Straftenbild  und  mein  Leib,  mein  Gehen 
nach  dem  Bahnhof  oder  die  Tra'nen,  das  Herzklopfen 
und  die  angstverzerrten  Gesichter  der  Zuschauer. 

Ist  das  nun  alles  ubcrhaupt?  Gibt  es  aufter  dem  Re* 
ellen  des  Augenblicks  nichts  anderes?  — 

Fiir  niedere  Tiere  wohl  nicht.  Die  leben  ganzlich  reell. 

1  Uber  die  Bcdcutung  von  ,,real"  sche  man  R.  Eisler,  W5r« 
terbuchderphilosophischcn  Begriffe.  3.  Aufl.  Mittlcr  u.  Sohn, 
Berlin  1910.  —  Aufterdem  uber  Realitat  als  Inhalt  der  objek= 
tiven  Zeit  die  vorzuglich  klare  Darstellung  bei  P.  F.  Linke, 
Die  phSnomenale  Spharc  und  das  reale  Bcwufjtscin.  Nie  = 
meyer,  Halle  1912. 


Sic  frcsscn  reell,  sic  begehren  recll,  ihre  Furcht  und 
Wut,  ihr  Handeln,  ihr  ganzes  Dascin  gcht  in  dcr  reellen 
Sphare  auf.  Abcr  Mcnschen,  wohl  auch  hohcrc  Ticre, 
wie  die  Affen,  findcn  ganz  gewift  mehr  Seicndes  als  das 
Reelle  in  dcr  Welt.  Sic  konstaticren  direkt  oder  indirekt, 
dag  es  auger  dem  alien  noch  ein  zweites  Reich,  sagcn  wir 
kurz  cine  ideelle  Sphare  gibt. 

Wicder  ein  Wort!  ,,Das  Ideelle".  Was  heigt  das?  —  Ich 
bitte  den  Leser  gerade  jetzt  an  keinen  neuen  ,,Standpunkt// 
zu  dcnken.  Gerade  jetzt  kommt  es  darauf  an,  ganz  naiv, 
unbefangen  zu  bleiben.  Es  handelt  sich  einfach  um  die  Auf* 
weisung,  um  Demonstration  von  ctwas,  das  es  gibt,  noch  gibt, 
wenn  wir  das  Reelle  einmal  vollstandig  wegnehmcn.  Unscrc 
Beispiele  helfen  uns,  dieses  ideelle  Etwas  zu  entdecken. 

Sagen  wir  nicht,  wir  wollcn,  wahrend  wir  jetzt  wicder 
in  der  Bahnhofstrage  sind,  ,,zum  Bahnhof  germ"?  Damit 
meinen  wir  doch  ctwas,  mit  dicsem  ,,Bahnhof"  und 
unserem  ,,Gehen  dahin".  Dieses  gemeinte  Etwas  nenne  ich 
nun  ctwas  Ideelles.  Denn  es  ist  —  wenigstens  fur  Nicht= 
wahnsinnigc  —  anders  als  dcr  Erdboden,  auf  den  ich  jetzt 
trete,  anders  als  das  Stragentreiben,  der  sinnlichc  Vorgang 
im  Kino,  anders  als  das  Wirkliche,  das  Gesehene,  das 
Wahrgenommene,  das  Reelle.  Es  ist  von  verschiedener 
Beschaffenhcit,  nicht  zu  vcrwechseln  mit  dicsem  Scienden, 
und  doch  nicht  ein  Nichts.  Es  ist  eben  ideell  vorhanden, 
das  Ideelle. 

Die  reelle  Bahnhofstrage,  wo  ich  jetzt  ,,wirklich  bin", 
und  der  ideelle  Bahnhof,  wo  ich  nachher  in  Zukunft  erst 
,,sein  wcrdc",  beidcs  ist  also  dem  Dasein  nach,  wenn  wir 
achtgeben,  so  verschieden,  wic  ein  jetzt  wirklich  anwesen* 
der  Mensch  und  ein  jetzt  abwcsender  Mcnsch,  von  dem 
ich  nicht  einmal  weiS,  ob  cr  nicht  gar  verwest  ist. 

8 


Dcr  ideelle  Bahnhof,  nach  dem  ich  jetzt  hin  will,  wcshalb 
ich  jetzt  meine  reellen  Beine  in  Bewegung  setze,  weshalb 
ich  handele,  wirklich  will,  tuc,  diescr  ideelle  Bahnhof 
konnte,  ohne  daB  ich  es  weift,  gar  nicht  mehr  dasein,  wenn 
ich  hinkame.  Ich  glaube  ja,  daB  &  dasein  wird,  sonst  wiirde 
ich  nicht  hingehen.  Und  ohne  Zweifel  ist  dieser  ,,geglaubte 
Bahnhof"  auch  etwas,  er  ist  eben  ein  ideelles  Ding.  — 

Nehmen  wir  jetzt  unseren  Zettel,  und  versuchen  wir  auf- 
zuschreiben,  was  es  denn  alles  auBer  dem  reellen  Jetzt  gibt. 

0,  das  wird  eine  endlose  Arbeit!  Meine  Reiseerinne» 
rungen,  meine  ganzen  Lebenserinnerungen  tauchen  auf, 
mein  friihcres  Wollen,  Sehncn,  Glauben.  Wclten  iiber 
Wcltcn  schachteln  sich  in  der  Zeit  ineinander.  Das  Han» 
deln  der  Menschen,  die  ganze  Geschichte  ga'hnt  mich  an. 
Der  Kosmos  umfangt  mich.  In  Ewigkeiten,  in  grenzenlose, 
schwindelnde  Tiefe  blickt  das  geistige  Auge.  Die  nahe, 
reelle  Erde  wird  zum  Tropfen,  zum  Differential  der  Un« 
endlichkeit  des  ideellen  Raumes.  Das  Ideelle  ist  die  Ewig- 
keit  und  Unendlichkeit  selbst  in  unendlicher  Erfiillung 
und  Gestaltung.  Und  dieses  alles  ,,gibt  es",  muB  ich  kon= 
statieren,  ebenso  wie  es  die  reelle  Strafie  hier  gibt,  meinen 
reellen  Leib,  mein  reelles  Handeln1. 

Die  ideelle  Sphare,  bemerke  ich  nun,  bildet  mit  der  re- 
ellen Sphare  eine  einzige  unaufzahlbare  Totalitat  des  Sei» 
enden  iiberhaupt,  ein  Ineinandersein,  ein  Miteinandersein 
des  einen  und  des  anderen,  wie  es  jeder  in  jedembeliebigen 
Momente  so  selbstverstandlich  findet :  AIs  das  voile  Welt» 
erlebnis,  so  daB  man  schon  Fhilosoph  sein  muB,  um  sich 
noch  dariiber  zu  wundern. 

1  Vgl.  R.  Eisler,  wie  Seitc  7  erwahnt.  Ich  bittc  auch  das  Wort 
,,ideell"  nicht  zu  verwechscln  mit  dem  ahnlich  lautendcn 
philosophischen  Fachausdruck  ,,ideal". 


Wir  wollen  uns  auch  gar  nicht  dariibcr  wundern.  Wohl 
abcr  wollen  wir,  da  wir  noch  keinen  ,,Standpunkt"  haben, 
zur  Sichcrheit  dies  schriftlich  zu  Protokoll  geben,  dag  es 
sich  so  verhalt:  Daft  es  diese  zwei  Spharen  gibt,  worin 
alles  Seiende,  was  es  iiberhaupt  gibt,  enthalten  ist,  daft 
hieraus  aller  Sinn  irgendwelcher  Behauptungen  iiber  das 
Sein  das  Material  hernehmen  mug,  daft  keiner  von  etwa 
drittem  Seienden  reden  kann,  welches  von  dieser  DoppeU 
heit  des  Reellen  und  Ideellen  ausgeschlossen  ware  und 
dennoch  ,,etwas"  ware,  d.h.dem  WorteSein  irgendwelchen 
Sinn  verleihen  wiirde.  Sagen  wir  also  gegen  alle  Meta« 
physik  gewendet:  Es  gibt  keine  Hinterwelt  aufier  dieser  Welt 
der  beiden  Spharen,  die  jetzt  jeder,  wie  ich  annehme,  kennt 
und  erfapt  hat. 

Das  also  ware  das  Material,  mit  dem  wir  es  immer, 
gleichviel  ob  wir  Philosophen,  Gelehrte,  Kiinstler, 
Techniker  oder  gewohnliche  Menschen  sind,  zu  tun  haben. 
Betrachten  wir  nun  die  Sache  noch  etwas  genauer ! 

Was  entdecken  wir?  ,,Es  gibt"  doch  noch  etwas,  was 
wir  bis  jetzt  noch  gar  nicht  erfagt  haben.  Dieses  Neue 
freilich  ,,ist"  nicht,  es  ist  nichts,  wenn  Seiendes  etwas 
von  dem  oben  aufgezahlten  Material  unserer  ideellen  und 
reellen  Sphare  bedeutet,  etwas,  das  so  beschaffen  ist  wie 
Anschauung  oder  Ton  oder  Gefiihl  oder  mein  wirkliches 
Wollen.  Hierin  liegt  zunachst,  gesetzt  diese  Behauptung 
ware  richtig,  eine  bemerkenswerte  Sinnverschiedenheit 
der  beiden  Formeln:  ,,Es  gibt  etwas"  und  ,,es  ist  etwas". 

,,Es  gibt  mehr  als  ist."  —  Was  kann  dieser  paradoxe  Satz 
bedeuten?  Wie  kann  es  einen  Sinn  von  Worten  geben, 
der  noch  mehr  umfassen  soil  als,  was  ich  meine,  wenn  ich 
bereits  sage:  ,,Alles  Seiende",  ,,alles,  was  ist"?  — 


Ich  nehmc  es  keincm  mcincr  Lcser  ubel,  wenn  er  hier 
SchluB  macht  und  zum  nachsten  Kapitel  iibergeht.  Ab- 
solut notig  zum  Verstandnis  dcs  Spateren  sind  die  cr« 
kenntnistheoretischen  Betrachtungcn,  die  jetzt  kommen, 
nicht,  sie  dienen  nur  zur  wissenschaftlichen  Begrundung 
des  Spateren,  brauchen  also  von  Nichtphilosophen  nicht 
angestellt  zu  werden. 

Die  denkenden  Menschen  haben  sich  lange  Zeit  ab= 
gcmiiht,  bis  ihnen  der  zu  erkennende  Sachverhalt  am 
vollen  Weltcrlebnis,  welches  sie  friiher  nur  immer  an= 
schaulich,  intuitiv  betrachten  wollten,  klar  wurde.  Aber 
es  gibt  in  der  Tat  zweierlei: 

1.  ,,Seiendes",  sei  es  nun  sinnliches  oder  gefuhlsmafti- 
gcs,  sei  es  reelles  oder  ideelles  Scicndcs,  man  nennt  es  das 
Material  oder  die  ,,Materie  der  Erkenntnis";  — 

2.  ,,Begrifle"  dieses  Seienden,  die  uns  darin  einleuch- 
ten,  die  von  dem  seienden  Material,  wic  man  seit  Lotze 
wissenschaftlich  sagt,  ^gelten".  Das  ^Geltende"  wird  von 
manchen   Erkenntnistheoretikern  wieder  als  die  ,,Form 
der  Erkenntnis"  bezeichnet  im  Gegensatze  zur  ,,Materic 
der  Erkenntnis". 

Eisler1  definiert:  ^Begriffe  sind  der  Niederschlag  von 
Einsichten  in  das  Konstante,  Allgemeine,  Charakteristische, 
Typische  einer  Gruppe  von  Objekten,  die  Konzentrierung 
und  Fixierung  des  in  einer  Reihe  von  Urteilen  Gedachten. 
Sie  enthalten  das  ^Wesen"  einer  Klasse  von  Objekten. 
Dieses  7/Wesen"  ist  das,  was  dem  Denkenden  als  logisch 
wichtig,  bedeutsam  erscheint ..."  —  Machen  wir  uns  dies 
an  einem  Beispiel  klar! 

Hier  liegen  zwei  Eier.  Ihre  Ahnlichkeit  ist  sprichwort- 
1  R.  Eisler,  wie  Seite  7  erwShnt. 

11 


lich,  beide  sind  WeiSes  in  bestimmter  Form.  Aber  es  sind 
doch  zwci  verschieden  reellc  Dinge,  die  hier  liegen.  Es  ist 
durchaus  nicht  einerlei,  ob  meine  Hcnnc  nur  eins  oder  zwei 
gelegt  hat.  Warum  bezcichne  ich  denn  nun  nicht  jcdcs  Ei 
mit  einem  anderen  Namen?  Warum  brauche  ich  fur  diesc 
vcrschiedenen  Objckte  nur  eincn  gemeinsamen  Ausdruck? 
Offenbar  deshalb,  weil  ich  nicht  dieses  oder  jenes  konkrete 
Ei  meine,  spndern :  den  Begriff  der  reellen  und  der  samt= 
lichen  ideellen  Eier,  die  vorgestellt  werden  mogen. 

Oder  betrachten  wir  den  bunten  Wechsel  des  Geschehens 
in  der  Zeit.  Weshalb  geben  wir  so  vielen  Vorgangen,  die 
sich  zu  verschiedenen  Zeiten  abgespielt  haben,  denselben 
Namen?  Weshalb  sprechen  wir  ganz  einfach  von  ,,dem" 
freien  Fall  der  Korper  oder  von  ,,der"  Brechung  des 
Lichts?  Offenbar  deshalb,  weil  bei  Gleichheit  gewisser 
Erscheinungen  in  der  Zeit  die  Gleichheit  anderer  Er« 
scheinungen  in  derselben  Zeit  bcstcht,  weil  das  zeitliche 
ebenso  wie  das  raumliche  Seiende  Gemeinsamkeit,  d.  h. 
partielle  Gleichheit  aufweist.  Diese  Gleichheit  befiehlt  uns 
die  Physik  im  Begriffe  des  Gesetzes  zu  denken,  im  Gesetz 
des  freien  Falls  wie  im  Gesetz  der  Lichtbrechung. 

Die  ganze  exakte  Naturlehre  handelt  von  Gesetzen,  d.  h. 
von  Begriffen,  die  ihre  Erfullung  finden  durch  jene  be» 
stimmte  Art  des  anschaulich  Seienden,  welches  wir  in  der 
Sinneswahrnehmung  vorfinden  und  welches  —  worauf 
Mach1  eindringlich  hingewiesen  hat  —  immer  wieder  aus 
denselben  Seinselementen,  namlich  denselben  Farben, 
Driicken,  Warmen,  Geschmacken,  Geriichen,  Tonen  be* 
steht,  einerlei,  ob  die  beobachteten  Gesetzmaftigkeiten  des 
konkreten,  daraus  zusammengesetzten  Geschehens  das 


1  E.  Mach,  Analyse  der  Empfindungen.  6.  Aufl.  G.  Fischer, 
Jena  1911. 


12 


letztcrc  als  einen  ,,Lichtvorgang",  einen  ,,elektrischen" 
Vorgang,  einen  ,,chemischen"  Vorgang  usw.  charakte- 
risieren.  ,,Dit  Elektrizitat"  ist  nichts  Seiendes,  sondern 
eine  Gesetzmafiigkeit,  ein  fur  dasselbe  Seiende  geltendes 
Begriffssystem,  fiir  welches  auch  zugleich  noch  andere 
solcher  Begriffssysteme,  wie  ,,die  Gravitation"  oder  ,,die 
chemische  Aflinitat",  ,,die  Warme"  usw.  gelten.  Auch  die 
in  den  Gesetzen  vorkommenden  GroBen  sind  Begriffe  und 
nicht  etwas  Seiendes.  In  den  anschaulichen  Vorgangen  der 
mechanischen  oder  elektrischen  oder  magnetischen  Be* 
wegung  von  Korpern  gegeneinander  ist  etwas,  was  die 
,,mechanische  Masse",  die  ,,motorische  Kraft",  die  ,,Elek» 
trizitatsmenge",  die  ,,magnetische  Kraft"  usw.  heifit,  nicht 
zu  sehen,  zu  greifen,  zu  riechen;  sondern  es  ist  als  bestimm* 
ter  Quantitatsbegrift  darin  oder  davon  denkend  zu  erfassen, 
ebenso  wie  jeder  rein  mathematische  Begriff. 

Ich  brauche  wohl  nicht  hinzuzufiigen,  daft  jeder  nature 
wissenschaftliche  GroBenbegriff  wie  jedes  Naturgesetz 
iiber  die  Beobachtung  hinausgeht  und  deshalb  ein  Begriff 
ist,  der  nur  fiir  die  ideelle  Anschauung  gilt,  die  wir  uns 
selbst  erst  ersonnen  haben1. 

Wir  sehen  also  —  das  glaube  ich  hiermit  genugend  klar 
gemacht  zu  haben  —  es  gibt  auBer  dem  Seienden  noch 
etwas  vollig  anderes,  etwas,  das  nicht  ,,zur  Ansicht",  son« 
dern  ,,zur  Einsicht"  kommt:  Eben  jene  vielfaltige  Gemein- 
samkeit  des  Seienden,  die  wir  im  Begrifle  erfassen  und  die 
als  Begriff  von  dem  Seienden  gilt.  Das  war  es,  was  den 
Denkern  von  Plato  bis  auf  Kant  so  viel  Kopfzerbrechen 
gemacht  hatte2. 


1  H.  Poincart,  Wissenschaft  und  Hypothesc,  iibcrsctzt  von  F. 
u.  L.  Lindemann.  2.  Aufl.  Teubncr,  Leipzig  1906.  2  In  sehr 
klarer  Weisc  wird  dies  geschildcrt  von  E.  Cassirer,  Das  Er- 

13 


Rr  die  meisten  wissenschaftlich  gebildeten  Menschcn 
nd  das  freilich  heute  selbstverstandliche  FeststeU 
lungcn  —  odcr  sollten  es  wenigstens  sein.  Abcr  wenn  man 
philosophiert,  so  muB  man  auf  solche  ,,Selbstverstandlich» 
keiten"  ganz  besonders  acht  gcben.  Denn  man  gera't  sonst 
Icicht,  wic  die  Geschichtc  dcr  Philosophie  beweist,  in  Wi* 
defspriiche.  Wir  haben  uns  stets  gegenwartig  zu  halten, 
daft  die  Gemeinsamkeit,  die  wir  im  Begriffe  erfassen,  in 
ihrem  Verhaltnis  zur  bloften  Anschauung  oder  Intuition 
etwa  vergleichbar  ist  der  dritten  Dimension,  die  zur 
Flache  hinzukommt,  um  das  voile  Ganze  zu  machen,  das 
man  schlechthin  den  Raum  nennt.  So  ist  auch  das,  was 
man  schlechthin  die  Dinge,  die  Vorgange,  die  Personen, 
die  Handlungen  nennt,  ganz  abgesehen  davon,  ob  das  Ma« 
terial  dieser  Dinge  usw.  ideell  oder  reell  ist,  bereits  ein 
logisch  untrennbares  Ganzes  von  Anschauung  und  Begriff, 
mit  einem  Worte  ,,Erfahrung"  (im  Kan/ischen  Sinne). 

Jedes  wirkliche  Etwas  befindet  sich  nicht  nur  anschaulich 
eingestellt  in  die  unendliche  Spha're  des  Reellen  und  Ide- 
ellen,  sondern  zugleich  auch  unterstdlt  dem  System  der 
Begriffe  —  ein  Umstand,  der  dem  intuitiv  veranlagten 
Menschen  geradezu  widerwartig  ist. 

System  der  Begriffe?  Ein  neuer  Ausdruck  wird  hier  aus 
der  Pistole  geschossen!  Was  soil  denn  das  heiften: 
^System"?  —  Der  Leser  werde  nicht  ungeduldig;  auch 
moge  jeder  meine  Warnung  bedenken  und  den  Rest  dieser 
Spitzfindigkeiten  ubergehen,  wenn  er  sich  nicht  dafiir 
interessiert. 


kcnntnisproblcm  in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der 
neueren  Zeit.  2.  Aufl.  B.  Cassirer,  Berlin  1911.  —  Man  sehe 
auch  H.  Lotze,  Logik.  Philosophische  Bibliothek,  Bd.  141. 
F.  Meiner,  Leipzig. 


Es  ist  das  letzte,  was  ich  —  noch  immcr  ohne  ,,Stand« 
punkt"  —  zcigcn  mochte,  bcvor  ich  mit  der  Darstellung 
meiner  Auffassung  vom  Sinn  der  Technik  und  mit  dcr 
Kritik  des  Unsinns  iiber  die  Technik  beginne.  Wenn  wir 
noch  klar  sehen  —  und  Denken  erfordert  Klarheit  —  was 
ein  „ System  von  Begriffen",  ein  ,,Begrundungszusammen« 
hang  von  Begriffen"  bcdcutet,  die  von  dem  Mannigfaltigen 
der  Anschauung  gedacht  werden  sollen  oder  denen,  wie 
wir  eben  sagten,  ein  solches  Anschauliches  unterstehn  soil : 
Wenn  uns  dieses  vollig  klar  ist,  dann  verstehen  wir  leicht, 
womit  sich  die  wissenschaftliche  Philosophie  der  Gegen« 
wart,  im  besonderen  die  kritische  Philosophie,  so  schr 
abmiiht,  worauf  es  ankommt  bei  allem  wissenschaftlich 
ernst  gemeinten  Philosophieren  iiberhaupt —  ganz  einerlei, 
von  welchem  Standpunkte  aus.  Aber,  wie  gesagt,  vielen 
Leuten  ist  das  vollig  gleichgiiltig,  und  ich  nehmc  es  ihnen 
nichtubel. 

GlUcklicherweise  —  manche  sagen  unglucklicherweise 
—  gibt  es  schon  wohlbekannte,  gut  ausgebildete  Be- 
griffssysteme  oder  Begrundungszusammenhange,  die  uns 
wShrend  unserer  Schulzeit  als  Vorbilder  der  Wissenschaft- 
lichkeit  einleuchten  oder  wenigstens  einleuchten  sollten, 
z.  B.  die  Geometric. 

Wir  wissen :  jeder  besondere  raumliche  Formbegriff,  den 
wir  in  der  ideellen  Sphare  konstruieren,  untersteht  einem 
allgemeineren  Formbegriffe.  Der  Begriff  des  Dreiecks 
untersteht  dem  des  Vielecks,  der  Begriff  des  Kreises  dem 
des  Kegelschnitts  usw.  Und  auch  jeder  Begriff  einer  be- 
sonderen Quantitatsbeziehung,  jede  Einsicht  in  einGroften* 
verhaltnis  an  komplizierten  geometrischen  Konstruktions« 
formen  untersteht  wenigen  grundeinfachen  geometrischen 

15 


Quantitatsbegriffen,  die  das  in  dem  komplizicrten  Form= 
zusammenhang  Einzusehcndc,  z.  B.  die  Gleichhcit,  die 
der  Lehrsatz  des  Pythagoras  ausspricht,  wie  man  sagt, 
,,begrunden". 

Der  mathematische  Beweis  zeigt,  dafi  hier  dasselbe  statt» 
findet,  wovon  in  den  und  den  einfacheren  Verbindungen 
friiher  bereits  eingesehen  worden  ist,  daft  die  und  die 
Quantitatsbeziehungen,  wenn  man  jene  zugibt,  ebenso 
wahr  bestehen.  Und  so  umfaftt  schlieBlich  die  Wissenschaft 
Geometrie  das  durch  einfache  und  allgemeine  Grundein= 
sichten  gestiitzte  System  samtlicher  Form=  und  Quanti= 
tatsbegriffe,  die  von  der  moglichen  ideellen  Gestaltenftille 
des  Raumes  gedacht  werden  konnen.  Ihre  Lehrsatze  und 
Formeln  bedeuten  Begriffe  und  Begriffe  von  Begriffen. 
Sic  sind  Befehle  —  fur  manchen  freilich  schwer  ausfiihr= 
bare  und  verwtinschte  Befehle  —  von  der  ideellen  An= 
schauung  des  mannigfach  gestalteten  Raums,  ein  ,,Sy= 
stem",  d.  h.  ein  mit  allgemeinen  Grundbegriffen  oder  Axi= 
omen  im  Begriindungszusammenhange  stehendes  Wissen 
von  besonderen  Begriffen  einzusehen. 

Ahnlich  macht  es  die  Physik,  die  Chemie,  die  Biologic, 
die  exakte  Naturwissenschaft  iiberhaupt.  Satze,  wie  die 
beiden  Hauptsatze  der  Energetik  oder  das  Newtonsche 
Gravitationsgesetz  befehlen  uns,  vom  anschaulichen  ma= 
teriellen  Geschehen  in  Raum  und  Zeit  Quantitatsbezieh= 
ungen  —  sogenannte  ,,Funktionsbegriffe"  —  zu  fassen 
und  diesen  alle  beliebigen  vorkommenden  Falle  unterge- 
ordnet  zu  denken.  Wenn  dann  ein  Maschinenbauer,  der 
die  Naturwissenschaft  praktisch  verwerten  will,  in  einer 
Patentschrift  sagt:  ,,Meine  Maschine  —  er  meint  eine 
ideelle,  von  ihm  ausgedachte  Maschine  —  geht",  so  be* 
grundet  er  die  von  ihm  erwartete  Wirkung  durch  die  be= 

,6 


kannten  Naturgesctze  und  mathematischen  Forms  und 
Quantitatsbeziehungen.  Die  ganzc  Maschinenlchre,  die 
das  Erfundcne  und  Erfindbarc  iiberhaupt  umfassen  will, 
strebt  einem  cinzigcn  universellen  Begriindungszusammen* 
hange  zu;  ihrc  zucrst  von  Reuleaux  erfaftte  Idee  ist  die 
Idee  des  Systems  alter  denkbaren  Maschinen:  Die  theore* 
tische  Kinematik.  —  Hierauf  kommen  wir  spater  ausfuhr* 
lich  zuriick.  Ingenieure,  die  mir  soweit  gefolgt  sind,  werden 
die  Bedeutung  dieser  Auseinandersetzung  erkennen. 

Aber  haben  wir  nicht  schon  wieder  ein  neues  Wort 
eingeschmuggelt  —  die  Idee?  Was  heiftt  denn  das:  Die 
Idee?  Sollte  es  etwa,  wird  der  Leser  denken,  nun  noch 
hoher  hinaufgehen  als  mit  dem  Begriffe  iiber  die  An* 
schauung? 

Manche  Philosophen  meinen  das  allcrdings.  Aber  der 
Leser  beruhige  sich  —  ich  nicht.  Wer  einmal  das  Wesen 
des  Begreifens  oder  das  Wesen  des  Begriffes,  den  es  zu  be* 
greifen  gilt,  einsieht,  wer  einsieht,  daft  es  Allgemeineres  im 
Allgemeinen,  Einfacheres  im  weniger  Einfachen,  namlich 
Begriffe  von  Begriffen  gibt,  wer  das  begreift,  der  hat  das 
Einsehen  uberhaupt  erfaftt.  Es  kann  sich  dann  nur  um 
Unterscheidungen  handeln,  die  nicht  mehr  das  Wesen  der 
Sache  beruhren,  sondern  lediglich  ihre  Besonderung  aus« 
driicken  sollen.  Und  eine  solche  Besonderung  will  man  in 
der  Tat  mit  dem  Worte  Idee  bezeichnen. 

Kant  verstand  darunter  den  Begriff  in  einer  ideellen 
Vollkommenheit  und  Unendlichkeit,  die  sich  nirgends  und 
niemals  in  der  Wirklichkeit  realisiert  findet.  Er  verstand 
unter  Idee  einen  allgemeinsten  Begriff,  welcher  auf  ideelle 
Totalitat  von  besonderen,  auf  die  Endlichkeit  beschrankten 
Begriffen  geht. 

Von  solcher  unendlicher  oder  ,,transzendentaler"  (nicht 

--  Zschimmer,  Philo»ophit  der  Tcchnik  !7 


etwa  ,,transzendenter" !)  Art  ist  in  dcr  Tat  dcr  Leitbegriff 
oder  die  Grundidee  eincr  jeden  Wissenschaft,  die  sich 
noch  nicht  am  Ende  ihres  Zieles  angelangt  weift. 

Eine  jcde  Wissenschaftsidec  ist  dcr  idccll  crfaBte  er« 
schopfende  unendlichc  Begriff  alles  dessen,  was  cs  inner* 
halb  eines  gewissen  materialen  Bereiches  zu  begrcifcn 
gilt.  Die  Wissenschaftsidec  ist  nichts  anderes,  als  was 
Kant  meinte,  wenn  er  von  dem  ,,transzendentalen  Grunde 
zur  Moglichkeit"  der  Wissenschaft-iiberhaupt  sprach.  So 
steht  die  Idee  der  Physik  als  eines  theoretischen  Systems 
am  Anfang  der  unvollendeten  aktuellen  Physik,  die  Idee 
des  rationellen  Maschinenbaues  als  eines  theoretischen 
Systems  am  Anfang  des  unvollendeten  aktuellen  Maschi= 
nenbaus.  Ohne  die  vorausschauende,  das  Resultat  in  seiner 
Vollendung  vorausdenkende  Idee  wurde  keine  Forschung, 
wenigstens  keine  wissenschaftlich  sinnvolle  Forschung 
moglich  sein. 

So  geht,  wenn  man  zusieht,  der  alles  vereinigende  Grund= 
begriff  von  moglichen  systematischen  Begriffszusammen= 
hangen  —  der  Systembegriff  —  auseinander  in  die  mannig* 
faltigen  Typen  von  besonderen  Wissenschaftsideen.  Aber, 
fragen  wir,  hat  es  damit  ein  Ende  fur  das  systematische 
Begreifen  des  Seienden  iiberhaupt?  Ist  in  den  exakten 
Wissenschaften,  wenn  sic  ihre  Systeme  entwickelt  haben, 
schon  die  vollstandige  Entfaltung  des  Denkens  unter  der 
Herrschaft  von  hochsten  Ideen  zu  Ende  gebracht?  — 

Es  gibt  allerdings  Leute,  die  meinen,  aufier  Mathematik 
und  Naturwissenschaft  ware  nichts  von  Ideen  bestimmt, 
das  wissenschaftlichen  Sinn  hatte.  Alles  andere  existiert 
fur  sie  nicht,  oder  sie  meinen,  es  habe  keinen  Sinn,  es 
sei  fur  den  Menschen  uberflussig,  sich  damit  zu  beschaf* 
tigen.  So  denken  alle,  die  sich  auf  dem  Standpunkt  des 

18 


Naturalismus  in  seinen  bekannten  Spiclarten  bcfindcn  — 
nicht  wir. 

Denn  wir  haben  ja  noch  kcincn  Standpunkt.  \X;ir  sind 
noch  naiv  genug,  alles  mit  offenen  Augen  zu  schauen,  was 
es  zu  bcschauen  gibt.  Wir  mochten  alles  begreifen,  was  es 
an  Erschaubarem  zu  bcgrcifcn  gibt.  Uns  interessiert  cben 
wie  die  unbefangenen  Kinder  noch  alles  Grofte  und 
Schone  in  der  Welt.  Wir  fiihlen  unser  Denken  frei,  noch 
nicht  eingespannt  in  den  Schraubstock  einer  fertigen  Welt- 
anschauung eines  X=ismus,  und  so  fragen  wir  mit  gren» 
zenloser  Neugier:  Was  gibt  es  denn  iiberhaupt?  —  Also 
auch :  Welche  mogliche  ,,Ideenbezogenheit",  auficr  der 
mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis- 
weise,  konnte  es  in  dieser  bunten  Welt  geben,  von  der  wir 
selbstein  Stuck  sind?  — 

Man  bcsinne  sich  doch !  Gibt  es  wirklich  nur  Zahlcn, 
geometrische  Vorstellungen  und  Naturgebilde?  Besteht  das 
All  bloft  aus  mathematischen,  mineralogischen  und  bio= 
logischen  Dingen,  aus  physikalischcn,  chemischen,  phy« 
siologischen  Prozessen?  1st  das  Ganze  der  Welt  eine  aba 
laufende  Maschincric,  deren  momentanen  Zustand  man 
nur  zu  kennen  brauchtc,  um  in  alle  Zukunft  hinaus  be* 
rechnen  zu  konnen,  wie  spater  alles  sein  wird? 

Gibt  es  wirklich  keinen  anderen  Gedanken,  als  diese 
funktional-begrifflichen  Gesetze,  die  wir  von  der  Mathe= 
mathik  und  Naturwissenschaft  erlernen?  Und  sind  wir  die 
verdammten  Sklaven  einer  Schicksalsmacht,  die  mit  uns 
umgeht,  wie  die  Natur  mit  den  anorganischen  Dingen, 
die  sie  formen,  verandern,  vernichten  und  wieder  auf* 
bauen  kann?  — 

Will  man  etwa  behaupten,  in  dem  Determinismus  des 
die  Zukunft  vorausberechnenden  Laplaceschen  Geistes 

'9 


sei  dcr  ganze  Sinn  der  vollen  Anschauung  allcs  Rcellen 
und  Ideellen  der  Welt  erschopft?  Glaubt  man,  daS  auch 
unser  Handeln,  alle  Geschichte  und  das  gesamte  Kultur= 
schaffen  diesem  Fatalismus  der  Formel  ebenso  ausgeliefert 
sei,  wie  die  toten,  chemischen  Stoffe,  die  toten  Energien, 
die  toten  Aggregatzustande,  die  Sternhaufen,  die  bidden, 
teuflischen  Bazillen? 

Ich  frage  nochmals:  Glaubt  einer  meiner  Leser  wahr= 
haftig,  daft  alles  Wissen  in  Mathematik  und  Naturwissen= 
schaft  aufgehen  miisse?  Jetzt  heiftt  es  bekennen!  Wir  sind 
endlich  bei  der  Frage  angelangt,  die  —  uber  den  Standpunkt 
entscheidet ! 

Niemand  kann  im  Ernst  bestreiten,  daft  er  selbst,  als  le= 
bendige,  handelnde  Personlichkeit,  in  ein  freies  Reich 
von  ideellen  Moglichkeiten  gesetzt  ist.  In  dieser  Freiheit 
der  ideellen  Sphare  liegt  der  wesentliche  Gegensatz  des 
Menschen  zum  niederen  Tier,  fiir  welches  der  Ausdruck 
,,organische  Maschine"  sehr  wohl  passen  mag.  Wir  konnen 
uns  zu  unendlich  verschiedenen  Handlungen  entschlieBen 
—  trotz  der  Naturgesetze.  Sofern  wir  Menschen  sind, 
sind  wir  iiber  der  Determiniertheit  des  Geschehens  er= 
haben ;  denn  wir  konnen  es  jetzt  nach  unserem  Wunsch  und 
Plane  lenken  wie  ein  Wagenfiihrer  seine  Rosse  (Plato). 

Mogen  also  —  was  wir  gewift  glauben  —  die  Naturgesetze 
unverletzlich  und  ewig  sein,  das  schadetder  Freiheit  nichts. 
Der  von  ihnen  funktional  bestimmte  Ablauf  der  materU 
ellen  Prozesse  ist  noch  dieser  hoheren  Bestimmung  durch 
freie  Lebewesen  unterworfen,  die  aus  ideeller  Voraussicht 
unendlicher  Moglichkeiten,  unendlicher  Freiheitsgrade 
handeln.  Poincare1,  der  einer  der  scharfsinnigsten  Ma= 
1  H.  Poincart,  wie  Scite  13  crwahnt. 
20 


thcmatikcr  und  Physiker  und  zugleich  cin  hervorragen= 
der  Naturphilosoph  war,  ncnnt  den  Detcrminismus  sehr 
trcffcnd  einc  rcinc  Hypothese,  in  welcher  nicht  Erfah- 
rungen,  sondern  nur  Voraussetzungen  zusammengefaftt 
werden,  und  zwar  diese: 

,,Der  Zustand  des  Universums  ist  clurch  eine  aufteror» 
dentlich  grofce  Zahl  n  von  Parametern  bestimmt,  welche 
ich  xj,  x2  .  .  .  xn  nennen  will.  Sobald  man  in  irgendeinem 
Augcnblickc  die  Wcrte  diescr  n  Parameter  kennt,  so  kennt 
man  gleichzeitig  ihre  Ableitungen  in  bezug  auf  die  Zcit, 
und  man  kann  folglich  die  Wcrte  dieser  selben  Parameter 
fur  einen  vorhergehenden  oder  kiinftigen  Zeitpunkt  be* 
rechnen.  Mit  anderen  Worten:  Diese  n  Parameter  ge« 
niigen  n  Differentialgleichungen  erster  Ordnung."  — 

Aber  viele  Naturwissenschaftler  sind  leider  zu  denkfaul, 
um  sich  die  Grundlagen  des  ganzen  Betriebes,  in  welchem 
sic  mitarbeiten,  in  kritischer  Weise  klar  zu  machen;  sic 
sind  und  bleiben  Dogmatiker  und  Metaphysiker,  ohne  es 
zu  wissen ! 

Das  System  der  Naturgesetze  ist  ein  Isolationssystem, 
d.  h.  ein  funktionales  Begriffssystem,  welches  zur  volligen 
Determiniertheit  jener  hoheren  Mannigfaltigkeit  der  Dinge 
und  Vorgange  des  Lebens,  der  Geschichte,  der  Kultur 
keineswegs  ausreicht1.  Es  ist  also  grundfalsch,  wenn  Ost- 
wald*,  der  sonst  so  geistvolle  Chemiker,  sagt:  ,,Die  Kul« 
turerscheinungen  sind  mit  anderen  Worten  nur  ein  ge= 
wisses  Gebiet  der  gesamten  Naturerscheinungen,  namlich 


1  Die  hier  angedeuteten  Gedanken  habe   ich  ausgefiihrt  in 
meinem  Buche:  Das  Welterleb  nis,  3.  Teil,  Engelmann,  Leip= 
zig  1913.    —    Wir  kommen  spater  nochmals  darauf  zuriick. 

2  W.  Ostwald,   Die  Philosophic  der  Werte.  Kroner,  Leipzig 
1913.  —  Uber  O/s  ,,energetischen   Imperativ"  werden  wir 
uns  noch  unterhalten. 

21 


solcher,  die  beim  Menschcn  vorkommen",  und  damit  die 
gesamte  Kultur  zu  verstehen  glaubt. 

Wie  schon  unter  denselben  Gesetzen  cine  unendlich  ver» 
schiedene  anschauliche  Erfiillung  durch  die  Gegenstande 
der  Naturbeschreibung  denkbar  ist,  wie  es  denkbar  ist, 
was  schon  Leibniz  gezeigt  hat,  daft  ein  ganzlich  anders 
gestaltetes  Planetensystem  oder  vollig  andere  Kombina- 
tionen  der  Stoffe  und  Bewegungszustande  in  demselben 
da  sein  konnten,  ohne  daft  im  mindesten  die  Gesetze  ver» 
letzt  wiirden,  so  muft  auch  wenigstens  gedacht  werden 
konnen,  daft  die  anschaulichen  Naturprozesse  unter  der 
Naturgesetzlichkeit  noch  unendlich  frei,  d.  h.  von  diesen 
Gesetzen  unbestimmt  seien.  Dies  gilt  es  eben  zu  begreifen, 
und  das  fa'llt  den  Naturwissenschaftlern  so  schwer!  — 

"Detrachten  wir  nun  den  Inhalt  der  Geschichte  genauer, 
J_Jso  entdecken  wir,  daft  darin  keineswegs  eine  chaotische 
Wildheit  des  Geschehens  ohne  jede  innere  Gemeinsamkeit 
herrscht.  Die  Handlungen  der  Menschen  und  ihre  hinter» 
lassenen  Werke  erscheinen  sehr  wohl  begreiflich  durch  ge» 
wisse  allgemeine  Formen  des  Zusammenhangs  und  der 
Gestaltung;  sie  erscheinen  daher  verstandlich  und  ver- 
niinftig  durch  die  Planmaftigkeit,  die  uns  darin  einleuchtet. 
Das  ,,Reich  der  Zwecke"  setzt  sich  dem  ,,Reiche  der 
Natur"  also  nicht  entgegen  als  der  Tummelplatz  einer 
sinnlosen  Zufalligkeit  in  den  historischen  Erscheinungen, 
soweit  diese  unter  den  Naturgesetzen  noch  Freiheitsgrade 
haben.  Sondern,  wie  die  Natur  durch  Gesetze,  so  ist  die 
Geschichte  durch  Ideen  zu  verstehen.  Allerdings  haben 
die  historischen  Tatsachen  diese  Verstandlichkeit  nur  fur 
den,  dem  die  Ideen  einleuchten,  wie  ja  auch  die  Natur 
nur  fur  denjenigen  ein  systematischer  Gesetzeszusammen» 

22 


hang  1st,  welcher  imstande  ist,  die  Gesetzlichkeit  einzu> 
sehcn. 

Nur  mufi  man  sich  htiten,  wie  Kant  in  dem  Freiheits- 
begriffe  hoherer  Art,  namlich  dcr  unter  Normcn  stehenden 
Freihcit,  das  Wesen  der  Freiheit  iiberhaupt  zu  schen  und 
so  nur  wieder  die  Gesetzmaftigkeit,  die  Norm  des  Ge» 
schehens  ins  Auge  zu  fassen.  Denn  damit  verfliichtigt  sich 
das  eigentlich  wesentliche  Moment  des  Freiseins  ganz  und 
gar.  Wenn  daher  manche  Kantianer  das  Gesetz  des  sift- 
lichen  Handelns  geradezu  ,,die"  Freiheit  nennen,  so  ist 
das  ein  offenbarer  Widersinn,  der  nicht  scharf  genug  be* 
kampft  werden  kann,  wie  es  auch  neuerdings,  freilich  mit 
stumpfen  Waffen,  Bergson1  getan  hat. 

Es  klingt  erhebend,  wenn  Kant-  sagt:  ,,Zwei  Dinge  er> 
fiillen  das  Gemiit  mit  immer  neuer  und  zunehmender  Bc= 
wunderung  und  Ehrfurcht  je  ofter  und  anhaltender  sich 
das  Nachdenken  damit  beschaftigt:  Der  bestirnte  Himmcl 
iiber  mir  und  das  moralische  Gesetz  in  mir." 

Aber  Kant  war  eben  PreuBc.  Gesetz,  Pflicht  war  fur  ihn 
alles.  Der  Begriff  der  reinen  Freiheit  war  ihm  unertraglich, 
ja  er  verachtete  ihn.  Daher  seine  Blindheit  gegen  das  Wert* 
vollste  und  Wahrste  an  der  Freiheit,  den  Gegensatz  zur 
Determiniertheit,  jene  unbestimmte  und  iiberhaupt  in 
keiner  \\  cisc  bestimmbare  herrliche,  wunderbare  Unbe» 
schranktheit,  die  das  Leben,  in  dem  es  wirklich  lebt,  in 
seinem  eigenen  Bewufitsein  geniefit. 

Halten  wir  also  fest:  Die  freien  Subjekte  konnen  aus 
Freiheit  Ideen  ergreifen  und  danach  ihr  Handeln  be« 


1  H.  Bergson,  Schopfcrischc  Entwicklung.  Dbersetzt  von  G. 
Kantorowicz.  Diederichs,  Jena  1912.  *  /.  Kant,  Kritik  der 
praktischen  Vcrnunft  (1788).  Ausgabe  der  Kgl.  Preufj. 
dcmie.  G.  Rcimer,  Berlin  1908. 


stimmen.  Und  das  Reich  der  Zwecke,  so  fern  es  durch  Ideen 
verstandlich  erscheint,  das  ist  es,  was  wir  im  eigentlichen 
Sinne  die  ,,Kultur"  nennen.  Ihren  ,,Sinn"  verstehen,  heifit 
nichts  anderes,  als  den  systematischen  Zusammenhang  ein- 
sehen,  in  welchem  alle  besonderen  Begrifte  von  Kulturobjek- 
ten,  seien  es  nun  Handlungen  oder  Dinge,  fur  die  denkende 
Betrachtung  stehen  —  sobald  dieser  die  Grundideen  des 
ganzen  Prozesses  einmal  einleuchten. 


it  cinzclncn  Menschen  sind  unrcttbar  der  Vernich» 
W  tung  verfallen.  Angcsichts  dieser  bedauerlichen  Tat* 
sache  muftte  Uns  unser  zeitliches  Tun  und  Dasein,  meinc 
ich,  als  recht  zwecklos  erscheinen,  wenn  es  nicht  noch  ge= 
schichtliche,  iiber  die  Person  hinausreichende,  uberperson= 
liche  Zwecke  gabe,  die  ihrerseits  wiederum  begriffen  sind 
in  der  zeitlosen  Vollendung  einer  von  keiner  Erfahrung  rea= 
lisierten  allgemeinen  Idee,  der  sich  der  einzelne  schaffende 
Mensch  unterwirft,  ja  aufopfert,  um  seinem  kurzen  Leben 
einen  hoheren  Sinn  zu  verleihen,  als  bloB  geboren  zu  wer= 
den  und  spurlos  von  der  Bildflache  der  Geschichte  zu  ver= 
schwinden.  Wir  leben  ewig,  wenn  wir  in  den  gropen  Ideen 
der  Menschheit  leben.  Denn  wo  sich  auch  im  Kosmos  Leben 
wieder  regt,  wird  es  dieselben  Ideen  ergreifen,  die  tief  im 
Wesen  des  Lebens  selbst  wurzeln;  es  wird  sie  ebensooft 
aus  Freiheit  zu  den  seinigen  machen,  als  die  Materie  aus 
Notwendigkeit  denselben  ewigen  Gesetzen  unterworfen 
ist,  wo  immer  Materie  den  Weltenraum  erfiillen  mag. 

Ein  Blick  in  die  Geschichte  beweist  uns,  daft  es  darin, 
wie    Hegel1  sagte,   ,,vernunftig  zugeht",    mit  derselben 

1  G7W7~F.  Hegel,  Vc>rlesungen  iiber  die  PhilosophiTdcTCle. 
schichte.  Herausgegcben  von  F.  Brunstad.  Reclam,  Leipzig 
1907. 


Wahrscheinlichkeit,  wie  die  cxperimentellc  Erfahrung  be= 
weist,  daft  im  materiellen  Geschehen  der  Welt  Natur= 
gesetze  gelten.  ,,Die  geschichtliche  Welt",  sagt  Munch1, 
,,,erfullt'  die  Ideen  wie  die  sinnlich-anschauliche  Welt  die 
Naturgesetze  ,erfiillt'.  Oder  kurz:  Wie  die  Natur  die 
Konkretion  der  Gesetze,  ist  die  Geschichte  die  Konkretion 
der  Ideen."  Nur  hat  man  immer  zu  bedenken,  daft  die 
Ideen  das  historische  Geschehen  nicht  etwa  wie  Gesetze 
funktional  determinieren,  sondern  aus  freier  Selbstbestim- 
mung  von  gewissen  handelnden  Subjekten  realisiert  werden. 
Zu  diesem  Standpunkt  und  einer  entsprechenden  Le= 
bensanschauung  wird  mir,  hoffe  ich,  so  viel  Zustimmung 
zuteil,  als  Menschen  unter  meinen  Lesern  sind,  die  es  lieber 
vorziehen  wiirden,  sogleich  im  Nirvana  zu  verschwinden, 
als  ein  im  Ganzen  doch  zweckloses  und  daher  vollig  uber= 
fliissiges  Dasein  auf  diesem,  dem  Untergange  verfallenen 
Planeten  zu  genieBcn,  der  einst  den  kalten  Weltenraum 
um  das  erloschcne  Gestirn  des  Erdenlebens  durchkreisen 
wird. 


1  F.  Munch,  Erlcbnis  und  Geltung.  Reuther  u.  Reichard, 
Berlin  1913.  In  diesem  fur  die  Kulturlogik  yrundlegenden 
Werke  entwickelt  der  Verfasser  die  philosophische  Theorie, 
als  deren  Anwendung  meine  weiteren  Ausfiihrungen  zu  be= 
trachten  sind.  Beziiglich  der  sonstigen  Literatur  iibcr  den 
,,kritischen  Standpunkt"  mochte  ich  ebenfalls  auf  M tinchs  Buch 
verweisen. 


DIE  IDEE  DER  TECHNIK 

Man  konnte  nun  fragen,  ob  dcnn  solch  ein  weitgespann- 
ter  Ausblick  in  alle  Falten  dcs  Wcltganzen  notig  sci, 
umschliefilich — einePhilosophiederTechnikvorzutragen? 

Darauf  erwidere  ich:  Wer  das  schon  im  voraus  weifr, 
dcr  ist  kcin  kritischer  Denkcr.  Wer  schon  im  voraus  weift, 
daft  die  Naturwissenschaft  geniigt  —  und  viele  Leute  glau= 
ben  das  —  um  alle  Fragen  zu  beantworten,  die  sich  in  den 
Erscheinungen  des  technischen  Schaffens,  wie  im  Verhalt* 
nis  der  Technik  zur  Kultur  und  im  ganzen  Wesen  dieser 
merkwiirdigen  Entwicklung  des  Reiches  der  Zwecke  auf« 
drangen,  der  ist  ebenso  beschrankt  wie  ein  Schneider,  weU 
cher  meinte,  alles  was  es  gibt,  mit  der  Elle  messen  zu  konnen . 

Es  scheint  vielleichtf  als  ob  die  Technik  weiter  nichts  als 
ein  menschentotendes  Rechenexempel  der  exakten  Natur« 
forschung  und  der  Nationalokonomie  sei,  weil  es  die  tech= 
nischen  Produkte,  die  Maschinen,  die  Prozesse  der  che» 
mischen  Fabriken  in  gewisser  Hinsicht  sind.  Diegrausame 
Wahrheit,  dag  zurzeit  unter  der  gegenwartigen  von  der 
Technik  iiberrumpelten  Wirtschaftsform  und  Staatsord- 
nung  ein  Massenmord  an  Personlichkeit  in  den  Fabriken 
vor  sich  geht,  die  teuflische  Ironic,  daft  vom  Menschen 
geschaffene  Maschinen  zu  iiberpersonlichen  Machten  und 
Menschen  zu  ihren  untergeordneten  Sklaven  werden,  die 
Folge  der  technischen  Massenarbeit  und  ihrer  notwendigen 
Organisation,  die  Folge  der  rechnerischen  Konsequenz  der 
Erfindungen  scheint  dies  zu  bestatigen.  Es  scheint,  als  ob 
der  Geist  der  Technik  gerade  hierin  zutage  tritt,  hierin  im 
letzten  Grunde  begriffen  werden  konnte. 

Aber  was  sollte  man  zu  einem  Rechenmeister  sagen  — 
es  gibt  ja  solche  Rechenmeister  unter  den  Naturforschern 

26 


—  dcr  die  Schopfungen  dcr  schonen  Ktinste  deshalb, 
wcil  sie  ouch  Gegenstande  der  Physik  und  Chemie,  Gegen- 
stande der  wirtschaftlichen  Spekulation  und  Ausbeutung 
sein  konnen,  hiermit  in  ihrem  eigensten  Wesen  und  das 
heiftt  philosophisch  verstanden  zu  haben  glaubte? 

Auch  wer  gar  nichts  von  Philosophic  versteht,  wird  doch 
so  viel  wissen,  daft  cine  Sache  philosophisch  betrachten 
heiSt  :  Sie  nach  alien  Seiten  hin,  in  jedem  moglichen  Bezuge 
zur  Totalitat  des  Seienden  betrachten,  und  zwar  aus  all- 
gemeinsten  Gesichtspunkten  und  nicht  bloft  anschaulich, 
in  concreto,  sondern  —  dies  gerade  ist  die  Hauptsache  — 
unter  allgemeinsten  Begriften.  Eine  Sache  in  ihrem  lo» 
gischen  Wesen  von  Grund  auf,  in  ihrer  Idee  begreifen, 
heif)t  aber  erst,  sie  im  hochsten,  umfassendsten  Sinne  des 
Wortes  ,,verstehen". 


ulturprodukte  versteht  man  nie  und  nimmer  als  Natur- 
JL  xprodukte  oder  Warenwerte.  Es  geht  dies  ebensowenig 
an,  wie  man  Korper  als  Gegenstande  der  Flachengeometrie 
oder  Probleme  der  Infinitesimalrechnung  als  arithmetische 
Aufgaben  verstehen  kann.  Die  Naturwissenschaft  begreift 
an  den  Werken  der  Kultur  wie  an  den  LebensauBerungen 
iiberhaupt,  was  an  ihnen  Nairn  ist,  aber  nicht,  was  Kultur 
daran  ist.  Sie  versteht  —  wie  konnte  es  auch  anders  sein? 
—  was  ihrer  Forschungsidee,  der  Idee  des  gesetzlichen 
Funktionalzusammenhanges  der  Erscheinungen  in  Raum 
und  Zeit,  gema'ft  ist,  was  dieser  Idee  in  der  reellen  Spha're 
Erfiillung  gibt.  Aber  mehr  versteht  der  Naturforscher 
nicht  —  denn  mehr  ist  fur  ihn  gar  kein  Gegenstand  der 
Untersuchung. 

Man  kann  jedoch  dasselbe  konkrete  Ding  sehr  wohl  zum 
Gegenstande  anderer  Untersuchungen  machen.  Man  kann 

27 


es  in  andcrcr  Hinsicht,  unter  andcrc  Ideen  gestellt,  zu  ver= 
stchen  suchen  —  nicht  allein  unter  der  Wisscnschaftsidec 
des  naturwisscnschaftlichen  Determinismus.  Und  so  wer= 
den  wir  uns  in  der  Tat  zu  den  Erscheinungen  der  Technik 
verhalten. 

Wir  werden  die  Technik  betrachten  als  die  organische 
Teilerscheinung  eines  grofteren  Phanomens,  der  Kultur= 
entwicklung  iiberhaupt.  Wir  werden  sic  zu  verstehen  su* 
chen  als  den  korperlichen  Ausdruck,  als  die  historische  Er= 
fullung  einer  Grundidee,  die  im  System  der  Kulturideen 
notwendig  gefordert  wird  und  die  alien  sichtbaren  und 
greifbaren  Stoff  des  technischen  Schaffens  im  Inneren  be= 
herrscht,  wie  verschieden  auch  die  vorubergehenden  Aufie= 
rungen  dieser  Idee  im  Kampfe  der  Motive  und  Tendenzen 
der  handelnden  Subjekte  erscheinen  mogen.  Es  gilt,  die 
tiberpersonliche,  tiber  die  niedere  Interessensphare  der  ver= 
mittelnden  Subjekte  in  die  Geschichte  iibergreifende  ideelte 
Gemeinsamkeit  einzusehen,  die  das  Handeln  der  Menschen 
nicht  etwa  wie  ein  blindes  Gesetz  bestimmt;  sondern  die 
in  ihren  Taten  von  ihnen  frei  ergriffen  wird,  um  so,  unter 
mehr  oder  weniger  verbramter  Gestalt,  in  die  historische 
Wirklichkeit  zu  treten. 

\ V T'ir  suchen  also  in  der  Technik  eine  Idee.  Oder  um  dies 
W  noch  etwas  verstandlicher  zu  sagen,  wir  fragen  uns : 
Was  wollen  wir  denn  eigentlich,  wir  Techniker?  Welchen 
letzten  Sinn  hat  diese  Welt  von  Stein  und  Eisen,  dieses 
Nervensystem  von  Schienen  und  Drahten,  dieses  ganze 
Jagen  und  Treiben,  das  man  friiher  auf  der  Erde  nicht 
kannte?  Wozu  iiberschiitten  wir  die  Menschen  mit  solcher 
Dberfulle  von  Produkten  aller  Art,  mit  Nahnadeln  und 
Flugzeugen?  Was  wollen  wir  damit  —  im  Grunde? 

28 


Wer  jcmals  die  kindliche,  ja  ich  sage  die  kindische  Freude 
erlebt  hat,  die  einem  Menschen,  der  sich  etwas  ausgedacht 
hatte,  fast  den  Atem  raubt,  wenn  sein  geistiges  Ding,  sein 
ideelles  Etwas  aus  der  Sphare  der  bloften  Hirngespinste 
in  die  reelle  Sphare  der  harten,  festen,  sinnlichen  Korper 
trat,  wer  den  elementaren  menschlichen  GemCitsaffekt 
beim  ersten  Anblick  fremder  Schopfungen  mitempfindet, 
wer  das  Urwunder  der  Verwirklichung  eines  Gedankens 
sieht,  dem  wird  es  zur  Gewifiheit,  daft  die  Technik  im 
Grunde  doch  etwas  anderes  bedeutet,  als  die  Losung  jener 
niichternen,  platten  Niitzlichkeitsfragen,  die  ja  freilich  ge« 
lost  werden  miissen,  aber  niemals  dem  eigentlichen  Pro« 
blem,  jener  Geist  und  Gemiit  aufwiihlenden  Idee  der 
Schopfung  von  etwas  Neuem,  vergleichbar  sind ! 

Wie  durfte  sich  der  Erfinder,  der  schopferische  Tech* 
niker  mit  einem  Kunstler  messen,  wenn  sein  Wirklichkeits= 
gestalten  weiter  nichts  als  die  Losung  cines  Rechenexem= 
pels  ware,  das  anderen,  begabteren  Kopfen  nur  zu  lang= 
weilig  und  dumm  erscheint,  um  darin  einen  Beruf  zu  fin= 
den,  oder  selbst  nur,  um  schabiges  Geld  damit  zu  vcr= 
dienen?  Wie  konnte  sich  ein  noch  tief  vom  Gottes»Gnaden= 
turn  iiberzeugter  Furst  hinreiften  lassen,  den  Grafen 
Zeppelin  fiir  den  groftten  Deutschen  des  20.  Jahrhunderts 
zu  proklamieren,  wenn  nicht  in  der  Technik  etwas  mensch= 
lich  Croftes,  etwas  Ideales,  ein  fundamental  bedeutungs= 
voiles  Etwas  steckte,  das  eine  bis  auf  den  Grund  aller 
Kultur  hinabreichende  Idee  in  der  Geschichte  verwirk= 
licht? 

Man  vergegenwartige  sich  die  Szene,  als  Zeppelin  am 
10.  November  1908  in  Donaueschingen  zum  ersten  Male 
vor  dem  Deutschen  Kaiser  in  die  Liifte  stieg,  und  man  be= 
greift  das  Urteil  Wilhelm  II.: 

29 


,,Es  dtirfte  wohl  nicht  zuvicl  gesagt  sein,  daB  wir  hcutc 
einen  der  groftten  Momente  in  der  Entwicklung  der  mensch- 
lichen  Kultur  crlcbt  haben.  Ich  dankc  Gott  mit  alien 
Deutschen,  daB  «r  unser  Volk  fiir  wiirdig  crachtctc,  Sie 
(Zeppelin)  den  unsern  zu  nennen!"1 

Es  geht!" —  In  diesem  alle  Zuschauer  durchzitternden 
Triumphruf  des  Erfinders  spricht  sich  ein  gleich  tiefer 
Ursprung  aus  Ideen  aus  wie  in  den  Satzen:  Es  ist  wahr, 
es  ist  recht,  es  istschon.  Zeppelin  ist  Techniker  als  Ideen* 
mensch,  ein  Typus  des  geschichtlichen  Menschen2,  den  das 
auf  der  Naturwissenschaft  fuBende  Menschengeschlecht 
zum  ersten  Male  in  einer  an  die  Sagengestalten  der  An« 
tike  heranreichenden  GroBc  als  Ideal  vor  sich  sieht.  Er 
ist  der  Typus  des  Ingenieurs,  der  die  mit  der  Gemeinheit 
reiner  Geldgier  und  kapitalistischer  Plusmacherei  scheinbar 
logisch  verknupfte  Technik  wie  mit  einem  Schlage  in  das 
Reich  der  Ideen  erhebt,  welche  die  Kultur  konstituieren. 

Welche  Leistungen  die  Technik  der  Sinneswahrnehmung 
bis  zum  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  vollbracht  hat, 
schildert  Wiener3  in  einem  hochst  interessanten  Vortrage 
iiber  die  ,,Erweiterung  unserer  Sinne",  woraus  hier  einige 
Andeutungen  folgen  mogen : 

Das  raumliche  Unterscheidungsvermogen  des  mit  dem 
Mikroskop  bewaffneten  Auges  ist  im  19.  Jahrhundert 
etwa  200  mal  so  groB  geworden  als  das  des  unbewaffneten 
Auges  der  alteren  Menschen.  Es  la'Bt  uns  zwei  Striche  im 
Abstand  des  siebenten  Teiles  eines  tausendstel  Millimeters 

1  Ubereinstimmender  Wortlaut  der  Frankfurter  Zeitung  und 
des  Berliner  Tageblatts.  —  a  Ober  den  ,,geschichtlichen  Men« 
schen"  als  Ideenmensch  vergleiche  man  f.  Munch,  in  der  Seite 
25  erwahnten  Schrift.  3  O.  Wiener,  Die  Erweiterung  unserer 
Sinne.  J.  A.  Barth,  Leipzig  1900. 

jo 


noch  gctrennt  wahrnehmen,  wahrend  das  alte  natiirliche 
Augc  bereits  bei  Vw  Millimeter  Abstand  versagte.  Diese 
Erfolge  werden  aber  bei  Benutzung  der  ultravioletten 
Strahlen  und  durch  das  moderne  Zf//?sche  ,,Ultramikros 
skop"  noch  weit  iibertroffen :  Wir  sehen  Molekiile  —  der 
Traum  Demokrits  hat  sich  erfiillt.  Zeitdifferenzen  unter- 
scheiden  gewohnliche  Menschen  bis  auf  den  fiinften  Teil 
einer  hundertstel  Sekunde  herunter  —  Feddersens  rotie- 
render  Spiegel  gestattet  aber,  noch  den  hundertsten  Teil 
von  einer  milliontel  Sekunde  sogar  exakt  zu  messen. 

Wir  sehen  in  die  Feme,  wir  horen  in  die  Feme,  wir  spre- 
chen  bis  in  unerhorte  Entfernungen ;  Naturvorgange  neh« 
men  wir  wahr,  die  uns  unsere  mangelhaften  Sinnesorgane 
niemals  verraten  wiirden.  Und  wie  haben  diese  schon  die 
frommen  Seelen  der  Vergangenheit  bewundert!  Wie  haben 
sie  ihrem  vermeintlichen  Schopfer  dafiir  gedankt!  Sollte 
nun  die  Geistesgemeinschaft  der  Techniker,  in  deren 
Augen  die  Leistungen  jenes  allmachtigen  Gottes  kummer- 
lich  und  stiimperhaft  erscheinen,  sollten  diese  menschlichen 
Schdpfer  nicht  zehntausendmal  hoher  gepriesen  werden? 
Sollte  nicht  endlich  cine  eigene  grofte  Idee  der  Tcchnik  als 
ein  Grundwert  der  Kultur  erkannt  werden? 

Es  gibt  Technik  in  hoherem  Sinne.  Alle  sehen  es,  alle 
fiihlen  es,  alle  sprechen  es  aus.  —  Doch  was  ist  es?  Wo 
fassen  wir  die  gemeinsame,  alles  hohere  technische  Schaffen, 
alle  Anerkennung  durchdringende  Grundidee,  das  eigent* 
liche  Wesen  des  Technischen,  wie  es  sich  endlich  der 
Gegenwart  enthullt  hat? 

O,  sagt  der  praktische  Mann  aus  dem  Westen :  Das  ist 
sehr  einfach  —  wir  wollen  alle  Geld  verdienen !  Jeder 
Erfinder  will  reich  werden,  jeder  Fabrikant  will  Geld  ma= 


chen;  wodurch  oder  womit,  das  ist  ihm  ganz  egal.  Die 
Tcchnik  hat  zur  Tricbfeder  ihrcr  ungeheuren  Entfaltung, 
sie  hat  nichts  anderes  zum  Ziele  als  die  Gier  nach  Gold ! 
Sie  macht  ihre  Produkte,  weil  sie  gekauft  werden,  weil  sie 
Waren  sind.  Sie  macht  Geldwerte. 

Wie  geistvoll  ist  doch  diese  Philosophic  des  smarten 
Amerikaners!  Ebenso  geistvoll  als  hie^e  es:  Soldaten 
wollen  Soldaten  sein,  —  urn  Geld  zu  verdienen;  Maler 
malen,  um  Geld  zu  machen;  Komponisten  komponieren, 
um  reich  zu  werden ! 

,,Wie  alle  Wege  nach  Rom  fiihren,  so  fiihren  alle  6kono= 
mischen  Wege  auf  Geld",  sagt  Simtnel1,  ,,es  ist  mindestens 
das  immer  gleiche  Nebenprodukt  aller  noch  so  ungleichen 
Produktionen.  Das  Geld  hat  die  Eigentiimlichkeit,  daft  es 
durch  die  Tiichtigkeit  in  der  Behandlung  anderer  Dinge 
erworben  wird."  Wenn  nun  also  alles  nur  arbeitet  und 
schafft  des  Geldes  wegen,  dann  muB  es  doch  wohl  seine 
besonderen  Grande  haben,  warum  es  der  cine  auf  diese  Weise, 
der  andere  auf  ganz  andere  Weise  verdient!  Oder  nicht? 

Das  ist  natiirlich  Zufall,  Veranlagung,  Gliickssache,  sagt 
unser  Gentleman.  Die  Idee  bei  der  Sache  ist  das  Reich= 
werden.  Merkt  einer  zum  Beispiel,  daft  cr  Talent  zum  Ma= 
len  hat,  dann  will  er  selbstverstandlich  durch  Malen  reich 
werden;  sieht  sich  einer  hoch  geboren,  nun  dann  ware  er 
dumm,  nicht  seine  Geburtsvorrechte  zu  benutzen,  um 
reich  zu  werden.  Die  Geschichte  des  menschlichen  Han= 
delns  hat  allerdings  eine  Grundidee,  das  stimmt:  Den 
Reichtum,  die  Geldmacht!  Das  weifi  jeder,  und  deshalb 
strcbt  jeder  danach.  Alles,  was  geschieht,  istMittel  zu  die= 
sem  eigentlichsten  aller  Zwecke  —  Mittel  zum  Reichtum. 

1  G.  Simmel,  Philosophic  des  Geldes.  Dunckcr  u.  HumbTot, 
Leipzig  1900. 

32 


Unser  Idealist  aus  dcm  Westen  gibt  uns  wenigstens  zu, 
daft  sich  die  Geschichte  aus  Ideen  verstehen  laftt.  ja,  er  hat 
sogar  eine  hochste  Idee:  Den  Reichtum.  Daft  diese  ,,Idee" 
herrscht,  leuchtet  jedem  Esel  ein.  Aber  verstehen  wir 
damit,  was  die  Techniker  ,,eigentlich" ,  d.  h.  abgesehen 
vom  Geldverdienen,  wollcn?  Verstehen  wir  aus  der  Idee 
des  Reichtums  etwa  das  innere  Wcsen  der  technischen 
Werke  selbst,  die  so  erstaunliche  und  wunderbare  Um» 
wandlung  der  Erde  in  eine  neue  Welt,  den  schopferischen 
Prozeft,  der  hier  vor  sich  geht?  Nicht  im  mindesten! 

,,Ich  behaupte",  sagt  Rattienau1,  ,,selbst  vom  Kaufmann, 
daft  noch  niemals  in  der  wirtschaftlichen  Welt  wahrhaft 
Gro5es  geleistet  worden  ist  von  eincm  Menschen,  dem 
der  personliche  Erwerb  wichtig  oder  die  Hauptsache  war. 
Ein  grower  Geschaftsmann  strebt  nach  Verwirklichung 
seiner  Gedankcn,  nach  Macht  und  Verantwortung.  Und 
hierin  liegt  ein  Ideal,  solange  die  Macht  und  Sicherheit 
eines  Landcs,  das  sich  auf  Kapitalismus  stittzt,  ein  Ideal 
genannt  werden  kann." 

Doch  horen  wir  noch  zwei  ganz  exzentrisch  urteilende 
Philosophcn,  die  sich  am  Ende  ihres  Nachdenkens  im  we* 
sentlichen  der  ehrlichen  Auffassung  unseres  Gentleman 
anschlieften ! 

,,Die  Philosophic  der  Technik",  sagen  Hans jakob  und 
Star*  ganz  richtig,  ,,mu6  von  der  Kulturgeschichte  aus« 
gehen  .  .  .  Ein  ungeheuer  weiter  Horizont  breitet  sich  vor 
unserem  Auge,  das  die  technische  Welt,  die  mechanisierte 
Zeit  erfassen  will;  urn  zu  sehen,  was  jenseits  der  Seh* 
weite  liegt,  mussen  wir  uns  uber  die  Technik  erheben, 

1  W.  Rathenau,  Zur  Kritik  der  Zeit.  S.  Fischer,  Berlin  1912. 
1  E.  Hansjakob  und  J.  Stur,  Osterr.  Polytechnische  2eitschrift, 
8,77(1911). 

3  Z»chimm«r.  Philo»ophie  drt  Technik  33 


uns  bcfrcien  von  ihrcr  Atmosphere,  damit  wir  erblicken, 
was  hinter  den  Grcnzen  des  iiblichcn  Menschenblickes 
und  —  Verstandnisses  liegt." 

Also  blickcn  wir  jetzt  dahintcr! 

,,Wir  dcduzieren  ausSc/ze///ngsNaturphilosophie",  fahren 
die  Verfasser  dcr  ,Metaphysik  dcr  Technik'  fort  (da  sie 
nMmlich  iibcrzcugt  sind,  daB  cs  niemals  eine  Geistesstro- 
mung  gegeben  habc,  ,,die  der  Technik  ahnlich  niitzte  wie 
die  Romantik.")  —  Und  zu  welchem  Ergebnis  gelangen 
sie  kraft  ihrer  romantischen  Methode?  —  ,,Kein  natur- 
liches  Moment,  keine  philosophische  Erkenntnis,  kein 
ethischer  Wille,  nichtsMenschliches  —  nur  die  animalische 
Lebensnotdurft  der  Millionen  Arbeiter,  der  zwecklos  ewige 
Profitsinn  der  hundert  Nehmer:  Das  ist  die  Metaphysik 
der  Technik/7 

Wir  k5nnen  uns  bei  der  Tiefsinnigkeit  dieser  ,,Meta- 
physik"  nicht  lange  aufhalten;  ihr  Unsinn  ergibt  sich  aus 
unserer  Darstellung  von  selbst.  Nur  wollte  ich  nicht 
versaumt  haben,  meine  Leser  beizeiten  mit  einer  Gat« 
tung  kulturphilosophischer  Denker  bekannt  zu  machen, 
deren  ktihnen  Produktionen  wir  noch  fifters  begegnen 
werden. 

1st  denn  das  Problem  nicht  ganz  einfach  zu  l5sen,  wenn 
wir  vergleichenderweise  die  Kunst  betrachten?  Erkennen 
wir  doch  hier  —  so  scheint  es  in  der  Tat  —  deutlich  genug, 
was  „ Technik"  ist.  Denn  jeder  Kunstler  spricht  ja  von 
seiner,  von  einer  gewissen  Technik.  Man  brauchte  also 
nur  zu  verallgemeinern,  und  man  hatte  die  Idee  der  Tech« 
nikalssolche?  — 

Ich  glaube,  es  durfte  wohl  selbst  dem  unverstandigsten 
Laien  klar  werden,  daB  ein  Klavierspieler  unter  dem  Worte 

34 


Tcchnik  doch  etwas  ganz  anderes  versteht,  als  der  Klavier- 
bauer,  der  die  technische  Lcistung  in  den  Funktionen  cines 
modernen  Stein  wayfliigels  bewundert. 

Der  Klavierspieler  denkt,  wenn  er  von  Technik  spricht, 
an  die  methodisch  getibte  Bewegung  der  Hande  und  Fin- 
ger. Fiir  ihn  ist  die  Technik  ganz  allgemein  die  Methodik 
des  kiinstlerischen  Schaffens,  wie  eines  jeden  vermittelst 
vorhandener  Werkzeuge  auf  ein  vorgestelltes  Ziel  ge- 
richteten  Schaffens  iiberhaupt. 

Welch  ein  Unterschied!  Und  trotzdem  will  Bon1  den 
Begriff  der  Technik  des  Ingenieurs  in  dem  gleichcn  Sinne 
festlegen,  wie  es  der  Pianist  tut:  ,,Denn  das  ist  ja  eben  die 
Grundaufgabe",  sagt  er,  ,,nicht  bloft  einer  einzelnen  tech- 
nischen  Disziplin,  sondern  der  gesamten  Technik  tiber- 
haupt,  Mittcl  aufzusuchen,  wenn  die  Zwecke  gegeben  sind, 
und  somit  wird  die  Frage:  ,Was  soil  ich  tun,  um  — ¥ 
die  Grundform,  auf  welche  sich  alle  die  Einzelfragen,  welche 
die  Technik  zu  beantworten  hat,  zuriickfiihren  lessen." 

„.  .  .  Die  Aufgabe,  Mittel  anzugeben,  die  einen  ge« 
gebenen  Zwcck  erfiillen,  bleibt  als  das  allgemeine  Kenn- 
zeichen  der  Technik  bestehen,  gleichgiiltig  wie  auch  immer 
der  gegebene  Zweck  beschaffen  sein  moge.  Die  Erhaltung 
und  Wiederherstellung  der  Gesundheit,  die  Bestrafung 
eines  Verbrechers,  die  Aufbringung  der  Staatsausgaben, 
die  Erziehung  der  Kinder,  die  Stilisierung  einer  Rede,  das 
Spielen  eines  Musikinstrumentes,  das  Fiihren  eines  Be- 
weises,  der  Verkauf  von  Waren,  die  Anfertigung  von  Be- 
kleidungsgegenstanden  —  kurz  cine  jede  Zwecktatigkeit 
hat  so  gut  ihre  Technik,  wie  die  Erzeugung  von  Kraft, 
Licht,  Warme,  Elektrizitat  usw." 

1  F.  Bon,  Uber  das  Sollcn  und  das  Gute.  Engelmann,  Leip- 
zig 1898. 

?•  35 


Wenige  Beispicle  ausgenommcn,  wiirdc  der  Ausdruck 
,,Methodik"  hier  vicl  richtiger  sein.  Jedenfalls  verstehcn 
wir  Techniker  unserseits  noch  etwas  anderes  untcr  dem 
Endziel  unseres  Schaffcns  als  die  Losung  der  Frage :  Was 
soli  ich  tun,  um  das  Klavierspiel  zu  erlernen?  usw. 

Schon  fur  den,  der  nur  die  Mittel  aufsuchen  soil,  wenn  die 
Zwecke  bereits  gegeben  sind,  zerfallt  dies  sehr  allgemeine 
Thema  in  zwei  recht  verschiedene  Aufgaben.  Namlich 
erstens:  Zu  dem  bestimmten  Ziele  einen  bisher  unbe* 
kannten  Weg  iiberhaupt  zu  entdecken,  oder  zweitens :  Auf 
bekannten  Wegen  in  der  zweckmaftigsten  Weise  an  das  Ziel 
zu  gelangen. 

Wir  unterscheiden  also :  Mittel  iiberhaupt  zu  finden  oder 
nur  die  beste  Methode  fiir  den  Gebrauch  der  gegebenen 
Mittel  zu  gegebenen  Zwecken  zu  finden. 

Das  Ziel  des  Erfinders  ist  hiermit  jedoch  erst  zur  Ha'lfte 
erschopft.  Der  Erfinder  will  nicht  nur  Mittel  aufsuchen, 
wenn  die  Zwecke  gegeben  sind,  sondern  (wie  wir  spater 
ausftihrlich  zu  zeigen  habcn)  auch  das  Umgekehrte  tun; 
und  wenn  er  ein  bedeutender  Erfinder  ist,  dann  laftt  er  sich 
iiberhaupt  nichts  ,,geben",  aufter  der  Natur,  und  erfindet 
in  einem  Akte  neue  Zwecke  samt  den  Mitteln  dazu  — 
namlich:  Neue  Mdglichkeiten,  das  Natur geschehen  nach 
unserem  Belieben  laufen  zu  lassen. 

Teh  fiihre  nun  cine  Definition  an,  die  das  Wesen  der  Tech- 
Inik  im  Grunde  ebenso,  wie  ich  zuletzt  sagte,  aber  doch 
noch  nicht  mit  genugender  Scharfe  erfafct.  ,,Man  kann", 
sagt  Wendt1,  ,,die  Technik  auch  definieren  als  die  Beta* 
tigung  des  bewuftten  Geistes  zur  Umgestaltung  der  Roh* 

fl7.  Wendt,  Die  Technik  als  Kulturmacht.  G.  Reimer,  Berlin 
1906. 

36 


stoffe  fur  die  Zwecke  der  Kultur,  oder  kiirzer  gesagt,  als 
die  bewuftte  Gestaltung  der  Matcric." 

Im  allgcmeinen  ist  das  richtig.  Abcr  wtirden  nicht  auch 
alle  bildcnden  Kiinste  unter  cincn  solchcn  Begriff  der  Tech* 
nik  fallen?  Ist  doch  die  Kunst  geradezu  eine  typische  Be= 
tatigung  des  bewufiten  Geistes  zur  Umgestaltung  von  Roh«= 
stoffen  fiir  Zwecke  der  Kultur,  bewufite  Gestaltung  der 
Materie.  Wir  mochten  doch  eben  erkennen,  wenn  wir  nach 
dem  Wesen  der  Technik  fragen,  worauf  es  bei  der  bewufi* 
ten  Gestaltung  der  Materie  im  besonderen  abgesehen  ist, 
welche  eigene  Grundidee  der  Ingenieur,  der  technische  Er= 
finder  darin  verwirklicht. 

Auch  in  der  folgenden  Fassung  ist  Wendts  Definition 
daher  noch  zu  weit:  ,,Indcm  die  Technik  als  ein  Denken 
und  Wissen  die  Arbeitskraft  beseelt  und  lenkt,  kann  sie 
allgemein  aufgefaSt  werden  als  der  Geist  der  Arbeitskraft; 
sie  stellt  sich  praktisch  dar  als  die  geistige  Leitung  der 
mechanischen  Arbeitsvorgange  im  Leben  der  Mensch= 
heit." 

Denn  unter  die  geistige  Leitung  mechanischer  Arbeits* 
vorgange  gehort  zwcifellos  das  kiinstlerische  ebenso  wie 
das  technische  Schaffen.  Es  fragt  sich,  von  welcher  beson= 
deren  Art  diese  geistige  Leitung  sein  muft,  d.  h.  unter  wel« 
cher  eigenen  Idee  das  Denken  und  Wissen  stehen  mufti 
wenn  ein  Techniker  die  Arbeitskraft  beseelt  und  lenkt! 

,,Beim  Techniker",  sagt  Wendt,  ,,sind  die  auftauchen* 
den  Gedanken  bestandig  in  Wechselwirkung  mit  der  Vor« 
stellung  des  Zwecks,  beim  Kiinstler  mit  dem  Gefiihl  fiir  das 
Schone."  Aber  hat  nicht  auch  der  Kunstler  sein  Werk  als 
den  vorgestellten  Zweck  vor  Augen?  Sind  seine  Gedanken 
mit  dieser  Vorstellung  nicht  bestandig  in  Wechselwirkung? 
Es  fehlt  uns  also  in  Wendts  Definition  noch  ein  wesent= 

37 


lichcs  logisches  Moment  zur  spezifischen  Bestimmung  der 
Technik  im  Gcgensatze  zur  Kunst. 

Ahnlich  wie  Wcndt  definiert  auch  Engelmeyer1 :  ,,Tech- 
nik  1st  die  Kunst,  Naturerscheinungen  planmafjig  und 
auf  Grund  der  erkannten  natiirlichen  Wechselwirkung 
der  Dinge  ins  Leben  zu  rufen."  Hiermit  soil  offenbar  die 
Tatigkeit  des  Technikers,  also  eigentlich  das  technische 
Schaffen  als  solches  charakterisiert  werden.  Dagegen  ware 
nichts  einzuwenden.  Denn  auch  das  Wort  Kunst  wird  ja 
doppelsinnig  gebraucht:  Fur  das  kunstlerische  Schaffen 
ebenso  wie  fur  das  Kunsterlebnis,  welches  die  geschaf- 
fenen  Werke  vermitteln.  Aber  auch  Engelmeyers  Defini- 
tion ist  zu  weit.  Denn  ,,planmafjig"  geht  jeder  Kunstler 
zu  Werke,  indem  er  Naturerscheinungen,  z.  B.  Tone  oder 
Farbenwirkungen,  ins  Leben  ruft,  und  zwar  gleichfalls  auf 
Grund  der  ihm  bekannten  Wechselwirkungen  der  Instru* 
mente  und  Materialien,  die  er  bearbeitet.  Es  kommt  uns 
jedoch  darauf  an,  was  denn  Bewufttes  in  dem  Plane  liegt, 
wie  gesagt :  Welche  spezifische  Idee  darin  das  Mafigebende 
ist  —  was  den  technischen  Erfinder  wesentlich  von  dem 
kiinstlerischen  Erfinder  unterscheidet. 

Hier  fallt  uns  nun  ein  weiser  Mann  der  Wissenschaft 
ins  Wort.  Die  Idee  der  Technik,  so  werden  wir  von 
ihm  belehrt,  ist  die  Idee  der  Sparsamkeit.  Die  Technik 
folgt  dem  Prinzip  der  Okonomie,  dem  Prinzip  des  klein« 
sten  Kraftmages,  des  kiirzesten  Weges  und  der  kleinsten 
Zeit  —  es  gilt  der  ,,der  energetische  Imperativ" :  ,,Vergeude 
keine  Energie,  verwerte  sic!"  — 
Hiermit  ist  sicherlich  etwas  ausgesagt,  was  uns  an  der 

1  Zitiert  nach  M.  Kraft,  Das  System  der  technischen  Arbeit. 
A.  Felix,  Leipzig  1902. 

38 


hcutigen  Tcchnik  auffallt:  Ein  an  den  mcisten  Ingenieur- 
wcrken  modernen  Stiles  in  die  Augen  springendes  Merk» 
mal  liegt  ohne  Zweifel  in  ihrer  ausgepragten  okonomischen 
Zweckmaftigkeit.  Aber  sollte  das  geniigen,  den  ganzen  vor 
uns  ausgebreiteten  schopferischen  Prozefc,  die  wunderbare 
Fiille  der  technischen  Erscheinungen  im  Grunde  vollig  zu 
begreifen?  1st  die  Technik  wirklich  schon  allein  aus  dieser 
Sparsamkeitsidee  zu  deduzieren?  1st  der  energetische  Im- 
perativ  die  gesuchte  spezifische  Idee,  welche  ihren  Kultur- 
wert  und  dessen  Verhaltnis  zu  anderen  Kulturwerten  be« 
stimmt  und  worin  die  Technik  mithin  philosophisch  be« 
griffen  wiirde? 

Nein.  Der  Begriff  der  Sparsamkeit  ist  zwar  wichtig,  aber 
nicht  ausreichend.  Er  reicht  ebensowenig  zum  vollen  Ver* 
standnis  der  Technik  aus,  wie  er  zum  Verstandnis  der 
Kunst  oder  der  Naturwissenschaften  geniigen  wiirde. 

Es  handelt  sich  hier  um  den  Unterschied  zwischen  tech* 
nischen  Leistungen  ersten  und  zweiten  Ranges,  um  zwei 
Stufen  des  Gedankens,  die  nacheinander  und  meist  von 
verschiedenen  Menschen  zur  Wirklichkeit  gemacht  wer= 
den.  ,,Die  Ersten'',  sagt  Stern1,  ,,sind  diejenigen,  die  ... 
einen  neuen  Wcg  bis  zum  Ziele  durchschritten,  die  ein 
Neuland  nicht  nur  zaghaft  betreten  und  Zukunftshoff- 
nungen  dran  gekniipft  haben,  sondern  die  daraus  die 
ersten  neuen  kostlichen  Friichte  ernteten.  Daft  auf  diesem 
Boden  auch  andere  Friichte  wachsen,  daft  sein  Ertragnis 
noch  vermehrt  werden  kann,  das  zeigen  die  Zweiten.  Die 
Ersten  ziehen  aus  ihm  die  neuen  Friichte,  die  Zweiten 
niitzen  den  Boden  gewinnbringend  aus!  ...  Die  Ersten 
gehen  in  ihrem  Werk  auf,  treten  hinter  ihm  zuriick,  die 
Zweiten  wollen  sich  dadurch  einen  ,Namen  machen'.  Die 
1  N.  Stern,  Frankfurter  Zeitung  vom  19.  Mai  1910. 

59 


Ersten  wollen  etwas  vollbringcn,  die  Zwciten  ,es  zu  etwas 
bringen'.  Die  Ersten  sind  opferwillig,  die  Zwciten  wollen 
etwas  verdienen.  Die  Ersten  bauen  auf,  die  Zweiten  bauen 
aus.  Die  Ersten  geben  einem  neuen  Wollen  eine  neue  Form, 
die  Zweiten  dem  Wollen  der  ersten  eine  andere  Form". 
Das  Prinzip  der  Okonomie  kommt  erst  in  zweiter  Linie ! 
Schopferische  Arbeit  kann  nicht  durch  noch  so  intelligente 
Ersparung,  ,,sie  muft  iiberhaupt  durch  das  bisher  nie  Da= 
gewesene,  Neue  charakterisiert  sein",  bemerkt  Kraft1  sehr 
treffend  gegen  Wolf,  der  ebenfalls  die  Leistung  des  Er« 
finders  in  der  Arbeitsersparung  suchte.  ,,Wahrend  in  der 

!•  schopferischen  Arbeit  die  Phantasie  das  treibende  Fer= 
ment  bildet,"  sagt  Kraft,  ,,waltet  in  der  ordnenden  gei= 
stigen  Arbeit  vorzugsweise  die  Logik,  der  Verstand. . ."  — 
Oder  bringen  wir  dies  auf  eine  kurze  Formel:  Intuition 
und  Logik,  und  —  nur  Logik  ohne  neue  Intuition :  Das  ist 
der  wesentliche  Unterschied  zwischen  den  „ Ersten"  und 
den  „ Zweiten". 

Ostwald'2  geht  sogar  soweit,  seinen  energetischen  Im= 
perativ,  oder  wie  er  auch  sagt,  die  Erzielung  des  besten 
,,Guteverhaltnisses"  in  der  Transformation  der  Rohener* 
gien  fur  das  Leitmotiv  bei  aller  und  jeder  Gestaltung  von 
Kulturwerten  zu  halten.  Das  hochste  Ziel  der  ,,Kultur" 
besteht  in  dem  Kopfe  des  beriihmten  Naturforschers  in 
einer  idealen  okonomischen  Organisation  samtlicher  Lebens= 
aufterungen ! 

Daft  sich  Leute  finden,  die  an  dieses  ,,Kulturprogramm" 
glauben,  ja  einer  fanatischen  Begeisterung  dafiir  fahig  sind, 
ist  leider  Tatsache;  aber  ebenso  gewift  ist  es,  daft  es  auch 
noch  sehr  viele  andere  Menschen  gibt  und  geben  wird,  die 

1  M.  Kraft,   Das  System  der  technischen  Arbeit.  A.  Felix, 
Leipzig  1902.    *  W.  Ostwald,  wie  Seite  22  erwahnt. 

40 


stark  genug  sind,  urn  das  Lcben  vor  solcher  Scheinkultur 
zu  sich  selbst  zuriickzuretten. 

Kcin  Mcnsch  bewundert  die  vorziigliche  Wirtschaft- 
lichkeit,  mit  welchcr  der  kiihne  Luftschiffer  zum  crsten 
Male  Sturm  und  Wolken  trotzt;  sein  Schiff  mag  unform= 
lich,  mit  unniitzem  Oberfluft  an  Energie  und  Stoffcn  aus» 
gestattet  scin:  Er  kann  damit  fiiegen,  es  geht  —  das  1st  es, 
was  bewundert  wird ! 

Ob  es  uberhaupt  ,,geht",  ob  es  dem  Menschen  iiber* 
haupt  moglich  wird,  die  Liifte  zu  durchkreuzen  wie  Meer 
und  Lander:  Darauf  kommt  es  doch  zu  allererst  an! 

,,Das  Ziel  der  Schiffsbaukunst",  meinten  Aristoteles1 
und  mit  ihm  die  mcisten,  die  iiber  die  Technik  nachdach= 
ten,  sei  ,,das  fertige  Fahrzeug".  Nein,  das  ist  es  nicht. 
Das  Ziel  der  Schiffbaukunst  ist  die  Schiffahrt:  Die  Frei- 
heit  ant  dem  Wasser! 

Und  das  hatnichts  mit  Okonomie  zu  tun.  Ja,  daselende 
Prinzip  der  Okonomie  wiirde  alles  technische  Schaffen, 
alien  Wagemut,  alles  Schopferische  der  Technik  vernich- 
ten,  wenn  es  an  der  Spitze  stiinde,  wenn  es  die  Grundidee 
ware,  die  hier  zur  Wirklichkeit  wird. 

e  neue  Freiheit  ist  es,  die  wir  mit  jeder  Erfindung  neu 
begruften,  die  Freiheit,  die  die  Menschen  seit  Jahr= 
tausenden  im  Geiste  schauen !  Die  unendliche  Moglichkeit, 
der  Natur  in  alien  Wegen  ihren  Lauf  zu  gebieten  und  un* 
sere  Wahrnehmung  bis  iiber  alle  Grenzen  auszudehnen, 
diese  Marchenidee  aus  den  Kindertraumen  der  Mensch= 
heit  in  zuverlassige  Wahrheit,  in  Gewiftheit  und  reelle  Tat 
zu  verwandeln :  Das  ist  es,  was  die  Technik  im  Grunde  will. 

1  Aristoteles,  Nikomachische  Ethik,  deutsch  von  A.  Lasson. 
Dicdcrichs,  Jena  1909. 

4» 


Ihre  Idee  ist  keine  andere,  als  dieser  alteste  Zweck  der  Gc« 
schichte :  Die  Idee  der  materiellen  Freiheit! 

Ich  glaubc,  daft  Eyth1 ,  der  ein  Techniker  und  zugleich 
der  erste  Philosoph  der  Technik  war,  das  Richtige  im 
Sinne  hatte,  als  er  den  deutschen  Ingenieuren  erklarte: 
,,Technik  ist  alles,  was  dem  menschlichen  Wollen  eine  kor« 
perliche  Form  gibt.  Und  da  das  menschliche  Wollen  mit 
dem  menschlichen  Geist  fast  zusammenfallt  und  dieser 
eine  Unendlichkeit  von  Lebensaufierungen  und  Lebens- 
moglichkeiten  einschlieftt,  so  hat  auch  die  Technik,  trotz 
ihres  Gebundenseins  an  die  stoffliche  Welt,  etwas  von  der 
Grenzenlosigkeit  des  reinen  Geisteslebens  iiberkommen." 

Wie  lacherlich  wirken  dagegen  die  Sentenzen  unserer 
beiden  Kulturmetaphysiker,  Hansjakob  und  S/ur3,  die 
ich  bereits  zur  Unterhaltung  angefiihrt  habe: 

„  In  keiner  Sphare  ist  alles  schon  so  dagewesen,  wie  in  der 
Technik;  wahrhaft  neu  ist  nur  das,  was  ihr  von  auften  zu« 
stromt,  sie  selbst  ist  immer  steril  gewesen,  und  ihre  origi* 
nale  Schopferkraft  wird  nie  iiber  die  konstruktive  Para* 
phrase  von  Rcsultatcn  der  Physik  und  Mathematik  hinaus* 
gehen  konnen  .  .  .  Die  Technik  hat  aus  sich  selbst  heraus 
nicht  nur  keine  Ideenbringer  erstehen  lassen,  sie  hat  bis* 
her  auch  nicht  einmal  einen  einzigen  grofien  Stilisten  her* 
vorgebracht.  Causeure,  wie  Eyth  und  andere  mehr,  kom« 
men  doch  hier  nicht  in  Betracht; ...  die  Technik  als  etwas 
innerlich  Unfertiges  ist  einer  jeden  organischen  Asthetisie- 
rung,  auch  einer  poetischen  Ausbildung  aus  ihrer  Armut 
heraus  unfahig,  weil  die  Impotenz  eben  unfruchtbar  ist." 

Das  ist  gewifi  ein  starkes  Stuck,  aber  noch  nicht  das  Voll* 
endetste,  was  unsere  beiden  Metaphysiker  in  hochst  stiU 

1  M.  Eyth,  Lcbcndige  Krafte.  2.  Aufl.  J.  Springer,  Berlin  1908. 
8  E.  Hansjakob  und  J.  Stur,  wie  S.  33  erwahnt. 

42 


vollcr  Rede  fiber  den  Sinn  der  Technik  entwickeln.  Spater 
mehr  davon! 

Horen  wir  endlich,  was  ein  zeitgemafter  Philosoph, 
Ewald1,  in  bewundernswerter  Klarheitder  Erkenntnis  einer 
Materie  zu  sagen  weift,  die  doch  so  unendlich  weit  abzu- 
liegen  scheint  von  den  Spharen,  in  denen  sich  die  Philo- 
sophen  sonst  zu  bewegen  pflegen:  ,,0hne  Zweifel  erfaftt 
man  die  ticjcrc,  wcsenhajte  Bedeutung  der  Technik  erst  dann, 
wenn  man  sich  nicht  in  ihre  Einzelheiten  verliert,  wenn  man 
sie  vielmehr  als  ein  ungcbrochencs,  einheitliches  Games  be- 
trachtet,  das  in  sich  cine  prinzipielle  Form  dcs  Lebens,  cine 
bestimmte  Richtung  und  ein  bestimmtcs  Ziel  zum  vollendeten 
Ausdruck  bringen  soil.  Die  Idee  der  Technik,  das,  was  sie 
im  Zusammenhange  aller  anderen  kulturellen  Tendenzen 
darstellt,  ist  nichts  anderes  als  dies :  Daft  sie  unseren  Leib 
zu  riesigen  Dimensionen  vergrofiert,  daft  sie  unseren  Sinnen 
iibermenschliche  Fassungskraft  verleiht  ...  Ihr  Ideal, 
dessen  Erfiillung  selbstverstandlich  eine  Unmoglichkeit 
ist,  ware  die  Uberwindung  aller  raumlichen  und  zeitlichen 
Schranken  durch  eine  Organisation,  die  das  Kleinste  und 
Groftte,  das  Fernste  und  das  Nachste  mit  gleicher  In* 
tensitat  wahrnimmt,"  und  —  erganzen  wir  es  noch  —  die 
unserer  Einwirkung  auf  die  Materie  eine  grenzenlose  Macht 
und  schrankenlose  Fulle  der  Formen  verleiht. 

Ich  behaupte :  Es  ist  der  eigene,  weder  von  der  Kunst  noch 
von  irgendeiner  anderen  KulturbetatigungerstrebteSelbstzweck 
der  Technik:  Den  Gdtterzustand  des  Menschen,  als  das  in 
seiner  unendlichen  Vollkommenheit  zur  Idee  erhobene  End- 
ziel  der  organischen  Entwicklung,  in  der  bewufiten  Freiheit 
des  schdpferischen  Gedankens  zu  vollenden. 

i  0.  Ewald,  Lcbensfragcn.  Hirzel,  Leipzig  1910. 

43 


A  her  bleibt  dies  schone  Bild  nicht  nur  cin  kindlicher 
jL\.Traum?  Wird  unsere  vcrmcinte  „  Idee  der  materiellen 
Freiheit",  die  Idee  der  gottlichen  Macht  des  Menschen, 
nicht  stracks  widerlegt,  gleich  einer  Utopie,  sobald  sich  der 
Blick  den  nackten  Tatsachen  zuwendet,  die  sich  —  wie  die 
jedem  bekannten  konkreten  Erscheinungen  zu  zeigen 
scheinen  —  dem  Kulturleben  in  himmelschreiender  Dis= 
sonanz  entgegensetzen?  — 

Ich  habe  noch  nichts  bewiesen.  Mir  klingt  die  ironische 
Bemerkung  Eyths  in  den  Ohren  gegen  jenen  Professor, 
der  schon  einmal  cine  Philosophic  der  Technik  schrieb  — 
Eyth l  meinte  die  Theorie  der  Organpro  jektion  von  Kapp  — : 
,,Der  gelehrte  Herr  hat  einen  Gcdanken,  der  in  den  nachst= 
liegenden  Fallen  zuzutreffen  scheint.  Plugs  ist  er  bereit, 
eine  ganze  Welt  von  Erscheinungen  auf  demselben  auf= 
zubauen.  Man  sammelt  das  Passende  und  schiebt  das 
Nichtzutreffende  sorgfaltig  auf  die  Seite." 

Allerdings  —  werden  mir  einige  Leser  zugeben  —  lassen 
sich  gewisse  Erfindungen  anfiihren,  in  denen  sich  so  etwas 
wie  ,,materielle  Freiheit"  oder  ,,Gotterhaftigkeit"  des  Men* 
schen  verkorpert  findet.  Aber  das  ist  nicht  die  Technik !  Das 
sind  vereinzelte  Schopfungen,  Erscheinungen  unter  gliick* 
lichen  Umstanden,  gleichsam  Kunstwerke  fiir  sich,  wie  wir 
sie  im  Luftschiff,  im  Auto,  im  Fernrohr  bewundern.  Was 
die  Technik  eigentlich  ist,  das  zeigt  sich  in  ganz  anderen  als 
in  diesen  harmlosen  Gegenstanden  kindlicher  Bewunderung. 
—  Wir  werden  sogleich  sehen,  worin  dieser  ,,neue  Geist", 
der  unserem  Zeitalter  den  Charakter  aufgepragt  haben  soil, 
der  es  zum  ,,technischen  Zeitalter"  gemacht  hat,  worin  die* 
ser  Geist  nach  der  Meinung  gewisser  Kulturkritiker  besteht. 


1  M.  Eyth,  wie  S.  42  erwahnt.  Auf  die  Theorie  der  Organ= 
projektion  kommen  wir  spater  zuriick. 


Und  jetzt  konnen  wir  uns  gcfafit  machcn,  wir  Technikcr  : 
Gott  steh  uns  bei!  Einc  Flut  von  grimmigcn,  stirnrun* 
zelnden  Protcstcn  ergeht  iiber  uns,  und  zwar  von  seitcn 
der  bcstgesinnten  Denker,  gegen  dieses  verfluchte  Werk 
dcr  Holle,  das  iiber  die  Menschheit  gekommen  ist,  urn 
sic  in  Grund  und  Boden  zu  verderben,  sie  geistig  und 
seelisch  zu  verarmen,  sie  zu  entwiirdigen  und  zu  ent« 
nerven ! 

Wie  ein  einziges  namenloses  Ungluck,  so  nimmt 
sich  die  verwirklichte,  in  die  Breite  und  ErfiiU 
lung  gehende  Entfaltung  jener  schonen  Idee  von  der  phy= 
sischen  Freiheit  aus.  Was  Altertum  und  Mittelalter  nicht 
ahnen  konnten:  Wir  Armsten  miisscn  es  durchkosten. 
Wir,  die  wir  von  der  Wissenschaft,  vom  Baume  der  Er« 
kenntnis  gegessen  haben,  miissen  die  fiirchterlichen  Fol« 
gen,  das  grausige  Schauspiel  des  Todes  der  Kulturmensch* 
heit  erleben,  die  unter  dem  Gifthauch  der  modernen  In« 
dustrie  langsam,  aber  sicher  an  Leib  und  Seele  zugrunde 
geht!  — 

,,Die  Technik,  die  urwesentlich  personlich  erlebter  Urn* 
gang  mit  der  Natur  war,  schien  dem  Menschen  alles  zu 
versprechen.  —  Sie  hielt  auch  zunachst  ein  gut  Teil,  als 
sie,  von  der  unmittelbaren  Lebenserhaltung  abgesehen, 
dem  Menschen  die  Herrschaft  iiber  viele  Naturdinge  gab 
und  ihm  die  bose  Furcht  vor  so  und  so  vielen  Damonen  und 
Gespenstern  benahm.  Er  hatte  sein  Haupt  immer  hoher 
erheben  konnen  und  ha'tte  an  seinem  eigenen  gestaltenden 
Wirken  das  Wesen  der  Gottlichkeit  War  und  klarer  er« 
kennen  konnen,  —  namlich  in  dem  schopferisch  —  gestal* 
tend  —  formengebenden  Waltcn,  das  die  Welt  aus  dem 
Chaos  zum  Kosmos  fiihren  will." 


45 


Hcrr  v.  Mayer1,  ciner  jener  protcsticrendcn  Kulturphi- 
losophen,  gibt  das  zu.  ,,Abcr,  fahrt  er  schmerzlich  fort, 
statt  dcssen  kam  cs  anders.  In  dcr  Kurzsichtigkeit  des 
Kampfes  mit  so  vielcn  Naturmachten  maB  er  (dcr  vom 
Tcufel  vcrfiihrte  Mensch)  die  Gottlichkeit  nur  am  eigenen 
Wohl*  oder  MiBergehen,  im  blindcn  Stolze  seines  Kon- 
nens  entgotterte  er  die  klcine  Welt,  die  ihm  technisch  un- 
terlag.  Um  so  damonischer  wuchsen  die  Naturerscheinun- 
gen,  die  ihm  noch  nicht  untertan  waren,  empor.  Weil  irr* 
tumlich  und  plump  an  der  auBeren  Machtwirkung  ge« 
mcssen,  verbildete  sich  die  Anschauung  der  Gottheiten. 
Erstens  begann  der  Mensch  den  seelennahrenden  Aus» 
tausch  mit  den  Naturgebilden  zu  verlieren,  zweitens  be- 
gann ein  wucherischer  Gottesdienst.  Gerade  mit  den  Fort* 
schritten  der  Technik,  mit  dem  bewuBten  Erwachen  des 
organisatorischen  Geistes  glaubte  der  Mensch  eine  unum- 
stoBliche  Weltorganisation  anerkennen  zu  miissen,  eine 
grundsatzliche  Unterordnung  unter  unnahbare  Ma'chte. 
Und  diesen  wollte  er  durch  Demut  schmeicheln.  Seine  Er« 
innerungen  wiesen  ihn  dann  auf  die  Scheinhandlungen  des 
Gottesdienstes  hin,  weil  er  nicht  begriff,  daB  Frommigkeit 
und  Gottgefalligkeit  einzig  in  personlich  freudeschaffender 
Tatigkeit  bestehen.  Damals,  als  der  Urbund  der  Technik 
und  des  Gottesdienstes  in  das  selbstandig-nuchterne  Ge« 
vwerbe  und  den  selbstandig-durren  Gottesdienst  zerfiel,  cr- 
hielt  die  Religion  vom  Geiste  der  Technik  den  ersten  StoB 
ins  Herz  —  des  Menschen  .  .  " 

Es  verlohnt  sich,  den  Gedankenwegen  v.  Mayers,  die 
nicht  allein  von  ihm,  sondern  leider  von  vielen  unserer 
Zeitgenossen  beschritten  werden,  im  einzelnen  zu  folgen. 

1  E.  v.  Mayer,  Technik  und  Kultur.  Hupeden  und  Merzyn, 
Berlin  1906. 


Wir  werden  uns  iibcr  seine  sonderbaren  Widerspruche 
nicht  wundern.  Sie  liegen  in  der  Schwierigkeit  der  Ma- 
terie  selbst,  die  es  zu  verstehen  gilt.  Es  ist  gut,  wenn  sie 
ausgesprochen  werden. 

,,Die  Technik",  sagt  unser  Autor,  ,,ist  so  lange  nicht  ge- 
wertet,  als  ihre  menschlichen  Quellen  nicht  begriffen  sind: 
Das  Warum  und  Wozu,  das  Wann  und  Wie  dieses  mensch- 
lichen Kampfcs  mit  der  chaotischen  Natur.  Denn  ein 
Kampf  is:  sie." 

Und  nun  wertet  v.  Mayer  zunachst  wie  folgt:  ,,Die 
Technik,  als  Meisterung  der  Natur,  ist  in  ihrem  letzten 
Grunde,  in  ihres  Werdens  Anfang  nur  die  erste  Verwirk- 
lichung  des  tiefen  Menschengewissens:  Schopferkraft  in- 
mitten  gestaltend-schopferischer  Machte,  Gott  inmitten 
von  Gottern  zu  sein,  uber  alles  hinweg  aber  der  schonen 
Lebensgestaltung  dienen  zu  miissen  .  .  ." 

,,Was  der  Mensch  erreicht  hat  in  der  GroBartigkeit  der 
Technik,  die  unser  ganzes  Dasein  bestimmt,  hat  er  nur 
aus  dem  personlichen  Selbstgefiihl  errungen.  Dieses  aber 
ist:  DasMacht-Recht-Pflichtgeftihl,  als kosmischer  Mittel- 
punkt  zu  wirken  —  verantwortlich  nur  den  allerhochsten 
Ideen  . .  ." 

,,Zweifellos:  Unser  augeres  Leben  ist,  was  es  ist,  durch 
die  Technik  geworden.  Die  Technik  erlaubt  dem  einzel- 
nen,  in  unabhangiger  Bewegung  sich  ein  Tatigkeitsfeld  zu 
suchen,  und  einem  Volke,  sich  unbegrenzt  zu  vermehren, 
weil  sie  unbegrenzte  Lebensmoglichkeiten  schuf  .  .  .  Sie, 
die  so  ganz  praktisches  Alltagsleben,  Niichternheit  und 
Ideenlosigkeit  scheint,  ist  ein  Weg  zur  dberwindung  der 
Alltags-Rohnatur;  ...  sie  gab  dem  Kiinstler  groftere  Be- 
wegungsfreiheit;  ...  in  den  Bauten,  privaten  wie  offent- 
lichen,  die  so  tiberaus  wichtig  fur  die  Gestaltung  des  so- 

47 


zialen  Lebens  und  Fiihlens  sind,  wird  sic  zu  ciner  bedeu« 
tenden  Mitbildncrin  dcr  Kultur." 

Kein  Zweifcl  also,  daB  v.  Mayer  cine  grofic  Idee,  eincn 
hohcn  Kulturwert  in  dcr  Technik  anerkennt.  Ja,  cr  sieht 
selbst  ganz  klar,  daB  cs  die  matericllc  Frciheit  ist,  die  der 
Mensch  in  ihrcn  Prozcsscn  schafft:  Die  Gotterhaftigkeit 
des  Menschcngcschlechts. 

Aber  halt!  Bald  werden  wir  cines  anderen  belehrt.  ,,Der 
wesentliche  Zug  der  Technik",  erkcnnt  v.  Mayer  bei  ge« 
nauerem  Zusehen,  ,,ist  die  steigcndc  Organisation.  Sic  nun 
dra'ngt  notwcndig  zum  GroBgewerbe;  denn  nur  dieses 
niitzt  jedcs  Werkzeug,  jedc  Kraft,  jeden  Stoff  fast  rcstlos 
aus,  arbeitct  dadurch  am  wohlfeilsten  und  fiihrt  der  natio- 
nalen  Wirtschaft  die  groBte  Menge  reiner  Werte  zu  .  .  . 
Moglichst  sparsame  und  moglichst  dichte  Arbeit  zur 
Verringerung  der  Unkosten  und  Steigerung  des  Uber« 
schusscs:  Dieses  Wcsen  des  GroBgewerbes  war  im  Keime 
der  Technik  enthalten.  Und  was  das  Wesen  der  Technik 
ausmacht,  die  Organisation,  das  zeigt  sich  gerade  heute 
in  den  Fusionen,  Syndikatcn,  Trusts  und  TochtcrgeselU 
schaften  dcr  modernen  Industrie  und  des  modernen  Bank- 
wesens  .  .  ." 

,,Der  Geist  der  Technik,  das  Wesen  der  Technik  als 
selbstandigc  Macht  bctrachtet",  entpuppt  sich  jetzt  dahin : 

,,Mittelst  der  Arbeitsteilung  den  Menschen  zu  zerstiik- 
keln"; 

,,durch  die  Arbeitseinheit  ihn  zu  entpersonlichen"  ; 

,,durch  die  Arbeitsgemeinschaft  ihn  zur  Masse  zu  ma« 
chen" ; 

,,durch  die  technische  Unterordnung  ihn  innerlich  und 
auBerlich  zu  entgeistigen." 

So  wird  der  Mensch  ^entwiirdigt  zum  willenlosen  Ge» 


machte  der  monotheistischen  Idee  zu  Handen  ihrer  poli» 
tisch-sozialen  Verkorperung,  der  militarisch=bureaukrati= 
schen  Staatsgewalt  .  .  .  Dcr  Geist  dcr  Tcchnik  hat  durch 
die  cntpersonlichtc  Arbeitstatigkeit  unmittclbar,  mittels 
bar  durch  die  Staatserziehung  und  die  monotheistische  An= 
schauung  den  Menschen  seiner  kosmischen  Aufgabe  ent* 
fremdet.  Er  hat  aber  auch  das  tagliche  Leben  zerriittet  und 
verkehrt  .  .  .  Der  Prunkpalast  der  modernen  freiheitlicha 
technischen  Zivilisation  ist  in  Wahrheit  ein  ungeheures 
Gefangnis,  in  dcm  ein  jeder  lebenslangliche  Zwangsarbeit 
zu  verrichten  hat,  aber  auch  einer  leidlichen  Ernahrung 
gewift  ist.  Wohin  doch  der  Hungerteufcl  den  Menschen  ge« 
brachthat!" 

Beflugelt  von  der  gottlichen  Idee  des  begonnenen  Werkes, 
endet  also  der  vom  Teufel  verblendete  Mensch  —  im 
Ruin  seiner  Kultur.  Die  verdammte  Technik  ist  daran 
schuld,  in  ihrer  ungltickseligen  Idee  liegt  die  grausame 
Konsequenz,  die  ihren  eigenen  Schopfer,  den  hoherstreben- 
den  Menschen,  zum  Sklaven  erniedrigt. 

Wie  reimt  sich  das  Letzte  mit  dem  Ersten  zusammen? 

Hat  sich  etwa  die  Idee  mit  sich  selbst  entzwcit?  Ist 
^freiheitliche  technische  Zivilisation"  gleichbedeutend  mit 
menschlicher  Unfreiheit,  mit  der  volligen  Versklavung 
des  aus  den  Fesseln  der  Natur  entsprungenen  und  den 
Fesseln  der  Zivilisation,  der  Technik,  ausgelieferten  ewigen 
Toren,  des  Menschen?  Erzeugt  die  geschichtliche  Ver« 
wirklichung  jener  kostlichen  Idee,  in  deren  Dienste  sich 
die  Erfinder  seit  grauer  Vorzeit  abgemuht  haben,  in  Wahr* 
heit  ihr  grelles  Gegenteil :  Die  lebenslangliche  Zwangs= 
arbeit,  die  materielle  Gefangenschaft?  Und  ist  nun  diese 
vielmehr  die  von  der  fortschreitenden  Geschichte  endlich 
ans  Licht  gebrachte  wahre  Idee  der  Technik  gewesen,  der 

4  Zichlmmer,  Philo»ophic  dcr  Ttchnik  49 


wahre  Jakob,  den  wirzu  unsercm  Schrecken  sich  mchr  und 
mehr  zur  idealen  Vollkommcnheit  verwirklichen  sehen, 
cin  wahrhaft  kulturfeindlichcr,  kulturvernichtender,  well 
die  Menschhcit  entmenschcnder  Gedankc,  zu  dessen  be= 
wuBtem  Trager  sich  nur  cin  Mcphistophelcs  cigncn  kann, 
der  Gott  des  Zynismus  selbst?  Sind  wir  Tcchniker  also 
seine  Helfershelfer,  die  teuflischen  Kulturmorder? 

Es  lohnt  sich  doch  wohl,  die  Argumente  nachzuprtifen, 
auf  denen  diese  schauerliche  Logik  einer  ganzen  Gruppe 
von  Kulturphilosophen  beruht. 

Organisation  heifit  das  Wort,  das  in  den  Schliissen 
.  Mayers  und  seiner  Gesinnungsgenossen  alles  Bose 
in  sich  birgt.  Sahen  wir  im  ersten  Rausche  der  Begeisterung 
in  der  Technik  die  Verkorperung  der  Idee  der  Gotterhaftig* 
keit,  so  war  diese  Ansicht  zwar  nicht  eben  sinnlos,  aber  sie 
war  einseitig.  Noch  hatten  wir  vergessen,  die  Kehrseite 
der  Medaille  ins  Auge  zu  fasscn,  und  diese  heiSt:  Organi- 
sation, Organisation  der  gesamten  Menschheit  zum  groften 
Arbeiterheer,  im  Dienste  der  groften  Idee  auf  der  Vorder- 
seite. 

Und  darin,  glaubt  nun  v.  Mayer,  liegt  der  ungeheure 
Selbstbetrug  der  gesamten  Menschheit:  Sie  meint  nach 
Freiheit  zu  streben,  wahrend  sie  sich  selbst  ein  neues  Reich 
der  Unfreiheit  errichtet.  An  Stelle  der  natiirlichen  Unfrei* 
heit  des  rohen  Urmenschen  erringt  der  zivilisierte  Mensch 
am  Ende  seines  Schaffens  die  kun\tliche  Unfreiheit  der 
technischen  Verstaatlichung;  die  Mittel,  die  er  wollen 
muB,  um  jenen  hohen  Zweck,  die  materielle  Freiheit  iiber 
die  Natur,  zu  erringen,  sind  zugleich  die  Mittel,  welche  mit 
todlicher  Notwendigkeit  bewirken,  daft  er  zum  Knechte 
der  von  ihm  selbst  geschaffenen  iiberpersonlichen  Macht 

50 


der  Organisation  werden  muB  —  ein  bedauernswcrtcr 
Sklave,  dcr  sich  freivx/illig  an  einen  ncucn  Hcrren  vcrkauft 
hat. 

1st  das  wahr?  —  Hierin  stcckt  cin  Problem,  ohne  Zwei* 
fel  ein  wissenschaftliches  Problem.  Es  lautet  in  trockene 
Form  gepreBt: 

1.  Bewegt  sich  die  Menschheit  —  von  einzelnen  Aus« 
nahmemenschen  kann  nicht  die  Rede  sein  —  indem  sic, 
was  jetzt  ganz  offensichtlich  ist,  die  Technik  immer  weiter, 
ja  rcstlos  auszubilden  strcbt,  indem  sie  die  Zahl  der  ma« 
teriellen  Freiheitsgrade  nach  alien  Richtungen  hin  durch 
Erfindung  und  Entdeckung  zu  vergrofiern  trachtet,  be« 
wegt  sie  sich  mit  diesem  Schopfungsprozesse  einer  tech- 
nisctien  Welt,  als  der  Wohnstatte  der  kunftigen  Kultur, 
zugleich  notwendig  in  der  Richtung  auf  eine  immerfort 
wachsende  und  schlieBlich  vollendete  Organisierung  der 
gesamten  menschlichen  Tdtigkeit?  — 

2.  Ist  es  eine  gcschichtliche  Notwendigkeit,  daB  jener 
erste,  schopferische,  aufbauende  ProzeB  einer  Befreiung 
grofien  Stiles,  indem  er  diesen  zweiten  TeilungsprozeB, 
beruhend  auf  der  immanenten  Logik  der  Sachen,  gleich« 
sam  in  historischer  Korrelation  mit  sich  bringt,  jene  ver- 
nichtenden  Folgen  fur  das  ganze  Kultur leben  der  Menschheit 
haben  wird,  welche  die  Anhanger  der  Personlichkeitskultur 
kommen  sehen? 

Ich  will  den  Kulturphilosophen,  die  so  schlieBen  wie 
v.  Mayer,  ihre  Pramissen  zugeben,  indem  ich  die  erste 
Frage  mit  Ja  beantworte:  Immer  mehr  materielle  Freiheit 
wird  geschaffen  durch  die  Technik  und  zugleich,  ja  not= 
wendigerweise,  eine  immer  mehr  fortschreitende  Organi- 
sation dieser  Freiheit  und  der  menschlichen  Tatigkeit,  durch 


wclche  sic  verwirklicht  wird.  Abcr  bei  den  Konsequenzen 
streike  ich  ganz  entschieden ! 

Wie  kommt  Herr  v.  Mayer  zu  dem  Schlussc,  der  die 
zweite  Frage  beantworten  soil :  Der  Geist  der  Technik  ent= 
fremde  den  Menschen  seiner  kosmischen  Aufgabe,  er  zer« 
riitte  und  verkehre  das  tagliche  Leben,  indem  er  seine 
Arbeitstatigkeit  entpersSnlicht ? 

Besteht  denn  das  ganze  Leben  in  technischer  Arbeits- 
tatigkeit, unterworfen  dem  Prinzip  der  Organisation?  1st 
die  fur  uns  alle  —  da  wir  nicht  im  Schlaraffenlande  ge« 
boren  sind  —  zur  Erhaltung  unseres  Lebens  notwen- 
dige  Arbeitstatigkeit  (die  ja  freilich  in  diesem  Sinne  eine 
Zwangsarbeit  ist),  ist  die  Form  dieser  einen  von  Natur 
unumganglichen  und  daher  fur  alle  Menschen  zu  for- 
dernden  Lebensaufterung  der  alleinige  Mafistab  fur  die  Per- 
sonlichkeit? 

Muft  die  Personlichkeit  des  Menschen  iiberhaupt  stehen 
und  fallen  mit  der  Personlichkeit  seiner  Mitarbeit  an  der 
materiellen  Grundlegung  des  menschlichen  Kulturlebens? 
Schandet  iiberhaupt  organisierte  Berufsarbeit,  Beamten- 
arbeit,  Staatsdienst  den  Menschen  in  seiner  vollen  Le- 
benswirklichkeit,  weil  sie  ihn  als  Diener  der  Gemeinschaft 
teilweise  und  notwendigerweise  zum  Teil  entpersonlicht? 
I  Was  heiftt  denn  eigentlich  „ Personlichkeit"?  Etwa  sich 
auswachsender  Egoismus,  sich  auslebende  Eigenorgani» 
sation  des  Individuums,  „  Innenarchitektur  der  Seele"? 

Sehr  schon!  Herrlich,  wein  Gott  inmitten  von  Gottern 
sein,  iiber  alles  hinweg  aber  der  schonen  Lebensgestaltung 
zu  dienen !"  —  Das  aber  meint  ja  v.  Mayer  gar  nicht.  Er 
spricht  selbst  von  einem  ,,Macht  —  Recht  —  Pflichtgeftihl, 
als  kosmischer  Mittelpunkt  zu  wirken,  verantwortlich  nur 
den  allerhochsten  Ideen".  Ja,  dies  definiert  er  geradezu  als 

52 


das  ,,personliche  Selbstgefiihl".  Und  das  solltc  ruiniert, 
dem  Mcnschen  geraubt  werden,  nur  well  cr  zu  scincm 
Teilc  in  Gemeinschaft  mit  den  andcren  und  allcrdings 
untcr  gewissem  Verzicht  auf  Eigenheit  mitarbeitcn  muft? 
Kein  verniinftiger  Mensch  wird  diesen  Schluft  zugeben. 

Doch  wir  haben  unsercm  Pcssimisten  die  Pramissen  zu« 
gegeben.  Es  ist  Tatsache :  An  die  Seite  der  materiellen 
Freiheit,  die  wir  als  Idee  der  Technik  entdeckt  zu  haben 
glaubten,  drangt  sich  allerdings  (vielleicht  immer  vor» 
dringlicher)  mit  zunehmender  Entwicklung  der  Dingeeine 
zweite,  auch  uns  einleuchtende  Gemeinsamkeit  im  histo- 
rischen  Geschehen,  ein  zweiter  allgemeiner  Begriff  der 
konkreten  Erscheinungen,  die  man  ,,die  Technik"  nennt. 
Nennen  wir  diese  Gemeinsamkeit  der  Dinge  vorlaufig  den 
Begriff  der  Organisation". 

In  diesem  sicht,  dies  gilt  es  nun  zu  bcachten,  V.  Mayer 
gerade  das  Wesentlichste,  den  wGeist",  die  eigentliche 
Idee  der  Technik  selbst.  Er  versteht,  wie  wir  gehort  haben, 
unter  diesem  Geist  als  selbstandiger  Macht,  als  herr- 
schendes  Prinzip :  Die  Arbeitsteilung,  die  Arbeitseinheit,  die 
Arbeitsgemeinschaft  und  die  technische  Unterordnung.  Hier- 
durch  soil  der  Mensch  vollstandig  ,,zerstuckelt,  entper» 
sonlicht,  zur  Masse  gemacht  und  innerlich  wie  aufterlich 
entgeistigt  werden".  Diese  Leistung  danken  wir  also  der 
Technik.  Verstehen  wir  recht: 

Die  Form  der  Tatigkeit,  wodurch  die  von  uns  erkannte 
Idee  der  Technik  historisch  ins  Werk  gesetzt  werden 
muB,  entwerte  diese  Idee  so  sehr,  meint  v.  Mayer. 

Herrlich  ist  zwar,  wie  unser  Philosoph  zugibt,  die  Ent* 
faltung  der  ,,materiellen  Freiheit"  in  den  Werken  der  Tech- 
nik selbst,  so  herrlich  wie  die  Entfaltung  der  Idee  der  kiinst* 

55 


lerischen  Schonheit  in  den  Statucn  und  Bildern.  Aber 
scheuSlich  1st  die  Art,  wie  der  Prozeft  dieser  Entfaltung 
der  Freiheit  durch  die  handelnden  Subjekte  zur  greif= 
baren  Wirklichkeit  wird,  ebenso  scheufclich  wie  in  den 
Augen  der  Moralisten  die  Art  des  kiinstlerischen  Schaffens 
durch  die  stark  sinnliche  Erotik,  durch  das  buhlerische 
Leben  der  Kiinstler,  oder  wie  nach  unseren  Begriffen  die 
Art  der  Erschaffung  der  Pharaonenkultur  durch  das  grau« 
same  Elend  der  armen  Fellachin.  —  Was  haben  wir  darauf 
zu  erwidern? 

Wo  sich  grofte  Ideen,  iiberpersonliche  Werte  in  der  Ge» 
schichte  verwirklichen,  da  gilt  es  eben  zwei  Dinge  wohl  zu 
unterscheiden :  Die  Realisierung  der  im  historischen  Leben 
sich  entfaltenden  Idee  als  sotche  und  die  vermittelnde  Tatig- 
keit  der  Menschen,  die  ihre  begrenzte  Lebenszeit  in  den 
Dienst  der  Idee  stellen,  in  unserem  Falle  die  Arbeitstatig* 
keit  der  Erfinder,  der  Unternehmer,  der  Beamten,  der 
Arbeiter  in  der  Industrie. 

Nun  gilt  es  zu  erkennen,  daft  die  Idee  der  Technik  sich 
realisiert  und  entfaltet  in  der  von  der  ganzen  Menschheit 
praktisch  erlebten  und  genossenen  materiellen  Freiheit,  die 
wir  Techniker  ihr  schenken.  Im  Gebrauch  und  Genusse  dieser 
Freiheit  besteht  die  ,,Wirklichkeit  der  Technik",  gleich« 
wie  die  ,,wirkliche  Kunst"  in  Erlebnis  und  GenuB  der 
Werke  der  Kiinstler:  Sic  ist  die  Wahrheit  und  Wirklich. 
keit  der  Gotterhaftigkeit  des  materiellen  Lebens  selbst, 
vermittelt  durch  die  physische  Erweiterung  der  Wahrneh* 
mungs-  und  Machtinstrumente,  an  deren  Herstellung  die 
Techniker  arbeiten,  wie  die  Kiinstler  an  der  Herstellung 
der  sichtbaren  und  greifbaren  physischen  Kunstwerke,  die 
ja  ebenfalls  nur  erst  die  Mittel  sind  zum  inneren  Leben  der 
Kunst! 

54 


Zuerst  mufc  jenen  Kulturhistorikern,  die  das  Wcsen  der 
Technik  in  der  Entpersonlichung  dcr  tcchnischen  Arbeiter= 
schaft  im  weitestcn  Sinne  zu  erfassen  mcincn,  der  Star  ge= 
stochen  werden.  Sie  miissen  erst  einmal  erkennen,  daft  die 
Technik  ihre  Idee  weder  erfiillt  findet  in  dem  Frondienst 
der  Fellachin,  in  der  modernen  Sklavenarbeit  der  Fabriken, 
noch  auch  anderseits  in  den  toten  Maschinen,  Instrument 
ten  und  Gegenstanden  aller  Art,  die  hier  produziert  wer- 
den mogen.  Nein!  Die  Idee  der  Technik  erfullt  sich  erst  in 
dem  frohen,  freien  Leben,  das  vermittelst  der  vorausge» 
gangenen  Arbeit  an  der  toten  Materie  zur  siegreichen 
Wirklichkeit  wird.  Sie  erfullt  sich  nicht  im  Luftschiff,  son» 
dern  in  der  freien  Luftschiffahrt,  nicht  in  der  Maschine, 
sondern  in  der  befreienden,  freiheitgewahrenden  Leistung 
der  Maschine,  und  sie  erfullt  sich  nicht  durch  den  Tech* 
niker,  sofern  er  auf  die  Mittel  bedacht  ist,  sondern  durch 
den  Techniker,  der,  in  der  Idee  stehend,  diese  Mittel 
im  Geiste  vorausschauend,  bereits  gebraucht,  sofern  cr 
im  Gedanken  der  materiellen  Freiheit  lebt ,  fur  die  er 
der  Menschheit  durch  seine  Arbeit  die  Mittel  schafft! 
,,Wenn  ich  die  schonste  Maschine  dastehen  habe,"  sagt 
Staudinger1  sehr  richtig,  ,,das  ist  keine  Technik;  erst 
dann,  wenn  ich  sie  in  Betrieb  setze,  ist  es  etwas  Tech= 
nisches,  und  ebenso,  wenn  ich  sie  herstelle.  .  .  .  Lebcn- 
diges  Wirken  im  Zusammenhang  mil  dem  Werkzeug  nenne 
ich  Technik." 

Erst  wenn  jener  Star  der  Ideenblindheit  gegeniiber  den 
technischen  Erscheinungen  gestochen  ist,  kann  das  bessere 
Verstandnis  derselben  kommen  und  hiermit  auch  das  Ver= 
standnis  fiir  die  freilich  in  untrennbarer  Verkniipfung  mit 

1  Staudinger,  Verhandl.   des    i.   deutschen  Soziologentages, 
S.  86.  Mohr,  Tiibingcn  1911. 

55 


dem   technischen  Arbeitsprozeft  befindlichcn  Eigentiim* 
lichkeiten,  die  dieser  mit  sich  bringt. 

A>er  wie  steht  es  denn  um  die  Idee  der  Tcchnik,  wenn  wir 
diesen  Grundbegriff  mit  der  notigen  logischen  Scharfe 
zu  bestimmen  suchen?Sie  mag  uns  wohl  anschaulich,  in- 
tuitiv  als  etwas  unmittelbar  Verstandliches,  ja  Allermensch* 
lichstes  erscheinen.  Allein  darauf  kann  sich  cine  wissen- 
schajtlich  begrundende  Philosophic  nicht  verlassen.  Ihre  Be* 
griffe  miissen  kritisch  und  logisch  scharf  getrennt  von 
anderen  erfaftt  werden,  und  es  muft  der  Nachweis  er* 
bracht  werden,  daft  sie  durch  die  historische,  wissenschaft* 
lich  bestatigte  Wirklichkeit  erfiillbar  sind  (Munch). 

Qberlegen  wir,  der  einleitenden  Betrachtungen  uns  er* 
innernd,  nochmals,  wie  Freiheit  moglich  sein  kann,  trotz* 
dem  die  Natur  streng  gesetzmaftig  ist! 

Dies  wird,  wie  friiher  schon  gezeigt  wurde,  verstandlich, 
sobald  man  einmal  den  fundamentalen  Unterschied  von 
Anschauung  und  Begriff  erkennt.  Die  anschaulich  gegebene 
Natur  —  das  natiirliche  Seiende,  die  Materie  —  konnte 
von  ganzlich  verschiedener  Beschaffenheit  sein,  wahrend 
von  ihr  doch  dieselben  Gesetze,  iiberhaupt  dieselben  Be- 
griffe  gelten.  Also  unendlich  viele  anschauliche  Welten 
sind  moglich  unter  den  Naturgesetzen  (Leibniz). 

Freilich  ist  nur  eine  dieser  Welten  wirklich,  d.  h.  fur  die 
Wahrnehmung  vorhanden,  als  ,,ein  realisierter  Fall".  Die 
Naturgesetze  aber  —  dies  eben  ist  die  wichtige  Grund* 
erkenntnis,  die  wir  gewonnen  hatten  —  sagen  uns  iiber  die 
Anschauungen,  in  denen  sie  einleuchten,  ,,fiir  die  sie  geU 
ten",  ebensowenig,  wie  die  menschlichen  Rechtsgesetze 
iiber  die  Eigenart  der  konkreten  Sachen  oder  der  han= 
delnden  Personen,  die  in  den  Gerichtssalen  auftreten. 


Das  1st  es  ja,  was  die  rein  formalen,  intellektuellen  Men- 
schen,  die  sich  nur  fur  abstrakte  Einsichten  interessieren, 
so  halbseitig  macht:  Sic  suchen  Begriffe,  Begriffe  und 
wiederum  Begriffe.  Das,  was  den  Begriffen  aber  Leben  und 
Erfiillung  gibt,  die  konkrete,  unerschopfliche  Anschauung, 
das  betrachten  sie  als  das  ,,blo6  Gcgebene",  was  sie  nur 
wenig  oder  gar  nichts  angeht.  Kiinstler  dagegen  und  in« 
tuitive  Menschen  iiberhaupt  sehen  gerade  hierin  das  allein 
Wichtige,  sie  hassen  die  Begriffe.  —  Es  ist  klar,  daft  es 
noch  einen  dritten  Stand  gibt,  der  beides  liebt  und  nach 
beiden  Richtungen  hin  Entfaltung  sucht,  nach  Lebensfiille 
und  Begriff:  Geister  wie  Lionardo  und  Goethe  gehoren 
ihm  an. 

Nun  ist  es  gemaft  der  Idee  der  Naturwissenschaft  —  die 
Gesetzeserkenntnis  sein  will  —  ein  notwendiger  Gedanke : 
Wenn  das  anschauliche  Sein  zu  irgendeiner  Zeit  in  be= 
stimmter  Form  der  Verbindung  und  Verteilung  gegeben 
ist,  dann  ist  es  in  alien  kiinftigen  Zeitmomenten  seiner 
Form  nach  determiniert,  als  Funktion  jenes  bestimmten 
Zustandes  des  friiheren  Zeitmomcntcs.  Und  diese  einmal 
gegebene  konkrete  Natur,  in  die  wir  hineingeboren  sind, 
konnen  wir  weder  aus  der  Welt  schaffen,  noch  konnen 
wir  etwas  absolut  Neues  in  diese  Welt,  die  so  ist,  wie 
figura  zeigt,  hineinbringen.  Wohl  aber  konnen  wir  sie  — 
und  zwar  in  concrete,  realiter  —  umschaflen.  Hierin  liegt 
der  springende  Punkt. 

Es  ist  richtig :  Die  sich  selbst  iiberlassene  reine  Natur, 
ohne  das  Leben,  welches  in  der  freien  Sphare  der  ideellen 
Anschauung,  in  der  Sphare  des  Bewufttseins  steht,  kann 
nichts  umschaflen,  sie  kann  nur  vollenden,  was  begonnen 
ist,  zum  Ablauf  bringen,  was  in  alle  Ewigkeit  hinaus 
bereits  determiniertes  Resultat  ist. 

57 


Doch  das  1st  eine  thcoretische  Abstraktion.  Die  ,,reine 
Natur",  ohne  das  Leben,  das  ,,absolut  gesetzliche  Funk= 
tionssystem"  1st  nichts  anderes,  als  cin  begriffliches  Isola- 
tionssystem,  es  gilt,  wie  wir  gezeigt  habcn,  partiell,  nicht 
total.  Aus  ihm  folgt  also  nicht  das  hohere  Integral  iibcr 
das  Ganze:  Natur  plus  Leben. 

Das  Ganze,  der  Kosmos,  hat,  logisch  betrachtet,  zwei 
Seiten  zugleich :  Determiniertheit  und  Indeterminiertheit, 
Schicksal  und  Freiheit  in  seinen  raumlichen  wie  zeitlichen 
Erscheinungen,  die  im  bestandigen  Wandel  begriffen  sind. 
Seine  Geschichte  lauft  zum  Teil  in  ewiger  Bestimmtheit 
ab ;  aber  sic  ist  auch  zum  Teil  ein  unberechenbarer  Schop« 
fungsprozeft  des  freien  Lebens.  Und  darauf  kommt  es 
uns  an. 

Wie  Bergson1  richtig  gesehen  hat,  befindet  sich  das 
Ganze  der  Welt,  mil  Einschlup  des  bewupten  Lebens,  im 
Zustande  ^schopferischer  Entwicklung",  wenn  die  Welt= 
anschauung  eines  absoluten  abstraktionslosen  Intuitionis= 
mus  auch  immer  die  erstaunliche  Selbsttauschung  eines 
originalen  Denkers  bleiben  wird. 

Die  Lebenswelt,  in  die  wir  eingegliedert  sind  als  tatige 
Subjekte,  diese  besondere  Form  des  Geschehens,  welche 
allein  den  Namen  Leben  verdient,  hat  unendliche  Frei= 
heitsgrade  in  der  ideellen  Voraussicht  der  moglichen  Ein* 
wirkung  unseres  Leibes  auf  die  Materie.  Die  Naturgesetze 
bleiben  unverletzt;  aber  sic  gelten  total  nur,  sofern  das  aus 
Freiheit  der  ideellen  Voraussicht  handelnde,  d.  h.  das  be= 
wuBte  Leben  nicht  eingreift,  sofern  kein  Subjekt  da  ist, 
welches  der  blinden  Ordnung  der  Dinge  seine  eigene 

1  H.  Bergson,  wie  Seitc  23  erwahnt.  Zur  Begrundung  meiner 
Darstellung  vcrweise  ich  nochmals  auf  mcin  Scite  21  angc= 
fiihrtes  Buch  ,/Wcltcrlebnis". 

58 


hohere  Ordnung  aufzwingt,  im  hochsten  Sinne  cine  Ord* 
nung  gema'6  den  Idcen,  die  es  ergreift. 

Es  handelt  sich  also  nicht  um  Widerspruch,  sondern  um 
das  Verhaltnis  von  Ordnung  und  Qberordnung,  wo  Natur 
und  Leben,  Schicksal  und  Freiheit  die  Materie  zu  gleicher 
Zeit  gestalten  —  ein  Verhaltnis  von  derselben  Art,  wie  es 
zwei  Wellenbewegungen  haben,  die  denselben  Korper  in 
jenen  komplizierten  Schwingungszustand  versetzen,  aus 
welchem  die  abstrahierende  Analyse  die  beiden  einzelnen 
Schwingungsgesetze  als  partielle  Bestimmungen  heraus* 
erkennt,  womit  das  anschauliche  Ganze  —  der  schwin- 
gende  Korper  —  in  seinem  Verhalten  verstandlich  wird. 

Kulturberuhtauf  Freiheit.  Ja,  ich  sage,  das  Leben  iiber« 
haupt  beruht  in  der  Freiheit.  Mag  es  sich  nun  zu  eigner 
Gesetzlichkeit,  zur  selbstbestimmten  Form,d.h.zur  Ideen- 
bezogenheit  entschlieSen  oder  nicht ;  seine  Freiheit  hat  es  in 
der  Unendlichkeit  der  ideellen  Spha're,  in  der  Phantasie,  die 
sich  auf  den  reellen  Zeitinhalt  projiziert  und  diesem  eine 
Zukunft  vorauszeichnet,  von  welcher  unter  Umstanden  — 
und  das  freilich  ist  merkwiirdig  und  hochst  wunderbar  — 
die  Realisierung  durch  die  physischen  Machte  vermittels 
der  Einwirkung  des  Organismus  auf  die  Materie  gelingt. 

A  ber  der  lebendige  Organismus  besitzt  diese  Moglichkeit 
x~Vkeineswegs  schon  im  Momente  seiner  entwicklungs* 
geschichtlichen  Geburt  zum  bewuftten  Lebewesen.  Mit 
dem  Erwachen  des  freien  Geistes  muft  er  zugleich  die 
physischen  Schranken  fiihlen,  in  die  ihn  der  blinde  Zufall 
eingeschlossen  hat,  gleich  einem  Gefangenen,  der  durch 
das  Gittcr  in  die  freie  Spha're  einer  Phantasiewirklichkeit 
blickt,  von  der  ihn  ein  unerbittliches  Schicksal  getrennt 
hat. 

59 


,,Der  Mensch  ist  frei,  und  war'  er  in  Kettcn  geborcn." 
Nicht  doch,  sagt  Dietzgen1,  ,,in  Kctten  ist  der  Mensch 
geboren,  und  die  Freiheit  muft  er  erkampfen."  Er  strebt 
nach  ihr  —  er  erstrebt  die  Realisierung  ihrer  Idee,  so* 
lange  er  lebt. 

Ideen  sind  keine  metaphysischen  Potenzen,  keine  dunk* 
len  Machte,  die  als  Fatum  die  Menschen  zwingen  und 
bestimmen,  zu  ihrer  Verwirklichung  beizutragen.  Ideen 
setzen  sich  nicht  von  selbst  in  die  ,Welt.  Sie  beruhen  in 
der  Erkenntnis,  in  der  Einsicht,  die  sich  der  in  der  Frei- 
heit der  ideellen  Sphare  stehende  Mensch  aneignet,  indem 
er  zum  iiberpersonlich  interessierten  Menschen  wird,  die 
er  aber  auch  ohne  diese  Erhohung  seines  Schaffens  im 
harten  Kampfe  seines  Willens  mit  der  widerstrebenden 
Natur  zur  geschichtlichen  Wirklichkeit  macht,  ohne  zu 
wissen,  was  er  im  Grunde  tut.  Weifi  er  es  einmal,  dann  er* 
kennt  er  zugleich  in  der  Idee  seines  Tuns  auch  sein  hoheres 
geschichtliches  Wesen  als  Bildner  der  Kultur.  Und  solch 
ein  wissender  Mensch  ist  der  ideale  Erfinder,  der  seines 
Zieles  bewuftte  Entdecker  und  Erschaffer  der  materiellen 
Freiheit,  von  dem  Eythz  so  schon  gesagt  hat:  ,,Er  wird  in 
diesem  irdischen  Dasein  nie  zur  Ruhe  kommen,  solange 
der  Mensch  bleibt,  was  er  ist:  Ein  Ebenbild  des  Schopfers, 
ein  Wesen,  in  das  Gott  einen  Funken  seiner  eigenen  schaf* 
fenden  Kraft  gelegt  hat/' 


1  J.  Dietzgen,  Samtliche  Schriften  1869  bis  78.  Vcrlag  der 
Dietzgenschen  Philosophic,  Wiesbaden  und  Miinchen.  "  M. 
Eyth,  wie  Seite  42  erwahnt. 


TECHNISCHES  SCHAFFEN 

Wir  wenden  uns  jetzt  der  Kchrseitc  der  Mcdaillc  zu, 
wohl  wissend,  daft  die  Technik  wie  jede  Kultur=» 
idee  einer  realen  Vermittlung  durch  Berufsmenschen  be= 
darf,  genau  wie  die  Kunst. 

Wir  betrachten  also  die  technische  Arbeit  oder  den  tatigen 
Prozeft  zur  Erschaffung  aller  jener  Werke,  deren  Gebrauch 
das  Leben  der  Idee  erst  ermoglicht  und  so  der  Technik 
selbst  zur  Wirklichkeit  verhilft. 

Diesem  Teile  unserer  Betrachtung  wiirde  etwa  dasjenige 
Kapitel  der  Kunstphilosophie  entsprechen,  welches  die 
Schaffung  der  sichtbaren  Kunstwerke,  d.  h.  die  Tatigkeit 
der  Kunstler  betrifft,  oder  derjenige  Teil  der  Rechtsphilo- 
sophie,  der  die  Hilfsmittel  zur  Realisierung  des  gelebten 
Rechts  untersucht.  —  Es  handelt  sich  hier  wie  dort  um 
eine  von  dem  wirklichen  Leben  der  Idee  unabtrennbare 
konkrete  Sphare  von  Erscheinungen,  um  jene  Art  von 
menschlicher  Berufstatigkeit,  iiber  die  besonders  jetzt  so 
unendlich  viele  Nasen  und  vornehme  Naschen  geriimpft 
werden,  und  die  doch  ebenso  innerlich  mit  dem,  was  wir 
die  Kultur  nennen,  verknupft  ist,  wie  die  Riickseite  eines 
Talers  mit  seiner  Vorderseite. 

Wie  jedes  Stiick  der  gesamten  Kultur,  so  fallt  auch 
dieses  grau  in  grau  gemalte,  von  vielen  blindlings 
zur  Unkultur,  zur  blofien  Zivilisation  geworfene  korperlich- 
geistige  Schaffen  der  Techniker  in  das  menschliche  Sub- 
jekt,  von  dessen  Willen  es  bewuBt  realisiert  wird.  Es  fallt 
in  das  Reich  der  Zwecke. 

|^Der  unmittelbare  Zweck  der  technischen  Arbeit  sind 
zweifellos  nur  Mittel,  vom  Menschen  erfundene  Mittel, 

61 


die  materialisiert  werden  sollen,  um  dem  vollcn  Lebcn  im 
hoheren  Sinne,  d.  h.  der  Kultur  als  Einheitszusammen= 
hang,  als  Verfassung,  die  notwendige  Freiheit  iiber  die  Na» 
tur  in  jeder  moglichen  Hinsicht  zu  gewahrleisten,  mit 
deren  Gewinn  das  Leben  ja  erst  in  den  Stand  gesetzt  wird, 
auch  die  iibrigen  Ideen  der  Schonheit,  der  Wahrheit,  des 
Rechts  usw.  zur  Entfaltung  und  Verwirklichungzu  bringen. 

Wie  das  Verhaltnis  dieser  Ideen  zueinander  und  zum 
Ganzen  der  gelebten  Kultur,  als  eines  konkreten  Wert« 
systems,  sich  richtig  bestimmt,  betrachten  wir  erst  im  letz- 
ten  Kapitel.  Nur  das  bitte  ich  schon  jetzt  fur  alles  folgende 
doch  recht  fest  zu  halten :  Die  technische  Arbeit  als  solche, 
die  Tatigkeit  der  Techniker,  ist  nicht  die  Technik,  ist  nicht 
das  Kulturphanomen,  dessen  Sinn  wir  in  letzter  Hinsicht 
zu  verstehen  suchen.  Sie  will  es  vielmehr  erst  ermoglichen, 
wie  die  Kunstlerarbeit  ihrerseits  das  gelebte  Kulturpha- 
nomen  Kunst  nur  erst  ermoglicht,  aber  keineswegs  schon 
selbst  ist  —  ja  nicht  einmal  sein  kann,  bevor  nicht  die 
Kritik  der  Geschichte  Recht  gesprochen  hat,  ob  Kunst 
uberhaupt  oder  Unkunst  vorliegt. 

Das  technische  Schaffen,  dessen  Wesen  wir  jetzt  erken- 
nen  wollen,  darf,  wie  nun  klar  ist,  nicht  betrachtet  werden, 
um  daraus  den  Geist  oder  das  Wesen  der  Technik  abzu« 
leiten,  wie  es  unsere  kulturblinden  Kritiker  heute  noch 
ebenso  wie  zu  Aristoteles'  Zeiten  versuchen.  Wer  nur  die 
technische  Arbeit  und  die  Einrichtungen  der  Fabriken  be- 
trachtet oder  gar  die  wirtschaftlichen  Unternehmungen, 
in  deren  Dienst  sie  stehen,  um  kulturhistorisch  zu  werten, 
der  wertet  also  niemals  die  lebendige  Erscheinung  der 
„ Technik",  auf  die  es  uns  allein  ankommt. 

Ebenso  verkehrt  ware  es,  das  Wesen  der  gelebten  Tech- 
nik, d.  h.  der  in  alien  Moglichkeiten  realisierten  Gotter- 

62 


haftigkeit  des  Menschen,  glcichzusetzen  dcm  Wesen  des 
ebensowohl  auf  der  Natur  wie  auf  der  Vcrfassung  des 
aktuellen  Subjekts  beruhenden  Prozesses,  vor  desscn  FoU 
gen  so  mancher  schonen  Seele  aus  der  biederen  Zeit  un« 
serer  UrgroBvater  himmelangst  wird. 

Wir  modernen  Techniker  fiihlen  indessen  bei  unserer 
ruBigen  Arbeit  die  Kraft  nicht  minder  als  den  groBen 
Geist  der  Kulturgeschichte  im  Busen.  Hiittenrauch  und 
Hammerklang,  chemische  Geriiche  und  Radergebraus  sind 
fiir  uns  Lieblingsdiifte  und  anheimelnde  Klange.  Wir 
wollen  ganze  Kerle  sein  in  dieser  das  mannliche  Gc= 
schlecht  nicht  mehr  zu  Schaferspiel  und  Weiberromantik, 
sondern  im  Spiel  mit  Dampf  und  Feuer  zu  Kampf  und 
Sieg  einladenden  Welt,  von  der  Karl  Weiser  in  den  ,,Hun- 
derthandigen"  singt: 

,,Wir  schmieden, 
Wir  schmicden 
Die  Riistung  der  Zeit, 
Die  uns  einst  befreit!" 

Fur  uns  ist  die  fruher  so  viel  bewunderte  Natur  nur 
gleichsam  cine  verzauberte  bessere  Wirklichkeit.  Gar  man- 
cher Erfinder  wunschte  sich  wohl,  daB  cr  hexen  konnte, 
daB  der  bloBe  Gedanke  oder  die  Grundidee  der  Freiheit 
genugte,  um  in  dieses  sinnlose  Chaos  technische  Vernunft 
zu  bringen.  Aber  was  ha'tten  wir  dann  auf  der  Welt  zu 
schaffen?  Ware  uns  eine  solche  bereits  technifizierte  Natur 
nicht  scheuBlich  langweilig? 

Die  schwere  Arbeit  der  Industrie  ist  somit,  wie  Hoff- 
mann1 sagt,  ,,nicht  ein  Fluch  des  Schopfers  aller  Dinge, 
sondern  das  gottlichste  Geschenk,  das  er  den  Menschen 
geben  konnte,  die  er  dadurch  nach  seinem  Ebenbilde  schuf, 
1  W.  Hoffmann,  Strafiburger  Btirycrzeitung  Nr.  161,  1915. 

63 


daS  er  ihnen  die  Gabe  mitteilte,  arbeiten,  schopfen,  aus 
sich  selbst  heraus  Werte  erzeugen  zu  konnen.  Dieses  Ge» 
schenk  ist  sein  Eigentum,  bleibt  es  so  lange,  wie  er  von  ihm 
Gebrauch  macht,  und  dieses  Geschenk  und  damit  auch  das 
Menschentum  wiirde  er  verlieren,  sobald  er  sich  dessen 
im  allgemeinen  entaufterte." 

Die  Prinzipien  unseres  Schaffens  scheinen  ganz  etwas 
anderes  zu  bedeuten,  als  im  Wesen  der  kiinstlerischen 
Arbeit  liegt,  und  doch  hat  beides  im  Grunde  denselben 
Sinn :  Einen  im  Geiste  erlebten  freien  Zweck  zur  Wirklich- 
keit  zu  machen  kraft  korperlicher  Arbeit,  gelenkt  durch 
Gefiihl,  Verstand  und  Vernunft. 

Kiinstlerarbeit?  Dieses  stumpfsinnige,  auf  ode  Niitzlich- 
keit  gerichtete  Fabrikhandwerk  der  Industrie  sollte  in 
seinem  Wesen  dem  schopferischen  Prozeft  des  gottlichen 
Bildners,  dieser  hochsten  Stufe  menschlicher  Tatigkeit, 
auch  nur  entfernt  verwandt  sein?  —  Ich  wage  das  aller- 
dings  zu  behaupten  und  werde  es  sogar  beweisen.  — 

Ich  verstehe  unter  technischem  Schaffen  den  gesam- 
ten  konkreten,  reellen  wie  ideellen  Prozefi,  durch  dessen 
Vermittlung  im  Laufe  der  Menschheitsgeschichte  die  uns 
zugangliche  Naturwirklichkeit  schlechthin  umgestaltet 
wird  zu  einer  zweckbestimmten  Naturwirklichkeit,  und 
zwar  zweckbestimmt  im  letzten  Grunde  durch  die  Idee 
der  materiellen  Freiheit. 

Nicht  um  die  technische  Arbeit  hoher  zu  bewerten,  son- 
dern  um  sie  klarer  zu  erkennen,  verglich  ich  sie  mit  der 
kunstlerischen  Arbeit.  Denn  auch  diese  beruht,  wie  nie= 
mand  bestreiten  kann,  in  einer  Umgestaltung  der  vorge* 
fundenen  Naturwirklichkeit  zu  zweckbestimmter  Natur- 
wirklichkeit, namlich  zum  Kunstwerk. 


Natiirlich  1st  hier  die  Idee  eine  ganz  andere.  Das  vom 
Kiinstler  geschaffene  zweckbestimmte  Naturwirkliche  — 
z.  B.  der  Marmorblock,  den  er  zur  Statue  formte  —  unter= 
steht  einem  wesentlich  anderen  Grundzweck  als  das  Werk 
des  Ingenieurs.  Die  Idee  des  Kiinstlers  heiBt  Schonheit. 
Es  bleibt  der  Kunstphilosophie  uberlassen,  die  wahre  Be= 
deutung  dieses  allzu  gelaufigen  Wortes  im  Sinne  der  ge= 
schichtlich  gewordenen  Kunst  zu  bestimmen1. 

Ein  anderes  Vergleichsobjekt  bietet  sich  uns  im  freien 
Spiel.  Auch  die  lieblichen  Spiele  der  Kinder  sind  oftUm* 
gestaltungen  vorhandener  Naturwirklichkeit.  Das  Kind 
gestaltet  den  Sand  um.  Doch  es  spielt  mit  der  formlosen 
Masse  nur  in  planloser  Freiheit.  Es  zerreiftt  Papier,  schlagt 
seiner  Puppe  den  Kopf  ab  —  aus  blinder  Freude  am  Um= 
gestalten.  Hier  wird  frei  umgestaltet,  aber  wie  gesagt :  Ohne 
sinnvollen,  d.  h.  von  einer  Idee  bestimmten  Zweck.  Aufier 
dem  bloften  Andersgestalten,  aufjer  dem  Gefallen  an  der 
reinen  Variation  der  Form  durch  eigene  Tatigkeit  kennt  das 
Kind  kaum  Zwecke  im  Spiel,  dbrigens  machen  es  moderne 
Kunstrichtungen  ahnlich :  Variatio  delectat. 

Definieren  wir  also  das  technische  Schaffen  als:  Zweck= 
voiles  Umgestalten  der  Naturwirklichkeit,  charakterisiert 
durch  den  Grundgedanken  der  von  der  Technik  erstrebten 
materiellen  Freiheit  des  menschlichen  Lebens. 

Der  Techniker  erarbeitet  hiermit  der  Menschheit  das 
Wichtigste,  Wesentlichste,  dessen  sic  durchaus  und  alle 
Zeit  neu  bedarf,  solange  die  Kultur  bestehen  und  fort= 
entwickelt  werden  soil.  Denn  die  Kultur  schlieftt  in  sich 
die  Moglichkeit  und  Wirklichkeit  unendlicher  Freiheits- 
grade  der  Betatigung  des  Subjekts  an  der  Materie  als  not= 

1  Vgl.  B.  Christiansen,  Philosophic  der  Kunst.  B.  Behr,  Berlin- 
Steglitz  1912;  tin  tief  durchdachtes  Buch  von  der  Kunst. 

f  Z  •  c  h  i  rr,  m c  r .  Philo.ophie  dtr  Technik  &"> 


wendige  Forderung  ein.  Und  nur  durch  diesen  Grund= 
zwcck  ist  daher  auch  die  technische  Arbeit  als  Teil  der 
,,kulturellen  Arbeit"  uberhaupt  spezifisch  bestimmt.  Zu  ihr 
gehoren  deshalb  logisch  alle  Momcntc,  die  eingeschlossen 
sind  in  dem  gesamten  einheitlichen  Vorgang,  der  zwischen 
der  lebendigen  Technik  einerseits  und  der  toten  Natur  auf 
der  anderen  Seite  konkret  vermittelt.  Wir  haben  diesen  Pro= 
zeB  in  seine  Faktoren  zu  zerlegen. 

Oowenig  die  praktische  Arbeit  des  Bildhauers  von  der 
Ogeistigen  Arbeit  der  kiinstlerischen  Erfindung  trennbar 
ist,  ebensowenig  ware  eine  Trennung  der  beiden  wesent* 
lichen  Faktoren  der  technischen  Arbeit  moglich,  die  wir 
auch  als  ,,reelles  und  ideelles  Schaffen"  bezeichnen  konnen. 
dberhaupt  ist  es  notig  einzusehen,  wenn  man  die  Dinge 
philosophise!)  betrachten  will,  daft  die  ideelle  Sphare  in 
der  Totalitat  des  Weltcrlebnisscs,  in  das  wir  als  handelnde 
Wesen  gesetzt  sind,  die  groftere,  ja  die  bei  weitem  um= 
fassendere  ist,  wahrend  die  reelle  Sphare  nur  den  eng  bc= 
grenzten  sinnlich,  wirklich  und  aktuell  gewordenen  Teil 
jener  von  uns  friiher  bezeichneten  ideellen  Weltspha're 
darstellt. 

Denn  es  gibt  nur  einen  Raum,  denselben  Raum  fur  das 
greifbar  Wirkliche  wie  fiir  die  wildesten  Phantasiegeburten. 
Der  Baumeister,  der  vor  dem  freien  Felde  steht,  sieht  be= 
reits  das  geistige,  ideelle  Haus  emporwachsen  auf  dem  rc= 
ellen  Boden.  Es  ist  in  demselben  Raume  ideell  vorhanden, 
der  auch  diesen  hochst  reellen  Erdboden,  den  er  mit 
seinem  Fuft  betritt,  zum  Inhalte  hat. 

Und  es  gibt  nur  eine  Zeit,  dieselbe  Zeit  fur  dichterische 
wie  fiir  wirkliche  Ereignisse.  —  Ebenso  ist  es  auch  dieselbe 
Skala  der  Elementarqualitaten,  der  einfachen  Farben,  Tone 

66 


usw.,  aus  deren  Mischung  alle  vorstellbaren  Niiancen  der 
Eigenschaften  von  Raumteilen  oder  Zcitspannen  hervor- 
gehcn :  Eine  und  diesclbe  Palette  fur  die  sinnliche  Anschau= 
ung  des  Auges,  der  Hand,  des  Leibes  wie  fur  die  geistige 
Anschauung,  d.  h.  die  reine  Vorstellung,  die  ideelle  Sphare 
der  Dichter  und  Erfinder. 

Sehr  richtig  sagt  der  Gerbermeister  Dietzgen1:  ,,Also  auch 
die  Dinge  besitzen  Geist.  Der  Geist  ist  dinglich,  und  die 
Dinge  sind  geistig  . . .  Was  die  Wahrheit  verbirgt,  ist  die 
Gewohnheit,  Sinnliches  und  Geistiges  als  heterogene,  ab- 
solut  verschiedene  Dinge  zu  betrachten." 

Also  merken  wir  uns:  Die  ideell  mogliche,  unendliche 
Gestaltungsmannigfaltigkeit  und  Mannigfaltigkeit  der 
Qualitatsbestimmung  ist  das  Umfassendere,  das  Allge= 
mcinc,  wovon  die  reelle  Wirklichkeit  nur  den  besonderen 
Fall  darstellt.  Die  Natur  ist  in  diesem  Sinne  nichts  anderes 
als  der  beschrankte  Geist! 

Fur  Kiinstler  und  Erfinder  sind  das  selbstverstandliche 
Feststellungen;  denn  sic  leben  ja  meistens  nur  in  der  ide» 
ellen  Sphare.  Ebenso  sehen  es  die  bedeutenden,  d.  h.  die 
wahrhaft  produktiven  Naturforscher  ein.  Es  gibt  fur  sie 
keinen  absoluten  Gegensatz  des  Reellen  und  Ideellen  — 
das  Verhaltnis  dieser  beiden  Weltteile  ist  das  vom  Stuck 
zum  Ganzen,  einerlei  auf  welche  genauere  Formel  die  lo= 
gische  Bestimmung  desselben  gebracht  werden  moge. 

Es  ist  jedoch  merkwiirdig,  wie  schwer  diese  Einsicht  an* 
deren,  sonst  ganz  gescheiten  Leuten  fallt.  Sie  meinen,  die 
Welt  verfluchtige  sich  ganz  und  gar,  wenn  das  Reelle  in  ge» 
wisser  Hinsicht  ,,nur"  dasselbe  ware  wie  das  Ideelle,  der 
blaue  Dunst  der  Phantasie.  Und  doch  leben  sie  bestandig 
in  diesem  blauen  Dunst,  ohne  darauf  zu  achten.  Es  geht 
1  J.  Dietzgen,  wie  Seite  60  erwahnt. 

67 


ihncn  wie  Meyrinks  TauscndfuB,  dessen  tausend  Fiifte  die 
komplizicrtc  Fortbewegung  des  Tierchens  mit  brillantcr 
Prazision  bcsorgten  —  solange  cs  nicht  daran  dachte1. 

Sagcn  wir  also :  Alle  reetle  technischc  Arbeit  1st  stets  Teil 
von  einem  umfassenderen,  zeitlichen  Erlebnis  —  Teil 
der  ideellen  Arbeit,  sofern  namlich  von  menschlicher  Tatig* 
keit  in  der  Industrie  zu  reden  ist.  Ein  Arbeiter,  der  ledig= 
lich  Pferdearbeit,  ja  noch  weniger,  nur  reine,  von  jeglicher 
Geistestatigkeit  entbloftte  ,,Bararbeit"  leistete,  ist  ein  ab= 
straktes  Unding.  Wenn  seine  Arbeit  auch  noch  so  geistes* 
arm  ist,  sie  beruht  doch  stets  auf  der  Verwirklichung,  auf 
der  Intensivierung  eines  zuerst  rein  Ideellen,  Zukunftigen : 
seiner  Absicht. 

Absicht  und  Tat  sind  die  untrennbaren  Momente  einer 
lebendigen  Einheit:  der  menschlichen  Arbeit.  Deshalb  de» 
finierte  auch  Marx2  bereits  ganz  richtig:  ,,Unter  Arbeits- 
kraft  oder  Arbeitsvermogen  verstehen  wir  den  Inbegriff  der 
physischen  und  geistigen  Fahigkeiten,  die  in  der  Leiblich- 
keit,  der  lebendigen  Personlichkeit  eines  Menschen  existie» 
ren  und  die  er  in  Bewegung  setzt,  so  oft  er  Gebrauchswerte 
irgendeiner  Art  produziert.  . . .  Am  Ende  des  Arbeitspro- 
zesses  kommt  ein  Resultat  heraus,  das  beim  Beginn  des« 
selben  schon  in  der  Vorstellung  des  Arbeiters,  also  schon 
ideell  vorhanden  war/' 

An  anderer  Stelle  schwebt  Marx  allerdings  wieder  der  Be* 
griff  der  reinen,  geistlosen  ,,Bararbeit"  vor,  wo  er  meint,  in 
der  Industrie  vollende  sich  der  ScheidungsprozeBr  welcher 
die  ,,geistigen  Potenzen  des  Produktionsprozesses"  der  bloften 
nArbeit"  gegeniiber  stellt.  Die  Industrie,  meint  er,  trenne 

1 G.  Meyrink,  Der  hei&e  Soldat.  A.  Langcn,  Miiiichcn.  «/0  Marx., 
Das  Kapital,  i.  Band.  O.  Meifiner,  Hamburg  1867. 

68 


die  ,,Wlssenschaft  als  selbstfindige  Produktionspotenz"  von 
dcr  ,,Arbeit"  und  presse  sic  in  den  Dienst  des  Kapitals. 

Dagegen  heifit  es  wieder  ganz  klar:  ,,Die  einfachen  Mo= 
mente  des  Arbeitsprozesses"  sind  ,,die  zweckmaftige  Tatig= 
keit  oder  die  Arbeit  selbst",  ihr  Gegenstand  und  ihr  Mittel. 

Zweckma'Sige  Tatigkeit  kann  die  hier  definierte  Arbeit 
des  Fabrikarbeiters  nur  sein,  wenn  sie  mit  dem  ideellen 
Bcstandteil,  mit  der  bestandigen  Vorstellung  des  Zwcckcs 
verkniipft  ist. 

Naturlich  besteht,  wie  Simmel1  sagt,  in  dem  ,,Anteil  des 
Geistes  an  dem  Arbeitsprodukt"  ein  wesentlicher  Unter* 
schied.  Macht  der  Tischler  nach  einem  langst  bekann= 
ten  Modell  einen  Stuhl,  ,,so  geht  das  freilich  nicht  ohne 
einen  Aufwand  psychischer  Tatigkeit  ab,  die  Hand  muft 
vom  Bewufitsein  geleitet  wcrdcn  . . .  Allein  dies  ist  keines* 
wegs  die  ganze  in  dem  Stuhle  investierte  Geistigkeit.  Er 
ware  auch  nicht  herstellbar  ohne  die  geistige  Tatigkeit  des= 
jenigen,  der,  vieileicht  vor  Generationen,  das  Modell  dazu 
ersonnen  hat;  auch  die  hiermit  verbrauchte  psychische 
Kraft  bildet  eine  praktische  Bedingung  dieses  Stuhles." 
Der  Inhalt  dieses  zweiten  geistigen  Prozesses  cxisticrt 
jetzt  fort  ,,in  einer  Form,  in  der  er  keinen  psychischen 
Kraftaufwand  mehr  involviert:  Als  Tradition,  objektiv 
gewordener  Gedanke,  den  jeder  aufnehmen  und  nach  = 
denken  kann." 

Zweifellos  der  Wirklichkeit  widersprechend  ist  es,  wenn 
dagegen  unser  Autor  v.  Mayer*  ganzallgemeinbehauptet: 
,,Der  Arbeiter  als  tatiger  Mensch  sieht  nie  das  nutzbrin= 
gende  Ende  seiner  Arbeit,  er  hat  nicht  ein  Ziel  vor  Augen, 
das  ihm  von  Zeit  zu  Zeit  eine  Freudenpause  brachte;  son» 


1  G.  Simmel,  wie  Scite  33  erwahnt.  *  E.  v.  Mayer,  wie  Seite  46 
erwihnt. 

69 


dern  er  kennt  nur  die  mcchanischc  Einteilung  der  Arbeits- 
stundcn  und  Zahltagc." 

In  ausfiihrlicher  Weisc  bchandclt  Kraft1  das  technische 
Schaffen  in  seincm  umfangrcichen  Werke  ,,System  dcr 
technischcn  Arbeit".  ,,Wir  sehen,"  sagt  er  am  Anfang,  ,,daft 
cs  wohl  rein  geistige  (wenigstens  in  ihrer  Wirkung  nach 
auften),  aber  keine  rein  physische  Arbeit  gibt,  daft  die  letzs 
tere  stets,  selbst  in  ihren  einfachsten  Erscheinungen,  cine 
aus  geistiger  und  physischer  Tatigkeit  kombinierte  Arbeit 
ist,  indem  die  erstere  der  letzteren  vorangeht  und  sie  bis 
zum  Schlusse  begleitet." 

Wahrend  Kraft  hierin  mit  uns  ubereinstimmt,  weicht 
er  spater  von  dieser  Auffassung  wesentlich  ab,  indem  er 
von  der  Funktion  der  Maschine  erklart,  daft  auch  diese 
eine  vom  Menschen  gewollte,  zum  Zwecke  der  Neuge= 
staltung,  Umwandlung)  Neuordnung  oder  Raumverande» 
rung  irgendeiner  Substanz  geleistete  ,,Arbeit"  darstelle. 
,,Der  einzige,  im  ganzen  unwesentliche  Unterschied",  heiftt 
es  nun,  ,,zwischen  der  unmittelbaren,  menschlichen  Ar- 
beit und  der  mittelbaren,  durch  Motoren,  besteht  darin,  daB 
der  eine  Faktor  der  Arbeit,  der  Kraftfaktor,  verschiedenen 
Energiespeichern  entnommen  wird,  und  da  die  Aufspei- 
cherung  der  Energie  in  diesen  Behaltern  doch  schlieSlich 
nur  auf  natiirlichem  Wege,  auf  Grund  unwandelbarer  Na= 
turgesetze  erfolgt,  so  reduziert  sich  der  Unterschied  zwi» 
schen  der  sogenannten  Handarbeit  und  der  sogenannten 
mechanischen  Arbeit  der  Maschine  auf  eine  raumliche 
Trennung  der  geistigen  von  der  physischen,  korperlichen 
Arbeit,  indem  sich  der  Mensch  die  geistige  Leitung  der 
Arbeit  samt  einer  unbedeutenden  physischen  Arbeit  vor» 
beha'lt,  die  dem  gewollten  Zweck  entsprechende  quanti= 
1  M.  Kraft,  wic  Seite  40  erwahnt. 

70 


tativc  Arbeit  aber  durch  den  Motor  leisten  laftt.  —  Die 
grofte  Ahnlichkeit  zwischen  dem  menschlichen  und  be» 
stimmten  anderen  Motoren  . . .  erhoht  sich  durch  den  Um» 
stand,  daft  der  monoton  arbeitende  Mensch  einen  zwanga 
losen  Ubergang  zur  Maschine  bildet." 

Ich  halte  aber  entschieden  die  erste  Definition  Krafts  fiir 
die  dem  arbeitenden  Menschen  urspriingliche  und  richtige. 
Der  ,,Arbeitsbegriff"bedeutetfiir  die  Industrie  wenigstens 
cine  doppelsinnige  Abstraktion,  fiir  dessen  physikalischen 
Sinn  man  in  Zukunft  besser  nur  den  hierfiir  gepragten  spe= 
ziellen  Ausdruck  ,,Energie"  gebrauchen  sollte. 

Die  moderne  ,,technische  Arbeit  des  Menschen"  unter- 
scheidet  sich  auch  auf  ihrer  niedersten  Stufe  eben  darin 
wesentlich  von  der  Maschinenarbeit  als  reiner  ,,mecha- 
nischer  Energie" ,  daft  nirgendwo  in  der  Industrie  die 
Menschen  als  die  willenlosen,  geistig  unbeteiligten  Werk« 
zeuge  eines  Treibers  wirken,  dem  sie  etwa  gehorchten  wie 
der  Kolben  dem  Dampfdruck. 

So  etwas  gibt  es  heute  nur  noch  in  dem  rhetorischen 
Arsenal  gewisser  Sozialpolitiker  und  Kulturphilosophcn, 
denen  die  gegenwartige  Wirklichkeit  des  Fabriklebens 
frcmd  geblieben  ist.  Selbst  die  Nachkommen  der  grausa= 
men  englischen  Unternehmer  aus  der  Zeit  des  industriellen 
Kindermordes1  miissen,  so  unbequem  es  fiir  sie  auch  ist, 
den  Arbeitsbegriff  heute  spezifisch  menschlich  verstehen. 

Und  anders  meint  es  auch  niemand  im  Ernst.  Gerade 
in  dem  beriichtigten  Taylor-System2,  nach  welchem  die 

1  Vgl.  Marx,  wie  Seite  68  erwShnt.  *  Von  dem  Ingcnieur  F. 
W.  Taylor  crfunden.  Beschreibung  mit  Illustrationen  von  K. 
Willmann  in  Nr.  35  der  Berliner  Illustrierten  Zeitung  (1913). 
Ferner  F.  W.  Taylor,  Die  Betriebsleitung,  insbesondere  der 
Werkstatten.  dbersetzt  von  A.  Wallichs.  2.  Aufl.  Springer, 
Berlin  1912. 

71 


Amerikaner  die  Arbeitsleistung  und  Entlohnung  des  In« 
dividuums  wissenschaftlich  exakt  feststellen,  kommt  dies 
deutlich  zum  Ausdruck.  Hicr  handelt  es  sich  urn  physischc 
und  intcllcktucllc  Befahigung  zugleich.  Die  Geschicklich* 
kcit  in  der  Zeitausntitzung,  die  Zweckmafcigkeit  der  Ta*» 
tigkeit,  die  Feinheit  der  Aufmerksamkeit  spielen  die 
Hauptrolle. 

Was  ins  Auge  gefafit  wird,  ist  vielmehr  das  veranderliche 
Verhaltnis  der  beiden  notwendigen  Bestandteile  der  reellen 
und  ideelen  Tatigkeit  des  einzelnen  Subjekts.  Dieses  Vcr= 
haltnis  ist  in  der  Tat  von  Mann  zu  Mann  ein  sehr  ver= 
schiedenes.  Es  stehen  sich  in  der  Industrie  gegeniiber: 
Schaffende  Menschen,  von  denen  die  einen  ein  Maximum 
an  recller  Produktion  zu  leisten  haben,  wahrend  die  an« 
deren  fast  ausschlieftlich  geistig,  d.  h.  in  der  ideellen 
Sphare  schaffen.  —  Und  zwar  geht  nun  dieser  Gegensatz 
des  Verhaltnisses  der  beiden  Komponenten  in  dem  Mafic 
auseinander,  als  die  Arbeitsteilung  fortschreitet. 

t  teilt  die  Gebiete  der  technischen  Arbeit  ein  in 
die  Erzeugung  materieller  Produkte  einerseits  und  die 
Erzeugung  von  Energie  anderseits.  Beides  ist  die  Indu- 
strie. Und  bierzu  rechnet  er  mit  Recht  als  drittes  Gebiet, 
wie  er  sagt,  die  technische  Arbeit  zur  Herstellung  ,,gei- 
stiger  Energie  und  Arbeit",  d.  h.  das  technische  Schaffen 
im  Versuchs*,  Unterrichts-  und  staatlichen  Uberwachungs* 
wesen.  Auch  diese  Tatigkeiten  gehoren  organisch  mit  der 
Technik  zusammen;  denn  sic  dienen  zur  Verwirklichung 
ihres  Grundzweckes,  der  materiellen  Freiheit,  ebenso,  wie 
die  notwendige  industrielle  Produktion  der  Mittel. 

Dieser  ganze  riesige  ProzeB  entfaltet  sich  nun  praktisch 
in  der  systemeinheitlichen  Tatigkeit  vieler  an  einem  Ob* 

72 


jektc:  Zum  organisierten  Schaffen.  Doch  niemals  wird  die 
Arbeitsteilung,  wie  sehr  sie  auch  fortschreitet,  zur  konkreten 
Trennung  der  rein  ideellen  von  der  rein  rcellen  Subjekt« 
tatigkeit.  Es  vertcilt  sich  vielmchr  die  gesamte  ideelle  Tatig* 
keit  einerseits  auf  verschiedene,  ra'umlich  wie  zeitlich  ge* 
trennt  lebende  Subjekte,  und  ebenso  verteilt  sich  auch  die 
gesamte  korperliche,  reelle  Arbeit  anderseits  auf  dieselben 
Subjekte,  wodurch  diesen  in  dem  grofien  Schauspiel  des 
technischen  Produktionsprozesses  nur  verschiedene  Rollen 
zufallen,  als  deren  Haupttypen  wir  mehroder  wenigerrein 
hervortreten  sehen:  den  Erfinder,  den  Unternehmer,  den 
Arbeitsleiter,  den  Rechner,  den  Zeichner,  den  Maschinen= 
arbeiter  und  den  Handarbeiter. 

Alle,  vom  reinen  Erfinder  bis  zum  reinen  Handarbeiter, 
produzieren  geistig;  die  ideelle  Spha're  ist  ihr  gemein* 
sames  Lebenselement,  worin  sie  ihr  gemeinschaftliches 
Werk  auf  die  eine  letzte  Idee  der  Technik,  die  materielle 
Freiheit  des  Menschengeschlechts,  gerichtet  wissen. 

Vom  Zeichner  abwarts  beginnt  allerdings  die  zunehmende 
physische  Produktion,  das  Schaffen  in  der  reellen  Sphare. 
Wir  konnen  es  ansehen  als  die  Intensivierung  des  Ideellen, 
die  dbersetzung  des  blo5  Vorgestellten,  rein  Gcistigen,  in 
Wirkliches,  Reelles. 

Es  herrscht  folglich,  wie  sehr  auch  der  aufiere  Schein  des 
Fabriklebens  dagegen  sprechen  mag,  eine  ideelle  Kontinuitat 
in  diesem  Schauspiel.  Der  technische  Schopfungsprozeft 
bietet  auch  dem  letzten  Mann  der  groBen  Arbeiterarmee 
die  Moglichkeit  und  Freiheit,  im  Ganzen  zu  leben.  Der 
Entwicklung  dieses  einheitlichen  Bewufttseins  sind  in  der 
Sache  selbst  jedenfalls  keine  Schranken  gesetzt.  Behauptet 
doch  Rathenau1,  und  er  nicht  allein,  schon  vom  heutigen 
1  W.  Rathenau,  Zur  Kritik  der  Zeit.  S.  Fischer,  Berlin  1912. 

75 


Zustand:  ,,Die  Arbeit  .  .  .  wird  mehr  und  mchr  ver« 
geistigt.  Kaum  daft  sich  die  Hand  bewegt,  eine  Zahlen= 
reihe  zu  schreiben,  eine  Schraube  zu  verstellen;  je  apa» 
thischer  die  Gliedmaften  ruhen,  desto  erregter  arbeitet 
das  Gehirn." 

Wie  der  Darsteller  der  kleinsten  Rolle  auf  der  Buhne,  so 
kann  der  einfachste  Fabrikarbeiter,  gesunden  Verstand 
und  guten  Willen  vorausgesetzt,  den  Sinn  und  Wert  des 
Ganzen  erfassen  und  in  sich  wissen,  wahrend  er  hier  und 
jetzt  zu  seinem  Teile  daran  schafft.  Er  sieht  das  Ganze 
werden,  er  sieht  wie  das  Dberraumliche,  Dberzeitliche, 
Qberpersonliche  durch  seine  bescheidene  Mitwirkung  hin= 
durchgehen  muft,  um  in  die  Wirklichkeit  einzutreten. 

Und  so  am  Ganzen  schaffend,  spielen  wir,  wie  Eucken1 
sagt,  ,,nicht  mehr  bloft  eine  uns  zugewiesene  Rolle;  son= 
dern  so  wird  das  Leben  uns  in  vollcm  Sinne  zu  eigen,  so 
kommen  wir  in  ein  aktives  Verhaltnis  zur  Wirklichkeit  .  .  . 
Uberall  kommen  wir  darauf,  daft  unserem  Leben  ein  Ge* 
halt  und  Wert  nicht  von  drauften  her  zufallt  und  gar  nicht 
zufallen  kann,  daft  wir  ihn  aber  von  uns  aus  ihm  zu  geben 
vermogen,  sofern  eine  geistige  Welt  in  uns  wirkt  und  zu 
unserem  eigenen  Wesen  wird  .  .  .  Auftere  Geringfugigkeit 
kann  mit  innerer  Grofte  zusammengehen,  und  es  darf  nie« 
mand  von  seiner  Lebensaufgabe  niedrig  denken.  Wir  alle 
sind  koniglichen  Gebliits;  aber  wir  sind  es  nur  als  Burger 
der  Geisteswelt,  als  Trager  urspriinglichen  Lebens." 

[  ^raeen  wir  uns  nun :  Woher  kommt  denn  eigentlich  die 
JL  Arbeitsteilung?  —  so  lautet  die  Antwort  hochst  ein= 
fach :  Aus  der  Natur  der  Sache. 

1  R.  Eucken,  Der  Sinn  und  Wert  des  Lebens.  3.  Aufl.  Qucllc  & 
Meyer,  Leipzig  1915. 

74 


Die  Teilung  dcr  technischen  Arbeit  ergibt  sich  mit 
logischer  Notwendigkeit,  sobald  der  auf  den  Endzweck 
—  die  Idee  der  Technik  —  gerichtete  Gesamtwille  die 
Mittel  dazu  an  der  Materie  realisieren  will.  Denn  er  findet 
alsdann  neue  Moglichkeiten,  die  unendlich  (iber  denen 
stehen,  fiber  die  der  handwerkende  Techniker,  der  noch 
alles  in  einer  Person  ist,  verftigt.  Die  Geschichte  zeigt  uns 
den  Fortschritt  in  der  Entfaltung  einer  immer  grofceren 
Reichweite  des  einen  Grundgedankens:  Freiheiten  zu  ent» 
decken,  die  die  Natur  dem  Menschengeschlecht  bei  seiner 
Geburt  nicht  als  Patengeschenk  verliehen  hat,  sondern  die 
wir  Techniker  ihr  abtrotzen  miissen,  kraft  der  Oberlegen* 
heit  der  schopferischen  Intuition  und  der  Logik  uber  die 
blinden  Tatsachen. 

Indem  der  Gedanke  schon  immer  voraussieht,  was  mog« 
lich  sein  konnte,  und  weil  der  Wille  der  Verwirklichung 
des  Idealzustandes  da  ist,  folgt  das  Wie  von  selbst.  So 
kommt  auch  die  Arbeitsteilung  als  allgemcinc  Form  des 
technischen  Schaffens  nicht  von  auften,  nicht  durch  fremde 
Motive  in  die  Sache  hinein,  sondern  aus  ihr  heraus. 

Und  zwar  ist  es  nun  ebenso  gewift,  daft  es  keine  kiinst= 
liche  und  voriibergehende  Erscheinung  bedeutet,  wenn 
sich  die  Organisation  der  Arbeit  zugleich  in  Form  der 
gleichartigen,  den  einzelnen  Teil  tausendfach  multiplizie= 
renden  Fabrikarbeit  vollzieht.  Die  fiir  diese  so  typische 
Wiederholung  derselben  Werkteile,  welche  vom  Teilarbei* 
ter,  sei  es  nun  mittels  Handen,  Werkzeugen  oder  Ma= 
schinen,  geliefert  werden,  wird  zur  Selbstverstandlichkeit, 
sobald  die  Vervielfaltigung  eines  zu  schaffenden  Gesamt= 
werkes,  das  von  der  Organisation  der  Arbeiter  hervor= 
gebracht  wird,  ein  allgemein  menschlicher  Wunsch  gewor= 
den  ist. 

75 


Denn  habe  ich  tausendmal  die  Verbindung  V  aus  den 
Teilen  ABC  herzustellen,  so  ergibt  sich,  wenn  ich  statt 
1000  Ganze  (A  +  B  -f  C)  in  meiner  Fabrik  1000  A  -f 
1000  B  +  1000  C  als  Teile  fertigen  und  diese  tausend= 
mal  verbinden  lasse,  nicht  allein  die  hochste  wirtschafttiche 
Leistungsfahigkeit,  die  den  Kapitalisten  interessiert,  son- 
dern  auch  die  groSte  technische  Vollkommenheit  und  cine 
Steigerung  der  Moglichkeiten,  also  wiederum  ein  Fort* 
schritt  auf  dem  Wege  zum  Endziel  hin.  Der  wirtschaft= 
liche  Nebengedanke  der  vorteilhafteren  Fabrikation  dient 
zugleich  dem  Grundgedanken  der  Technik,  neue  Moglich* 
keiten  von  sachlicher  Bedeutung  zu  erobern. 

Die  Organisation  der  Gesamtarbeit  durch  Arbeitsteilung 
unter  einem  gemeinsamen,  leitenden  Zwecke  und  die 
Gleichformigkeit  der  fabrikmaftig  wiederholten  Teilarbeit : 
Diese  beiden  Momente  verbinden  sich,  wie  wir  also  be* 
haupten  diirfen,  mit  innerer  Notwendigkeit,  sobald  sich 
das  Endziel  der  Technik  zum  gemeinsamen  Ziele  der  gan= 
zen  Kulturmenschheit  verallgemeinert. 

Es  ware  daher  ein  ebenso  kiimmerliches,  wie  kulturwi= 
driges,  ja  ein  faules  und  recht  erbarmliches  Menschentum, 
wollte  man  vor  der  Unerbittlichkeit  dieser  geschichtlichen 
Entwicklung  der  Dinge  nur  heulen  und  den  Kopf  in  den 
Sand  stecken,  anstatt  freudigen  Mutes  das  Neue  als  ein 
Lebensneues,  als  ein  zukunftsreiches,  im  Grunde  doch  dem 
Drange  nach  unbegrenzter  Erhohung  der  Menschheit  ent* 
sprungenes  Kulturwerk  zu  begriifien ! 

Wie  erfrischend  klingen  fur  uns  Techniker  dagegen  die 
Worte,  die  der  Lebensphilosoph  Eucken1  unserer  Zeit  zu« 
ruft:  ,,Nicht  minder  aber,  wie  dem  Sinken  der  Jugendkraft, 
1  R.  Eucken,  wie  Scite  74  erwShnt. 


laftt  sich  auch  der  Mechanisierung  der  Arbeit  und  dem 
Verfallen  in  gcistlose  Routine  widerstehen.  Wir  unter* 
liegen  hier  nicht  sowohl  den  Auftendingen,  als  unserer 
eignen  Schwache  und  Leere,  unserem  Unvermogen,  der 
Arbeit  gegeniiber  ein  Werk  des  ganzen  Menschen  zu  wah= 
ren  und  von  ihm  aus  die  Arbeit  zu  beseelen." 

Doch  gerade  fur  den  geistigen  Arbeiter  der  Technik  soil 
die  Teilung  die  schlimmsten  Folgen  haben,  so  schlimm, 
daft  die  Spezialisten,  wie  Kraft1  sich  ausdriickt,  ,,zum  Be* 
standteil  einer  ruhig  arbeitenden  Maschine  geworden  zu  sein 
scheinen.  Es  sind  Menschen/'  sagt  er,  ,,die,  wie  in  cinern 
Brunnen  sitzend,  das  ihncn  sichtbare  Himmelstiickchen 
fiir  das  ganze  Firmament  halten,  denen  sich  die  Wichtig« 
keit  ihrer  speziellen  Beschaftigung  so  ins  Mafilose  dehnt, 
daft  sie  die  Notwendigkeit  anderer  Beschaftigung  kaum  zu 
begreifen  vermogen." 

Leider  ist  es  noch  so.  Aber  an  wem  liegt  das?  An  den 
Menschen  selbst  und  ihrer  bewundernswerten  Erziehung! 
Die  mcisten  durch  das  Gymnasium  und  Polytechnikum 
oder  die  Universitat  hindurchgetriebenen  Jiinglinge  taugen 
von  Hause  aus  nicht  viel.  Dafiir  sorgt  schon  der  Staat 
durch  die  weise  Auswahl  der  Schiller  nach  dem  Geldsack 
der  lieben  Eltern.  Die  Kraftnaturen,  die  frischen,  lebens* 
starken,  empfanglichen  Geister  werden  im  Verhaltnis,  so 
scheint  es,  immer  seltener.  Man  findet  ihrer  aber  noch 
viele  Tausende  unter  den  kleinen  Handwerkern  und  Fabrik= 
arbeitern,  denen  der  Zugang  zu  den  hoheren  Bildungsan= 
stalten  verschlossen  ist,  nicht  durch  die  hohere  Begabung, 
sondern  durch  das  Geld  der  anderen. 

Am  Menschen  liegt  es,  wenn  er  durch  die  Arbeitsteilung 
zum  Fachkretin  wird,  nicht  an  der  Technik.  Das  Clbel 
1  M.  Kraft,  wie  Seitc  40  erwShnt. 

77 


kommt  von  der  geistigcn  Schlapphcit  und  Interesselosig= 
keit,  wofiir  auch  unsere  ruckstandige  Schulbildung  nicht 
zum  geringsten  Tcilc  verantwortlich  gemacht  werden  muf). 

Wenn  das  Dogma  von  der  entpersonlichenden  und  cnt= 
gcistigenden  Wirkung  der  technischen  Arbeitsteilung  rich= 
tig  ware,  so  muftte  man  freilich  an  der  Zukunft  der  Mensch* 
heit  verzweifeln;  aber  es  ist  nichts  als  eine  Verlegenheits* 
floskel,  wie  so  viele  Formcln,  die  sich  philosophierende 
Schlachtenbummler  zurecht  machen,  die  vom  Tuten  und 
Blasen  in  der  Wirklichkcit  keine  Ahnung  haben. 

Jeder  Mensch  sollte  etwas  Ordentliches  leisten,  —  das  kann 
er  nur,  wenn  er  sich  auf  ein  Gebiet  spezialisiert.  Jeder 
Mensch  sollte  aber  auch  etwas  Aufierordentliches  leisten, 
—  dazu  hat  er  neben  seinem  Berufe  Zeit  und  Gelegenheit 
in  Hiille  und  Fiille.  — 

Ich  kenne  Leute  im  besten  Alter,  die  nur  deshalb  alters* 
schwach  geworden  sind,  weil  sie  jahrelang  keine  wissen= 
schaftliche  Abhandlung,  kein  schones  Buch,  keinen  Vor» 
trag,  nur  ihre  Zeitungsfeuilletons  aufgenommen  haben. 
Es  mu5  einer  ja  geistesschwach  werden,  wenn  er  in  seiner 
freien  Zeit  nur  i6t,  trinkt  und  Skat  spielt,  wie  die  Phi= 
lister.  —  Aber  ich  kenne  auch  andere  Leute,  die  Tech- 
niker,  Beamtc,  Offiziere  sind  und  doch  mit  wahrer  Leiden* 
schaft  an  dem  Kulturleben,  an  der  Wissenschaft,  an  Kunst 
und  Literatur  teilnehmen  und  deshalb,  trotz  ihres  Alters, 
so  jung  sind  wie  die  Cotter. 

Nervositat  kommt  meistens  nur  von  Unzufriedenheit, 
vom  Pessimismus  und  von  der  unaufhorlichen  Norgelei 
und  Kritisiererei.  Man  gehe  still  und  ruhig  an  seine  Arbeit 
und  freue  sich  dann  um  so  mehr  seines  Lebens ! 

Und  schenkt  uns  nicht  die  Technik  alle  Mittel  dazu? 
Es  gibt  Tausende  von  billigen  Buchern,  Zeitschriften,  No= 

78 


ten  und  Reproduktioncn.  An  Ausstellungen,  Konzertcn, 
Theatervorstellungen  und  wissenschaftlichen  Vortragen 
fehlt  es  nicht.  Von  alien  Seiten  sind  wir  umgcben  von  cincr 
hcrrlich  aufbliihcnden  Baukunst,  von  den  prachtigen  Ein» 
richtungen  und  Mitteln,  die  jedem  zur  Verfiigung  stehen. 
Damit  sollte  sich  nicht  leben  lassen?  Damit  sollte  der  gei- 
stige  Stumpfsinn  als  Folge  der  Arbeitsteilung  nicht  zu  be= 
kampfen  sein?  Es  miiBte  doch  mit  dem  Teufel  zugehen ! — 
Wenn  dagegen  der  Kulturpessimist  v.  Mayer1  den  Schluft 
zieht:  ,,Da  die  Arbeit  doch  nun  einmal  den  Tag  und  das 
Leben  der  grofiten  Mehrheit  ausfiillt,  ist  die  sichere  Zu» 
kunft  unserer  technischen  Zivilisation  die  absolute  Lcbens= 
einformigkeit  und  Unpersonlichkeit  —  die  Mcchanisie= 
rung  und  Desorganisierung  des  Lebens  . .  .  Der  Geist  der 
Technik  arbeitet  an  scincm  eigenen  Ruin  —  vielleicht, 
sicher  aber  an  dem  des  Menschenlebens"  —  so  konnen 
uns  solche  Prophezeiungen  nur  anmuten  wie  Stimmen 
aus  den  Grabern  der  Toten.  Ein  Gliick,  daft  viele  von 
diesen  uns  nichts  mehr  schaden  konnen,  daft  sic  ordcnt= 
lich  tot  sind ! 

Die  technische  Arbeit  wird  einformige  Teilarbeit  fur 
Millionen.  Wer  wollte  das  angesichts  der  Tatsachen 
noch  leugnen?  Aber  ist  es  nicht  auch  eben  diese  Arbeits= 
form,  die  uns  endlich  befahigen  wird,  das  Riesenwerk  in 
kiirzester  Zeit  und  auf  kiirzestem  Wege,  auf  die  denkbar 
leichteste  Weise  zu  schaffen? 

Und  arbeiten  nicht  schlieftlich  alle  fur  einen,  wie  einer 
fiir  alle?  ,,Die  Rucklaufigkeit  der  Dienste,"  bemerkt  Sim- 
mel*  sehr  hubsch,  /7in  der  die  niederen  Klassen  die  Arbeit 

1  E.  v.  Mayer,  wie  Seite  46  erwahnt.   8  G.  Simmel,  wie  Seite  32 
crwahnt. 

79 


dcr  hoheren  fiir  sich  kaufcn,  liegt  jetzt  schon  in  unzahU 
baren,  unser  ganzes  Kulturleben  bestimmendcn  Bcispielcn 
vor  .  .  .  Der  grofte  Chemiker,  dcr  in  seinem  Laboratorium 
iibcr  Darstcllung  der  Tccrfarbcn  sinnt,  arbeitct  fiir  die 
Bauerin,  die  bcim  Kramer  sich  das  bunteste  Halstuch  aus= 
sucht;  wenn  der  Groftkaufmann  in  weltumspannenden 
Spekulationen  amerikanisches  Getreide  in  Deutschland 
importiert,  so  ist  er  der  Diener  des  armsten  Proletariers;... 
moglich  aber  ist  die  Erscheinung  nur  durch  die  Objekti- 
vierung,  die  die  Produktion  sowohl  dem  produzierenden, 
wie  dem  konsumierenden  Subjekt  gegeniiber  ergriffen  hat 
und  durch  die  sie  jenseits  der  sozialen  oder  sonstigen  Un* 
terschiede  dieser  beiden  steht." 

,,Es  ist  die  Grundtatsache  der  Arbeitsteilung/'  sagt  Sim- 
mel,  ,,die  schlieglich  bewirkt,  daft  ein  Teil  der  Arbeit  an 
den  niedrigsten  Bediirfnisartikeln  von  den  hochststehenden 
Individuen  geleistet  wird",  wie  auch  umgekehrt  ,,die  rohe* 
sten  Hande  an  den  raffiniertesten  Produkten  der  hochsten 
Kultur  mitarbeiten".  «*| 

Ober  die  Arbeit  uberhaupt  zetern,  hiefte  et\was  Unab= 
wendliches  beklagen,  es  hieBe  beklagen,  dafi  wir  nicht  im 
Paradies,  sondern  auf  der  Erde  wohncn.  ,,Ein  Mensch," 
sagt  Hoffmann1,  wder  in  cine  Dberfiille  der  zur  Befriedi» 
gung  seiner  naturlichen  Bediirfnisse  notwendigen  Mittel 
gesetzt  ware  und  keinerlei  Moglichkeit  hatte,  aus  dem  pa» 
radiesischen  Gefangnis  herauszukommen,  wiirde  bald  auf=» 
horen,  Mensch  zu  sein,  denn  seine  Vernunft  miiBte  ver« 
kiimmern.  Ein  Paradies  ware  fiir  ihn  cine  Holle."  H 

Mogen  wir  nun  die  technische  Arbeit  wiinschen  oder 
nicht,  jedenfalls  ist  sie,  wie  Marx*  gesagt  hat,  ,,die  von 

1  W.  Hoffmann,  wie  Seitc  32  erwShnt.  *  K.  Marx,  wie  Seite  68 
erw8hnt. 

80 


alien  Gesellschaftsformen  unabhangige  Existenzbedingung 
des  Menschen,  ewige  Naturnotwendigkeit,  um  den  Stoff= 
wechsel  zwischen  Mensch  und  Natur,  also  das  menschlichc 
Lcbcn  zu  vermitteln." 

Da  wir  Menschen  sind,  so  miissen  wir  arbeiten.  Kein 
Gott  hilft  uns  iiber  diese  unsere  Bestimmung  hinweg. 
Sagt  doch  selbst  Herr  v.  Mayer1  in  wahrer  Erkenntnis: 
,,Tatigkeit  1st  dem  Menschen  ganz  natiirlich,  ja  1st  gerade* 
zu  die  Verwirklichung  seiner  Personlichkeit,  die  dadurch 
gestaltend  in  die  Welt  greift;  in  einer  Ta'tigkeit,  die  ihm 
entspricht,  findet  er  den  groftten  Teil  des  Clucks." 

Aber  es  gibt  freilich  Leute,  die  davon  ganz  und  gar  nicht 
iiberzeugt  sind.  Nach  ihrer  Theorie  bedeutet  Arbeit  ur» 
spriinglich  weiter  nichts  als  Not,  Miihsal,  Plage.  MiiBig» 
gang  ist  nach  ihrer  Meinung  das  hochste  Gliick  der  Natur» 
volker  und  die  angeerbte  Neigung  des  Menschen.  Nur  der 
harte  Zwang,  sagen  sie,  bringe  den  Menschen  zum  Ar» 
beiten. 

Wenn  das  der  Fall  ware,  fragt  Biicher2,  ein  Gelehrter, 
der  viel  und  griindlich  iiber  das  Wesen  der  Arbeit  nach- 
gedacht  hat,  ,,wenn  untiberwindliche  Faulheit  der  Men= 
schen  altestes  Erbteil  ware,  wie  konnten  sie  dann  iiber= 
haupt  sich  iiber  die  Existenz  des  friichtesammelnden  und 
wurzelgrabenden  Tieres  emporheben"?  Der  Naturmensch 
arbeitet,  sagt  Biicher,  zeitweise  sehr  intensiv,  er  scheut  nur 
die  Regelmapigkeit  der  Arbeit.  Und  solche  Menschen  fin= 
det  man  doch  gerade  auch  unter  denen,  die  heute  die 
hochsten  Werte  fur  die  Kultur  schaffen.  Sie  hassen  zwar 
die  strenge  Zeitordnung,  sie  wollen  schlafen  und  aufstehen, 

1  E.  v.  Mayer,  wie  Scitc  46  erwahnt.  2  K.  Biicher,  Arbeit  und 
Rhythmus.  Abhandl.  d.  K.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissen* 
schaftcn.  39,  philosoph.  Klassc  17,  Nr.  5  (1897)- 

6  Zschimmer,  Philosophic  der  Tcchnik  ° * 


arbcitcn  und  cssen,  wie  es  ihncn  pafit,  wie  cs  ihre  Schaf- 
fenskraft  mit  sich  bringt;  aber  sie  gcbcn  sich  an  ihr  Wcrk 
oft  mit  hundcrtfacher  Lust  und  Energie  bin,  vcrglichcn 
mit  dem  tiichtigsten  ,,Zeitarbeiter",  dem  tiichtigsten  Be= 
amten,  der  wahrend  seiner  Dienstzeit  keine  Minute  zu 
wenig  im  Bureau  saft. 

Noch  allzusebr  sebnen  sicb  mancbe  Pbilologenseelen  in 
ihren  Schlafrocken  nach  der  Wirtscbaftsordnung  der  Antike 
zurtick.  Ware  es  doch  nur  so  geblieben,  seufzen  sie  im 
stillen,  daft  zwei  Gattungen  von  Menschen  gleichsam  wie 
zwei  Tierspezies  nach  dem  Willen  der  gottlichen  Vorsehung 
existierten,  deren  eine  das  unvermeidliche  Arbeiten  be» 
sorgte,  wahrend  die  anderc,  edlere  (dazu  rechnen  sie 
natiirlich  sich  selbst)  dadurch  die  Mufte  gcwonnc,  nur 
die  hoheren  Kulturleistungen  zu  vollbringcn  und  so  ein 
recht  beschauliches,  gottgefalliges  Leben  zu  fiihren! 

Das  Ideal  des  Aristoteles1  schwebt  diesen  schonen  Seelen 
vor,  der  einst  seinen  herrlichen  Landsleuten  gelehrt  hatte: 
,,Die  Wirksamkeit  Gottes,  die  an  Seligkeit  alles  tibcr- 
trifft,  wird  also  in  der  reinen  Betrachtung  bestehen  und 
von  den  menschlichen  Wirksamkeiten  diejenige  mit  der 
groStcn  Glttckseligkeit  verbunden  sein,  die  jener  am  nach* 
sten  verwandt  ist." 

Wunderbar!  7/Wie  stellst  du  dir  das  Jenseits  vor?" 
wurde  ein  alter  Schiffer  gefragt.  ,,Immer  duhn  und 
smoken!"  sagte  er2.  Jawohl:  Immer  im  Schlafrock  auf 
dem  gebliimten  Sofa  sitzen  und  ^chauen",  sagen  unsere 
Faulpelze,  von  den  hoheren  Bildungsstufen  herabblickend 
auf  die  ,,Banausen",  die  ihnen  das  elektrische  Licht  dazu 
machen. 

1  Aristoteles,  wie  Scitc  41  crwfihnt.    *  Zu  dcutsch:  Immer  an« 

get  run  ken  sein  und  rauchen. 

82 


Doch  da  war  ein  gewisser  Fichte1,  der  cndlich  einmal 
diese  versimpclten  dcutschen  Buchidealisten  aus  dem 
Schlafe  weckte: 

,,Nicht  zum  mtiSigen  Beschauen  und  Betrachten  deiner 
selbst  oder  zum  Briiten  iiber  andachtige  Empfindungen,  — 
nein,  zum  Handeln  bist  du  da;  dein  Handeln  und  allein  dein 
Handelnbestimmt  deinen  Wert."  Und  das  ist  unser  Philosoph. 

Nun  abcr  gibt  es  noch  cine  andcrc  Art  von  Industrie- 
feinden.  Es  sind  die  agrarisch-konservativ  gerichteten 
,,Personlichkeitsphilosophen".  Ihr  Ideal  ist  der  Bauern- 
stand,  fur  den  die  verfluchte  Industrie,  ihrer  Meinung 
nach,  den  sicheren  Ruin  bedeutet.  Sie  wiinschen  sich  im 
Grunde  fur  Europa  das  Leben  der  Wilden  zurtick  —  natiir- 
lich  mochten  sie  die  Hauptlinge  sein. 

Diesen  Herrenmenschen  und  adeligen  Kulturrettern 
kann  ich  nur  mit  Glien2  entgegenhalten:  ,,Einem  Volke, 
das  all  seine  Krafte  braucht,  um  sich  in  muhseliger  Plage 
mit  der  Hand  den  knappen  Lebensunterhalt  zu  erkampfen, 
bleibt  keine  Zeit  zur  Entfaltung  geistigen  Lebens." 

Und  hat  nicht  auch  unsere  Arbeit  jenen  hohen  ethischen 
Wert,  der  den  Herren  vom  Lande  als  Ideal  vorschwebt, 
einen  Wert  fur  die  Persdnlichkeit  des  Menschen?  Entschie- 
den  liegt  doch  ein  gut  Teil  sittlicher  Kraft,  wie  Simmel3 
hervorhebt,  in  der  fortwahrenden  Uberwindung  der  Im- 
pulse zu  Tragheit,  Genuft,  Erleichterung  des  Lebens  — 
wobei  es  irrelevant  ist,  daB  diese  Impulse,  wenn  man  sich 
ihnen  wirklich  ununterbrochen  hingabe,  das  Leben  gleich- 

1  J.  G.  Fichte,  Die  Bcstimmung  des  Menschen.  Berlin  (1800) 
Neu  herausgegeben  von  F*  Medicus.  F.  Meiner,  Leipzig. 
8  H.  Glien,  Industrie-Warte,  Zeitschrift  f.  Industrie  u.  GroB- 
gewerbe,  19,  253  (1913).  *  G.  Simmel,  wie  Seite  32  erwahnt. 


falls  zu  einer  Last  machen  wiirden;  denn  die  Last  der 
Nichtarbeit  wird  nur  in  den  seltcnsten  Ausnahmefallen 
empfunden,  die  der  Arbeit  aber  nur  in  ebensolchen  nicht 
empfunden  .  .  ."  Ja,  was  an  der  Arbeit  eigentlich  zu  ver- 
gelten  ist,  sagt  Simmel,  ,,der  Rechtstitel,  auf  den  hin  man 
eine  Vergeltung  fur  sie  fordert,  ist  der  psychische  Kraft- 
aufwand,  dessen  es  zum  Aufsichnehmen  und  Qberwin* 
den  der  inneren  Hemmungs-  und  Unlustgefiihle  bedarf... 
Wenn  der  Mensch  seine  Arbeit  leistetc,  wie  die  Blume 
ihr  Bliihen  oder  der  Vogel  sein  Singen,  so  wiirde  sich  kein 
entgeltbarer  Wert  mit  ihr  verkniipfen.  Dieser  liegt  also 
nicht  in  ihrer  aufieren  Erscheinung,  in  dem  sichtbaren  Tun 
und  Erfolg,  sondern  auch  bei  der  Muskelarbeit  in  dem 
Willensaufwand,  den  Gefiihlsreflexen,  kurz  in  den  seeli* 
schen  Bedingungen." 

,,Aber  es  ware  freilich  ein  TrugschluB,"  fiihrt  Simmel 
weiter  aus,  ,,wenn  das  ethisch  vielleicht  begrundbare  Po« 
stulat:  Aller  Wert  ist  Arbeit"  in  den  Satz  umgekehrt 
wurde:  ,,Alle  Arbeit  ist  Wert,  d.  h.  gleicher  Wert/'  Denn 
in  der  Bewertung  liegt  noch  mehr.  Dieses  Mehr  bestimmt 
sich  objektiv  durch  die  ,,Ntitzlichkeit  der  Dinge  als  ihren 
Wertungsgrund,  im  Verhaltnis  zur  Arbeit,  als  ihrem  Wert= 
tra'ger",  und  diese  Begriindung  des  objektiven  Wertes  er= 
gibt  sich  aus  der  Geschichte. 

,,Wir  wissen  sehr  wohl,"  sagt  Simmel,  ,,da(3  unzahlige 
Arbeiten  in  den  ,hoheren  Berufen'  an  das  Subjekt  keinerlei 
hohere  Anspriiche  stellen,  als  solche  in  den  ,niederen'; 
dag  die  Arbeiter  in  Bergwerken  und  Fabriken  oft  eine 
Umsicht,  Entsagungsfahigkeit,  Todesverachtung  besitzen 
miissen,  die  den  subjektiven  Wert  ihrer  Leistung  weit  tiber 
den  vieler  Beamten-  oder  Gelehrtenberufe  erhebt  ..."; 
aber  wbei  vollem  BewuBtsein  der  gleichen  oder  hoheren 

84 


subjektiven  Arbeit,  die  das  cine  Produkt  erfordert,  wird 
man  dem  anderen  dennoch  einen  hoheren  Rang  und  Wert 
zusprechen."  Diejenigen  Leistungen  sind  die  hoheren, 
,,die  in  dem  Aufbau  der  Kultur  die  relativ  abschlieftenden 
sind,  am  meisten  von  langer  Hand  vorbereiteten  sind,  die 
ein  Maximum  von  Arbeit  Vor-  und  Mitlebender  als  ihre 
technische  Bedingung  in  sich  aufnehmen,  —  so  ungerecht 
es  auch  sei,  aus  diesem  durch  ganz  iiberpersonliche  Ur« 
sachen  entstandenen  Wert  der  objektiven  Arbeitsleistung  fur 
den  zufalligen  Trager  derselben  eine  besonders  hohe  Ent» 
lohnung  oder  Schatzung  herzuleiten." 

00  steht  Ansicht  gegen  Ansicht  der  Gelehrten:  Die  In- 
\^/dustrie  schafft  weiter.  Ihre  Schlote  dampfen,  ihre  Ra'der 
drehen  sich,  sie  schreitet  unentwegt  dem  Ziele  entgegen, 
das  Dietzgen1  so  schon  und  wahr  erfaftt:  ,,Die  Befreiung 
vom    Joche  sklavischer  Arbeit,  die   Befreiung  von  Not, 
Elend  und  Sorge,  von  Hunger,  Kummer  und  Unwissen= 
heit,  die  Befreiung  von  der  Plage,  Lasttier  der  ,hoheren 
Gesellschaft'   zu   sein,  diese  Freiheit,  und  zwar  fiir  die 
Masse,  fiir  das  Volk,  das  ist  der  heilige  Zweck,  den  zu  er= 
fiillen  die  so  unendlich  reichgewordene  menschliche  Ar» 
beitskraft  den  Beruf  hat." 

Um  aber  alle  frei  zu  werden,  frei  zum  hochsten  Kultur« 
leben,  miissen  wir  alle  arbeiten.  Und  ebenso  ist  klar,  daft 
die  groftere  Ha'lfte  der  Menschheit  im  besonderen  die 
technische  Arbeit  fordern  muB  und  daft  diese  schliefi= 
lich  Teilarbeit,  und  zwar  meist  eine  gleichma'Bige,  ein= 
formige  Fabrikteilarbeit  sein  wird.  —  Industriearbeit  wird 
einst  Dienst  fur  die  Menschheit  sein,  den  zu  leisten  in  Zu= 
kunft  allerdings  erste  Biirgerpflicht  ist! 

1  J.  Dietzgen,  wie  Seitc  60  erwahnt. 

8? 


Da  cs  abcr  gewift  nicht  den  cigentlichcn,  hochsten  Zweck 
dcr  Menschheitbedeutct,  diese  Pflichtzu  erfiillcn,  sondcrn, 
da  ihr  Zweck  ebcnsowohl  im  Erleben  und  Genusse  dcr 
durch  die  tcchnischc  Arbeit  geschaffenen  gottlichen  FreU 
heit  und  aller  Kulturmoglichkeiten  der  so  befreiten  Lebens- 
gemeinde  unter  den  tibrigen  groften  Ideen  ist,  die  fiir  uns 
notwendige  und  ewige  Werte  sind,  so  liegt  in  dem  Willen 
zum  technischen  Schaffen  zugleich  der  natiirliche  Wille 
zur  auftersten  Beschrankung  desselben :  Aus  dem  Prinzip, 
die  groBtmogliche  Freiheit  gewinnen  zu  wollen,  folgt  not* 
wendig  das  andere  Prinzip,  die  geringstnotige  Arbeit  dazu 
aufzuwenden,  d.  h.  die  Freiheit  auf  dem  kiirzesten  Wege 
und  mit  dem  geringsten  Verbrauch  an  Zeit  und  Energie 
kraft  taglicher  Arbeit  zu  gewinnen  und  zu  erhalten. 

Der  Druck  der  Arbeiter  auf  den  Willen  der  Unternehmer 
um  Lohn  und  Freiheit  ist  nichts  anderes,  als  die  durch- 
brechende  Kraft  des  BewuBtseins  von  der  Idee  der  Tech* 
nik,  die  sich,  einmal  von  der  Masse  der  Menschheit  er* 
faBt,  mit  der  Unwiderstehlichkeit  des  Meeres  gegen  den 
Damm  einer  verzweifelt  widerstrebenden  Minderheit  be= 
weg.  Es  gilt  nicht  mehr  nur  die  Befreiung  der  einen,  der 
auserwahlten  Edelmenschen  durch  die  Arbeit  der  andern, 
die  zur  Unfreiheit  durch  den  Zufall  der  Geburt  verdammt 
sind ;  sondern  nun  gilt  es  die  Befreiung  aller  von  der  Arbeit 
zur  Befreiung  aller!  —  Und  um  dies  Geheimnis  zu  losen, 
wendet  sich  der  erfinderische  Geist  jetzt  von  den  Mitteln 
des  Zwecks  —  zu  den  Mitteln  der  Mittel  selbst. 

Zweck  der  Technik  ist  die  Freiheit,  z.  B.  die  Freiheit 
fiber  die  Luft,  die  Freiheit  fiber  den  Raum,  das  Fliegen. 
Das  Mittel  dazu  ist  das,  was  die  Freiheit  gewahrt,  das 
Flugzeug.  Mittel  des  Mittels  ist  das  technische  Schaffen, 

86 


der  industrielle  Arbeitsprozeft,  der  das  Flugzeug  hcrstellt 
durch  Umgestaltung  dcr  vorgefundencn  Wirklichkeit,  kraft 
gcistiger  und  physischer  Lcistungcn  dcr  in  ihm  tatigen 
Subjektc.  Auf  diescn  Prozeg  richtet  sich  jetzt,  gedrangt 
von  dcr  Logik  dcr  Tatsachen,  das  Umgcstaltcn. 

Hiermit  wird  also  das  technische  Schaffen  als  solches 
unter  die  Idee  dcr  Technik  gebracht.  Es  werden  die  in  ihm 
vcrborgencn  neucn  Frcihcitsgradc  solchen  Schaffens  ge» 
sucht,  gefunden,  crfundcn. 

Zunachst  ist  das  Schaffen  an  die  enge  Machtsphare  des 
von  dcr  Natur  selbst  ausgerusteten  Organismus  gebunden. 
Er  hat  zunachst  nicht  mchr  Freiheitsgrade,  als  in  seiner 
natiirlichcn,  ihm  gleichsam  vorgeschriebenen,  beschrank* 
ten  Werktatigkeit  einbegriffen  sind.  Ihm  fchlt  noch  jene 
uncndliche  Moglichkeit  dcr  Aktion  eincs  lebenden  Wescns 
auf  die  materielle  Welt,  die  denkbar,  d.  h.  idecll  ausfiihr* 
bar  ist. 

Der  marchenhafte  Gedanke  steigt  auf,  daft  es  mdglich 
scin  musse,  durch  cine  fast  miihelosc  Organtatigkeit,  so 
muhelos  wic  ein  Befchl  oder  ein  Federstrich,  die  mensch- 
liche  Absicht  auf  den  Naturlauf  zu  iibertragcn.  Und  siehc 
da  —  das  Gcheimnis  dcr  Gchcimnisse  erschlieftt  sich,  cs 
wird  entdcckt,  daft,  was  anfangs  dcr  Mensch  durch  seinen 
Korper  leisten  muftte,  auch  ebcnso  gut,  ja  besser,  von  der 
Natur  selbst  bcsorgt  werden  kann,  das  Gcheimnis,  daft 
Natur  durch  Natur  zu  bczwingcn  ist. 

Der  Mensch  trachtet  von  nun  ab  nicht  allein,  wic  Joel1 
schr  hiibsch  sagt,  ,,da6  cr  die  Erscheinungcn  fangt,  son- 
dcrn  auch,  daft  sic  sich  untcreinander  fangen,  weil  er  dann 
durch  die  eincn  die  andercn  fangen  kann,  sei  es  praktisch 
fur  seinen  Dienst,  sci  es  theorctisch  fur  seine  Lebensrech= 
1  K.  Joel,  Der  freie  Willc.  Bruckmann,  Miinchen  1908. 

87 


nung".  —  ,,Die  Vernunft",  sagte  Hegel1  schon,  ,,ist  ebcnso 
listig  als  machtig.  Die  List  besteht  iiberhaupt  in  dcr  vcr- 
mittclndcn  Tatigkeit,  welche,  indem  sic  die  Objektc  ihrcr 
cigcnen  Natur  gemaft  aufeinandcr  einwirken  und  sich  an» 
einander  abarbeiten  laftt,  ohne  sich  unmittclbar  in  diesen 
ProzeB  einzumischen,  gleichwohl  nur  ihren  Zweck  zur 
Ausftihrung  bringt." 

Es  kommt  darauf  an,  um  mit  Marx2  zu  sprechcn,  die 
,,Emanzipation  von  der  organischen  Schranke"  ebensowohl 
fiir  den  arbeitenden  Menschen  zu  vollziehen,  wic  sie  bis 
clahin,  durch  desscn  Arbeit,  nur  allein  fiir  diejenigen  volU 
zogen  wurde,  welche  die  kostlichen  Friichte,  d.  h.  die 
materielle  Freiheit,  davon  genieften  durften.  Und  zwar  han= 
delt  es  sich  nicht  allein  um  die  Menschenarbeit,  sondern, 
wie  Sombart3  allgemein  erkennt,  um  die  Emanzipation  der 
Technik  von  der  Bedingtheit  des  organischen  Lebens  iiber= 
haupt. 

Die  auf  ihre  natiirlich  gegebene  Leistungsfahigkeit  be= 
schrankte  organische  Welt  schafft  trage  und  umstandlich. 
In  ihr  erreicht  die  blinde  Natur  allerdings  gewisse  Moglich= 
keiten  der  Technik,  weshalb  ja  Kant*  die  Kausalitat  der 
Organismenwelt  bereits  als  ,,technica  intentionalis"  be= 
zeichnete.  —  Aber  wie!  in  welcher  Zeit!  und  mit  wel* 
chem  Raume!  erreicht  sie  das.  ,,Der  Tragbalken  oder  der 
Schiffsmast  aus  Eisen  oder  Stahl",  sagt  Sombart,  ,,werden 
in  wenigen  Wochen  hergestellt,  wahrend  der  Holzstamm 
Jahrzehnte  gebraucht  hatte,  um  die  erforderliche  Dicke  zu 

1  G.  W.  F.  Hegel,  Enzyklopadie  der  philosoph.  Wissenschaf* 
ten  im  Grundrisse.  Band  33  der  philosoph.  Bibliothck.  F.  Meis 
ner,  Leipzig.  2  K.  Marx,  wie  Seite  68  erwahnt.  3  W.  Sombart, 
Die  deutsche  Volkswirtschaft  im  19.  Jahrhundert,  3.  Aufl. 
Bondi,  Berlin  1913.  *  /.  Kant,  Kritik  der  Urteilskraft  (1790). 
Ausgabe  der  K.  Preufi.  Akademie.  G.  Reimer,  Berlin  1908. 

88 


erreichen.  Die  Pferde,  die  zur  Bespannung  der  Straften* 
bahnwagcn  Verwendung  finden  sollen,  bediirfen  minde= 
stens  drei-  bis  vierjahriger  Pflege,  wahrend  der  elektrische 
Motorwagen  in  ebensoviel  Monaten  fertiggestellt  wird." 

Und  welches  ist  nun  das  wichtigste  Ziel  der  grofien 
Emanzipation?  —  Es  ist  der  Arbeitsprozeft  selbst. 

Nur  allzurecht  hat  Pilenko l  noch  mit  seiner  ergreifen* 
den  Schilderung  aus  der  russischen  Industrie:  ,,Schreck» 
lich  ist  es,  dabeizustehen  und  in  einer  modernen  Druk= 
kerei  so  einem  bleichen  Jungen  zuzusehen,  wie  er  hurtig 
die  Blatter  auf  die  unruhige  Walze  der  Druckmaschine 
legt;  schrecklich,  dabeizustehen  und  zu  wissen,  daft  dieser 
bleiche  Junge  Tag  fur  Tag  und  so  ganze  Jahre  lang  nur 
Bogen  fur  Bogen  ergreift  und  sie  auf  die  unaufhorlich  sich 
drehende  Welle  legt ; — daft  er  auflegen  wird  bis  zu  dem  Zeit« 
punkt,  wo  man  an  seinen  Platz  einen  noch  genaueren  und 
ihn  ersetzenden  mechanischen  ,Aufleger'  stellen  wird"... 
Und  Bticher2,  wenn  er  sagt:  „  Darin  liegt  das  Aufreibende 
der  Fabrikarbeit  und  das  Niederdruckende :  Der  Mensch 
ist  ein  Knecht  des  nie  rastenden,  nie  ermiidenden  Arbeits= 
mittels  geworden,  fast  ein  Teil  des  Mechanismus,  den  er 
an  irgendeiner  Stelle  zu  erganzen  hat." 

Und  hundert  andere,  die  dieselbe  Anklage  gegen  die 
Arbeit  der  Industrie  erheben,  sie  haben  in  dem  Sinne  voll* 
kommen  recht:  Von  dieser  Beschaftigung  der  Menschen 
werden  und  miissen  die  Menschen  befreit  werden  — 
durch  die  Technik.  Und  die  Technik  ist  schon  auf  dem 
besten  Wege. 

Aus  seinen  sorgfaltig  angestellten  statistischen   Erhe=» 

1  A.  Pilenko,  Das  Rccht  des  Erfinders.  dbersetzt  von  M.  Au- 
gustin,  durchgcschen  von  F.  Siebenbiirgen.  C.  Heymann,  Berlin 
1907.  a  K.  Biicher,  wie  Seite  81  erwahnt. 

89 


bungen  fiber  die  Arbeitsweise  in  den  Fabriken  zieht  v. 
Oechelhaeuser1  bereits  1 906  den  Schlufi :  ,,Die  Vervollkomm= 
nung  der  Maschinen  nimmt  also  dem  Arbeiter  immermehr 
alle  korperlich  schwere,  mechanische  und  sich  in  geistes^ 
totender  Weise  wiederholende  Arbeit  ab,  hebt  in  vielen 
neuen  Arbeitskategorien  sein  geistiges  Niveau  und  fordert 
sein  Wohlbehagen  in  der  Werkstatt  und  seine  Genuft- 
fahigkeit  aufterhalb  derselben.  —  Wir  glauben  deshalb  Grand 
genug  zu  haben,  energisch  Protest  gegen  die  allgemeine  und 
oft  wiederkehrende  Behauptung  einzulegen,  dap  die  moderne 
Technik  den  Menschen  zum  Sklaven  der  Maschine  mache, 
oder,  wie  es  neuerdings  auch  heipt:  eine  ,Entgeistigung'  der 
menschlichen  Arbeit  herbeifuhret" 

Egeht  auch  ohne  Organismenarbeit!  Reichte  nur  erst 
as  technische  Wissen  so  weit,  daft  alle  Moglichkeiten, 
die  uns  die  Naturgesetze  zur  Umformung  der  Materie  noch 
frei  lassen,  schon  durchschaut  waren !  Doch  wir  diirfen  es 
glauben :  Die  Materie  formt  sich  einst  selbst  um,  sobald  der 
ntechnischeGeist"  erkannt  hat,  welche  Verfassung  ihr  zu  geben 
ist,  damit  sie  es  tut. 

Die  automatische  Produktion  der  Mittel  zur  materiellen 
Freiheit  ist  moglich,  und  sie  wird  kommen  in  dem  Momente, 
wo  die  notwendigen  Formen  der  Anordnung  der  Materie 
und  Energien  gefunden  sind.  Erst  in  dieser  vom  Organischen 
so  gut  wie  vollkommen  emanzipierten  Gestalt  erreicht  der 
technische  ArbeitsprozeS  seinen  hochsten  Grad  der  FreU 
heit,  erreicht  er  seine  hochste  Vollendung,  Leistung  und 
Geschwindigkeit.  Und  Menschenarbeit  in  der  Industrie 
vermindertsich  dann  auf  das  naturnotwendigeMindestmaB- 

1  W.  v.  Oechelhaeuser,  Technische  Arbeit  cinst  und  jctzt. 
J.  Springer,  Berlin  1906. 

90 


Wer  aber  bahnt  den  Weg  zur  vernunftgemafjen  Freiheit 
des  Menschengeschlechts?  Wir  sind  es,  die  Technikcr, 
die  die  Wahrheit  zur  Wirklichkeit  machen  werden,  die 
schon  Fichte1  prophezeit  hat: 

,,Es  soil  allmahlich  keines  groBeren  Aufwandes  an  me- 
chanischer  Arbeit  bediirfen,  als  ihrer  der  menschliche 
Korper  bedarf  zu  seiner  Entwicklung,  Ausbildung  und 
Gesundheit,  und  diese  Arbeit  soil  aufhoren,  Last  zu  sein; 
—  denn  das  verniinftige  Wesen  ist  nicht  zum  Lasttrdger  be- 
st immt." 


J.  G.  Fichte,  wic  Scite  83  erwahnt. 

91 


TECHNISCHES  WISSEN 

Wiirdc  heute  ein  Mensch  geborcn,  mitten  hinein  in 
unsere  vom  Geiste  der  Technik  durchtrankte  Welt, 
und  diesem  Groftstadtkinde  wiirde  von  niemandcm  ver- 
ratcn,  wohcr  all  die  schonen  Dinge  kommen,  vx/ic  Mauser, 
Wasserleitung,  Straftenbahn,  elektrisches  Licht  und  Fern- 
sprecher  —  welchen  Begriff  bekame  wohl  dieses  harmlose 
Menschenkind  von  unserer  kiinstlichen  Welt?  — 

Zum  Philosophen  ohne  Kenntnis  der  Entstehungsbe- 
dingungen  geworden,  hatte  es  wahrscheinlich  ahnliche  Ge» 
danken  iiber  die  technische  Welt,  wie  sie  Kant1  vor  mehr 
als  hundert  Jahren  iiber  die  Organismenwelt  entwickelte. 
Um  diese  natiirlichen  Maschinen  und  Maschinchen  nach 
einer  neuen  gesetzlichen  Ordnung  zu  betrachten,  meinte 
Kant,  und  /;die  Naturkunde  nach  cincm  anderen  Prinzip, 
namlich  dem  der  Endursachen,  doch  unbeschadet  dem 
des  Mechanismus  ihrer  Kausalitat  zu  erweitern",  konnten 
wir  versuchen,  ihre  Erscheinung  nach  der  Maxime  zu  ver- 
stehen:  ,,Alles  in  der  Welt  ist  irgendwozu  gut;  nichts  ist 
in  ihrumsonst."  —  Unser  Philosoph  ohne  Wissen  wiirde 
wahrscheinlich  dieselbe  Freude  haben  an  der  famosen 
Zweckdienlichkeit  und  mehr  oder  minder  gottlichen 
Zweckma'Sigkeit  der  von  ihm  entdeckten  technischen 
Dinge.  Aber  er  konnte  sie  auch  anders  betrachten ! 

Wenn  er  namlich  ein  moderner  kritischer  Denker  ist, 
so  wird  er  seine  Nachforschung  keineswegs  notwendig  in 
Verbindung  bringen  mit  der  Annahme  eines  zwecktatigen 
Schopfers.  Er  wird  sich  zunachst  ohne  diese  Vorstellung 
an  die  wahrnehmbaren  Tatsachen  halten,  obwohl  dieselben 
eine  Beziehung  von  physischen  Dingen  zu  anderen  physi- 
1  /.  Kant,  wie  Seitc  88  erwahnt. 

92 


schcn  Dingen  und  vorzugsweise  zu  seinem  Korper  zeigcn, 
die  ihm  ebenso  merkwiirdig  und  ratselhaft  crscheincn  mufc, 
wie  das  Verhaltnis  dcr  Organc  untcrcinander  und  zum  Or» 
ganismus,  so  merkwtirdig,  wie  das  Vcrhaltnis  dcr  Pflanzcn 
zu  den  Insekten,  odcr  wic  Mimikri,  Metamorphose,  Sym» 
biosc  und  anderc  hochst  wunderbarc  Erscheinungcn  dcr 
organischen  Welt,  dercn  verbluffcndc  Kausalitat  Kant 
schon  damals  als  ,,technica  intentionalis"  bczeichnct  hattc 
und  verstehen  zu  sollcn  glaubte  als  eine  Welt,  in  der  allcs 
,,irgendwozu  gut"  ist. 

Wir  sind  heute  nuchterner,  ,,phiinomenologischer"  ge» 
worden.  Sclbst  gcgeniiber  den  Produktcn  der  menschlichen 
technica  intentionalis  bringen  wir  cs  fertig  —  obglcich  wir 
auf  das  bestimmtcste  wissen,  wie  sic  entstanden  sind  — 
einen,  sagcn  wir  ,,kalt-physikalischen"  Gesichtspunkt  der 
Betrachtung  festzuhalten.  Wir  konnen  uns  darauf  beschran- 
ken,  an  Maschinen,  Verkehrseinrichtungcn,  an  chemisch- 
technischcn  Prozessen  usw.  allein  die  wahrnehmbaren  Zu* 
sammenhange  zwischen  den  matcriellen  Objekten  als  solche 
zu  verstehen,  indent  wir  die  spczifische  Form  ins  Augc 
fasscn,  durch  die  sie  sich  als  ,,technische  Objekte"  charak= 
terisicren. 

Der  Willensakt  des  tatigen  Subjekts,  welches  diese  Ob= 
jekte  erschafft,  bleibt  hierbei  vollstandig  aus  dem  Spiele. 
Es  vcrschwinden  bei  dieser  Auffassung  der  Dinge,  um  mit 
Simmel1  zu  sprcchen,  ^alle  Gefiihlsbetonungen  und  wer* 
den  durch  die  eine  objcktive  Intelligenz  ersetzt.  . . .  Indem 
die  Gegenstande  und  Vcrkniipfungen  unserer  praktischen 
Welt  mehr  und  mehr  zusammenhangcnde  Reihen  bilden, 
scheiden  die  Einmischungen  dcs  Gefiihls  aus,  die  sich  nur 
an  teleologischen  Endpunkten  einstellen",  und  sind  sie 
1  0.  Simmel,  wie  Seitc  32  crwShnt. 

93 


,,nur  noch  Objekte  der  Intelligenz,  die  wir  an  der  Hand 
diescr  benutzen,  wie  wir  die  Ursachlichkeiten  der  mate- 
riellen  Natur  benutzen." 

Es  handelt  sich  jetzt  lediglich  um  die  sichtbare  Struktur, 
um  die  mathematischen  und  physikalisch-chemischen  Zu» 
sammenhange.  Solche  Zusammenhange  konnen  sich  be- 
reits  in  der  Natur  und  sogar  schon  in  der  anorganischen 
Natur  gebildet  finden ;  denn  sie  sind  ja  nichts  anderes,  als 
spezielle  Moglichkeiten  in  derselben,  Mdglichkeiten  der 
Anschauung,  von  welchen  die  Naturgesetze  selbst  noch 
nichts  aussagen. 

Teh  wiederhole :  Wenn  uns  alle  Gesetze  bis  ins  einzelste  be- 
JLkannt  waren,  so  konnten  wir  noch  nicht  das  Geringste 
erschlieften  iiber  die  anschauliche  Beschaffenheit  gerade 
dieser  einen  konkreten  Welt,  dieses  Planetensystems,  dieser 
Erde,  dieser  Arten  der  Mineralien,  Pflanzen  und  Tiere,  die 
wir  erschauen.  Unendlich  viele  anders  beschaffene  Welten 
waren  unter  denselben  Gesetzen  moglich.  Die  Freiheit 
des  vorstellbaren  Zusammenhangs  der  konkreten  Elemente 
nach  Form  und  Qualitat,  sowie  nach  Raum  und  Zeit,  hat 
unendliche  Grade. 

Das  wird  sofort  klar,  wenn  man  bedenkt,  da5  die  Gesetze 
der  Physik  Gleichungen  zwischen  den  Naturgroften  sind. 
Die  NaturgroBen  sind  aber  ihrem  Wesen  nach  nichts  an» 
deres  als  Raum-  und  Zeitgrofjen  und  deren  analytische 
Funktionen,  also  mathematische  Begrifle  —  allerdings  von 
einer  bestimmten,  nur  durch  Beobachtung  zu  entdecken- 
den  Art  der  Erfullung  durch  anschauliches,  konkretes  Sein. 
Eben  dieses  Anschauliche  aber  la§t  sich  aus  seiner  mathe- 
matischen Form  nicht  erkennen,  es  ist  dieser  gleichsam 
transzendent. 

94 


Man  bctrachte  nur  cine  Kafersammlung  —  ein  Stuck 
technica  intcntionalis!  Kcnnten  wir  die  Gesetze  dcr  Bio« 
logic  —  ich  zweifle  nicht,  daft  sic  entdeckt  werden  —  be* 
sa'Ben  wir  sic  schwarz  auf  weiB,  so  wtiftten  wir  noch  nichts 
iiber  das  konkrete  Dasein  dieser  kurioscn  Inscktenformen 
auszusagen,  welches  jcncn  Gesetzen  Erfiillung  gibt.  Es  ent» 
faltct  sich  vor  unsercn  Augen  einc  Bilderreihe  voller  Merk- 
wtirdigkeit,  deren  Entstehung  und  weitere  Veranderung 
im  Wegc  dcr  Entwicklung  zwar  strengstcns  den  Natur- 
gesetzcn  unterworfen  ist,  sich  also  gcnerell  erklaren  laftt 
wie  das  Spiel  dcr  Bewegungen  am  Himmel,  deren  an- 
schauliches  Sosein  abcr  dem  besten  Gcsetzeskenner  noch 
ebenso  unbekannt  bleibt,  wie  die  mogliche  Eigenart  der 
in  Rechtshandel  eintretcnden  Personen  und  Sachen  dem 
Kenner  der  juristischen  Gesetze  oder  die  Ziige  eines 
menschlichen  Gesichts  dem  Kenner  aller  Gesetze,  nach 
denen  die  mimischen  Veranderungen  der  menschlichen 
Physiognomic  vor  sich  gehn. 

Dennoch  gibt  es  Typen,  Charakterc  und  Gattungen  in 
der  anschaulich  organischen  Welt.  Die  Eigenart  ist  nicht 
einzig,  nicht  allcin  in  einein  Individuum  vorhanden,  son* 
dern  in  unzahlbar  vielcn.  Gewisse  Ziige  sind  Millioncn  von 
Organismen  gemeinsam.  Daher  lassen  sich  die  Individuen 
unter  spezielle  Formbegriffe  bringen  und  diesc  wieder 
unter  allgemeine  und  allgemeinste  Begriffe,  z.  B.  die  Ka'fer 
unter  die  Insekten,  diese  unter  die  Tiere,  diese  unter  die 
Organismen. 

In  die  Sprache  dcr  Technik  iibersetzt,  hei§t  das:  Die 
Natur  stcllt  alles,  was  sic  hcrvorbringt,  wie  Schopenhauer 
bereits  gesagt  hat,  als  Fabrikware  her,  sic  produziert 
Massenformen.  Ihrc  Erfindungen  gleichen  also  nicht,  wie 
der  fromme  Mensch  des  Mittelalters  dachte,  den  Kunst* 

95 


wcrken  eines  Mcistcrs.  Trotz  der  Frciheit  licgt  Gleichheit, 
Gemeinsamkeit  in  der  organischcn  Gestaltenwelt.  Unter 
glcichcn  Bedingungen  schen  wir  sich  Glciches  bilden  — 
Gleiches  aus  Glcichem.  Millioncn  von  gleichcn  Charak- 
teren  B  entstehen  unter  gleichen  Bedingungen  aus  MiU 
lionen  von  gleichen  Charakteren  A,  und  zwar  gesetzma'Big, 
diirfen  wir  annehmen.  Der  Charakter  A  variiert  in  den 
Charakter  B  ebenso,  wie  sich  etwa  gleichgeformte  und  un» 
ter  gleichen  Bedingungen  stehende  Planetensysteme  aus 
einer  gegebenen  Form  A  nach  den  Naturgesetzen  in  cine 
spatere  Form  B  verwandeln  wiirden. 

Nehmen  wir  an,  daft  urspriinglich  nur  eine  Art,  eine 
Grundform  —  der  Urorganismus  A  —  existiert  hat,  so 
werden  sich,  nach  einer  bekannten  Theorie,  innerhalb  der 
Entwicklungsgeschichte  ebensoviel  neue  Formen  BCD... 
gebildet  haben,  als  neue,  eigenartige,  konkrete  Bedingun» 
gen,  namlich  physikalisch-chemische  Umstande,  auftraten, 
unter  welche  die  Arten  A  B  . . .  usw.  gebracht  wurden. 

Hiermit  verschwindet  das  Ratsel  der  anschaulichen  Form» 
mannigfaltigkeit —  scheinbar;  denn  es  versteckt  sich  nun 
hinter  die  gegebenen,  in  dieser  Welt  nun  einmal  vorhan= 
denen,  konkreten  Bedingungen :  die  Verteilung  der  che* 
mischen  Stoffe,  der  Temperaturen,  der  Bewegungen  usw. 
Was  also  leistet  diese  Erklarung?  —  An  Stelle  der  ratsel= 
haften  Physiognomic  der  Organismenwelt  tritt  die  aus  den 
Gesetzen  der  Variation  auf  keine  Weise  erschlieSbare 
Anschauung  jener  unendlich  moglich  physikalisch-chemi= 
schen  Bedingungen.  Wir  tauschen  eine  unerklarbare  Man* 
nigfaltigkeit  der  Anschauung  gegen  die  andere  aus,  ein 
Ratsel  gegen  das  andere.  Die  Frage:  Warum  sind  die 
Kafer  so  gestaltet,  wie  ich  sie  in  dieser  Sammlung  be= 
wundere,  verschiebt  sich  auf  die  neue  Frage:  Warum 

96 


waren  dcnn  die  aufieren  Bedingungen,  untcr  wclche  ihre 
Vorfahren  der  Reihc  nach  gcbracht  wurden,  so  gcstaltct, 
dafi  die  Naturgesetze  aus  den  Vorfahren  A  die  Kafer  B, 
aus  B  die  Kafer  C  usf.  machen  konnten?  — 

Was  wir  also  aufgeben  und  gewinnen  bei  dieser  Erkla= 
rung  der  organischen  Formgestaltung  der  anschaulichen 
Materie,  verhalt  sich  wie  das  Positiv  zum  Negativ  einer 
Gipsfigur.  Wurden  wir  jemandem  das  Positiv  der  Figur 
beschreiben,  so  konnte  er  daraus  ermitteln,  wie  das  Ne» 
gativ  beschaffen  sein  muf)  und  umgekehrt.  Verzichten  wir 
auf  die  Schilderung  der  Kafer- Positive,  so  mtissen  wir  uns 
bequemen,  ihre  Negative,  d.  h.  die  konkreten  Bedingungen, 
zu  schildern,  welche  sie  bedingten.  Anders  lafit  sich  die 
vorgefundene  Entfaltung  der  anschaulichen  Natur  in  den 
Buchern  der  Wissenschaft  nicht  aufzeichnen. 

Wir  mtiftten  also,  wenn  wir  das  letztere  Verfahren  be* 
vorzugen,  die  Geschichte  der  Verteilung  aller  Substanzen 
und  Energievorrate  beschreiben,  wodurch  die  organischen 
Formen  kraft  der  biologischen  ^Gesetze  bedingt  sind. 
Welcher  unnotige  Umweg  ware  das!  Und  welche  Ver« 
schleierung  des  Sachverhaltes  lage  in  solcher  Erklarung 
jener  ratselhaften  Phanomene,  die  sich  fein  sauberlich  un* 
ter  Glas  und  Rah  men  aufgespieSt  finden ! 

Es  bleibt  dabei,  wie  man  es  auch  dreht  und  wendet,  daB 
der  konkreten  Materie  und  den  konkreten  materiellen 
Prozessen  sowohl  von  der  Natur  selbst,  als  auch  durch 
das  technische  Schaffen  des  Menschen  cine  unendliche 
Mannigfaltigkeit  von  Formen  gegeben  werden  kann,  die 
niemand  aus  den  Naturgesetzen  erschlieBen,  sondern  allein 
in  der  vorgefundenen,  sich  fort  und  fort  entwickelnden 
Sphare  der  Anschauung  selbst  entdecken  und  im  Hinblick 

7  Z  i  c h  i  m  m  c  r  ,  PhiJo»ophie  der  Technik  97 


auf  ihrc  Gcmeinsamkeit  und  Besonderheit  begrifflich  er« 
fasscn  kann.  Versuchen  wir  zunachst,  wieweit  wir  mit  dcm 
Begrcifcn  der  tcchnischen  Erscheinungen  vom  rein  physi= 
kalischen  Standpunkte  aus,  ohne  teleologische  Begriffe 
kommen!  — 

Dcr  Gegenstand  unsercr  Bctrachtung,  das  tcchnische  Ob» 
jckt,  erhalt  seincn  vollen  Sinn  erst  in  der  Zeit.  Das  ist  klar, 
denn  es  vermittelt  einen  Prozefi.  Daft  dieser  ProzeB  ein 
durch  das  Objekt  im  Raume  erstrebter  Zweck  ist,  soil  aber 
jetzt  aufter  acht  bleiben.  ,,Vermitteln"  bedeutet  fur  uns, 
viel  wortlicher  nur,  das  zeitliche  Inmittensein  des  Objekts 
bei  einem  physikalischen  oder  chemischen  Vorgange,  des» 
sen  Verlauf  in  seiner  Art  und  Weise  von  ihm  geregelt  wird, 
und  zwar  durch  seine  Form.  Definieren  wir  also:  Das  tech- 
nische  Objekt  ist  tin  Regulator  fur  physikalische  und  che- 
mische  Prozesse. 

Der  regulierte  oder  der  technische  Prozeft  stellt  seiner- 
seits  einen  moglichen  Fall  des  konkreten  Naturgeschehens 
iiberhaupt  dar,  der  ebensowohl  durch  unendlich  viele  an= 
dersartige  Falle  ersetzt  werden  konnte,  ohne  daft  die  Na« 
turgesetze  etwas  dagegen  hatten.  Denn  die  Tslaturgesetze 
lehren  uns  ja  noch  nichts  iiber  die  Verteilung  wirklich  vor= 
handener  Materien  und  Energien  im  Raume ;  sie  lassen  viele 
mehr  eine  beliebige  Variation  der  Massenverteilung  und 
Energieverteilung  zu,  woraus  wir  in  unbeschrankter  Frei= 
heit  sowohl  technische  Objekte  wie  technische  Prozesse 
herstellen  konnen.  Gerade  well  nun  die  Prozesse  noch  un- 
endlich  frei  sind,  so  konnen  wir  sie  einer  willkur lichen,  im 
Gesetzbuch  der  Natur  nicht  enthaltenen  Regel  unterwerfen, 
fur  deren  Einhaltung  ein  geeigneter,  in  den  Naturlauf  einge- 
schalteter  Regulator  sorgt. 

Denken  wir  uns  zunachst  einen  vollkommen  automa- 

98 


tischen  ProzeB,  d.  h.  einen  ProzeB,  der  ohne  jegliches  Zu- 
tun  eines  zwecktatigen  Subjekts  lauft.  Partiell  lafit  sich  als» 
dann  auch  bei  jcdem  von  einem  Lebewesen  in  Gang  ge= 
brachten,  absichtlichcn  Vorgange  solch  cin  automatisch 
verlaufendcr,  durch  die  Form  des  benutzten  Regulators 
eindeutig  bestimmter  Anteil  des  Vorgangs  erkennen.  Und 
auf  diese  Bestimmung  oder  Regelung  kommt  es  uns  an. 

Ich  sage  daher :  Der  wesentliche  Charakter  eines  technischen 
Objekts  besteht  darin,  da@  das  Objekt  geeignet  ist,  einem  durch 
dasselbe  vermittelten  materiellen  Prozesse  eine  unter  den  Ge- 
setzen  der  Natur  noch  freigelassene  Regel  des  Verlaufs  zu  be- 
stimmen.  Oder  kurz :  Durch  technische  Objekte  lassen  sich 
Naturprozesse  frei  regeln. 

,,Die  kosmische  Freiheit  der  Naturerscheinung  ist",  wie 
Reuleaux1  ubereinstimmend  hiermit  sagt,  ,,in  der  Ma= 
schine  in  Ordnung  und  Gesetz  tibergefuhrt,  welche  auftere 
Gewalten  gewohnlicher  Art  nicht  zu  erschiittern  ver« 
mogen  . . .  Wie  uns  der  Dichter  die  mildgesitteten  und 
darum  uns  so  liebenswerten  Odysseischen  Irrfahrer  gegen» 
uberstellt  der  ziigeJlosen  Naturkraft  des  Zyklopen,  des  ,ge» 
setzlos  denkenden  Scheusals',  so  steht  fur  uns  das  unge* 
bandigte  Walten  der  Naturkrafte,  welche  in  schranken- 
loser  Freiheit  aufeinanderprallen,  um  im  Kampf  aller  gegen 
alle  das  unbekannte  Erzeugnis  der  Notwendigkeit  hervor- 
zubringen,  gegenuber  der  durch  Beschrankung  auf  ein  ein« 
ziges  und  beabsichtigtes  Ziel  gelenkten  Kraftewirkung  in 
der  Maschine  . . ." 

In  ihrer  Eigenschaft,  die  konkrete  Naturwirklichkeit  zu 
regeln,  unterscheiden  sich,  wie  gesagt,  die  technischen 
Objekte  des  Menschen  prinzipiell  gar  nicht  von  solchen, 

1  F. Reuleaux,  ThcorctischcKinematik,Grundzugc  eincr  Theo« 
rie  des  Maschinenwesens.  Vieweg,  Braunschweig  1875. 

,•  99 


die  wir  in  den  Organismen  und  dercn  Zusammenwirken, 
ja  manchmal  schon  in  der  anorganischen  Natur  vor  uns 
haben.  Zwischen  dcm  Planetensystem  und  einem  Uhrwerk 
bcstcht  insofcrn  vollige  Gleichartigkeit,  als  beidc  cin  kom= 
pliziertes  mcchanisches  Objckt  darstellen,  dessen  wesent= 
lichen  Charakter  die  Regelung  eines  Naturprozesses  durch 
Form  und  Zusammenhang  der  Teile  jenes  Objekts  aus= 
macht.  Als  die  Physiker  Friedrich  und  Knipping  nach 
einem  Vorschlag  von  Laue1  Kristallplatten  als  optische 
Gitter  benutzten,  um  hierdurch,  was  durch  kiinstliche  Gits 
ter  nicht  gelingen  wollte,  Rontgenstrahlen  zur  Interferenz 
zu  bringen,  lieferte  ihnen  die  Natur  aus  ihrer  Werkstatte 
fast  unmittelbar  das  optische  Instrument.  Eine  Kristall= 
platte,  die  sich  zufallig,  etwa  durch  Spaltung,  so  bilden 
wiirde,  daft  sie  fiir  den  Interferenzversuch  gebraucht  wer= 
den  konnte,  ware  in  der  Tat  ein  von  der  anorganischen  Na» 
tur  hervorgebrachtes  technisches  Objekt;  denn  sie  gestattet 
uns  ja,  Naturerscheinungen  nach  Belieben  in  einem  ge* 
wissen  Sinne  zu  regeln. 

Die  Natur  ist  ein  wissenschaftlicher  oder  technischer  Ge« 
genstand,  je  nachdem,  welche  Formen  und  Zusammen= 
ha'nge  ins  Auge  gefaftt  werden,  und  ob  sie  abstrakt  oder 
konkret  betrachtet  wird.  Zum  Beispiel  hat  es  fiir  den 
rein  physikalisch  forschenden  Mechaniker  kein  Interesse, 
welche  Planeten  und  Monde  wirklich  vorhanden  sind,  er 
sucht  Gesetze.  Diese  wiederum  interessieren  den  erfinde* 
rischen  Mechaniker  kaum.  Er,  als  Techniker,  sucht  die 
von  den  Gesetzen  freigelassenen  Moglichkeiten  einer  in= 
dividuell  geregelten  Bewegungsform  durch  die  geschickte 
Anordnung  der  Materie  zu  erkennen.  Ihn  interessieren 

1  Laue,  Friedrich  und  Knipping,  Ber.  d.  Miinchner  Akademie 
S. 303  u.  363,  1912. 


die  Planetcn  und  Monde  selbst  und  die  prazise,  zwangs* 
laufige  Bewegung  der  groften  Weltuhr,  deren  konkrete 
Bestandteile  sie  sind. 

In  ebenso  verschiedener  Hinsicht  lassen  sich  auch  die 
Organismen  betrachten,  wie  ich  nicht  welter  auszufiihren 
brauche.  —  Qbrigens  ist  die  verbreitete  Ansicht,  dafi  der 
lebendige  Korper  eine  Maschine  sei,  die  sich  selbst  auf= 
zieht,  wogegen  die  iibrigen  Maschinen  der  Zufuhr  der 
Energie  bediirfen,  nicht  korrekt.  ,,Auch  in  dem  Umlauf 
eines  Planeten",  sagt  Lotze1,  ,,sehen  wir  ein  Beispiel  eines 
sich  selbst  aufziehenden  Mechanismus:  Die  Bewegung 
selbst  bedingt  es,  dafi  der  Planet  an  demselben  Orte  0  stets 
dieselbe  Richtung  und  Geschwindigkeit  wiedererlangt,  die 
er  an  demselben  Orte  fruher  hatte.  . . .  Der  lebendige  Kor» 
per  dagegen  ist  nur  die  Halfte  eines  zusammengehorigen 
Systems.  Die  andere  Halfte  liegt  aufier  ihm,  freilich  gestalt* 
los:  In  all  den  umgebenden  Elementen  und  Bewegungen, 
die  ihm  als  ,Lebensreize'  unentbehrlich  sind,  in  der  Luft, 
der  Feuchtigkeit,  der  Wa'rme,  dem  Licht  und  den  assimi* 
lierbaren  Nahrstoffen." 

Dafi  es  in  der  Natur  regelrechte  Maschinen  gibt,  daftir 
erwahnt  auch  Reuleaux2  Beispiele:  Die  Wippsteine  und 
die  Geiser.  Diese  merkwurdigen  Objekte  der  Geologie  sind 
zugleich  technische  Objekte  wie  die  Balkenwage  und  der 
Dampfmotor.  Ein  Handwerker  konnte  sie  durch  absicht* 
liche  Umgestaltung  der  vorhandenen  Wirklichkeit  genau 
so  hergestellt  haben,  und  ebenso  wiirde  auch  ein  entspre* 
chender  Weltriese  imstande  gewesen  sein,  jene  Balle  um 
die  Sonne  herum  zu  gruppieren,  auf  deren  einem  wir  das 
Vergniigen  haben,  unsere  jahrliche  Raumreise  zu  machen. 

1  H.  Lotze,  Grundziige  der  Naturphilosophie,  2.  Aufl.,  Hirzel, 
Leipzig  1889.  a  F.  Reuleaux,  wie  Seite  99  erwahnt. 

101 


An  der  Eigenttimlichkeit  der  tcchnischen  Objekte  andert 
sich  also  nichts,  ob  sie  durch  blinden  Zufall,  gleichsam 
durch  cndloscs  Ausprobicren  von  der  Natur  sclbst  her- 
vorgebracht  sind,  odcr  ob  sie  das  Genie  eines  Erfinders 
geschaffen  hat.  ,,Existiert  der  Korper",  sagt  Du  Bois- 
Reymond1,  ,,nicht  in  der  Schopfung,  so  kann  auch  das 
groftte  Erfindergenie  ihn  nicht  herbeischaffen.  1st  er  aber 
vorhanden,  so  bedarf  es  des  Geistes  iiberhaupt  nicht.  Man 
braucht  nur  alle  Korper  in  cine  Reihe  zu  ordnen  und  syste- 
matisch  durchzuprobieren,  so  muft  er  sich  finden."  — 
(Dies  Verfahren  freilich  konnte  langer  dauern  als  das 
menschliche  Leben  auf  der  Erde  iiberhaupt,  und  daher  ist 
fur  uns  die  blitzesschnelle  Geistesarbeit  der  Erfinder  im- 
merhin  von  einigem  Werte!) 

Wir  kommen  auf  ganz  andere  Perspektiven,  wenn  wir  die 
technischen  Dinge  nicht  allein  vom  menschlichen  Stands 
punkte  aus  betrachten.  Jedes  Menschending  ist  zugleich 
ein  Weltding.  Wahrend  wir  unser  liebes  Ich  im  Schaffen 
desselben  erlebcn,  erlebt  sich  in  diesem  Etwas  die  ganze 
Welt.  Und  dieser  ist  es  einerlei,  was  dabei  uns  angeht.  — 
Auf  diese  Weise  sieht  man  oft  mehr  und  kommt  auf  frucht* 
bare  Gedanken. 

Wohin  die  gegenteilige  Ansicht,  die  beschrankt 
menschliche,  organische  Betrachtungswei^  fiihrt, 
zeigen  uns  zahlreiche  Beispiele  aus  der  Geschichte  der 
Technik.  ,,Gewisse  Miihlen,"  ftihrt  Reuleaux2  an,  ,,in  weU 
chen  man  durch  Nachahmung  der  Tatigkeit  der  mensch* 
lichen  Za'hne  die  alten  Steinmiihlen  iiberfliigeln  zu  konnen 
meinte,  sind  vollig  miBlungen.  —  Diese  alteste  Auffassung 

1  A.  Du  Bois-Reymond,  Erfindung  und  Erfinder.  J.  Springer, 
Berlin  1906.    2  F.  Reuleaux,  wie  Seite  99  erwShnt. 


bcruhte  auf  eincm  naturphilosophischen  Hintergedanken, 
dcm  telcologischen  odcr  Naturzweckmdpigkeitsdogma.  Seit 
man  dieses  im  Maschinenwesen  ganzlich  iiber  Bord  ge= 
worfen,  ist  die  Entwicklung  in  ihre  jetzige  Schnelligkeit 
eingetreten." 

Sobald  wir  den  Begriff  fassen,  daft  ein  Teil  der  Natur, 
sei  es  durch  Zufall,  durch  das  organische  Leben  oder  durch 
die  Oberlegung  eines  Erfinders,  in  den  geeigneten  Zustand 
gebracht  werden  kann,  einen  anderen  Zustand  aus  sich 
selbst  gesetzmaftig  entstehen  zu  lassen,  sobald  uns  einmal 
einleuchtet,  daft  Maschinen,  Organismen  und  Planeten- 
systeme  hinsichtlich  dieser  Eigentiimlichkeit  ganz  clas= 
selbe  sind,  namlich  Regulatoren  fiir  besonders  geartete 
Prozesse,  alsdann  erweitert  sich  das  Reich  der  Technik 
ganz  ungeheuer. 

Die  staunenerregende  Entwicklung  der  Maschinenbau= 
kunst  begann,  wie  Reuleaux  sagt,  erst  mit  jener  ,,eigen» 
tttmlichen  und  richtigen  Wendung  in  der  Auffassung  des 
Maschinenerfinders,  welche  darin  besteht,  daft  nicht  mehr 
die  Maschine  die  Handarbeit  oder  gar  die  Natur  nachzu- 
ahmen  sucht,  sondern  bestrebt  ist,  die  Aufgabe  mit  ihren 
eigenen,  von  den  natiirlichen  oft  vollig  verschiedenen  Mit» 
teln  zu  losen."  Mit  der  Nahmaschine  wurde  zugleich  cine 
neue  Nahweise,  mit  dem  Walzwerk  eine  neue  Schmiede* 
weise  erfunden.  Anfangs  ahmte  man,  wie  Bticher1  gleichs 
falls  bemerkt,  die  menschliche  Bewegung  und  damit  ihren 
rhythmischen  Hin-  und  Her-  oder  Auf-  und  Niedergang 
nach ;  die  Hobelmaschine,  das  Sagewerk,  die  Schnellpresse 
usw.  hatten  daher  einen  unniitzen  Ruckgang,  der  erst 
d u rch  die  einsinnig  fortschreitende  Rotationsbewegung  be« 
seitigt  wurde. 
1  /<•  Biicher,  wie  Seitc  81  erwShnt. 

103 


Im  Rotdlionsmechanibinus  licgt  dcr  prinzipielle  Fort= 
schritt,  womit  die  Technik  den  ersten  groften  Sprung  aus 
den  Grenzen  der  organischen  Beschranktheit  heraus  ge= 
wagt  hat;  denn  bei  keinem  Lebewesen  findet  sich,  wie 
Reuleaux  bemerkt,  die  Rotation  um  eine  Achse  als  kon= 
tinuierliche  Bewegungsform  eines  Organs. 

Die  Flugschraube  ist  ein  weiteres  sehr  hiibsches  Beispiel 
hierzu.  Ihre  Fltigel  ahmen  keineswegs,  wie  manche  glau= 
ben,  die  rhythmische  Bewegung  der  Fittiche  des  Vogels 
nach.  Auch  die  bekannte  Flaschenblasmaschine  von 
Owens  vermeidet  die  Nachahmung  der  menschlichen  Ar= 
beitsweise  des  Glasblasers,  und  erst  dadurch  ist  sic  zu  ihrer 
erstaunlichen  Leistungsfahigkeit  gebracht  worden.  —  So 
lieSen  sich  die  Beispiele  aus  der  Maschinentechnik  ins  Un* 
begrenzte  vermehren ;  es  handelt  sich  eben  um  ein  ganz  all= 
gemeines  Prinzip:  Los  vom  Organismus! 

Tbrigens  ist  der  Begriff  der  Maschine  in  der  modernen 
VxA  Technologic  nochnichteindeutigfestgelegt.tffuteflux1 
definierte  gegeniiber  seinen  Vorgangern:  ,,Eine  Maschine 
ist  eine  Verbindung  widerstandsfahiger  Korper,  welche  so 
eingerichtet  ist,  da5  mittels  ihrer  mechanische  Naturkrafte 
genotigt  werden  konnen,  unter  bestimmten  Bewegungen 
zu  wirken.y/  Dagegen  findet  es  Hartig*  zweckma'Biger,  zu= 
nachst  einen  allgemeineren  technologischen  Begriff  zu 
pra'gen :  Den  Begriff  Mechanismus. 

Ein  Mechanismus,  definiert  Hartig,  ist  ,,ein  kiinstliches 
korperliches  Gebilde,  welches  innere  Bewegungen  zula'ftt, 

1  F.  Rtuleaux,  wie  Scite  99  erwahnt.  Man  findet  in  dem  angc= 
fiihrtcn  Wcrkc  zahlreiche  Sltcrc  Dcfinitionen  der  Maschine. 

2  E.  Hartig,  Studien  in  der  Praxis  des  Kaiserlichen  Patents 
amtcs.  A.  Felix,  Leipzig  1890. 

104 


die  vermoge  dcr  Gcstalt  und  Widerstandsfahigkeit  sich  bc» 
riihrcnder,  ihm  selbst  ausschliefilich  angehorender  Ober« 
flachen  eindeutig  beschrankt  sind."  Vcrmittcls  dieses  all= 
gemeinen  Begriffes  lassen  sich  auf  bequeme  Weise  zu  gleU 
cher  Zeit  zwei  wichtige  Hauptbegriffe  der  Maschinen* 
theorie  formulieren. 

Unterscheidet  man  namlich  den  Leerlauf,  d.  h.  den« 
jenigen  Tatigkeitszustand  eines  Mechanismus,  bei  wel* 
chem  die  eingefiihrte  mechanische  Arbeit  durch  die  in- 
neren  Bewegungswiderstande  aufgezehrt  wird,  und  den 
Arbeitsgang,  d.  h.  den  Tatigkeitszustand  des  Mechanis* 
mus,  bei  welchem  von  der  eingeleiteten  mechanischen  Ar» 
beit  ein  dberschuB  zu  weiterer  Verwendung  nach  aufien 
abgegeben  wird,  so  erha'lt  man  die  beiden  Begriffe  Getriebe 
und  Maschine. 

Das  Getriebe  ist  ein  Mechanismus  im  Leerlaufe,  und  die 
Maschine  ist  ein  solcher  im  Arbeitsgange. 

Hiermit,  meint  Hartig,  wiirden  ^alle  die  qualvollen  lo= 
gischen  Bedenken  gehoben,  welche  Reuleaux  zu  dem  FehU 
schlusse  veranlafiten,  die  aus  der  tatsachlichen  Entwick= 
lung  der  Maschine  naturgema'B  hervorgehenden  techno* 
logischen  Begriffe,  Werkzeug  und  Rezeptor  (Triebzeug), 
als  fur  das  Verstandnis  der  Maschine  und  fur  die  Kon* 
struktion  des  logischen  Begriffes  derselben  ganzlich  un- 
brauchbar  zu  verwerfen". 

Wie  man  sieht,  ist  in  Hartigs  Begriff  der  Maschine  ihr 
aktives  Verhalten,  ihre  Funktion  eingeschlossen,  wogegen 
Reuleaux  entschieden  betonte:  ,,Die  Maschine  bleibt,  was 
sic  ist,  auch  wenn  sic  still  steht,  jahrelang  nicht  arbeitet, 
nie  gearbeitet,  nie  gedient  hat." 

Nach  der  Definition  von  Hartig  sind  die  Wippsteine  und 
die  islandischen  Springquellen  ebenso  wie  die  Balken= 

105 


wage  und  die  Taschenuhr,  welche  Reuleaux  zu  den  Ma« 
schinen  zahlte,  keine  ,,Maschinen",  sondern  vorerst  blofte 
,,Mechanismen",  die  auch  im  Zustande  der  Aktivitat  nur 
erst  zu  ,,Getrieben"  werden,  bis  man  sie  zur  Arbeits- 
leistung  benutzen  wiirde,  womit  sie  dann  in  den  Rang  einer 
,,Maschine"  kamen.  Dasselbe  korperliche  Gebilde  andert 
also  nach  dieser  Auffassungsweise  seinen  technologischen 
Begriff,  je  nachdem  wie  es  tatsachlich  gebraucht  wird.  Ich 
meine,  man  sollte  seinen  Begriff  doch  lieber  darnach  be« 
stimmen,  wozu  es  seiner  Konstruktion  nach  unter  den 
weitgehendsten  Anspruchen  gebraucht  werden  kann.  Daher, 
scheint  mir,  hat  Reuleaux  ganz  recht :  Die  Maschine  bleibt, 
was  sie  ist,  auch  wenn  sie  still  steht. 

* jf  u  welcher  Gedankenverwirrung  die  beschrankte  An« 
/  vg;/»k+  <jcr  technischen  Objekte  unter  dem  Gesichts= 
winkel  des  Organischen  gefiihrt  hat,  dafiir  bleibt  die  ,,Philo» 
sophie  der  Technik"  von  Kapp1  ein  warnendes  Denkmal. 
Ich  mochte  nicht  daran  voriibergehen ;  denn  kein  Gedanke 
ist  so  falsch,  daft  in  ihm  nicht  ein  richtiger  Kern  steckte, 
und  jeden  Irrtum  sollte  man  als  den  Wegweiser  zu  einer 
neuen  Wahrheit  betrachten. 

Kapp  lieB  sich  von  dem  Vergleich  zwischen  rnensch- 
lichen  Erfindungen  und  organischen  Naturprodukten  zu 
einem  metaphysischen,  hinterweltlichen  Prinzip  verfiihren. 
Er  nennt  es :  Das  Prinzip  der  Organprojektion. 

Hier,  kann  man  sagen,  haben  Schopenhauer  und  v.  Hart- 
mann  Boses  gezeugt,  indem  sie,  wie  alle  ihre  Zeitge= 
nossen,  auch  einen  Techniker  mit  jener  Metaphysik  des 
groften  UnbewuBten,  des  ,,Dinges  an  sich",  das  nach  in=» 

1  E.  Kapp,  Grundlinicn  cincr  Philosophic  der  Technik. 
G.  Westermann,  Braunschweig  1877. 

106 


discher  Denkart  den  unerf  ahrbarcn  Weltgrund  bilden  soil, 
formlich  hypnotisicrten.  Bis  in  die  Naturwisscnschaft  der 
Gegenwart  hinein  spukt  dieses  Gespenst  der  Willens- 
philosophie. 

,,Das  UnbewuBte",  denkt  Kapp  —  nein,  sagt  Kapp,  denn 
denken  kann  man  so  etwas  ja  gar  nicht,  weil  es  weder  in 
der  reellen  noch  in  der  ideellen  Sphare,  aus  welcher  alles 
zu  begreifende  Seiende  stammt,  vorkommen  soil  —  das 
UnbewuBte  produziert  den  Organismus.  Der  Organismus 
—  namlich  der  menschliche,  bewufite  Organismus  —  soil 
aber  seinerseits  das  technische  Objekt  produzieren. 

Betrachten  wir  nun  den  letzteren  ProzeB  bei  Lichte,  so 
zerfallt  er  in  zwei  Teile:  Die  bewufite,  logisch  verknup* 
fende,  aufgeklarte  Konstruktion  des  Erfinders  und  das  un» 
bewuBte,  instinktma'Bige,  im  unmittelbaren  Griff  zum  Aus» 
druck  kommende  Schaffen.  —  Sehr  schon,  dies  haben  auch 
wir  oben  schon  bemerkt.  Doch  betrachten  wir  das  letztere, 
das  ,,intuitive"  Erfinden,  jetzt  fur  sich,  so  erkennen  wir, 
meint  Kapp,  darin  nichtsanderes,  alsein  Produkt  derselben 
Art,  wie  es  das  grofie,  dunkle  Unbewufite,  der  Weltgrund 
bereits  im  Organismus  produziert :  Eine  Organprojektion. 

Die  Natur  schafft  ein  Auge  —  der  Mensch  erfindet  einen 
photographischen  Apparat:  Was  geht  hier  vor?  —  Das  Un« 
bewuftte  projiziert  zweimal  dasselbe  optische  System ! 

Oder  ein  anderer  Fall :  Die  Natur  produziert  das  Geriist 
der  Wande  im  Schenkelknochen  —  der  Ingenieur  erfindet 
den  Kran :  Eine  und  dieselbe  Projektion  eines  und  desselben 
Instruments! 

In  beiden  Fallen,  wie  in  alien  Erfindungen  iiberhaupt, 
erkennt  Kapp  mit  metaphysischem  Blicke  ,,die  Macht  des 
UnbewuBten  als  charakteristische  Eigenschaft  der  Organ= 
projektion".  In  der  weiteren  Vervollkommnung  des  voll* 

107 


standig  unbewuBt  einem  organischen  Vorbild  nachgebiU 
detcn  Mechanismus,  meint  cr  allerdings,  greife  das  Be* 
wufttsein  mehr  und  mehr  iiber  und  crscheine,  wcnn  ein» 
mal  ein  gcwisscr  Punkt  dcr  Vollkommenheit  errcicht  sci, 
von  da  an  bcinahe  als  alleiniger  Faktor.  —  ,,Und  doch ! 
Sollte  nicht  auch  hinter  solchen  mit  klarer  Absicht  zu= 
standegebrachten  Erfindungcn  der  Physik  und  Physiologic 
ein  Metaphysikalisches  und  Mctaphysiologisches  —  kurz 
Mctaphysik  dcs  Unbevx/uBtcn  wirksam  sein?" 

Daft  der  Hammer  den  Arm  mit  geballter  Faust,  der 
Bohrer  den  gesteiften  Zeigefinger  mit  seiner  Nagelscharfe, 
Zange  und  Schraubstock  das  Gebift  nicht  allein  bewuftt 
nachahmcn,  sondern  daft  diese  natiirlichen  Organe  und 
kiinstlichen  Werkzeuge  vielmehr  dicsclbcn,  aus  dem  un« 
bewuftten  Weltgrunde  entspringenden  Manifestationen 
eines  dunkeln  Dranges  darstellen,  ist  fur  Kapp  iiber 
jeden  Zweifel  erhaben.  Behauptet  er  doch  einfach  und  ge= 
radezu:  ,,Da5  die  organische  Projektion  dem  Werkzeug 
als  solchem  die  Form  verleiht,  darf  als  erwiesen  angesehen 
werden  ..." 

Welcher  Art  von  Beweisen  sich  unser  Philosoph  zuweilen 
bedicnt,  davon  nur  eine  Probe.  Er  bemerkt,  daft  Telegra= 
phenkabel  und  Nerven,  wie  man  leicht  sieht,  dieselbe 
Struktur  besitzen.  ,,Hatten  etwa  die  Manner,"  denkt  er  bei 
diesem  Anblick,  ,,denen  es  vor  anderen  gelang,  mittels  des 
elektrischen  Stromes  Nachrichten  in  die  Feme  zu  senden, 
vor  dem  ersten  Versuche  den  bewuftten  Vorsatz  gehabt  und 
ausgefiihrt,  einen  Nerv  zu  zergliedern,  plastisch  genau 
nachzukonstruieren,  und  eine  ihrem  leiblichen  Nerven= 
system  gleiche  Verzweigung  von  elektrischem  Gestrange 
iiber  den  Erdboden  zu  legen?"  —  Nein,  so  kindisch,  das  zu 
glauben,  ist  gewift  niemand ! 

108 


Es  mag  cin  tiefes  Ratsel  sein,  wie  es  moglich  ist,  daft  Na= 
tur  und  Mcnsch  dicselben  technischen  Objekte  und  sogar, 
wie  cs  scheint,  fiir  dieselben  Zwecke  herstcllen.  Aber  was 
haben  wir  davon,  wenn  uns  Kapp  mit  der  Formcl  dcs  Un= 
bewuftten  und  der  Projektion  seines  uns  ganzlich  unbe= 
kannten  Weltwesens  begliickt?  Wir  sind  ebenso  klug  wie 
zuvor,  nur  —  urn  eine  leere  Formel  reicher. 

Schon  Eyth  hatte  herbe  Kritik  an  ,,dem  Herrn  Profes* 
sor"  getibt,  dem  er  einmal  ins  Stammbuch  schrieb:  ,,Dafi 
die  wichtigsten  Erfindungen  der  Urzeit:  das  Weben,  Pfeil 
und  Bogen,  namentlich  auch  das  Feueranzunden,  sich 
schlechterdings  nicht  in  diese  Theorie  einfiigen  lassen,  liegt 
ebensosehr  auf  der  Hand,  als  daft  der  Urmensch,  sowenig 
als  das  Kind  von  hcute,  einen  Stock  mit  dem  Bewufttsein  in 
die  Hand  nimmt,  damit  eine  Verlangerung  seines  Armes 
erfunden,  oder,  wie  unser  Philosoph  sich  ausdriickt,  die 
Wirkung  des  Armes  in  die  Auftenwelt  projiziert  zu  haben. 
Aber  ein  Gelehrter  dieses  Schlages  ist  imstande,  zu  be* 
weisen,  daft  die  Erfindung  des  Feueranzundens  aus  dem 
Streben  hervorging,  den  VerbrennungsprozeB  in  den 
menschlichen  Lungen  in  die  Auftenwelt  zu  projizieren." 

Ahnliche  Gedanken,  wie  sic  in  Kapps  Kopfe  zum  ver» 
derblichen  Irrtum  wurden,  finden  sich  ubrigens  auch  bei 
anderen,  biologisch  gerichteten  Schriftstellern.  Joel1  z.  B. 
fiihrt  aus:  ,,Jeder  Organismus  ist  zugleich  ein  Organise- 
tionstrieb,  ein  Systembildner,  hat  die  Tendenz,  seine  Um* 
gebung  sich  anzugliedern,  eine  Sphare  zu  bilden,  ihm  Ent= 
sprechendes  anzuziehen,  Unpassendes  abzustoften  ..." 

7/Der  Organismus  ist  in  Wahrheit  ein  Organisationspro* 
zeft,  der  darum  uber  das  organische  Wesen  selbst  hinaus= 
schreitet."  . . .  Er  ist  7/ein  Wesen,  das  seine  Werkzeuge  in 
1  K.  Jrtl,  wie  Scitc  87  erwShnt. 

109 


sich  tragt,  das  aber  als  werkzeugbildende  Kraft  die  Ten- 
denz  hat,  auch  seine  Umgebung  sich  zu  assimilieren.  Der 
Organismus  verlangert,  erweitert  seine  Organe  durch  or« 
ganische  Werkzeuge.  . . .  Die  Instrumente,  die  Maschinen 
sind  nur  die  aufiere  Fortsetzung  des  Mechanismus,  den 
der  Organismus  in  sich  trdgt,  die  Erweiterung  seiner 
Mittel,  seiner  Zwischenursachen,  seiner  gebundenen 
Kausalitat."  .  .  . 

,,Auch  die  Naturerscheinungen,  die  wir  praktisch  nicht 
beherrschen,  werden  doch  praktisch  fur  uns,  wenn  wir  uns 
auf  sie  eingestellt  haben,  indem  sic  feste  Faktoren  in  tin- 
serer  Rechnung  werden,  indem  sie  uns  regelmaftig  wie  am 
Schniirchen  kommen  und  das  Erwartete  bringen,  indem 
sie  gleichma'ftige  Funktionen  fur  uns  erfullen,  wie  unsere 
Organe  und  Maschinen  —  verlaftliche  Diener,  wenn  auch 
nur  in  unserer  Rechnung  und  Auffassung." 

Auch  das  Unbewuftte  spukt  weiter.  So  schreibt  Braun1 
noch  1912:  ,,Als  den  schopferischen  Urgrund  alles  Existie- 
renden  haben  wir  das  metaphysische  Wesen  als  unbewufttes 
jenseitiges  Sein  anzusehen.  Wir  finden  diesen  unvorstelU 
baren  Urtrieb,  den  Schopenhauer,  Hartmann  und  H.  v. 
Stein  als  ,Wille'  oder  Drang  bezeichneten,  konkret  wirk- 
sam  als  die  fuhrende  Kraft  in  der  Entwicklung  vom  An« 
organischen  iiber  den  Kristall  zum  Organischen  und  von 
da  ttber  Pflanze  und  Tier  zum  Menschen."  —  Schopen- 
hauer wiirde  tief  geruhrt  sein,  wenn  ihm  in  Nirwana  er» 
zahlt  wiirde,  daft  seine  Gedankenlosigkeiten  noch  heute 
Schule  machen.  Denn  denken  kann  man  sich  dabei  wahr« 
haftig  nichts ! 

Ich  will  die  Zahl  der  Beweise  nicht  vermehren.  Es  gab, 

1  0.  Braun,  Grundrift  ciner  Philosophic  des  Schaffens.  Go- 
schen,  Leipzig  1912. 


wie  Icicht  zu  zeigcn  ware,  in  der  deutschen  Litcratur  cine 
Periode  der  biologischen  Hypnose,  wo  alles  auf  den  Satz 
hinaus  kam:  Leben  ist  Trumpf  —  namlich  Leben  bio* 
logisch,  naturalistisch,  deterministisch  verstanden. 

Auch  wir  sagen  freilich :  Leben  ist  Trumpf.  Aber  damit 
meinen  wir  etwas  ganz  anderes!  Wir  meinen  nicht  das 
dumpfe  Dosen  des  Unbewuftten,  dieses  holzernen  Eisens 
der  Philosophic,  sondern  die  schopferische,  unter  bewupten 
Ideen  stehende  Freiheit  dcs  Kulturlcbens,  nicht  jenen  die 
Tierreihe  fortsetzenden,  unbewuftten  Produktionsprozefi, 
der  aus  blindcm  Drangc  hervorbringt,  was  dann  im  Kampfe 
urns  Dasein  iibrig  blcibt. 

Doch  cinen  Satz  mochte  ich  noch  anfiihren,  worin  sich 
unsere  Auffassung  aus  dcm  biologischen  Nebel  herauslost. 
,,Der  Mensch  und  seine  Personlichkeit",  sagt  v.  Mayer1, 
,,organisieren  die  streitenden  und  mufiigen  Krafte  der  Um- 
welt,  verbinden  sie  technisch  zu  ihrem  und  der  Welt  Nutzen." 
Hier  findcn  wir  bereits  den  vom  subjektiven  Vcrhaltnis  zum 
Willen  losgclosten  Begriff  der  Organisiertheit  als  den  Be= 
griff  der  ,,technischen  Verbindung"  der  mtifjigen  Krafte  der 
Umwelt.  Und  hicrmit  wird  der  allgemeine  Begriff  des  Re= 
gulators  gefaftt,  der,  einerlei  auf  welche  Weise  entstanden, 
das  gegebene  wilde  Naturgcschehen  vermoge  seiner  Struk* 
tur  zum  geregelten  Prozcssc  macht,  oder,  wie  v.  Mayer  sagt, 
es  ,,organisiert". 

Anorganische  Natur,  Organismenwelt  und  die  geistig 
vorausschauenden  Menschen  besorgen  nun  unent= 
wegt  die  Organisierung,  d.  h.  die  Umgcstaltung  der  regeU 
losen  Massens  und  Energievertcilung,  die  Umformung  des 
chaotischcn  Zustandes  der  Matcrie  in  die  technische  Form. 
1  E.  v.  Mayer,  wic  Seitc  46  erwahnt. 

ill 


Wie  Fichte1  so  schon  gesagt  hat,  muft  die  Natur  im  Vcr= 
laufe  dicscr  Entwicklung  ,,allmahlich  in  die  Lage  eintreten, 
daft  sich  auf  ihren  gleichmaftigen  Schritt  sicher  rechnen 
und  za'hlen  lasse,  und  daft  ihre  Kraft  unverriickt  ein  be= 
stimmtes  Verhaltnis  mit  der  Macht  halte,  die  bestimmt 
ist,  sic  zu  beherrschen,  —  mit  der  menschlichen.  In« 
wiefern  dieses  Verhaltnis  schon  ist  und  die  zweckmaftige 
Ausbildung  der  Natur  schon  festen  Fuft  gewonnen  hat, 
soil  das  Menschenwerk  selbst,  durch  sein  bloftes  Dasein 
und  durch  seine  von  der  Absicht  seines  Werkmeisters  un* 
abhangigen  Wirkungen,  wiederum  in  die  Natur  eingreifen 
und  ein  neues  belebendes  Prinzip  in  ihr  darstellen  . . .  Und 
die  Sonne  soil  ihre  belebendsten  Strahlen  in  diejenige 
Atmosphare  ausstromen,  in  welcher  ein  gesundes,  arbeit* 
sames  und  kunstreiches  Volk  atmet." 

Dieses  belebende  Prinzip  der  Welt  sind  aber  die  Erfinder. 
Ihre  Geistesarbeit  ist  es,  die  wir  eine  so  erstaunende  Wir= 
kung  hervorbringen  sehen;  ihr  Werk  ist  die  mit  Riesen= 
schritten  zur  Vollendung  strebende  technische  Gestaltung 
der  Welt. 

Der  Begriff  der  Erfindung  ha'ngt  nun  mit  unserem  Thema 
so  eng  zusammen,  ja  er  deckt  sich  im  Wesen,  wie  ich  nach= 
her  zeigen  werde,  mit  dem  Begriffe  der  technischen  Wahr= 
heit  oder  des  technischen  Wissens,  daft  ich  hier  darauf 
eingehen  muB-  Nimmt  doch  auch  ein  grofter  Teil  der  Dis= 
kussion  Ciber  die  Technologic  als  Wissenschaft  erst  durch 
diesen  Begriff  hindurch  Beziehung  auf  seinen  Gegen= 
stand. 

Fragen  wir  also :  Worin  besteht  das  Wesen  einer  Erfin* 
dung?  Und:  Worin  besteht  ihr  objektiver  Wert?  — 

Dieses  vielumstrittene  Problem  versuchte  zuerst  Du  Bois- 
1  J.  G.  Fichte,  wie  Seite  83  erwahnt. 


Reymond1  mit  Hinsicht  auf  das  Patcntrccht  in  moglichst 
erschopfender  Wcise  zu  behandcln.  Die  Frage,  was  eine 
Erfindung  sei,  sagt,  Du  Bois,  ,,la'6t  zwei  Auslegungen  zu. 
Sic  ist  einmal  gleichbcdcutcnd  mit  der  Frage:  Was  vcrstcht 
der  Sprachgebrauch  unter  dem  Wortc  Erfindung?  —  Und 
zweitcns  mit  der  Frage:  Was  sind  die  gemeinsamen  und 
kennzeichnenden  Eigenschaften  aller  derjenigen  objcktiven 
Dinge,  die  mit  dem  Worte  Erfindung  bezeichnet  wer« 
den?  .  .  .  Die  eine  verweist  auf  eine  philologische,  die 
andere  auf  eine  technologische  Untersuchung." 

Du  Bois  will  von  den  realen  Erfindungen,  die  uns  auf 
alien  Seiten  umgcben,  also  von  der  Welt  der  technischen 
Objekte  ausgehen,  um  daraus  den  Begriff  der  Erfindung 
abzuleiten.  Diese  Methode  setzt  offenbar  voraus,  daft  aus 
dem  grofteren  Kreis  aller  realen  Erscheinungen  iiberhaupt 
der  mit  dem  Worte  „ Erfindung"  gemeinte  engere  Kreis 
der  ,,technischen  Objekte"  schon  deutlich  abgegrenzt  sei. 
—  Das  mag  wohl  der  Fall  sein;  indessen  fragt  sich  nun, 
ob  dieses  im  Sprachgebrauche  nach  konkreter  Anschauung 
abgegrenzte  Sammelsurium  von  Dingen  auch  logisch  und 
das  heiSt  durch  einen  exakt  definierten  Begrifl  abgegrenzt 
werden  kann. 

Das  letztere  wiirde  bei  der  bekannten  unlogischen  Be* 
schaffenheit  der  Menschen  und  deren  Sprache  der  groftte 
Zufall  sein  und  gilt  hier  sicher  nicht.  Deshalb  bleibt,  wie 
Du  Bois  sagt,  nichts  anderes  iibrig,  als  den  konkreten  Roh* 
stoff  zwischen  zwei  Grenzbegrifte  einzuschliefien,  namlich 
einen,  der  fur  den  gewohnlichen  Sprachgebrauch  zu  eng 
ist,  und  einen,  der  dafttr  zu  weit  ist.  Der  Theoretiker  wie 
der  Gesetzgeber  mag  sich  dann  diese  beiden,  je  durch  einen 
neuen  Fachausdruck  festgelegten  wissenschaftlichen  Grenz- 
1  A.  Du  Bois-Reymond,  wie  Scitc  102  erwShnt. 

8  Zschim me r,  Philosophic  der  Tcchnik  11? 


begriffe  dcr  ,,Erfindung  im  cngercn  und  weiteren  Sinne" 
zu  eigenmachen,  um  iiber  das  praktischc  Rccht  auf  gei= 
stiges  Eigcntum  zu  urteilen. 

Die  erste  Fragc  ist  also:  Was  lehrt  dcnn  die  alltag* 
liche  Erfahrung,  und  zu  welchen  Grcnzbegriffcn  des 
Sprachgebrauchs  fiihrt  sic  uns?  — 

DaS  das  Wort  Erfindung  etwas  fur  die  tcchnische  Wis« 
scnschaft  objektiv  Neues  bcdeutcn  soil,  ist  ganz  klar.  Abcr 
damit  ist  der  Charaktcr  dcr  Erfindung  noch  kcineswegs 
spczifisch  bestimmt.  Denn  jede  wissenschaftliche  Ent* 
dcckung  wie  auch  jede  originellc  kunstlerische  Schopfung 
wiirde  dasselbe  bedcutcn.  Es  fragt  sich  dahcr,  was  dcnn 
das  besondere  Neuc  ist,  welches  dcr  Erfindcr  zu  dem  Be= 
stande  der  Kultur,  odcr  sagen  wir  lieber  gleich,  zu  dem 
bestehcnden  Wisscn  von  tcchnischen  Moglichkeiten  hinzu» 
bringt,  indem  er  etwas  //erfindet"  oder  —  was  objektiv  das= 
selbe  ist  —  etwas  entdeckt. 

Eyth1  hatte  bercits  vier  Klasscn  von  Erfindungen  unter- 
schiedcn : 

1 .  Erfindungen,  die  neue  Mittel  zu  neuen  Zweckcn  dar- 
stellen.  Z.  B.  die  Montgolfiere,  die  Dampfmaschine,  das 
Spektroskop,  der  Wattsche  Regulator. 

2.  Erfindungen,  welchc  cin  ncues  Ziel  durch  bekanntc 
Mittel  erreichen.  Z.  B.  das  Untcrseeboot,  das  lenkbare 
Luftschiff  und  viclc  chemische  Erfindungen. 

3.  Erfindungen,  die  darauf  ausgehcn,  bekanntc  Ergeb= 
nissc  mit  neucn  Mittcln  zu  gcwinnen.  Z.  B.  neuc  Vcrfahren 
des  Buchdrucks,  neue  Wasserrader,  neuc  Gerbverfahren. 

4.  Erfindungen,  welchc  ein  bekanntcs  Mittel  odcr  Wcrk= 
zeug  zu  eincm  bekanntcn  Zweck  zum  erstcn  Male  anwen* 
1  M.  Eyth,  Wie  Scite  42  crwahnt. 

114 


den.  —  ,,Hier  nahern  wir  uns",  sagt  Eyth,  ,,dem  gefahr- 
lichen  Gebiet,  auf  dem  cine  gewisse  Verwirrung  der  Be= 
griffe  fast  unvermeidlich  1st,  und  wo  die  Grenze  zwischen 
wirklichem  Erfinden  und  bloftem  Konstruieren  und  Kom- 
binieren  fortwahrend  hin-  und  hergeschoben  wird."  Dahin 
gehort  das  gesamte  Eisenbahnwesen,  ja  auch  die  Loko* 
motive  Stephensons.  Denn  sowohl  die  Schiene  als  auch 
die  Dampfmaschine  waren  bekannt;  aber  beides  zu  kom« 
binieren  war  trotzdem  die  folgenreichste  Erfindung  des 
19.  Jahrhunderts. 

Hingegen  erhalten  wir  nun  von  Du  Bois-Reymond  eine 
andere  Antwort.  Es  bestehen,  sagt  er,  auf  der  einen  Seite, 
namlich  in  der  Natur,  gewisse  ,,technische  Moglichkeiten" 
—  wir  nannten  sic  oben  materielle  Freiheitsgrade  — ; 
anderseits  haben  die  menschlichen  Subjekte  gewisse  Be- 
durfnisse,  diese  Freiheitsgrade  zu  benutzen,  d.  h.  es  gibt 
mogliche  Wiinsche  —  ,,menschliche  Postulate". 

Unterscheidet  man  noch  das  Erfundene  oder  das  ,,/n- 
ventat"  als  solches  von  dem  Erfindungsakte  oder  der 
„  Invention",  so  ergibtsich,  wie  Du  Bois  ausfuhrt,  folgende 
Sachlage:  ,,Diejenigen  Kombinationen  von  Eigenschaften 
der  Materie,  welche  technische  Moglichkeiten  konstitu* 
ieren,  gehen  neben  denjenigen  Kombinationen  von  Eigen* 
schaften  der  Menschen,  welche  deren  Bedurfnisse  konsti» 
tuieren,  vollig  unabhangig  einher,  und  jedes  Inventat  ist 
eine  rein  zufallige  Koinzidenz  einer  technischen  Moglich= 
keit  mit  einem  menschlichen  Postulat."  —  Die  Entdeckung 
eines  solchen  Inventates  ist  die  Erfindung. 

Doch  so  ware,  sagt  Du  Bois,  unser  Begriff  zu  weit  gefaSt. 
Denn  eine  Koinzidenz  dieser  Art  ware  z.  B.  auch  der  See* 
weg  nach  Ostindien,  und  das  entspricht  nicht  dem  Sprach» 
gebrauch.  Dieser  gibt  der  Entdeckung  einer  konstanten 


Naturmdglichkeit  cntschiedcn  den  Vorzug,  ,,Erfindung" 
zu  sein,  vor  alien  denjenigen  Entdeckungen,  die  nur  einc 
ortlich  oder  zeitlich  beschrankte  gunstige  Gelegenheit  zeigen. 

Und  das  mit  Recht.  Denn  Konstruktionen,  die  auf  einem 
konstanten  Inventat  aufgebaut  sind,  sind  beliebig  wieder- 
holbar,  ,,ein  ewiges  Gut  der  Menschheit  und  daher  hoher 
zu  bewerten,  als  die  blofce  Erkundung  jener  gunstigen  Ge- 
legenheiten". 

Andererseits  wird  nun  hinsichtlich  des  Bedurfnisses,  wie 
Du  Bois  meint,  die  ,,Konstanz  der  menschlichen  Postulate" 
nicht  verlangt.  Damit  Erfindung  vorhanden  sei,  sagt  er, 
ist  es  nur  notig,  daft  irgend  ein  menschliches  Bediirfnis 
durch  cine  natiirliche  Moglichkeit  befriedigt  werde.  Es 
braucht  weder  ein  Bediirfnis  zu  sein,  das  von  alien  Men- 
schen  empfunden  wird,  noch  ein  Bediirfnis,  das  eine  Ian- 
gere  Lebensdauer  besitzt. 

Hier  aber  erhebt  sich  das  Problem  des  ,,objektiven  Wertes". 
Es  gilt  jetzt,  zwei  logisch  verschiedene  Wertbegriffe  zu 
trennen :  i .  Den  Wert  in  der  subjektiven  Bedeutung  jenes 
,,menschlichen  Postulats"  und  2.  Wert  im  objektiven 
Sinne1.  Unter  letzterem  ist  zu  verstehen,  wie  wir  friiher 
gezeigt  haben,  eine  das  Faktum  Kultur  spezifisch  charak- 
terisierende  Idee. 

Das  Besondere  der  gegebenen  Anschauung  der  Ge« 
schichte  wird  ,,objektiv  wertvoll",  wenn  es  eine  solche 
naher  zu  bestimmende  Ideenbezogenheit  besitzt,  wodurch 
es  eben  die  Kultur  mitkonstituiert.  Und  dieser  objektive 
Wert  ist  es,  der  auch  in  dem  praktischen  Urteil  iiber  Erfin- 
dung oder  Nichterfindung,  wenngleich  dunkel,  zum  Be= 
wufttsein  kommt;  es  ist  der  Wert,  den  die  Idee  der  Technik 

1  Diesen  Gcgcnsatz  hat  zum  crstcn  Male  klar  hcrausgearbeitet : 
F.  Munch,  wie  Seite  25  erwShnt. 

116 


allgemein  begrelft.  Er  ist  es,  der  den  wahren  Sinn  der  Erfin* 
dung  auf  rein  objektive  Weise  begriindet,  namlich  dadurch, 
daft  von  dem  Erfinder  eine  neue  Moglichkeit  aufgezeigt 
wird,  urn  das  wilde,  chaotisch  verlaufende  Naturgeschehen 
in  einer  bcstimmtcn,  und  zwar  nach  Belieben  bestimmbarcn 
Form  so  zu  regeln. 

Ich  definiere  also :  Die  Erfindung  ist  tin  fur  das  objek- 
live  technische  Wissen  neuer  Gedanke,  durch  welchen  erkannt 
wird,  wie  durch  einert  vom  Menschen  herstdlbaren  Regulator 
eine  in  der  Natur  nicht  von  selbst  vor  sich  gehende,  willkur- 
lich  zu  bewirkende  Regelung  von  Natur prozessen  in  bestimm- 
ter  Form  vorzunehmen  set. 

Ware  der  Gedanke  des  Erfinders  zwar  fur  diesen  sub- 
jektivt  aber  nicht  objektiv,  d.  h.  fur  die  bestehende  techno- 
logische  Wissenschaft  neu,  so  ware  dieser  Gedanke  ganz 
einfach  eine  bekannte  technische  WahrheitI  aber  keine  Er- 
findung. Ebenso  wird  ja  auch  jede  naturwissenschaftliche 
Entdeckung  nur  insofern  als  eine  ,,Entdeckung"  bezeich- 
net,  als  ihr  wesentlicher  gedanklicher  Gehalt  fur  die  der- 
zeitige  Naturwissenschaft  etwas  Neues  ist.  Objektive  Neu- 
heit  ist  in  beiden  Fallen  das  gemeinsame  Merkmal  zum 
Unterschiede  von  der  gewufiten  Wahrheit  schlechthin. 

Man  sieht,  daft  hierin  Eyths  Definitipnen  der  vier  Klas- 
sen  von  Erfindungen  allgemein  einbegriffen  sind.  Das 
,,Mittel"  bei  Eyth  ist  bei  mir'der  „ Regulator ";  der 
,,Zweck"  ist  die  ,,Regelung".  Neu  sein  kann  i.  beides, 
2.  nur  die  Regelung,  3.  nur  der  Regulator,  4.  keines  von 
beiden,  wohl  aber  das  Sicheignen  eines  bekannten  Rcgula= 
tors  zu  einer  bekannten  Form  der  Regelung  der  Natur= 
prozesse. 

Setzt  man  bei  Du  Bois-Reymond  statt  7/menschliches  Po» 
stulat"  den  objektiven  Begriff  der,, Regelung  von bestimmter 

117 


Form",  so  befindet  sich  auch  dessen  Definition,  insofern 
sic  von  der  subjektivcn  Einkleidung  bcfreit  wird,  wie  mir 
scheint,  in  Obereinstimmung  mit  meiner  durch  die  Idee 
der  Technik  begriindeten  Formulierung  des  Begriffs  der 
Erfindung. 

Tm  Patentgesetz  des  Deutschen  Reiches1  vom  7.  April  1891 
Istcht  nun :  ,,Patente  werden  erteilt  fiir  neue  Erfindungen, 
welche  eine  gewerbliche  Verwertung  gestatten  . . .  Eine 
Erfindung  gilt  nicht  als  neu,  wenn  sie  zur  Zeit  der  auf 
Grund  dieses  Gesetzes  erfolgten  Anmeldung  in  6ffent= 
lichen  Druckschriften  aus  den  letzten  hundert  Jahren  be» 
reits  derart  beschrieben  oder  im  Inlande  bereits  so  offen* 
kundig  benutzt  ist,  daft  danach  die  Benutzung  durch  andere 
Sachverstandige  moglich  erscheint." 

Der  Gesetzgeber  schlieftt  hier  merkwiirdigerweise  das 
Moment  der  objektiven  Neuheit  des  Gedankens  in  den 
Begriff  der  Erfindung  nicht  mit  ein.  Und  doch  ist  — 
wenigstens  von  der  Seite  des  schaffenden  Technikers  aus 
betrachtet  —  die  Neuheit  gerade  ein  wesentliches  Moment. 
Kein  Techniker  wiirde  einen  vorgelegten  Gedanken,  d.  h. 
eine  technische  Wahrheit,  als  eine  Erfindung  bezeichnen, 
wenn  der  betreffende  Gedanke  zur  Zeit  seines  Bekannt= 
werdens  fiir  das  objektive  Wissen,  d.  h.  fiir  die  Techno* 
logie,  nicht  neu  ware  und  also  nicht  eine  Errungenschaft 
bedeutete,  deren  Verdienst  sich  eben  derjenige  Mensch  zu* 
schreiben  darf,  der  ihn  zuerst  findet. 

Selbstverstandlich  gilt  dasselbe  auch  fur  jede  rein  theo» 
retische,  d.  h.  gewerblich  nichts  einbringende  Erkennfc* 
nis  oder  Beobachtung,  die  man  seinerzeit,  als  sie  fiir  die 

1  Vgl.  Taschenbuch  des  gewcrblichen  Rechtsschutzes.  C.  Hey« 
mann,  Berlin  1912. 

118 


Wisscnschaft  cinmal  ncu  war,  eine  ,,Entdeckung"  nannte, 
und  deren  Verdicnst  wiederum  bcstimmten  Menschen  zu= 
geschriebcn  wurdc  —  freilich  mit  dem  Unterschied,  daft 
diesc  anstatt  des  Geldes  nur  die  Ehre  davontrugen.  Aller= 
dings  kniipft  sich  auch  an  wissenschaftliche  Ehrcn  haufig 
eine  entsprechende  Besoldung,  worin  ebenfalls  die  Rechts= 
idee  zur  Geltung  und  zum  Problem  werden  kann.  Damit 
habe  ich  mich  aber  nicht  auseinanderzusetzen ;  denn  dieses 
Problem  gehort  in  die  Philosophic  des  Rechts. 

Ob  der  Erfinder  das  Gliick  hattc,  seine  Erfindung  ganz 
miihelos  unter  dem  Walten  eines  giinstigen  Zufalls  zu  fin* 
den,  oder  ob  es  ihn  jahrelanger  geistiger  Anstrengung  ge= 
kostet  hat,  den  Gedanken  zu  fassen,  und  ob  er  die  Absicht 
hatte,  jene  so  wertvolle  Regelung  des  Naturgeschehens  vor= 
zunehmen,  die  ihm  gewinnbringend  schien,  oder  ob  ihm 
das  Resultat,  ohne  daft  er  danach  gesucht  hatte,  in  den 
Schoft  fiel,  kommt  bei  der  objektiven  Bewertung  des  Fak= 
turns  gar  nicht  in  Betracht.  Subjektiv  bleibt  es  natiir= 
lich  ein  Riesenunterschied,  ,,wie"  die  Erfindung  ,,gemacht 
wurde".  —  Logisch  gleichgultig  fur  den  Begriff  der  Er= 
findung  ist  auch  das  Moment  des  rechtlichen  Anspruchs 
ihres  Erfinders  als  des  geistigen  Eigentumers  derselben. 

Wohl  aber  ha'ngt  die  Patentfdhigkeit  nicht  allein  ab  von 
der  Entscheidung  der  quaestio  facti,  ob  in  dem  objektiv 
definierten  Sinne  eine  Erfindung  vorliegt;  sondern  sie  ist 
vielmehr  eine  quaestio  juris.  Das  quid  juris  der  Patents 
erteilung  bestimmt  sich  nach  den  Gesichtspunkten  einer 
spezifischen  Bewertung  von  ganz  anderer  Art,  einer  Wer= 
tung,  bei  der  die  Rechtsidee  und  nicht  die  Idee  der  Tech= 
nik  das  Letztbegriindende  ist1. 

1  Man  vergleiche  hicrzu  F.  Miinchs  Kritik  zu  E.  Jung,  Das 
Problem  des  naturlichcn  Rechts.  Zcitschr.  f.  Rechtsphilo* 

119 


Man  denkc  nun  nicht,  dafi  die  Welt  etwa  auf  die  um= 
walzenden  Originalgedanken  der  Erfinder  wartete, 
um  sie  koniglich  zu  belohnen.  Im  Gegenteil!  ,,Wenn  ihre 
Gedankenblitze",  sagt  Eyth1,  ,,nicht  imstande  sind,  zu 
einem  korperlichen  Dasein  zu  gelangen,  so  sind  sie  ein 
wertloses  Nichts,  verganglicher  als  die  Blaschen  in  einem 
Glase  Sekt.  Bis  hierher  war  es  der  Genufj ;  nun  erst  beginnt 
die  eigentliche  Arbeit  des  Erfinders :  Die  Ausfiihrung,  die 
Materialisierung  des  Gedankens,  derzweite  Aktdessen,  was 
ebensooft  eine  erschutternde  Tragodie  wie  ein  glanzen* 
des,  weltbewegendes  Schauspiel  geworden  ist.  ..." 

,,Die  Erfindungen  haben  die  groftte  Not,  den  Widerstand 
zu  iiberwinden,  mit  dem  ihnen  eine  wohlgeordnete,  im 
groften  und  ganzen  selbstzufriedene  Welt  von  alien  Seiten 
entgegentritt/'  Auch  ist  nicht  das  Bedurfnis,  wie  oft  ange* 
nommen  wird,  die  Mutter  der  groften  Erfindungen.  ,,Wir 
konnen  uns  heute",  wie  Eyth  sagt,  ,,ein  Dasein  ohne  Eisen« 
bahn  kaum  mehr  vorstellen.  Und  doch  fiihlte  kein  Mensch 
dieses  Bedurfnis,  weder  als  Stephenson  seine  erste  Loko* 
motive  bei  Darlington  versuchte,  noch  als  in  Deutschland 
im  Jahre  1835  die  erste  kleine  Bahn  von  Fiirth  nach  Niirn» 
berg  eroffnet  wurde  und  der  geniale  Friedrich  List  im 
Kampfe  fiir  Ideen  zugrunde  ging,  ohne  die  wir  heute  nicht 
mehr  leben  konnten.  . . ." 

Und  horen  wir  noch  ein  merkwiirdiges  Schicksal,  wie  es 
Eyth  so  witzig  schildert:  ,,Es  war  ein  jahrhundertlanges 
Wandern  des  urspriinglichen  Gedankens  von  einem  Land, 
von  einem  Weltteil  zum  andern,  bis  Fulton,  ein  Maler  von 
Beruf,  sein  erstes  erfolgreiches  Dampfschiff,  ausgestattet  mit 

sophie  1,  in  (1913).  Ferner:  E.  Hartig,  wie  Seite  104  era 
wahnt,  und  A.  Pilenko,  wie  Seite  89  erwahnt.  l  M.  Eyth,  wie 
Seite  42  erwahnt. 


eincr  englischen  Maschinc  von  Watt,  auf  dem  amcrikani» 
schen  Hudson  in  Bewegung  setzte.  Hierbci  war  zweifellos 
das  lebhafte  Gefiihl  des  Bediirfnisses  dcr  kommenden  Zcit 
die  treibcnde  Kraft,  mehr  als  dcr  freudigc  Gedankenblitz 
eincs  Papin,  der  zu  all  dem  den  Anstoft  gegcben  hatte." 

Mit  dem  Versuch,  das  erdachte  ideelle  Objekt  nur  erst 
in  die  Wirklichkeit  umzusetzen  und  dadurch  zu  beweisen, 
daft  es  in  Wahrheit  cine  ,,Erfindung"  ist,  beginnt  in  der 
Tat  haufig  die  eigentliche,  bewundernswerte  Leistung. 
Und  auch  diese  kann  iibertroffen  werden  von  den  An* 
strengungen,  die  gemacht  werden  miissen,  um  ein  gluck» 
lich  realisiertes  Objekt  ,,industriell  lebensfahig"  zu  ma* 
chen.  ,,Das  Leben  eines  Inventats",  sagtDuBois1,  ,,istvon 
drei  Dingen  abhangig:  i.  Von  dem  Fortbestand  des  zu» 
gehorigen  Bedurfnisses,  z.  von  der  Moglichkeit  der  Be* 
schaffung  der  materiellen  Herstellungsbedingungen,  wie 
des  Herstellungsmaterials,  der  Herstellungswerkzeuge  und 
dgl.,  und  3.  von  dem  Fortbestand  der  Fahigkeit  der  Zunft, 
unter  Benutzung  dieser  Hilfsmittel  das  Inventat  zu  repro» 
duzieren."  —  7/Solange  alle  Gefahren  der  bosen  Welt  durch 
liebevolle  Ha'nde  von  der  Erfindung  ferngehalten  werden, 
kann  sie  wohl  ,gehen'.  Haufig  genug  ist  es  schon  ihr  Tod, 
daS  sie  zu  friih  in  die  Ha'nde  eines  fremden  Pflegers  ge« 
geben  wird,  dem  die  Elternliebe  abgeht.  ...  Ist  aber  diese 
Kindheitsperiode  iiberwunden,  so  beginnt  erst  eigentlich 
der  dritte  Akt  des  Erfindens,  die  selbstandige  Entwicklung 
des  neuen  Weltbiirgers.// 

Auf  die  erste  Frage  des  Technikers :  Geht  es  iiberhaupt? 
folgt  fur  ihn  mit  der  Frage,  wie  es  geht,  eine  neue  sachtiche 
Sorge.  Ist  einmal  erwiesen,  daft  ein  Objekt  als  Regulator 
von  Naturprozessen  einem  Zwecke  iiberhaupt  dienlich  ist, 
1  A.  Du  Bois-Reymond,  wie  Seitc  102  erwShnt. 

121 


so  fragt  sich  nun  naher,  ob  die  entdeckte  Form  dcs  Dingcs 
auch  schon  die  zweckmapige  ist.  Denn  Zwzckdienlichkeit 
und  Zweckma/0/gfo/f  ist  keineswegs  dasselbe.  Diese  bei* 
den  Begriffe  diirfen  ebensowenig  verwechselt  werden  wie 
etwa  Zweckdienlichkeit  und  Sparsamkeit  oder  Zweck= 
dienlichkeit  und  Schonheit  desselben  konkreten  Gegen* 
standes. 

DaB  wir  heute  die  Zweckmaftigkeit  mit  der  Zweckdien- 
lichkeit  gleichsam  unter  einem  kategorischen  Impera= 
tiv  in  Verbindung  bringen,  ist  eines  der  charakteristischsten 
Merkmale  unserer  Denkweise.  Es  ist  der  moderne  Ratio= 
nalismus,  wovon  das  Mittelalter  kaum  cine  Ahnung  hatte. 

Friiheren  Zeiten  gait  es  als  eine  selbstverstandliche  For= 
derung  fiir  den  Erfinder,  daft  mit  der  Zweckdienlichkeit 
seines  Werkes  die  Schonheit  zu  verbinden  sei.  Selbst  wer 
sterben  oder  einen  anderen  umbringen  wollte,  suchte  dem 
Werkzeug  dazu,  dem  Dolch,  dem  Schwert,  ein  schone  Form 
zu  geben. 

Ja,  in  der  Urzeit  sollte  alles,  was  der  Mensch  mit  tech* 
nischen  Mitteln  tat,  sogar ein  Gottesdienst  sein.  ,,Das  Feuer", 
behauptet  Geiger1 ,  ,,ist  eine  religiose  Entdeckung;  es  ist 
aus  der  Gotterverehrung  entsprungen  in  Zeiten,  wo  die 
Menschen  ein  praktisches  Bediirfnis  zu  seiner  Gewinnung 
noch  gar  nicht  empfanden  und  andererseits  des  Nachden= 
kens  iiber  eine  technische  Erfindung,  wie  die  des  Reib= 
feuerzeugs,  noch  gar  nicht  fa'hig  waren.  . . .  Wenn  die  wei= 
sen  Manner  der  indischen  Vorzeit  beim  Grauen  des  Mor= 
gens,  die  Blicke  erwartungsvoll  nach  Osten  gerichtet,  wo 
der  leuchtende  Gott  ihnen  erscheinen  sollte,  den  Wirbel 

1  L.  Geiger,  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit. 
2.  Aufl.  Cotta,  Stuttgart  1878. 

122 


der  Himmelsbewegung,  dcr  die  heilvolle  Erschcinung  des 
neuen  Tages  emporzufiihren  sich  anschickte,  mit  der  Dre= 
hung  der  beiden  Holzstucke  ...  vorbildeten;  wenn  sie 
durch  dieses  unverbriichlich  wiederholte  heilige  Werk  in 
ihrcm  naiven  Glauben  die  Umwalzung  des  Himmels  zu 
unterstiitzen,  zu  befordern  meinten,  und  wenn  dann  im 
Mittelpunkte  des  kleinen  Weltbildes,  das  sie  in  ihren  Han= 
den  bewegten,  plotzlich  der  Funke  aufleuchtete,  wie  dort 
oben  in  der  groften  Himmelswelt  die  wundervolle  majesta= 
tische  Flamme  der  Morgensonne:  Welch  ein  Schauer  der 
Freude  und  Ehrfurcht  muftte  alsdann  die  Herzen  ergrei« 
fen,  da  der  groSe  Gott  des  Himmels,  Agni,  selbst  in  ihr 
Heiligtum  herabgestiegen  war,  bei  ihrem  Opfer  zu  Gaste 
saB,  es  als  Priester  selbst  im  Rauche  zum  Himmel  empor* 
trug !" 

Und  spa'ter  bleibt  der  Gebrauch  technischer  Objekte  noch 
lange  Zeit  ein  Akt  in  Schonheit,  wie  ja  auch  wir  im  20.  Jahr- 
hundert  noch  gern  in  schonen  Hausern  mit  schonen  Mo* 
beln  und  Geraten  leben. 

Erst  mit  dem  Geiste  der  Wissenschaft  erwacht  der  Sinn 
und  die  Freude  an  der  Zweckmaftigkeit.  Das  moderne  tech» 
nische  Objekt  ist  nichts  anderes  als  konkrete  Naturwissen= 
schaft.  Wie  Munck1  ¥Bft  <kn  Kuiulwtfkan  sagt,  ,,jedes 
einzelne  ist  eine  konkrete  Idee,  ein  konkretes  asthetisches 
Sinngefiige,  eine  kunstlerisch  geltende  Sinninhaltlichkeit'', 
so  wird  das  Werk  des  Ingenieurs  im  19.  Jahrhundert  zur 
Materialisierung  wissenschaftlicher  Einsichten  und  er« 
scheint  daher  geradezu  als  stoffgewordene  Logik. 

Trotzdem  verwechseln  noch  heute  viele  den  technischen 
Zweckma'Sigkeitscharakter  eines  Dinges  mit  seiner  Schon* 
heit.  Offenbar  setzt  man  die  gemeinsame  Freude,  die  glei= 
1  F.  MUnch,  wie  Seitc  25  erwShnt. 

125 


chcn  Lustgeftihle  des  Beschaucrs,  die  dieser  bci  eincm 
zweckmaftigen  wohl  cbcnso  wie  bci  einem  schonen  Gegen= 
stande  cmpfindet,  an  Stclle  der  ganz  verschiedencn  ob- 
jektiven  Strukturen. 

So  behauptet  z.  B.  unscr  vcrehrtcr  Dichtcr  Eyth1:  wEs 
gibt  schone  und  haftliche  Lokomotiven."  Das  mag  scin. 
Abcr  dann  fa'hrt  er  nicht  ganz  richtig  fort:  ,,Die  schonste 
Maschine,  genau  wie  die  schonste  Rennstute,  ist  stets  die, 
bei  der  die  auftere  Form  in  moglichst  einfacher  Weise  und 
mit  moglichstem  Hcrvortreten  der  physikalischen  und  me* 
chanischen  Gesetze  dem  Zweck  entspricht,  dem  Pferd  oder 
Maschinc  dienen  sollcn.  Um  das  herauszuftihlen,  dazu  ge= 
hort  allerdings  die  erforderliche  Kenntnis  oder  vielmehr 
das  aus  der  Kenntnis  erwachsene,  unbewuftte  Empfinden, 
das,  wo  es  sich  um  langst  bekannte  Dinge  handelt,  ange= 
boren  sein  kann,  das  aber  bei  Dingen  unseres  modernen 
Lebens  erlernt,  gebildet  werden  muft." 

Eyth  erinnert  an  die  Schonheit  der  griechischen  Pokale, 
iiberhaupt  der  griechischen  Cerate.  ,,Es  ist  widersinnig," 
sagt  er,  ,,anzunehmen,  daft  ein  Gerat  die  Moglichkeit  des 
Schonseins  in  hoherem  Grade  besitzen  sollte  als  eine  Ma- 
schine,  die  ein  Gerat  zweiter,  hoherer  Ordnung  ist,  das  Be= 
wegung  und  ein,  ich  mochte  sagen,  in  sich  selbst  abge= 
schlossenes  Leben  hat.  ...  Die  Schonheit  muft  aus  der 
Sache  selbst  herauswachsen." 

Nein,  das  muft  sic  nicht!  Aus  einer  technischen  Sache 
wachst  von  selbst  nicht  Schonheit  heraus.  Sie  muft,  bei 
aller  technischen  Vollkommenheit,  zugleich  ergriffen  wer= 
den  von  der  schopferischen  Hand  eines  Kunstlers.  Nur 
dieser  kann  das  ^weckma'ftige"  Produkt  der  Technik  noch 
in  ein  7,sch6nes"  umschaffen.  — Moglich  aber  ist  das,  weil 
1  M.  Eyth,  wie  Scite  42  erwShnt. 

124 


jedes  konkrete  Ding  nicht  allein  unter  dcm  Naturgesetz, 
sondern  auch  noch  unter  dem  Gesetz  dcr  technischen  ratio 
unendlichc  Freiheitsgrade  in  seiner  anschaulichen  Gestal= 
tung  offen  la'St. 

Einen  Gegenstand,  der  aus  technischen  Griinden  so  sein 
mufite  wie  er  ist,  gibt  es  nicht.  Zu  welchem  Zwecke  er 
auch  dienen  moge,  in  seiner  Form  bleibt  stets  ein  freier 
Spielraum  von  gleich  gut  dienlichen  Varianten  bestehen, 
unter  denen  nun,  nach  anderen  Prinzipien,  enger  ge- 
wahlt  werden  kann.  Und  eines  dieser  anderen  Prinzipien 
ist  eben  die  Schonheit  seiner  Gestalt.  Ein  Meister  kann 
herzutreten,  der  aus  dieser  Freiheit  innerhalb  der  Gren« 
zen  der  Natur  und  Technik  noch  Schonheit,  d.  h.  jene 
kunstlerische  Ideenbestimmtheit  macht,  die  sich  als  ein  selbst* 
standiger,  mit  anderen  unvergleichbarer  Wert  in  allem 
findet,  was  echte  Kunst  darstellt  —  natiirlich  nur  fur  den, 
der  imstande  ist,  es  zu  sehen. 

Der  heutige  Techniker,  der  zugleich  Naturforscher  ge« 
worden  ist,  kann  gar  nicht  mehr  anders,  als  das  kon- 
krete Geschopf  seines  Geistes,  sobald  es  einmal  das  Licht 
der  Welt  erblickt  hat,  kritisch  zu  prufen. 

Was  in  dunklem  Drange  des  ersten  Schaffens  entstand, 
geht  ihm  jetzt  gewissermaBen  personlich  nichts  mehr  an. 
Er  betrachtet  die  neuentdeckte  Tatsache  wie  jedes  fremde 
Ding  der  Natur;  er  durchdenkt  sic  mit  mathematischer 
Kiihle  —  ganz  im  Gegensatz  zum  Kiinstler.  Denn  sie  ist 
ihm  von  jetzt  ab  ein  reelles  Naturobjekt,  das  alle  Gesetz- 
maftigkeit  der  iibrigen  Naturobjekte  in  sich  hat  und  inso« 
fern  ein  theoretisches,  streng  wissenschajtliches  Problem:  Das 
Problem  der  Zweckmafiigkeit. 

Aber  was  hciBt  nun,  das  Objekt  soil  einem  Zwecke  nicht 

125 


allein  dienlichf  sondern  auch  moglichst  vollkommen  gemafi 
sein?  — 

,,Der  Zwcck  1st  das  Maft  des  Zweckmaftigen",  sagt 
Dietzgen1  ganz  richtig.  ,,Nur  auf  Grund  eines  gegebenen 
Zweckes  laftt  sich  das  Zweckma'Sige  bestimmen."  Und  im 
Sinnc  der  ^Maftigkcit"  steckt  offenbar  das  MaS,  das 
Messen. 

Wo  abcr  gemcsscn  wird,  ist  Mathematik  und  cxaktes 
Wisscn  am  Platze.  Das  Objekt  wird  in  quantitative  Form 
gcbracht  und  damit  von  Konstruktion  und  Bercchnung, 
kurzum  von  Thcoric  erfaSt.  Und  dasselbe  gilt  vom  Zwecke, 
nach  welchem  das  Objekt  ,,sich  richtet",  an  dem  es  seine 
theoretische  „  Richtigkeit"  zu  bewahren  hat. 

Der  Zweck  ist  die  materielle  Freiheit,  die  das  Objekt 
dem  Leben  gibt:  Das  Fahren,  das  Fliegen,  das  Fern* 
sprechen  usw.  Er  ist  der  Akt,  fiir  welchen  der  Regulator 
des  Naturgeschehens  von  dem  Erfinder  geschaffen  wurde. 
Ohne  die  exakte  Theorie  dieses  Naturprozesses  mit  dem 
Objekt  in  der  Mitte  ist  keine  theoretische  Richtigkeit  und 
also  auch  keine  Zweckma'Sigkeit  des  letzteren  im  strengen 
Sinne  denkbar.  Die  Frage  lautet  also  genauer:  Was  be- 
deutet  die  theoretische  Richtigkeit  vom  Menschen  erfundener 
Regulatoren  zur  Regelung  theoretisch  bestimmter  Naturpro- 
zesse? 

Jeder  exakt  bestimmte  ideelle  Regulator  ergibt,  sobald  er 
eingeschaltet  ist,  einen  auf  Grund  der  Naturgesetze  exakt 
bestimmten  ideellen  Verlauf  des  Geschehens,  das  er  regeln 
soil,  oder,  physikalisch  ausgedruckt,  einen  bestimmten  Ver- 
lauf der  Energieumwandlungen,  der  Energietransforma- 
tionen  von  bestimmten  Formen  und  Resultaten.  Ist  ein  sol- 
cher  Regulator  reell  vorhanden,  wie  z.  B.  eine  wirkliche 
1  J.  Dietzgen,  wie  Scitc  60  erwShnt. 

126 


Dampfmaschine,  so  la'fit  sich  seine  Wirkung  rein  wissen= 
schaftlich  berechnen. 

Wiirde  nun  das  Problem  des  Erfinders  dahin  gestellt  ge» 
wesen  sein,  die  reelle  Wirkung  eben  dieser  reellen  Maschine 
zu  erreichen,  so  wiirde  man  seinen  Regulator  zweifel* 
los  den  ,,theoretisch  richtigen"  nennen.  Denn  er  realisierte 
ja  auf  das  vollkommenste  die  beabsichtigte  Regelung  des 
Naturgeschehens.  Er  ware  alsodann  ,,absolut  zweckmapig" , 
weil  seine  reelle  Wirkung,  wie  man  auch  haufig  sagt, 
,,ideal"  sein  wiirde.  Wie  hieraus  erhellt,  bedeutet  volU 
kommene  Zweckmaftigkeit  nichts  anderes  als  theoretische 
Richtigkeit  oder  Idealitat  eines  technischen  Objekts.  Das 
meint  auch  wohl  Du  Bois-Reymond1 ,  wenn  er  ,,die  VolU 
kommenheit  der  technischen  Losung"  als  die  ,,Vollkom« 
menheit  der  Deckung  zwischen  der  gefundenen  techni« 
schen  Moglichkeit  und  dem  Postulat,  das  sie  befriedigen 
sollte",  bezeichnet. 

In  Wirklichkeit  gibt  es  keine  absolute  Zweckma'Bigkeit. 
Es  gibt  nur  Z weckdienlichkeit,  welche  einen  mehr  oder  min= 
der  hohen  Grad  von  Zweckmafiigkeit  besitzt.  Ein  unend* 
liches  und  allerdings  wesentliches  Ziel  alles  technischen 
Schaffens  ist  daher  zweifellos  die  immer  hohere  Steigerung 
der  bereits  vorhandenen  Zweckmafiigkeit  in  der  technis 
schen  Welt  oder  mehr  noch :  Die  Erfindung  immer  neuer 
technischer  Objekte,  welche  die  ideell  bestimmten  Zwecke 
schon  von  Haus  aus  in  zweckma'Sigerer  Form  erreichen, 
als  es  die  vorhandenen  tun. 

Eine  wichtige  Kategorie  dieser  ideell  bestimmten  Zwecke 
la'Bt  sich  erkennen  in  dem  Prinzip  der  Kiirze,  in  seinen 
drei   Hauptformen,   die  wir  etwa  bezeichnen  konnen  als 
1  A.  Du  Bois-Reymond,  wie  Scite  102  erwahnt. 

127 


das  Prinzip  des  klcinstcn  Raums,  das  Prinzip  dcr  kleinsten 
Zeit  und  das  Prinzip  dcr  kleinsten  Energie. 

Hat  man  im  erstrebten  Zwecke  diese  Bestimmtheit  —  die 
Bestimmtheit  der  ,,Kiirze"  —  im  Auge,  dann  nattirlich  wird 
die  moglichste  Zweckmaftigkeit  des  Objekts  in  derjenigen 
Struktur  desselben  bestehen,  welche  cine  moglichste  Ver» 
kiirzung  von  raumlichen,  zeitlichen  oder  energetischen 
Groften  bedingt.  Verkehrt  aber  ware  es,  daraus  einen  all- 
gemeinen  Imperativ  fur  die  Technik  abzuleiten.  Ein  tech« 
nisches  Objekt  kann  sehr  wohl  zweckmaftiger  sein  als  ein 
anderes  und  doch  verschwenderischer  in  bezug  auf  den 
Raum,  die  Zeit  oder  die  Energie. 

Von  Ostwald1  wurde  behauptet,  ,,da6  tatsachlich  jede 
einzelne  Form  unserer  systematischen  Kulturentwicklung 
ihre  Berechtigung  und  auch  ihre  Wertstufe  durch  das  Maft 
erhalt,  in  welchem  ihr  die  Losung  der  Aufgabe  gelungen 
ist,  eine  moglichst  gro5e  Leistung  mit  einem  moglichst  ge* 
ringen  Energieaufwand  zu  bewerkstelligen."  Er  verlangt 
die  unbedingte,  kategorische  Geltung  des  ^energetischen 
Imperativs" :  ,,Vergeude  keine  Energie,  verwerte  sie!" 
als  oberstes  Prinzip  der  Technik. 

Auch  Ostwald  ist  einer  von  denen,  die,  wie  so  viele 
seiner  Zeitgenossen,  vom  Biologismus  hypnotisiert  worden 
sind.  Er  beurteilt  die  Technik  noch  im  Rahmen  jener  orga- 
nischen  Beschranktheit,  die  wir  bereits  als  verderblich 
kennen  gelernt  haben.  ,,Die  niedersten  Organismen", 
sagt  er,  ,,sind  im  allgemeinen  die  schlimmsten  Energiever* 
geuder,  weil  sie  durch  ihren  Korper,  der  als  Universalapparat 
dienen  mu§,  nur  in  sehr  unvollkommener  Weise  die  ihnen 
zu  Gebote  stehende  Energie  verwerten  konnen.  Jedes  neue 
Organ,  das  sich  fur  den  bestimmten  Zweck  besonders  ent* 
1  W.  Ostwald,  wie  Scitc  22  crwShnt. 

128 


wickelt,  bedcutet  eine  Verbesserung  des  Gtiteverhaltnisses 
eben  der  Energicart,  fiir  deren  Perzeption  oder  Betatigung 
es  ausgebildet  worden  1st." 

,,Ein  wohl  entwickelter  Muskel,  dcr  sich  in  seinen  opti= 
malen  Funktionsverhaltnissen  befindet,  vermag  etwa 
40  Prozcnt  dcr  vcrbrauchtcn  chcmischcn  Encrgie  in  me= 
chanische  Arbeit  umzusctzen.  . . .  Es  gehort  eine  sehr  be* 
trachtliche  Lichtstarke  dazu,  um  bei  einem  Lebewesen, 
dessen  primitive  Augen  aus  einem  Pigmentflecken  be* 
stehen,  die  entsprechende  Reaktion  auszulosen,  wahrend 
das  Auge  eines  entwickelten  Wirbeltieres  mit  erstaunlich 
geringen  Energiemengen  vorlieb  nimmt  und  doch  eine  sehr 
ausreichende  Perzeption  der  AuBenwelt  darauf  zu  griinden 
vermag."  Schon.  Aber  der  Schlufi  ist  falsch: 

,,Also  die  game.  Organisation  in  Funktionsteilung  und 
Funktionsverbindung  hat  wetter  keinen  Zweck,  als  das  energe- 
tische  Guteverhaltnis  zu  verbessern  .  .  .  Wir  werden  ganz  all- 
gemein  aussprechen  konnen,  dap  die  Steigerung  der  primi- 
tiven  Lebewesen  durch  die  ganze  ungeheure  Mannigfaltigkeit 
der  verschiedenen  Formen  hinauf  bis  zum  hochstentwickelten 
Menschen  auf  nichts  anderem  beruht  als  auf  der  Existenz 
und  Wirksamkeit  der  Energiedissipation"  (Energiezerstreu= 
ung).  wNur  um  innerhalb  des  Rahmens  der  Mannigfaltig= 
keiten,  \welche  dieses  Gesetz  gewahrt,  die  giinstigsten  Be« 
dingungen  herzustellen,  ist  diese  ganze  verwickelte  Orga= 
nisation  der  hoheren  Lebewesen  eingetreten.  Der  ganze 
Apparat  von  Sinnesfunktionen  zur  Erlangung  der  Nah» 
rungsmittel,  von  Verdauungsfunktionen  zu  ihrer  Assimi* 
lation  und  schlieSlich  von  Muskeln  und  Drusen  zur  Be« 
tatigung  der  aufgesammelten  Energien  nach  auBen  hat  gar 
keinen  anderen  Zweck,  als  die  moglichste  Steigerung  der 
Quantitat  der  freien  Energie,  welche  zu  einer  gegebenen 

9  Zschimmer,  PhiJoiophie  der  Technik  129 


Zeit  erworben  und  dem  Korper  fur  weitere  Umwandlun* 
gen  zugcfiihrt  werden  kann,  und  die  moglichste  Verlang= 
samung  der  Dissipation  dieser  aufgenommenen  frcicn 
Energie." 

Hattcn  wir  Techniker  nichts  anderes  zu  sehcn  als  dicsc 
gema'B  dem  energetischen  Imperativ  beschrankte  Freiheit, 
wo  waren  wir  mit  unserer  Kunst  geblieben ! 

Nicht  einmal  dort,  wo  wirklich  nur  die  Aufgabe  der  wirt= 
schaftlichen  Ertraglichkeit  zu  losen  ist,  konnen  wir  dieses 
Prinzip  bedingungslos  gelten  lassen ;  ja  es  hat  schon  ge* 
schadet,  wie  Bon1  richtig  bemerkt,  wenn  er  sagt:  ,,Bisher 
ist ...  die  Aufmerksamkeit  der  Industriellen  zu  ausschlieB= 
lich  in  Anspruch  genommen  worden  von  dem  eigentlichen 
Endzweck  und  dem  Bcstrcbcn,  gerade  diesen  auf  die  dko= 
nomischste  Weise  zu  erreichen.  Es  beginnt  aber  allmahlich 
die  Erkenntnis  aufzudammern,  daft  man  unter  Umstanden 
vorteilhafter  fahrt,  wenn  man  in  bezug  auf  den  Endzweck 
weniger  okonomisch  zu  Werke  geht."  Z.  B.  wiirde  ein  che= 
misches  Verfahren,  welches  fiir  den  Endzweck  nur  70% 
Nutzeffekt,  hingegen  etwa  20%  fiir  einen  anderen  Zweck 
erga'be,  demjenigen  vorzuziehen  sein,  welches  zwar  80% 
fur  den  Endzweck,  aber  infolge  der  hierzu  notwendigen 
Anordnung  nichts  mehr  fiir  andere  Zwecke  iibrig  liefie.  — 
Hochste  Energieersparnis  gema'B  dem  energetischen  Im« 
perativ  ist  eben  nur  in  beschranktem  Sinne  gleichbedeu* 
tend  mit  hochster  ZweckmaBigkeit. 

Und  vergessen  wir  doch  nicht:  ZweckmaBigkeit  tech- 
nischer  Objekte  zu  erstreben,  ist  nur  in  beschranktem  Sinne 
das  Ziel  des  technischen  Schaffens;  es  ist,  wie  Stern* 
sagte,  das  Ziel  der  ^Zweiten".  Neue  Moglichkeiten  der  an- 

1  F.  Bon,  wie  Scite  35  erwahnt.  *  N.  Stern,  wie  Seite  39  er. 
wfihnt. 

150 


schaulichen  Naturgcstaltung,  neue  Wege  durch  die  Wirk= 
lichkeit,  Plane  zur  Errcichung  ganz  andercr  Artcn  von  Frei= 
heitsgraden  zu  entdecken,  als  wir  sic  mit  unserer  SchuU 
weisheit  uns  traumen  lasscn,  das  1st  doch  die  hochste  und 
fur  die  Kultur  der  Menschheit  die  entschieden  wertvollere 
Aufgabe  :  Das  Ziel  der  ,,Ersten"t 

Und  hiermit  steht  nun  auch  fur  die  technischen  Wissen- 
schaften,  denen  die  Aufgabe  zufallt,  die  technischen  Wahr- 
heiten  der  Erfinder  in  systematischen  Zusammenhang  zu 
bringen,  die  Kardinalfrage  an  der  Spitze:  Welche  Arten 
und  Formen  der  Rfgelung  von  Naturprozessen,  also  auch 
welche  Arten  und  Formen  von  Regulatoren  derselben  sind 
mSglich? 


kann  niemand  im  voraus  wissen  !  —  Wer  das  konnte, 
r  Beneidenswerte  ware  im  Besitze  aller  Wahrheiten, 
die  die  Technik  erst  am  Ende  der  Geschichte  ans  Licht  ge* 
bracht  haben  wird;  er  gliche  in  der  Tat  dem  Laplaceschen 
Geist,  der  die  Formeln  aller  Weltgeheimnisse  weift. 

Denn  unsere  Kardinalfrage  ist  eine  unendliche  Aufgabe 
des  Menschengeschlechts.  Wir  Erdbewohner  erblicken  die 
Zukunft  —  wie  klug  wir  uns  auch  immer  diinken  mogen  — 
bestandig  in  cincm  dichten  Ncbcl,  aus  dem  sich  nach  und 
nach  bald  bckanntc,  bald  zu  erratende,  bald  vollig  neue, 
(iberraschende  Dinge  herausheben.  Die  Geschichte  be= 
weist  es  nur  zu  gut,  daft  wir  Menschen  oft  in  der  allcralU 
taglichsten  Wirklichkeit  den  grofien  Wald  vor  Baumen 
nicht  sehen.  Denn  sonst  konnte  es  nicht  vorkommen,  daft 
technische  Erfindungen,  die  uns  heute  so  selbstverstand» 
lich  scheinen,  wie  das  Eisenbahnfahren,  einstmals  nicht 
nur  nicht  gesehen,  sondern  sogar  fur  wissenschaftlich  er« 
wiesenen  Unsinn  gehalten  wurden.  —  Sobald  die  Frage 


auftaucht,  zu  wissen,  was  geht,  lacht  jedcs  Jahrhundert 
immer  wicder  iiber  die  Beschranktheit  des  vorhergegan= 
genen.  Wir  wissen  cben  nichts! 

Diesc  bcidcn  Wortchen  ,,es  geht''  schlieSen  eigentlich 
die  ganze,  der  Menschheit  noch  bevorstehende  Zukunft 
ein.  Denn  die  Regelung  des  Naturgeschehens  ist  ja  nichts 
anderes  als  eine  bestimmte  Form  des  Energieaustausches, 
welche  wir  nach  Belieben  befehlen  konnen  durch  die  Ein» 
schaltung  eines  bestimmt  geformten  technischen  Objekts 
in  den  Lauf  der  Naturprozesse.  Um  also  zu  wissen,  was 
alles  geht,  muftten  wir  wissen,  welche  anschauliche  Un= 
endlichkeit  aller  moglichen  konkreten  Formen  von  tech- 
nischen Objekten  es  gibt.  Und  das  eben  ist  eine  ewige  Auf» 
gabe :  Eine  ewige  Quelle  immer  neuer  Oberraschungen. 

Ein  ganz  anderes  Problem  der  Nachforschung  wird  hier 
auf  das  Tapet  gebracht  als  dasjenige,  wofur  sich  der  Ge- 
setzesforscher  vom  reinsten  Wasser  interessiert.  Wenn 
dieser  erkennt,  welche  allgemeineren  und  besonderen  Gc= 
setze  alle  moglichen  Arten  des  Energieaustausches  beherr* 
schen,  wenn  er  also  die  Besonderung  der  Gesetzesidee  in  der 
natiirlichen  Wirklichkeit  entdeckt,  so  ist  ihm,  wie  wir  be* 
reits  gezeigt  haben,  die  unter  den  Gesetzen  noch  unendlich 
beliebige  Anschauung  der  Natur  einerlei.  Diese  ist  ihm 
ebenso  gleichgultig  wie  dem  modernen  biologischen  Ge- 
setzesforscher  die  in  der  Natur  vorkommenden  Kaferbilder, 
an  denen  der  Sammler  dieser  merkwiirdigen  Insekten,  wie 
die  ganze  altere  Naturforschung,  doch  gerade  das  aller- 
groBte,  ja  ausschlieftliche  Interesse  hat. 

Fiir  den  Technologen  fa'ngt  also  im  Gegenteil  dort,  wo 
die  ganze  Naturforschung  am  Ende  ist,  das  Interessante  der 
Sache  erst  an.  Er  will,  nachdem  er  einmal  weift,  was  in  der 
Natur  geschehen  kann  —  auch  wenn  er  die  ganze  Naturs 


Wissenschaft  fcrtig  besa'Se  —  noch  dariiber  hinaus  wissen, 
was  denn  in  derselben  Natur  technisch  moglich  ist.  Die 
Technologic,  so  konnen  wir  dies  auch  ausdriicken,  erkennt 
Kategorien  in  der  materiellen  Welt,  die  der  Naturforscher 
gar  nicht  beachtet.  Und  diese  ,,technischen  Kategorien"  kon= 
stituieren  eben  das  System  einer  ungeheuren  Wissenschaft, 
die  grofttenteils  noch  in  den  ersten  Anfangen  steckt:  Die 
,,Tcchnologie" . 

Bereits  in  dem  Entwurf  einer  allgemeinen  Technologic 
von  Beckmann  (1806)  gliedcrt  sich  diesc  Wissenschaft 
nach  Karmarsch1  wie  folgt: 

1 .  Diespezielle  Technologic.  —  Dercn  Disziplinen  machen 
sich  zur  Aufgabe,  ,,den  Gang  des  Vcrfahrens  zu  beschrei= 
ben,  welcher  befolgt  wird,  um  ein  bestimmtes  Rohmaterial 
in  cin  bestimmtes  Fabrikat  zu  verwandeln;  sic  muf)  also 
die  Mittel,  Werkzeugc  und  Maschinen  hierzu  in  ihrer 
Aufeinanderfolge  angcbcn  und  erklaren,  die  verschiedes 
nen  Zustande,  welche  der  Urstoff  bis  zur  ganzlichen  Vers 
arbeitung  durchlauft,  der  Reihe  nach  betrachten  und  ge« 
wahrt  somit  ein  lebendiges  Bild  von  dem  Entstehen  des 
Fabrikats". 

2.  Die  allgemeine  Technologic.  —  Diese  generelle  Wissen* 
schaft  ,,ordnet  die  Gesamtheit  der  in  den  verschiedensten 
Gewerben  vorkommenden  einzelnen  Verfahrungsarten  nach 
der  Gleichheit  oder  Ahnlichkeit  ihres  Zweckes  in  Rubriken, 
deren  jede  eine  Gruppe  verwandter  Bearbeitungsmittel  dar= 
bietet,  wobei  die  Art  der  Materialien,  auf  NX/elche  die  Be= 
arbeitung  angewendet  wird,  nur  eine  Nebenriicksicht  be= 
griindet". 

1  K.  Karmarsch,  Geschichte  der  Technologic  seit  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts.  R.  Oldenbourg,  Miinchcn  1872. 

133 


Abcr  zur  Wissenschaft  im  hoheren  Sinne  wird  die 
Technologic  erst,  wie  Karmarsch  sagt,  ,,scitdem  man  nicht 
mchr  bloft  die  bei  technischcr  Verarbcitung  irgcndcines 
Rohstoffes  und  Herstcllung  gewisser  Kunsterzeugnisse 
aus  denselben  vorfallcnden  Arbeiten  nebst  den  dazu  dicn- 
lichen  Apparaten,  Werkzeugen  und  Maschinen  in  chrono- 
logischer  Aufeinanderfolge  beschreibt,  sondern  deren 
Zweck  und  Erfolg  genau  feststellt,  sie  auf  die  bestim* 
menden  Lehren  der  Mathematik,  Mechanik,  Physik,  Che» 
mie  zuruckftihrt,  ihre  Beschaffenheit  und  den  Zeitpunkt 
ihres  Eintritts  aus  der  Natur  der  vorliegenden  Aufgabe 
rechtfertigt,  das  als  hergebracht  Bestehende  in  den  Arbeits* 
mitteln  der  Kritik  unterzieht  und  auf  mogliche  Verbesse* 
rungen  hindeutet,  das  auf  verschiedenen  Gebieten  ver» 
streut  vorkommende  Ahnliche  oder  Verwandte  zusammen« 
stcllt,  vergleicht  und  die  gemeinsamen  Grundsatze  nach= 
weist  —  iiberhaupt  das  in  den  technischen  Prozessen  durch 
den  Scharfsinn  unzdhliger  Generationen  niedergelegte  geistige 
Kapital  aus  seinen  empirischen  Verhullungen  herauswickelt 
und  sowohl  zur  Anschauung  als  zur  moralischen  Geltung 
bringt",  und  es  —  wie  ich  hinzufugen  mochte  —  streng 
,,theoretisch  begriindet",  d.  h.  in  seinen  speziellsten  Erkennt- 
nissen  mil  letzten,  allgemeinsten  Grundeinsichten  in  systema- 
tischen  Zusammenhang  bringt. 

wDenn  der  Sinn  aller  Wissenschaft  ist  das  Begriinden", 
sagt  kurz  und  treffend  Munch1,  em  moderner  Erkenntnis- 
theoretiker.  Und  hiermit  ist  in  der  Tat  der  eigentliche  und 
einzige  Probierstein  gegeben,  der  iiber  die  Wissenschaft* 
lichkeit  der  Technologic  entscheiden  kann  und  der  uns  zu» 
gleich  dient,  das  unkritische  Geschwatzzu  widerlegen,  das 
wir  nur  zu  oft  von  seiten  ,,reiner"  Wissenschaftler  zu  horen 
1  F.  Munch,  wie  Seite  25  erwahnt. 

134 


bekommcn,  die  selbst  nicht  einmal  wissen,  mit  welchem 
Rcchte  dcnn  ihre  eigene  Wissenschaft  sich  diescn  Namen 
im  letztcn  Grunde  verdicnt. 

Daft  die  Tatsachen  in  dem  Wissensvorrat  des  Ingenieurs 
und  des  technischen  Chemikers  nicht  wie  Kraut  und 
Riiben  durcheinanderwirbeln,  mogen  die  meisten  kultu= 
rell  gebildeten  Leute  sich  wohl  denken.  Aber  daft  dieses 
Kapital  an  geistigem  Eigentum  der  Menschheit  ein  ,,rich» 
tiges"  Wissenschaftsgebaude  werden  sollte,  daft  Techno- 
logic um  ihrer  selbst  willen  von  Staats  wegen  betrieben  und, 
auf  eigenen  Prinzipien  ruhend,  in  den  gleichen  systemati* 
schen  Begriindungszusamnnenhang  der  Forschung  gebracht 
werden  mufi,  in  den  die  exakte  Naturwissenschaft  bereits 
seit  dem  Mittelalter  eingetreten  ist,  das  mochten  viele 
Universitatsakademiker  auch  heute  noch  nasertimpfend 
verneinen. 

Die  barocke  Auffassung  v.  Mayers1:  wDer  Wissens* 
drang  ist  nur  die  feinste  Form  des  Hungers",  haben 
manche  Gelehrte,  zwar  nicht  von  ihrer  harmlosen  und 
reinen,  wohl  aber  von  den  technischen  Wissenschaften. 
Sic  empfinden  es  daher  auch  eines  Professors  der  Univer* 
sitat  unwiirdig,  an  die  technische  Hochschuje  tiberzugehen, 
und  Wilhelm  II.  hat  ,,seinen  Professoren''  gewig  keine 
Freude  bereitet,  als  er  einen  neuen  Gelehrtenstand  mit  dem 
,,Dr.-Ing."  anerkannte.  Man  hore  nur,  wie  wiitend  unsere 
beiden  Kulturmetaphysiker  Hans  Jakob*  und  Star  dariiber 
werden  konnen : 

,,Da5  die  technischen  Hochschulen  nunmehr  auch  das 
Doktorat  verleihen,  ist  aus  der  Empfindung  des  Sekunda* 

1  E.  v.  Mayer,  wie  Seite  46  c.  wahnt.  *  E.  Hansjakob  und  J.  Star, 
wie  Seite  53  erwahnt. 


wertes  ihrer  Akademiestellung  hcrvorgegangen,  die  nach 
Schmuck  und  Wiirde  nach  auSenhin  verlangtc,  well  die 
Qberzeugung  des  inneren  Gleichgewichtes  fehlte.  Die 
Oberflachlichkeit  unscrer  Zeit  liefr  aus  dem  Doktorat  einen 
Titelgrad  werden,  wahrend  das  Wesen  der  Auszcichnung 
ticfcr  liegt;  es  soil  —  leider  allzu  oft  ist  cs  eben  nur  sittliche 
Fordcrung  —  ein  innerer  Charaktcrgrad,  die  Befahigung 
zur  geistigen  Selbstandigkeit,  ausgedriickt  werden.  Die 
technischcn  Hochschulcn  konnten  erst  dann  den  Doktor= 
grad  verleihen,  als  sein  Ansehen  so  tief  gesunken  war,  daft 
es  sich  mehr  oder  weniger  um  eine  Visitenkartenaufschrift 
handelte." 

Herr  Dr.  Hansjakob  und  Herr  Dr.  Stur  sollten,  meine  ich, 
wenigstens  konsequent  sein  und  bei  Veroffentlichungen 
in  technischen  (!)  Zeitschriften  ihre  ,,Visitenkartenauf= 
schrift"  ablegen.  Denn  sowirkt,  wassiesagen,  doch  hochst 
komisch.  Aber  deshalb  habe  ich  die  beiden  Denker  ja  ge= 
rade  so  gern  —  meine  Schilderung  der  merkwiirdigen  An= 
sichten  der  Herren  Akademiker  wiirde  ohne  triftige  Beweise 
nicht  halb  so  belustigend  sein. 

Wie  recht  hatte  doch  Eyth1:  ,,In  unseren  Tagen,  in 
denen  die  einfachen  Aufgaben  gelost  sind,  die  einen  Ar- 
chimedes beriihmt  gemacht  habcn,  in  denen  bei  den  wun* 
derbar  komplizierten  Erzeugnissen  der  Gegenwart  alle 
Krafte  der  Natur  zusammenwirken  miissen,  um  das  ge= 
wollte  Ziel  zu  erreichen  —  denken  wir  nur  daran,  was  alles 
dazu  gehort,  ein  Gliihlampchen  leuchten  zu  machen  —  ist 
diese  Geistesarbeit  von  einer  Grofte  und  Feinheit,  die  von 
keiner  anderen  Form  geistigen  Schaffens  iibertroffen  wird. 
Aber  das  alles  nehmen  die  Herren  des  blofcen  Wissens  hin, 
als  ob  es  sich  von  selbst  verstiinde." 
1  Af.  Eyth,  wie  Seite  42  erwahnt. 


Noch  spiegclt  sich  das  altc  Zerrbild,  das  der  echte  Uni= 
versitatsakademiker  vom  technischcn  Wissen  im  Kopfe 
tragt,  in  den  angstlich,  etwas  schulmeisterlich  klingenden 
Worten  wieder,  die  Volkmann1  seinerzeit  indirckt  an  das 
allzu  technisch  angchauchte  preuBische  Kultusministerium 
richtete:  ,,Die  alte  Auffassung,  welche  die  Universitaten  in 
ihrem  deutschen  Idealismus  groB  gemacht  hat:  die  Wissen- 
schaft  um  ihrer  selbst  willen,  unbekiimmert  urn  jede  Nutz= 
anwendung  zu  pflegen,  muB  im  Vordergrunde  des  akadcmi= 
schen  Lebens  bestehen  bleiben ;  das  rein  wissenschaftliche 
Element  darf  nicht  in  den  Hintergrund  gedrangt  werden." 

Ja  sogar  noch  anno  1911  wagen  es  unsere  beiden  Hcift= 
sporne  Dr.  Hansjakob  und  Dr.  Star,  folgendes  Manifest 
gegen  die  AnmaBungen  der  heranwachsenden  Technologic 
loszulassen : 

,,Es  gibt  keine  Technik  als  geschlossene  Wissenssphare; 
sie  ist  naturwissenschaftliches  Banausentum,  das  sich  als 
Elendsmultiplikator  der  Dbervolkerung  degradiert  hat 
mehr  noch  als  durch  die  hohle  Selbstandigkeit  ..." 

,,Alles,  was  technisch  als  Beifiigung  hat,  besitzt  den  iiblen 
Geschmackseinschlag  oberflachlicher  Zweckbestimmung, 
seichter  Enzyklopadie,  die  niemals  in  die  Tiefe  der  Erschei* 
nungen  dringt.  Die  wissenschaftliche  Maske  muB  der 
Technik  endlich  abgenommen  werden.  . . .  Das  echte  aka* 
demische  Wissen  kann  niemals  in  Herdenwirtschaft  aus= 
arten.  Was  an  technischen  Hochschulen  als  Wissenschaft 
serviert  wird,  ist  ein  diinner  AufguB  der  Resultate  aus 
naturwissenschaftlichen  und  mathematischen  Universita'ts* 
forschungen,  vermengt  mit  gelehrt  ausstaffierter  Gewerbe= 
lehre,  ,Technologie'." 

1  P.  Volkmann,  Erkenntnistheoretischc  Grundzuge  der  Natur* 
wissenschaften.  2.  Aufl.,  Tcubner,  Leipzig  1910. 

137 


Die  Herren,  die  den  guten,  alten  ,,deutschen  Idealismus" 
gepachtet  zu  haben  mcincn  —  cs  sind  ja  gliicklicherweise 
meistens  nur  die  alten  Herren  —  haben  eben  noch  keine 
Ahnung,  wohin  die  geistige  Arbeit  der  Technik  inzwischcn 
gewachsen  ist.  Fast  scheint  es,  als  fiirchteten  sie  die  heran= 
nahende  Umwertung  der  Werte,  die  der  talentvolle  Gerber= 
meister  Dietzgen1  InHegelscher  Denkartprophezeit:  ^Alles 
Ringen  und  Kampfen  der  Weltgeschichte,  alles  Sinnen  und 
Trachten  der  Wissenschaft  findet  seine  Spitze,  seinen  ge* 
meinsamen  Zweck  in  der  Freiheit  des  Menschen,  in  der 
Unterwerfung  der  Natur  unter  die  Botmaftigkeit  seines 
Geistes." 

Nach  dem  Bekenntnis  des  Physikprofessors  Wiener2 
sehen  wir  iiberall  dort  aufterordentliche  Leistungen 
entstehen,  wo  sich  wissenschaftliche  Einsicht  mit  tech* 
nischer  Kunst  verbindet. — Man  merkteben :  Die  modernen 
Leute  reden  aus  einer  anderen  Tonart ! 

Wiener  erinnerte  seine  Zuhorer,  um  nur  zwei  Beispiele 
anzufiihren,  an  ,,die  gemeinschaftliche  Arbeit  des  Phy« 
sikcrs  Werner  Siemens  mit  dem  Feinmechaniker  Johann 
Halske  auf  elektrischem  Gebiete,  auf  optischem  Gebiete  an 
diejenige  des  Physikers  Ernst  Abbe  mit  dem  Optiker  und 
Feinmechaniker  Carl  Zeip".  —  Was  aber  ist  das  Ergebnis 
solcher  Vereinigung  iiberhaupt,  sagen  wir  kurz :  Der  prak* 
tischen  Industrie  mit  der  Naturwissenschaft?  — 

Jeder  verstandige  Beurteiler  mu5  aus  der  Literatur  er» 
kennen  konnen,  wie  die  Technologie  nach  und  nach  zu 
einer  Wissenschaft  wurde,  die  sich  nicht  auf  Handwerker* 
erfahrungen  und  deren  subjektive  Meinungen  verla'ftt,  son= 

1  J.  Dietzgen,  wie  Scite  60  erwShnt.   a  0.  Wiener,  wic  Seite  30 
erwShnt. 

138 


dcrn  zu  cincr  auf  wissenschaftlicher  Erfahrung  beruhcn* 
den,  thcoretisch  bcgriindeten  Wissenschaft,  die  so  machtig 
und  bedeutungsvoll  zu  werden  beginnt,  daft  es  dem  ,,reinen 
Naturwissenschaftler"  immer  schwerer  fallen  mug,  an  der 
idealen  Gewissensreinheit  des  obenerwahnten  Herrn  Pro* 
fessors  festzuhalten. 

,,Gut  ist  es,"  sagt  Wendt1,  ,,wenn  auch  die  Manner  der 
Wissenschaft  bestandig  an  die  Praxis  denken."  Und  erfreu- 
licherweise  kann  man  schon  heute  deutlich  wahrnehmen, 
wie  stark  die  technische  Gedankenrichtung  ideenbestimmend 
wirkt,  und  zwar  nicht  allein  auf  die  experimentelle  For- 
schung,  sondern  sogar  auf  die  reinste  aller  theoretischen 
Wissenschaften,  die  Mathematik.  Universitatsprofessoren, 
welche  Nernstlampen,  Doppelfeldstecher  und  chemische 
Verfahren  erfinden,  die  ganze  Industriezweige  ins  Leben 
rufen,  haben  eben,  trotz  ihrer  hohen  wissenschaftlichen 
Fahigkeiten,  wesentlich  andere  Ansichten  von  den  Zielen 
der  Physik  und  Chemic  als  jcne  harmlosen  Idealisten,  in 
denen  friiher  das  Ausland  den  typischen  deutschen  SchuU 
meister  bclacheltc! 

Die  Naturwissenschaft  forscht  langst  nicht  mehr  drauf 
los,  blog  um  immer  wiedcr  zu  entdecken,  dag  die 
Natur  in  alien  Stucken  gesetzmaftig  ist,  oder  hier  und  da 
cine  genaue  Kenntnis  ihrer  unendlichen  Mannigfaltigkeit 
zu  gewinnen,  einerlei  in  welcher  Hinsicht;  sondern  sic  geht 
—  wie  es  der  moderne  Kulturstaat  in  der  Unterstutzung 
seiner  Institute  fur  die  Wissenschaft  auch  unzweideutig 
zum  Ausdruck  bringt  —  auf  Erkenntnis  in  Hinsicht  der 
lebendigen  Zwecke  der  Gesamtkultur. 

Es  dauert  nicht  mehr  allzulange  Zeit,  und  die  reine  Na» 
1  U.  Wendt,  wie  Seitc  ?6  erwahnt. 

139 


turwissenschaft  altcn  Stils  wird  mit  der  Technik  zur  un« 
trennbaren  Einheit  ciner  Gesamtwissenschaft  mit  groBeren 
Aufgaben  vcrschmelzcn  —  cin  Verhaltnis,  in  welchem  sich 
schon  hcute,  geheim  gehalten  durch  wirtschaftliche  Inter= 
essen  der  Untcrnehmer  und  Nationen,  die  reine  Forschung 
und  die  Technik  hinter  Fabrikmauern  die  Ha'nde  driicken. 

Denn  auch  die  riickstandigsten  Fabrikleute  haben  langst 
erkannt,  was  unser  vortrefflicher  Lohgerber  Dietzgen* 
sagte:  ,,Um  die  Dinge  ganz  zu  nehmen,  miissen  wir  sie 
praktisch  und  theoretisch,  mit  Sinn  und  Kopf,  mit  Leib 
und  Geist  ergreifen  . . .  Die  Praxis  gibt  uns  die  ErscheU 
nung  —  die  Theorie  das  Wesen  der  Dinge.  Praxis  ist  die 
Voraussetzung  der  Theorie,  Erscheinung  Voraussetzung 
des  Wesens  oder  der  Wahrheit.  Dieselbe  Wahrheit  er« 
scheint  in  der  Praxis  neben-  und  nacheinander  und  ist  theo= 
retisch  als  kompakter  Begriff."  —  Der  schlichte  Mann 
hatte  seine  Gerberei  eben  gleichgut  verstanden  wie  die 
Hegelsche  Philosophic  —  wieder  ein  Beweis,  daB  die  tech= 
nische  Arbeit  den  Menschen  nicht  geistig  stumpf  zu  ma= 
chen  braucht.  — 

WtiBten  die  Herren  der  reinen  Gelehrsamkeit  nur  zu  er= 
raten,  was  das  Bergwerk  der  Industrie  an  unsichtbaren 
wissenschaftlichen  Schatzen  birgt,  wie  neidisch  wiirden  sie 
nach  den  Themen  unendlicher  Doktorarbeiten  blicken,  die 
wir  Techniker  doch  nur  deshalb  (und  freilich  leider  viel  zu 
wenig)  erforschen,  weil  auch  wir  die  Wahrheit  nicht  er= 
dichten,  sondern  weil  wir  mit  Hilfe  exakter  Beobachtungs= 
methoden  erkennen  miissen,  was  ewige  Wahrheit,  reines 
Wissen  ist,  um  unser  Ziel  zu  erreichen. 

Man  muB  allerdings  den  Begriff  der  ,,technischen  Wahr- 
heit" erst  erfaBt  haben,  den  die  so  paradox  klingende  und 
1  J.  Dietzgen,  wie  Scitc  60  erwahnt. 
140 


doch  trefflichc  Behauptung  einschlieSt,  welche  Du  Bois- 
Reymond1  iiber  die  Erfindungen  gemacht  hat:  ,,AlIe  Erfin= 
dungen,  dcren  Wirkungen  wir  heutc  genieSen,  haben  zu 
alien  Zeiten  bestanden,  . . .  alle  Erfindungen,  die  unsere 
Nachkommen  machen  werden,  bestehen  schon  heute  . . . 
Die  Kenntnis  (der  Gravitation),  die  wir  iiberliefern,  ist . . . 
nicht  die  Gravitation  selber,  und  die  Kenntnis  der  Dynamo= 
maschine,  die  unsere  Techniker  besitzen,  ist  ebensowenig 
die  Dynamomaschine  selber.  Was  sic  konstituiert,  ist  dem= 
nach  das  (nach  dem  Untergang  aller  Menschen)  einzig 
Ubrigbleibende,  die  natiirlichen  Eigenschaften  der  Ma=» 
terie,  welche  ihre  Herstellung  ermoglichen."  Insoweit 
,,unterscheidet  die  Erfindung  sich  uberhaupt  nicht  von 
einer  beliebigen  naturwissenschaftlichen  Entdeckung". 

In  dem  Augenblicke,  wo  wir  —  sei  es  experimentell  oder 
theoretisch  —  rein  sachlich  erforschen  wollen,  welche  For= 
men  materieller  Systeme  moglich  sind,  deren  Einschal* 
tung  in  den  Naturprozeft  das  Geschehen  in  bestimmter 
Weise  regelt,  treiben  wir  Technologic  als  reine  Wissen= 
schaft. 

jede  Moglichkeit,  gegebene  Vorgange  durch  einen  maa 
teriellen  Regulator  zum  vorausbestimmten  Ablauf  zu  brin= 
gen,  gehort  zu  ihrem  Gegenstand ;  ihr  Endziel,  ihre  Wissen* 
schaftsidee  ist:  Die  Gesamtheit  solcher  Moglichkeiten  in 
ein  auf  allgemeinen  Prinzipien  gegriindetes  System  zu  brin= 
gen,  also  dasselbe,  was  die  Geometric  ihrerseits  mit  der  Ge= 
samtheit  der  moglichen  Raum=  und  Zeitgestaltung  ver» 
sucht. 

Gelingt  dies  aber,  dann  sind,  wie  wir  schon  gcsagt  haben, 
die  Kritcrien  voll  und  ganz  gegeben,  welche  jenes  von  den 
Akademikern  bisher  nur  von  der  Seite  betrachtete  Aggre* 
1  A.  Du  Bois-Reymond,  wie  Seite  102  erwahnt. 

141 


gat  von  Vorstcllungen  und  Begriffcn  im  Sinnc  der  mo« 
dernen  Wissenschaftstheorie  (Munch)  zu  dem  Anspruch 
befahigen,  als  cine  strengc,  allgemeingiiltige  Wissenschaft 
zu  gelten. 

Dieselbe  Stellung,  die  scit  Uberwindung  dcr  mittelalter* 
lichen  Weltanschauung  der  einst  so  verachteten,  banau= 
sischcn  Naturwissenschaft  zugesprochen  worden  ist,  muft 
der  moderne  Erkenntnistheoretiker  und  Kulturlogiker 
nun  auch  jener  machtvoll  aufbltihenden  Geistesarbeit  ein- 
raumen,  auf  welcher  doch  das  Erste  und  Allerwichtigste 
beruht,  was  zur  Entfaltung  der  Kultur  vonndten  ist :  Ma- 
terielle  Freiheit. 

Die  Technologic  sollte  nicht  versaumen,  auch  die  Ge- 
schichte  der  Technik  als  ihren  notwendigen  For- 
schungsgegenstand  zu  betrachten.  Ich  denke  hier  nicht 
an  jene  geisttotende  Aufreihung  der  Tatsachen  auf  den 
monotonen  Faden  der  Zeit,  fur  die  sich  manche  Gelehrten 
in  der  Regel  durch  poetische  Schlusse  bei  ihren  Zuhorern 
entschuldigen,  wie  z.  B.  unser  hochverdienter  Technologe 
Karmarsch1,  der  am  Ende  einer  allein  fur  die  Maschinen 
und  Methoden  der  Spinn*  und  Webeindustrie  47  Druck- 
seiten  beanspruchenden  Aufzahlung  begeistert  ausruft: 
,,Mogen  unsere  Leser  hier  einen  Augenblick  stillstehen 
und  das  im  bisherigen  Vorgetragene  mit  einem  einzigen 
Blicke  umfassen !  Der  Eindruck,  den  die  Leistungen  des 
Menschengeistes  in  dem  kurzen  Zeitraume  von  120  Jahren 
erwecken,  ist  ein  uberwaltigender,  etwa  wie  der  ihn  emp» 
fande,  welcher,  auf  einer  Hohe  stehend,  erst  nach  einer  Seite 
hin  ein  odes,  unbebautes  Land  geschaut,  und  nun,  rasch 
sich  umwendend,  die  weite  Fla'che  griinend,  bltihend,  mit 
1  K.  Karmarsch,  wie  Seitc  135  crwihnt. 

142 


freundlichen  Hausern,  strahlenden  Palasten  und  einer 
tatigen  Menschenmenge  besetzt  erblickt"  —  wie  es  fast 
Goethe  schon  im  Faust  so  herrlich  geschildert  hat! 

Was  uns  ein  Blick  in  die  Gcschichtc  aber  lehren  kann, 
wenn  wir  dicsc  neue  Welt  betrachten,  mit  der  uns  die 
Technik  umgeben  hat,  ist  dieses:  Wir  sehen  hier  eine  all* 
mahliche  Veranderung,  Differenzierung  und  Anpassung, 
einen  regelrechten  Kampf  der  Erfindungen  um  das  Dasein 
in  der  Industrie,  der  gleich  heftig  wie  der  Kampf  der  Or« 
ganismen  um  das  Dasein  in  der  Natur  vor  sich  geht.  Und 
es  gibt  formliche  Stammbaume  des  technischen  Gedan* 
kens,  gemeinsame  Wurzeln  der  Erfindungen,  eine  geistige 
Urzeugung  und  Entwicklung,  iiber  die  man  sich  von  Staats 
wegen  die  grundlichste  Klarheit  verschaffen  sollte.  Denn 
dieser  Prozeft  enthiillt  uns  nicht  blofi  ein  interessantes  Bild 
jener  schopferischen  Tatigkeit,  von  welcher  das  Heil  der 
Menschheit  in  Zukunft  abhangen  wird;  sondern  es  mug 
auch  die  tiefere  Einsicht  in  den  hierin  waltenden  ideellen 
Zusammenhang  von  grogtem  Werte  sein,  sowohl  fiir  die 
schaffenden  Techniker  und  Unternehmer  selbst,  als  fur 
die  leitenden  Staatsmanner,  denen  mehr  und  mehr  die  Auf» 
gabe  zufallt,  in  den  wilden  Anarchismus  der  manchester- 
lichen  Produktion  zum  Wohle  der  Gesamtkultur  einzu- 
greifen  —  die  Rolle  des  Gartners  zu  spielen,  der  die  natur» 
liche  Zuchtwahl  mit  Vernunft  und  weiser  Voraussicht  ab« 
kurzt  und  sinnvoll  lenkt. 

So  ist  nun  die  Technologic,  vom  hochsten  Gesichtspunkte 
aus  betrachtet,  nichts  anderes,  als  das  mit  geschicht« 
licher  Notwendigkeit  fortschreitende  Wissen  von  der  An« 
naherung  an  die  in  der  Idee  der  Technik  ergriffene  gotter» 
hafte  Freiheit  des  menschlichen  Lebens.  So  viel  neue  For- 

H? 


men,  das  Naturgeschehen  zu  regeln,  die  Technologic  kennt, 
um  so  viel  neue  Freiheitsgrade  sind  wir,  wenigstens  ideell, 
bereichert.  Die  Totalitat  aller  noch  im  Unbekannten  schlum= 
mernden  Freiheitsgrade  zum  objektiven  und  allgemein  be= 
griindeten  Bewufttsein  zu  bringen,  ist  der  alleinige  Sinn 
aller  beobachtenden,  begreifenden  und  schopferischen  Ar» 
beit,  deren  Gesamtresultat  die  Technologic  in  ihren  ver* 
schiedenen  Disziplincn  zur  systematischen  wie  zur  histo* 
rischen  Darstellung  zu  bringen  hat. 

Und  diese  Wissenschaft  ist  es,  welche  derNaturforschung, 
wie  vicle  ihrcr  modernen  Vcrtreter  schon  klar  genug  be* 
kannt  haben,  erst  ihre  weitere  und  hohere  Aufgabe  in 
dem  Gesamtsystem  der  Kulturwerte  bestimmt.  Weil  Tech= 
nologie  und  reine  Naturforschung  eben  praktisch  untrenn= 
bar  sind,  so  sind  sie  in  der  Tat  auch  niemals  in  der  KuU 
turgeschichte  als  etwas  absolut  Besondcres,  fur  sich  Be= 
stehendes  aufgetreten.  Nur  eine  voriibergehende  Storung 
der  urspriinglichcn  Harmonic,  die  wir  bei  den  klassischen 
Erfindern  und  Forschern  in  so  vollendeter  Weise  verwirk= 
licht  finden,  konnte  in  unseren  Tagen  des  Spezialistentums 
den  Anschein  erwecken,  als  ob  es  sich  hierbei  um  eine 
innere  Wesensverschiedenheit,  um  kulturclle  Rangunter= 
schiede  handelte. 

Aber  die  Gcgenwart  begrcift  bereits  den  Irrtum,  und 
sie  sieht  den  Irrweg,  welchcn  die  Naturwissenschaft  be= 
schreiten  wiirde,  wollte  sie  etwa,  dem  Aristotelischen  Ideal 
gema*5,  angesichts  der  Natur  nur  schaucn  und  denken 
schlechthin,  ohne  sich  um  die  hoheren  Ziele  zu  ktimmern, 
die  ihr  doch  die  lebendige  Kultur  in  dem  Grundproblem 
der  Technik  gesetzt  hat.  —  Der  Staat  jedenfalls  hat  ganz 
recht,  wenn  er  sein  Steuergeld  fiir  diejenigen  Zweige  der 
Naturforschung  am  reichlichsten  flieSen  la'St,  die  etwas 


an  dcr  Natur  erforschen,  woraus  sich  Lebenswerte  schaffen 
lassen. 

Bci  cinigcr  Bcsinnung  muB  und  wird  es  auch  jcdem 
reinen  Naturwissenschaftler  klar  werden,  daB  es  uns  doch 
wirklich  vollig  eincrlci  sein  kann,  ob  nun  diesc  odcr  andcre 
Naturgesctze  gclten,  ob  cs  50  oder  100  chemischc  Elcmcnte 
gibt,  1700  odcr  24  ooo  Inscktcngattungcn.  Hingegcn  habcn 
wir,  je  alter  die  Menschheit  wird,  ein  immcr  groBeres 
Interesse  an  der  Kardinalfrage,  welche  technischen  Moglich- 
keiten  in  unserem  Verhaltnis  zur  Natur  noch  versteckt  sind. 

1st  die  Raumschiffahrt  moglich?  Konncn  Encrgien  auf 
bishcrig  vollig  unbekanntc  Arten  umgewandelt  werden? 
Sind  Elemente  aus  andercn  und  aus  Urelementen  erzeug- 
bar?  Lassen  sich  kunstliche  Nahrungsmittel,  kiinstliche 
Korperteile,  kunstliche  Zcllen  herstellen?  Kann  man  in  die 
Vergangenheit  blicken?  Und  das  groBte  Ratsel:  Konnen 
Gedankcn  unmittelbar  auf  Materie  (Gehirne)  wirken?  — 
Das  sind  einige  von  den  hochsten  Problemcn,  um  die  sich 
die  Naturwissenschaft  im  Bunde  mit  dcr  Technik  in  Zu= 
kunft  abzumuhen  haben  wird ! 

Gott  sei  Dank  verliert  die  akademische  Jugend  allmah* 
lich  den  Geschmack  an  den  pessimistischen,  monchischen, 
lebensmiiden  Ideen  der  alten  Zeit.  Unsere  Brut  von  1900, 
diese  braungebrannten  Bengels  mit  blitzenden  Augen  und 
hochgereckten  Ha'lsen  scheinen  das  richtige  Gefuhl  fiir  die 
Wahrheit  des  Lebens,  den  Instinkt  fur  die  Zukunft  zu 
haben. 

Der  wissenschaftliche  Forscher,  dcr  ein  wirklicher  Kultur- 
bildner  sein  will,  muB  sein  Werk  und  Strcben,  bci  allcr 
Griindlichkeit  dcr  speziellen  Arbeit,  in  sinnvollen  Zu» 
sammcnhang  zu  bringen  suchcn  mit  dcm  groBcn  Ganzen, 
das  sich  im  Strome  der  menschlichen  Geschichte  entfaltet, 


to  Ztchimrocr,  Philo.ophic  dcr  Technik 


145 


nach  incinandergreifcnden  und  sich  organisch  aufeinander 
beziehenden  Idecn,  gleichsam  wie  die  Wurzeln,  Blatter  und 
Bliiten  des  Baumes,  dessen  ganzes  Wcsen  und  Sinn  in  deren 
Vcreinigung  zum  harmonischen  Ausdruck  kommt. 

Anstatt  des  vergeblichen  Wahnes  so  vieler  Naturforscher, 
aus  ihrer  lediglich  das  natiirliche  Sein  betreffenden  Wissen* 
schaft  heraus  alle  Weltratsel  losen  zu  konnen,  indem  sic 
sich  auf  die  rein  beschauliche  Betrachtung  der  Welt,  wie 
sie  in  natura  1st,  beschranken,  sollten  sie  endlich  die  Wahr= 
heit  erkennen  lernen,  die  der  grofte  Freiheitskampfer 
Fichte1  von  der  Bestimmung  des  Menschen  gelehrt  hat: 
,,Auf  mein  Tun  muB  all  mein  Denken  sich  beziehen,  muB 
sich  als,  wenn  auch  entferntes  Mittel  fiir  diesen  Zweck  be= 
trachten  lassen ;  auBerdem  ist  es  ein  leeres  zwcckloscs  Spiel, 
ist  es  Kraft  und  Zeitverschwendung  und  Verbildung  eines 
edlen  Vermogens,  das  mir  zu  einer  ganz  anderen  Arbeit 
gegeben  ist." 


1  J.  G.  Fichte,  wie  Seite  83  crwahnt. 
146 


DAS  KULTURBILD  DER  ZUKUNFT 

Jede  Zeit  hat  ihrc  Ideale,  sagt  ein  bekanntcr  Satz.  Aber 
wie  viele  verstehen  ihn?  Wie  vielc  plappern  nicht  das 
schone  Wort  Ideal  nach,  ohne  sich  etwas  Klarcs  dabci  zu 
dcnkcn?  Wie  viele  reden  nicht  von  der  Notwendigkeit  des 
Idealismus  und  haben  doch  selbst  keine  Ahnung,  was 
Idealismus  ist? 

I  Versuchen  wir  den  Inhalt  des  Satzes  scharfer  zu  erfassen ! 
Hierzu  bitte  ich  um  etwas  Geduld.  Es  wird  sich  bald 
zeigen,  wie  sich  die  Dinge  hart  im  Raume  stoften,  wenn 
der  Geist  fehlt,  der  Vernunft  in  ihre  Entwicklung  bringt. 
Und  dann  werden  wir  an  den  Tatsachen  begreifen,  was 
es  mit  den  Idealen  auf  sich  hat.  —  Aber  zuerst  gilt  es 
hier,  deutliche  und  prazise  Begriffe  zu  gewinnen;  unmog* 
lich  sonst,  inmitten  der  Widerspriiche,  die  man  an  alien 
Ecken  und  Enden  iiber  die  Technik  hort,  auf  festem 
Boden  zu  stehen. 

Tdeale  als  Bilder  der  Zukunft  setzen  Ideen  voraus.  Ideen 
Isind,  wie  wir  gesehen  haben  (S.  17),  letztgultige  Grund« 
begriffe:  Allgemeinste,  selbstandige  Leitgedanken,  unter 
denen  die  historische  Wirklichkeit  als  sinnvolles  Ge* 
schehen  —  d.  h.  eben  als  Kulturgeschichte  im  Gegensatze 
zu  chaotischer  Wildheit  der  psychophysischen  Tatsachen 
—  begreiflich  erscheint. 

Die  Idee  der  Naturwissenschaft,  zeigt  Munch1,  hat  in  den 
Augen  der  Kulturlogik  nichts  voraus  vor  anderen  Ideen. 
Die  Naturwissenschaft  will  Erkenntnis  aus  Gesetzen  schaf= 
fen.  Sie  will  die  funktionale  Systematik  des  materiellen 
Geschehens  in  Raum  und  Zeit  in  seiner  Besonderung 
1  F.  Munch,  wie  Seitc  25  erwahnt. 

'47 


entdecken  und  darstellcn.  ,,Gegenstandlichkeit"  oder  wis« 
senschaftlichc  ,,TatsachIichkeit"  besitzt  fiir  sie  allcs,  was 
mit  der  sinnlichcn  Anschauung  in  einem  einzigcn  Deters 
minationszusammenhange,  d.  h.  unter  gemeinsamen  Ge* 
setzen  begreiflich  ist.  —  Wissenschaft  iiberhaupt  als  Ideal 
zu  wollen,  heiftt  also  diese  Erkenntnisidee  ergreifen,  um  sie 
an  den  entdeckten  Anschauungen  zu  realisieren. 

Dasselbe  gilt  von  der  Kunst.  Auch  ihre  Idee  —  die  Ge* 
staltung  um  der  Schonheit  willen  —  hat  kulturlogisch  kein 
Vorrecht  vor  den  anderen  zu  beanspruchen.  Vom  Stand= 
punkt  der  objektiven  Geschichtslogik  ist  Kunst  die  Ver= 
wirklichung  eines  unter  moglichen  Grundgedanken,  die 
von  schaffenden  Menschen  ergriffen  und  in  ihren  Werken 
in  konkrete  Form  gekleidet  werden. 

Und  ebenso  steht  es  mit  der  Ethik.  Kein  Ethiker  vermag 
das  Vorrecht  zu  beweisen,  wonach  seine  Idee  —  das  Leben 
nach  sittlichen  Prinzipien  zu  gestalten  —  die  wertvollste, 
die  hochste  sei,  oder  die  gar,  wie  fanatische  Sittlichkeits- 
apostel  glauben,  ohne  alle  anderen  Ideen  genugen  miiftte. 
Auch  die  Idee  der  Ethik  gehort  zu  den  logisch  gleichberech- 
tigten  Grundgedanken  des  Lebens,  die  von  aktuellen  Sub= 
jekten  frei  zu  den  ihrigen,  d.  h.  zu  Prinzipien  ihrer  Hand= 
lungen  gemacht  werden  konnen,  ohne  jedoch,  insofern  sie 
Ideen  sincl,  objektiv  mehr  zu  bedeuten  als  alle  anderen. 

Die  objektive  Wertkritik  des  menschlichen  Schaffens  hat  eben 
nichts  mit  subjektiver  Bewertung  zu  tun.  Ideen  leuchten  uns 
ein  im  historischen  Prozesse.  Sie  sind  fiir  den  Kulturlogiker 
in  demselben  Sinne  ,,Werte",  wie  fiir  den  Naturforscher  die 
Naturkonstanten  Werte  sind,  mit  denen  er  bei  der  Theorie 
des  Naturgeschehens  zu  rechnen  hat  (Munch). 

Die  abstrakten  Grundwerte,  auf  welche  die  wkritische 
Geschichtsphilosophie"  ihre  Tatsachlichkeiten  bezieht, 

148 


wcrden  allcrdings  von  den  in  dcr  Geschichte  tatigen  Sub= 
jckten  anfangs  so  wenig  gewufct,  wic  die  Steinc  um  das 
Fallgesctz  wissen.  Obwohl  die  Menschen  oft  durch  Jahr= 
tausende  hindurch  einer  Idee  gedient  hatten,  war  ihnen 
noch  nicht  klar  geworden,  was  sie  im  Grunde  tun.  Aber  der 
Geschichtsphilosoph  sieht  das,  er  ist  dazu  da. 

Die  Geschichte,  in  ihrer  Vollendung  gedacht,  ist  somit, 
wie  Munch1  sagt,  ,,das  System  der  zeitlosen  Grundwerte, 
gebrochen  im  Prisma  ihrer  zeitlichen  Entwicklung  im  und 
durch  das  Wertbewufitsein  endlicher  und  diskursiv  organi= 
sierter  (sinnlich-geistiger)  Subjekte."  Der  Geschichtsphilo= 
soph  sieht  den  objektiven  Sinn  der  Kultur,  das  System  der 
Ideen,  als  jene  vielstrahligen  Grundgemeinsamkeiten,  die  das 
Schaffen  der  Generationen  ahnlich  begreiflich  machen  wie 
die  Arten  das  organische  Leben,  welches  in  seiner  natiir= 
lichen  konkreten  Formenfiille  deren  Grundgedanken  im 
Verlaufe  der  Entwicklungsgeschichte  immer  wiederzu  wol= 
len  scheint,  was  —  nur  freilich  ohne  Absicht  —  so  geschieht, 
als  wa'ren  die  Tiere  und  Pflanzen  ihre  eigenen  Schopfer2. 

Dagegen  treten  nun  in  der  Subjektbezogenheit  der  Ideen 
neue  Momente  hervor,  die  auch  der  objektiven  Ge= 
schichsbetrachtung  keineswegs  gleichgilltig  sein  konnen. 
Denn  die  Geschichte  geschieht  nicht,  wenn  sie  nicht  ge= 
macht  wird. 

In  den  Aufjerungen  der  handelnden  Subjekte  manifestie= 
ren  sich  die  Ideen  gleichsam  gema'S  einer  Resultierenden 
aus  den  im  Kampf  der  Motive  entwickelten  Kraften.  Jedes 
Subjekt  will,  was  es  will,  dunkel  Oder  klar  gewufiten  Ideen  zu- 

1  F.  Munch,  wie  Scitc  25  erwahnt.  *  Dieses  Bild  hat  H.  Bergson 
in  rcizvollcr  Weisc  ausgcfiihrt.  Vgl.  scin  Scite  23  crwahntes 
Hauptwcrk. 

149 


Hebe  tun  —  es  hat  bestimmte  Ideate.  Und  hicrmit  crgibt  sich 
dcr  gcnaue  Sinn  des  Satzcs,  daft  jedc  Zeit  ihrc  Ideale  habe. 
Er  bedeutet,  ausfiihrlichcr  gesagt:  Wir  erkcnncn  in  jcdcr 
Zeitcpoche  cine  als  Resultat  der  subjektiven  Wertordnung 
hcrvorgchende  Bevorzugung  und  Rangordnung  der  Ideen 
in  dem  Bewufttsein  gewisser  Volker,  Klassen  oder  einzeU 
ner  Fiihrer  und  Helden  der  Geschichte.  Konstruieren  sich 
diese  hiernach  ihr  Kulturbild  der  Zukunft,  so  entstehn  die 
herrschenden  „  Ideale". 

,,Jedes  Zeitalter  hat",  wie  Ewald1  sagt,  ,,seine  spezifische 
Aufgabe,  deren  restlose  Erftillung  ihm  ebenso  zur  hochsten 
Notwendigkeit  erwachst  wie  dem  einzelnen  Menschen  die 
vollendete  Gestaltung  seiner  Personlichkeit."  —  Jede  Zeit 
bringt,  wie  der  einzelne  Mensch,  gewisse  Ideen  in  ihrem 
Leben  zur  Herrschaft;  ihr  Schaffen  und  Ziel  konzentriert 
sich  auf  die  Verwirklichung  dieser  erwahlten  Leitsterne, 
ohne  daft  die  anderen  ihr  darum  vollig  verborgen  blieben. 
Nur  finden  sie  zurzeit  kein  starkes  aktuelles  Interesse;  sie 
treten  fur  die  handelnden  Subjekte  vor  jenen  bevorzugten 
Zeitideen  im  Range  zuriick.  Denn,  wie  Schopenhauer2  sagt: 
,,Nicht  was  die  Dinge  objektiv  und  wirklich  sind,  sondern 
was  sie  fur  uns,  in  unserer  Auffassung  sind,  macht  uns 
glucklich  oder  ungliicklich." 

Es  scheint  fast  eine  historische  Regel  zu  sein:  Wenn 
aktuelle  Ideen  eine  Zeit  lang  die  anderen  in  den  Schat= 
ten  stellen,  so  gewinnen  die  letzteren  eine  neue,  gleichsam 
latente  Spannkraft,  und  iiber  kurz  oder  lang  schlagt  der 
Gang  der  Dinge  um.  Das  Kulturleben  pulsiert.  Ja,  die  Ge= 
schichte  bringt  oft  ruckweise  eine  neue  Idee  zur  Aktualitat, 

1  0.  Ewald,  wie  Scitc  43  crwahnt.  •  A.  Schopenhauer,  Apho- 
rismen  zur  Lebensweisheit.  Inselverlag,  Leipzig. 

150 


wahrend  die  alten,  zur  Vcrwunderung  und  zum  Arger  der 
herrschenden  Idealistcn,  well  altersschwach,  am  Ein= 
schlummcrn,  wcnn  auch  nicht  geradc  am  Sterbcn  sind. 
Denn  sterben  konnen  Ideen  niemals,  sie  sind  zeitlos  —  wcnn 
auch  ihr  Bewufttsein  im  Volkc  oft  bloft  dammcrt  odcr 
schlaft.  Dies  alles  hat  Hegel1  groftartig  ausgefiihrt. 

Es  scheint  ferner,  als  ob  die  Pulsschlage  des  Kulturlebens 
mit  fortschreitender  Reife  der  Menschheit  immer  kiirzer 
und  dadurch  fur  die  Zeitgenossen  immer  fiihlbarer  wiirden. 
So  kommt  es  noch  dahin,  daft  die  rhythmische  Bewegung 
der  idealen  Interessen  formlich  vibriert  und  der  einzelne 
Mensch  wahrend  seines  Lebens  nicht  nur  einige,  sondern 
alle  Ideale  zu  Zeitidealen  werden  sieht,  ja  daft  alle  zu  seiner 
Zeit  gleichzeitig  um  das  Dasein  kampfen. 

Und  so  sollte  es  im  Interesse  der  Kultur  iiberhaupt  sein ! 
Wir  alle  leben  mehr  oder  weniger  klar  in  der  Grundidee, 
daft  das  menschliche  Leben  in  seiner  Gesamtheit  cine  voll= 
kommen  entwickelte  Form  seiner  Freiheit  haben  sollte  und 
daft  jeder  Mensch  in  dem  harmonischen  Bewufctsein  des 
dynamischen  Gleichgewichts  alter  gegenstrebigen  Krdfte  der 
Kultur  am  vollkommensten  lebte. 

Schon  Heraklit2  hatte  das  deutliche  Bewufttsein  von  die= 
ser  ,,ldee  der  Ideen",  wenn  er  die  ,,Harmonie"  im  Kampfe 
der  Gegensatze  fiir  das  hochste  hielt.  Aus  ihr  entwickelte 
das  Griechentum,  soweit  es  ihm  moglich  war,  seine  Bliite= 
zeit. —  Und  unsere  Zeit  sollte  dafiir  zu  kiimmerlich  sein? 

*  G.  F.  W.  Hegel,  wic  Seitc  25.  -  Da  Hegel  der  Vater  der 
modcrncn  Sozialdcmokratie  1st,  so  sollte  man  dieses,  sein  ein» 
flufireichstes  Wcrk  lescn.  Wo  sich  Hegels  Darstellung  meta= 
physisch  verfinstert  hat,  geniigt  oft  cine  geringe  Korrektur, 
um  sie  auch  fiir  den  kritischen  Antimetaphysiker  geniefibar 
zu  machen.  a  Heraklits  Fragmente,  in  den  ,,Vorsokratikern". 
E.  Diederichs,  Jena. 


Die  Kulturpessimisten  behaupten  cs  freilich :  Wir  gchcn 
an  der  Technik  zugrunde,  meinen  sic;  die  Technik  ruiniert 
die  Kultur.  —  Horen  wir  uns  die  Klagelieder  dieser  Wie= 
dergeborenen  Schopenhauers  an,  und  priifen  wir  ihre  Kri* 
tik  der  Technik  auf  sachliche  Richtigkeit! 

Die  Technik,  behauptet  Lenz1  wie  viele  andere,  ,,ver« 
mag  nicht  aus  eigener  Kraft  das  Reich  des  Idealen  zu 
gestalten.  Ihre  Kunst  bewahrt  sich,  um  die  Masscn  zu  bc= 
zwingcn,  die  Ideen  zu  verbreiten,  Starke  in  alien  Spharen 
des  Daseins  zu  erzeugen;  aber  dem  Reiche  der  Ideen  gcgcn= 
iibcr  ist  sie  an  sich  neutral.  UnermeBlich  in  ihrer  Bedeu= 
tung  als  Hilfskraft,  ist  sie  an  sich  selbst  ohnmachtig,  sobald 
es  gilt,  den  Tiefen  des  Lebens  nachzugehen.  Sie  kann  schaf= 
fen,  hemmen  und  zerstoren,  den  Geistern  des  Fortschritts 
dienen  und  denen  der  Verneinung  . . ." 

Was  hat  man  denn,  fragt  dagegen  Wendt1,  im  Sinne 
dieses  Kulturkritikers  unter  dem  „ Reich  des  Idealen"  zu 
verstehen?  ,,Ist  es  die  Philosophic  im  Hegel schen  Sinne, 
welche  der  Verfasser  verstanden  wissen  will,  wenn  er 
von  der  Aufgabe  spricht,  ,das  Reich  des  Idealen'  zu 
gestalten?  Beschrankt  die  Leistung  seiner  Muse  sich  auf 
das  nachtragliche  Erkennen,  so  kann  die  Technik  in 
bedingter  Weisc  einverstanden  scin;  denn  wahrend  sie 
selbst  das  Leben  baut,  sucht  die  Geschichte  nur  zu  regi= 
striercn." 

Das  letztere  ist  zwar  nicht  ganz  zutreffcnd ;  denn  es  gibt 
bekanntlich  auch  cine  Geschichtswissenschaft,  die  zu  ver- 
stehen sucht,  analog  der  erklarenden  im  Gegensatz  zur  rein 
beschreibenden,  registrierenden  Naturwissenschaft.  Wohl 
aber  sagt  Wendt  mit  Recht,  es  schcinc  doch,  als  wenn  die 
1  Lenz,  Zitat  von  Wendt,  wie  Seite  36  erwahnt. 

15* 


Technik  cbcnfalls  ,,ein  Vermogen  besitze,  ,das  Reich  dcs 
Idealen  zu  gestalten',  und  obendrein  im  Zusammenhang 
mit  dem  realen  Leben  und  nicht  nur  im  Erkennen  wie  die 
Philosophic  und  die  Geschichte." 

Hier  finden  auch  wir,  mit  Wendt  iibereinstimmend,  den 
Punkt,  an  welchem  die  Kritik  an  den  Kritikern  der  Tech= 
nik,  im  besonderen  die  Kritik  des  Unsinns  iiber  die  Tech= 
nik  einzusetzen  hat. 

Die  meisten  Kulturphilosophen,  die  sich  iiber  die  Techs 
nik  gea'ufiert  haben,  sind  in  bezug  auf  diese  ideenblind. 
Mit  Blinden  kann  man  nicht  iiber  die  Gesichtswelt  reden. 
Aber  der  Erzfehler  steckt  (auch  bei  manchen  Nichtblinden)  in 
der  Verwechslung  ihrer  subjektiven  personlichen  Wertung  und 
Rangstufung  der  Ideen  mit  objektiver,  kulturlogischer  Erkennt- 
nis,  d.  h.  in  dem  Mangel  an  Einsicht  auf  Grund  allgemeiner, 
im  Prozesse  der  ganzen  Kulturentwicklung  einleuchtender, 
logischer  Beziehungen  innerhalb  der  an  sich  sinnlosen  An- 
schaulichkeit  der  registrierten  Tatsachen. 

Die  ,,objektive  Wertung"  mufi  selbstverstandlich  auch  den 
Fehler  vermeiden,  deshalb  Rangstufen  unter  den  Ideen 
einfiihren  zu  wollen,  weil  ctwa  die  eine,  z.  B.  die  Idee  der 
materiellen  Freiheit  —  historisch  betrachtet,  biologisch  be- 
trachtet, soziologisch  betrachtet  —  vor  den  andern,  z.  B. 
den  Ideen  der  Kunst,  der  Wissenschaft,  der  Ethik  usw., 
rangiert. 

Ich  glaube  ja  auch  mit  Wendt1:  ,,Wenn  heute  ein  Gott 
herniederstiege  und  die  Menschheit  fragte,  ob  sic  lieber 
die  Handworker  missen  wollc  oder  die  Gelehrten,  sie  wiirdc 
mit  lautem  einstimmigen  Geschrei  die  Gelehrten  aus  dem 
Tempel  des  Staates  jagen !"  —  Aber  das  darf  uns  Tech= 
niker  nicht  dazu  verleiten,  die  schopferische  Arbeit  der  nur 
1  U.  Wendt,  wie  Seitc  36  erwahnt. 


crkcnnenden  Wisscnschaft  geringer  zu  bewerten  als  unscr 
fiir  die  Kultur  natiirlich  am  ersten  notwcndiges  Schaffen. 
Rein  logisch  genommen  ist  cine  Rangabstufung  der  Ideen 
sinnlos.  Entweder  ein  allgemeiner  Begriff  als  Ziel  mensch= 
licher  Tatigkeit  ist  eine  Idee,  d.  h.  er  ist  ein  aus  anderen 
nicht  ableitbarer,  im  Zwecke  gewollter  Grundgedanke, 
oder  er  ist  es  nicht.  ,,Rdnge"  gibt  es  im  Reiche  der  Ideen 
nicht  I 

Nun  zeigt  sich  in  der  neueren  Zeit  allerdings  eine  Era 
scheinung  auf  dem  Felde  der  technischen  Arbeit,  an 
der  auch  der  Techniker  verniinftigerweise  den  argsten  An* 
stoft  nehmen  muf).  Ich  meine  jene  gewissenlose,  natur* 
und  menschenunwiirdige  Ausnutzung  erfinderischer  Ge= 
danken  im  Dienste  eines  kulturblinden  Wirtschaftsbetriebes, 
der  lediglich  das  Prinzip  ungehinderter  Erzeugung  ,,wirt- 
schaftlicher  Werte"  gelten  laftt,  unbekiimmert  um  die 
Wahrung  oder  Forderung  der  anderen  Kulturwerte.  Aber 
ich  frage:  7s/  dieser  anarchistische,  ideenlose  Wirtschafts- 
betrieb  die  notwendige  Konsequenz  der  Technik?  —  Nein! 
Es  ist  die  ruckstandige,  faule  Staatsleitung,  die  hier  an* 
zuklagen  ist. 

Freilich  ware  es  feige  und  scheinheilig  von  uns  Tech* 
nikern,  wollten  wir  diese  bedauerliche  Begleiterscheinung 
der  Industrie  ganzlich  von  uns  abschiitteln.  Energisch  ver- 
wahren  miissen  wir  uns  nur  gegen  kritiklose  Werturteile 
gewisser  Kulturphilosophen,  die  von  einer  unverniinftigen 
Wirtschaftsform  auf  den  Kulturwert  der  schopferischen 
Technik  an  sich  schliefien  und  die  also  das  Ideal,  das 
der  Techniker  im  Dienste  der  Menschheit  zu  realisieren 
sucht,  verwechseln  mit  den  egoistischen  Zielen  kultur* 
feindlicher  Spekulanten.  Selbst  der  schimpflichste 

154 


brauch  der  von  uns  crstrcbten  materiellen  Frcihcit  wiirde 
noch  nicht  das  Geringste  gegen  den  Kulturwert  dcr  Tcchnik 
an  sich  besagen ! 

1(  Jipbrauch  der  Technik  frcilich  sehcn  wir  noch,  wo» 
2  YA  hin  wir  hcute  in  dcr  Industrie  blicken.  Solange  eben 
die  Verfugung  iiber  die  von  den  Erfindern  errungenen 
Mittel  in  den  Ha'nden  uneingeschrankter,  in  ihren  gei= 
stigen  und  moralischen  Qualitaten  unbesehener  Geldbe* 
sitzer  licgt,  konnen  sich  die  Dinge  schwerlich  anders  ent= 
wickeln.  Amerika  zeigt  uns,  wohin  es  auch  bei  uns  einst 
kommen  wiirde  —  wenn  es  so  weiterginge.  Aber  das  Ge» 
wissen  eines  kulturell  so  hochstehenden,  innerlich  befreiten 
und  so  selbstbewuftten  Volkes,  wie  des  deutschen,  erhebt 
den  energischsten  Protest  dagegen.  Und  so  werden,  wenigs 
stens  in  absehbarer  Zeit,  der  Staat,  in  erster  Linie  aber 
die  Gemeinden,  Schritt  vor  Schritt  auf  die  vernunftgemafie 
Disposition  des  Wirtschaftsbetriebes  einzuwirken  haben. 

Horen  wir  nur,  was  Wells1,  ein  begeisterter  Freund  der 
Amerikaner,  iiber  die  Industrie  in  Chicago  und  Umgegend 
berichtet,  und  wir  haben  ein  Bild  des  Manchestertums, 
wie  es  im  Buche  steht: 

,,Chicago//,  sagt  Wells,  /;ist  die  vollendetste  Darstellung 
des  individualistischen  Industriewesens  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  die  mir  je  in  all  ihrer  ungeheuren,  groft3 
ziigigen  Unschonheit  begegnet  ist  . . .  Es  ist  die  grobe,  aus 
wildestem  Wettbewerb  hervorgegangene,  wiirdelose,  un= 
intelligente  Entfaltung  materiellen  Reichtums  . . .  Alles, 
was  in  Amerika,  in  Lancashire,  im  siidlichen  und  west* 
lichen  London,  am  Pas  de  Calais,  im  westlichen  PreuSen 

1  H.  G.  Wells,  Die  Zukunft  in  Amerika.  tlbersetzt  von  P.  Fohr. 
E.  Diederichs,  Jena  1911. 


ha'BHch  ist,  gehort  hierher,  kommt  auf  Rcchnung  des 
Drangens  und  Stoftens,  des  unintelligentcn  Gebarens  un» 
gebildeter,  moralisch  abgcstumpfter  Menschen." 

Und  die  nahere  Beschreibung  dazu:  ^Chicago  brennt 
bituminose  Kohle,  und  der  Dunst  ist  dort  noch  arger  als 
in  London;  zu  beiden  Seiten  der  Bahn  erheben  sich  un= 
geheure  Fabrikschlote,  grofte  rauchgeschwarzte  Getreide= 
elevatoren,  flammengekronte  Schmelzofen  und  ungestalte, 
haftliche,  schmutzige  Fabrikgebaude;  uberall  unformige 
Haufen  von  Abfallen,  verwahrloste,  leere  Grundstiicke, 
auf  denen  rostige  Blechbiichsen,  altes  Eisen  und  unbe= 
schreiblicher  Kehricht  umherliegen;  dazwischen  Gruppen 
schmutziger,  verdachtiger  und  krankheitsgefahrlich  aus= 
sehender  Holzhauser  ..." 

Ich  frage  aber  nochmals :  Ist  dieser  Schauplatz  blindester 
Geldgier  etwa  die  Manifestation  der  Technik?  Der  Tech=> 
nik,  in  der  wir  Idealisten  —  welche  grimmige  Ironic!  — 
die  materielle  Freiheit  des  Menschengeschlechts  verwirk= 
licht  sehen  mochten?  —  Es  ist  ihr  grafilichster  wirtschaft= 
licher  Miftbrauch,  derselbe  MiBbrauch,  der  die  Kirchen 
und  Kunsttempel  zu  Folterkammern  und  Geschaftshau= 
sern  machte.  Wir  sehen  hier  nur,  wie  die  Amerikaner  ihr 
Gotzenbild,  den  Mammon,  mit  Hilfe  der  Technik  verehren. 
,,Der  Morgen  aber  kommt"  —  ruft  Wells  trotz  seiner 
Schilderung  am  Ende  aus — ;  ,,auch  mitten  im  dustern, 
schmutzigen  Chicago  gewahrt  das  Auge  des  Hoffnungsfreu* 
digen  das  Licht  einer  neuen  Zeit;  es  sieht  neue  Anschauun= 
gen,  groBere  Umsicht,  auf  das  Grofie  und  Ganze  gerichtete 
Entwurfe  und  die  zu  ihrer  Verwirklichung  gehorende  Diszi= 
plinierung  kommen;  es  sieht  aus  all  dem  faulenden  Diinger 
der  Gegenwart  das  frische,  grune  Laub  der  Riesengewachse 
einer  geordneteren  und  schoneren  Zeit  aufsprossen." 

156 


Wells  ist  ein  Mann  der  Zukunft.  Er  hat  den  Mut  zu 
sehen,  daft  die  technische  Entwicklung  nicht  mit  Notwens 
digkeit  diese  Scheufilichkeiten  hervorgebracht  hat,  daft  im 
Gegenteil  die  Technik  die  einzige  Macht  sein  wird,  um  sie 
aus  dem  Wege  zu  ra'umen. 

,,Nicht  unser  Fehler  ist  es",  sagte  schonEy//!1,  ,,da&  die 
Fortschritte  des  technischen  Schaffens  hundertfach  mi§» 
braucht  wurden,  auch  nicht,  daft  ihre  Folgen  mit  den  Ge= 
wohnheiten  eines  scheidenden  Geschlechts  nicht  immer 
und  nicht  sofort  harmonisieren.  —  Wo  solche  Dissonan= 
zen  voriibergehend  auftreten,  sind  wir  nicht  mit  alien  ver* 
ftigbaren  Mitteln  sofort  an  der  Arbeit,  eine  neue  Harmonic 
herzustellen  ?  Und  ist  dies  gelungen,  ist  dann  nicht  jedesmal 
die  Menschheit  um  einen  Schritt  vorwarts  gekommen?" 

Aber  die  Kulturpessimisten  geraten  bei  den  Dissonanzen 
eines  entarteten  Wirtschaftslebens  mit  der  Natur  und  KuU 
tur  schier  in  Verzweiflung  —  wie  alle  Pessimisten  bei 
jedem  Fehler,  den  die  Welt  zeigt,  sogleich  am  ganzen  Da* 
sein  verzweifeln. 

Du  Bois-Reymond2  trostet  uns  noch  hoffnungsvoll  iiber 
die  Zukunft  der  Industrialisierung:  ,,Die  Menschheit  kann 
von  Glilck  sagen,  meint  er,  daft  das  Klima  und  die  Boden= 
beschaffenheit  eines  groften  Teiles  der  Erdoberlache  dies 
sem  unaufhaltsamen  Wachstum  erfolgreich  widersteht. 
Sonst  wurden  unsere  Nachkommen  statt  der  Baume  nur 
noch  Schlote  und  Telegraphenstangen  kennen,  statt  der 
Fliisse  nur  noch  Frachtkanale  und  statt  der  Berge  nur  noch 
die  Halden  der  Hiittenabfalle." 

Dagegen    gera't   Auburtin3   ganz    aus   dem   Hauschen: 

1  M.  Eyth,  wie  Seitc  42  crwahnt.  *  A.  Du  Bois-Reymond,  wie 
Scite  102  erwahnt.  s  V.  Auburtin,  Die  Kunststirbt.  A.  Langen, 
Miinchcn  1911. 


,,Gebirge  wurden  aufgerissen,  Provinzen  bedeckten  sich 
mit  Rufi  und  mit  cklen,  graucn  Hauserreihen,  in  denen  eine 
elende  Arbciterschaft  wie  Ameisenvolker  lebt  ..." 

,,Der  Rheinstrom  wurde  der  Nutzlichkeit  gcopfcrt,  Rom 
wurde  dem  ,technischen  Fortschritt'  gcopfcrt  . . .  Eine 
Welt  ohnc  Rhcin,  cine  Welt  ohne  Rom,  dcnke  dies  durch, 
Frcund  Leser,  und  du  ftihlst,  wie  es  Nacht  wird.  Die  grofte 
cine  Nacht,  dcr  wir  alle  entgegengehen.  — " 

Schlimm,  sehr  schlimm!  Aber  man  rede  doch  nicht  von 
Opfern,  die  hier  dcm  ntechnischen  Fortschritt"  gebracht 
wurden!  —  ,,Ein  greulicher  Fehler,"  sagt  Sombar^s^r 
richtig,  ,,der  heutzutage  immer  wieder  begangen  wird,  ist, 
daft  man  den  technischen  Einfluft  (auf  die  Kulturentwick= 
lung)  von  anderen  Einfliissen  nicht  sondert,  z.  B.  von  dem 
Einflug  der  Wirtschaft."  Die  treibcnden  Machtc  des  Wirt= 
schaftslebens  bringcn  unleugbar  allzuoft  Zustande  hervor, 
die  gewift  als  hochst  bedauerlich  zu  bezeichnen  sind.  Abcr 
das  hat  mit  dem  Wesen  der  Technik  ebensowcnig  zu  tun 
wie  mit  dem  Wesen  der  Kunst  oder  des  Rechtcs,  welches 
hier  oft  in  brutaler  Weise  verlctzt  wird. 

Es  rnufi  freilich  schon  gewescn  scin,  klagt  auch  Wells2, 
wcnn  man  nach  einsamer  Tagereise  mit  cinem  Male  un« 
versehens  vor  dem  Niagara  stand!  ,,Die  Indianer  sollen 
ihm  gottlichc  Verehrung  erwiesen  haben.  Das  Wunderbarc 
verliert  sich  indessen  einigermaSen,  wenn  man  mit  der 
elektrischcn  Bahn  dorthin  fa'hrt  auf  ciner  Strafie,  die  von 
Droschkcn  wimmelt,  und  wo  beutelustige  Restaurants, 
Verkaufsbuden  fur  ,Andenken'  und  zudringliche  Fiihrer 
einander  den  Platz  streitig  machen  ...  Als  Naturschau* 

1  W.  Sombart,  Verhandlungen  des  erstcn  dcutschcn  Sozio* 
logentagcs,  Seite  63.  Mohr,  Tubingen  191 1 . 2  H.  G.  Wells,  wie 
Seite  155  erwahnt. 

158 


spiel,  als  Wasserfall  zeichnct  sich  der  Niagara  hcute  nur 
mchr  durch  seine  Wassermenge  aus.  Der  Eindruck  fiirs 
Auge,  der  Blick  auf  seine  erstaunliche,  zur  Andacht  stim= 
mende  Grofie  und  Kraft  ist  la'ngst  unwiederbringlich  zer= 
stort  worden  durch  die  ringsumher  entstandenen  Hotels, 
Fabriken,  Kraftstationen,  Brucken,  Trambahnen  und  Re= 
klametafeln." 

Wie  anders  hatte  dies  alles  aber  werden  konnen,  wenn 
hier  Technik  mil  Vernunft  zur  Herrschaft  gekommen  ware, 
wenn  hier  cine  hohere  Initiative  aus  Kulturinteressen  und 
nicht  der  nichtswiirdige  Eigennutz  von  wer  weift  wie  be= 
schaffenen  Individuen  ,,wirtschaftliche  Werte"  geschaffen 
hatte!1 

A  llerdings  fordert  das  technische  Zeitalter  vom  Men= 
./~\schen  nachgerade  auch  einiges  Interesse  und  Ver- 
stdndnis  fiir  die  Werke  der  Technik  und  ihren  tieferen 
Sinn.  Jedenfalls  braucht  der  Kulturmensch  der  Zukunft 
diese  Bildung  ebenso  notig,  wie  man  von  uns  Verstandnis 
fiir  die  Kunst  und  andere  Werte  verlangt.  Die  grellen  Dis* 
sonanzen,  die  schrillcn  Pfeifentone  in  der  Seele  des  Wan= 
derers,  der  durch  Industriegebiete  pilgert,  werden  sich 
dann  von  selbst  auf  jenes  geringste  Maft  beschranken,  das 
allein  bedingt  ist  durch  die  Notwendigkeit  des  Mitein« 
anderbestehens  und  der  Verwirklichung  mehrerer  Kultur= 
ideen  zu  gleicher  Zeit,  unter  denen  die  Wildheit  der  natiir= 
lichen  Materie  vom  Menschen  umgestaltet  wird. 

,,Ich  bin  des  Glaubens,"  sagt  Wells,  Wda6  alle  Natur* 

1  Dber  die  Beriicksichtigung  der  kiinstlerischen  Anforderuns 
gen  bei  ,,Nutzbauten"  vgl.  den  vortrefflichen  Aufsatz  von 
W.  Franz,  ,,Ingenieurarchitekturen",  mit  23  Abbildungen. 
Technik  u.  Wirtschaft,  Monatsschrift  d.  Ver.  d.  Ingenieure. 
3,  321  (1910). 


schonheiten  dcr  ganzcn  Welt  lediglich  als  Stoff  fur  EinbiU 
dungskraft  und  Gcist  zu  diencn  bcstimmt  ist,  Andcutung 
und  Anweisung  zu  liefcrn  hat  fur  Kunst  und  menschliches 
Schaffcn  . . .  Der  Mensch  lebt  um  dcr  schopferischen 
Tatigkeit  willcn,  und  cr  mufc  doch  wohl  schlieftlich  als 
Schopfer  handcln,  es  bliebe  ihm  ja  sonst  nichts  zu  tun 
iibrig  . . .  Ich  fur  mcinen  Teil  kann  den  Verlust  all  des  zu= 
falligen,  zwecklosen  Schonen  ohnc  Groll  mit  ansehen,  das 
fur  die  Schonheit  kiinftiger  hoher  Ordnung,  edlen  Strebens 
dahingeht  . . .  Die  Dynamos  und  Stollen  der  ,Niagara= 
Wasserkraftgesellschaft'  haben  mir  . . .  einen  viel  tieferen 
Eindruck  gemacht  als  die  Grotte  der  Winde;  sic  sind,  so 
will  mir  scheinen,  grofcer  und  schoner  als  dieser  Luft* 
wirbel,  die  Begleiterscheinungen  sttirzender  Gewasser. 
Sie  sind  sichtbar  gewordener  Wille,  Gedanken,  die  man  in 
frei  arbeitende  und  kraftgebietende  Dinge  iibersetzt  hat. 
Sie  sind  sauber,  gerauschlos  und  das  Urbild  der  Kraft. 
Das  Gerassel  und  der  Tumult  aus  der  Kindheit  des  Ma= 
schinenwesens  ist  hierendgiiltigabgetan;  hier  gibt  es  weder 
Rauch,  noch  Kohlenstaub,  noch  irgendwelchen  Schmutz. 
1m  Turbinenschacht,  in  den  man  hinabsteigt,  herrscht  eine 
fast  klosterliche  Stille  um  die  leise  summenden  Turbinen. 
Diese  sind  wirklich  herrliche  Maschinenmassen,  riesige, 
schwarze,  schlummernde  Ungeheuer,  grofie,  schlafende 
Kreisel,  die  traumend  unwiderstehliche  Krafte  erzeugen." 

Und  dann  frage  man  sich  doch :  Wiirde  denn  ein  mafi= 
loses,  planloses  Sichdurchsetzen  der  gottlichen  Idee  der 
Kunst  nicht  genau  dieselben  Dissonanzen  hervorrufen 
wie  die  Idee  der  Technik,  wo  sie  in  wilder,  ziigelloser  Form 
im  Dienste  des  Wirtschaftslebens  verwirklicht  wird? 

Man  stelle  sich  nur  einmal  vor,  wenn  es  keinen  Ort  auf 
der  griinen  Erde  mehr  gabe,  kein  Platzchen  in  der  stillen 

160 


Natur,  wo  nicht  in  hochst  kiinstlerischer  Weise  musiziert 
oder  Theater  gespielt  wurde,  wenn  jeder  Pels,  jeder  Baum= 
stamm  von  abgestrichenen  Olfarben  der  Landschaftsmaler 
erglanzte,  wenn  alle  uns  sichtbaren  Mitteilungen  in  kunst* 
voll  gesetzte  Reime  gebracht  wiirden !  Die  Naturvernich= 
tung  unc  die  Verfolgung  durch  die  wildgewordenen 
Kiinstler  wiirde  uns  ebenso  verhaftt  sein,  wie  der  unsin= 
nige  Amerikanismus  der  Technik  —  das  Werk  jener  ver» 
abscheuungswurdigen  Spekulanten,  die  im  Begriffe  sind, 
ein  herrliches  Land  zu  verwiisten ! 

Aaer  es  gibt  noch  etwas  viel,  viel  Schlimmeres !  Und 
das,  meinen  unsere  Pessimisten,  habe  nun  die  Tech* 
nik  wirklich  selbst  auf  dem  Gewissen :  Erstens  den  starken 
Anreiz  zu  unpersonlicher  technischer  Arbeit  und  zweitens 
die  Verfiihrung  zu  einem  rein  materialistischen  Lebens= 
genusse,  als  dessen  notwendige  Folge  sic  die  vollige  see= 
lische  Verodung  des  Kulturmenschen  der  Zukunft  zu 
erblicken  glauben. 

,,Die  Zukunft",  sagt  Auburtin1  kurz,  ,,wird  keine  Person* 
lichkeiten  dulden  und  ertragen",  wie  ahnlich  v.  Mayer2 
an  vielen  Stellen  seines  Werkes,  zu  denen  wir  diese  noch 
fiigen :  ,,Entpersdnlichung,  das  ist  der  letzte  Geist  der  Tech- 
nik, besonders  deutlich  in  der  gewerblichen  GroBtechnik, 
aber  nicht  minder  deutlich  im  offentlichen  Leben,  das  von 
der  Technik  Gnaden,  in  der  Technik  Diensten  ist." 

Jedoch  die  weiteren  Schliisse  Auburtins  iibertreffen  noch 
die  starksten  v.  AJayfr'schen  Sa'tze  an  grotesker  Drastik. 
Sie  sind  kostbar:  ,,Es  wird  gearbeitet,  damit  gefressen 
werden  kann,  und  es  wird  gefressen,  damit  gearbeitet 

1  V.  Auburtin,  wie  Seite  157  erwahnt.  a  E.  v.  Mayer,  wie  Seite 
46  erwahnt. 

n  Ztchimmcr,  Philoiophie  der  Tcchnik  1°1 


werden  kann.  Und  cs  wird  mit  grofiter  Sorgfalt  die  Brut 
gcpflcgt,  damit  die  nachste  Generation  nicht  etwa  aus  der 
Art  schlage,  sondern  es  ersprieftlich  genau  so  treibe,  wie 
die  gegenwartige.  —  So  werden  wir,  so  sind  wir  schon. 
Unsere  Spezies  geht  einer  Verameisung  entgegen.  Wie 
bei  den  Ameisen  und  Bienen  der  Staat  alles,  die  Personlich« 
keit  nichts  ist,  wie  bei  ihnen  die  Frefts  und  Greiforgane 
auf  Kosten  des  verkiimmernden  Gehirnes  sich  entwickel* 
ten,  so  wird  es  auch  bei  uns  geschehen,  die  wir  unser  Heil 
auf  das  Diimmste  und  Gemeinste  gcstcllt  haben,  auf  die 
Arbeit.  —  All  das  Feine  und  Leise,  das  der  Mufte  und  dem 
Eigensinn  des  Individuums  entbliihte,  das  wird  verkiim= 
mert;  schon  in  der  Schule  den  Rotznasen  die  Niitzlichkeit 
als  das  Hochste  gepriesen;  das  ganze  Leben  darauf  eingc= 
richtet,  ja  keine  Minute  zu  vertraumen,  ja  die  Zeit  fleifiig 
zu  verhammern  und  zu  verpochen,  ja  immer  mitten  im 
wimmelnden  Haufen  zu  bleiben."  Das  ist  gewiS  starker 
Tobak! 

Doch  gehen  wir  nun  zum  andern  —  zur  ,,Verodung 
der  Seele". 

Herr  Auburtin  iibertrifft  in  seinen  Urteilen  stets  alles 
bisher  Dagewesene.  Das  Herrlichste,  was  Menschen  je 
verehrt  haben,  werden  wir  ja  alle  zugeben,  ist  die  Kunst. 
Weil  aber  das  verdammte  Ideal  der  technischen  Kultur 
immer  weitere  Kreise  zieht,  weil  unleugbar  immer  mehr 
Technik  in  die  Welt  kommt  und  von  den  Menschen  mit 
wahrer  Lust  genossen  wird,  so  —  stirbt  die  Kunst. 

Die  Kunst  stirbt!  Dabei  sagt  Chamberlain1  ,,Von  uns 
Germanen  soil  noch  viel  Kunst  geschaffen  werden,  und 

1  H.  S.  Chamberlain,  Die  Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts. 
10.  Aufl.  Volksausgabe.  Bruckmann,  Miinchen  1912. 

162 


was  geschaffen  wird,  diirfcn  wir  nicht  an  dem  Maftstab 
cincs  fremden  Friihcrcn  messen,  sondcrn  wir  miissen  es 
vermittcls  eincr  umfassendcn  Kenntnis  unserer  Eigenart 
beurteilen." 

Sind  dcnn  Rodin,  Klinger  und  Hodler,  Hauptmann,  die 
nordischen  Dichter,  Richard  Straufi  und  Reger  nicht  unsere 
Zeitgenossen,  die  Gcnossen  dcs  technischen  Zcitalters,  die 
auch  so  etwas  wie  Kunst  hcrvorgebracht  habcn? 

Wieviel  richtiger  ist  doch  hicrgegen  —  ich  mcine  gegen 
den  absoluten  Pessimismus  eines  Auburtin  —  das  Urteil 
des  Metaphysikers  Braun1 ,  dem  man  gewift  nicht  viel 
Liebe  zur  Technik  zutrauen  sollte:  ,,Die  anfangs  als  kunst» 
feindlich  erkannte  Technik  hat  sich  ...  als  kunstfordernd 
erwiesen  —  und  der  kunstlerische  Genufc  findet  heute 
tausendfache  Anregung  an  dem  Lichterspiel  der  GroB- 
stadt,  der  Bahnhofe  oder  an  dem  eleganten  Schwung  der 
eisernen  Briicken."  Und  Weber2  meint  sogar:  ,,Es  ist  gar 
nicht  moglich,  . . .  daft  gewisse  formale  Werte  der  mo= 
dernen  Malerei  ohne  den  noch  nie  in  aller  Geschichte 
menschlichen  Augen  dargebotenen  Eindruck,  denjenigen 
eigentiimlichen  Eindruck,  den  die  moderne  Groftstadt 
schon  am  Tag,  aber  vollends  in  iiberwaltigender  Weise  bei 
Nacht  macht,  hatten  errungen  werden  konnen.  Und  da  das 
Sichtbare  . . .  bei  jeder  modernen  Groftstadt  bis  ins  letzte 
hinein  seine  spezifische  Eigenart  prima'r  . . .  von  der  mo* 
dernen  Technik  empfangt,  so  ist  hier  allerdings  ein  Punkt, 
an  dem  die  Technik  rein  als  solche  sehr  weittragend  fur  die 
kunstlerische  Kultur  Bedeutung  hat." 

Doch  horen  wir,  was  unser  Pessimist  Auburtin  unter 

1O.  Braun,  wie  Seitc  no  erwShnt.  «  Af.  Weber,  Verhand- 
lungcn  des  ersten  dcutschen  Soziologcntages,  S.  99.  Mohr, 
TObingcn  1911. 


,,der  Kunst"  versteht.  Die  Kunst,  die  wir  die  freie  nennen, 
braucht  seiner  Ansicht  nach  ,,den  Mutterboden  einer 
Naivitat,  eines  Wahnes,  einer  Erregung,  sei  diese  Erregung 
auch  noch  so  verriickt,  wie  sic  will".  Das  klingt  wie  ein  Be= 
kenntnis  aus  den  Kaffeehausern  der  GroBstadt. 

,,Kunst",  sagt  er,  ,,wird  von  MiiBiggangern  gemacht, 
handelt  von  Miifiiggangern  und  kann  nur  von  Tagedieben 
verstanden  werden,  die  auf  der  Bank  im  Schatten  des 
Kastanienbaumes  lungern.  . . .  Die  wahre  Poesie  flieht  die 
Helligkeit  und  baut  im  Dammer  des  Aberglaubens  ihre 
korallenen  Nester.  Sie  wispert  um  die  verlorenen  Kronen 
kranker  Kaiser,  um  tote  Steinbischofe  im  Dom,  um  das 
Greuelblutopfer  im  Walde,  um  den  ermordeten  Konig,  der 
nachtlich  bleich  umgeht  und  die  Wache  schreckt." 

Ich  sage  nicht,  daft  das,  was  Auburtin  hier  so  wunder= 
voll  zu  treffen  weiB/  nicht  Kunst  sei.  Aber  ,,die  Kunst"  ist 
mir  doch  viel  zu  groB,  um  nicht  noch  andere  Leistungen 
zu  vollbringen  und  mit  anderen  MaBstaben  gemessen  zu 
werden!  —  Wahnsinnsausbriiche,  lyrische  Poesie,  Mar= 
chendichtung  und  Romankunst,  das  alles  kann  etwas  Herr= 
liches  und  Unvergleichliches  sein  —  sollte  aber  alles  an= 
dere  davor  in  den  Staub  sinken,  nichts  sein?  —  Herr 
Auburtin  glaubt  es  selbst  nicht!  Und  er  glaubt  auch  nicht, 
daB  das  der  Kunst  bevorsteht,  was  er,  verargert  durch  die 
Erscheinungen  des  Wirtschaftslebens,  prophezeien  zu  miis= 
sen  fur  notig  halt: 

,,Die  Kunst  stirbt,  weil  sic  ihre  Vorwurfe  und  ihre  stillen 
Zuhorer  zu  verlieren  im  Begriffe  ist.  Weil  die  Quellen,  aus 
denen  sie  gespeist  wurde,  verschuttet  werden :  die  Leiden= 
schaft,  die  Stille  der  gutgestimmten  Stunde,  das  Flimmern 
der  ostlichen  Marchen,  die  konigliche  Gebarde  des  Er* 
oberers  und  der  Segen  eines  verlogenen  Pfaffen  im  ver* 

.64 


dammernden  Hciligtum.  Weil  das  alles  cincr  modernen 
Niitzlichkeit  geopfert  wurdc.  Weil  die  Welt  hygienisch  mil 
Olfarbe  angestrichen  wurde  von  einem  Ende  zum  anderen. 
Weil  der  Waldbach,  an  dem  die  Najade  traumte,  nun  unge= 
mein  praktisch  dazu  verwendet  wird,  die  Abwasser  der 
chcmikalischen  Fabrik  von  Hannemann  &  Co.  zu  Tale  zu 
fiihren.  Deshalb  stirbt  die  Kunst." 

Das  Wichtigste,  was  Auburtin  als  Argument  in  seine 
Sache  zu  stellen  hat,  ist  dieses,  ,,daft  die  Leidenschaft 
stirbt,  und  daft  deshalb  auch  die  Kunst  sterben  muft,  die 
eine  Sache  der  Leidenschaft  ist ...  Weder  ein  Shakespeare, 
noch  eine  Sappho  waren  heute  noch  moglich  . . .  Shake- 
speare konnte  wirklich  hineinfassen  ins  voile  Menschen= 
leben.  Wir  aber,  wo  wir's  packen,  da  fassen  wir  eine  alte 
Konservenbiichse."  —  Ich  denkc,  c'as  geniigt! 

Nachdem  sich  meine  Leser  vom  Lachen  iiber  diese 
wirklich  ganz  entzuckende  Prognose  eines  leiden* 
schaftlichen  Feindes  der  Technik  erholt  haben,  wollen  wir 
weitergehen  mit  der  Ruhe  und  Gelassenheit  von  Leuten, 
die  wissen,  daft  sie  etwas  geschafft  haben  —  mogen  andere 
sich  zurzeit  in  unserer  Welt  noch  zu  krank  ftihlen,  um  mit 
Vernunft  darin  zu  leben,  oder  zu  schwach,  um  ihr  eigenes 
Werk  mit  derselben  Kraft  dagegen  zu  stellen,  wie  wir 
das  tun. 

Ich  frage:  Bringt  die  Technik  die  bosen  Menschen  her= 
vor?  Will  man  verlangen,  daft  sie  auBcr  ihren  groften 
Schopfungen  auch  noch  diejenigen  Exemplare  der  Spezies 
homo  sapiens  verbessern  soil,  die  nicht  imstande  sind,  sich 
menschenwiirdig  zu  gebarden?  — 

Es  ist  wohl  selbstverstandlich,  daft  hierum  die  tiichtigen 
Vertreter  anderer  Kulturideen  bemuht  werden  muftten, 

165 


nicht  die  Ingenicurc  odcr  Chemiker.  An  jencn  liegt  cs  doch 
allein,  wenn  ihrc  gcistige  Energic  zurzeit  noch  zu  klein  ist, 
um  crfolgrcich  mitzubauen  an  cincr  ncucn  Kultur,  die 
ihren  Untergrund  mit  eiserner  Notwendigkeit  in  der 
schnellsten  Fortentwicklung  der  Technik  finden  muf). 

Gegen  die  Folgen  des  technischen  Fortschritts  aber, 
sagen  unsere  Feinde,  ist  kein  Kraut  gewachsen.  Der  mo* 
derne  Mensch  leidet  unheilbar  an  der  Krankheit  seiner  Ar» 
beit  und  seiner  Umgebung,  und  daran  wird  er  seelisch 
zugrunde  gehen. 

Allerdings,  das  wird  zugegeben,  die  Menschen  werden 
durch  die  Technik  intellektueller,  geistiger,  objektiver.  Aber 
,,Geist  und  Seele",  sagt  Schultze1,  ,,sind  nicht  gleich* 
bedeutend.  Es  gibt  manche  aufierordentlich  kluge  Men» 
schen,  denen  doch  wichtige  seelische  Eigenschaften  fehlen. 
Und  aller  geistige  Fortschritt  wird  die  Menschheit  un« 
befriedigt  lasscn,  wenn  er  nicht  in  enger  Verbindung  mit 
den  wichtigsten  Grundelementen  unseres  Seelen=  und 
Gemiitslebens  steht."  Und  dieses  eben  sind  wir  auf  dem 
besten  Wege  durch  die  Technik  zu  verlieren.  lfEine  der 
bedeutendsten  Erscheinungen  der  Gegenwart",  konstatiert 
Schultze  kurz  und  trocken,  ,,ist  die  Entseelung  unseres  Lebens." 

Auch  Simmel2  meint:  In  der  Gegenwart,  ,,in  der  das 
Vorwiegen  der  Technik  ersichtlich  ein  Uberwiegen  des 
klaren,  intelligenten  Bewufttseins  —  als  Ursache,  wie  als 
Folge  —  bedeutet",  wird  alle  ,,Geistigkeit  und  Sammlung 
der  Seele  von  der  lauten  Pracht  des  naturwissenschaftlich= 
technischen  Zeitalters  tibertaubt  und  racht  sich  als  ein 
dumpfes  Gefiihl  von  Spannung  und  unorientierter  Sehn= 
sucht;  als  ein  Gefiihl,  als  la'ge  der  ganze  Sinn  unserer  Exi» 


1  E.  Schultze,  Kulturfragen  der  Gegenwart.  W.  Kohlhammer, 
Berlin  1913.  a  G.  Simmel,  wi .  Seite  32  erwahnt. 

166 


stcnz  in  ciner  so  weiten  Feme,  daft  wir  ihn  gar  nicht  be* 
stimmt  lokalisieren  konnen,  und  so  immer  in  Gefahr  sind, 
uns  von  ihm  fort,  statt  auf  ihn  hin  zu  bewegen  —  und  dann 
wieder,  als  la'ge  er  vor  unseren  Augen,  mit  einem  Aus= 
strecken  der  Hand  wtirden  wir  ihn  greifen,  wenn  nicht  im* 
mer  gerade  ein  Minimum  von  Mut,  von  Kraft  oder  von 
innerer  Sicherheit  uns  fehlte." 

Die  Technik  macht  zuviel  Spektakel.  ,,Im  Hagel  der 
Tatsachen",  sagt  Rathenau1,  ,,erstirbt  die  Verwunderung, 
der  Respekt  vor  dem  Ereignis,  die  Empfanglichkeit,  und 
gleichzeitig  erhoht  sich  die  Begierde  nach  neuen  Tat- 
sachen, nach  Steigerungen.  Wird  die  Begierde  nicht  ge= 
sattigt,  so  tritt  cine  verzweifelte  Erschopfung  ein,  die  dem 
Menschen  seine  eigne  Lebenszeit  hassenswert  erscheinen 
laftt  und  daher  Langeweile  genannt  wird."  —  Als  wenn 
Schopenhauer  doch  recht  gehabt  hatte!  Wir  werden  so» 
gleich  horen,  was  daraus  folgen  soil. 

Ich  sagte,  jede  Zeit  habe  ihre  Ideale.  Es  konnte  auch  an= 
ders  hciftcn:  Jede  Zeit  hat  ihren  Charakter.  Rathenau 
sieht  den  Charakter  unserer  Zeit  vor  allem  durch  zwei 
verderbliche  Momente  bedingt:  Durch  den  Ehrgeiz  der 
Arbeit  und  durch  den  Warenhunger  —  zwei  Motive,  die 
ihm  kausal  verkniipft  erscheinen  mit  der  Technik,  sei  es 
nun  mit  der  Erschaffung  der  technischen  Mittel  oder  mit 
dem  GenuB  der  Erfolge,  bzw.  deren  bloBem  Anblick,  der 
die  Menschen  verfiihrt. 

,,Ehrgeiz  und  Warenhunger  arbeiten  sich  in  die  Hande. 
Der  cine  zwingt  den  Menschen,  sich  immer  fester  in  das 
Joch  der  Mechanisierung  einzupressen;  er  steigert  seine 
Erfindungskraft,  seinen  produktiven  Willen.  Der  andere 
1  W.  Rathenau,  wic  Seite  73  erwahnt. 

167 


crhoht  sein  Konsumbcdiirfnis  und  la'Bt  ihn  doch  gleich= 
zeitig  empfinden,  daft  nur  ein  cmsig  schaffcndes  Organ  die 
Lust  dcs  Kaufcns  daucrnd  genieften  darf.  —  Die  Summc 
der  beiden  Haupttriebkrafte  abcr  steigert  sich  zu  einem  Ge= 
samtwillen,  der  entschiedener  als  irgendeine  andere  Er* 
scheinung  die  Seele  unserer  Epoche  kennzeichnet,  indem 
er  ihr  den  Stempel  des  nach  auften  gerichteten  Strebens 
aufpragt." 

Diese  ,,Suprematie  des  substantiellen  Willens  iiber  die 
Seelenkrafte",  dieses  ,,Zweckmenschentum"  charakteri= 
siert  die  Psyche  des  westlichen  Europa.  In  ihm  glaubt 
Rathenau  die  Charaktereigenschaften  jener  ,,furchtsamen 
Stamme"  wiederzuerkennen,  die  einst  in  grauer  Vorzeit 
als  die  minderwertige,  unterjochte  Unterschicht  von  einer 
herrschenden  Oberschicht  aus  edlerem  Blute  abhangig 
war.  Und  diese  Zweckmenschen  —  man  braucht  nicht 
auszusprechen,  was  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen  ist  — 
sind  natiirlich  wir,  die  Techniker. 

Sehen  wir  wirklich  so  aus?  Ich  da'chte,  von  den  ganz 
furchtsamen  Stammen  ka'men  wir  doch  wohl  nicht  her. 
Aber  interessant  ist  dieser  Schluft  eines  Kulturphilosophen, 
der  freilich  von  sich  sagt,  daft  ihm  zweierlei  fehle:  ,,Die 
Ausfuhrlichkeit,  die  der  Leser  von  Betrachtungen  verlangt, 
und  die  Uberredungskunst  des  dialektischen  Beweises,  die 
er  nicht  respektiere",  weil  er  glaubt,  ,,daft  jeder  klare  Ge= 
danke  den  Stempel  der  Wahrheit  oder  des  Irrtums  auf  der 
Stirn  tra'gt."  Ich  glaube  das  nicht ;  —  Gedanken  kdnnen  klar 
und  doch  beidessein :  Wahr  oder  falsch.  Doch  kehren  wir 
nach  dieser  kleinen  rassenpsychologischen  Dberraschung 
zum  eigentlichen  Thema  zuriick  —  zum  ,,Warenhunger//. 

,,Fast  mochte  man  meinen,"  sagt  Rathenau,  ,,die  Mensch= 
heit  sei  von  einer  Manic  des  Warenbesitzes,  von  einer 

168 


Geratetollheit  befallen  .  . .  Mit  dem  Lacheln,  das  uns 
entlockt  wird,  wenn  wir  von  der  Freudc  ostafrikanischer 
Negcr  an  preuftischen  Husarenjacken  horen,  werden  unserc 
Nachkommen  vernehmen,  von  welchem  Warenhunger  wir 
bcscsscn  waren.  Ein  Drittel,  viclleicht  die  Halfte  der  Welt* 
arbeit  geht  auf,  um  der  Menschheit  Reizungs=  und  Be* 
taubungsmittel,  Schmuck,  Spiel,  Tand,  Waffen,  Vergnii= 
gungen  und  Zerstreuung  zu  verschaffen,  deren  sie  zur  Era 
haltung  des  leiblichen,  zur  Begliickung  des  seelischen  Le= 
bens  nicht  bedarf,  die  vielmehr  dazu  dicnen,  den  Menschen 
dem  Menschen  und  der  Natur  zu  entfremden.  . . .  Die  Zeit 
steht  vor  der  Tiir,  die  in  diesem  Narrenkram  das  materielle 
Weltverbrechenerblicken  und  mitverstandnislosem  Grauen 
die  Spielzeuge  des  20.  Jahrhunderts  betrachten  wird." 

Den  Warenhunger  und  die  Geratetollheit  zugegeben, 
frage  ich  nur:  1st  denn  die  Technik  fiir  die  Lebensan= 
schauung  des  amerikanischen  oder  europaischen  Gelds 
pobels  verantwortlich?  Ich  dachte,  das  hatte  vielmehr  an= 
dere  Grunde!  Man  braucht  sich  iiber  die  Erscheinungen 
einer  solch  groben  Unkultur  nicht  zu  wundern,  wenn  un= 
geheure  Geldsummen  und  damit  ein  ungeheures  Ver= 
fiigungsrecht  iiber  die  gottliche  Freiheit,  die  wir  Techniker 
schaffen,  in  den  schamlosen,  glatten  Fausten  ehemaliger 
Stiefelputzer  und  Laufburschen  konzentriert  werden. 

Was  ist,  ist.  Aber  verantwortlich  hierfiir  muB  die  man= 
gelnde  Vernunft  der  Staatsleitung  gemacht  werden,  nicht 
die  Technik! 

Es  gibt  indessen  auch  andere  Ansichten  der  Sache,  die 
ich  dem  Leser  nicht  vorenthalten  mochte.  Kraft1  sagt 
in  nuchterner  Erwagung  der  Dinge,  es  lieSe  sich  ,,den  Pessi= 
1  Af.  Kraft,  wic  Seitc  40  erwahnt. 


mistcn  der  Jetztzeit,  die  in  dcr  hcutigcn  Gesellschaft  den 
Ausbund  der  Geftthlsroheit  schen,  durch  Vorfiihrung  ciner 
Zahl  gcschichtlich  beglaubigtcr  Tatsachen  beweisen,  daft 
ihre  Meinung  auf  einer  ungehcurcn,  durch  die  Entfernung 
herbeigefuhrten  Tauschung  bcruht,  und  daft  wir  aus  dcr 
Verglcichung  dcs  hcutigcn  Kulturzustandes  mit  den  ver» 
gangcncn  Kulturstufen  auf  cine  cntschicdcnc  absolute  Ver= 
edclung  des  Piihlens  schlicBcn  konnen.  Dieselbe  ist  aber 
nur  absolut  eine  bcdcutcndc;  sic  sollte  jedoch  relativ  eine 
solche  sein,  und  zwar  im  Verhaltnis  zum  hcutigcn  Wisscn." 
Die  Schwache  unseres  heutigen  Kulturzustandes,  meint 
Kraft,  liege  ,,darin,  daft  mit  den  ungeheuren  Fortschritten 
im  Wissen  und  Handeln  die  Ausbildung  und  Vcrcdlung 
des  Fiihlens  nicht  Schritt  gchalten  habe." 

Sehr  richtig!  Und  wer  ist  dafur  vcrantwortlich?  Jcnc 
Herren,  die  tiber  die  Technik  am  meisten  fluchen,  jene  un= 
fahigen,  unschopferischen  Hiiter  der  Seelenbildung  an  den 
humanistischen  Anstalten,  in  denen  noch  immcr  tausend 
und  abertauscnd  frische  Mcnschcnkinder  mit  dem  elendcn 
Dogmenkram  einer  Iceren  Papageienwisscnschaft  gefiittcrt 
werden,  bestehend  aus  Symbolen,  die  wir  nicht  mehr  ver* 
stchen,  bei  denen  wir  nichts  mehr  fiihlen  konnen,  was 
innere  Wirklichkeit  hatte.  —  Ertont  nicht  jcdes  Jahr  ein 
einziger  Jubclschrei  dicscr  Armstcn,  die  endlich  die  Schu= 
len  vcrlassen  diirfen,  um  den  verhaftten  Krempel  eines 
trocknen,  verschlafenen  Biicheridealismus  an  die  Wand  zu 
wcrfen? 

Wolltcn  unserc  Humanistcn  doch  endlich  einmal  lehren, 
nicht  was  die  griechischen  und  lateinischen,  sondern  die 
moderncn  Denker  erkenncn.  Sagt  doch  Ewald1 ,  einer  von 
vielcn :  ,,Es  kommt  nicht  darauf  an,  im  Sinnc  der  mittcU 
1  O.  Ewald,  wic  Seitc  43  erwahnt. 
170 


alterlichcn  Weltanschauung  sich  vor  der  Inhaltsfiille  un« 
screr  Zeit  zu  verschlieften,  sondern  es  gilt  den  heroischen 
Versuch,  das  moderne  Dasein  in  seiner  ganzen  Vieldeutig- 
keit  und  Fragwiirdigkeit  hinzunehmen  und  ihm  aus  Eige« 
nem  eine  Form  zu  schenken,  die  zugleich  cine  Form  der 
Erlosung  und  Befreiung  reprasentiert  . . .  Der  Weg  nach 
oten  fuhrt  mitten  durch  das  sinntiche  Leben,  nicht  an  ihm 
vorbei." 

Wie  grundfalsch  die  Theorie  von  der  fortschreitenden 
Entseelung  des  Kulturlebens  durch  die  zunehmende  Ent* 
faltung  der  Technik  ist,  hat  aber  Wendt1  aus  der  Ge» 
schichte  bewiesen.  Er  spricht  sein  Resultat  in  folgenden 
Sa'tzcn  aus: 

1 .  Durch  die  Technik  wird  die  menschliche  Arbeitskraft 
fortschreitend  vergeistigt. 

2.  Der  steigende  Geist  erkampft  sich  im  Staate  die  per= 
sonliche  und  politische  Freiheit. 

3.  Der  befreite  Mensch  vertieft  das  seelische  Leben  und 
veredelt  die  Kultur. 

Ja,  Ewald  behauptet  geradezu,  daft  ,,die  Entdeckung  der 
Seele  das  grofte  Vermachtnis  des  19.  Jahrhunderts"  sei, 
—  und  dieses  war  das  Maschinenjahrhundert!  —  Horen 
wir  nun,  was  Wendt  auf  Grund  einer  ausfiihrlichen  Be= 
weisfiihrung  aus  der  Geschichte  folgert,  einer  Begriindung, 
die  unsere  Gegner  bis  jetzt  wohl  kaum  fur  notig  gehalten 
haben. 

Der  Grieche,  sagt  Wendt,  dieses  hohere,  abgottisch  ver» 
ehrte  Abbild  unserer  Humanisten,  war  das  Kind  seiner 
Technik  wie  jedes  andere  Volk  auch.  ,,Eine  Zeit,  die  auf 
einer  Technik  reiner  Handfertigkeit  und  der  ersten  cheml- 
schen  Anfangsgrunde  eine  rege  Industrie  aufbaut  und  einen 
1  U.  Wendt,  wie  Seitc  36  erwahnt. 

171 


lebhaften  Handelsverkehr,  verfallt  notwendig  der  Skla» 
verei.  Der  Grieche  hat  aus  diesen  Elementen  heraus  eine 
Kulturentwicklung  geschaffen,  so  hoch  und  glanzend,  wic 
sie  moglich  war.  Die  freie  Bevolkerung  fiihrte  cin  relativ 
gliickliches  Leben,  sie  brauchte  keine  fremden  Sprachen 
zu  lernen,  sie  kannte  keinen  Schnaps,  keine  Juristen  und 
keine  Priester.  Durch  die  Sklaverei  wird  aber  das  Gefuhls= 
leben  beeintrachtigt;  eine  solche  Zeit  mag  kunstlerisch  gar 
vieles  haben  und  auch  im  kalten  Denken  viel  geben,  doch 
la'Bt  sich  nicht  an  ihrem  Busen  ruhn." 

,,Da(>  wir  noch  immer  verpflichtet  werden,"  sagt  Cham- 
berlain1, ,,kostbare  Zeit  auf  die  Erlernung  aller  EinzeU 
heiten  der  erbarmlichen  Geschichte  der  Griechen  zu  ver= 
wenden  . . .  und  uns  womoglich  fiir  die  politischen  Schick= 
sale  dieser  grausamen,  kurzsichtigen,  von  Selbstliebe  ge= 
blendeten,  auf  Sklavenwirtschaft  und  Miiftiggangerei  be= 
ruhenden  Demokratien  zu  begeistern  —  das  ist  ein  hartes 
Schicksal,  an  dem  jedoch  wohl  uberlegt  nicht  die  Griechen 
die  Schuld  tragen,  sondern  unsere  eigne  Borniertheit."  — 
Auch  Goethe'2  meinte  ja  schon:  ,,Die  griechische  Ge= 
schichte  bietet  wenig  Erfreuliches  . . ;  zudem  ist  die  un= 
serer  eignen  Tage3  durchaus  groB  und  bedeutend." 

Und  dann  kamen  die  so  viel  verherrlichten  Romer!  Wie 
weit  brachte  es  dieses  Vierklassenvolk,  das  in  Altbiirger, 
Neubiirger,  Freigelassene  und  Sklaven  zerfiel?  —  ,,Mord, 
Raub  und  Brand  war^n  im  Kriege  allgemeine  Sitte;  im 
Recht  gait  die  Folter,  in  der  Religion  gab  es  menschliche 
Cotter,  in  der  bewuftten  Sittlichkeit  Ciberwog  die  Klugheit, 
und  selbst  die  kliigsten  Manner  hatten  den  Dummstolz 

1  H.  S.  Chamberlain,  wie  Seitc  162  crwahnt.  a  Goethe,  Gc^ 
sprach  mit  Eckermann  am  24.  Novbr.  1824.  3  Hatte  Goethe 
auch  heute  noch  behauptct! 


cincr  vornehmen  Gcburt  und  die  Verachtung  dcr  mecha= 
nischcn  Arbeit",  sagt  Wendt.  ,,Die  Sklaverei  wirkte  hem= 
mend  ein  auf  die  Verfeinerung  des  Seelenlebens.  Man  hatte 
nur  Interesse  fiir  die  HuBere  Welt,  ins  Innere  drang  der 
Geist  nicht  ein/' 

Endlich  —  im  finsteren  Mittelalter  —  regte  sich  die 
Technik  und  damit  Kultur  in  hdherem,  edlerem  Sinne. 
Wir  stehen,  nach  Wendt,  im  Jahre  1 500  an  der  Vorstufe 
des  geistigen  Erwachens.  Es  ist  derselbe  Moment,  in 
welchem  zugleich  der  Kapitalismus  ,,eine  solche  Hohe 
erreichte,  daft  ein  Teil  der  Zinsen  fur  die  geistige  Tatig« 
keit  tibrig  blieb."  Und  mit  den  Riesenfortschritten  dieser 
von  der  kapitalistischen  Wirtschaft  getragenen  Technik  er* 
reicht  Europa  am  Schlusse  des  19.  Jahrhunderts  einen  so 
hohen  materiellen  Wohlstand  und  einen  so  hohen  Grad 
von  Gesundheit  und  leiblichem  Behagen,  daB  endlich  auch 
die  allgemeine  Bildung  und  Vertiefung  des  Seelenlebens 
im  ganzen  Volke  in  die  Erscheinung  tritt.  Es  wachst  die 
Eigenart  und  mit  ihr  die  seelische  Selbstandigkeit  — : 
Das  ist  das  Fazit  eines  gewissenhaften  Kulturhistorikers 
iiber  den  EinfluB  der  Technik  auf  das  menschliche  Leben. 

Alen  Pessimisten  zum  Trotz  behaupte  ich  nun :  Unser 
technisches  Zeitalter  wird  in  einer  genialen  Periode 
gipfeln,  herrlicher  und  grofizugiger,  kuhner  und  tiefgrundiger, 
als  jemals  eine  auf  der  Erde  dagewesen  ist! 

Die  Technik  schafft,  das  gilt  es  vorerst  zu  sehen,  eine  un* 
geheuer  breite  Basis  des  Kulturlebens,  einen  Mafistab  der 
Verhaltnisse,  der  sich  ahnlich  abhebt  von  allem  bisher  Da= 
gewesenen,  wie  die  Ereignisse  in  der  grofien  Welt  von  den 
Vorgangen  in  den  kleinen  Stadten  und  ihren  engen 
Ga'Bchen. 


Denn  wir  stehcn  vor  den  goldencn  Torcn  eincs  Riesen- 
baucs,  an  den  Stufen  einer  neuen  Kultur,  die  so  riesenhaft 
1st,  daft  nur  wenige  imstande  sind,  von  hier  aus  das  kiinf= 
tige  Dasein  dieses  Lebens  sich  im  Geiste  zu  vergegenwar« 
tigen ;  weift  man  doch  am  Fufteeines  Bergriesen  niemals,  wen 
man  eigentlich  vor  sich  hat.  —  Und  die  Techniker  sind  es, 
die  das  Fundament  dieses  Bauwerks  erschaffen,  von  deren 
Arbeit  wir  doch  nur  erst  die  schiichternen  Anfange  sehen. 

,,Stammt  die  Menschheit  vom  Gorilla  ab,"  sagt  Saltus1, 
,,dann  werden  aus  Menschen  Cotter  werden  . . .  Die  Ge» 
schichte  vom  Olymp  ist  nur  cine  Erzahlung  von  dem,  was 
hatte  kommen  konnen.  Was  damals  hatte  kommen  konnen, 
das  kann  noch  kommen."  Und  Wells1  bringt  von  Amerika 
denselben  Glauben  in  das  mude  Europa  mit:  ,,Noch  nie 
hat  es  ein  Zeitalter  gegeben,  das  auf  geistigem  Gebiet  so 
fruchtbar  gewesen  ware  wie  unseres.  Zwar  haben  wir  ge- 
genwartig  Schreibenden  und  Denkenden  und  Forschenden 
nichts,  was  sich  mit  den  groftartigen  Ruhmestiteln  und 
hochst  individualisierten  Leistungen  der  groftcn  Person- 
lichkeiten  der  Vergangenheit  auf  eine  Linie  stellen  konnte. 
Und  doch  ist  es  wahr,  daft  wir,  alles  in  allem  genommen, 
unendlich  viel  mehr  bedeuten." 

Auch  unser  alter  Dietzgen*  sieht  schon  die  grofte  kuU 
turelle  Befreiung  durch  die  Technik  vor  Augen :  ,,Was  das 
Volk  berechtigt,  an  die  Erlosung  von  tausendjahriger  Qual 
nicht  nur  zu  glauben,  sondern  sie  zu  sehen,  sie  tatkraftig 
zu  erstreben,  das  ist  die  feenhaft  produktive  Kraft,  die 
wunderbare  Ergiebigkeit  seiner  Arbeit.  In  den  Geheim* 
nissen,  welche  wir  der  Natur  abgelauscht,  in  den  entdeck* 
ten  Zauberformeln,  mittels  der  wir  sie  zwingen,  unseren 

1  E.  Saltus,  bci  Wells  zitiert,  wie  Seite  15?  erwihnt.  •  J.  Dietz- 
gen,  wie  Seite  60  erwahnt. 


Wunschen  zu  willfahren,  ihre  Spenden  nunmehr  fast  ohne 
Miihe  und  Arbeit  herzugeben,  in  der  potenzierten  Ver* 
besserung  der  Methoden  und  Instrumente  der  Arbeit,  dar- 
in  besteht  der  Reichtum,  der  jetzt  vollbringen  kann,  was 
bisher  kein  Erloser  vermocht  hat  ...  Die  Menschheit,  die 
sich  lebend  untereinander  und  mit  den  toten  Dingen  dieser 
Welt  zu  erganzen  versteht,  sic  ist  es,  welche  das  hochste 
Wesen  gottlicher  Vollkommenheit  leibhaftig  darstellt." 

Das  ist  der  grofie,  starke  Lebensglaube  eines  wahrhaft  be* 
geisterten  Technikers,  der  echte,  tatenfrohe  Idealismus, 
auf  den  sich  alle  Kultur  als  auf  ihren  Grundpfeiler  stiitzen 
muB.  —  Aber  wer  kennt  ihn  nicht,  den  stumpfen  Blick  aus 
den  entgeistigten  Augen  ideenloser  Tatsachenesel,  wenn 
sie  ctwas  von  Philosophic  und  Idealismus  der  Technik 
horen?  Ihr  dumm-ironisches  Lacheln  hat  ihnen  schon 
allzuviele  Torheitsfaltchen  um  die  Mundwinkel  gezeich* 
net,  als  daft  es  lohnte,  mit  solchen  Leuten  uber  grofie  Dinge 
zu  reden.  Die  Geschichte  hat  sie  nie  gefragt,  wann  es  gait, 
eine  neue  Zukunft  zu  schaffcn. 

Und  jene  anderen,  jene  erklarten  Feinde  der  Technik, 
unsere  Kulturpessimisten?  —  O,  die  horen  wir  mit  der 
grofjtcn  Gelassenheit  an.  Ist  es  doch  gerade  das  Unbegreif* 
liche,  was  sie  so  schreckt  —  uns  zur  grofiten  Genugtuung. 
Die  armen  Liebhaber  der  Vergangenheit  und  der  gealterten 
Musen,  sie  tun  uns  leid.  Doch  mehr  als  Mitleid  konnen  wir 
ihnen  nicht  gewahren;  mogen  sie  unseren  Bau  verachten 
soviel  sie  wollen,  nur  storen  lassen  wir  uns  nicht  ! 


os  Gespenst  der  Gleichheit  ist  es,  was  auf  diese  schonen 
len  in  dem  Riesengange  der  eben  erst  begon* 
nenen  technischen  Kultur  einen  so  schreckhaften  Eindruck 
macht. 


X 

Wo  friiher  kostbare  Kleinigkeiten,  engbegrenzte,  fur 
nahc  Winkel  bcrechncte  Kulturwcrkc  geschaffen  wurden, 
in  deren  handwcrklich-intime  Form  der  Gcist  cincs  EinzeU 
nen  gebannt  erschien,  da  treten  jetzt  M assen  auf,  geformt 
und  in  Bewegung  gcsctzt  nach  einem  das  Dcnken  von 
Tausendcn  in  sich  schlieBenden  Plan. 

Wir  sind  tiber  Nacht  dazu  berufcn  worden,  ein  Titanen- 
geschlecht  zu  werden.  Uns  reizt  cs  jetzt,  mit  Gottern 
Handel  zu  haben,  uns  am  GroBten,  am  Gewaltigsten  zu 
versuchen,  wir  schrecken  vor  nichts  mehr  zuriick.  Denn 
wir  fiihlen  eine  Macht  in  uns  wachsen,  die  Macht  einer 
uberpersonlichen,  fast  unausdenkbaren  Intelligenz,  die 
sich  ihrer  selbst  in  unseren  Gedanken  bewuBt  wird  als  der 
von  der  Beschranktheit  des  individualistischen,  intuitiven 
Erlebnismenschen  der  fruheren  Perioden  cmanzipierte  ob- 
jektiveSinn  einer  neuen  Kultur,  in  den  vcir  uns  jetzt  stellen. 
Der  Geist  der  Technik  bereitet  sich  vor  zur  Eroberung 
der  Welt,  zur  Schopfung  einer  neuen  Zeit,  die  alle  bis* 
herigen  Begriffe  ubersteigt. 

Eine  ungeheure  Resonanz  im  ganzen  Menschenge= 
schlechte,  eine  alles  ergreifende  Gemeinschaft,  Vertausend* 
fachung  des  Inhaltlichen,  der  Kulturmaterie  pragt  dieser  fur 
uns  noch  namenlosen  Umgestaltung  der  Wirklichkeit  ihren 
Stil  auf.  Um  in  dieser  unuberwaltigenden  Grofizugigkeit 
des  Lebens  personlich  zu  wirken,  werden  machtige  Schop= 
fer,  vielleicht  in  den  tiefsten  Schichten  des  Volkes  geboren, 
die  den  objektiven  Geist  gleichwie  ihren  eigenen  nattir* 
lichen  Besitz  mit  ubermenschlich  scheinender  Energie  aus= 
strahlen:  Die  Genies  der  Zukunft,  die  berufen  sind,  dies 
kummerlicheZwergengeschlechtderTraditionzuentsetzen. 
Und  diese  werden  die  Furcht  vor  dem  Gespenst  der 
Gleichheit  zu  bannen  wissen.  Sic  werden  es  dienstbar 

176 


machcn  ihrer  grandioscn,  die  Wucht  cincr  Vertausend* 
faltigung  vertragenden  Schopfung  neucr  individueller,  aber 
ricsenh  after,  monumentaler  For  men  der  Kultur.  — 

Sehen  wir  den  Kulturpessimismus  unserer  Zeit  bei  Lichte 
an,  so  1st  er  in  letzter  Hinsicht  weiter  nichts  als  das  Be= 
kenntnis  der  gra'Slichsten  Angst  vor  den  Wirkungen  des 
Quantitdtsfaktors  des  modernen,  auf  Hervorbringung  des 
unendlichmal  Gleichen,  des  Massenhaften  gerichteten  tech* 
nischen  Schaffens.  Wie  gesagt:  Die  Furcht  vor  dem  Ge= 
spenst  der  Gleichheit.  —  Horen  wir  endlich  noch  einige 
Melodien  aus  dem  ,,Chor  der  Furchtsamen",  die  auf  die* 
sen  Ton  gestimmt  sind! 

*  /  unachst  hat  Rathenau1  —  wie  ich  vorausschicken 
^^mochte  —  aus  der  tatsachlich  fortschreitenden  Tech* 
nifizierung  des  Kulturlebens  ein  rein  sachliches  Fazit  zu 
ziehen  versucht. 

,,Mechanisierung,"  sagt  er,  ,,erblicken  wir,  wohin  wir  uber 
die  Provinzen  menschlichen  Handelns  das  Auge  schweifen 
lassen ;  . . .  dem  yvirtschaftlich  Betrachtenden  erscheint  sie 
als  Massenerzeugung  und  Guterausgleich;  dem  gewerb* 
lich  Betrachtenden  als  Arbeitsteilung,  Arbeitshaufung  und 
Fabrikation;  dem  geographisch  Betrachtenden  als  Trans= 
port=  und  Verkehrsentwicklung  und  Kolonisation;  dem 
technisch  Betrachtenden  als  Bewaltigung  der  Naturkrafte; 
dem  wissenschaftlich  Betrachtenden  als  Anwendung  der 
Forschungsergebnisse;  demsozial  Betrachtenden  alsOrga» 
nisationder  Arbeitskrafte;  dem  geschaftlich  Betrachtenden 
als  Unternehmertum  und  Kapitalismus;  dem  politisch  Be* 
trachtenden  als  reale  und  wirtschaftspolitische  Staatspraxis/' 

,,Gemeinsam  ist  aber  alien  diesen  Erscheinungsformen 
1  W.  Rathenau,  wie  Seite  73  erwahnt. 

ta  Zschlmmtr.  Philosophic  der  Tcchnik  f77 


cin  Geist,  der  sie  seltsam  und  entschieden  von  den  Lcbens= 
formen  friihercr  Jahrhunderte  unterschcidet:  Ein  Zug  von 
Spezialisierung  und  Abstraktion,  von  gewollter  Zwangs= 
laufigkeit,  von  zweckhaftem,  rezeptma'Bigem  Denken,  ohnc 
Qberraschung  und  ohne  Humor,  von  komplizierter  Glcicli= 
formigkeit:  Ein  Geist,  der  die  Wahl  des  Namens  Mechani= 
sierung  auch  im  Sinne  des  Gefuhlsmaf)igen  zu  rechtfer* 
tigen  scheint." 

Rathenau  ist  selbst  ein  Mann  der  Technik,  der  mit  recht 
klaren  Augen  zu  sehen  vermag.  Er  sucht  kaltbliitig  die 
Formen  zu  erkennen,  die  die  gesamte  Kulturentwicklung 
notwendig  annehmen  wird,  weil  sie  das  unendlichmal 
Gleiche  hervorbringt.  Denn  dieses  Prinzip  entspringt  un= 
leugbar  dem  Geiste  der  Objektivitat,  der  das  ganze  tech= 
nische  Schaffen  von  seiner  Grundidee  aus  leitet,  und  den 
es  zu  realisieren  gilt  durch  cine  machtvolle  Entwicklung  des 
gesamten  zum  Bewufttsein  der  Kultur  erwachten  Men= 
schengeschlechts. 

Daft  die  Ursache  der  Mechanisierung  und  somit  der  neu= 
zeitlichen  Lebensauffassung  nicht  die  Technik  oder  der 
Verkehr  sein  konnte,  sondern  daft  vielmehr  die  Volksver- 
dichtung  zur  Mechanisierung  drangte,  weil  sie  neue  Hilfs= 
mittel  verlangte  und  schuf,  will  Rathenau  besonders  betont 
wissen.  ,,Diesen  Zusammenhang  verkennen,  hieBe  nichts 
anderes  als  etwa  behaupten:  Die  Eisenbahn  habe  den 
Groftverkehr,  oder  das  Ziindnadelgewehr  habe  den  Massen= 
krieg  geschaffen.  In  Wirklichkeit  schafft  der  Wille  zum  Ver» 
kehr  sich  seinen  Weg,  der  Wille  zum  Massenkrieg  sich  sein 
Geschutz;  das  Werkzeug  ermoglicht  das  Werk,  doch  bleibt 
es  selbst  ein  Geschopf  des  auf  das  Werk  gerichteten  Willens." 

Indessen  beginnt  bei  dem  kuhl  abwagenden  Kritiker 
Rathenau  schon  leise  der  Pessimismus  anzuklingen,  wo 

178 


es  sich  um  die  Konsequenzcn  der  Multiplikation  des  Mas= 
senbetriebes,  dcs  Quantitdtsfaktors  fur  das  Kulturlcben 
handelt. 

,,In  taglichem  und  nachtlichem  Spiel  werfen  die  Stadte 
der  Welt  einander  ihre  Ba'lle  zu :  Ihre  Launen,  Moden, 
Leidenschaften,  Lieblinge,  ihre  Vergniigungen,  Leiden 
und  Kiinste;  ihre  Wissenschaften  und  Werke  tauschen  sie 
aus  und  finden  am  Wechsel  Gefallen." 

Das  ist  schon  gesagt,  soil  aber  schlimme  Folgen  haben. 
Denn  ,,das  gleiche  Theaterstiick  wird  in  Berlin  und  Paris 
gespielt,  die  gleiche  Ladenauslage  prangt  in  London  und 
New=York,  das  gleiche  wissenschaftliche  Problem  halt  sie 
in  Atem,  der  gleiche  Skandal  macht  sie  lachen,  die  gleiche 
Kiiche  ernahrt  sie,  der  gleiche  Komfort  umgibt  sie,  ...  in 
ihrer  Struktur  und  Mechanik  sind  alle  grofteren  Stadte  der 
weiften  Welt  identisch." 

Noch  ein  Schritt,  und  wir  blicken  durch  v.  Mayers1 
schwarze  Brille:  ,,Der  Geist  der  Masse  und  der  Geist  der 
Technik  sind  einander  verwandt;  sie  verstarken  einander 
und  stellen eigentlich  nur zwei  Seiten  desselben  Wesens dar ." 
Technik  dient  zur  Abhilfe  der  Massennot.  ,,Das  ist  ebenso 
wunderbar",  sagt  v.  Mayer  ,,als  daft  die  Blumen  im  Sommer 
bliihen  und  Schnee  im  Winter  fallt.  Einfachste  Naturfolge. 
Der  einzelne  Mensch  hat  nichts  dadurch  gewonnen." 

Und  dann  enden  wir,  weiter  steigend,  bei  jener  grellen 
Beleuchtung  der  technischen  Kultur,  in  der  uns  Aubur- 
tiir  dasGespenst  der  Gleichheit  erscheinen  la'Bt.  Er  sah 
einmal  eine  Villenkolonie  im  Siiden  der  groBbritannischen 
Inseln.  Er  sah  sie  von  einer  Anhohe  aus,  und  sie  erschien 
ihm  ,,wie  ein  grdplicher  Ausblick  in  die  Zukunft;  denn 

1  E.  v.  Mayer,  wic  Seite  46  erwahnt.  2  V.  Auburtin,  wic  Scitc 
157  crwahnt. 


diesc  Wohnstatte  der  Menschen  sah  genau  so  aus  wie  die 
Wabcn  eines  Bicnenstaates.  Uber  die  Ebene  und  uber  die 
Hugel  hinweg  zog  sich  cine  Schicht  Zellen,  cine  Zelle  ge=» 
nau  so  gebaut  wie  die  andere.  In  jeder  Zelle  saft  ein  Eng» 
lander,  und  jeder  war  mit  demselben  Kammgarn  begleitet 
wie  der  andere.  Jeder  afi  zur  selben  Zeit  denselben  Ham- 
melbraten.  Jeder  hatte  dieselben  Cerate  um  sich  wie  der 
andere;  jeder  las  dieselbe  Sportzeitung  und  dachte  zur  sel* 
ben  Zeit  genau  dasselbe  wie  der  nachste  Englander  ..." 

,,Hast  du  schon  einmal  in  einer  englischen  illustrierten 
Zeitschrift  die  Gruppenbilder  von  FuBballmannschaften 
gesehen?  Sie  a'hneln  sich  wie  die  Hosenknopfe.  Und  diesen 
Hosenknopfseelen  gehort  die  Zukunft." 

Da  haben  wir  nun  das  Furchtbare!  ,,Nicht  die  Volkers 
wanderung  und  nicht  das  Kataklysma  der  alten  Welt  hatte 
die  Rasse  so  bis  in  ihre  Wurzeln  erschiittert  wie  die  Zeit 
der  grofjen  technischen  Erfindungen"  im  Anfang  und  in 
der  Mitte  der  vorigen  Jahrhunderts.  ,,Es  ist  so,  daft  man 
die  ganze  Zeit  vor  1850  gemeinsam  als  cine  alte  Zeit  zu= 
sammenfassen  kann.  Wieland  hatte  nicht  viel  anders  ge= 
lebt  als  Horaz.  Er  hat  ebenso  gewohnt,  hat  fast  dieselben 
Cerate  des  taglichen  Lebens  um  sich  gehabt,  ist  ebenso  ge= 
reist  und  gefahren  und  hat  nicht  viel  anders  gedacht  als  die 
gebildeten  Manner  der  augusteischen  Periode.  Erst  um 
1850  kommt  der  tiefe,  einkerbende  Schnitt  und  Knick." 

TV  llerdings :  Der  bunten  Einmaligkeit  des  absoluten  In= 
2.  Vdividualismus  des  Menschentums  setzt  sich  mit  einer 
ungeheuren  Macht,  von  der  sich  unsere  Groftva'ter  nichts 
traumen  lieBcn,  ein  KoefHzient  entgegen,  der  sie  mit  einer 
grauenerregenden  Zahl  multipliziert  und  ihr  damitden  Reiz 
des  Alleinseins,  vor  allem  aberdes  Alleinbesitzes,  des  Eigen» 

180 


turns  raubt,  das  ein  andcrcr  wcder  hat  noch  haben  darf,  in* 
dem  jcner  Faktor  den  friiheren  Zustand  so  radikal  verandert, 
daft  es  fiir  jene  ,,Edelmenschen"  nun  keinen  Zweck  mchr  zu 
haben  scheint,  iiberhaupt  da  zu  sein  —  womit  ihnen  das 
Leben  zum  Ekel  wird.  Bereits  Schopenhauer  hatte  jadiesen 
groBen  Ekel  an  ,,der  Fabrikware  der  Natur"  empfunden. 

Doch  es  hilft  nichts :  Die  gute  alte  Zeit  hat  ausgeschlagen. 
Das  schone,  unverdiente  Vorrecht  der  Einzigen,  der  Ede= 
linge,  stirbt  mit  dem  Erwachen  des  Freiheitsgeistes,  der 
das  gemeine  Recht  fur  alle  fordert.  Und  das  bringt  — 
kein  Mensch  kann  es  mehr  verhindern  —  die  Entfaltung 
der  Technik  notwendigerweise  mit  sich. 

Die  Technik  demokratisiert  uns  zum  groftten  Schrecken 
einer  beschrankten  Eitelkeit,  die  jetzt  ihre  Mittelchen  ver= 
loren  gehen  sieht,  einige  wenige  Menschen,  die  in  der 
Wahl  ihrer  Eltern  vorsichtig  genug  waren,  als  etwas  ganz 
Besonderes  und  Bewundernswertes  erscheinen  zu  lassen. 
Diese  probaten  Mittelchen  sind :  Gute  Erbschaft  und  Stan* 
desprivilegien  bei  im  iibrigen  nur  ma'Biger  Intelligenz,  um 
sie  schlau  und  sinnig  zu  benutzen.  Gar  schrecklich  ist  es 
nun,  daB  die  herannahende  Zeit  das  Verdienst,  hohe  Eltern 
zu  haben,  nicht  mehr  anerkennen  will,  daB  sie  jenen  ver= 
dienten  Edelmenschen  nicht  mehr  gestatten  will,  auf 
Kosten  der  Hunderttausende,  die  zur  Gleichwertigkeit  ver= 
dammt  sind,  ein  individuelles  Eigenleben  zu  fiihren. 

Es  droht  also  jetzt  die  Bankerotterklarung  eines  Rechts= 
systems,  in  dem  nicht  mehr  das  Blut,  sondern  der  In= 
tellekt,  die  Leistungsfahigkeit,  das  Verdienst  um  die 
menschliche  Gesamtheit  als  Recht  begriindende  Momente 
gelten  —  es  marschiert  die  Demokratie.  Und  kein  Zweifel 
—  Freund  und  Feind  erkennen  es  mit  gleicher  Scharfe — : 
Das  wird  das  Werk  der  Technik! 

181 


Denn  wir  meincn,  wie  Dietzgen1  gesagt  hat:  ,,Dic  Men= 
schenkinder  haben  von  Natur  allc  das  glciche  Verlangen, 
ihr  Leben  zu  verbringen  in  tatiger  Lust,  ohnc  Elend 
und  Knechtschaft.  Die  Glcichheit  des  Vcrlangcns  a'ndert 
die  Verschiedenheit  nicht,  welche  jeden  von  uns  mit  Kraf= 
ten  und  Tilenten  eigner  Art  ausgerustet  hat  —  so  soil 
auch  das  soziale  Leben  der  Zukunft  die  Menschen  gleich 
machen  an  gesellschaftlichem  Rang  und  Wert,  ihnen  den 
gleichen  Anspruch  geben  auf  Genuft  des  individuellen 
Lebens,  ohne  deshalb  die  Verschiedenheit  aufzuheben, 
welche  jedem  seine  besondere  Aufgabe  zuteilt,  jedem  ge= 
stattet,  nach  seiner  eigenen  Fasson  selig  zu  werden." 

Man  sollte  erst  einmal  die  Wahrheit  erkennen,  die 
Simmel2  in  abstrakter  Form  vor  das  Problem  der 
Gleichheit  in  der  modernen  ,,technischen  Kultur"  gesetzt 
hat:  ,,Wo  die  Gleichheit  die  formalen  Fundamente  der 
Beziehungen  zwischen  Menschen  ergreift,  wird  sie  zum 
Mittel,  ihre  individuellen  Ungleichheiten  zum  scharfsten 
und  folgenreichsten  Ausdruck  zu  bringen,  der  Egoismus 
hat  sich,  indem  er  die  Schranken  der  formalen  Gleich= 
heit  einhalt,  mit  inneren  und  aufteren  Hemmungen  ab= 
gefunden  und  besitzt  nun  gerade  in  der  Allgemeingiiltig= 
keit  jener  Bestimmungen  cine  Waffe,  die,  weil  sie  jedem 
dient,  auch  gegen  jeden  dient." 

Kann  nicht  jeder  berufene  Schopfer  von  neuen,  indivi* 
duellen  Formen  gerade  die  ungeheure  Resonanz  der  Ver- 
tausendfdltigung  benutzen,  um  mit  einer  Macht  zu  wirken, 
die  noch  ganz  unbeschreiblich  ist?  Kann  er  mit  dieser 
,,jedem  dienenden  Waffe"  der  Gleichheit  nicht  ebenso 

1  J.  Dietzgen,  wie  Seitc  60  erwahnt.  *  G.  Simmel,  wie~Seite  32 
erwahnt. 

182 


stark  das  ihm  Widcrstrcbende  in  der  Kulturentwicklung 
aus  dem  Fclde  schlagcn? 

Die  kiinftigcn  groften  Geister  werden  so  schaffen  und 
kampfen.  Sic  werden  den  Schwung  von  Millionen  in  ihren 
Arm  legen  und  mit  Kraftstreichen  einhauen,  wenn  sie  etwas 
zu  sagen  haben.  Ihre  Wirkung  wird  ein  Spiel  mit  Massen 
sein,  und  eine  Sprache  werden  sie  fuhren,  ein  Strich  wird 
ihnen  eigen  sein,  der  in  der  Kraft  der  Wiederholung  erst 
seine  voile  Sta'rke  gegen  die  Sta'rke  des  andern  im  Kampf= 
spiel  der  Titanen  zeigt.  Ihre  Siege  werden  durch  Millionen 
beben :  Die  Gleichheit  wird  ihre  Wucht  verkorpern!  — 

Der  Individualismus  stirbt  an  der  Technik?  Nein,  er 
riistet  sich  zur  starksten  Form  seines  Ausbruchs.  Er  be= 
schrankt  sich  von  neuem  auf  ein  kleines  Geschlecht,  klein 
an  Zahl,  weil  von  tibermenschlicher  Kraft:  Das  kommende 
Geschlecht  der  machtigen,  aus  der  Masse  des  Volkes  aus= 
gewahlten  Geister. 

Die  Technik  bereitet  ihnen  den  Boden.  Sie  reicht  ihnen 
das  gewaltige  Werkzeug  ihres  Schaffens:  Das  Werkzeug 
der  Weltbezwingung.  Aber  sie  fordert  eben  auch  wirkliche, 
geborene  Weltbezwinger  —  Weltbezwinger  ,,von  Gottes* 
gnaden". 

Auburtinhat  ganz  recht:  ,,Es  1st  mit  dem  neunzehnten 
Jahrhundert  etwas  durchaus  Neues  in  die  Welt  gekommen, 
und  keinerlei  geschichtliche  Erfahrung  sagt  uns  irgend 
etwas."  —  Es  wird  daher  auch  etwas  unerhort  Neues  von 
dieser  Welt  verlangt;  nicht,  daS  es  sogleich  Genies  regnen 
miiSte,  aber  ein  neuer  Menschenschlag  muB  sich  bilden. 
Und  gerade  jetzt,  unter  dem  Gewinsel  jammernder  Pessi= 
misten,  scheint  er  mir  bereits  seine  jungen  Glieder  zu  recken. 

Wir  Techniker  erwarten  eine  Generation,  die  sich  der  gropen 
Schopfung  wiirdig  zeigt! 

185 


INHALT 

Vorwort i 

Warnung 3 

Die  philosophischen  Grundlagcn 5 

Die  Idee  der  Technik ?diU<«&ai.!to*pt'tip6 

Technisches  Schaffen 61 

Technisches  Wissen ;   .    *    .   .><.iv»  touft 

Das  Kulturbild  der  Zukunft    ....   ....  -j  .    .   147 


Druck  der  Spamerschen  Buchdruckerei  in  Leipzig 
184 


BUGBN  DIEDERICHS  VERLAG  IN  JENA 

KLASSIKER  DER  NATUR- 
WISSENSCHAFTuTECHNIK 

Die  Geschichte  einer  Wissenschaft  ist 
ihr  GedSchtnis.  Ihr  Ami  ist:  durdi  Er- 
voeiterung  hell  zu  machen,  den  Forscher 
aus  seinem  augenbliddidi  beschrankten 
Zustand  herauszufiihren  and  ihm  die 
Reiche  des  Geistes  and  seiner  Herrlidi- 
keiten  zu  weisen.  (Friedr.  Gundelfinger.) 
Als  erster  Band  erschien: 

Lamarck,  Die  Lehre  vom  Leben.  Seine  Personlidhkeit 
und  das  Wesentlidie  aus  seinen  Schriften  kritisdi  dar* 
gestellt  von  G.  F.  Ktihner.  Brosdiiert  M  4.50,  in  Lein* 
wand  gebunden  M  6.— 

Lamarck  (1744—1829)  ist  der  Uberwinder  der  Linneschen 
Systcmatik,  der  Begriinder  kausalen  biologischen  Denkens, 
der  grofie  Verktinder  ewigen  organischen  Werdens,  Forts 
schreitens  und  Vergehens.  Das  Buch  ist  das  erste  deutsche 
Werk  iiber  Lamarck,  der  erste  Uberblick  iiber  seine  Werke, 
die  allcin  eine  Bibliothek  bildcn,  und  zugleich  der  erste  bio=> 
graphische  Versuch. ___^ 

Anlageplan  der  I.  Serie  (Anderungen  vorbehalten) 

1.  Primitive  u.  exot.  Tedinik.  7.  Mittelalterl.  Technikcr. 

2.  Antike  Physiker.  8.  Galilei. 

3.  Antike  Tediniker.  9.  Kepler. 

4.  Vitruv.  10.  Newton. 

5.  Plinius.  11.  Goethe. 

6.  Roger  Bacon.  12.  Lamarck. 

Die  Bahnbrecher  der  Naturforschung  kommen  in  diesen  Ban* 
den  durch  eine  Auswahl  aus  ihren  Werken  zu  Worte,  die  durch 
Einfiihrungen  oder  Anmerkungen  erganzt  wird.  Bald  wird, 
wie  bei  Kepler,  ein  einzelnes  Hauptwerk  in  den  Mittelpunkt 
gestellt;  bald  aus  der  Fiille  zerstreuter  Arbeiten  das  Haupt= 
sachlichste  zusammengefaBt  (so  bei  Goethe) ;  bald  auch  durch 
ein  historisches  und  systematisches  Referat  ein  Uberblick  iiber 
sonst  ganz  uniibersehbare  Stoffmassen  ermoglicht  (so  bei  La« 
marck).  Die  Klassiker  sind  von  ersten  Fachgelehrten  bears 
beitet,  wenden  sich  aber,  im  Gegensatz  zu  andern  nature 
wissenschaftlichen  Quellensammlungen,  an  alle  Gebildeten. 


EUGEN  DIEDERICHS  VERLAG  IN  JENA 

Franz  Strunz,  Die  Vergangenheit  der  Natur- 
forsdhung.  Ein  Beitrag  zur  Geschidite  des  mensdilichen 
Geistes.  Mit  12  Tafeln.  br.  M4.~,  geb.  M  5.50 
Inhalt:  Die  Vergangenheit  der  Naturforschung  /  Naturgefiihl 
und  Naturerkenntnis  /  Die  Anfange  der  Alchemic  /  Eine 
Naturforscherin  des  Mittelalters  /  Die  Chemie  der  Araber  / 
Biochemische  Theorien  bei  Johann  Amos  Comenius  /  Johann 
Baptist  van  Helmont  als  Chemiker  und  Naturphilosoph/Die  Er* 
findung  des  europa'ischcn  Porzcllans  /  Rousseau  und  die  Natur. 

Emile  Boutroux,  Uber  den  BegrifF  des  Natur- 
gesetzes  in  derWissensdiaft  und  in  der  Philosophic 
der  Gegenwart.  Vorlesungen.  br.  M4.— ,  Lwd.  geb. 
M5.50 

Emile  Boutroux,  Die  Kontingenz  der  Naturge- 
setze.  br.  M  4.-,  Lwd.  geb.  M  5.50 

Boutroux  ist  neben  Bergson  der  Vertreter  der  franzosischen 
neuidealistischen  Bcwegung.  Seine  Auffassung  der  Natur= 
gesetze  als  der  ktinstlichen  und  festen  Abbilder  eines  wescnt= 
lich  lebendigen  und  beweglichen  Modclls  gibt  ihm  das  Recht, 
einen  Zusammenhang  zwischen  dem  Leben  des  Geistes  und 
dcm,  was  das  Leben  der  Materie  ausmacht,  zu  behaupten. 
Durch  den  so  gewonnenen  Freiheitsbegriff  uberwindet  er  jeden 
Determinismus.  Seine  Natur  gesetze  sind  keine  Notwendig= 
keit,  denn  in  und  aufter  uns  ist  fortwahrende  Schopfung,  d.  h. 
Leben  und  Freiheit.  Aber  sic  gestatten  uns,  iiber  die  Kon= 
temptation,  zu  welchcr  die  Alten  gezwungen  warcn,  hinaus« 
zugehen  zu  einer  Wisscnschaft  der  Tat. 

Henri  Bergson,  Schopferisdie  Entwicklung.  3.  Taus. 
br.  M  6.-,  geb.  M  7.50 

Das  Hauptwerk  des  beriihmten  curopaischen  Denkers,  der 
der  Intuition  zu  ihrem  Recht  verhilft,  der  die  instinktiv 
schaffende  Personlichkeit  mit  dem  strengen  Empirismus  vers 
verbindet.  Der  Mut  zur  Metaphysik  ist  das  Auszeichnende 
an  Bergsons  Philosophie,  und  darin  besteht  ihr  Hauptwert, 
ihre  Zukunftskraft,  dafi  sic  die  Metaphysik  heraushebt  aus 
dem  Kerker  des  Rationalismus  und  Intellektualismus  und 
sie  grundet  auf  Biologie  und  Psychologic,  daft  Naturlcben 
und  geistigsseelisches  Leben  des  Menschen  zu  einer  grofien 
Einheit  hier  zusammengeschaffen  werden. 


EUGEN  DIEDERICHS  VERL AG  IN  JENA 

SCHRIFTEN  ZUR  SOZIOLOGIE 
DER  KULTUR 

Herausgeg.  von  Prof.  ALFRED  WEBER-Heidelberg 

\Vir  haben  eine  glanzende  theoretische  Soziologie,  auch  eine 
wachsende  Literatur  iibcr  die  Massenerscheinungen  und  all* 
gemeinen  Gesetzmafiigkeiten  des  sozialen  Lebens;  auf  der 
anderen  Seitc  ausgedehnte  literarischc  Mittel  fiir  das  Hinab= 
steigen  in  uns  selbst,  die  Verticfungcn  unscrcr  geistigen  An= 
schauungen  und  Interessen.  Wir  haben  aber  bisher  keine 
Moglichkeit,  diese  geistigenStromungen  mit  den  realenLcbcns= 
vorgangen,  die  sie  mit  bedingen,  zu  verbinden,  sie  in  die  kon= 
kreten  Erscheinungen  hineinzustellen,  aus  denen  sie  heraus= 
wachsen  und  auf  die  sie  weiter  formend  und  gestaltend  wirken 
sollcn.  Wie  ha n gen  soziale  Formen  und  Kultur,  DaseinsgestaU 
tung  und  Kulturgestaltung,  vitaler  Inhalt  und  Kulturtendenz 
zusammen?  Wie  bauen  sich  auf  den  Lebensformen  die  Gehause 
und  Medien  auf,  in  denen  sich  das  Geistige  auswirkt?  Welche 
Schichten  tragen  die  verschiedenen  geistigen  Tendenzen,  und 
mit  welchem  Lebenseingestelltsein  hangen  diese  dann  zu= 
sammen?  Was  ist  die  Kulturbedeutung  dieser  oder  jener  Lo= 
sung,  Bindung,  inneren  oder  aufteren  Gestaltung  der  grofien 
lebentragenden  Kra'fte?  Es  soil  versucht  werden,  zu  diesen 
Fragen,  zu  den  Problemen  der  Soziologie  der  Kultur  also,  in 
Monographien,  die  diese  oder  jene  sichtbare  und  fafibare  Seite 
derangedeuteten  Zusammenhange  herausgreifen,  Stellungzu 
nehmen. 

Bd.I:  Hans  Staudinger,  Individuum  und  Gemein* 

sdiaft  in  der  Kulturorganisation  des  Vereins.   br. 

M  3.50,  geb.  M  4.70 

Bd.  II :  P.  A.  Clasen,  Der  Salutismus.  Eine  sozial- 

wissensdiaftlidie  Monographic  uber  General  Booth  und 

seine  Heilsarmee.   br.  M  4.50,  geb.  M  5.70 

Bd.  Ill:  Emilie  Altenloh,  Zur  Soziologie  der  Kinos. 

Es  stehen  Arbeiten  in  Aussicht  u.  a.  uber:  Die 
Soziologie  der  Kunst  /  Die  moderne  Theater* 
krise  /  Die  bildende  Kunst  in  einer  modernen  In* 
dustriestadt  /  Die  Arbeiterinteressen  einer  deut* 
schen  Industriestadt  /  Die  soziale  Herkunft  der 
geistigenFiihrer/DasStreikrechtderBeamtenusw. 


EUGEN  DIEDERICHS  VERLAG  IN  JENA 

Eberhard  Zsdiimmer,  Die  Glasindustrie  in  Jena. 
Mit  Zeidinungen  von  Erich  Kuithan.  br.  M  6.~,  Kalb- 
leder  geb.  M  12.- 

Unterrichtsbiatter  fur  Mathematik  und  Naturwissenschaften: 
Spannend  und  anschaulich  schildert  uns  Zschimmcr  —  der 
nicht  nur  in  weiteren  Kreisen  durch  seine  erfolgreiche  Mit* 
arbeit  auf  dem  Gebiete  der  wissenschaftlichen  Glastcchnik, 
sondern  auch  durch  manche  naturphilosophische  Veroffent- 
lichung  bekannt  ist  —  zunachst  in  groften  Ziigen  die  Ge» 
schichte  der  Glasschmelzerei.  Sodann  werden  uns  die  Er= 
folge  der  Jcnacr  Schott  und  Abbe  (Objektiv  ohne  sekun» 
dares  Spektrum,  Thermometerglas  ohne  thermische  Nach* 
wirkung,  ultraviolett  durchlassige  Gla'scr)  eingehend  geschil* 
dert,  die  wissenschaftlichen  Wege,  auf  denen  sie  erreicht 
wurden,  iiberraschend  einfach  und  klar  dargestellt,  die  Be» 
deutung  fiir  den  Fortschritt  der  Technik  und  Wissenschaft 
durchsichtig  auseinandergesetzt.  Dabei  unterstiitzen  diezahl* 
reichen  Abbildungen  unsere  Anschauung  aufs  beste.  In  alle 
Einzelheiten  der  Glasschmelzerei  werden  wir  an  ihrer  Hand 
anschaulich  eingefuhrt. 

ARBEITERBIOGRAPHIEN 

Herausgegeben  von  PAUL  GOHRE 

William  Bromme,  Lebensgesdiichte  eines  modernen 
Fabrikarbeiters.  br.  M  4.50,  Lwd.  geb.  M  5.50 

Carl  Fischer,  Denkwiirdigkeiten  und  Erinnerungen 
eines  Arbeiters.  2  Bde.  5.  Tausend.  br.  a  M  4.50, 
Lwd.  geb.  a  M  5.50 

Carl  Fischer,  Aus  einem  Arbeiterleben.  Skizzen. 
br.  M  1.80,  Lwd.  geb.  M  2.50 

W.  Holek,  Lebensgang  eines  deutsch^tscriechischen 
Handarbeiters.  br.  M  4.50,  Lwd.  geb.  M  5.50 

Franz  Rehbein,  Das  Leben  eines  Landarbeiters. 
br.  M  3.50,  geb.  M  4.80 


UNIVERSITY  OF  CALIFORNIA  LIBRARY 

Los  Angeles 
This  book  is  DUE  on  the  last  date  stamped  below. 


SEP     1 


Form  L9-50m-7,'54(5990)444 


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